Literatur / Religion: Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes [1. Aufl.] 978-3-476-04693-2;978-3-476-04694-9

Der Eröffnungsband der neuen Reihe „Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion“ bilanziert d

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German Pages XVIII, 304 [312] Year 2019

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Literatur / Religion: Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes [1. Aufl.]
 978-3-476-04693-2;978-3-476-04694-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Front Matter ....Pages 1-1
„Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“: Artikulation und Subjektivität. Einige Thesen zum Verhältnis von Literatur und Religion (Wolfgang Braungart)....Pages 3-27
Griechische Literatur – ein Musterfall von „Literatur und Religion“ (mit einer Interpretation von Sapphos Fragment 2 Voigt) (Anton Bierl)....Pages 29-56
Ästhetik – Poesie – Religion. Eine Verhältnisbestimmung im Ausgang von Hölderlins theoretischen Schriften mit einem Ausblick auf die Elegie „Heimkunft“ (Jakob Helmut Deibl)....Pages 57-84
Theologie und Literatur. (Zwischen-)Bilanz der „Tübinger Schule“ (Georg Langenhorst)....Pages 85-106
Front Matter ....Pages 107-107
Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran (Angelika Neuwirth)....Pages 109-132
Vom nationalen Narrativ zur dialektischen Didaktik. Die Erzählform der Aggada bei Chaim Nachman Bialik und Shmuel Faust (Alfred Bodenheimer)....Pages 133-142
Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion (Jörg Lauster)....Pages 143-156
Front Matter ....Pages 157-157
Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option. Martin Luther als Wegbereiter einer modernen Literatur (Joachim Jacob)....Pages 159-169
Warten auf ein Gewitter. Zur Wiederholung in Literatur und Religion anhand von Kierkegaard und Stifter (Markus Kleinert)....Pages 171-183
Mehrdeutigkeit und Religion in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (Mark W. Roche)....Pages 185-196
Figurationen mimetischer Rivalität in der Literatur als Anstoß für die Theologie. Assoziationen im Anschluss an das Werk eines Literaturwissenschaftlers, eines Theologen und eines Schriftstellers (Józef Niewiadomski)....Pages 197-217
Front Matter ....Pages 219-219
Schwer erleuchtet – Moderner Buddhismus, transkulturelle Verflechtungen und populäre Erzählliteratur (Almut-Barbara Renger)....Pages 221-249
Schiffbruch und Planke. Transformationen des Odysseus-Mythos bei den Kirchenvätern, Dante und Claudel (Jan-Heiner Tück)....Pages 251-273
Literatur und die Entzauberung der Welt. Arbeit an der Figur (Daniel Weidner)....Pages 275-293
Back Matter ....Pages 295-304

Citation preview

S T U D I E N Z U L I T E R AT U R U N D R E L I G I O N

BAND 1

Wolfgang Braungart / Joachim Jacob / Jan-Heiner Tück (Hg.)

Literatur / Religion Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes

Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1 Reihe herausgegeben von W. Braungart, Bielefeld, Deutschland J. Jacob, Gießen, Deutschland J.-H. Tück, Wien, Österreich Wissenschaftlicher Beirat: Anton Bierl, Basel Alfred Bodenheimer, Basel Jörg Lauster, München Angelika Neuwirth, Berlin Almut-Barbara Renger, Berlin

Noch in den 1980er Jahren war zumindest in der westlichen Welt die Auffassung verbreitet, das ,Ende der Religion‘ stehe unmittelbar bevor. In den letzten Jahren ist allerdings – nicht zuletzt unter dem Eindruck weltweiter religionspolitischer Konflikte – unübersehbar geworden, dass es in den Lebenswelten der Gegenwart eine anhaltende und vielfältige Präsenz von Religion gibt. Die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung hat daher manche pauschale Vorstellung von ,Moderne‘ und ,Säkularisierung‘ revidieren müssen und Religion bzw. Formen des Religiösen wieder als ein aktuelles und brisantes Forschungsthema entdeckt. Auch die Literaturwissenschaften haben begonnen, die vielfältige Präsenz der Religion in den postsäkularen Gesellschaften neu als Herausforderung aufzunehmen; dabei geht es, über die Aufarbeitung stofflich-motivischer Bezugnahmen hinaus, auch um Funktion und Bedeutung von Religion für die Literatur. Die neue Reihe Studien zu Literatur und Religion möchte der Erforschung dieser historisch-systematischen Zusammenhänge zwischen Kunst bzw. Literatur und Religion von der Antike bis zur Gegenwart ein neues Forum bieten. Gegenstandsbereich der Untersuchungen können dabei alle Weltreligionen und religiösen Phänomene wie das ganze Spektrum literarischer Formen sein. Angesprochen sind insbesondere Literaturwissenschaft, Theologie, Judaistik und Islamwissenschaft, Religions- und Kulturwissenschaft. Die Reihe steht sowohl Monographien als auch profilierten Sammelpublikationen und Editionen offen, interdisziplinären wie interdisziplinär relevanten Arbeiten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15855

Wolfgang Braungart  Joachim Jacob  Jan-Heiner Tück (Hrsg.)

Literatur / Religion Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes

Hrsg. Wolfgang Braungart Bielefeld, Deutschland

Jan-Heiner Tück Wien, Österreich

Joachim Jacob Gießen, Deutschland

ISSN 2520-8810 ISSN 2520-8829 (electronic) Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion ISBN 978-3-476-04693-2 ISBN 978-3-476-04694-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Abbildung auf Basis einer Vorlage von Wolfgang Braungart und Lukas Gutsfeld) J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Einleitung

Wer sich heute wissenschaftlich mit Religion befasst, schreibt und forscht auch aus Zeitgenossenschaft heraus. Selbst in den Regionen Europas, in denen die Säkularisierung (sofern man an diesem Konzept überhaupt festhalten will) weit fortgeschritten ist, ist die Religion in den öffentlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs zurückgekehrt. Migration und Globalisierung lassen vermeintlich abgelegte Fragen wieder heranrücken und sorgen für Bewegung auch im Blick auf Reichweite und Geltung eingespielter Überzeugungen. In diesem Sinn hat sich Literatur immer schon in die eigene Zeit eingemischt, hat aufgegriffen und (neu) formuliert, was in einer Kultur drängend war: in der Antike nicht anders als im Mittelalter, der frühen Neuzeit und der Moderne, um nur für die europäische Perspektive zu sprechen. Die Wissenschaft von der Literatur hat ebenso ihre jeweilige Zeitgenossenschaft zu bedenken – und ist darum gerade in der Gegenwart wieder einmal aufgefordert, die Religion als ein Thema wahrzunehmen, das für die Literatur besonders relevant ist. „Literatur/Religion“ – die Reihenfolge ist umkehrbar – trägt der Überzeugung Rechnung, die in jüngster Zeit an verschiedenen Orten artikuliert wurde, dass Literatur und Religion nicht länger als „distinkte Bereiche“, mit Wechselwirkung oder Einfluss aufeinander zu erforschen sind (wie es im Zuge der gängigen Modernisierungstheoreme in den vergangenen Jahrzehnten üblich war), sondern erheblich stärker miteinander „verflochten“ und voneinander „durchdrungen“ sind,1 als es eine einseitig auf Autonomie fixierte Vorstellung von Literatur gesehen hat.2 Mit einer solchen „Destabilisierung“ (Daniel Weidner) der Forschungsverhältnisse sind freilich keine neuen Gewissheiten gewonnen, sondern vor allem neue – und alte – Fragen. Wie Literatur und Religion miteinander, möglicherweise auch strukturell, zusammenhängen, was sie scheidet, wer was wem verdankt und wem was nutzt 1 Daniel Weidner: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, VII f., hier VII. Vgl. auch die einführende „Problemskizze“ in: Mario Grizelj: Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von Literatur (Klopstock – Kleist – Brentano). Paderborn 2018, 7–11, hier 7 f. 2 So Richard Faber und Almut-Barbara Renger einleitend zu dem von ihnen herausgegebenen Band Religion und Literatur. Konvergenzen und Divergenzen. Würzburg 2017, 9.

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– gerade wenn man sie mit guten Gründen für gleichursprünglich ansieht –, wird umstritten und auf die Betrachtung von einzelnen Fällen, Bereichen, zeitlichen und örtlichen Räumen angewiesen bleiben. In besonderer Weise gilt dies auch für die Wahrnehmung der Pluralität von Religion, die ebenfalls unter dem Eindruck von Migration und Globalisierung aktuell noch einmal deutlicher ins Bewusstsein getreten ist. In der Gegenwart das Verhältnis von Religion und Literatur zu erforschen, sollte darum – wieder aus europäischer Perspektive gesprochen – heißen, neben Judentum und Christentum auch den Islam und die Religionen Asiens als Teil des Forschungsfeldes zu begreifen, das sich schließlich in komparatistischer Perspektive auch noch mit großem Gewinn in die Kulturen des Altertums erweitern lässt. Die Verflochtenheit von Religion und Literatur legt deswegen in besonderer Weise Interdisziplinarität nahe, ohne darum disziplinäre Forschungslogiken und -interessen ignorieren zu müssen. Für die Religionswissenschaften ist Literatur in großer Bandbreite eine geradezu selbstverständlich genutzte, unverzichtbare Quelle. Die Theologie geht schon lange auf die Literatur zu und befragt sie auf das für sie Relevante.3 Und auch die Literaturwissenschaft hat immer wieder den Blick auf religiöse Phänomene gerichtet, intensiver freilich und so, dass man von einem eigenen Forschungsfeld sprechen kann, erst seit etwa zwanzig Jahren. Bei einzelnen Autoren (Klopstock, Hölderlin, Rilke), Epochen und Strömungen (Frühe Neuzeit, europäische Romantik, Symbolismus, Renouveau catholique) besteht mittlerweile Konsens in der Forschung, dass profunde theologische und religionsgeschichtliche Kenntnisse für die Analyse Voraussetzung sind. Anders, und bislang seltener realisiert, steht es um Kenntnisnahme, Zusammenarbeit und Diskussion zwischen Literaturwissenschaft, Theologie und Religionswissenschaft im Blick auf den gemeinsamen Gegenstand,4 die der vorliegende Band und vor allem auch die neue Forschungsreihe Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, die er eröffnet, vertiefen möchten. Alle drei Disziplinen: Literaturwissenschaft, Theologie und Religionswissenschaft sind dabei zuerst vor die Frage gestellt, was sie genauer unter Religion und was unter Literatur verstehen wollen. Die Arbeit am Begriff bleibt – gerade unter den Bedingungen von Pluralisierung und Entgrenzung – unerlässlich, insbesondere dort, wo die interdisziplinäre Zusammenarbeit gesucht wird. Im Gegenzug ist nach den Erkenntnisgewinnen für die eigene Disziplin und den Voraussetzungen, die dem eigenen wissenschaftlichen Standpunkt eigen sind, zu fragen. Bezogen auf das Forschungsfeld „Literatur/Religion“ lassen sich hierzu verschiedene theoretisch-methodische Zugänge nutzen, die hier nur stichwortartig skizziert seien, und idealerweise miteinander ins Gespräch bringen:

3 Vgl. etwa die Reihe Theologie und Literatur, die im Grünewald Verlag von Karl-Josef Kuschel und Georg Langenhorst herausgegeben wird und inzwischen 30 Bände umfasst, oder das seit 2017 erscheinende Online-Journal Die Bibel in der Kunst (BiKu) / Bible in the Arts (BiA), http://www. bibelwissenschaft.de/die-bibel-in-der-kunst/. 4 Genannt sei hier nur beispielhaft Hermann Deuser/Markus Kleinert/Magnus Schlette (Hg.): Metamorphosen des Heiligen. Struktur und Dynamik von Sakralisierung am Beispiel der Kunstreligion. Tübingen 2015.

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 kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und kulturtheoretische Zugänge, die insbesondere Impulse aus der vergleichenden Religionswissenschaft, aus den Altertumswissenschaften und aus den sich derzeit allmählich konturierenden disziplinübergreifenden Ritualwissenschaften beziehen können;  literatur- und religionsgeschichtliche Zugänge, innerhalb derer auch bewährte Epochenkonzepte wie das der europäischen „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) im 18. Jahrhundert, aber auch, gerade in jüngerer Zeit, zunehmend (etwa von Hans Joas) kritisierte Verlaufskonzepte wie „Säkularisierung“ oder „Modernisierung“ und „Entzauberung“ weiter zu diskutieren wären;  hermeneutisch orientierte Ansätze, die die offene oder versteckte, womöglich auch subversive, Bezugnahme auf Religion in literarischen Texten beziehungsweise die Eigenart und Eigenlogik literarischer Darstellungsstrategien in ihrer Bedeutung für religiöse Texte zu verstehen suchen;  theologische Zugänge, die explizit biblischen und/oder religiösen Motiven in der Literatur nachgehen, auf konfessionsspezifische Interessenlagen abheben oder aber auch anthropologische Grundfragen freilegen, die in der Literatur oft ohne Rückgriff auf religiöse Sprache aufgeworfen werden, theologisch gleichwohl bedeutsam sind;  religionsästhetische und religionsethische Zugänge, die Religion und Literatur eng aneinander rücken und damit im Gegenzug auch die Frage nach der differentia specifica zwischen beiden aufwerfen;  schließlich philosophische beziehungsweise religionsphilosophische Zugänge, die insbesondere seit 1800 Literatur und Religion und ihr Verhältnis zueinander sowohl in Anspruch nehmen als auch systematisch und historisch zu bestimmen suchen. Die vorliegenden, größtenteils aus einem Arbeitsgespräch an der Universität Wien im Februar 2018 hervorgegangenen, Beiträge stellen Beispiele solcher Zugänge dar, die systematisch grundlegende Fragen im Forschungsfeld von Literatur und Religion an konkreten Beispielen reflektieren und in unterschiedlicher Gewichtung dabei auch die fachwissenschaftliche Diskussion bilanzieren und perspektivieren. Wie es den Herausgebern bei der Einladung zur Mitarbeit auf Vielfalt der Perspektiven und Fragestellungen ankam, so versteht sich auch die hier für die Veröffentlichung vorgenommene Zusammenstellung der Beiträge als eine erste Orientierung. Tatsächlich steht die bereits konstatierte „Verflochtenheit“ von Literatur und Religion der einfachen Rubrizierung ihrer Erforschung entgegen – ohne dass darum, wie jeder einzelne der folgenden Beiträge zeigt, auf Präzision in Fragestellung und Erkenntnisinteresse verzichtet werden muss.

Religion, Theologie, Literatur – Verhältnisbestimmungen In welches Verhältnis lassen sich Literatur und Religion systematisch setzen, in welches Verhältnis werden sie durch Literatur, religiöse Praxis und Wissenschaft gesetzt? Religion(en), so Wolfgang Braungart („‚Der Mensch ist sich selbst ein

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gewaltiger Abgrund‘: Artikulation und Subjektivität. Einige Thesen zum Verhältnis von Literatur und Religion“), sind immer auch ästhetische Systeme, weil sie für die menschliche Wahrnehmung und Erfahrung darstellend, zeigend artikulieren müssen, was sie sein wollen und zu sagen haben. Darum braucht es nicht zu verwundern, dass die Struktur religiöser Erfahrung oft frappierend an die Struktur ästhetischer Erfahrung auf dem Gebiet der Künste erinnert. Religion wie Literatur entfalten und artikulieren sich zwischen Mythos und Logos, zwischen Imagination und Begriff, zwischen lebendiger Einbildungskraft und Vernunft. Sie sprechen damit auch zwei grundlegende Vermögen des Menschen an. Religion und Literatur in eine Beziehung zu setzen, wie es in diesem Beitrag an einigen Beispielen versucht wird, verspricht deshalb auch in systematischer Hinsicht, aufschlussreich zu sein, nicht nur in historischer. Plädiert wird also für eine „wechselseitige Erhellung“ (Oskar Walzel) dieser ästhetischen Ausdruckssysteme, die ihr jeweiliges Eigenrecht aber zu respektieren hat. Gewinnen lassen sich so Bausteine einer, wenn man so will, „Theo-Poetik“, für die Subjektivität und Freiheit zentral sein müssten – und dies nicht erst seit dem 18. Jahrhundert. In die Frühzeit abendländischer Religion und Literatur führend, warnt Anton Bierl („Griechische Literatur – ein Musterfall von ‚Literatur und Religion‘ (mit einer Interpretation von Sapphos Fragment 2 Voigt)“) zunächst vor einer anachronistischen Rückprojektion der modernen Begriffe ‚Literatur‘ und ‚Religion‘ auf die altgriechische Literatur und macht deutlich, dass in der archaischen und klassischen Zeit der Griechen beide Bereiche noch nicht trennscharf unterschieden werden können. Er votiert dafür, die Andersheit dieser Texte, die immer wieder und immer neu als Vorlagen für die weitere Literaturproduktion herangezogen worden sind, hermeneutisch zu respektieren. Dies gilt auch für die frühgriechische Lyrik, die nicht im romantischen Sinn als Ausdruck von Gefühl und Innerlichkeit zu lesen ist. Mit dem „performativen Turn“ geht die neuere Forschung über eine rein philologische Betrachtungsweise insofern hinaus, als sie nach dem pragmatischen Kontext fragt und dabei verstärkt performative und rituelle Aspekte in den Blick nimmt. Vor diesem Hintergrund deutet Bierl ein Fragment von Sappho, in dem es, im Zusammenhang eines rite de passage zur Hochzeit, um Liebe und Erziehung zur Schönheit geht. Aphrodite wird angerufen – und das Lied setzt durch Wort, Rhythmus, Gesang und Tanz intensive Körpererfahrungen frei. Die durch die Poesie evozierte Sinnlichkeit und religiöser Ritus gehen bei Sappho eine produktive Verbindung ein. Zu den besonders intensiven Rezipienten der klassischen Antike gehört Friedrich Hölderlin. Jakob Helmut Deibl („Ästhetik – Poesie – Religion. Eine Verhältnisbestimmung im Ausgang von Hölderlins theoretischen Schriften mit einem Ausblick auf die Elegie ‚Heimkunft‘“) untersucht die innere Bezogenheit von Dichtung und Religion in den theoretischen Schriften Hölderlins. Die Überwindung der Dichotomien von Subjekt und Objekt, von Selbst und Welt, von Vernunft und Offenbarung sucht Hölderlin in „einem ästhetischen Sinn“, wie er in einem Brief an seinen philosophischen Lehrer Niethammer notiert. Er kündigt darin „Neue Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ an, in denen er „von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen“ will. Deibl weist darauf hin, dass Hölderlin hier auf Kant Bezug nimmt, diesen aber zugleich fortschreibt, wenn er unter den

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Modalkategorien der Möglichkeit einen Primat einräumt. Das freie Spiel der Möglichkeiten bezeichnet den Raum der Ästhetik, der sich nicht unter einen Begriff der theoretischen oder praktischen Vernunft subsumieren lässt. An Hölderlins Elegie „Heimkunft. An die Verwandten“ wird näher aufgewiesen, wie Religion und Dichtung „nach dem Fehlen heiliger Namen“ aufeinander verwiesen sind, aber auch, wie sie auseinandertreten und sich unterscheiden. Momente des Entzugs und der Aufsparung zeigen eine Krise der Sprache an, die nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen lässt. Diese sich bei Hölderlin ankündigenden Verlusterfahrungen und Brechungen, die in der Lyrik des 20. Jahrhunderts u. a. bei Ingeborg Bachmann oder Paul Celan radikalisiert wurden, sind auch für das Verhältnis von Gebet und Gedicht, von Literatur und Religion heute weiter zu bedenken, wie Deibl in abschließenden Reflexionen zeigen kann. Die aktuelle Forschungslage im Spannungsfeld von Literatur und Religion beleuchtet schließlich der Beitrag Georg Langenhorsts („Theologie und Literatur. (Zwischen-)Bilanz der ‚Tübinger Schule‘“). Er konstatiert zunächst ein neu erwachtes, durchaus vitales Interesse der Literaturwissenschaft an Fragen der Religion, welches das interdisziplinäre Gespräch mit der Theologie in den kommenden Jahren bereichern kann. Sodann bilanziert er prominente Vorläufer heutiger theologischer Literaturdeutung, stellt Romano Guardinis und Hans Urs von Balthasars Ansätze vor und diskutiert ihre Stärken und Schwächen. Auf evangelischtheologischer Seite erinnert er an die Korrelationsmethode Paul Tillichs, welche den Dialog zwischen Kultur und Religion, zwischen menschlicher Selbstinterpretation und christlicher Botschaft zu fördern sucht. Weiter werden einschlägige Arbeiten von Dorothee Sölle, Dietmar Mieth und Karl-Josef Kuschel vorgestellt, welche die Autonomie der Literatur ernst nehmen und das Gespräch aus theologischer Sicht aufnehmen. Abschließend werden Zugänge aus der Sicht praktischer Theologie skizziert, die u. a. auf Aspekte wie Sprachsensibilisierung, Erfahrungserweiterung, Wirklichkeitserschließung und Möglichkeitsandeutung abheben. In einem Ausblick weist Langenhorst darauf hin, dass zunehmend literarische Spiegelungen nichtchristlicher Religionen, aber auch Kinder- und Jugendliteratur in den Fokus der literaturtheologischen Forschung rücken.

Religion/Literatur Dass in den heiligen und deutenden Texten der Religionen literarische Formen eine wesentliche Rolle spielen, ist eine wichtige Einsicht neuerer Forschung, ebenso die Frage, in welcher Weise der Spielraum der Literatur im religiösen Zusammenhang auch begrenzt ist. Angelika Neuwirth („Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran“) lenkt den Blick auf die literarische Form des Koran. Anziehung und Abstoßung sind nicht nur die Triebkräfte dafür, dass sich die beiden Religionskulturen Judentum und Christentum ausbilden. Auch die Genese des Islams ist von dieser Dynamik geleitet. Dabei geht Neuwirth vom literarischen Charakter des Koran aus, der eine vorbedachte Abfassung durch einen Autor ausschließt. Es handelt sich um Mitschriften prophetischer Rede, um ein „Transkript

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einer Religionsgenese“, nicht um einen auktorial intendierten Text. Die koranischen Wandlungsprozesse illustriert Neuwirth an der vielschichtigen Figur Abrahams. Im Koran etwa entfällt das Motiv von Abraham als Verheißungsträger für alle Völker, während die Geschichte von der Opferung des einzigen Sohnes so rezipiert wird, dass Isaak aktiv am Geschehen beteiligt wird. Das entspricht durchaus rabbinischen Deutungen, die von einer freiwilligen Opferbereitschaft Isaaks ausgehen. Die Gemeinde, die sich in der mekkanischen Phase als Gebetsgemeinschaft typologisch auf biblische Figuren rückbezieht, wird in Medina zur „Millat Ibrahim“, die sich vor allem der Gastfreundschaft Abrahams verpflichtet sieht. Gerade durch die Änderung der Gebetsrichtung – weg von Jerusalem hin nach Arabien – zeigt sich deutlich die Absetzung des Islams von Judentum und Christentum. Alfred Bodenheimer („Vom nationalen Narrativ zur dialektischen Didaktik. Die Erzählform der Aggada bei Chaim Nachman Bialik und Shmuel Faust“) wendet sich in seinem Beitrag der klassischen rabbinischen Erzählform der Aggada zu. Aggadot beziehen sich auf die Leerstellen der biblischen Erzählungen und versuchen, diese durch Ausschmückung und kreative Fortschreibung aufzufüllen. Sie unterscheiden sich von der Halacha, der gesetzlichen Tora-Auslegung, ebenso wie von philosophischen Zugängen zum Judentum in der Nachfolge des Maimonides. Im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhundert gab es Bestrebungen, den Schatz der aus dem Judentum stammenden Erzählungen neu zugänglich zu machen. Unter den Sammlungen der Aggadot, die dieses Revitalisierungsinteresse verfolgen, ragt die von Chaim Nachman Bialik heraus. Als Kulturzionist möchte Bialik durch die Pflege narrativer Traditionen gerade unter den Bedingungen der Diaspora das Projekt einer hebräischen Literatur und letztlich einer nationalen Identitätsstiftung fördern. Die gegenwärtige Sammlung von Shmuel Faust hingegen konzentriert sich, wie Bodenheimer zeigt, auf den Diskurs unter den Rabbinen und lässt Fortschreibungen biblischer Geschichten weitgehend aus. Faust verfolgt eher didaktische Interessen, ohne die Erzählungen auf dogmatische Gehalte zu reduzieren. Interpretatorische Engführungen auf eine einzige Lesart hin werden gezielt unterlaufen. Statt wie Bialik ein kollektives Grundnarrativ zu etablieren, geht es Faust darum, das genaue individuelle Lesen, Interpretieren und Reflektieren zu lehren und so für die Feinheiten der Sprache zu sensibilisieren. Dichtung steht bekanntlich seit Platon unter dem Verdacht, sie würde lügen. Aber schon Aristoteles lobt ihren Vorzug, dass sie nicht nur das erzählt, was war, sondern auch das, was sein könnte. In seinen Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion geht Jörg Lauster („Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion“) zunächst der Ontologie der Fiktion nach. Statt sie als bloße Erfindung ohne Wirklichkeitsbezug abzutun, plädiert er dafür, die Referenzrelevanz der Fiktion ernst zu nehmen, wie es in neueren Arbeiten zur Fiktionalitätstheorie geschieht. Fiktion spielt die Möglichkeiten anderer Welten durch und simuliert so durchaus Wirklichkeit in einer Weise, die affektiv ansprechen und handlungsstimulierende Kraft entfalten kann. Auch bei Erzählungen handelt es sich um menschliche Imaginationsleistungen, die sich frei, kreativ und kritisch zur Welt verhalten und so den Horizont weiten können. Schließlich geht Lauster der Frage nach, was aus den Einsichten der neueren Fiktionalitäts- und

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Narrativitätstheorien für die das Christentum tragenden Erzählungen folgt, die ja beanspruchen, auf historischen Fakten zu basieren. Er votiert dafür, das Referenzproblem nicht zu unterschätzen, ohne deshalb schon alles, was geschrieben steht, für bare Münze zu nehmen. Die Bedeutung der Literatur für die Religion aber sieht er in den fiktionalen Welterschließungsmöglichkeiten, die nicht in didaktischen oder pädagogischen Funktionen aufgehen. Wer die Literatur auf eine ancilla theologiae zurückstuft, unterschätzt darum ihre Möglichkeiten.

Literatur/Religion Welche Möglichkeiten aber ergeben sich, von der Literatur aus betrachtet, im Verhältnis zu Religion und Theologie? Die Anregung Hans Joas’ aufnehmend, nicht länger von linearen Säkularisierungsprozessen auszugehen, sondern stattdessen historisch je unter besonderen Bedingungen situierten „Wechselspielen“ von Sakralisierung und Desakralisierung nachzugehen, untersucht Joachim Jacob („Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option. Martin Luther als Wegbereiter einer modernen Literatur“) diese Dynamik bereits am Beginn der Neuzeit bei Martin Luther. So zeigt sich an Luthers Fabeln eine „säkulare Option“ (Charles Taylor/Hans Joas) in der kritischen Welt- und Sprachwahrnehmung, die im direkten Gegensatz zu Luthers zeitgleich formulierter Vorrede auf das Buch der Psalmen steht, die einem theologisch untermauerten Sprachvertrauen Ausdruck verleiht. Als Wegbereiter der Moderne kann Luther damit insofern aufgefasst werden, als die synchron entwickelte Polarität von Sprachvertrauen und Sprachkritik nicht nur ein Strukturmerkmal häufig „modern“ genannter Literatur ist (Klopstock, Hölderlin, Hofmannsthal), sondern sich bereits am Beginn der Neuzeit „Spannungsverhältnisse“ auftun, die mindestens zur Diskussion stellen, ob Moderne oder Modernisierung überhaupt mit der Zunahme solcher Spannungen im Verhältnis von Religion und Literatur in Verbindung gebracht werden können. Markus Kleinert („Warten auf ein Gewitter. Zur Wiederholung in Literatur und Religion anhand von Kierkegaard und Stifter“) zeigt, wie sich Verhältnisbestimmungen zwischen Literatur und Religion auf dem Wege des Vergleichs gewinnen lassen. Am Beispiel der unterschiedlichen Ausprägungen, die das Thema der „Wiederholung“ bei Sören Kierkegaard und Adalbert Stifter annimmt, gewinnt Kleinert verschiedene Konzepte von Wiederholung, die sich auch für eine vergleichende Typologie einsetzen ließen. Während in Kierkegaards gleichnamiger Schrift die Enttäuschung über die Unmöglichkeit von Wiederholung im Rahmen einer experimentellen Psychologie durchgespielt und damit die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen angezeigt wird, findet sich in Stifters Roman Der Nachsommer ein Konzept der Wiederholung als Wiederherstellung, das letztlich auf eine allmähliche Vervollkommnung von Welt und Mensch abzielt. Kleinert macht darauf aufmerksam, dass die Unterscheidung zwischen entfremdender und erneuernder Wiederholung auch für das Verhältnis von Literatur und Religion fruchtbar zu machen wäre, und entwickelt dazu abschließende Reflexionen, die um die Frage der Vergegenwärti-

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gung von Tradition, der Aktualisierung des Vergangenen, ja der Vervollkommnung und Verklärung kreisen. Dass Modernisierungsprozesse insgesamt tatsächlich zu einem Bedeutungsschwund von Religion in der Literatur geführt haben, ist Ausgangspunkt der Thesen, die Mark W. Roche („Mehrdeutigkeit und Religion in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray“) in seinem Beitrag zum Verhältnis von Literatur und Religion in der Moderne formuliert und am Beispiel von Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray entwickelt. Trotz der Autonomie der Literatur und Ästhetik, die sich von religiösen Vorgaben abgekoppelt hat, bleibt Religion, wenn auch häufig nur in verdeckter Form, in der Literatur präsent. Anziehend wirken literarische Texte auch für moderne Leser, wo sie das Hässliche und Böse und in der Form das Indirekte und Mehrdeutige integrieren. Insgesamt konstatiert Roche ein seit der Jahrtausendwende neu erwachtes Interesse an religiösen Fragestellungen auch in der Literaturwissenschaft. In Oscar Wildes Roman sieht Roche seine Thesen weitgehend bestätigt. Gegen Wildes Intention ist eine moralische Lesart des Buches aber möglich. In der Titelfigur, die sich von religiösen Vorgaben emanzipiert hat, gehen ästhetische Schönheit und moralische Hässlichkeit zusammen. Handlung und Figurenkonstellation des Romans zeigen darüber hinaus vielschichtige Bezüge von Kunst, Moral und Religion. Wie Literatur und Literaturwissenschaft zum Anstoß für die theologische Reflexion werden können, zeigt Józef Niewiadomski („Figurationen mimetischer Rivalität in der Literatur als Anstoß für die Theologie. Assoziationen im Anschluss an das Werk eines Literaturwissenschaftlers, eines Theologen und eines Schriftstellers“). Er zeichnet die Theorie des Literaturwissenschaftlers René Girard nach, der von einem menschlichen Begehren ausgeht, das zunächst objektlos und ungerichtet ist. Erst in der Nachahmung dessen, was andere begehren, erhält das Begehren Richtung. Dadurch aber entstehen Konflikte mimetischer Rivalität, die besänftigt und pazifiziert werden müssen, wenn sie nicht eskalieren und in einen Kampf aller gegen alle einmünden sollen. So kommt es zur sakrifiziellen Krise, in der sich die Gewalt aller gegen einen richtet. Das Opfer, das als schuldig identifiziert und vom lynchenden Mob getötet wird, wird, wenn die Pazifizierung erfolgt ist, nachträglich als heilig verehrt und divinisiert. In der Literatur sieht Girard die Figurationen des Begehrens, aber auch den Sündenbockmechanismus am Werk, den die Bibel kritisch aufdeckt, indem die Unschuld des Opfers herausgestellt wird. Die Theorie des Literaturwissenschaftlers Girard hat den Theologen Raymund Schwager SJ elektrisiert, der im Gespräch mit Girard vor allem den Begriff des Opfers vertieft hat: Jesus sei nicht nur das Objekt fremder Gewalt – victima –, er sei auch und vor allem freies Subjekt, das sein Leiden als Akt der Hingabe an den himmlischen Vater versteht und seinen Peinigern sterbend vergibt – sacrificium. Gerade so trage er zur Überwindung der Gewalt bei. Vor diesem Hintergrund unterzieht Niewiadomski den biblisch inspirierten Roman Sunrise. Das Buch Joseph von Patrick Roth einer kritischen Deutung und macht darauf aufmerksam, dass sich hier Spuren einer mythisch-ästhetischen Verschleierung von Gewalt finden.

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Rezeption und Transformation Gerade angesichts der eingangs angesprochenen, gewachsenen Skepsis gegenüber vereinfachenden und linearen Verlaufs- und Erklärungsmodellen wie „Säkularisierung“, „Modernisierung“ oder „Entzauberung“ sind materiale rezeptions- und transformationsgeschichtliche Studien zum Verhältnis von Religion und Literatur von größter Bedeutung. Almut-Barbara Renger („Schwer erleuchtet – Moderner Buddhismus, transkulturelle Verflechtungen und populäre Erzählliteratur“) zeigt in globalgeschichtlicher Perspektive, wie der Terminus „Erleuchtung“ – ursprünglich ein Begriff der europäischen Religionsgeschichte mit christlicher Prägung – seit 1900 eine überkonfessionelle, ja transreligiöse Ausweitung erfährt und heute primär mit asiatisch inspirierten Traditionen in Verbindung gebracht wird. Sie zieht Texte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart heran, um die Wirkmächtigkeit des Begriffs „Erleuchtung“, aber auch die semantischen Verschiebungen in theologischen, religiösen und literarischen Texten aufzuweisen. Dabei legt sie den Fokus auf transkulturelle Wechselbeziehungen und Austauschprozesse zwischen Europa und Asien seit der Kolonialzeit. Statt vom Ende der Religion auszugehen oder deren Wiederkehr anzukündigen, geht Renger von der Prämisse aus, dass die Suche des Menschen nach Sinn und Heil auch in der Moderne fortdauert, dass sie aber heute oft jenseits der institutionalisierten Formen von Religion stattfindet. Am Beispiel der „Erleuchtungssehnsucht“, wie sie einige jüngere Bestseller der Unterhaltungsliteratur thematisieren, können diese individuellen Suchbewegungen verfolgt und kann zugleich gezeigt werden, dass für religiöse Phänomene nicht nur kanonisierte Texte der literarischen Hochkultur aufschlussreich sind, sondern auch die Populärliteratur. Religiöse Motive in der Literatur sind seit längerem Gegenstand intensiver Forschungen. Dass es umgekehrt auch eine theologische Rezeption literarischer Motive gab und gibt, ist dabei eher in den Hintergrund gerückt. Jan-Heiner Tück („Schiffbruch und Planke. Transformationen des Odysseus-Mythos bei den Kirchenvätern, Dante und Claudel“) geht in seinem Beitrag den Transformationen des OdysseusMotivs bei den Kirchenvätern, bei Dante und Paul Claudel nach. Bei aller Kritik am Anthropomorphismus der Göttermythen Homers hat die patristische Theologie einzelne Motive aufgegriffen und diese einer christlichen Neuinterpretation unterzogen. Vor allem Odysseus rückt hier als Präfiguration Christi in den Blick. Die freie Selbstbindung des Helden an den Mastbaum des Schiffes, um dem gefährlichen Gesang der Sirenen nicht zu erliegen, wird als Modell für den christlichen Lebensstil gedeutet. An der Schwelle zur Neuzeit erfolgt dann bei Dante eine signifikante Umcodierung: Aus dem Heimkehrer Odysseus wird ein Schiffbrüchiger. In der Topographie des Jenseits der Divina commedia wird ihm ein Platz im Inferno zugewiesen. So wird aus dem Vorbild des Heils ein Warnbild des Unheils. Das Motiv des Schiffbruchs wird bei Paul Claudel kreativ fortgeschrieben, wenn er in der Eingangsszene seines Stücks Der seidene Schuh einen Jesuitenpater mutterseelenallein durch den Ozean treiben lässt. An das Holz gebunden, fühlt er sich dem Gekreuzigten nahe wie nie, was anzeigt, dass das Motiv der Planke bei Claudel die Semantik der Rettung mit sich führt.

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Einleitung

Daniel Weidner („Literatur und die Entzauberung der Welt. Arbeit an der Figur“) widmet sich im letzten Beitrag des Bandes der Arbeit an der Figur der Entzauberung, die für die moderne Reflexion von Religion und Literatur zentral ist. Im Anschluss an Max Weber geht er zunächst davon aus, dass religiöse oder gar magische Wirklichkeitsdeutungen durch den okzidentalen Rationalismus an Plausibilität eingebüßt haben. Der Begriff „Entzauberung“ bringt freilich diese Veränderung der modernen Welterfahrung selbst nur ins Wort, ohne dafür schon passende Erklärungen anzubieten. Ein Anzeichen dafür ist, dass bei Weber auf der Ebene der Erklärung die entzauberten Götter wieder auftauchen. Das Bild vom Götterkampf ersetzt, so Weidner, die fehlende Werttheorie. Das Motiv der Entzauberung aber hat eine literarische Vorgeschichte, die ins späte 18. Jahrhundert zurückreicht. Bereits Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“ bringt den Kontrast zwischen der schönen Götterwelt der Vorzeit und der entgötterten Welt der Jetztzeit poetisch ins Wort. Die Entdivinisierung der Welt durch Kopernikus und Kepler geht mit einem Götterschwund einher, der im Gedicht beklagt wird. Gleichzeitig ist der Tod der Götter aber auch die Voraussetzung dafür, dass sie im Gesang fortleben können. In den Hymnen Hölderlins bricht die Trauer über den Verlust noch stärker durch, während Heine in seiner Lyrik den elegischen Ton ironisch unterläuft. Die Götter kehren bei ihm als Gespenster wieder. Wenn der Stern des Christentums sinkt, dann folgt auf die Entzauberung womöglich eine Wiederkehr des Entzauberten. Diese Verschiebungen von Schwund und Wiederkehr haben in der Literatur ihren Ort, was für Literaturwissenschaft wie Theologie gleichermaßen von Interesse ist. Last, but not least, gilt es Dank zu sagen: allen, die das Wiener Symposium ermöglicht und mitgestaltet haben, aber auch allen, die an der Buchwerdung der dort gehaltenen Referate kompetent mitgewirkt haben. Zunächst den Referentinnen und Referenten, die der Einladung bereitwillig gefolgt sind und die Tagung durch ihre Vorträge und Wortmeldungen bereichert haben. Dann aber auch denjenigen, die über das Symposium hinaus ergänzende Beiträge beigesteuert haben. Ausdrücklich danken wir Michaela Feiertag, welche die Hauptlast der administrativen Organisation der Tagung getragen hat; weiter Patricia Bollschweiler, Lukas Gutsfeld, Anne Hehl und Dr. Markus Pahmeier für die Vereinheitlichung der Zitation und sorgfältige Durchsicht der Beiträge für die Drucklegung; Stefan Witek für die Erstellung des Personenregisters; schließlich Dr. Oliver Schütze vom Metzler Verlag für die angenehme und effiziente Zusammenarbeit. Möge das Buch den Forschungen im Spannungsfeld von Literatur und Religion neue Anstöße geben. Bielefeld, Gießen, Wien November 2018

Wolfgang Braungart Joachim Jacob Jan-Heiner Tück

Inhaltsverzeichnis

Religion, Theologie, Literatur – Verhältnisbestimmungen „Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“: Artikulation und Subjektivität. Einige Thesen zum Verhältnis von Literatur und Religion . Wolfgang Braungart

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Griechische Literatur – ein Musterfall von „Literatur und Religion“ (mit einer Interpretation von Sapphos Fragment 2 Voigt) . . . . . . . . . . . Anton Bierl

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Ästhetik – Poesie – Religion. Eine Verhältnisbestimmung im Ausgang von Hölderlins theoretischen Schriften mit einem Ausblick auf die Elegie „Heimkunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jakob Helmut Deibl Theologie und Literatur. (Zwischen-)Bilanz der „Tübinger Schule“ . . . . Georg Langenhorst

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Religion/Literatur Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Angelika Neuwirth Vom nationalen Narrativ zur dialektischen Didaktik. Die Erzählform der Aggada bei Chaim Nachman Bialik und Shmuel Faust . . . . . . . . . . 133 Alfred Bodenheimer Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Jörg Lauster XV

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Inhaltsverzeichnis

Literatur/Religion Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option. Martin Luther als Wegbereiter einer modernen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Joachim Jacob Warten auf ein Gewitter. Zur Wiederholung in Literatur und Religion anhand von Kierkegaard und Stifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Markus Kleinert Mehrdeutigkeit und Religion in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray 185 Mark W. Roche Figurationen mimetischer Rivalität in der Literatur als Anstoß für die Theologie. Assoziationen im Anschluss an das Werk eines Literaturwissenschaftlers, eines Theologen und eines Schriftstellers . . . . 197 Józef Niewiadomski

Rezeption und Transformation Schwer erleuchtet – Moderner Buddhismus, transkulturelle Verflechtungen und populäre Erzählliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Almut-Barbara Renger Schiffbruch und Planke. Transformationen des Odysseus-Mythos bei den Kirchenvätern, Dante und Claudel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Jan-Heiner Tück Literatur und die Entzauberung der Welt. Arbeit an der Figur . . . . . . . 275 Daniel Weidner Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Anton Bierl Professor für Griechische Philologie an der Universität Basel. Alfred Bodenheimer Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel. Wolfgang Braungart Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld. Jakob Helmut Deibl Gastprofessor am Pontifico Ateneo Sant’Anselmo in Rom. Joachim Jacob Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Markus Kleinert Dr., Leiter der Kierkegaard-Forschungsstelle am Max-WeberKolleg der Universität Erfurt. Georg Langenhorst Professor für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik an der Universität Augsburg. Jörg Lauster Professor für Systematische Theologie (Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München. Angelika Neuwirth Senior-Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin. Józef Niewiadomski Professor für Dogmatik am Institut für Systematische Theologie der Universität Innsbruck.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Almut-Barbara Renger Professorin für Antike Religion und Kultur sowie deren Rezeptionsgeschichte an der Freien Universität Berlin. Mark W. Roche Professor für Deutsche Sprache und Literatur sowie Professor für Philosophie an der University of Notre-Dame. Jan-Heiner Tück Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Daniel Weidner Professor am Institut für Kulturwissenschaft der HumboldtUniversität zu Berlin.

Religion, Theologie, Literatur – Verhältnisbestimmungen

„Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“: Artikulation und Subjektivität. Einige Thesen zum Verhältnis von Literatur und Religion1 Wolfgang Braungart

Unter den Gesichtspunkten von Freiheit und Subjektivität, die mich hier leiten sollen, zeigen sich grundlegende strukturelle Beziehungen zwischen Literatur und Religion.2 Die Sinnerfahrungen, die sich in Literatur und Religion ästhetisch realisieren, können einander sehr nahekommen. Es ist darum sinnvoll, ihr Verhältnis auch unter den Bedingungen der Moderne nicht von vornherein als eines der Konkurrenz anzusehen.

I Ästhetisches Spiel „So fühlt man Absicht und man ist verstimmt“: Dieser Vers Tassos aus Goethes Drama ist sprichwörtlich geworden.3 In der Kunst ist es gerade so: Wir mögen es nicht, wenn uns ein Kunstwerk deutlich zu verstehen gibt, was wir zu denken haben, und wenn uns nicht erlaubt sein soll, unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen, frei nach Kant und Schiller, in einem lebendigen Spiel zu entfalten.4 Dieses Spiel 1 Überarbeitete Fassung meines Wiener Vortrags, der ich den Stil des Mündlichen aber nicht ganz nehmen wollte; ich integriere hier auch einige längere Passagen aus einem Vortrag, den ich im Herbst 2017 in Budapest gehalten habe und der erschienen ist in Géza Horváth (Hg.): Luther und die Reformation im Spiegel der deutschsprachigen Literaturen im 18., 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 2018, 43–63. Jan-Heiner Tück, Joachim Jacob, Patricia Bollschweiler und Lukas Gutsfeld danke ich für kritische Hinweise und freundliche Hilfe. 2 Aus dem deutschsprachigen Wissenschaftsraum als Bilanz und systematischer Aufriss des Forschungsgebiets grundlegend: Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart/Weimar 2016; seit 1984 erscheint an der University of Notre Dame das Journal of Religion and Literature, seit 1987 in Oxford Literature and Theology; diese Zeitschriften haben in der deutschsprachigen Wissenschaft nichts Vergleichbares. 3 Goethe: Tasso, II, 1, 969. 4 Ich benutze hin und wieder die Pluralform, weil ich glaube, dass es hier um Fragen geht, die meine Person übersteigen.

W. Braungart () Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_1

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W. Braungart

kann auf Deutlichkeit drängen, womöglich auf begriffliche Fixierung. Irgendwann wollen wir zwar schon wissen, um was es bei einem Kunstwerk geht, und finden uns nicht gerne damit ab, dass es für die ästhetische Erfahrung und Erkenntnis spezifisch sein soll, worauf sie hinauswolle, könne, mit Kant, durch keinen Begriff je erreicht werden. Klebt der Begriff aber zu sehr am Phänomen oder dominiert die rhetorische Intention zu stark, dann hört das lebendige Spiel auf.5 Dann sind wir mit dem Kunstwerk fertig; es beschäftigt uns nicht mehr. Die ästhetische Idee Kants hat dies im Blick: In der ästhetischen Erfahrung vollzieht sich immer ein Prozess der Einbildungskraft und ein Bedeutungsgeschehen, ohne dass es begrifflich fixiert werden könnte.6 Es drängt darum immer weiter. Aber auch wenn das Erhabene, Ergreifende, Innige, Anrührende als ästhetischer Effekt auf jeden Fall und um jeden Preis angestrebt werden, hört die ästhetische Bewegung auf (und das Vergnügen daran) und droht der Kitsch. Er ist nämlich durch und durch rhetorisch; er sucht den direkten Griff ans Herz. Diese Spannung zwischen ästhetischer Deutlichkeit einerseits und ästhetischer Offenheit und Prozessualität andererseits hat natürlich auch die Kunsttheorie ausführlich beschäftigt. Seit der Romantik neigt sie stark der Offenheit und Prozessualität zu. Man kann darauf eine anthropologische Antwort zu geben versuchen, warum wir das Fixierende und Überdeutliche nicht mögen: vielleicht, weil wir in diesem lebendigen Spiel zugleich erfahren, dass wir selbst in einer umfassenden und komplexen Weise lebendig sind? Vertrauen wir uns im Gespräch dem andern an und dies womöglich mit etwas, was uns sehr bedrängt, dann empfinden wir es schnell als zudringlich und ärgerlich, sogar als sozial destruktiv, wenn wir die Reaktion bekommen: „Ich verstehe dich, ich versteh’ dich vollkommen.“ Wir möchten nämlich akzeptiert sehen, dass es in uns auch das Unklare, nicht begrifflich Fixierbare, Geheimnisvolle gibt, das ebenfalls soziale Geltung beanspruchen will wie unsere Vernünftigkeit und Brauchbarkeit. Das Soziale kann auf das Geheimnis, das Unaufklärbare nicht verzichten – wie Kunst und wie Religion. Das ist aber kein Freibrief für Irrationalismen aller Art. Nur Geheimnis, nur Dunkelheit, nur NichtVerstehen: Das geht auch nicht, sozial nicht, religiös nicht und nicht ästhetisch. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts werden in der Kunsttheorie für das Kunstwerk Vieldeutigkeit und sogar prinzipielle Deutungsoffenheit besonders postuliert.7 Sie gibt es jedoch nicht erst in der Kunst der Moderne, die sich als au5

Herzlichen Dank an Manuela Lenzen, ZiF Bielefeld, die mich darauf aufmerksam macht, dass sich diese Überlegung kognitionswissenschaftlich mit dem sog. „verbal overshadowing“ in Verbindung bringen lasse: Die Erinnerungsleistung lasse nach, wenn eine Wahrnehmung versprachlicht und so fixiert werde. Vgl. https://www.edge.org/response-detail/27092 (18.6.2018). 6 Hingewiesen sei hier ausdrücklich auf einen wichtigen, leider zu wenig diskutierten Entwurf, der sich vor allem auf Kant beruft: Peter Ensberg: Der schöne Gott. Strukturen ästhetischen und theologischen Denkens. Würzburg 2007. 7 Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988. Vgl. auch Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen 1999. Ich verweise auf dieses Buch auch, weil es Studien zu ästhetischen Kategorien enthält, die für die Ästhetik von Religion und Literatur gleichermaßen grundlegend sind.

„Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“

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tonom begreift, sondern natürlich auch in der Kunst in Funktionszusammenhängen wie Religion oder Politik – wenn es sich denn um Kunst dreht, die diesen Namen verdient. Eine hunderttausendfach reproduzierte Lourdes-Madonna gibt eben in ihrer Trivialität ästhetisch nicht sehr „viel zu denken“, sie setzt ästhetisch nicht viel in Bewegung; eine Madonna von Riemenschneider aber schon: dank der „ästhetischen Idee“, die in ihr Gestalt gewinnt. Die Kolossalstatue eines spätantiken Kaisers mag historisch-politisch interessant sein. Eine ästhetische Idee, die uns intensiver beschäftigen könnte, sehen wir an ihr eher nicht. Andererseits hat es die Kunst schwer, die vollkommen absichtslos und frei erscheint in dem Sinne, dass sie sich von (lebensweltlicher, sozialer, geschichtlicher) Erfahrung ganz löst. Wir haben dann Mühe, irgendwie anzuknüpfen und sie als bedeutsam und relevant zu akzeptieren.8 Künstlerische Freiheit, die ästhetisch nur willkürlich wirkt, beschäftigt uns also auch nicht, weil wir nicht sehen, dass sie auf etwas hinaus will, und weil sie keine ästhetische Idee zu verfolgen, keine ästhetische Intentionalität zu artikulieren scheint.

II Am Beispiel eines Kirchenliedes Von den drei großen Grundformen der Literatur in der Moderne hat die Lyrik am ehesten ein Gespür dafür bewahrt, dass im menschlichen Dasein mehr ist und mehr sein muss als Kommunikation, Auseinandersetzung und Streit einerseits (sie wären Sache der dramatischen Gattungen) und erzählende Darstellung von Welt und Wirklichkeit andererseits (sie wäre Sache der erzählenden Gattungen). Solange der sonn- und feiertägliche Gottesdienstbesuch noch für viele Menschen die Regel war und nicht die Ausnahme, ermöglichten Kirchenlieder auch denjenigen gewisse elementare, regelmäßige Erfahrungen mit Lyrik, die sonst nicht allzu viel Gelegenheit dazu hatten.9 Das sog. Volkslied, der Chorgesang, das Soldatenund Arbeitslied und andere populäre Gattungen sind aber auch nicht zu vergessen. Weil diese poetischen Erfahrungsbereiche an Bedeutung verloren haben, haben sich auch die Bedingungen und Voraussetzungen für Lyrik überhaupt grundlegend verändert. Werbung und Popularkultur besetzen diesen Platz, der frei geworden ist, nur in eher bescheidenem Maße wieder. Ein wichtiger und lebensgeschichtlich früh betretener Erfahrungsraum für die poetisch-religiöse Begegnung mit Lyrik aber hat seine Bedeutung weitgehend verloren.10 8

Ausführlicher dazu Wolfgang Braungart: Die Kunst ist keine Immaculata. Einige Thesen zur Bedeutung schöner Stellen für die Kanonbildung. Auch der Versuch einer Antwort an Heinz Schlaffer. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 68/1 (2018), 89–105. 9 Zum Kontext des geistlichen Liedes vgl. die Anthologie: Jörg Löffler/Stefan Willer (Hg.): Geistliche Lyrik. Stuttgart 2006. – Es ist ein großes Verdienst von Hans-Georg Kempers breit ausgreifender Lyrikgeschichte der frühen Neuzeit, dass sie systematisch die religiöse Lyrik und das Kirchenlied einbezieht. 10 Differenziert zum Verhältnis von Lyrik und Religion: Heinrich Detering: Art. Lyrik und Religion. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, 114–123.

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W. Braungart

Im allgemeinen Teil des heute benutzten katholischen Gebet- und Gesangbuchs Gotteslob findet sich unter Nr. 352 ein Dreifaltigkeitslied des 19. Jahrhunderts, das auf Heinrich Bone (1847) zurückgeht,11 der seinerseits eine ältere Fassung des frühen 17. Jahrhunderts aufnimmt und verändert. Mit guten Gründen hat man vermutet, die erste belegte Fassung von 1621 stamme von Friedrich Spee.12

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Friedrich Spee (1621)

Heinrich Bone 1847

I. O Heiligste Dreyfaltigkeit / Gib deiner lieben Christenheit / Daß sie dich mo[e]g bekennen frey / Ein Gott vnd der Personen drey.

1. O heiligste Dreieinigkeit, Gib deiner lieben Christenheit, Daß sie allzeit bekenne dich Als Einen Gott dreifaltiglich.

II. O Gott! O Sonn! dein Glantz vnnd Hitz / Weit vbertrifft Verstandt vnd Witz / Drey Ding die an der Sonnen sein / Vns dich ein wenig bilden ein.

2. Dein Wesen, Herr, o Gott, dein Licht Begreift ein Mensch auf Erden nicht; Die Sonn’ in ihrer Herrlichkeit Jst Gleichniß deiner Wesenheit.

III. Gott Vatter du die Sonne bist. Dein Sohn / Glantz vo[n] der Sonnen ist. Gleich wie die Hitz der heylig Geist / Den man der Welt ein Tro[e]ster heist.

3. Gott Vater, du die Sonne bist, Der Glanz dein Sohn, Herr Jesus Christ, Die Wärme ist des Geistes Bild, Der alle Welt mit Leben füllt.

IV. Ohn Glantz nie war die Sonne klar / Ohn Sohn / nie Gott der Vatter war / Die Sonn war nie ohn Hitz vnd Glantz / Ohn Anfang war die Dreyheit gantz.

4. Nie war ohn’ Glanz die Sonne klar, Nie ohne Sohn der Vater war,

V. Die Hitz von allen beyden geht / Von Son[n] vnd Glantz zugleich entsteht. Der heylig Geist die dritt Person Kompt auch vom Vatter vnnd dem Sohn.

Der heil’ge Geist von beiden geht, Wie Wärm’ aus Sonn’ und Glanz entsteht.

VI. O Mensch hie deck die Augen zu / Allein das Hertz vnd Mund auffthu / Die Augen deck wie Seraphim Vnd Sanctus sing mit heller Stim[m]!

5. O Mensch, nun deck die Augen zu, Nur Herz und Mund zum Lob aufthu, Sing Heilig nur mit Cherubim, Sing Heilig mit den Seraphim!

VII. O Sonn! Wir haben schwach Gesicht / Wir ko[e]nnen dich anschawen nicht. Was wir auff Erden nicht verstehn / Gib daß wir das im Himmel sehn. Amen.

6. O großer Gott, o ew’ges Licht, Wir können dich anschauen nicht; Was wir auf Erden nicht verstehn, Gib daß wir das im Himmel sehn.

Heinrich Bone, 1813–1893, war Pädagoge, Autor und auch Verfasser zahlreicher Kirchenlieder; auf ihn geht das einflussreiche Gesangbuch Cantate! zurück (zuerst 1847). 12 So Andrea Ackermann, die zu diesem Lied einen vorzüglichen Kommentar verfasst hat. – Andrea Ackermann: Art. O heiligste Dreifaltigkeit. In: Ansgar Franz/Hermann Kurzke/Christiane Schäfer (Hg.) mit Unterstützung von Richard Mailänder unter Mitwirkung von Andrea Ackermann: Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur. Stuttgart 2017, 910–914, hier 911. Diesem Beitrag Andrea Ackermanns entnehme ich die beiden zitierten Versionen des Liedes.

„Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“

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In beiden Fassungen gibt die erste Strophe zu verstehen, dass die Trinitätslehre eine besondere Herausforderung für die „Christenheit“ sei und deshalb eine dezidierte Entscheidung für die „Dreyfaltigkeit“ im Bekenntnis brauche. Diesen Entscheidungsakt könnte man „Glauben“ nennen. Er wäre, folgt man diesem Lied, freilich auf die Unterstützung durch die angerufene Dreifaltigkeit selbst angewiesen („Gib deiner lieben Christenheit“). Glaube wäre insofern einerseits ein Geschenk Gottes, das sich der Gläubige nicht verdienen kann, andererseits doch ein selbstverantworteter, freiwilliger Akt des religiösen Subjekts und keineswegs bloß irrationale Fixierung. Man sieht, wie die lutherische Gnaden- und Freiheitslehre bis ins katholische Lied hineinreicht. Mit der zweiten Strophe – in der Fassung Friedrich Spees – wird Gott einerseits in einer „aisthetischen“ Metapher angesprochen („O Gott! O Sonn!“), die den Menschen auch „aisthetisch“ berührt („Glantz“, „Hitz“). Jetzt kann eine regelrechte Imagination Gottes entstehen, die in die eigene Lebenserfahrung und in die kulturelle Erfahrung hineinreicht und viel mehr ist als der bloße Begriff der „Dreifaltigkeit“, diesen dennoch aber auch nicht preisgibt und damit auch nicht theologischer Dogmatik widersprechen muss. Diese aisthetische, sinnliche Zugänglichkeit Gottes zeigt sich, wie das Gedicht fortfährt, dreifach, also trinitätsästhetisch, und so können wir sie uns „ein wenig einbilden“. So gibt sie unserer Einbildungskraft etwas zu tun, und zwar in der Weise, dass „Verstandt und Witz“ sogar „weit übertroffen“ werden. Diese beiden werden aber nicht negiert. Denn nur im Horizont von „Verstandt und Witz“ kann sich entfalten, wie eigentümlich diese trinitätstheologische Ästhetik ist. Allein aber werden diese beiden, wie die Schlussstrophe sagt, das über die Einbildungskraft imaginativ und zugleich gleichnishaft zugängliche Geheimnis „auff Erden nicht verstehn“ können. Doch auch die menschliche Aisthesis reicht allein nicht aus. Sie kann sich erst „im Himmel“ ganz erfüllen. Aber dies wäre selbst ein Geschenk („Gib . . . “). So wird die ästhetische Eigendynamik doch theologisch in ihre Grenzen verwiesen. Das wird sich mit dem späteren 18. Jahrhundert im Kunstdiskurs ändern, wie ich soeben schon angedeutet habe. Nicht jedoch im kirchlich-institutionellen Milieu.13 Andrea Ackermann hebt in ihrem Vergleich der beiden Fassungen hervor: „Mit der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert erfuhr das Lied die stärksten Veränderungen, besonders in den Strophen II und VI. Dabei lassen sich zwei für den Katholizismus des 19. Jahrhunderts typische Tendenzen ausmachen: eine ‚Eucharistisierung‘ und eine Verdrängung des ‚Verstandes‘ (Str. II/2), letztere eine Gegenbis Überreaktion auf die starke Betonung der menschlichen Vernunft in der Aufklärung.“14 Diese Wendung des sich herausbildenden katholischen Milieus gegen die Aufklärung diente zweifellos dazu, eine begrenzte und wenig stabile Identität zu gewinnen; sie ist für den Katholizismus bis heute eine schwere Hypothek.

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Ein Beispiel dafür in Wolfgang Braungart: Ruth Schaumann – Autorin und Künstlerin des katholischen Milieus. In: Ders.: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. Paderborn 2016, 385–404; dort auch einige wenige Bemerkungen zum Milieu-Konzept. 14 Ackermann, O heiligste Dreifaltigkeit (Anm. 12), 913.

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Noch einmal zurück zum Lied: Das lebendige Spiel von Einbildungskraft und Verstand, das Kant für die ästhetische Erfahrung reklamiert, kennt sogar in der religiösen Aisthesis eine Offenheit und Unabschließbarkeit. Der theologische Begriff der „Dreifaltigkeit“ kann sie nicht stillstellen. Gebraucht wird er aber dennoch, weil die Einbildungsbewegung sonst willkürlich, beliebig und strukturlos wäre. Die Dreifaltigkeitslehre stellt eine große theologische Herausforderung dar. In dieser Hinsicht sind sich beide Fassungen des Liedes einig. Noch mehr aber ist sie dies für das religiöse Bewusstsein der Gläubigen. Weil die Trinität so schwer zu begreifen ist, muss sie ins Anschauliche übersetzt werden – Vater, Sohn und der ihnen gemeinsame Geist. Der Logos braucht als Gegenüber die erfahr- und imaginierbare Veranschaulichung, sonst bliebe er bloß abstrakt. Er braucht, so wäre im Hinblick auf Religion als System und Struktur, vielleicht etwas zu rasch verallgemeinernd, zu sagen, den Mythos, also eine bestimmte Imagination – und nicht nur eine Narration; dieses Verständnis des Mythos greift zu kurz; eine Imagination identitätsstiftender Funktion und überindividueller Geltung und Reichweite, die etwas durch ästhetische Artikulation „erklärt“. In diesem Sinne verstanden, ist es mit Mythen auch in nach-mythischer Zeit nicht vorbei.15 Theologisch muss sich der (religiöse) Mythos aber prinzipiell (also natürlich nicht unbedingt für die je individuelle Religiosität) entmythologisieren, das heißt: vernünftig explizieren lassen. Sonst droht er terroristisch zu werden, eben weil der Mythos von anschaulicher, bestimmter und damit fordernder Deutlichkeit ist.16 Was tue ich zum Beispiel, wenn ich die Christologie in der Kampf- und Feudal-Metaphorik von Kampf, Streit, Sieg, Herrschaft, Königtum usw. auslege? Welche Theologie formuliere ich dann implizit?17 Das Dreifaltigkeitslied macht diesen Zusammenhang ganz durchsichtig. Man muss sich zur Trinitätslehre in jedem Fall „frei bekennen“. Und man kann dies, so in diesem Lied, weil einen das Bild, das hier gefunden wird, einer Ästhetik der Herrlichkeit folgend,18 ästhetisch überzeugt. Zwischen Mythos und Logos, zwischen lebendiger Einbildungskraft, die das Bild nachvollzieht, und abstrakter begrifflicher Reflexion bewegt sich eine „freie“ Gläubigkeit und Religiosität, wie sie dieses Gedicht impliziert.19 Vereinseitigen darf sie sich in keine Richtung. Im einen Fall drohte naive, „blinde“ Reflexionslosigkeit, im andern „leere“ begriffliche Abstraktheit. An Goethes genialer „Erlkönig“-Ballade habe ich einmal zu skizzieren ver15

Vgl. das anregende Lexikon von Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Stuttgart/Weimar 2014, das den Mythos jedoch vor allem narrativ bestimmt. Das halte ich für problematisch, weil zu eng. Ergänzend zu diesem Lexikon, klassisch und mythenkomparatistisch ausgerichtet, mit einem vorzüglichen Einleitungsteil der Hg.: Christoph Jamme/Stefan Matuschek (Hg.) unter Mitarbeit von Thomas Bargatzky u. a.: Handbuch der Mythologie. Darmstadt 2014. 16 Vgl. auch den noch immer grundlegenden Sammelband: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971. 17 Dank an Richard Faber, Berlin, der mich seit Jahren beharrlich auf diese Problematik hinweist! 18 Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. 3 Bde. Einsiedeln 1988 ff. 19 Es geht leider auch anders: Während eines Jugendgottesdienstes, 2018 in einem Eifelstädtchen, erklärte der Pfarrer die Trinitätslehre so: Man könne sich das Problem wie einen Marmorkuchen vorstellen. Gottvater sei der helle Teig, der Sohn der dunkle; und der Schokoladenüberzug, der den Kuchen umhülle, entspreche dem Heiligen Geist.

„Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“

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sucht, wie ein lyrischer Text verweigerte Kommunikation zwischen Mythos (Welt des Sohnes) und Logos (Welt des Vaters) durchspielt und dieses Scheitern in die für beide Seiten denkbar größte Katastrophe münden lässt.20 Denn beiden, Vater und Sohn, fehlt der gemeinsame Geist, der verbindet und versöhnlich macht: Goethes Ballade ist lesbar als poetische Trinitätstheologie, aufs Genaueste und Knappste gestaltet. Hegel hat die Bedeutung der Trinitätstheologie klar gesehen; für ihn ist sie das Modell seiner Dialektik. Es ist, glaube ich, klar, worauf ich hinauswill: Die Struktur der religiösen Erfahrung, wie sie sich, ausgehend von diesem Lied, beschreiben lässt, erinnert frappierend an die Struktur ästhetischer Erfahrung auf dem Gebiet der Kunst. Religion wie Literatur entfalten sich zwischen Mythos und Logos, zwischen Imagination und Begriff, zwischen lebendiger Einbildungskraft und Vernunft. Sie sprechen damit zwei grundlegende Vermögen des Menschen an. Weder Mythos noch Logos haben Alleinvertretungsrecht des Menschlichen; sie bestimmen sich wechselseitig im spannungsvollen Bezug aufeinander. Gerade dieser Bezug aufeinander kann ihre Selbstreflexivität hervor- und vorantreiben. Sie können sich im andern gewissermaßen selber anschauen und begreifen. Die Spannung zwischen diesen Vermögen konstituiert Bewegung, einen Prozess, der sich nicht stillstellen lässt und nicht stillgestellt werden darf. Diese Spannung ist insofern auf eine grundlegende Weise „ironisch“, bis heute.21

III Zwei Thesen Religion hat für die Geschichte der Literatur größte Bedeutung. Das würden selbst diejenigen nicht bestreiten, denen Religion persönlich gleichgültig geworden ist oder überhaupt Schnee von gestern scheint. Untersuchungen zu den Spuren, die Religion und insbesondere der biblische Text in Literatur hinterlassen haben, hat es natürlich schon lange vor der neuen kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf Religion unter neuen, besorgniserregenden weltgeschichtlichen Bedingungen gegeben. Seit einiger Zeit fragen Literaturwissenschaft und Theologie auch wieder neu nach der Literarizität der Bibel. Die weitergehende, genuin theologische und auch pastorale und religionspädagogische Frage, inwiefern Gott durch die poetischen Texte selbst spreche, also die nach einer „poetischen Theologie“,22 muss 20

Vgl. Braungart, Literatur und Religion (Anm. 13), 35 f. Vielleicht darf man hier an eine grundlegende Sentenz erinnern, die Luther in „Grund und Ursach aller Artikel“ prägt: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“ Verblüffend, wie „romantisch“-modern Luther hier klingt. (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883 ff. [Neudruck Graz 1964 ff.]. Bd. 7: Schriften, Predigten, Disputationen 1520/21 [WA7, 336], 31–36.) 22 Die noch nicht sehr klar bestimmte Formel findet sich verschiedentlich; so etwa bei Reiner Strunk: Poetische Theologie. Grundlagen – Bausteine – Perspektiven. Neukirchen-Vluyn 2008. 21

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hier außer Betracht bleiben, weil es in meinem Zusammenhang nicht um praktische pastorale oder pädagogische Interessen geht. Für das Verhältnis zwischen Theologie und Literaturwissenschaft war und ist das Interesse an pastoraler und religionspädagogischer Brauchbarkeit der Literatur und der Künste überhaupt eher belastend. Die mich besonders interessierende systematische Diskussion aber, inwiefern sich Religion und Literatur (und Kunst allgemein) „wechselseitig erhellen“ könnten, ist bislang sehr viel stärker von der Theologie ins Auge gefasst worden als von der Literaturwissenschaft. Das zu korrigieren, könnte ein literaturwissenschaftliches Forschungsfeld eröffnen. Vor nun 100 Jahren hat Oskar Walzel die Idee einer wechselseitigen Erhellung der Künste entworfen.23 Das schwebt mir auch für das Verhältnis von Kunst- bzw. Literaturwissenschaft und Theologie vor; an diese komparatistische Idee Walzels lehne ich mich an. Religion und Literatur (die Künste überhaupt) sind kulturgeschichtlich grundlegende, besonders „gepflegte“, also „kultivierte“ Artikulationen.24 Alle kulturellen Artikulationen (im Sinne Humboldts) sind gestaltete und sich zeigende, insofern „ästhetische“ Artikulationen, in denen sich Menschen ausdrücken: also viel mehr als bloße Darstellung.25 Wäre es nicht so, dann wären sie gar nicht als bedeutsam, als relevant, mit dem Koblenzer Philosophen Matthias Jung: als uns angehender, „bewusster Ausdruck“26 erkennbar. In diesem Sinn verbindet das Problem der Ästhetik Literatur und Religion: also die Frage nach der besonderen Weise, in der sich etwas zeigt, in der etwas zur Erscheinung kommt und artikuliert wird. Das ist, mit dem Grundbegriff Dorothee Sölles, die Frage nach der „Realisation“ und ihrer Rezeption.27 Man kann mit guten Gründen dafür argumentieren, dass Religion und Kunst in der Gattungsgeschichte des Menschen gleich ursprünglich seien, weil alle Religion imaginativ und ästhetisch sein muss. Sie muss Vorstellungen vom Göttlichen bzw. Heiligen hervorbringen und in kulturellen Manifestationen verschiedenster Art, die Performanz – etwa im Ritual – selbstverständlich eingeschlossen, artikulieren und so erfahrbar machen.28 Wer in irgendeiner Weise Religion nicht nur praktizieren, sondern verstehen und vermitteln will, muss deshalb auch ästhetisch kompetent sein. Nach der grundlegenden Bedeutung des Ästhetischen für Religion

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Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. 24 Darauf hat Hermann Kurzke immer wieder hingewiesen; ich verdanke ihm überhaupt viele Anregungen. 25 Das kann man sich am sog. postdramatischen Theater gut klarmachen: Es ist Artikulation, nicht bloß Darstellung. 26 Matthias Jung: Der bewußte Ausdruck. Anthropologie der Artikulation. Berlin 2009. 27 Dorothee Sölle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt 1973; vgl. auch Wolfgang Braungart: Realisation, nicht bloß: Poetisches ‚Reden über Religion‘. Eine Erinnerung an Dorothee Sölle und zwei Gedichte Annette von DrosteHülshoffs. In: Richard Faber/Almut-Barbara Renger (Hg.): Religion und Literatur. Konvergenzen und Divergenzen. Würzburg 2017, 19–40. 28 Vgl. dazu den großartigen, soeben erschienenen Katalog: Ja´s Elsner/Stefanie Lenk u. a.: Imagining the Divine. Art and the Rise of World Religions. Oxford 2017.

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zu fragen, bedeutet also keineswegs, sich auf einen bloßen Ästhetizismus zurückzuziehen.29 So allgemein gesehen, ist Ästhetik also die Wissenschaft von dem, was sich für unsere Sinne zeigt; sie ist insofern eine kulturwissenschaftliche Grundlagendisziplin. Diesen Standpunkt möchte ich nachdrücklich vertreten. Das reicht aber natürlich noch nicht. Man bringt ja auch nicht ohne Not die Art und Weise, in der sich Kochgeschirr, Türklinken und Hausschuhe für unsere Sinne zeigen, mit Religion oder Literatur in Verbindung. Beide, Religion wie Literatur, haben es, insofern sie kulturell offensichtlich besonders wichtige ästhetische Artikulationen sind, auch mit dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn, mit anthropologischen Einsichten, mit der menschlichen Erfahrungsfähigkeit und Einbildungskraft zu tun, die immer individuell und, mit einem wichtigen Begriff aus Adornos Ästhetik, „fait social“ sind. Dass menschliche Artikulationen kulturelle, also überindividuelle Relevanz gewinnen, hängt genau damit zusammen. Kollektiv relevante Einsichten, Erfahrungen und Imaginationen, ohne die keine Religion auskommen kann, artikulieren sich auch im Mythos. Ihn besonders, angemessen und überzeugend zu gestalten und zu interpretieren, ist schon immer eine Aufgabe für Literatur und Kunst. Religion, Literatur und Kunst sind zugleich grundlegende Diskurse menschlicher Selbstreflexion und menschlicher Selbstbegegnung.30 Will man diese Behauptung im Hinblick auf Religion als Anthropozentrismus kritisieren, so möchte ich doch entgegnen: Religion – hier schließe ich an Lessing an und reformuliere ihn ein wenig kulturevolutionistisch – ist natürlich für den Menschen da. Diese Position stellt für die Institutionen der Religion, insbesondere wenn sie sich selbst sakralisieren, sicher eine Herausforderung dar. Aber Menschen bringen im Prozess ihrer Kultur die Diskurse hervor, die sie brauchen.31 Auch wenn ich sage, zu Religion gehöre konstitutiv die Anerkennung und Verehrung Gottes, allgemeiner: von über- bzw. außermenschlichen Mächten und Kräften, in der Erwartung, dass sie auf mich einen heilsamen Einfluss haben,32 sage ich das, ein Mensch, ein Subjekt im 21. Jahrhundert. Meine Anmerkungen zum also gar nicht zufälligen Zusammenhang von Literatur und Religion33 haben damit zwei systematische, das Subjekt, nicht die Institution (und damit nicht die Dogmatik) betreffende Schwerpunkte. Beide muss man aufeinander beziehen. Der eine konzentriert sich auf die Begriffe Freiheit, Autonomie, Würde des Menschen; der andere auf Subjektivität, Selbstreflexion, Selbstverhältnis, subjektive Artikulation und zwar in der Weise, dass sie uns auch angehen. Das ist grundlegend; schon Kant sagt, dass unser ästhetisches Urteil so beschaffen sein 29

Man nimmt deshalb auch die Herausforderung, die Martin Mosebachs Polemik Die Häresie der Formlosigkeit darstellt, nicht hinreichend ernst, wenn man sie als religiösen Ästhetizismus abtut. 30 Ganz konkret erfahrbar zum Beispiel in dem wunderbaren Buch: 500 Selbstporträts. Einführung von Julian Bell. London/New York 2015 (Taschenbuch, zuerst 2000). 31 Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg i.Br. 2004. 32 Dieser Religionsbegriff in Anlehnung an Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007. 33 Vgl. auch Detering, Lyrik und Religion (Anm. 10), 115 f. (‚Ko-Genese‘).

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müsse, dass es dem andern angesonnen werden kann. Es muss also eine gewisse Allgemeinheit haben. Meine Hausschuhe kann ich dagegen ganz nach meinem persönlichen Geschmack auswählen (solange meine Familie nicht eine allzu große Zumutung darin sieht; dann wird selbst diese an sich marginale ästhetische Entscheidung sozial relevant). Zum ersten systematischen Schwerpunkt – Freiheit, Autonomie, Würde des Menschen –, der historisch ins 18. Jahrhundert, ins Jahrhundert der Aufklärung führen muss, diese erste, zusammenfassende historische Frage und eine These, die ich ansonsten hier nicht weiter ausführen will, weil ich mich dazu schon mehrfach geäußert habe: Zuerst die historische Frage: Wie kann erklärt werden, dass sich im 18. Jahrhundert die Idee der Autonomie der Kunst durchsetzt und der Kunst ein so herausragender Rang für Kultur überhaupt und für die individuellen Bildungsprozesse im Besonderen zugesprochen wird? Und ein historisch-systematischer Antwortversuch in der ersten These: Die autonome Kunst ist der symbolische Diskurs der Autonomie und Würde, mit Hans Joas: der „Sakralität“ des Menschen selbst.34 In der Achtung, die der autonomen Kunst entgegengebracht wird, artikuliert sie sich symbolisch und wird sie symbolisch eingeübt.35 Deshalb wird die Kunst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert so emphatisch verstanden und für den neuen Bildungsbegriff, der nun aufkommt, so wichtig. Kunst soll seit dem 18. Jahrhundert ihren Zweck in sich selbst haben und nicht in irgendwelchen externen Nützlichkeiten und Brauchbarkeiten. Als solche autonome Kunst ist sie ein Analogon des Subjekts in seiner Freiheit, ja: Sie ist das große kulturelle Symbol für das freie Subjekt selbst. Schillers Ästhetik beruht vor allem auf diesem Gedanken. In einer zweiten These: Die Begegnung mit dem freien, als symbolisch-offen bestimmten Kunstwerk kann insofern zu einer symbolischen Begegnung mit dem „homo sacer“ in seiner unhintergehbaren Würde werden, und zwar genau dann, wenn es eine freie, nicht „brauchbare“, nicht funktionale Begegnung ist.36 Was um 1800 gedacht wird, hat bis heute nichts von seiner großen Bedeutung verloren. Das flankierende theologische Argument dazu: Kunst ermöglicht insofern die zutiefst humane Selbstbegegnung, weil sich in ihr nun eine letztlich auch religiös-anthropologisch begründbare Subjektidee von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im säkularen ästhetischen Diskurs artikuliert. Die Achtung, die man dem zweckfreien Kunstwerk entgegenbringt, bringt man symbolisch dem Menschen selbst entgegen. Argumentiert man so, verliert die These von der modernen

34 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011. Vgl. zu dieser Frage auch Joachim Jacob: „Nach eigener Natur und Art“ (J.G. Herder) – über die ethischen Ansprüche ästhetischer Autonomie. In: Sprache und Literatur 41 (2010), 49–59; bes. 5 (zur Anerkennung menschlicher Individualität und Freiheit bei Moritz und Schiller, die fordert, auch die Autonomie und Individualität des Kunstwerks anzuerkennen, 54 ff.). 35 Vgl. Kenneth Burke: Literatur als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur. Frankfurt a.M. 1966. 36 Darum ist die heutzutage so vielfach zu beobachtende pastorale Verzweckung der modernen Kunst so problematisch; Stichwort: Literaturpredigt.

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Kunst als Säkularisationsprodukt den kulturkritischen Einschlag, den das Säkularisierungsmodell oft hat. Religionen sind – wie soeben schon umrissen – notwendig ästhetische Systeme. Ihre Artikulationen umfassen das gesamte Feld des Ästhetischen: die konkreten Objektivationen und Materialisierungen,37 die kultischen Rituale und sonstigen Performanzen, die mythischen Imaginationen. Religiöse Erfahrung schließt insofern immer auch ästhetische Erfahrung ein. Religiöse Erfahrung wissenschaftlich zu reflektieren, kann deshalb nicht nur eine Sache der Religionspsychologie sein,38 sondern mindestens ebenso so sehr eine der Religionsästhetik. Das Ästhetische an Religion geht also an: die Theologie als Wissenschaft, in deren Zentrum die wissenschaftlich gestellte Frage nach Gott steht; die Religionswissenschaft als die Disziplin, die sich mit dem kulturellen Phänomen Religion systematisch und historisch-vergleichend befasst; und die Literatur- und Kunstwissenschaften, die sich für ästhetische Artikulationen, vor allem in ihrer besonderen, elaborierten Form, die wir Kunst nennen, professionell zuständig fühlen sollten. Natürlich auch auf dem Gebiet der Religion; daran zweifelt so lange niemand, wie Kunst- und Religionsgeschichte bis zum Ende der frühen Neuzeit aufs Engste zusammengehören. Aber eben auch darüber hinaus.

IV An einem berühmten Beispiel: Stefan Georges „Komm in den totgesagten park und schau“ Auszeichnungen, Hervorhebungen, Würdigungen, die bis hin zu Sakralisierungen gehen können, sind grundlegende ästhetisch-kulturelle Praktiken, in denen symbolische Ordnungen von Gemeinschaften, Gesellschaften und politischen Systemen etabliert werden und sich ausdrücken. Es gibt ästhetische Epochen, die besonders offen für Sakralisierungen sind. Ein Beispiel: Um 1900 zieht die Beuroner Kunstschule, die die religiöse Kunst und mit ihr das benediktinische Mönchstum erneuern will, solche ästhetische Aufmerksamkeit außerhalb der Mönchskultur auf sich, dass die Maler-Mönche sogar in die Wiener Sezession eingeladen werden (1905), weil man in ihrem einheitlich-strengen, rituell-feierlichen, Symmetrie und archaische Form betonenden Stil einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Moderne sieht.39 Aber nun konkreter zu einem der bekanntesten Gedichte der deutschen Literatur, das hier kurz vorgestellt werden soll, weil es in die Beziehungsgeschichte von Literatur und Religion und in die damit verbundenen systematischen Fragen weiter hineinführen kann, Stefan Georges „Komm in den totgesagten park und schau“:

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Soeben erschienen: Susanne Scholz/Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin/Boston 2018. 38 William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Olten 1979 (zuerst engl. 1902). 39 Vgl. grundlegend Harald Siebenmorgen: Die Anfänge der ‚Beuroner Kunstschule‘. Peter Lenz und Jakob Wüger 1850–1875. Ein Beitrag zur Genese der Formabstraktion in der Moderne. Sigmaringen 1983.

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W. Braungart Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade  Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb  das weiche grau Von birken und von buchs  der wind ist lau  Die späten rosen welkten noch nicht ganz  Erlese küsse sie und flicht den kranz  Vergiss auch diese lezten astern nicht  Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.40

Stefan George ist der wichtigste Lyriker des deutschsprachigen Ästhetizismus und Symbolismus. Seiner Offenheit gegenüber der europäischen Literatur und besonders seinen Übertragungen zeitgenössischer, vor allem französischer Gedichte (besonders Baudelaires, aber auch Verlaines, Rimbauds und Mallarmés) ist es entscheidend zu verdanken, dass die stagnierende deutschsprachige Lyrik um 1900 neue, grundlegende Impulse erhalten hat. Die enorme literarische Wirkungsgeschichte Georges reicht bis in die Konkrete Poesie und in die Lyrik von heute hinein (Norbert Hummelt, Wulf Kirsten, Uwe Kolbe, Dirk von Petersdorff, Lutz Seiler und viele andere).41 In „Komm in den totgesagten park“ darf man das berühmteste Gedicht Georges sehen, und es ist wohl eines der schönsten Herbstgedichte deutscher Sprache. Bis heute findet es sich in vielen Lyrik-Sammlungen (in der Sprache des 19. Jahrhunderts: in poetischen Blüten- und Blumenlesen) und Schulbüchern.42 Georges schon zu seinen Lebzeiten und noch immer bekanntester Gedichtband Das Jahr der Seele von 1897 wird durch dieses Gedicht eröffnet; und eröffnet wird damit auch der erste Binnenzyklus „Nach der Lese“ (von insgesamt drei Zyklen; die weiteren tragen die Titel: „Waller im Schnee“ und „Sieg des Sommers“; das Frühjahr wird ausgespart; so weit soll die Anlehnung an den Zyklus der Jahreszeiten also nicht gehen). Man darf sicher an die Weinlese und Ährenlese denken. George kommt aus der mittelrheinischen Landschaft; sein Vater war Weinhändler. Der „Meister“ (so wurde er, wie Mallarmé, von seinen „Jüngern“ angeredet) hat das ländliche Leben genau gekannt; er bezieht sich in seiner Lyrik oft darauf. Denken darf man aber auch an „Auswahl“ und „Ertrag“: also an eben das, was der ganze Gedichtband selbst sein will. In seiner verhaltenen, suggestiven Melancholie spricht das Gedicht von der einen, unwiederbringlichen Erfahrung, in der die herbstlich absterbende Park40

In: Stefan George: Das Jahr der Seele. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. IV. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1982 ff., 12. 41 Vgl. hierzu das George-Jahrbuch 10 (2014/15), das diesen Schwerpunkt der George-Rezeption in der Lyrik der Gegenwart hat. 42 Zu diesen Rezeptionssträngen müsste grundsätzlich mehr gearbeitet werden, wenn man Kanonisierungsprozesse und die institutionellen Grundlagen einer Geschichte ästhetischer Erfahrung rekonstruieren will.

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landschaft noch einmal in einer ganz eigenen Schönheit erscheint, obwohl diese Landschaft dem Tod schon geweiht ist. Solche Schönheit zu ergreifen, also ganz in der „Schau“ zu erfassen, fordert der lyrische Sprecher „dich“ auf und wohl genauso sich selbst. Das Gedicht ist der geeignete und ausgezeichnete Ort, wo das gesagt werden kann, was Schönheit ist und woher sie kommt: wo also über Kunst poetisch reflektiert werden darf. Das lyrische „Du“ kann auch als Modus der Selbstansprache und damit als Akt der Selbstreflexion verstanden werden. Dieser Gedanke der selbstreflexiven Selbstbezüglichkeit, der für Kunst und Literatur vielleicht überhaupt grundlegend ist, insbesondere jedoch in der Moderne, wird gleich noch einmal wichtig werden. Solche Selbstbezüglichkeit ist einerseits ästhetisches Formprinzip, eine Sache der „Machart“.43 Andererseits artikuliert sich hier poetisch Subjektivität, also ein Selbstverhältnis, eine Individualität, die sich als künstlerisches Subjekt selbst weiß. (Das sind die beiden Aspekte von Subjektivität, die hier betont werden müssen: das Individuum-Sein und das Gegenüber-Sein, auch sich selbst gegenüber.) Eine Nebenbemerkung: Man kann am religiösen Kitsch sehen, der ein Phänomen der Moderne ist und meines Erachtens allmählich im 17. Jahrhundert mit Künstlern wie Guido Reni (1575–1642) einsetzt, wie sich auch die religiöse Kunst unter diesen früh-modernen Selbstreflexionsdruck gesetzt sieht.44 – Religiöser Kitsch ist mit seiner religiösen Aufgabe nicht mehr einig; er versucht, ihr mit ästhetisch-rhetorischer Überdeutlichkeit nachzukommen. – Und das gilt für (christliche) Religion selbst: Mit der Reformation gerät sie mehr und mehr in diese Reflexionsherausforderung. Man könnte nun sagen: Hier liegt eben ein Dekadenz-Gedicht vor, das Tod und Schönheit verbindet, wie es so oft in der Epoche der Décadence durchexerziert wird, zum Beispiel von Thomas Mann in seiner Meisternovelle Tod in Venedig (1911). Tadzio nämlich, der so schöne und verführerische Jüngling, trägt anagrammatisch den Tod in seinem Namen: Tadzio. Oder aber schon August von Platen in seinem berühmten Gedicht „Tristan“, 1825: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben“. Warum? Weil mit der Schönheitserfahrung eine Sehnsucht geweckt ist, die aus jeder Normalität herauslöst und sich auf Erden nicht mehr erfüllen wird? George ist nicht allein, und er weiß immer, dass er in einer großen Tradition steht. Er ist sich auch immer seiner Bedeutung in dieser Tradition bewusst.45 Bei Georges Park-Gedicht besteht nun von Beginn an kein Zweifel, dass wir Leser die Kunstwelt der poetischen Sprache betreten. Park und Garten sind große

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Vgl. Kurz, Macharten (Anm. 7). Vgl. Sybille Ebert-Schifferer (Hg.): Guido Reni und Europa. Ruhm und Nachruhm. Frankfurt a.M. 1988, Ausstellungskatalog der Schirn-Kunsthalle 1988–1989. – Es ist kein Zufall, dass Reni gerade im Öldruck des 19. Jahrhunderts vielfach reproduziert wurde, also seriell, industriell. So, industriell, produziert Kitsch den Griff ans Herz. Vgl. Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002. 45 Das zeigt zum Beispiel seine Auswahl deutscher Dichtung: Deutsche Dichtung. 3 Bde. Hg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. Stuttgart 1989 ff. (Nachdruck der Ausgabe von 1900). 44

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Symbole der Kunst, nicht erst um 1900.46 Park und Garten brauchen fortwährende Sorgfalt und Aufmerksamkeit der Menschen, die sie gestalten. Man spürt sofort, mit dem ersten Vers, dass hier eine Aura entsteht, die man, mit Georg Simmel, „religioid“ nennen könnte. Wer die Schönheit von Park und Garten in der Herbstzeit wahrnehmen will, der muss sie gerade durch den sich ankündigenden Tod der Natur hindurch sehen wollen und können. Eingedenk des Todes muss er sein, hingegeben an den Tod und doch ihm widerstehen wollen. Er muss zum „Schauen“ bereit sein, nicht nur zu einem zweckhaften Sehen, das der bloßen Orientierung dient. Mit diesem Appell endet der erste Vers der ersten Strophe; der Doppelpunkt markiert dies: Jetzt übertrittst du, Leser, die Schwelle zur Welt der Lese, der Auswahl, des Besonderen: der Kunst. Und sogleich wird die Sprache, die darstellt, was es zu sehen gibt, selbst besonders und kostbar: In der Ferne sind „lächelnde Gestade“ zu „schauen“, die „schimmern“, und nicht nur banale Ufer zu „sehen“. Zu „schauen“ ist auch das „reine“ Weiß der Wolken, zwischen denen ein überraschendes „Blau“, auf das man gar nicht mehr zu hoffen gewagt hat, durchbricht. Die Bläue des Himmels steigert sich noch an der „Reinheit“ der weißen Wolken. Die totgesagte Parklandschaft, die sich vor dem „Du“ nun ausbreitet, zeigt sich frisch und neu in diesem Licht, das von oben kommt. „Du“ aber musst das sehen wollen! Das ist moderne ästhetische „theoria“, moderne Gesamtschau, moderne Schau des Ganzen durch das Auge des Subjekts.47 Das ist bemerkenswert, würde Stifter vielleicht sagen, ein anderer Meister des poetischen Schauens und Betrachtens. In dieser Ästhetik, diesem poetischen Entwurf eines der Schönheit angemessenen Sehens als Schau, beziehen sich nämlich Himmel und Erde aufeinander, ein Motiv, das George hier aber nicht in schwerer Metaphysik ausbuchstabiert. (Denn die Stärke der Literatur liegt weniger in direkten wuchtigen Thematisierungen, sondern in ästhetischen Evokationen, was mehr ist als bloße Tatsächlichkeit.48 ) Das „unverhoffte Blau“, die Farbe der Transzendenz, lässt sie aber noch erahnen.49 Die mystische Hochzeit zwischen Himmel und Erde, an die etwa Eichendorffs berühmtes Gedicht „Mondnacht“ auch nur im Modus des „Als ob“ noch erinnert („Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküsst“), findet in Georges Gedicht als ästhetisches Ereignis statt, als ästhetische Verständigung im Auge des poetischen Subjekts. Sie ist ihm aufgegeben: „Schau!“ und „nimm!“ 46 Friedmar Apel: Die Kunst als Garten. Zur Sprachlichkeit der Welt in der deutschen Romantik und im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1983. 47 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster 1963. 48 Wassily Kandinsky veröffentlicht 1911: Über das Geistige in der Kunst. Mit einer Einführung von Max Bill. Bern-Bümpliz 4 1952. 49 Siehe auch: Der Auszug der Erstlinge. In: Stefan George: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. III. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1982 ff., 20: „Wir wandten nur ein einzigmal den blick zurück / Und in das blau der fernen traten wir getrost.“; Blaue Stunde. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. V. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1982 ff., 62.

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Georges ernste Introduktion in den Gedichtband lässt sich aber auch als ein „Memento Mori“-Gedicht verstehen, das insofern ebenfalls in einer langen Tradition steht. Absterben und Tod werden bei George geradezu zur Bedingung einer einzigartigen Schönheit, die das Subjekt erfährt. Einen anderen Trost als den ästhetischen gibt es hier nicht. Das Gedicht evoziert keine monistische Ganzheitsvorstellung, wie sie in der Literatur der Jahrhundertwende häufig gestaltet wird. Die hier imaginierte ästhetische Beziehung setzt eine grundlegende Trennung voraus. Aber vom Licht her, das von oben kommt, versteht man „die weiher und die bunten pfade“ auch besser; sie werden auch in diesem Sinne nämlich „erhellt“. Die zweite Strophe macht dieses ästhetische Ereignis noch sehr viel stärker zu einer Aufgabe des angesprochenen „Du“. Es wird nun aufgefordert, über die Schau hinaus, die einen subjektiven Zusammenhang zwischen oben und unten schafft, selbst in den ästhetischen Gestaltungprozess einzutreten, tätig zu werden und aus der gegenständlichen Welt des Parks die „reinen“ ästhetischen Werte herauszuziehen. Ästhetische Praxis ist hier poietische Praxis: „Dort nimm das tiefe gelb  das weiche grau / Von birken und von buchs“. Die Stimmung des HerbstlichÜbergänglichen wird nur dem zugänglich, der den „lauen Wind“ spürt (der also, wie das „weiche grau“, dazwischen ist: nicht heiß, nicht kalt) und die Schönheit der absterbenden Rosen wahrnehmen kann: der sich zur Welt ästhetisch verhält und sich dem Leben wie dem Tod zuwenden kann. Daraus sollst „du“ nun etwas machen, was ein Neues ergibt: einen „kranz“ nämlich, ein neues Gebilde, in dem sich die einzelnen ästhetischen Erfahrungen der Dekadenz (im wörtlichen Sinne: des zu Ende Gehenden) innig zu einem neuen Ganzen verbinden, ohne die Differenz aufzuheben (beim „Flechten“ bleiben die einzelnen Stränge sichtbar). Gefordert ist dafür, die Schönheit der „reinen“ Farben zu „erlesen“ und sie zu „küssen“. Das meint mehr, als nur auszuwählen und neu zu arrangieren. Um einen besonderen, stilisierten Vorgang geht es vielmehr, durch den die ästhetischen Werte ausgezeichnet werden. Man pflegt in der Regel die zu küssen, die einem besonders viel bedeuten. Küssen ist auch ein Akt ritueller Achtung und Verehrung. Der Ton wird spätestens hier, im letzten Vers der zweiten Strophe, wirklich rituell-religiös. Das Gedicht hat ohne Zweifel etwas Feierliches; es evoziert eine sakrale Stimmung im Medium der poetischen Sprache selbst.50 Soll das aber gelingen, braucht es „deine“ freie Bereitschaft und, wichtig für George, „deine“ – womöglich, auch bei George immer mitzudenken, kulturkritische – Entscheidung für diese sakral-ästhetische Perspektive, eine Art ästhetischer Dezisionismus, in dessen Zentrum die Idee der Schönheit steht. Zu dieser Subjektivität gehört die freie Entscheidung und das entschlossene Tätig-Werden des Subjekts.

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Stimmung: Noch ein Kandidat für Brückenschläge zwischen Kunst und Religion; zu dieser Kategorie jetzt: Friederike Reents: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015. Eine nähere Bestimmung von „Stimmung“ vielleicht mit Wittgenstein? „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ Philosophische Untersuchungen, Nr. 6, hier zit. nach: Ensberg, Der schöne Gott (Anm. 6), 230 f.

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Dieser An-Spruch, diese Imperative zur ästhetischen Handlung, die an das „Du“ ergehen, setzen sich in der dritten Strophe fort. Vom „wilden“, „grüne[n] leben“ bleibt ebenfalls nur der Farbwert. Reben, Wein, Herbst: Das alles sind natürlich, unnötig zu sagen, alte, kulturell eingeübte Motive.51 Das „wilde Leben“ mag auch an den Gott des Rausches, der Begeisterung, der Vitalität: an Dionysos erinnern (und – historisch – damit an die bedeutende Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und um 1900 überhaupt52 ). In der Kunst des Gedichtes wird all dies „aufgehoben“: also bewahrt, veredelt, gesteigert und zu einem neuen und schönen Ganzen integriert. Siehe, ich, der Dichter, mache alles neu. Man darf im Schlusswort „Gesicht“, das das ganze Gedicht auch als Vision der Schönheit bestimmt (das zweite Gesicht zu haben, heißt: vorausschauen und in eine andere Welt hineinschauen zu können), zugleich „Gedicht“ durchhören: Diese einzigartig schöne Erfahrung des erinnerten ganzen Lebens zwischen Sommer und Winter, zwischen Leben und Tod, die also beide wirklich kennt, kann nur im Gesicht-Gedicht bewahrt, gegen Sterben und Tod verteidigt und auch ertragen werden. „Verwinden“ bedeutet ja: etwas verschmerzen, seelisch aushalten, sich vielleicht sogar davon freimachen. Herbstliche Parklandschaft, Landschaft der Seele und poetische Landschaft des Gedichtes durchdringen sich völlig. Der Leser betritt jetzt, mit diesem Eröffnungsgedicht des Jahrs der Seele, einen neuen Gedicht-Park der Schönheit, der ihm die reine ästhetische Aufmerksamkeit abverlangt, nichts sonst, und ihn so ästhetisch tröstet – wie ein Trauerritual, das nicht nach Wahrheit und Eigentlichkeit fragt und doch wirksam ist: durch Form. Das ist im Wissen des Todes doch gar nicht wenig. Der Leser betritt einen Sprachraum gesteigerter, sakral anmutender Bedeutsamkeit. Es ist insofern ein religioides Gedicht, ein „religiöses Halbprodukt“ (Georg Simmel), in dem Gestaltung und gestaltender Nachvollzug zu einer (subjektiven und doch das Kollektiv mitsetzenden) Bewältigungspraxis werden. Es inszeniert poetische Sakralisierungsstrategien und fordert den Betrachter, also den Leser des poetischen Parks der Gedichte, zur angemessenen Haltung und Praxis auf.

V Nichts als die „alte“ Kunstreligion? Dritte These Diese Einführung in die Park-Welt der Kunst vollzieht sich in Georges lyrischem Zyklus als ein deutlich markierter, sakralisierender Akt, als ein poetisches Übergangs-, Schwellen- und Initiationsritual in die besondere Sphäre der Poesie. Als ein solches poetisches Ritual ist es aber, anders als man dem Ritual gerne un51

Guido Naschert: Art. Herbst; Jochen Hörisch: Art. Wein. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar 2008, 152 f. und 419 f. 52 Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme. Berlin/New York 1984; Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt a.M. u. a. 1989; Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche. „Versuch einer Selbstkritik“. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts (2004), 234–258; Nikolas Immer: Mit singender statt redender Seele. Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und seinem Kreis. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin u. a. 2009, 55–86.

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terstellt, mit der Perspektive des Subjekts gerade nicht unvereinbar. Der Leser, der in diesen bedeutsamen Raum hineinwill, muss sich dafür bereit machen, er muss aus seinem Lebenszusammenhang heraustreten, verweilen wollen, sich auf etwas konzentrieren, was nicht alltäglich ist. Das war einmal etwas, was Religion und ihre Praxis dem Subjekt abverlangt und eingeübt haben.53 Durch das Introduktionsgedicht wird der Leser zugleich bereit gemacht: eine eigentümliche Doppelstruktur, die wir aus vielen Übergangsritualen kennen, gerade auch im religiösen Bereich. Man denke nur an die Eingangsszenarien mit ihren spezifischen Ritualen in Kirchen, Tempeln oder, ein anderer Kulturraum, shintoistischen Schreinen. Dann aber, richtig vorbereitet, kann sich auch etwas an einem selbst vollziehen. Im ritualpoetischen (Nach-)Vollzug konstituiert sich der sakrale Raum der Poesie und verändert sich das Subjekt. Das verleitet mich auf einen Nebenpfad: Von der augustinisch-lutherischen Gnadenkonzeption her kann man grundsätzlich religiöse – und ästhetische – Erfahrung als unverdientes Geschenkt-Bekommen verstehen. Das beschenkte Subjekt muss sich freilich bereit machen und bereit halten. In Luthers grundlegender reformatorischer Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (fünfter Abschnitt) heißt es deshalb mit Bezug auf den Glauben: „Wenn sie [gemeint ist die Seele] aber das Wort [Gottes] hat, so braucht sie sonst nichts mehr, sondern sie hat an dem Wort Genüge, hat Speise, Freude, Frieden, Licht, Erkenntnis, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute im Überschwang. Entsprechend lesen wir im Psalter, besonders im Ps 119, dass der Prophet nach nichts sonst schreit als nach Gottes Wort.“54 Wer sich nicht auf die ästhetische Erfahrung der Kunst wirklich einlässt und einstellt, sich Zeit nimmt, heraustritt aus der Kontingenz der eigenen Lebensvollzüge, der wird auch das „überschwängliche“ Geschenk der ästhetischen Erkenntnis nicht erhalten. In der ästhetischen Diskussion der letzten Jahrzehnte wurde die Struktur der Plötzlichkeit der ästhetischen Erfahrung als Widerfahrnis, als überraschendes, ja epiphanisches Durchbrechen der profanen Zeit beschrieben. Karl Heinz Bohrer war es vor allem, der diese eine Idee verfolgt und differenziert entfaltet hat.55 So aggressiv und gewalthaft (oder „barthianisch“? oder „botho-straußianisch“?), wie es bei Bohrer geschieht, der im Grunde eine ästhetische Theologie betreibt, weil bei ihm Kunst in der Moderne zum epiphanischen Ereignis wird, muss man das Geschenkt-Bekommen der ästhetischen (und religiösen) Erfahrung jedoch nicht unbedingt bestimmen, vor allem nicht ausschließlich. Es geht nicht immer nur um die Axt des Ästhetischen für die gefrorene Seele in uns. Es gibt auch die freundlicheren 53

Die institutionelle religiöse Praxis von heute hat das freilich weitgehend zurückgenommen; Martin Mosebach, dem deshalb religiöser Ästhetizismus vorgeworfen wurde, hat das kritisiert: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. Wien 2002. – Man kann sich schon fragen, welches Verständnis von Liturgie vermittelt wird, wenn der Priester über dem Ambo hängt oder hinter dem Altar steht wie am Tresen. 54 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hg. und kommentiert von Dietrich Korsch. Leipzig 2016, 17/19. 55 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981.

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Formen des Schenkens und Geschenkt-Bekommens, nicht nur die gewalthaften vertikalen Durchkreuzungen unserer gleich-gültigen Horizontalen. Das Werk Mörikes zeigt das besonders schön.56 Gerade an Bohrers Konzept kann man aber sehen, wie fruchtbar es scheint, von einer theologisch sensibilisierten Position aus eine Verhältnisbestimmung von Literatur und Religion zu versuchen. Zwei der bedeutendsten theologischen Positionen des 20. Jahrhunderts, die Karl Barths und die Rudolf Bultmanns, scheinen mir in der Tat darauf förmlich zu drängen, literaturtheoretisch und ästhetisch reformuliert zu werden: die Barths radikalautonomistisch; die Bultmanns nüchterner als historisch sorgsame literarische Hermeneutik, die in der Lage ist, die Imaginationen der Literatur auch als „mythisches Analogon“ (Clemens Lugowski) ernst zu nehmen. Umgekehrt ließe sich Religion als großes Kunst-System begreifen: Das wäre ein Forschungsprogramm! Romano Guardini war es, der die Liturgie einmal als größtes abendländisches Kunstwerk bezeichnet hat. Georges Gedicht – und jedes Gedicht – richtet sich an mich und dich und die Gemeinschaft der Leser, die zur „Lese“ bereit sind; es ist individuell und allgemein zugleich. Das Individuelle und das Kollektive sind in Kunst (wie in der Religion) nicht gegeneinander auszuspielen. Konfessionsästhetisch gesprochen: Protestantismus und Katholizismus gehören zusammen und ergänzen sich. Nun könnte man sagen: Das kennen wir doch – Kunstreligion in einer historischen Spielart: „Das Heilige, das am Herzen mir liegt, das Gedicht“; so ein berühmter Vers Hölderlins in der Ode „An die Parzen“. Das Problem der Kunstreligion hat die interdisziplinäre Diskussion zwischen Theologie und Literaturwissenschaft in den letzten beiden Jahrzehnten tatsächlich besonders beschäftigt.57 Die poetische Praxis von Kunstreligion heißt in meinem Fall ästhetische Ritualität; sie wäre eine wichtige kulturwissenschaftliche Brücke zwischen Religion und Literatur/Kunst, Theologie und Literaturwissenschaft. In Spiel und Ritual haben Religion und Kunst eine wichtige formästhetische Gemeinsamkeit.58 Was nicht bedeutet, das Ritual auf das Ästhetische zu reduzieren; es ist nicht ohne die inhaltliche Dimension zu verstehen. Die Liturgie der Kirche ist ja Feier des Glaubens. Besonders die Sakramente sind rituelle Zeichenhandlungen, in denen in sinnlicher Prägnanz der unsichtbare verborgene Gott nahekommt. Der Ritus ist daher – zumindest im Katholizismus und der Orthodoxie – immer auch Ausdruck des Dogmas, das den vielen und vielfältigen religiösen Erfahrungen einen gemeinsamen Grund zu geben versucht.59 Die 56

Wolfgang Braungart: Lyrik – Lebenswelt – Soziale Welt. Zu einem grundlegenden Zusammenhang in den Gelegenheitsgedichten Eduard Mörikes. In: Barbara Potthast/Kristin Rheinwald/Dietmar Till (Hg.): Mörike und sein Freundeskreis. Heidelberg 2015, 47–62. 57 Vgl. den sehr klaren Überblicksartikel „Kunstreligion“ Daniel Weidners in dem von ihm hg. Handbuch Literatur und Religion (Anm. 2), 380–384, und seinen einleitenden Artikel „Religion in Theorien der Literatur“, ebd., 9–17. 58 Vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996/2016; jetzt auch Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung. Berlin 2017, 426 ff. 59 Ich übernehme hier dankbar eine Formulierung Jan-Heiner Tücks. – Man könnte hier auch auf die alte kulturwissenschaftliche Debatte um das Verhältnis von Mythos und Ritual verweisen. Was geht wem voraus? Das ist nicht zu entscheiden, weil es keine Form ohne symbolische Bedeutung gibt und keine Bedeutung ohne Form.

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Hauptverantwortung für den religiösen Ritus liegt aber in den Händen der Institution Kirche; sie „macht“ Ritus und Dogma und muss, will sie kein lebensferner Apparat sein, sich auch vom Menschen her verstehen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dies mit seiner Liturgiereform versucht. – Man muss also die Säkularisierungsthese nicht unbedingt triumphalistisch oder kulturkritisch auffassen. Man kann auch einfach sagen: Da kann Literatur etwas, was sie mit Religion auf eine ganz grundlegende Weise gemeinsam hat. Es ist aber mit dem Ritual, dem poetischen und dem religiösen, wie mit dem Mythos: Beide brauchen heute reflektierte Freiheit; sie dürfen sich ihr nicht grundsätzlich verschließen.60 Sie haben in der Moderne nämlich ihre geschichtliche Selbstverständlichkeit verloren und müssen prinzipiell begründbar sein. Das ist der tiefere Sinn, der sich in dieser von mir nur skizzierten Selbst-Reflexivität des Gedichtes sehen lässt. Im Nachvollzug des Gedicht-Kunstwerks wird zugleich die Frage nach der Transzendenz zumindest evoziert, die die romantische Poetik mit ihrer grundlegenden Figur der Ironie im Modus der unendlichen Reflexivität noch immer ahnbar macht und offenhält. (Hans Joas spricht von „Transzendenz als reflexiver Sakralität“.)61 In Georges einige Jahre früher entstandenem, ebenfalls berühmten „Algabal“-Gedicht „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“ wird aus der blauen Blume des Novalis die „Dunkle grosse schwarze blume“:62 Das Sehnsuchtsmotiv bleibt; die geschichtsutopische oder auch eschatologische Aufladung aber wird, so möchte ich es hier nennen, negativitätspoetologisch gewendet.63 Die schwarze Blume, die der Dichter in der Selbstinszenierung des spätantiken Dekadenzkaisers sucht, käme nicht aus der lebendigen Wirklichkeit, sondern nur aus der Kunstwelt selbst. Künstlerische Subjektivität radikalisiert sich zum solipsistischen Subjektivismus – und scheitert deshalb. Denn Kunst kann sich nicht aus sich selbst heraus begründen, auch wenn sie ein Zweck an sich selbst ist. Indem ich also auf die freie Entscheidung des Subjekts zur ästhetischen Perspektive so stark abhebe, die in „Komm in den totgesagten park“ gefordert ist, habe ich schon angedeutet, worauf ich den Akzent setzen will. Es ist seit der aufklärerischen Religionskritik doch gar nicht mehr so sehr die Frage, ob und in welchem Sinne die Autoren der Moderne als Individuen nun wirklich religiös gewesen seien. Denn was soll das heißen? Ob sie Skeptiker oder Agnostiker,64 Pantheisten oder Syn60

Vgl. Saskia Fischer: Ritual und Ritualität im Drama nach 1945. Brecht, Frisch, Dürrenmatt, Sachs, Weiss, Hochhuth, Handke. Paderborn 2018. 61 Joas, Die Macht des Heiligen (Anm. 58), 279 ff. Das Heilige wird in der sog. Achsenzeit gedacht – und damit seiner magischen Verfügbarkeit entzogen. 62 Stefan George: Hymnen. Pilgerfahren. Algabal. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. II. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1982 ff., 63. 63 Wie wichtig das Geschichtsutopische in der Romantik ist, hat zuletzt noch einmal Matthias Löwe herausgearbeitet: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin/Boston 2012. 64 Hans Eichner: Thomas Mann und die deutsche Romantik. In: Wolfgang Paulsen (Hg.): Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Die Vorträge des 2. Kolloquiums in Amherst/Mass. Heidelberg 1969, 152–173, hier 172.

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kretisten, Theosophen oder Spiritisten65 oder was auch immer waren? Zugespitzt: Will jemand wirklich wissen, was derjenige glaubt, der neben einem vielleicht noch in der Kirchenbank sitzt? Das offensiv nach außen sich Wendende, selbstgewiss Bekenntnishafte subjektiver Religiosität ruft heute mit Recht bei vielen Unbehagen hervor. Das, was es heißt, zu „glauben“ und religiös zu sein, kann man sich doch gar nicht plural genug vorstellen, weil es die je individuellen Überzeugungen, Vorstellungen und Imaginationen und die „enorme historische Vielfalt der Idealbildung sogar innerhalb einer einzigen religiösen Tradition“ betrifft.66 Religionen sind aus der Perspektive des Subjekts keineswegs vorrangig „ein System von Glaubenssätzen“.67 Als „System von Glaubenssätzen“ müssen sie primär die Institutionen der Religion interessieren, die so für die institutionelle Rahmung zu sorgen und ihren Einfluss geltend zu machen versuchen. Grundsätzlich meine ich: Niemand darf sich anmaßen, mit allgemeinen oder dogmatischen Überlegungen zu Religion und Transzendenz etwas über individuelle Gläubigkeit bzw. Religiosität, über religiöse Gefühle und Gestimmtheiten sagen zu wollen. Hier kann man sich, wie gesagt, das Spektrum nicht vielfältig und breit genug vorstellen. Es ist besonders Schleiermacher zu verdanken, dass der moderne Religionsdiskurs sich dafür geöffnet hat. „Das“ Christentum, „der“ Islam, „der“ Buddhismus: Das sind notwendige Abstraktionen, hinter denen aber eine vielfältige Praxis steht, in der sich Menschen die Religion machen, die sie brauchen. Oder etwas behutsamer: die für sie Sinn hat. Für die Religion der griechischen und römischen Antike ist uns dieser Gedanke eine Selbstverständlichkeit.68 Aus welcher Perspektive will man kritisieren, ein solches Religionsverständnis sei „nur“ pragmatisch oder gar „formalistisch“? Damit soll freilich nicht jeder Maßstab preisgegeben werden. In der modernen Pluralität bliebt doch genau dies: Religion muss in diesem Sinne, dass sie für den Menschen da ist, vernünftig sein. „Vernünftig“ möchte ich insbesondere auch das nennen, was Hölderlin als „höhere“, also über sich selbst aufgeklärte Aufklärung bezeichnet hat. Die konkrete religiöse Praxis, die individuelle wie die kollektivinstitutionelle, darf sich dieser Vernünftigkeit nicht prinzipiell verschließen; sie hat keine beliebige Freiheit zur Irrationalität. Das gilt auch für die Theologie (oder für die Literaturwissenschaft): Wer zum Beispiel die Kreuzestheologie ganz einseitig betont (also individuell, kulturell und sozial gesprochen: das Opfer, das Leiden, das Scheitern und Misslingen) und Ostern darüber vergisst (also individuell, kulturell und sozial gesprochen: das Glück, das Gelingen und die Freude usw.), der öffnet jeder dunklen Leidens- und Opferideologie Tür und Tor mit womöglich schlimmen Konsequenzen. Analog für Literatur und Kunst: Wer in ihnen nur Medien der Sinn-

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Vgl. Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum SwastikaZeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George. Göttingen 2014; Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion. Berlin/Boston 2015. 66 Joas, Die Macht des Heiligen (Anm. 58), 421. Grundlegend noch immer James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 38). 67 Joas, Die Macht des Heiligen (Anm. 58), 113. 68 Vgl. etwa Jean-Pierre Vernant: Mythos und Religion im antiken Griechenland. Frankfurt a.M. 1998; Jörg Rüpke: Die Religion der Römer. München 2001.

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verdunklung und des Sinnentzugs sieht und ihr affirmatives Potential, das aus ihrer ästhetischen Kraft kommt, nicht gelten lassen kann, fasst sie viel zu einseitig auf.69 Auch die Theologie muss deshalb wirklich Wissenschaft von Gott im Kontext anderer Wissenschaften sein wollen, nicht bloß praktische Religionslehre. Was kann ich begründet über „Welt“ sagen und sehen unter der Prämisse „Gott“? (Analog etwa für die Physik: Was kann ich begründet sagen und sehen unter der Prämisse „Gravitation“?) Ohne dies zu akzeptieren und sich in dieser Hinsicht immer schon zu reflektieren und zu relativieren, kann es keine Religion in Freiheit geben – und keine Kunst. Die insistierende Frage nach dem individuellen Glauben erzeugt in der religiösen Praxis einen Bekenntnisdruck, der religiös wie sozial nur destruktiv sein kann. Genau davor schützt ja gerade das Ritual. Es ist alles andere als bloßer Formalismus. Soeben hat Hans Joas in seinem neuen Buch auf die Pluralität der religiösen Positionen und die dialektische Bewegung von Sakralisierung und Säkularisierung in der Moderne hingewiesen. Ich stimme ihm hierin ganz zu, weil er damit „Ersetzungs- und Kompensationskonzepte“ für den Säkularisierungsprozess verwirft.70 Subjektivität und Freiheit sind die zwei Grundbedingungen von Religion wie von Kunst in der Moderne und gerade heute: Kunfttag I Dem bist du kind  dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt.71

Es ist meine Entscheidung; an ihr komme „ich“ nicht vorbei: „Ich seh in dir den Gott“. Und das zu sagen, ist in meiner Verantwortung.72 Angelegt ist das schon in Luthers Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Ich formuliere also eine dritte These: Religion ist Menschenwerk. Natürlich, wird man sagen. Aber diesen, vielleicht banal anmutenden Satz kann man gar nicht konsequent genug denken. Denn das heißt: Sie muss immer gemacht werden. Das fordert uns Menschen in unserer Verantwortung für uns selbst heraus. Dieses Machen hört nicht auf, seit den Anfängen menschlicher Kultur nicht und auch nicht heute. Nur: Heute müssen wir das wissen. Selbst wenn man sich von Religion verabschiedet, bedeutet das, sie zu machen. Alles, was wir in Sachen Religion sagen, sagen wir Menschen, auch alle Lehre, alle 69

Vgl. meinen Versuch: Die Kunst der Zustimmung. Eine ästhetisch-theologische Hypothek der Moderne. Mit einem Kapitel zu Brechts später Lyrik. In: Martin Knechtges/Jörg Schenuit (Hg.): Verwandlung. Epiphanie II. (= Fuge. Journal für Religion & Moderne 5). Paderborn 2009, 65–100. 70 Joas, Die Macht des Heiligen (Anm. 58). 71 Stefan George: Der Siebente Ring. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. VI/VII. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1982 ff., 90. 72 Joh 11,25 f.: „Jesus sprach zu ihr [Marta]: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist“. Also: Das Subjekt muss sich entscheiden zu einer Position, die hier „Glaube“ genannt wird. Es ist seine Sache; davon hängt alles ab.

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religiöse Systematik, jede Konzeption von Kirche. Die Bibel, zum Beispiel, ist ein über Jahrhunderte in kommunikativen Prozessen entstandener Text, der bis heute revidiert, verändert, also „gemacht“ wird. Über Maria steht in der Bibel fast nichts. Fast alles an ihr haben Theologie und religiöse Praxis „gemacht“.73 Für die individuelle religiöse Praxis ist die Überlegung, dass Religion immer „gemacht“ wird, so einfach sie ist, womöglich sogar zu kompliziert und zu anspruchsvoll.74 Dieses „Machen“ möchte ich nicht bloß konstruktivistisch und damit relativistisch verstanden wissen. Was aus den geschichtlichen und lebensweltlichen Erfahrungen kommt, was seinen Sitz in Geschichte und Leben hat und aus der Reflexion des Lebens und der Selbstreflexion des Subjekts hervorgeht, ist nicht angemessen als „Konstruktion“ beschreibbar. Man könnte nun sagen: Das sei doch ziemlich nahe an Feuerbachs Religionskritik. Das mag sein. Aber in welcher Hinsicht wäre das ein Einwand? Die epistemologische Wende zum Subjekt, die Kants kritisches Denken darstellt, ist auch theologisch unbedingt ernst zu nehmen. Es gibt kein Zurück mehr zur geschichtlichen Diskurswelt einer Objektivität Gottes. Sie ohne jede kritische epistemologische Reflexion zu behaupten, wie es derzeit in den verschiedensten religiösen Fundamentalismen geschieht, beschwört unter den geschichtlichen Bedingungen von heute, wie wir sehen müssen, die Gefahr des Terrors herauf. Die epistemologische Wende des 18. Jahrhunderts impliziert auch eine anthropologische; mit ihr muss die Theologie sich (auch) als Anthropologie begreifen.75 Gemeint ist mit meiner dritten These darum weiterhin eine wirkliche Humanisierung von Religion. Ja, ich möchte so weit gehen, zu sagen: Die theologische Revolution, die das Neue Testament bringt, muss auch schon als eine anthropologische verstanden werden; sie machte aus dem unbestimmten abstrakten Gott den Menschensohn. Bei Mk 2,27 findet sich Jesu berühmte Zurückweisung der Kritik der Pharisäer: „Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen worden und nicht der Mensch um des Sabbats willen“.76 Religion ist für die Menschen da – selbst, ja gerade dann, wenn man sagt, sie sei eine Praxis des Umgangs mit dem Heiligen, dem Unendlichen, dem Göttlichen. Das muss nicht unbedingt identisch sein mit einem strengen philosophisch-theologischen Begriff von Transzendenz. Ob man für einen Religionsbegriff auch einen solchen strengen Begriff überhaupt braucht, scheint mir zumindest diskutierenswert.77 Zu begrün73

Vgl. Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau – Mutter – Herrscherin. München/Wien 1994. Herzlichen Dank an Margrit Kurz, Gießen, für diese lakonische Anmerkung. 75 Einmal mehr danke ich Claus-Artur Scheier für wichtige Denkimpulse. Vgl. ders.: Der Gottmensch in Knechtsgestalt – Subjekt-Paradigma des 19. Jahrhunderts. In: Stephan Schlüter/Thassilo Polcik/Jan Thumann (Hg.): Philosophie und Pädagogik der Zukunft. Ludwig und Friedrich Feuerbach im Dialog. Münster/New York 2018, 73–88. 76 Friedrich Gogarten hat von dieser Stelle aus weitreichende säkularisierungstheoretische Überlegungen entwickelt; leicht zugänglich in einem Gespräch Gogartens mit Jürgen Stenzel 1967, vgl. https://av.tib.eu/media/12251 (17.3.2018). 77 Es ist ein Vorzug des neuen Buches von Hans Joas, auf den Begriff des Heiligen zu setzen, der seine Bestimmung als „Transzendenz“ nicht ausschließt, aber für die Pluralität religiöser Phänomene doch sehr offen ist. – Joas, Die Macht des Heiligen (Anm. 58). 74

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den (und zu verantworten) wäre auch er. Welche Sinnleere, welcher Verlust einer letzten Verbindlichkeit ohne Metaphysik und Transzendenz für das Subjekt jedoch heraufziehen kann, das ist nämlich eine andere Frage. Nur eben: Auch das sind Überlegungen eines Menschen. Religiöse Überzeugungen, die man „Glaube“ nennt, wären insofern nicht einfach Entscheidungen für das Irrationale, sondern müssten in ihrem Sinn grundsätzlich auch argumentativ entfaltet werden können. Wie eingangs schon gesagt: Theologisch gesehen ist „Entmythologisierung“ darum Pflicht, für die individuelle und institutionelle Religiosität natürlich nicht.

VI „Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“: Abschließende Notizen zum Problem der Subjektivität und eine vierte These Die Behauptung dieses Zitats steht in den Confessiones des Augustinus,78 die voll sind von solchen weitreichenden anthropologischen Aussagen. Der autobiographische Erzähler gibt einen tiefen Einblick in seinen dramatischen Kampf um einen Gottes- und einen Subjektbegriff zwischen Mythos und Logos, zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Imagination und Reflexion, der sich in ihm abspielt. Einmal ist dieser Gott wie ein unendliches Wasser, in dem der von ihm vollgesogene und durchtränkte Schwamm des Kosmos liegt. Ein andermal ist Gott der abstrakteste Welt-Logos ohne alle Zugeständnisse an die Bedürfnisse unseres „anschaulichen Denkens“.79 In diesem ersten großen Zeugnis religiös-subjektiver Selbstverständigung in der christlichen Tradition können wir ein einziges großes Selbstgespräch mitverfolgen, das sich im Bezogen-Sein auf das große Du, das Augustinus Gott nennt, ereignet. Das Ringen um das Selbst ist zugleich ein Ringen um einen Gottesbegriff als Ermöglichungsbedingung subjektiver Artikulation. „Was also bist du, mein Gott? . . . Sei barmherzig, damit ich rede! Und was bin ich für dich, dass du mir befiehlst, dich zu lieben . . . ?“80 Die Güte und Größe Gottes zeigen sich für Augustinus gerade darin, dass sich das Subjekt vor ihm artikulieren und so sich selbst zu bestimmen versuchen kann. An sich selbst kommt es nur heran, indem es ihm gegenüber ist und auch sich selbst gegenüber: indem es Subjekt ist. So „trat ich, von dir geführt, in mein Inneres ein“.81 Ein Satz, über den man nur staunen kann. So war ich krank und quälte mich; heftiger als sonst klagte ich mich an, dabei drehte und wendete ich mich in meiner Fessel, um sie ganz zu sprengen. Schon war sie leichter gewor78

Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übers., hg. und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch. Stuttgart 2016, 181. Günter Butzer hat die Geschichte dieser Gattung umfassend rekonstruiert: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München 2008. 79 Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1972 (Taschenbuch 1996); an diese Studie sollte man sich auch erinnern, wenn es um das Verhältnis von Mythos und Logos geht. 80 Augustinus, Confessiones (Anm. 78), 37 und 39. 81 Ebd., 331.

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W. Braungart den, aber sie hielt mich noch fest. Du aber, Herr, drängtest in meinem verborgenen Innern. In deiner Strenge und deiner Barmherzigkeit hast du mich geschlagen mit einer doppelten Geißel, mit Furcht und mit Scham.82

Wir schauen hier, bei den Confessiones, der Geburt des „inneren Gerichtshofes“ (Kant) zu, der fortwährenden Selbstreflexion und damit zugleich der Entstehung „moderner“ Subjektivität. Augustinus steht in einer Linie, die von den Psalmen des Alten Testamentes bis zu Arnold Stadler und Uwe Kolbe reicht: „Du bist mein Gott; ich seufze zu dir Tag und Nacht“, heißt es bei Augustinus.83 „Hier sind meine Psalmen, Lieder nach alter Art, Gebete, hier kommen sie, die sind es, die habe ich gemacht“, heißt es im Geleitwort von Uwe Kolbes jüngstem Gedichtband Psalmen von 2017.84 Und dann am Schluss, inszeniert kindlich und, wie ich meine, doch ergreifend: PP A N D ICH Du hast mich gemacht, du kannst mich zerstören. Du hast mich aufgemacht, du kannst mich wieder schließen. Es gibt nichts zu murren, nicht, dass du das meinst. Lass nur den Weg mich, der noch bleibt, an deiner Hand zu Ende gehen.85

Ich schließe mit einer letzten, vierten These, mit der ich die Grundproblematik der Ästhetizität von Religion und Literatur/Kunst, die mich hier beschäftigt hat, zusammenzufassen versuche: Religion wie Literatur/Kunst sind grundlegende Diskurse und Medien des Subjekts in seiner Subjektivität. Beide muss man (auch) von dorther zu verstehen versuchen. Sie geben – mit Dorothee Sölle und Wolfgang Iser86 – in ihren „Fiktionen“ dem Imaginären so Gestalt, dass das Subjekt selbst sich artikuliert und realisiert bzw. sich artikuliert und realisiert sehen und zugleich über sich hinauskommen kann. Daraus ergibt sich nun eine doppelte hermeneutische Herausforderung, auch für unsere ästhetisch-theologische Reflexion (und damit komme ich auf den Beginn meiner Bemerkungen zurück): Denn das Imaginäre, konkretisiert und realisiert in den „Fiktionen“ der Religion, kann konkretistisch-real ausgelegt werden. Dieses Verstehen beansprucht dann die „Wahrheit des Mythos“.87 Romane werden, nicht 82

Ebd., 397. Ebd., 331. 84 Uwe Kolbe: Psalmen. Frankfurt a.M. 2017, 7. 85 Ebd., 72. 86 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993; Sölle, Realisation (Anm. 27). 87 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München 1985. 83

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nur von Kindern und naiven Lesern, nacherzählt, als handle es sich um reale Personen und reale Handlungen. Gedichte werden gelesen, als nähme man unmittelbar am Gefühlsleben des Autors teil. Dramen ziehen die Betrachter in die Handlung so hinein, dass sie tiefes Mitleid empfinden und vielleicht sogar einüben. So jedenfalls stellte es sich Lessing vor. Aber auch noch bei Brecht, der nicht wollte, dass wir nur blöde glotzen, trägt Mutter Courage, während sie im Kreise stapft, alle Last menschlicher Existenz. Und der Zuschauer glotzt nicht blöde, sondern leidet mit ihr. Oder ein Verstehen, das sich dem Logos verpflichtet. Dann sind die fiktional realisierten Imaginationen schnell nichts als Allegorien. Beide Möglichkeiten wären, setzten sie sich absolut, Vereinseitigungen, die dem Subjekt selbst nicht gerecht werden (siehe „Erlkönig“). Religion und Literatur müssen beide Pole gelten lassen, ihre Wissenschaften auch. Wie herausfordernd dieses Problem ist, sehen wir heute in den Debatten um die Wortwörtlichkeit der Bibel und des Korans. Daraus muss man keine verzweifelte Hilflosigkeit konstruieren. Denn genau daran wird deutlich, dass auch Religion (wie die Kunst) ein Entfaltungsraum von Freiheit und Subjektivität ist. Wie wir es hier nämlich halten, das ist von Subjekt zu Subjekt zum Glück sehr verschieden und von ihm immer selbst zu verantworten. Ob Individuen, Gemeinschaften oder Gesellschaften das Imaginäre bzw. kollektive Imaginationen überhaupt brauchen? Religionskritiker und Kunstskeptiker mögen das durchaus bestreiten. Die Frühromantik aber hat diese Frage erstmals aus einer kritischen Reflexion heraus bejaht, die durch die theologischen bzw. theologieund religionskritischen Debatten der Aufklärung herausgefordert worden ist. Ja, es braucht eine neue Mythologie; und, ja, die Poesie kann das leisten, weil für sie konstitutiv ist, der Diskurs der Hervorbringung von Imaginationen zu sein, die überzeugend sind kraft ihrer Form. Die Poesie konkretisiert sie in ihren Fiktionen zur Erfahrbarkeit; sie „realisiert“ sie. Die Poesie ist geradezu diese neue Mythologie; so Friedrich Schlegel. Sie ist es, weil sie ästhetisch genau und bestimmt ist und doch frei, offen, beweglich und voller Sehnsucht, die sich in fortwährender Reflexivität entfaltet. Das könnte man in Anlehnung an Friedrich Schlegel Ironie nennen. An ihr, an diesem grundsätzlich reflexiven Selbstverhältnis führt für Kunst wie Religion von heute kein Weg mehr vorbei.

Griechische Literatur – ein Musterfall von „Literatur und Religion“ (mit einer Interpretation von Sapphos Fragment 2 Voigt) Anton Bierl

Einleitung Bereits im Jahre 2006 organisierte ich eine Tagung zum nämlichen Thema „Literatur und Religion“ in Basel. Daraus entstand eine detaillierte Buchpublikation zum Phänomen bei den Griechen und ihren Nachbarkulturen. In meinen zwei Beiträgen und in der Einleitung zu dem Doppelband Literatur und Religion,1 der zugleich die Reihe MythosEikonPoiesis begründete, äußerte ich mich bereits eingehend zur Problematik in der Gräzistik und Klassischen Philologie.2 An dieser Stelle werde ich nun noch genauer auf die Frage eingehen, warum die alten Griechen einen Musterfall in der fruchtbaren Wechselbeziehung zwischen beiden Diskursen darstellen. Mit dem Blick auf die Antike verbinde ich das Anliegen, dem sehr allgemein und grundlegend gestellten Thema in diesem Band, der ebenfalls eine der Frage gewidmete Reihe eröffnet, die notwendige historische Tiefendimension zu verleihen. Hellas als „das nächste Fremde“3 ist allerdings nicht nur Modell, sondern auch Folie und Zerrspiegel in dieser Debatte. In der Kontrasterfahrung mit dem Anderen hoffe ich, neue Denkanstöße für das heutige Literatur- und Religionsverständnis zu liefern. Denn zunächst, d. h. vor allem in der archaischen und klassischen Zeit 1

Anton Bierl/Rebecca Lämmle/Katharina Wesselmann (Hg.): Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. Bd. I–II. Berlin/New York 2007. 2 Anton Bierl: Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik. Überblicksartikel zu einem neuen Ansatz in der Klassischen Philologie. In: Bierl/Lämmle/Wesselmann, Literatur und Religion I (Anm. 1), 1–76; ders.: Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher. Literatur und Religion im griechischen Roman. In: Bierl/Lämmle/Wesselmann, Literatur und Religion II (Anm. 1), 239– 334. 3 Uvo Hölscher: Selbstgespräch über den Humanismus. In: Ders.: Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien. Göttingen 1965, 53–86, hier 81; ders.: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne. Hg. von Joachim Latacz/Manfred Kraus. München 1994, 278. A. Bierl () Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_2

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(750–400 v. Chr.), gab es – um die entscheidende These vorwegzunehmen – bei den Griechen weder Literatur noch Religion im neuzeitlichen Verständnis.

Historische Voraussetzungen für den Befund in der archaischen und klassischen griechischen Literatur Inwiefern können wir trotzdem von einem Musterfall sprechen? Die Griechen haben bekanntlich die moderne europäische Auffassung von Kultur, Philosophie, Denken und Literatur entscheidend geprägt oder sogar begründet. Gern spricht man vom Anfang, um wenigstens das Wort Ursprung zu vermeiden, da das griechische Denken nicht ex nihilo entstand. Vielmehr entwickelte es sich aus den engen Kulturkontakten mit den vorderorientalischen Nachbarn und Ägypten. Und doch ist Homer in gewisser Weise der Ausgangspunkt unseres heutigen westlichen Literaturverständnisses.4 Zugleich haben die Griechen unsere literarischen Gattungen wie z. B. das Epos, die Lyrik, das Drama, die Historiographie und den Roman begründet. Die Römer eigneten sich diese Genera anhand ihrer meisterlichen Vertreter im Prozess der aemulatio an. Das Christentum verwarf später nicht sämtliche Inhalte, sondern war bestrebt, Teile der griechisch-römischen Kultur zu integrieren. Der Aufbruch zur Moderne stellte die Wiederentdeckung der griechischen Originale im Westen dar. Nach dem Fall von Byzanz im Jahre 1453 wurden die Handschriften nach Italien und Westeuropa gebracht und im Gedanken des Humanismus und der Renaissance neu gelesen. Dazu erlernte man die altgriechische Sprache. Zugleich wurde durch die Entdeckung des Buchdrucks das neue literarische Ideal einer breiteren Schicht von Gelehrten zugänglich. Es entstanden erste moderne Editionen und Kommentare. Kurzum, das Kanonische der griechischen Literatur – das Beste wurde schon früh favorisiert, während anderes im Überlieferungsprozess ausgeschieden wurde – konnte also über die Spätantike und das Mittelalter über die „Flaschenhälse“ der beiden Renaissancen um 800 und 1450, der karolingischen und byzantinischen sowie der italienischen Wiedergeburten, in die Neuzeit gerettet werden. Die neu entdeckten Texte wurden somit Ausgangspunkt der Nationalliteraturen. In der Sattelzeit um 1800 wurde dann das griechische Denken zum Katalysator der Moderne sowie die griechische Literatur und ihre Gattungen zur Weltliteratur. Mit den antiken Vorbildern konnte sich der Aufbruch zur Kunstreligion entwickeln, womit man Literatur mit griechisch anmutender Mythopoesie aus der Erstarrung neu zu beleben versuchte.5 Mit Nietzsche und der Entdeckung des Dionysischen setzte eine neue Phase in der gegenseitigen Befruchtung der Diskurse ein. Seit den 1980er Jahren stellen zuletzt gerade Wiederaufführungen der antiken Tragödie Experimentierfelder des postdramatischen Theaters dar. Zudem 4

Vgl. Joachim Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlands [1985]. Düsseldorf/Zürich 2003. 5 Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne. Paderborn 2016, 26–32; Daniel Weidner: Kunstreligion. In: Ders. (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, 380– 384. 4

Griechische Literatur – ein Musterfall von „Literatur und Religion“

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bildet überhaupt der Bezug auf das Griechische gerade durch die Vermittlung einer einsetzenden Nietzsche-Rezeption einen wichtigen Referenzpunkt des postmodernen literarischen Schaffens. Die schon im Hellenismus kanonisch gewordenen altgriechischen Meistertexte gelten daher als unübertroffene Klassiker und Modelle sämtlicher weiteren produktiven Auseinandersetzung. Für den griechischen Musterfall spricht zudem, dass die zugehörige Theorie und die Anfänge des methodischen Ansatzes von „Literatur und Religion“ und der Mythos- und Ritualforschung maßgeblich gerade im Bereich der Gräzistik entwickelt wurden.6 Die Schriften vor allem von Homer, Sappho, Pindar, Heraklit, Herodot, Thukydides, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes und Platon stehen gewissermaßen wie ein anfängliches Wunder in ihrer Vollkommenheit vor uns. Und doch dürfen wir nicht den Fehler begehen, sie einfach mit der heutigen Literatur gleichzusetzen, auch wenn dies in Literaturgeschichten und in der herkömmlichen opinio communis zum Teil immer noch so geschieht. In ihrer Andersartigkeit erscheinen sie nämlich nicht wie textliche Hinterlassenschaften irgendeiner alten und traditionellen Kultur, sondern gerade wegen des geschichtlichen Kanonzusammenhangs erwecken sie den Anschein so großer Nähe, dass man sie einfach mit der Gegenwart zur Deckung bringt. Doch neben aller Vertrautheit und scheinbarer Aktualität muss auch das ganz Andere dieser Texte gesehen werden, das natürlich ebenfalls Teil des „nächsten Fremden“ ist,7 das Hellas für uns ausmacht. Somit stellt sich die Frage, worauf ihre Fremdartigkeit beruht. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere die jüngste performative Wende, haben gezeigt, dass die Texte der archaischen und klassischen Zeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen und eigentlich höchstens eine Literatur in statu nascendi darstellen. Im Sinne eines Geniekults der Weltliteratur setzte man Homer lange Zeit mit einem neuzeitlichen Autor gleich. Mit Herder und der frühen Romantik kam zugleich die Idee des Volksgeists in den Blick, worauf Wolf in den Prolegomena ad Homerum (1795) seine Theorie eines mündlichen Schaffensprozesses gründete.8 Die Homerische Frage ist nach wie vor ungelöst, zumal sich die Philologen und Philologinnen großenteils ungern mit dem Verschwinden des Autors abfinden wollen. So versuchte man lange, den Autor zu retten, indem man Homer zum „ersten Dichter des Abendlands“9 stilisierte, der gewissermaßen als Literat auf dem Schreibtisch die mündliche Tradition vereinnahmte und, auf ihr basierend als Aöde komponierend, seine Epen schriftlich niederschrieb. Im letzten Jahrhundert kamen dagegen entscheidende Impulse von Milman Parry und Albert Lord, die das Verständnis der mündlichen composition in performance entwickelten. Die aktuelle oral poetry-Forschung hat hingegen noch subtilere Modelle entworfen, die Homer letztlich

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Vgl. Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), bes. 8–11. Hölscher, Selbstgespräch (Anm. 3), 81; ders., Das nächste Fremde (Anm. 3), 278. 8 Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Halle 1795. 9 Latacz, Homer (Anm. 4). 7

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als Konstrukt verstehen. In einer evolutionären Entwicklung,10 die ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, vervollkommnete sich eine mündliche Tradition von kürzeren Liedern, die nur Ausschnitte des Stoffes präsentierten, aufgrund neuer agonistischer und politisch motivierter Aufführungsanlässe, die durch den aufkommenden Panhellenismus entstehen konnten, zu immer perfekteren Fassungen eines Monumentalepos. Mit dem „Tod des Autors“ in den 1970ern wurde akzeptabel, dass es Homer vielleicht gar nicht gab und dass die Ilias und Odyssee die Perfektionsstufen einer langen mündlichen Entwicklung darstellen, die erst spät im sechsten Jahrhundert v. Chr. erste schriftliche Niederschriften erfuhren. Somit stellen die homerischen Meistertexte wahrscheinlich relativ spät fixierte mündliche Kompositionen dar, die ihre diachrone Entwicklung bereits in der äußeren Form der homerischen Kunstsprache und Formelhaftigkeit synchron abbilden. „Traditionelle Referentialität“11 bezieht den traditionellen Kern in der Mikro- und Makrostruktur mit ein und macht den Blick auf die Vorgeschichte frei.12 Auch die frühgriechische Lyrik ist nicht einfach mit unserem von der Romantik stammenden Verständnis gleichzusetzen. Es geht weder um die Vermittlung von Gefühl, Liebe, Sehnsucht, Leid und Naturverständnis noch um die Äußerung eines aufkommenden Konzepts des Individualismus, der Entdeckung des Subjekts als Ich.13 Die pragmatische Schule von Urbino lenkte den Blick auf den Anlass der schon schriftlichen Komposition, auf die Auftraggeber sowie die ebenfalls mündlich geprägte einmalige Aufführung und deren pragmatischen Kontext.14 Mit dem „performativen Turn“ kamen seit zwei Jahrzehnten die Multimedialität, die Songand-Dance Culture oder Chorkultur, die Materialität und überhaupt kulturwissenschaftliche Aspekte, unter anderem auch die Einbindung in den Festrahmen sowie die Verwendung von Mythos und Ritual, in den Blick.15 Die Neuansätze von Ritualität und Performativität führen dabei weg von der rein textlich-philologischen Betrachtung. Zugleich weitet sich das Interesse aus auf imaginäre Szenarien, eine kreative Mythopoetik und die Reperformance, die Wiederaufführung von ursprünglich für eine einmalige Aufführung konzipierten Liedern zu einer bestimmten Okkasion in einem neuen Kontext unter gewandelten historischen und sozio-kulturellen Bedingungen.

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Gregory Nagy: Poetry as Performance. Homer and Beyond. Cambridge 1996, 107–206. Vgl. John Miles Foley: The Singer of Tales in Performance. Bloomington 1995. 12 Vgl. dazu Anton Bierl: New Trends in Homeric Scholarship (NTHS). In: Anton Bierl/Joachim Latacz [general editor of the English edition S. Douglas Olson] (Hg.): Homer’s Iliad. The Basel Commentary (BKE) (transl. by Benjamin W. Millis and Sara Strack). Bd. I: Prolegomena. Berlin/ Boston 2015, 177–203, bes. 186–194. 13 Anton Bierl: „Ich aber (sage), das Schönste ist, was einer liebt!“ Eine pragmatische Deutung von Sappho Fr. 16 LP/V. In: Quaderni Urbinati di Cultura Classica n. s. 74/2 (2003), 91–124, bes. 93 mit Literatur. 14 Bruno Gentili: Poesia e pubblico nella Grecia antica da Omero al V secolo. Roma/Bari 1984 (2 1989, 3 1995); und die zitierte Literatur in Bierl, Ich aber (sage) (Anm. 13), 98, Anm. 29. 15 Vgl. u. a. Anton Bierl: Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität (unter besonderer Berücksichtigung von Aristophanes’ Thesmophoriazusen und der Phalloslieder fr. 851 PMG). München/Leipzig 2001. 11

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Auch das Drama wurde zunächst nur für eine singuläre Aufführung in einer bestimmten historischen Konstellation einer einzigen Polis, nämlich Athen, konzipiert und in das dortige Dionysosfest eingebettet.16 Es ist viel weniger dramatisch als man lange Zeit postulierte, sondern in weiten Teilen prädramatisch.17 Charaktere und Spannung sind daher nur verhältnismäßig wenig entwickelt. Vielmehr ging es um die Ausstellung von Haltungen, von Leid in der Tragödie, von grotesker Körperlichkeit, Lachen und Spott in der Komödie und von potpourriartigen Motivwiederaufnahmen der vorher abgelaufenen tragischen Trilogie nun in der Konstellation eines lustig-reflektierenden Satyrchors im Satyrspiel.18 Lyrische Lieder wurden zum Teil mündlich, zum Teil schriftlich komponiert. Das Drama wurde sicher schriftlich abgefasst, doch beide wurden zu einer bestimmten Okkasion mündlich aufgeführt. Im Gegensatz zum homerischen Epos spricht man von sekundärer Oralität oder Auralität, also von Mündlichkeit nicht der Produktion, sondern der Rezeption. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die für uns wichtigsten Gattungen und Werke der griechischen Literaturgeschichte damit eigentlich gar nicht als Literatur gedacht und konzipiert waren, sondern erst sekundär zu Literatur wurden. Von einem größeren Büchermarkt kann man dementsprechend in Athen erst im letzten Viertel des fünften Jahrhunderts v. Chr. sprechen.19 Gelesen haben die Texte selbst im Hellenismus immer noch nur Minderheiten, vor allem Gelehrte und Dichter. Unter ihnen zeichneten sich die ersten Philologen in Alexandrien aus, welche die kanonischen Texte endgültig als Lesetexte zugänglich machten.20

Voraussetzungen der Literatur in Bezug auf ihre mythisch-rituelle Poetik Zugleich ist die besondere Lied-Produktion in enger Weise mit religiösen, d. h. mythischen und rituellen Äußerungsformen verbunden. Gerade das attische Drama ist ebenfalls ein Amalgam aus die diachrone Gattungstradition einverleibenden chor16

Anton F. Harald Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und „metatheatralische“ Aspekte im Text. Tübingen 1991. 17 Anton Bierl: Prädramatik auf der antiken Bühne: Das attische Drama als theatrales Spiel und ästhetischer Diskurs. In: Martina Groß/Patrick Primavesi (Hg.): Lücken sehen . . . Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. Geburtstag. Heidelberg 2010, 69–82. 18 Anton Bierl: Dionysos auf der Bühne: Gattungsspezifische Aspekte des Theatergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie. In: Renate Schlesier (Hg.): A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Berlin/Boston 2011, 315–341. 19 Eric Gardner Turner: Athenian Books in the Fifth and Fourth Centuries B.C. [1952]. London 2 1977, 19–23; Leighton D. Reynolds/Nigel G. Wilson: Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature [1968]. Oxford 4 2013, 1–2; Fabian Zogg: Lust am Lesen. Literarische Anspielungen im Frieden des Aristophanes. München 2014, 17–19. 20 Guglielmo Cavallo: Alfabetismo e circolazione del libro. In: Mario Vegetti (Hg.): Oralità Scrittura Spettacolo. Torino 1983, 166–186, hier 170–172; Reynolds/Wilson, Scribes and Scholars (Anm. 19), 5–9.

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lyrischen Chorpartien und Sprechpartien im Iambos, vorher in leichteren trochäischen Tetrametern, wobei der Chor die Basis darstellt, zu dem sich ein Antworter (hypokrites) als Schauspieler hinzugesellt, bald werden es zwei und drei (Arist. Poet. 1149a9-31).21 Durch die feste Verankerung in den Dionysoskult wird hier die mythisch-rituelle Natur besonders deutlich.22 Die Verbindung von Literatur und Religion im altgriechischen Modell ist also eine Folge der spezifischen mündlichen, performativen und okkasionell-pragmatischen Liedkultur, die erst im Begriff ist, sich zur Literatur zu entwickeln. Der griechische Musterfall der engen Interdependenz ist also einer bestimmten Entwicklungsstufe in einer noch weitgehend mündlich basierten traditionellen Gesellschaft geschuldet. Traditionelle Gesellschaften sind weitgehend von einer engen Rückbezüglichkeit auf den Mythos und das Ritual bestimmt.23 Dieser Megadiskurs ist mit allen anderen Diskursen verbunden, weswegen es keine klare Differenzierung von Religion, Kunst, Lebenswelt und Politik gibt. Das archaische und klassische Griechenland besitzt zwar als Modell, an dem man sich seitdem orientiert und kontrastiv abarbeitet, für die heutige westliche Welt einen ganz anderen Status als irgendeine andere beliebige Stammesgesellschaft. Trotzdem muss man feststellen, dass es aufgrund des abrupten Verlusts der Schriftlichkeit von Linear-B um 1200 v. Chr., der erst eine relativ späte Einführung der Alphabetschrift um 850 v. Chr. folgte, historisch-kulturell der Entwicklungsstufe einer traditionellen Gesellschaft nahestand.24 Dazu trägt auch die geographisch bedingte Zersplitterung in kleinste Einheiten (Poleis) bei, die von einer relativ gering vom Demos abgehobenen Aristokratie, von sog. basileis, regiert wurden. Mit dem Aufkommen der neuen Liedkultur befand man sich zugleich in einer Umbruchzeit. Zunächst kam das panionische und später panhellenische Bewusstsein der kulturellen Zusammengehörigkeit auf. Bald stand man in der Zeit der Kolonisation mit der Einführung des Geldes um 600 v. Chr. aus Lydien vor einer ökonomischen und politischen Revolution, die zu Unruhen und in der Folge zum Sturz der Aristokratie führte. Dies ging mit der zunehmenden Literarizität und sprunghaften Entwicklungen auf kulturellem Gebiet einher. Aufgrund der aufgezeigten sozio-historischen Bedingungen war Religion in der griechischen Kultur dieser Epoche nicht von der säkularen Welt geschieden. Daher bestand auch keine Trennung von Politik und Religion, Historie und Religion, Kosmos und Religion, Philosophie und Religion, oder sogar Kunst und Religion.25 In sämtlichen Städten herrschte eine sog. Polis-Religion.26 Die Rituale und 21

Vgl. Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 1–37. Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie (Anm. 16); ders., Literatur und Religion als Ritound Mythopoetik (Anm. 2), 17–18. 23 Gregory Nagy: Pindar’s Homer. The Lyric Possession of an Epic Past. Baltimore/London 1990, 30–33, 66–68. 24 Rudolf Wachter: Alphabet. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider/Manfred Landfester (Hg.): Der Neue Pauly I. Stuttgart/Weimar 1996, 537–547. 25 Susanne Gödde: Antike. In: Weidner, Handbuch Literatur und Religion (Anm. 5), 120–127, hier 120. 26 Christiane Sourvinou-Inwood: What is Polis Religion? In: Oswyn Murray/Simon Price (Hg.): The Greek City. From Homer to Alexander. Oxford 1990, 295–322. 22

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Mythen waren demnach mit der Polis, ihrer Geschichte und Ideologie eng verflochten. Geschichte und Mythos verbanden sich zur Mythhistorie. Selbst Historiker wie Herodot und Thukydides glaubten an die Faktizität von Homers Schilderung und Mythen und betrieben selbst in mancherlei Hinsicht noch Mythhistorie, indem sie sich mythisch-ritueller Muster bedienten.27 So sehr die Vorsokratiker naturwissenschaftliches Denken einleiteten, so bedienten sie sich zugleich immer noch mythisch-ritueller Versatzstücke gerade in der Kosmologie, die zum Teil auch von mythischen Theorien der benachbarten vorderorientalischen Völker beeinflusst waren.28 Auf dieser Grundlage ist die Vorstellung eines „L’art pour l’art“ oder einer „Autonomie der Kunst“ für die griechische Literatur der Archaik oder Klassik anachronistisch. Diese Konzepte sind eindeutig vom Gedanken der Aufklärung geprägt, die bestrebt war, Religion vom Säkularen radikal abzutrennen. Während man in der Antike von der Mimesis, der Reaktualisierung der Natur und Welt in der Kunst, ausging, sprach Kant beim Kunstwerk im ersten Teil seiner Kritik der Urteilskraft (1790) von der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“.29 Gegen politisch-gesellschaftliche Vereinnahmungsversuche und Kommerzialisierungstendenzen prägte dann im späten 19. Jahrhundert die vom Ästhetizismus beeinflusste Bohème zu Paris das Stichwort des „L’art pour l’art“. Diese Ideen wurden in der Folge so bestimmend, dass man sie selbstverständlich auf die Antike zurückprojizierte. Im Gegensatz dazu waren freilich die Performances der griechischen Lied- und Chorkultur eingebettet in sämtliche Diskurse der Welt, der Okkasion und der Politik, wobei der Megadiskurs des mythisch-rituellen Komplexes eine herausgehobene Stellung einnimmt. Die extraliterarische Realität des pragmatischen Rahmens floss also unmittelbar in die Poesie ein. In diesem hier zur Debatte stehenden Neuansatz einer mythischrituellen Poetik30 geht es also darum, zu zeigen, wie beide Ebenen, also Kunst, Welt und Politik auf der einen Seite und Religion auf der anderen, miteinander verschmelzen und sich gegenseitig bedingen.

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Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien. Berlin 2011. Vgl. u. a. Peter Kingsley: Ancient Philosophy, Mystery, and Magic. Empedocles and Pythagorean Tradition. Oxford 1995; Glenn W. Most: From Logos to Mythos. In: Richard Buxton (Hg.): From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought. Oxford 1999, 25– 47; Kathryn A. Morgan: Myth and Philosophy from the Presocratics to Plato. Cambridge 2000, bes. 46–88; Laura Gemelli Marciano: Die Vorsokratiker I–III. Düsseldorf/Zürich 2007–2013; Anton Bierl: „Riddles over Riddles“: „Mysterious“ and „Symbolic“ (Inter)textual Strategies. The Problem of Language in the Derveni Papyrus. In: Ioanna Papadopoulou/Leonard Muellner (Hg.): Poetry as Initiation. The Center for Hellenic Studies Symposium on the Derveni Papyrus. Cambridge MA/London 2014, 187–210 (elektronisch auf der CHS-Website verfügbar unter: http://chs. harvard.edu/CHS/article/display/5694). 29 Analytik der ästhetischen Urteilskraft, I/1, § 15. 30 Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2). 28

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Griechische Religion: Mythos und Ritual Außerdem ist die griechische Religion keine individualistische Glaubenslehre, sondern lässt sich am besten mit den Bereichen Mythos und Ritual umfassend verstehen.31 Das religiöse Handeln ist also kaum einem Glaubenssystem oder Dogma, einer Lehre, verpflichtet, wie dies in monotheistischen Religionen der Fall ist. Der Mythos gleicht einer uralten traditionellen Erzählung, die ohne Autor oral überliefert wird und somit Ähnlichkeiten mit der homerischen Erzähltradition aufweist.32 Herodot (2.53) behauptet, dass erst Homer und Hesiod den Griechen wirklich ihre Götter gaben, also ihre Genealogie, ihr Aussehen, ihre Namen und Aufgabenbereiche. Tatsache ist, dass wir durch diese ersten Dichter, d. h. durch die Fixierung Jahrhunderte alter Traditionen, systematisch über den griechischen polytheistischen Götterhimmel und den Mythos Bescheid wissen und sich alle späteren Dichter darauf beziehen. So haben wir den spezifischen Ausschnitt eines poetischen, bald literarischen Mythos vor uns. Homers und Hesiods Fassungen der mythischen Tradition schaffen auf alle Fälle in der Performance die für die Religion typischen Eigenschaften von Sinnhaftigkeit, Rückversicherung und Sinngenerierung. Der Mythos „als traditionelle Erzählung mit sekundärer und partieller Referenz auf etwas von kollektiver Bedeutung“33 bezieht sich also stets in übertragener, d. h. metaphorischer Weise auf den Menschen, dessen Leben in eine bestimmte sozio-politische und historische Situation eingebettet ist. Solche Geschichten sind entweder affirmativ oder als Folie ex negativo indirekt bestätigend. Die homerische Tradition beinhaltet ebenfalls Erzählungen über Helden und Götter mit übertragener Anwendung auf das politische Zusammenleben. Gerade Homer zeichnet die Götter als extrem anthropomorphe Figuren. Daher sind ihre Handlungen nie von reiner Positivität und ethischer Güte gekennzeichnet, sondern sie werden in ihrer ganzen Ambivalenz dargestellt. Das Nämliche geschieht mit den Heroen, die so sehr den Menschen angeglichen werden, dass sich ihr Heldenstatus eigentlich erst durch den Tod im Kampf erfüllt. Zugleich vermittelt das homerische Epos nicht eine Handlung absoluter Transzendenz, sondern es ist in einem fast historischen Raum zu verorten. Die erzählte oder mimetisch imaginierte bzw. inszenierte Welt ist demnach nicht von ganz anderer, übernatürlicher Art, sondern sie erscheint vom Menschen gemacht und damit real. Die sekundäre Applizierbarkeit wird noch deutlicher im Fall der Tragödie, wo der epische Heldenmythos den Inhalt liefert, der freilich in indirekter Weise auf die aktuelle sozio-politische Situation des Spielorts Athen zur Zeit der Aufführung übertragen wird. Mythos wird zudem immer von Strukturen des Logos durchzogen. Dadurch erwecken die Geschichten den Eindruck, als seien sie ganz von der menschlichen Realität und Vernunft bestimmt. Zugleich stehen die Heroen-Menschen laufend mit den Göttern in einem direkten Austausch, die ihre Handlungen mitbestimmen. 31

Gödde, Antike (Anm. 25). Vgl. u. a. Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), 40–51. 33 Übersetzt nach Walter Burkert: Structure and History in Greek Mythology and Ritual. Berkeley/Los Angeles/London 1979, 23. 32

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Auch wenn es in der griechischen Welt omnipräsent ist, gibt es für Ritual eigentlich kein eigenes Wort außer telete.34 Überall bestehen feste Bräuche, sakrale Gesetzmäßigkeiten (nomoi), die streng zu beachten sind, wie Kulte, Riten, Bräuche und Feste. Zudem gibt es sakrale Räume, Tempel, Heiligtümer und Haine, in denen man besonderen Kontakt mit den Göttern durch Opfer und Gebet aufnimmt. In multimedialen Performances, die Wort, Gesang, Rhythmik, Musik und Tanz verbinden, verausgabt man sich im Rahmen von ästhetisch geprägten Feiern, um den Göttern mit schönen Darbietungen Freude zu bereiten. In der Chorkultur ist das poietische, menschengemachte und ästhetische Produkt selbst ein Opfer, genau wie ein konkretes Tieropfer.35 Im hochartifiziellen Wort, im musikalischen Lied und in der begleitenden Körperbewegung wird das Sakrale performativ hergestellt und das Göttliche präsent gemacht. Als Besonderheit kann gelten, dass sich die Okkasion und der rituelle Kontext zum Teil direkt in die Textur der poetischen Aufführung einschreiben.36 In den Erzählungen und anderweitigen mimetischen Handlungen vermag man Götter in Epiphanie erscheinen zu lassen, also als präsent vorzustellen. Alles ist extrem anschaulich und ereignishaft. Mythos als Narration ist oft das Szenario des begleitenden Rituals, seine Begründung oder Verarbeitung, und beide können eine rituelle Wirkung ausüben. Das multimediale Ritual entfaltet außerdem wie die multimedial inszenierte Poesie einen maßgeblich synästhetischen Effekt.

Die Verbindung mit der Metapher und der Zusammenhang mit der Poesie Mythos und vor allem Ritual hängen mit dem Metaphorischen zusammen, indem sie diesen Gehalt ausdrücken. Metaphern arbeiten wie movers und shifters, sie setzen etwas durch Übertragung in Bewegung.37 Wie Symbole im Wort über Metaphern Alltagssprache und den üblichen Sprachgebrauch bewegen und ändern, so werden auch in Handlungen solche Zusammenhänge laufend verschoben.38

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Vgl. u. a. Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), 15–40. Vgl. u. a. Jesper Svenbro: La découpe du poème. Notes sur les origines sacrificielles de la poétique grecque. In: Poétique 15 (1984), 215–232; Claude Calame: The Homeric Hymns as Poetic Offerings. Musical and Ritual Relationships with the Gods. In: Andrew Faulkner (Hg.): The Homeric Hymns. Interpretative Essays. Oxford 2011, 334–357; Ivana Petrovic: Rhapsodic Hymns and Epyllia. In: Manuel Baumbach/Silvio Bär (Hg.): Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion and Its Reception. Leiden/Boston 2012, 149–176, bes. 155–169. 36 Anton Bierl: Fest und Spiele in der griechischen Literatur. In: Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum VII: 3. Festivals and Contests. Los Angeles 2011, 125–160, hier bes. 132, 136, 138, 144. 37 In Alexious Worten heißt es: „Metaphor shapes ritual (conventional action), just as ritual gives body to metaphor.“ Margaret Alexiou: After Antiquity. Greek Language, Myth, and Metaphor. Ithaca/London 2002, 318. Vgl. insgesamt ebd., 317–410. 38 Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), bes. 317–319. 35

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Eine Metapher kann ein Ritual hervorbringen, indem es weitere Metaphern in Bewegung setzt, die durch Ähnlichkeit und/oder Kontiguität aktiviert werden.39 Rituale sind Versuche, mit performativem, spektakulärem und inszeniertem Verhalten sowie auf symbolische Weise die Außenwelt im Vergleich zum Selbst zu beherrschen.40 Bevorzugt findet es Anwendung in (1) fundamentalen Alltagshandlungen, wie z. B. Essen, Trinken, Bekleiden und Waschen, (2) in Situationen der Gefahr, der Krankheit und lebensbedrohlicher Umstände, und (3) in den Begrenzungen zentraler Lebensabschnitte wie Geburt, Ehe und Tod.41 Metapher und Metonymie stehen also in besonderer Weise mit der Wirkweise von Ritual und Mythos in einem intrinsischen Zusammenhang. Aus rituellmythischen Szenen und Tableaus können epische Erzählungen, lyrische Verdichtungen in Liedform und mimetisch-performative Darbietungen entstehen. Solche Produkte oraler Tradition werden zum Teil in literarische Formen integriert. Bild, Performanz, Lebenswelt, mentale Konzepte und Vorstellungen kommen dabei in einen dynamischen Austauschprozess und befruchten sich gegenseitig.42 Gerade frühe griechische Texte sind demnach als synästhetische und multimedial konzipierte Kunstwerke nicht ausschließlich in ihrer linguistischen Struktur zu erfassen. Zudem ähneln sich Poesie und Ritual im weiteren markierten Gebrauch: Nach Wolfgang Braungart sind dies vor allem Wiederholung, Inszeniertheit, ästhetische Elaboriertheit, Selbstbezüglichkeit, Expressivität, Symbolizität. Sprachlich manifestiert sich dies in der poetischen Sprache in Wiederholungen, Rhythmisierung, Sprachmagie, Sprachspiel, weiteren Sprachfiguren, Variationen und im Reim.43

Definitionen und Anwendungsbereiche Mythen weisen eine strukturelle Nähe zu phantastischen Träumen und imaginierten Szenerien auf. Dem Mythos wohnt eine grundlegende Ambivalenz und Spannung inne. Gegen die universalistischen oder reduktionistischen Definitionen versuche ich, Mythos mit Margaret Alexiou als offenes Feld zu beschreiben,44 das im Austauschprozess zwischen den binären Gegensätzen von mündlich/schriftlich, primitiv/zivilisiert, abergläubisch/rational, wahr/falsch, ländlich/städtisch, historisch/ phantastisch, volkstümlich/literarisch Kreativität in Performanzen ermöglicht. Ale39

Vgl. James W. Fernandez: The Performance of Ritual Metaphors. In: J. David Sapir/Jon Christopher Crocker (Hg.): The Social Use of Metaphor. Essays on the Anthropology of Rhetoric. Philadelphia 1977, 100–131; ders.: Persuasions and Performances. The Play of Tropes in Culture. Bloomington 1986; ders. (Hg.): Beyond Metaphor. The Theory of Tropes in Anthropology. Stanford 1991. 40 Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), 317–348. 41 Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), 319–324. 42 Gloria Ferrari: Figures of Speech. Men and Maidens in Ancient Greece. Chicago/London 2002, bes. 61–86. 43 Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996, bes. 139–254 (in seiner meinerseits nicht weiter durch Anführungszeichen kenntlich gemachten Begrifflichkeit). 44 Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), 152–155.

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xiou, die eher der Wirkweise des Mythos als dessen Wesenheit auf den Grund gehen will, bestimmt diesen wie folgt: Myth is a story, often involving supernatural or nonnatural elements, which may be told, sung, or implicit, whether by word of mouth or in writing (or a combination of both). It draws on a shared yet not undisputed fund of beliefs, experiences, and memories, rather than on an officially or scientifically determined consensus imposed from outside. It serves to link the past with the present, the known with the unknown worlds.45

Demnach ist für die Funktionsweise des Mythos der dialogische und dynamische Prozess zwischen dem Performer und Rezipienten bzw. zwischen Autor und Leser in mythischen Liedern und Erzählungen zentral. Ihre sich stets aufschiebende Bedeutung ist nach Alexiou in der Lücke zwischen den Polaritäten zu suchen.46 Die Performanzen, später die Literatur, die im Griechischen so deutlich von der mündlichen Vorgeschichte beeinflusst ist, nehmen also laufend auf den Megadiskurs Bezug und beziehen aus Mythen und Ritualen ihren stets neu kombinierten Stoff. Dadurch entsteht eine spezifische am Sakralen ausgerichtete Ästhetik. Feste, die den okkasionellen Rahmen bilden, und allgemeine Festlichkeit können sich direkt in ihren Formen von panegyris, pompe, agon, komos, thysia, dais, theoria and choreia samt ihren akustischen, visuellen und kinästhetischen Elementen in die Texte einschreiben, woraus sich synästhetische Effekte ergeben.47 Choreia, die multimediale und alle Sinne ansprechende Darbietung von Lied und Tanz, ist in besonderer Weise festlich, heilig und rituell. Nach Burkert ist sie als „zweckfreie, gemeinsame, rhythmisch wiederholte Bewegung [. . . ] gleichsam die kristallisierte Reinform von Ritual überhaupt.“48 Die Vorstellungen von Opfer und theoxenia können direkt die Struktur von Liedern bestimmen. Poesie kann, wie gesagt, überhaupt als Opfer oder Libation an die Gottheit betrachtet werden.49 Das Heilige ist oft nicht nur der metakommunikative Rahmen, der die Okkasion reflektiert, sondern die Rahmung kann sich auch in die Textur einschreiben, indem bestimmte Zeichen und Objekte verhandelt, bewegt und verschoben werden. Mythen und Rituale werden in diesen Performanzen gewissermaßen zu Zentren der „Zirkulation sozialer Energie“.50 Somit besitzen sie das Potential, „Generatoren

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Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), 153. Alexiou, After Antiquity (Anm. 37), 165–166. 47 Bierl, Fest und Spiele (Anm. 36). 48 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche [1977]. Stuttgart 2 2011, 161. Zu Musik und Tanz als Ritual vgl. auch Braungart, Ritual und Literatur (Anm. 43), 246–248. 49 Siehe oben Anm. 35. 50 Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin 1990 (engl. 1988), 7–24, zitiert bei Gerhard Neumann: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 19–52, hier 19, Anm. 1. 46

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von Handlungs- und Erzählmustern in dichterischen Texten“ zu werden.51 In der griechischen Poesie wird der Megadiskurs also laufend bestätigt, unterminiert, verhandelt und stets neu verarbeitet. Riten sind daher Katalysatoren des Ästhetischen im synästhetischen Effekt. Ein besonders wichtiges Reservoir ist der Lebenszyklus, die Geburt, die Hochzeit und der Tod. In der griechischen Poesie ist die Inszenierung dieser Übergangsrituale als soziales Drama besonders wirkmächtig. Gerade die Eheschließung als zentraler Schritt im Leben der Frau und die Vorbereitung darauf spielen auf weiblicher Seite in rites de passage eine herausgehobene Rolle.52 In poetischen Transformationen geht es oft um dabei figurierende Objekte, bestimmte Motive und einzelne Handlungsversatzstücke. Zu nennen sind die Haartracht, bestimmte Kleidung, einzelne Gegenstände der Wollarbeit und Kosmetik, zudem der Tanz und die Mädchentragödie als rituelle Verarbeitung von Tod und die Wiedergeburt.53 Hochzeitsriten stehen daher häufig in Verbindung mit Klagen, gooi und threnoi.54 Poetisches Potential besitzen auch die Mysterienvorstellungen, die Hikesie, das Opfer, das Gebet, das Orakelwesen, der Eid, Reinigungen, Heilungen, die Magie, Beschwörungen, Segnungen, Verfluchungen, Aischrologie und Beschimpfungen.55 Auf der Mythenebene werden vorzugsweise extreme Krisensituationen, die existentielle Gefahren für das Individuum wie auch für die Gruppe oder die ganze Polis bedeuten, experimentell durchgespielt. Verarbeitet werden auch die Folgen für das Fortbestehen des gesamten Kosmos, der Weltordnung und der bestehenden Ethik. Die einzelnen Götter können mit ihren spezifischen Qualitäten und Aufgabenbereichen in die unterschiedlichen Szenarien einbezogen werden. Sie bestrafen Gegner, liefern Schutz und Rettung für die Freunde. Sie werden angerufen, zu erscheinen, zu helfen oder zu strafen. Die Menschen stehen vor ihnen in einem Zustand des Staunens (thauma). Das Heilige zeigt sich als tremendum, Schrecken und Schauder. Bevorzugt Extremsituationen von Tod, Gefahr, Leid, Liebe und Verwandlung, aber auch von grotesker Verzerrung, Lachen, Utopie und Lächerlichkeit werden im dynamischen Prozess erfahrbar gemacht, durchgespielt und somit auch für die paideia umgesetzt.

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Neumann, Begriff und Funktion des Rituals (Anm. 50), 19. Vgl. auch Bierl, Mysterien der Liebe (Anm. 2), 240–244. Zum Mythos und Ritual aus dem Blickwinkel von Literatur und Religion vgl. nun auch Zaal Andronikashvili: Mythos. In: Weidner, Handbuch Literatur und Religion (Anm. 5), 399–403, und Wolfgang Braungart: Ritual. In: Weidner, Handbuch Literatur und Religion (Anm. 5), 427–434; zur Antike Gödde, Antike (Anm. 25). 52 Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), 23–25; Gödde, Antike (Anm. 25), 124. 53 Zum Initiationsmodell im griechischen Roman vgl. Bierl, Mysterien der Liebe (Anm. 2), bes. 239–276. 54 Margaret Alexiou: The Ritual Lament in Greek Tradition [1974]. Cambridge 2 2002; Richard Seaford: The Tragic Wedding. In: Journal of Hellenic Studies 107 (1987), 106–130. 55 Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), 30–32.

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Die Nähe zu Braungarts zehn Thesen Wolfgang Braungart liefert in seinem Buch Literatur und Religion in der Moderne zehn Schlussthesen,56 von denen sich viele auch am antiken griechischen Befund der archaischen und klassischen Zeit verifizieren lassen. 1. „Religion ist Menschenwerk“, also poietisch und damit Teil der Poesie. 2. „Religion muss sich zwischen Mythos und Logos entfalten.“ Gerade die Epik, die frühgriechische Lyrik und das Drama sowie die philosophische Dichtung einiger Vorsokratiker bewegen sich exakt zwischen diesen beiden Polen. Lange Zeit wurde im Sinne der Aufklärung und Moderne auch in der Gräzistik die fast dogmenartige opinio communis vertreten, der griechische Geist habe sich „vom Mythos zum Logos“ entwickelt.57 Heute setzt sich hingegen auch dort die Erkenntnis durch, dass beide Bereiche sich gegenseitig bedingen und als herakliteische palintropos harmonia die Voraussetzung der markanten zivilisatorischen Entwicklung darstellen.58 3.–4. Die prozesshafte „Bewegung“, die aus der gegengespannten Ordnung resultiert, habe ich selbst beim Mythos wie gerade in der Poesie immer wieder betont. 5.–7. Braungart spricht von der Notwendigkeit eines zwischen den Polen vermittelnden „gemeinsamen“ „Geist[s]“, der sich im Konzept des Heiligen Geists oder in der Romantik in der Liebe manifestiert. Eros spielt in der frühen Literatur der Griechen ebenfalls eine Rolle. Zum Teil können vielleicht die Idee der Polis oder die choreia diese Funktion übernehmen, die zwischen allen Instanzen vermittelt und Chor, Lied und Ritual selbstbezüglich im Echoraum des Kosmos erschallen lässt. 8.–10. Die von Braungart betonte „Menschwerdung“ Christi entspricht dem grundsätzlichen Anthropomorphismus der griechischen Götter. Sie sind dadurch ebenfalls „mythisch“ „erfahrbar“, „ereignishaft“ und präsent in der Welt. Zugleich wirken sie ebenso wie die Poesie, in der sie erscheinen, ereignishaft in der „Zeit“ und in der „Geschichte“; man denke z. B. an Homers Troja, an die Insel Lesbos im Falle von Sappho und Alkaios oder bei den attischen Dramatikern an das klassische Athen.

Das Beispiel: Sapphos Ritualität anhand von fr. 2 Voigt Zur Konkretisierung möchte ich anhand des auf einem Florentiner Ostrakon aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. überlieferten Gedichts von Sappho (fr. 2. V.) die oben skizzierten Zusammenhänge detailliert in der Praxis nachzeichnen. Bekanntermaßen werden die Mädchen im Sapphischen Kreis, die den rite de passage zur erwachsenen Ehefrau durchleben, durch chorische paideia zur Schönheit erzogen. Dabei bedient sich die frühgriechische Lyrikerin mythischer und ritueller Diskurse und Mittel. Musik, Rhythmus, Tanz und Gesang führen zu einer tiefen Erfahrung

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Braungart, Literatur und Religion in der Moderne (Anm. 5), 501–502. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart 1940. 58 Most, From Logos to Mythos (Anm. 28). 57

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dieses ästhetischen Werts. Die Erziehung zur bellezza wird zugleich durch voreheliche homosexuelle Praktiken unter den Mädchen und zwischen Sappho und Mitgliedern der Gruppe verstärkt.59 Dazu kommt eine religiöse Nähe zu Aphrodite in einer rituellen Gemeinschaft – manche bezeichnen sie wohl fälschlich als wirklichen Thiasos und Aphroditekult –,60 die über intensive Körpererfahrungen die Poesie in Wort, Musik und Tanz multimedial erleben und damit die Gottheit und die Liebe präsent werden lässt. In laufender Synästhesie und durch erotische Anziehung und Sehnsucht wird kognitives Bewusstsein über to kallos (die Schönheit) von nahezu philosophischer Reflexion sinnlich hergestellt.61 Dies erfolgt auch durch sensorische Eindrücke, Gegenstände, Körperkosmetik, Berührungen, Düfte, Geräusche, Musik und Tanz in traumhaftem Naturerlebnis. Hinzu kommt die Verbindung mit dem Wort, mit Mythen und Reflexionen, welche die Unterweisung zur Schönheit auf der kognitiven Ebene ergänzen. Ein sprechendes Exempel für diese Zusammenhänge ist fr. 2 Voigt:62

59 Zu fr. 16 vgl. Bierl, Ich aber (sage) (Anm. 13). Zur chorischen paideia vgl. Claude Calame: Choruses of Young Women in Ancient Greece. Their Morphology, Religious Role, and Social Function. Lanham 1997 (frz. 1977), 221–244, und Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), Index s. v. „ ’š•©´Ì’“. 60 E. g. Gentili, Poesia (Anm. 14), 75, 101–102, 106–108, 131, 153, 210. 61 Vgl. Page DuBois: Sappho Is Burning. Chicago/London 1995, 77–97, 98–126, bes. 101, 105– 115. 62 Vgl. Medea Norsa: Versi di Saffo in un ostrakon del Il sec. a.C. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 2/6 (1937), 8–15; Carl Theander: Zum neuesten Sapphofund. In: Philologus 92 (1937), 465–469; Alexander Turyn: The Sapphic Ostracon 1942. In: Transactions of the American Philological Association 73 (1942), 308–318; Denys Page: Sappho and Alcaeus. An Introduction to the Study of Ancient Lesbian Poetry. Oxford 1955, 34–44; Kjeld Matthiessen: Das Gedicht Sapphos auf der Scherbe. In: Gymnasium 64 (1957), 554–564; Thomas McEvilley: Sappho, Fragment Two. In: Phoenix 26/4 (1972), 323–333; Anne Pippin Burnett: Three Archaic Poets: Archilochus, Alcaeus, Sappho. London 1983, 259–276; François Lasserre: Sappho. Une autre lecture. Padova 1989, 182–186; Ekaterini Tzamali: Syntax und Stil bei Sappho. Dettelbach 1996, 92–118; Georgis P. Tsomis: Zusammenschau der frühgriechischen monodischen Melik (Alkaios, Sappho, Anakreon). Stuttgart 2001, 57–60; William D. Furley/Jan Maarten Bremer: Greek Hymns: Selected Cult Songs from the Archaic to the Hellenistic Period I–II. Tübingen 2001, II, 113–115; Dimitros Yatromanolakis: Ritual Poetics in Archaic Lesbos. Contextualizing Genre in Sappho. In: Dimitros Yatromanolakis/Panagiotis Roilos (Hg.): Towards a Ritual Poetics. Athen 2003, 43–59, hier 52– 55; ders.: Sappho in the Making. The Early Reception. Cambridge MA/London 2007, 344–347; Kai Heikkilä: Sappho Fragment 2 L.-P.: Some Homeric Readings. In: Arktos 26 (2007), 39–53; Kyriakos Tsantsanoglou: The Banquet of the Gods and the Picnic of the Girls: Observations on Sappho fr. 2 V. (with an Appendix on Ibycus PMGF 286). In: Eikasmos 19 (2008), 45–70; Stefano Caciagli: Poeti e società. Comunicazione poetica e formazioni sociali nella Lesbo del VII/VI secolo a. C. Amsterdam 2011, 137–148; Franco Ferrari: Sappho’s Gift. The Poet and Her Community. Ann Arbor 2010 (it. 2007), 151–155; ders.: Da Kato Simi a Mitilene. Ancora sull’ode dell’ostrakon fiorentino (Sapph. fr. 2 Voigt). In: La parola del passato 66 (2011), 442–463; Katerina Ladianou: Female Choruses and Gardens of Nymphs: Visualizing Chorality in Sappho. In: Vanessa Cazzato/André Lardinois (Hg.): The Look of Lyric: Greek Song and the Visual. Leiden 2016, 343–369, hier 350–352; Luca Benelli: Sapphostudien zu ausgewählten Fragmenten I–II. Paderborn 2017, 374–384.

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Aus dem Himmel herabkommend . . . hierher zu mir aus Kreta [komm zu diesem] Heiligtum, dem heiligen, wo ein anmutiger Hain steht von Apfelbäumen, zudem Altäre sind, die rauchen von Weihrauch; drinnen rauscht kühles Wasser zwischen Zweigen der Apfelbäume, und von Rosen ist der ganze Ort beschattet, beim raschelnden hin und her Wehen der schimmernden Blätter fließt herab / ergreift einen der Schlummerzustand der totalen Verzauberung. Drinnen erblüht ferner eine Pferde weidende Wiese, mit frühlingshaften Blumen, und Windhauche wehen honigsüß. [ ] Hier nun nimm du [. . . ], Kypris, in goldenen Bechern elegant mit Festfreuden vermischten Nektar einschenkend . . .

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Kypris-Aphrodite wird ins Hierher herbeizitiert, in den heiligen Tempelbezirk, um dort in einer lebendigen Epiphanie der weiblichen Gruppe oder nur der lyrischen Ich-Stimme, vielleicht Sappho selbst, präsent zu werden. Deutlich wird also, wie Natur und Sakralität in kreativer Abwandlung der reinen Hymnenform eine Verbindung eingehen und Symbole in metaphorische Bewegung gebracht werden. Es geht wie immer bei Sappho um Liebe und Ausbildung zur Schönheit. Die Natur, hier der Garten der Liebe, steht wie gesehen für den Lebenszyklus, in unserem Fall besonders für die sexuelle Reifung der Mädchen in ihrem rite de passage am Übergang zur Ehe. Die meisten Interpreten deuten das Gedicht wegen der Erwähnung eines Tempels (1) und sakraler Signale als reines Kultlied. Im Sinne eines biographischen Ansatzes feierte Sappho demnach mit ihrem Kreis als kultischem Thiasos darin ein

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Fest, wobei Sappho Aphrodite zur Epiphanie rief.63 Ähnlich macht die pragmatische Lyrikdeutung für das Poem aufgrund der deiktischen Signale den heiligen Hain konkret als lebensweltlichen Kontext aus.64 Dabei setzt sie einen kultischen Anlass für die Aufführung des Liedes an, das Sappho im Hier und Jetzt des Kultortes singt. Andere Interpreten betonen das Religiöse des Liedes, indem sie den locus amoenus als Nymphenhain65 oder orphischen Ort des seligen Jenseits66 bestimmen. Zusammen mit anderen Kritikern möchte ich eher das Dazwischen, die Überlagerung von anderen Diskursen mit dem rein Kultischen,67 und den imaginären sowie poetisch-symbolischen Charakter des Lieds in den Vordergrund rücken.68 In diesem Sinne kommt es zu einer fruchtbaren Mischung von Poesie und Religion. Wie Anne Pippin Burnett möchte ich das Gedicht vor allem als symbolischen Ausdruck der Erotik im Zusammenhang mit der Ausbildung von Mädchen am Übergang zur Hochzeit betrachten.69 Alle darin aufgereihten Elemente, die eine Szene sinnlicher Fülle in idyllischer Natur vor Augen führen, symbolisieren in mythopoetischen Texten, besonders in der byzantinischen und neugriechischen Kultur, auch weiterhin diese lebensweltlichen Zusammenhänge.70 Zugleich möchte ich besonderes Augenmerk auf die selbstbezügliche Dimension des Lieds werfen. Sappho thematisiert in dem wohl chorisch vorgetragenen Gedicht,71 in dem die Mädchen die erwachende Sexualität und die sensuelle Fülle besingen und damit im chorischen Tun vorwegnehmend erfahren, in deutlichem Ausmaß zugleich die verzaubernde Wirkung ihrer Poesie und Musik in selbstbezüglicher Weise. Mit der hymnischen Anrede an Aphrodite verschmelzen also gewissermaßen in der konkreten Vorstellung der Liebesgöttin Kultisch-Religiöses, weibliche Erotik, die lebensweltliche Situation der 63 Martin L. West: Burning Sappho. In: Maia 22 (1970), 307–330, hier 317, erkennt darin eher ein säkulares „Picknick“ („Sappho and her companions are enjoying a picnic.“). 64 Gentili, Poesia (Anm. 14), 111, 117; Lasserre, Sappho (Anm. 62), 184–186; Caciagli, Poeti (Anm. 62), 137–148; Ferrari, Da Kato Simi a Mitilene (Anm. 62), 460–461. 65 Tsantsanoglou, The Banquet (Anm. 62), 51. 66 Turyn, Sapphic Ostracon (Anm. 62), 312–318. 67 Yatromanolakis, Ritual Poetics (Anm. 62), 52–55. 68 McEvilley, Sappho (Anm. 62), 331–333; Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 265–276; zur symbolischen Dimension aus pragmatischer Sicht vgl. auch Caciagli, Poeti (Anm. 62), 143–146. 69 Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 265–276. Vgl. auch Jack Winkler: Gardens of Nymphs: Public and Private in Sappho’s Lyrics. In: Ellen Greene (Hg.): Reading Sappho. Contemporary Approaches. Berkeley 1996, 89–109, hier 107–108. Im Sinne des Handbuchs Literatur und Religion (Anm. 5), dessen Themen und Diskurse doch deutlich vom Biblischen der jüdisch-christlichen Tradition bestimmt sind, könnte Sappho fr. 2 mit den dort aufgeführten Themen Liebe, Lyrik, Mystik, Offenbarung und Paradies fruchtbar in Beziehung gesetzt werden. 70 Vgl. Alexiou, After Antiquity (Anm. 37): u. a. Grotte im Sinne von ἔναυλος (in Vers 1 und unten Anm. 81) 234–235; Apfel und Apfelbaum 209, 217, 233–236, 244, 252, 261, 373–375, 399–400, 474–475, Anm. 76, 500, Anm. 45; Rose 123–124, 223, 475, Anm. 76; Garten der Liebe und Erneuerung 117, 123–125, 222–223, 360, 374–377, 381, 404; Baum der Liebe und des Lebens 399–404; Zweig 417–418; Schatten 261, 327, 345, 402–404; Schlaf 343, 368–369, 376–377; Wasser 321–322, 345, 385; kaltes, rauschendes Wasser 160, 236, 258, 260–261, 380; Frühling 419–420, 449–450; Blumen 345. 71 André Lardinois: Who Sang Sappho’s Songs? In: Ellen Greene (Hg.): Reading Sappho. Contemporary Approaches. Berkeley 1996, 150–172, hier 152, 165.

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Mädchen im Kreis und die sie zur Schönheit ausbildende Poesie. Kypris wird zur Epiphanie in dem ihr eigenen Ort gerufen, wo sie per se in sämtlichen Teilaspekten schon immer präsent ist. Um die Göttin der Liebe punktuell und detailliert in der Synästhesie anschaulich und erlebbar zu machen, wird der zweite, meist pars epica oder hypomnesia genannte Teil der traditionellen Hymnenform zur reihenden Anhäufung von erotisch-symbolisch aufgeladenen Erscheinungsspezifika umgestaltet. Der dritte Teil, die eigentliche Bitte um Erscheinen, muss gar nicht mehr konkret dieses Anliegen formulieren, da Kypris längst da ist.72 Deshalb wird die übliche Bitte an die Göttin, herbeizukommen und zu erscheinen, die gleich zu Beginn geäußert wird, schließlich in eine Aufforderung umgeformt, ihre Substanz auszuschenken und damit mittels Übertragung in der Gruppe weiter erfahrbar werden zu lassen.

Natur als Symbol für die Einführung in die Sexualität Das in der betonten ersten Versposition stehende •©U¡¤ ˜ („hierher“, 1) – wahrscheinlich geht dem Lied noch eine Strophe voraus, wo der Ort genannt und Aphrodite mit Beinamen angerufen wird – zeigt nach der Auffassung der pragmatischen Lyrikdeutung als deixis ad oculos das Hier und Jetzt an, wo sich die Gruppe befindet. Doch kann es natürlich auch als deixis am phantasma eine imaginierte Phantasielandschaft eines symbolischen locus amoenus einführen. Der Bezirk wird als ἄγνον beschrieben, was einen Schutzwall und ein „Kraftfeld“73 der Reinheit zur Außenwelt markiert. Das Attribut bezeichnet etwas, das im Gegensatz zur rituellen Befleckung steht.74 Das Adjektiv kann also etwas Unverletzliches oder Unberührtes bedeuten. Nach Burkert hat es etwas mit einer inneren Haltung und Abgrenzungsgeste zu tun.75 Zugleich ist es mit dem Tabu des agos, des Frevels, überlagert. Hagnos setzt daher nach der archaischen Vorstellung auch den Ausschluss von Sexualität, Blut und Tod voraus, die allesamt Unreinheit implizieren.76 Als wichtiges Paradox wird sich herausstellen, wie der Ort der Keuschheit und Unverletzlichkeit in der mit Worten und Musikalität ausgedrückten paideia Sapphos zugleich die Fülle der Sexualität und sogar einen fast todesähnlichen Zustand des koma ausdrücken kann.77 Die Mädchen besingen gewissermaßen in der Poesie Sapphos ihre 72

Zur Umformung hymnischer Elemente vgl. Gabriele Burzacchini: Fenomenologia innodica nella poesia di Saffo. In: Eikasmos 16 (2005), 11–39, hier 18–25, und Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 261–262. 73 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 406. 74 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 125, 404–406. 75 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 404. Burkert grenzt ebd., 402–406, die drei Begriffe für heilig voneinander ab; im Gegensatz zu hagnos drückt hieros die Zugehörigkeit zu einem Gott aus; hieros steht oft in Relation zu hosios, das für den Rest steht, der nicht unmittelbar die Götter betrifft. 76 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 125, 405. 77 Vgl. Heikkilä, Sappho Fragment (Anm. 62), 45–46; ebenso symbolisiert der Apfel Reinheit und Sexualität; ein weiteres Paradox ist der Ausschank von Wein, der aber nur metaphorisch (16) benannt ist; Weingenuss ist Mädchen eigentlich verboten, weshalb man unter anderem auch um Nektar bittet (15). Die folgenden Ausführungen zur erotischen Symbolsprache sind erneut

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sexuelle Reife und Bereitschaft in Anbetracht eines imaginierten Lustgartens (locus amoenus), ohne aber im realen Leben bereits den Schritt von der Jungfrau zur Frau vollzogen zu haben. Dieser rite de passage ist, wie die Forschung gezeigt hat, in der archaischen Ideologie von zentraler Bedeutung. In Mythen und Ritualen wird er symbolisch zum Zweck der Einführung in die patriarchale Ordnung immer wieder bearbeitet.78 Daher kann man auf der Basis der von Anne Pippin Burnett herausgearbeiteten erotischen Symbolik79 das Gedicht dahingehend verstehen, dass die Mädchen nach der Diktion Sapphos ihre sexuelle Erfüllung gewissermaßen in symbolisch-poetischer Imagination bereits vorwegnehmen, wodurch sie noch begehrenswerter werden. Zugleich setzten die Jungfrauen ihre antizipierte Blüte entsprechend gesellschaftlich-ritueller Normierungen in die abgrenzende Rahmung eines sakralen Bezirks und einer kultischen Sprache, die für die Jungfrauen die keusche Reinheit bewahrt. In diesem geschützten heiligen Raum befindet sich ein Hain, der mit dem Attribut χάριεν versehen charis ausstrahlt, Anmut und Freude, die auf Reziprozität zielt und somit die angesprochene Göttin Kypris ins Geschehen einbezieht.80 Ist die Lokalität tatsächlich ein kultisches Heiligtum (ναῦον, 1),81 ist ein Hain dafür durchaus charakteristisch. Um einen Tempel herum befindet sich oft ein Stück Wald, der als Weidplatz für Tiere und als Aufnahmeort für die Festteilnehmer dient. Darin stehen üblicherweise „schattenspendend[e]“ Bäume, die ein „Inbild der Schönheit wie der generationenüberspannenden Dauer“ darstellen.82 Gruselige Mythen erzählen von Jungfrauen, die sich am Baum von Göttinnen erhängen.83 Was im Mythos als Schrecken ausgemalt wird, wird im Ritual in Leichtigkeit überführt. Zu einem solchen Sakralraum der Natur gehören ebenso Altäre, bomoi,84 wo das Feuer entzündet wird. In diesem Falle könnte es ein natürlicher Felsaltar sein. Oft steht man als Feiernde um den Altar.85 Der vom Opferrauch qualmende Altar86 und der Weihrauch als olfaktorischer Sinneseindruck gehören in besonderem Maße zu Aphrodite.

Ausdruck der großen „Fremde“ altgriechischer weiblicher Poesie und dürfen in keiner Weise im Sinne heutiger Genderdebatten aktualisierend als Ausdruck überholter Weiblichkeitsdiskurse gelesen werden. 78 Calame, Choruses of Young Women (Anm. 59). 79 Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 265–276. 80 Vgl. Bonnie MacLachlan: The Age of Grace. Charis in Early Greek Poetry. Princeton 1993, bes. 3–12; Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 140–150, bes. 142, Anm. 92 mit weiterer Literatur. 81 Andere Kritiker (z. B. Rudolf Pfeiffer: Vier Sappho-Strophen auf einem ptolemäischen Ostrakon. In: Philologus 92 (1937), 117–125, und Yatromanolakis, Ritual Poetics (Anm. 62), 54) setzen versuchsweise ἔναυλον (Behausung, Grotte). Damit wäre eher ein natürlicher Aufenthaltsort der Nymphen gekennzeichnet; vgl. Hes. Th. 129–130. 82 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 136. 83 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 137. 84 Cf. Hom. Il. 8.48. 85 Burkert, Griechische Religion (Anm. 48), 139–140; vgl. Sappho fr. 154 und inc. 16. 86 Hom. Od. 8.363; Hom. Hym. 4.59.

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Im Griechischen wurde er mit dem semitischen Lehnwort libanos oder libanotos bezeichnet, was zugleich die östliche Herkunft der Aphrodite signalisiert, die mit der semitischen Astarte, Königin des Himmels und zugleich Hetäre, gleichgesetzt wird.87 Die Göttin der Geschlechtlichkeit, des Liebesverlangens und des Eros soll sich also in dem reinen Schutzraum des Eros manifestieren, um den Mädchen Eros, Schönheit und Sexappeal zu schenken. Der heilige Bezirk ist als locus amoenus deutlich zu einem mythischen Nymphenhain stilisiert,88 also zum Lustgarten der Nymphen, die nach der archaischen Vorstellung als Personifikation der Bräute exakt wie der Chor Sapphos den Übergang vom jungfräulichen Mädchen zur Frau, zur Ehe und Sexualität symbolisieren.89 Dort rauscht kaltes Wasser, das in heiligen Bezirken für die Erfrischung, zum Tränken der Tiere sowie zu Reinigungen bereitsteht.90 Es erzeugt ein akustisch deutlich vernehmbares und angenehmes Geräusch (›ελάδει, 5) durch die Zweige der Apfelbäume hindurch, die offenbar die Szenerie bestimmen. Der Apfel fungiert nach dem altgriechischen Verständnis als ein besonderes Symbol der Liebe, mit dem man geliebte Personen bewirft.91 Er versinnbildlicht speziell, wie Sappho in einem einfühlsamen, die allgemein gültige Symbolik aufgreifenden Gedicht (fr. 105a) ausdrückt, die Jungfräulichkeit und ihren Verlust, das „reifende Mädchen“, das in ihrer strahlenden Schönheit schließlich vom Lebensbaum „gepflückt“ wird, was den krisenhaften Übergang in die Ehe umschreibt.92 Dieser ist nach der allgemeinen Vorstellung wie ein „Pflücken vom Zweig“ des Zusammenlebens in der Gruppe am Baum der Natur, ein Tod und eine Wiedergeburt in einer neuen Existenz, wo man nun „konsumiert“ wird. Das Verspeisen kann man also als symbolisch-poetische Umschreibung des sexuellen Akts nach der Hochzeit verstehen. Der anmutige Lustgarten ist beschattet von Rosen (6–7), die wie Äpfel einen betörenden Duft ausströmen und mit ihrer roten Farbe erneut die Liebe versinn87

Der Weihrauchständer (thymaterion), von dem der Duft im Rauch aufsteigt, stammt wohl aus Babylonien und Assyrien; wahrscheinlich ist er über Zypern nach Lesbos gekommen. 88 U. a. Reinhold Merkelbach: Sappho und ihr Kreis. In: Philologus 101 (1957), 1–29, hier 25–29; Tsantsanoglou, The Banquet (Anm. 62), 51. 89 Vgl. Jennifer Larson: Handmaidens of Artemis? In: Classical Journal 92 (1997), 249–257; Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 135 mit Anm. 73. 90 Die Kühle (vgl. ψῦχρον, 5) nimmt auch die erfrischende Befriedigung des glühenden Verlangens vorweg; vgl. Sappho fr. 48, bes. ἔψυχας (48.2). 91 Zur melobolia vgl. Gregory Nagy: The Ancient Greek Hero in 24 Hours. Cambridge MA/London 2013, 138; vgl. auch Sappho fr. 214A Campbell; in Theocr. Id. 5.88 wirft Klearista Äpfel nach einem Hirten, der ihr gefällt; melobolein ist eine sprichwörtliche Redensart für wechselseitige Liebe; vgl. Schol. Ar. Nub. 993. Zur Apfelsymbolik vgl. auch Antony Robert Littlewood: The Symbolism of the Apple in Greek and Roman Literature. In: Harvard Studies in Classical Philology 72 (1968), 147–181, bes. zum Erotischen 149–159; Véronique Dasen: Jeux de l’amour et du hasard en Grèce ancienne. In: Kernos 29 (2016), 73–100, hier 77–80; zum Apfel in Sappho fr. 2 vgl. Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 267–273; Caciagli, Poeti (Anm. 62), 143–144; Winkler, Gardens of Nymphs (Anm. 69), 104, sieht im Apfel eine Metapher für die weibliche Klitoris; fr. 2 interpretiert Winkler (108) als Beschreibung von „ceremonies, to infuse the celebrants’ participation with memories of lesbian sexuality“. 92 Nach Him. Or. 9.16 (Sappho fr. 105b) verglich Sappho das Mädchen mit einem Apfel und den Bräutigam mit Achill.

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bildlichen. Das heilige Kraftfeld bestimmt also neben den Apfelbäumen die Rose, die als Blume der Liebe Aphrodite gewissermaßen zu sich selbst herbeilockt.93 Kypris ist nämlich in dem erotischen Raum durch ihre Symbole und sämtliche synästhetisch vorhandenen Sinneseindrücke bereits manifest und muss eigentlich gar nicht heranzitiert werden. Die Mädchen sind nicht direkt mit der Rose verbunden, sondern stehen gewissermaßen nur in deren Schatten. Ihre sexuelle Reife wird antizipiert, aber gleichzeitig zurückgenommen. Die Mädchen werden im Garten der Aphrodite imaginiert,94 der freilich nach dem antiken Diskurs in einer gewissen „Wildheit“ noch nicht ganz dem kultivierten Garten gleichkommt, wie ihn auch Ibykos’ fr. 286 PMGF beschreibt. In der poetischen Vorstellung nimmt man ihre sexuelle Reife vorweg; sie stehen unmittelbar am Übergang zur Frau und zum Liebesakt. Doch muss Aphrodite, wie man dies in der Symbolsprache Sapphos verstehen kann, die Mädchen noch ihrer ambrosisch-nektarischen Qualität erfüllter Sexualität vollkommen teilhaftig werden lassen. Von den schimmernden und im Windhauch flatternden, sich kräftig hin und her bewegenden Blättern fließt koma herab95 oder der Zustand der Trance nimmt in Anbetracht des beruhigenden Blätterspiels förmlich von einem Besitz – von allen möglichen Emendationsvorschlägen erscheint ›ατάγρει, „packt, ergreift“ die wahrscheinlichste (7–8)96 Es ist, wie die Sprachforschung hervorhebt, ein tiefer, fast todesähnlicher Schlummer besonders nach der sexuellen Erfüllung, ein Zustand der träumerischen Trance und der totalen erotischen Verzückung.97 Koma bringt Ohnmacht und Betäubung, indem es 93

Zu den Rosen als zentralem Symbol der Zugehörigkeit im Kreis und der Aphrodite vgl. Sappho fr. 94.13 und 96.13 und Caciagli, Poeti (Anm. 62), 215–216; in Verbindung mit der Musik vgl. Sappho fr. 55.2; als Liebessymbol vgl. János Géczi: The Rose in Ancient Greek Culture. In: Practice and Theory in Systems of Education 1 (2006), http://epa.oszk.hu/01400/01428/00001/ pdf/0101geczi.pdf (17.4.2018); zur Rose in einer Blumenwiese, die das Mädchen am Übergang zeigt, vgl. Hom. Hym. 2.427. In der Volkskultur ist die Rose ein umgangssprachliches Wort für die weibliche Scham; vgl. Jeffrey Henderson: The Maculate Muse. Obscene Language in Attic Comedy [1975]. New York/Oxford 2 1991, 135. Zum Motiv der Rose als sexuell reifes Mädchen im Roman bei Achilleus Tatios vgl. bes. 2.1.2–3; den Rosenkelch, der auch mit der weiblichen Vulva in Bezug gesetzt wird, kann man eventuell mit dem Nektarkelch (Vers 14) verbinden; vgl. Elisa Mignogna: Roman und Paradoxon. Die Metamorphosen der Metapher in Achilleus Tatios’ Leukippe und Kleitophon. In: Groningen Colloquia on the Novel 6 (1995), 21–37, hier 30–31. Der Hymnos auf die Rose in Ach.Tat. 2.1 besteht aus rhetorischen Figuren. Die Lippen des Mundes werden mittels der Rose auf die Schamlippen übertragen. Vgl. Helen Morales: Vision and Narrative in Achilles Tatius’ Leucippe and Clitophon. Cambridge 2004, 169. 94 Hom. Hym. 2.58–66. 95 Die sekundäre Überlieferung bei Hermogenes Id. 2.4 hat ›αταρρεῖ, was Furley/Bremer, Greek Hymns (Anm. 62), II.114–115, übernehmen; dies ist aber nicht äolisch; die richtige Verbform wäre ›αρρέει, was freilich unmetrisch ist; zur textkritischen Diskussion dieser Stelle vgl. Benelli, Sapphostudien (Anm. 62), 378–381; eventuell wurde wegen des Metrums aber die Vorsilbe ausnahmsweise nicht assimiliert, so dass ›ατάρρει stand; vielleicht ist ›άτω ῥέει (mit Synizese) oder ein anderes Präpositionspräfix im Kompositum zu rekonstruieren, z. B. διάρρει oder ἀπύρρει. 96 Vgl. Sappho fr. 149 V. und Benelli, Sapphostudien (Anm. 62), 380–381 mit Parallelstellen. 97 Vgl. Peter Wiesmann: Was heisst ›ῶμα? Zur Interpretation von Sapphos „Gedicht auf der Scherbe“. In: Museum Helveticum 29 (1972), 1–11; Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 271; Barton Kunstler: Sappho’s Koma: Insights into the Vocabulary of Shamanic Trance in Ancient Greek Poetry. In: Shaman 7/1 (1999), 59–76.

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einen wie mit Nebel umhüllt (kalyptein) (Hom. Il. 14.359; Od. 18.201). Zeus und Penelope werden in erotisch konnotierten Szenen durch koma förmlich deaktiviert und somit vorübergehend aus dem Geschehen genommen. Hera übernimmt in der Dios Apate (Hom. Il. 14.153–353) Aphrodites Mittel und Penelope setzt nach dem von Athene (Hom. Od. 18.186–196) ausgelösten Ohnmachtszustand mit umso größerem Sexappeal ihren schon vorher gefassten Entschluss, sich vor den Freiern zu zeigen, in die Tat um.98 Auch anderswo wird bei Sappho der Tod mit der übergroßen Liebe in Zusammenhang gebracht.99 In fr. 31.15–16 wird Sappho darin fast zu Aphrodite transformiert. Im vor kurzem entdeckten Kyprislied (fr. 26b)100 beschreibt Sappho, wie sie in ihrer Liebe – vergleichbar einem homerischen Helden im Kampf – förmlich am Körper zerrissen und durchbohrt wird (fr. 26b.5–6). Wie ein iliadischer Held erst im Tode zum Held wird, so wird Sappho in der Liebe zur Heroin von Aphrodite und mit ihr damit in ein besonders enges Verhältnis versetzt.101 Der erotisch verzaubernde Zustand der Trance nimmt gewissermaßen den Tod und die Wiedergeburt im neuen Status der Ehe vorweg. Wie im Zustand des „Flow“, so kann man die poetische Symbolik verstehen, erlebt man die vollkommene Beglückung im Einheitsgefühl mit dem Garten der Lüste, indem man sich ganz auf die sich am Körper und in der Seele manifestierenden Sinneseindrücke einlässt. Zugleich werden in Fusion und Synästhesie Wasser und die verzaubernde Liebestrance in der Aktion des Fließens bzw. sinnlichen Überwältigtwerdens zusammengenommen. Die Liebessymbole bewirken in ihrem Zusammenspiel das koma, den Zustand der totalen Erfüllung und seligen, fast religiös konnotierten Beglückung, der jegliche normale Kognitionshaltung kurzzeitig aufhebt und den Körper in fast todesähnliche Ermattung versetzt. Man geht ganz auf im erotischen Umfeld des Aphrodite geweihten Hains, wird eins mit dem geheiligten Kraftfeld und damit auch mit Aphrodite selbst. Im enthousiasmos hat man im reinen Schutzraum der Imagination und des gesungenen Lieds den Weg von der Jungfräulichkeit zur erwachsenen Frau schon beschritten. Ziel muss nun sein – wie man die Symbolsprache Sapphos deuten kann –, dass Aphrodite von ihrem göttlichen Nektar,102 der Substanz, die nicht welkende Schönheit, Vitalität und unwiderstehliche sexuelle

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Od. 18.200–212. Fr. 31.15; 94.1; 95.11–13. 100 Dirk Obbink: Two New Poems by Sappho. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 189 (2014), 32–49; ders.: The Newest Sappho: Text, Apparatus Criticus, and Translation. In: Anton Bierl/André Lardinois (Hg.): The Newest Sappho (P. Sapph. Obbink and P. GC inv. 105, Frs. 1–4). Leiden 2016 (open access online: http://booksandjournals.brillonline.com/content/books/ 9789004314832), 13–33. 101 Vgl. Anton Bierl: Sappho as Aphrodite’s Singer, Poet, and Hero(ine): The Reconstruction of Context and Sense of the Kypris Song. In: Bierl/Lardinois, The Newest Sappho (Anm. 100), 339– 352. 102 Vgl. Sappho fr. 96.27. 99

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Ausstrahlung verleiht,103 den Mädchen Anteil gibt. Mit der Performance des Lieds geschieht dies ganz von allein. In der imaginierten Szenerie des locus amoenus greifen Akustisches, Olfaktorisches und Visuelles ineinander über. Dieses Zusammenspiel ist mit einem „Flow“ der sinnlichen Eindrücke vergleichbar. Im Hain steht auch eine Wiese mit bunten Frühlingsblumen in Blüte, die Pferde nährt (9–10). Sanft weht dazu ein Lufthauch, der im Schatten der Apfelbäume und Rosen weitere Kühle vor der Laszivität ausstrahlenden Hitze spendet (10–11). Die Wiese symbolisiert häufig das weibliche Geschlecht.104 Allerdings gehört die erotisierte Wiese noch eher zur Jungfrau am Übergang zur Frau, während erst der Garten der Aphrodite die Braut in der vollen Reife symbolisiert.105 Die Szenerie beinhaltet demnach beides. Die Wiese drückt also erneut die paradoxe Spannung zwischen Reinheit und Sexualität im Augenblick unmittelbar vor dem Vollzug aus. Pferde stehen nach der verbreiteten Vorstellung archaischer Poesie erneut für die jungen Mädchen, zugleich aber auch für ausschweifende Frauen und Hetären.106 Schöne Jungfrauen werden z. B. im großen Partheneion des Alkman (fr. 1.46–59 PMGF) mit teuren Zuchtpferden, anderswo aber vor allem mit noch nicht gezähmten, also gejochten Fohlen – das Joch steht, wie vor allem Calame gezeigt hat, für die Ehe, das Ziel der Ausbildung im Kreis – verglichen.107 Das adelige Tier mit der eindrücklichen Mähne wird mit den aristokratischen Mädchen im wehenden Haar gleichgesetzt. Die Natur fusioniert mit dem weiblichen Körper. Das sinnliche Kraftfeld umgibt also die Göttin, die keuschen Jungfrauen als Nymphen und deren unversehrten Körper, der kurz vor dem entscheidenden Übergang steht. In sie ergießt sich bald das Wasser (5), wie man im Kontext symbolisch deuten kann, der männliche Samen und das sie davon reinigende Nass. Jetzt ist es noch Zeichen der Reinheit davor. Kypris, die Göttin aus Zypern, die nun aber aus dem südlichen Kreta eintreffen soll, wird dann aufgefordert, mit Eleganz, ἄβρως, „in goldenen Bechern Nektar einzugießen, der mit Festen gemischt ist“ (ἔν™α δὴ σὺ . . . . ἔλοισα Κύπρι / χρυσίαισιν ἐν ›υλί›εσσιν 103

Nektar wird oft mit Ambrosia verbunden; in Hom. Il. 14.170 benutzt Hera Ambrosia zur Kosmetik und in Od. 18.193 wäscht Athene Penelopes Gesicht mit Ambrosia; Chariten reiben Aphrodite mit ambrosiaartigem Öl (ἐλαίῳ, / ἄμβροτῳ, Od. 8.364–365) sowie ambrosischem Parfüm (Hom. Hym. 5.61–63) ein. 104 Hipponax 6 West; Eur. Cyc. 171; Henderson, The Maculate Muse (Anm. 93), 20, 136; bei Ach.Tat. 1.1.19.1–2 wird die Schönheit des Mädchens Leukippe und konkret ihr körperliches Antlitz mit einer Wiese verglichen; vgl. Mignogna, Roman und Paradoxon (Anm. 93), 30, Anm. 10; zum Doppelsinn vgl. Marcelle M. J. Laplace: Achille Tatius, Leucippé et Clitophon: des fables au roman de formation. In: Groningen Colloquia on the Novel 4 (1991), 35–56, hier 46–47. 105 Claude Calame: The Poetics of Eros in Ancient Greece. Princeton 1999 (it. 1992), 153–164. 106 Vgl. Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 49, Anm. 89, und Caciagli, Poeti (Anm. 62), 145; für sexuell ausschweifende Frauen und Hetären vgl. Arist. HA 18.572a.10, Aelian NA 4.11 und Henderson, The Maculate Muse (Anm. 93), 127. 107 Anacr. 417 PMGF; Eur. Hipp. 546, Hec. 142, Hel. 543; Ar. Lys. 1307; zum Fohlen als Metapher für die junge Frau in der Initiation vgl. Calame, Choruses of Young Women (Anm. 59), 195, 238–244. Nach Sappho fr. 156 Page/Campbell (nicht bei Voigt), überliefert durch Gregorius von Korinth (auch mit Verweis auf Anakreon), ist ein Mädchen oder eine Braut stolzer als ein Pferd und delikater als Rosen. Nach fr. 194A V. vergleicht Sappho die Bräutigame mit Hengsten, die Preise davontragen, die Mädchen mit der Eleganz von Rosen.

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ἄβρως / ὀμμεμείχμενον ™αλίαισι νέ›ταρ / οἰνοχόαισ[ον], 13–16). Synästhetisch wird das männliche Symposion, dessen charakteristischer Wein den Frauen verboten ist, in Zusammenhang mit dem göttlichen Nektar gebracht.108 Wie Wein mit Wasser wird er in reichen Bechern mit der die Szene beherrschenden Feststimmung gemischt, wobei Mischen selbst auch den sexuellen Akt ausdrückt.109 Ringkompositorisch kommt man also von der Erwähnung der Göttin der Liebe in der ersten Strophe auf sie zurück. Das deiktische ἔν™α (13) nimmt δεῦρυ (1) auf und schließt an den poietisch kreierten heiligen Raum an, den ein Kraftfeld umgibt. Es ist trotz des die Evidenz betonenden Partikels δή wahrscheinlich kein realer Kultort, an dem man sich gerade für die rituelle Handlung im Kreis befindet, sondern ein imaginär geschaffener Ort der Symbolik. Die Göttin wird direkt mit dem σύ, Du (13), angesprochen, wobei der gesuchte Imperativ οἰνοχόαισον110 bzw. das überlieferte weitere Partizip οἰνοχόεισα auf Aphrodite bezogen ist.111 Die Liebesgöttin wird eingeladen, sich in ihren heiligen Raum zu begeben und sich unter die Gruppe zu gesellen. Dort soll sie vor allem die Opfergabe des Lieds annehmen, doch auch den ihr eigenen Nektar, den Trank der Unsterblichkeit und vitalen Sexualität, der in goldenen Bechern wie Wein gemischt ist, einschenken und damit ausgießen (Sappho fr. 96.26–28). Vielleicht soll er den Mädchen auch zum Trinken gegeben werden, damit sie Anteil an der Flüssigkeit und damit an dem geheiligten Kraftfeld der Göttin, der göttlichen Schönheit und der abrosyne,112 der Eleganz und dem Reiz, erhalten. Aphrodites Nektar bringt einerseits den Segen und die Reinheit der Initiierten in orphische, mysterienartige Glaubensvorstellungen,113 andererseits auch die Stärkung nach dem todesähnlichen, ganz der Aphrodite hingegebenen Zustand, der nahezu den Orgasmus vorwegnimmt. Erst durch die Kommunion mit der Göttin ist man durch die göttliche Substanz wirklich Teil des göttlichen Schönen, das man benötigt, um den Übergang in die Ehe auch real zu vollziehen. Das Mischen versinnbildlicht erneut auf linguistischer Ebene den Eindruck der Fusion. Der Kraftfluss (engl. flux) der Übertragung von der Göttin auf die Mädchen vollzieht sich in einer Art „Flow“, d. h. im gesteigerten Freudenrausch des totalen Aufgehens im synästhetisch und vertieft empfundenen Lust-Dasein. Nektar ist der Trank der Götter zur Speise Ambrosia, in realer Bedeutung aber auch das Drüsensekret von Pflanzen, um Tiere, besonders Bienen, anzulocken, die den Pollen zu den Blüten zur Fortpflanzung transportieren. Damit bildet Nektar zugleich für die Bienen die 108

Nach Yatromanolakis, Ritual Poetics (Anm. 62), 53, und ders., Sappho in the Making (Anm. 62), 346, besitzt die Szene eine konviviale Dimension. Nektar konnte auch Beinahe-Tote wieder stärken (Achilles in Hom. Il. 19.352–353) und er konnte Tote vor der Verwesung schützen (Il. 19.379); vgl. Burnett, Three Archaic Poets (Anm. 62), 273, Anm. 120. 109 Zu μείγνυσ™αι in dieser Bedeutung vgl. LSJ B.4 und Henderson, The Maculate Muse (Anm. 93), 156. 110 Page, Sappho and Alcaeus (Anm. 62), 39. 111 Manche, z. B. Burzacchini, Fenomenologia (Anm. 72), 22, setzen ein ἔλ™ε; kritisch dazu Benelli, Sapphostudien (Anm. 62), 381–382. 112 Der Nektar soll ἄβρως ausgeschenkt werden (14). 113 Vgl. OF 221.2 Bernabé; vgl. auch Giuliana Lanata: Sul linguaggio amoroso di Saffo. In: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 2 (1966), 63–79, hier 69–70; Turyn, Sapphic Ostracon (Anm. 62).

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Basis, aus der sie Honig machen.114 Bei Pindar wird Nektar auch als Ausdruck für den Gesang selbst benutzt (νέ›ταρ χυτόν, Μοισᾶν δόσιν, Ol. 7.7). Die goldenen Becher, kylikes (14), kann man nach der weitverbreiteten archaischen Symbolsprache metaphorisch als das weibliche Geschlecht im Sinne von Gefäßen auffassen, in denen sich die Flüssigkeiten mischen.115

Poetische Selbstreflexion zwischen Ritualität und Poesie Wenn der Nektar auch die poetische Liedproduktion symbolisiert,116 soll Aphrodite wohl das Sapphische Lied selbst und indirekt die choreia der weiblichen Gruppe als Opfergabe annehmen sowie entsprechend der charis-Relation auch wieder auf den Chor zurückwirken lassen. Medial geht es gewissermaßen um Empfangen und Senden. In Reziprozität soll Aphrodite über die Stimme der Sappho das im Kelch, vielleicht auch im sakralen Raum, zwischen ihr und der Göttin gemischte Lied ausgießen und damit erklingen lassen. Die Metapher des Gießens ist alt und gebräuchlich, so dass auch Sappho auf sie zurückgreifen kann.117 Die Performance kann als ein Ausgießen von Wein betrachtet werden, der hier statt mit Wasser mit der eigenen Festlichkeit gemischt ist.118 Daher ist der Nektar, der hier metaphorisch zugleich mit dem Wein in Verbindung gebracht ist, also das liebliche Chorlied, auch mit der konkreten Festlichkeit im heiligen Hain gemischt. Ohne Chor und Gesang kann man sich ein Fest nicht vorstellen. Das Chorlied zielt auf charis und terpsis. Man versucht also die Gottheit zu erfreuen, um sie einzubinden.119 Jedes griechische Fest ist mit Ästhetik verbunden und zielt unter Anwendung zahlreicher Medien auf schöne, alle Sinne ansprechende Handlungen, die den Alltag transzendieren.120 Es „herrschen Fülle, Sinnlichkeit, Efferveszenz, affektive Lust, hohe Aufmerksamkeit und Reizflut als ästhetischer Exzess“.121 Choreia, Tanz und Gesang mit Musikbegleitung, gehört zwingend zum Fest dazu. Das koma, der Zustand der totalen Sinnesverzauberung, könnte sich auch auf die Wirkung des Lieds beziehen. Thalia ist als Charitin personifiziert122 und verkörpert das 114 Daher wird der Nektar oft als Synonym mit dem Honig verstanden (Eur. Ba. 143); vgl. auch das honigsüße Wehen der Lüfte (11). 115 Zur Fusion von Rosen, Mund und weiblichem Geschlechtsteil (oben Anm. 104) vgl. Ach.Tat. 2.1.3, wo der Kelch (τῆς ›άλυ›ος τὸ περιφερές) von Rose und Mund direkt angesprochen ist. 116 Vgl. Theander, Sapphofund (Anm. 62), 466, Anm. 3; René Nünlist: Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung. Stuttgart/Leipzig 1998, 197; Ferrari, Sappho’s Gift (Anm. 62), 155 (er glaubt freilich, dass nicht Aphrodite, sondern Sappho den Nektar ausgießt). 117 Zum Gießen vgl. Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 338–341, und Nünlist, Poetologische Bildersprache (Anm. 116), 180–185; zum Fließen 192, zum Mischen 200–203, zu Blumen 206–209. 118 Vgl. ›ρατὴρ ... μεστὸς εὐφροσύνης, „ein Mischbecher voll von Freude“, Xenoph. fr. 1.4 Gentili-Prato. 119 Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 140–150. 120 Bierl, Der Chor in der Alten Komödie (Anm. 15), 54, 369–370. 121 Bierl, Fest und Spiele (Anm. 36), 131 und 130–132. 122 Hes. Th. 907–909.

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Fest, weil es in der Vereinigung aller ästhetischen Gesichtspunkte primär charis erzeugen will. Das Wort ist von ™άλλω („blühen“) abgeleitet; es umschreibt exakt den Aspekt der Blüte von Blumen, die nach dem Aufgehen der Knospe mit offenem Kelch in voller und farbiger Pracht stehen. Blüte und Prachtentfaltung sind dementsprechend auch die passenden Metaphern für den besonderen Zustand des Fests.123 Daher steht im Lied die Wiese in üppiger Blüte (τέ™αλε, 9) und der Hain ist χάριεν (2). Athenaios (11.463c–e) lässt seinen Text in der attischen Variante für die Verse 13–16 mit dem deiktischen Verweis im Dativ enden: „einschenkend“ (16) / „für diese Freunde, meine und deine“ (οἰνοχόεισα / τούτοισι τοῖς ἑταίροις ἐμοῖς τε ›αὶ σοῖς). Vielleicht gehörte der Inhalt, natürlich in äolischen Formen, noch dazu und einige haben damit eine neue Strophe zu rekonstruieren versucht. Sind es etwa die zukünftigen Ehemänner, die in unterschiedlichen Hetärien vereinigt sind und das Symposion feierlich begehen? Trotz des deiktischen Demonstrativpronomens ist es kaum wahrscheinlich, dass sie im Sinne des pragmatischen Lyrikverständnisses in der Szenerie real präsent waren, die im gesamten Lied eher imaginiert ist. Der Hinweis auf die Freunde könnte freilich auch eine spätere Variante einer Reperformance in Athen darstellen, die in einem Gastmahl tatsächlich anwesend waren.124 Aufgrund der selbstreflexiven Liedkomponente und des metaphorischen Verweises auf das Ausgießen von Wein war es offenbar möglich, das Lied vom weiblichen Kreis auf das männliche Symposion zu übertragen. Es verfügte also dadurch bereits über das Potential, auch von Männern geschätzt zu werden, weswegen es nach der Veränderung der Okkasion auch mit diesem Zusatz versehen wurde.

„Flow“ und Fusion auf der Mikroebene Im Lied verschmelzen unterschiedliche antike Vorstellungen und Konzepte wie Lied, Hymnos kletikos, Sexualität, Weiblichkeit, Landschaft, Bankett, Festlichkeit, wobei das Partizip ὀμμεμείχμενον (15) dies semantisch noch einmal intern in Spiegelung verdeutlicht.125 Das poetisch imaginierte Hier (1) wird zunächst durch einen Relativsatz ausgemalt, dann werden ab der zweiten Strophe schlagwortartig Eindrücke aneinandergereiht: Hain, Altäre, Weihrauch, Wasser, Schatten, verzaubernde Trance, Wiese, Wind. Das Lied ist allerdings keine Naturlyrik im modernen Sinne, sondern malt einen Ort von Symbolen aus, die dort metaphorisch bewegt werden. Sappho und die primären Rezipienten, d. h. die Mädchen des Sapphischen Kreises, sind damit vertraut. Die Dichterin führt im geistigen Raum die notwendigen

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Bierl, Fest und Spiele (Anm. 36), 132–133. Vgl. Gregory Nagy: The ‘New Sappho’ Reconsidered in the Light of the Athenian Reception of Sappho. In: Ellen Greene/Marilyn B. Skinner (Hg.): The New Sappho on Old Age. Textual and Philosophical Issues. Washington DC 2009, 176–199, hier 192; dagegen Benelli, Sapphostudien (Anm. 62), 272. 125 Vgl. auch das ebenfalls sich deutlich auf die Musikproduktion beziehende fr. 44, wo Sappho gleich zwei Mal am Versende (fr. 44.24 und 30) die Mischung (ὀνεμίγνυτο und ὀνεμείχνυτο) aller Eindrücke zur Synästhesie in der choreia unterstreicht. 124

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metaphorischen und metonymischen Operationen auf der paradigmatischen und syntagmatischen Ebene durch. Die Strophe bestimmt den Gedankengang. Das in der ersten Position von Vers 2 stehende Adjektiv ἄγνον, das den Tempel (1) im Enjambement genauer bestimmt, gibt das besonders markierte Kraftfeld der Initiation in den Eros an. Die Reihung mit μέν, δέ, δέ . . . entwirft das Bild in kleinen Sinneinheiten. Das Enjambement in Vers 3 hebt den erotischen Apfelbaum hervor. Zunächst fehlen im pointilistischen Reihenstil sogar Prädikate: Hain und Altäre werden einfach genannt, wobei wohl elliptische Formen von εἶναι/ἔμμεναι („sein“), also „ist, sind“, zu ergänzen sind. Die genaueren attributiven Bestimmungen geben dabei die ästhetische Atmosphäre an. Der zweite Punkt arbeitet in Variatio mit einem Partizip in Verbindung mit einer ablativen Dativbestimmung, „qualmend von Weihrauch“ (3–4). Er beschließt das Ende der ersten Strophe und betont die Reinheit der Stimmung auch im Olfaktorischen, also im Wohlgeruch eines Opferrituals. Die zweite Strophe fährt mit drei kleinen Sätzen fort, die jeweils aus Subjekt, Prädikat und attributiver Bestimmung bestehen. In der ersten Aussage stehen „Wasser“ mit dem darauffolgenden Attribut „frisch“, das Prädikat „rauscht“ und die zusätzliche mit einer Präposition arbeitende Ergänzung „durch die Apfelbaumzweige“ (5–6). In der zweiten wird chiastisch der Dativus auctoris („von Rosen“) nun vorgezogen, während das Subjekt, „der ganze Ort“, in der Mitte steht und das Prädikat im Passiv „wird beschattet“ das Sätzchen beschließt (6–7). In der dritten Aussage (7–8) wird erneut mit einer reinen Genitivergänzung bestehend aus medialem Partizip und Nomen, die nun von der im Verb ›ατέρρει/›ατάρρει (›αταρρεῖ) (oder wohl am wahrscheinlichsten ›ατάγρει) enthaltenen präpositionalen Vorsilbe ›ατ- im Sinne einer Tmesis abhängig ist, das entscheidende koma genannt, das „herabfließt von den hin und her flatternden und dabei im Licht blitzenden Blättern“ bzw. einen ergreift (›ατάγρει), wenn die Blätter sich entsprechend bewegen (im Sinne eines Genitivus absolutus). Mit der Anapher ἐν δέ („drinnen aber“) beginnen pointiert sowohl die zweite als auch die dritte Strophe (5, 9). Erneut folgt nun ein kurzer Satz bestehend aus Subjekt, Adjektiv und Verb mit nachgeschobenem Dativadjunkt, das ebenfalls mit einem Attribut versehen ist (9–10) („eine pferdeweidende Wiese blüht mit frühlingshaften Blumen“). Auch das nächste Sätzchen beginnt wieder mit dem Subjekt; zum ersten Mal wird das Verb mit einem vor dem Verb stehenden Adverb μέλλιχα versehen (10–11) („Brisen wehen honigsüß“), das den angenehmen sowie süßen Geschmack und Geruch des Nektars vorbereitet. Die letzte und vierte Strophe nimmt im ersten Wort ἔν™α (13) das δεῦρυ von Vers 1 und anaphorisch das wiederholte ἐν δέ (5, 9) auf.126 Die deiktische Partikel δή (13), die auf die Evidenz zielt, kommt erneut auf das Du (13), die angesprochene Göttin Kypris, zurück. Hier scheint die Konstruktion viel komplizierter zu werden, indem sich zwei Partizipien (13, 16) auf das neue Subjekt, das Du, beziehen, mit dem die Göttin vertraulich adressiert ist, wobei sie noch direkt im Vokativ mit Namen genannt wird; vermisst wird ein Imperativ, der entweder

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Benelli, Sapphostudien (Anm. 62), 382.

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in ἔλ™ε („komme“127 ), οἰνοχόαισον („schenke aus“128 ) oder in δὸς μ’ ἐh™εiλοισα („gib / gewähre mir recht willig“) plus Infinitiv οἰνοχόαισαι („auszuschenken“129 ) rekonstruiert wird. Die Mischung erfolgt in den Mischbechern. Sie sind „golden“ (14) wie die Göttin, also elegant und kostbar. Der Vorgang des Ausschenkens soll ἄβρως („delikat“, 14) erfolgen; als Lieblingswort Sapphos steht das Adverb wie der Vokativ Kypri (13) in der Schlussposition des Verses. In doppeltem Enjambement dehnt sich eine längere Aussage (14–16) aus: Kypris soll den Nektar, der erneut mit einem Partizip Perfekt Passiv und Dativbestimmung („gemischt mit Festen“, 15) ausgemalt wird, nehmen und ausgießen. Die Aktion des Ausschenkens in der Form von Wein steht im Enjambement und füllt den letzten Adoneus ganz aus (16). Die Fusion von Wort, Musik und Rhythmus sowie der gezeigten Themen und Motive erzeugt ein Gefühl der Intensität. Alles ist in der fluiden Reihung auf den Kraftfluss von Kypris-Aphrodite zugeschnitten. Die Ringkomposition fördert den Eindruck der Fusion und des „Flow“-Zustands. Aufgrund der poietisch-ästhetischen Gestaltung durch Reihungen, Wiederholung von Elementen, Rhythmisierung und die ringförmige Struktur, die im Selbstbezug auf das Lied gipfelt, bekommen die Mädchen als Adressatinnen einen Eindruck der Einheit und der meditativen Zentrierung vermittelt. Es geht um sensorische Impressionen, hingeworfene Symbole, die in Bewegung geraten und die die Mädchen selbst nach bestimmten Codes zu einer Botschaft zusammensetzen müssen. Die kurzen Informationshappen zerfließen und verlieren ihre eindeutigen Konturen. In den Mittelpunkt rückt die rhythmische Bewegung, das Erkennen von rhythmischen Mustern, kurzum: die choreia in der Imagination.130 Durch das freie Wechselspiel der Variation, das Zusammenwirken paradigmatischer und syntagmatischer Relationen, die dynamische Einbettung metaphorischer und metonymischer Dimensionen in Redundanz und Wiederholung entsteht langsam Sinn. Bei den wohl eigentlich angesprochenen Mädchen entsteht der Eindruck, in ein übergeordnetes Ganzes, in den Kosmos der Liebe, aufgenommen zu werden. Zusammenfassend soll nochmals betont werden, dass sich in diesem Lied sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene Ritual und Poesie völlig zu einer Einheit verbinden. Beide Bereiche ergänzen sich gegenseitig. Das Lied ist weder romantische Naturlyrik noch ein reines Kultlied, sondern die Lieduntergattung Hymnos gestaltet die Dichterin Sappho kreativ um zum Zwecke der paideia in ihrem Mädchenkreis.

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Norsa, Versi di Saffo (Anm. 62). Page, Sappho and Alcaeus (Anm. 62). 129 Turyn, Sapphic Ostracon (Anm. 62) mit Ferrari, Da Kato Simi a Mitilene (Anm. 62). 130 Vgl. Stanley J. Tambiah: A Performative Approach to Ritual. In: Ders.: Culture, Thought, and Social Action. An Anthropological Perspective. Cambridge MA/London 1985, 123–166, 364–368, 382–389, hier bes. 164–166. 128

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Schluss Auf der Grundlage des vitalen Zusammenhangs von Poesie und Ritual sind in den archaischen und klassischen altgriechischen Texten neben dem funktionalen Gebrauchswert nahezu reiner Ritualität (beispielsweise in der Kulthymnik) von Anfang an das poetische Potential und intertextuelle Bezüge auffindbar. Selbst nach dem epochalen Einschnitt, den der endgültige Übergang zur Schriftlichkeit im Hellenismus markiert, kann man kein abruptes Ende des interaktiven Zusammenspiels von Literatur und Religion feststellen. Das Phänomen wandelt sich qualitativ, doch kann auch im Hellenismus und in der Kaiserzeit weiterhin von einer produktiven gegenseitigen Befruchtung und Interaktion der Bereiche gesprochen werden.131 Denn die diachron mitgeführte Genese, gewissermaßen die DNA der späteren griechischen Poesie, die sich stets auf die kanonischen Texte der Archaik und Klassik bezieht, lässt den gräzistischen Musterfall fortleben. Beispielsweise wird im griechischen Roman der Kaiserzeit sogar populäres Substrat, das ganz auf mythischrituelles Erzählen zurückgreift, für literarische Zwecke aktiviert, was eine Revitalisierung des dynamischen Zusammenhangs von Literatur und Religion ermöglicht.132 Und durch die Rezeptionsphänomene des Modellfalls bleibt das kreative Zusammenspiel selbst in direkten modernen Verarbeitungen und allgemein in der heutigen Poesie in vielerlei Hinsicht aktuell und virulent. Trotz der großen Fremde Sapphos, deren Poesie im Sinne des pragmatischen Ansatzes frühgriechischer Lyrik im „Sitz im Leben“ des Sapphischen Mädchenkreises als Ausdruck einer patriarchal geprägten, vom Mythos und Ritual bestimmten traditionellen Gesellschaft vor allem in ihrer poetisch-symbolischen Bedeutung zu verstehen ist, kann man aus der oben gewonnenen Analyse die Erkenntnis gewinnen, dass gerade Lyrik und Literatur allgemein heute noch immer in grundsätzlicher Weise eng mit religiösen Formen verbunden ist. Religion nimmt also noch immer eine ständige Anverwandlung und Einverleibung von Literatur und Religion, Mythos und Ritual, Kunstwerk, Ästhetik und Symbolik vor. Aus dem oben Gesagten wird deutlich, wie sehr der Befund die Perspektive auf die Klassische Philologie verändert, die ebenso lange von dieser neuzeitlichen Literaturauffassung geprägt war. Die altgriechische Literatur ist nicht nur ein Resultat des aufklärerischen Logos, der alles Mythische rasch obsolet gemacht hat, sondern sie ist besonders in der Archaik und Klassik vom Megadiskurs der Religion, von Mythos und Ritual, durchdrungen. Es ist daher von zentraler Bedeutung, dass die Gräzistik im Dialog mit den modernen Philologien zur Thematik „Literatur und Religion“ weiterhin ein wichtiger Ansprechpartner bleibt.

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Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik (Anm. 2), 4. Bierl, Mysterien der Liebe (Anm. 2).

Ästhetik – Poesie – Religion. Eine Verhältnisbestimmung im Ausgang von Hölderlins theoretischen Schriften mit einem Ausblick auf die Elegie „Heimkunft“ Jakob Helmut Deibl

„Aber Erfindungen auch sind . . . “ Aus den Überarbeitungen der Elegie „Heimkunft“ Homburger Folioheft, 307/4

Vorweg . . . Religion ist als Thema der Literatur bis heute nicht verschwunden und ist folglich auch ein Thema für die Literaturwissenschaft. Diese kommt um eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung religiöser Motive und des ästhetischen Programms, das Religionen repräsentieren, nicht herum. Umgekehrt bezieht sich die Theologie immer wieder auf Werke der Literatur und findet in diesen eine wichtige Herausforderung, Infragestellung, Inspiration und Quelle, ihre eigenen Aussagen zu überdenken und neu zu konfigurieren. Für beide Disziplinen ist diese Bezugnahme sehr fruchtbar. Im folgenden Beitrag geht es um eine innere Bezogenheit von Literatur und Religion aufeinander. Genauer werde ich der Verschränkung von Poesie und Religion, wie sie sich aus den theoretischen Schriften Friedrich Hölderlins ergibt, nachgehen.1 Welche innere, d. h. konzeptuelle (theoretische) Verbundenheit von Poesie und Religion zeigt sich in diesen an? Wie versucht Hölderlin, Religion und Poesie

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Werke Hölderlins werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. München/Wien 1992–1993 (Münchener Ausgabe in drei Bänden, künftig MA); Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner/Adolf Beck/Ute Oelmann. Stuttgart 1943–1985 (Stuttgarter Ausgabe 8 in 15 Bänden, künftig StA); Friedrich Hölderlin: Tutte le liriche. Edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco, con uno scritto die Andrea Zanzotto. Hg. von Luigi Reitani. Milano 2 2004 (künftig TLL); Johann Christian Friedrich Hölderlin: Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung hg. von J. H. Deibl () Rom, Italien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_3

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aus einer gemeinsamen Perspektive zu begreifen? Angesichts der gegenwärtigen Betonung der Autonomie der „Phänomene“ Kunst und Religion mag dieses Anliegen befremden. Vielleicht aber stellt der Rückzug auf eine Dichotomie als letztem Ausdruck ihres Verhältnisses einen frühzeitigen Abbruch des Fragens dar.2 Wie aus den bisherigen Überlegungen erhellt, werde ich nicht die Frage stellen, welche theologisch relevanten Motive in der Literatur, zumal bei Hölderlin, anzutreffen sind und wie Literaturwissenschaft und Theologie damit umgehen können. Es geht ferner nicht um eine Offenheit von Literatur für Themen der Religion und nicht um eine Sensibilität von Theologie für religiös relevante Gehalte der Literatur. Viele dieser Aspekte sind wohl in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes abgedeckt. Die folgenden Überlegungen gliedern sich in drei Teile, wobei der erste konzeptuellen Charakter hat, der zweite hingegen konkret auf Hölderlins Elegie „Heimkunft“ und deren Bearbeitungen eingeht. Im dritten Teil versuche ich einige Konsequenzen für eine aktuelle Beschäftigung mit der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Religion zu ziehen. Die Ausführungen bleiben skizzenhaft, weil auch die entsprechenden Arbeiten Hölderlins keine in sich abgeschlossene Konzeption bilden, sondern lediglich Entwurfscharakter haben. Die entsprechenden Texte sind Fragmente – Fragmente jedoch, von denen ich meine, dass sie einer Diskussion um Literatur und Religion noch heute viel zu denken geben.

I „. . . werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen“ (Hölderlin) Als Ausgangspunkt der Überlegungen wähle ich eine Passage aus einem Brief Hölderlins vom 24. Februar 1796 an seinen philosophischen Lehrer Immanuel Niethammer. In Anklang an Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen spricht Hölderlin dort vom Vorhaben, „Neue philosophische Briefe über die ästhetische Erziehung“ des Menschen zu verfassen:

Johann Kreuzer. Hamburg 1998 (künftig TS); Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von D.E. Sattler (Einleitungsband, 20 Bände und 3 Supplemente). Frankfurt a.M./Basel 1975–2008 (Frankfurter Ausgabe, künftig FHA); Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992–1994 (Klassiker-Ausgabe in 3 Bänden, künftig KA). 2 In der neueren Diskussion um Ästhetik ist es besonders Gianni Vattimo, der – nicht zuletzt mit Bezug auf Hölderlin – gegen eine Trennung von Kunst und Religion als zwei gegeneinander festgehaltene Bereiche eintritt: „Die Entwicklung der Kunst als besonderes Phänomen (und der Ästhetik als Theorie) erscheint gebunden an die Emanzipation der Kunst von der Religion; die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung verweist jedoch, sobald man sie in ihrer Besonderheit erfassen möchte, wiederum auf einen Bereich, der sich nur in Bezug auf die Erfahrung der Religion und des Mythos definieren läßt.“ (Gianni Vattimo: Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie. Frankfurt a.M./New York 1997 [ital. 1994, Übersetzung: Martin Kempter], 99; vgl. 89–110, 168–170) Wichtig zu betonen ist, dass es im Folgenden nicht um eine Form hierarchischer Ordnung von Religion und Literatur (welches Phänomen ist grundlegender, welches steht höher?) gehen kann.

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In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, theoretisch, in intellektualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.3

Der Übergang von Philosophie zu Poesie und Religion, für den es „ästhetischen Sinn“ brauche, spiegelt die Thematik dieses Beitrags wider und hat auch dessen Titel geprägt (Ästhetik – Poesie – Religion). In welchem Umfeld begegnet diese Wendung? Die eben zitierte Passage aus dem Brief Hölderlins steht unter dem Vorzeichen des Verstehen-Wollens („erklärt“) und der Überwindung von „Trennungen“ und „Widerstreit“, wobei Hölderlin bestimmte für das neuzeitliche philosophische Denken prägende Dichotomien anspricht: Subjekt/Objekt, Selbst/Welt, Vernunft/Offenbarung. Die Überwindung der Trennungen erfolge, wie das Motiv des Erklärens andeutet, nicht über ein Zerstören der getrennten Pole, sondern über ein Verstehen-Können dieser aus einem Prinzip, so dass sie nicht als bloß zufällig aufgefundene Momente nebeneinander stehen blieben oder als entgegengesetzte Extreme festgehalten würden. Mit dem Verweis auf theoretische und praktische Vernunft zeigt sich Hölderlins Anlehnung an eine kantische Diktion. Kant bleibt für das Denken Hölderlins zeitlebens zentraler und unaufgebbarer Ausgangspunkt, auch wenn er sich von ihm immer wieder kritisch abhebt. Zwar können im Folgenden die Linien des Übergangs von Kant zu Hölderlin nicht im Detail nachgezeichnet werden. Einige Bezüge auf Kant sind jedoch für die weitere Behandlung der Thematik unerlässlich. Nicht erst in praktischer Vernunft müssten sich die erwähnten Formen des Widerstreits auflösen, sondern bereits theoretisch. Ein Prinzip müsse sich finden lassen, aus dem sie zu erklären seien, wofür Hölderlin den Begriff der „intellektualen Anschauung“ setzt. Dieser ist für ihn jedoch lediglich Platzhalter, Chiffre oder Verweis auf ein Moment jenseits der Dichotomien und wird selbst nicht genauer entfaltet. Schon die unbefangene und unvermittelte Nebeneinanderstellung der Begriffe „theoretisch“ (Kant) und „intellektualer Anschauung“ (in gewisser Weise gegen Kant) zeigt, dass hier lediglich der Bereich einer Suche angezeigt ist, von dem zunächst nur gesagt sein soll, dass er sich nicht (primär) auf die praktische Philosophie bezieht.4 3

Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier 615; vgl. StA 6.2, 783–787. Johann Kreuzer interpretiert die intellektuelle Anschauung (an dieser Stelle) als Verweis auf die ästhetische Erfahrung (und nicht als etwas positiv Gegebenes oder theoretisch Bestimmbares), auf deren Boden die genannten Entgegensetzungen zu erklären sind: „Was als intellektuelle Anschauung gedacht wird, ist die Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung. Es gibt keinen Gegenstand intellektueller Anschauung.“ (TS, XV) Ich stimme diesem Übergang von einer Betrachtung, die dem theoretischen Aufweis der Möglichkeit gegenständlicher Welterfahrung dient, zur ästhetischen Erfahrung (in gewisser Weise von „theoretisch“ zu „intellektualer Anschauung“), wie im Folgenden deutlich werden soll, ganz zu. 4

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An dieser Stelle erhebt sich eine wichtige Frage: Kann die Überwindung tatsächlich, wie es der Anfang der Passage glaubhaft macht, im Verstehen der Trennung aus dem Rückgang auf ein Prinzip erfolgen? Ist nicht spätestens seit Hölderlins 1794 verfasstem Entwurf „Seyn, Urtheil, . . . “ das Bewusstsein für Differenz so stark in seinem Denken verankert, dass weder Vereinigungs- noch Prinzipienphilosophie, die bestrebt sind, letztlich alle Widersprüche in einen Fluchtpunkt einmünden zu lassen, für sein Denken als gangbar erscheinen? Ich schlage vor, die Überwindung der Dichotomien, nach der Hölderlin fragt, nicht in einem Prinzip zu sehen, sondern eher in einer Funktion, in einem Vorgang, in einer bestimmten Form des Denkens, nämlich dem, was er ästhetischen Sinn nennt: „Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn“.5 Damit wäre nicht der Rückgang von der kritischen (kantischen) Philosophie zu einer Prinzipienphilosophie (im Sinne klassischer Metaphysik) angezeigt, sondern der – von obigem Text viel eher nahegelegte – Übergang von der theoretischen Philosophie zur Ästhetik. Hölderlin akzentuiert damit einen Weg, der im kantischen Denken selbst vorgezeichnet ist, in welchem die Kritik der reinen Vernunft nicht allein in Richtung der praktischen Vernunft weitergedacht wird, sondern auch in Richtung der ästhetischen Urteilskraft. Am Ende der Passage aus dem Brief an Niethammer kommt Hölderlin auf das Vorhaben zurück, seine Überlegungen in der Gestalt philosophischer Briefe zu entfalten, und macht dabei deutlich, worum es ihm in inhaltlicher Hinsicht geht: „Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.“6 Hölderlin nimmt seinen Ausgangspunkt in der Philosophie, d. h. wohl in der kantischen, theoretischen Philosophie, verfolgt aber nicht primär ein erkenntnis- und wissenskritisches Interesse wie Kant, sondern möchte zu einer Bestimmung von Poesie und Religion kommen. Er sucht offensichtlich nach einer anderen Bestimmung der Religion, als sie Kant in seiner Religionsschrift vorgelegt hat, und möchte sie in engerer Nähe zur Poesie und – konzeptuell – eher im Übergang von der theoretischen Vernunft zur ästhetischen Urteilskraft situieren als im Ausgang der praktischen Vernunft (bzw. der teleologischen Urteilskraft). Zwar stellen Religion und Poesie keinen der klassischen philosophischen Gegensätze dar wie Subjekt/Objekt, Vernunft/Offenbarung, jedoch sind Religion und Kunst in der Moderne zunehmend in eine Frontstellung geraten. Ausgehend von den Ankündigungen im Brief an Niethammer wird man entgegen jener Tendenz sagen können, dass sie Hölderlin zufolge nicht als widerstreitende aufgefasst werden dürfen, sondern aus einem Prinzip, nämlich der Philosophie, im Besonderen aus dem ästhetischen Sinn, begriffen werden müssen. Es geht Hölderlin mithin um die Suche nach einer inneren Verbundenheit nicht nur der erwähnten „klassischen“ philosophischen Dichotomien, sondern auch von Religion und Kunst (Poesie): „das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen“.7 Wo diese innere Verbundenheit ihren Ort hat und wie sie sich gestaltet, möchte ich im 5

Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier 615. Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier 615. 7 Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier 615. 6

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Folgenden ausgehend vom Fragment „Seyn, Urtheil, . . . “ und dem „Fragment philosophischer Briefe“, zwei Texten, die beide den theoretischen Schriften Hölderlins zugeordnet werden, zeigen und sodann konkret an einem Gedicht explizieren.

Vom Primat der Kategorie der Möglichkeit Im letzten Abschnitt des Fragments „Seyn, Urtheil, . . . “,8 einem der frühesten theoretischen Texte Hölderlins, geschrieben wohl 1794, bezieht sich Hölderlin auf die drei Modalkategorien Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit und zwar in enger Anlehnung an die Bestimmung, welche Kant ihnen im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft gibt:9 Möglichkeit meint die Vorstellung eines Gegenstandes zu irgendeiner Zeit, Wirklichkeit dessen Dasein zu einer bestimmten Zeit und Notwendigkeit das Dasein zu aller Zeit. Damit ermöglichen die Schemata der Modalität das In-Beziehung-Setzen der möglichen Gegenstände zur Zeit – Kant spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Zeitinbegriff“. Während es Kant dabei primär um die erkenntnistheoretische Fragestellung geht, wie Gegenstandserkenntnis überhaupt möglich ist, verfolgt Hölderlin in seiner Übernahme und Modifikation der kantischen Bestimmungen die Absicht, den Ort der Dichtung zur Darstellung zu bringen. Hölderlin übernimmt die kantische Fassung der Schemata der Modalität weitgehend, gibt jedoch besonders der Kategorie der Möglichkeit eine etwas andere Bedeutung. Die entscheidende Stelle, die eine Neuakzentuierung vornimmt, lautet: „Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol’ ich nur das vorhergegangene Bewußtseyn, kraft dessen er wirklich ist. Es giebt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war.“10 Die drei Kategorien stehen nicht wie bei Kant gleichranging und unverbunden nebeneinander, sondern Möglichkeit und Wirklichkeit werden miteinander in Beziehung gebracht. Sie verhalten sich dabei jedoch nicht so, dass die Möglichkeit in die Wirklichkeit überginge (verwirklicht würde), sondern umgekehrt. Was möglich ist, verweist auf eine ihm vorhergehende Wirklichkeit, die wiederholt wird. Die Kategorie der Möglichkeit rückt damit in einer besonderen Weise ins Zentrum. Sie geht nicht in einer Wirklichkeit auf, in die sie umschlägt, sondern drückt einen Überschuss aus, der über jede Verwirklichung hinausweist und nie in ihr zum Stillstand kommt. Was wirklich ist, hat nicht die verwirklichten und nicht verwirklichten Möglichkeiten im Rücken, sondern deutet auf einen offenen Raum von Möglichkeiten hin. Die philosophische Auseinandersetzung mit Kant führt Hölderlin dazu, einen Primat der Möglichkeit anzunehmen. Allerdings führt er diesen in „Seyn, Urtheil, . . . “ noch nicht weiter aus. 8

Friedrich Hölderlin: Seyn, Urtheil, . . . In: TS 7 f., XIII–XV; vgl. dazu Michael Franz: Hölderlins Logik. Zum Grundriß von ‚Seyn Urtheil Möglichkeit‘. In: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986–1987), 93–124; hier besonders 118–123. 9 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Jens Timmermann. Hamburg 1998, B 105 f., 184. 10 TS 7 f.

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Im „Fragment philosophischer Briefe“,11 einem Text, den Hölderlin vermutlich 1796, d. h. etwa zur selben Zeit wie den Brief an Niethammer (wo sich die Ankündigung philosophischer Briefe findet) verfasst hat, bestimmt er die Wiederholung, welche Wirklichkeit und Möglichkeit verbindet, genauer. Entgegen einem bloß „mechanischen Zusammenhange“,12 d. h. einer bloßen Repetition, spricht er vom geistigen Leben, „wo er [der Mensch] sein wirkliches Leben wiederhole“.13 Diese Form der Wiederholung des Wirklichen hat freien Charakter, welcher jedoch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf; die Bezogenheit auf das wirkliche Leben bleibt erhalten. In dessen Wiederholung eröffnet sich jedoch ein Freiraum, welcher verhindert, dass das Subjekt in Distanzlosigkeit gänzlich mit sich selbst, d. h. mit seiner Präsenz, zusammenfiele und mit sich identisch würde. Wirklichkeit würde dabei in Notwendigkeit umschlagen. Um sie davor zu bewahren, muss sie in ihrer Wiederholung auf Möglichkeiten offengehalten werden. In Anlehnung an Kant lässt sich sagen, dass der Freiraum oder das freie Spiel der Möglichkeiten nicht unter einer bestimmten Regel oder einem bestimmten Begriff steht und eine belebende schöpferische Tätigkeit zum Ausdruck bringt.14 Es kann als Raum der Ästhetik bezeichnet werden, insofern es dabei nicht um Gegenstandserkenntnis unter einem bestimmten Begriff (logische Urteile) und nicht um die Verwirklichung eines Sollensanspruchs (Bestimmung moralischen Handelns) geht, sondern um die Weise, „in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt“.15 Im Subjekt begegnet eine Form der Selbstaffektion, welche sich weder durch die Gegenstandserkenntnis noch durch das moralische Handeln bestimmen lässt. Sie eröffnet eine Distanz im Subjekt,16 welche dieses nicht schließen kann, die jedoch durch die „ästhetische Idee“ (Kant) eine Symbolisierung erfahren kann. Die Tätigkeit der Erkenntnisvermögen erschöpft sich weder in der Gegenstandsbestimmung noch in der Bestimmung moralischen Handelns; Kant spricht von einem „freien Gebrauche“ mannigfaltiger Teilvorstellungen, welche nicht in die begriffliche Bestimmung eines Gegenstandes der Erfahrung eingehen, diesem Vorgang aber beigesellt sind und den Erkenntnisvorgang beleben.17 In diesem freien Gebrauche kann der Ausgangspunkt der Kunst gesehen werden. Damit ist in aller Kürze der kantische Hintergrund der Überlegungen Hölderlins angedeutet. Letzterer bezieht sich genau auf jene Distanz im Subjekt, welche anzeigt, dass dieses nie in seiner Präsenz, d. h. in seiner Wirklichkeit, völlig auf11

TS 10–15. TS 11. 13 TS 12. 14 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 21 2014, § 49, 115 (künftig KdU). 15 KdU, § 1, 115. 16 Für diesen Gedanken danke ich Kurt Appel. 17 „Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet“ (KdU, § 49, 253). 12

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geht. Das Subjekt antwortet auf den damit angezeigten Bruch mit einem Akt der Wiederholung, welcher die Wirklichkeit auf Möglichkeiten hin öffnet.18 In „Das untergehende Vaterland . . . “,19 einem späteren Text, spricht Hölderlin von dieser Wiederholung auch als einer „freien Kunstnachahmung“.20

Sphäre und Wiederholung Für Hölderlin kann die freie Wiederholung des wirklichen Lebens nicht bloß in Gedanken erfolgen, d. h., es genügt nicht, die Bedingungen ihrer Möglichkeit anzugeben. Sie bedarf selbst einerseits eines Raumes, in dem sie statthaben kann, wofür er im „Fragment philosophischer Briefe“ den Begriff der „Sphäre“ prägt,21 und andererseits einer Form der Darstellung als Idee oder Bild.22 Die Sphäre steht für eine Form der aisthesis (im Sinne von Wahrnehmung), welche die in sie eingeschriebenen „Gegenstände“ aus einem bestimmten „Geiste“23 betrachtet und nicht in einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, welche dem erkennenden und handelnden Subjekt einen zu bestimmenden und zu behandelnden Gegenstand gegenüberstellt. Diese Dichotomie entspräche genau jenem Weltumgang, welchen Hölderlin im Brief an Niethammer kritisiert. An die Stelle des S-O-Verhältnisses tritt die Sphäre als intersubjektives geschichtlich und sprachlich vermitteltes Verhältnis, welches man auch als S-S-O-Relation bezeichnen könnte.24 Hölderlin spricht von einer „lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er [der Mensch] stehet mit dem was ihn umgiebt“.25 Diese ihn umgebenden Dinge, Gegenstände und Verhältnisse müssten „aus dem Geiste betrachtet werden, der in der Sphäre herrscht, in der sie stattfinden“,26 und dürften nicht bloß als wirkursächlich determiniert angesehen werden. Die damit angedeutete aisthesis ist, wie Hölderlin mit der Rede von „zartern und unendlichern Verhältnisse[n]“27 zum Ausdruck bringt, einerseits durch Achtsamkeit und andererseits durch die Überschreitung eines verendlichenden Blickes gekennzeichnet. Sodann stellt Hölderlin die Frage, wie es zur Eröffnung dieser mit der Sphäre einhergehenden aisthesis kommen kann: Aufklärung, Verstandesdenken, Moral und 18

Der Begriff der Wiederholung kann selbst auch als Verweis auf Kant angesehen werden, ist doch in der Kritik der Urteilskraft im bereits zitierten § 49 die Rede von der „Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“ (KdU, § 49, 250), was als ein Akt freier Wiederholung der wirklichen Natur gelesen werden kann. 19 Vgl. TS 33–38. 20 TS 34. 21 Hölderlin nimmt diesen Begriff auch im Text „Wenn der Dichter einmal . . . “ wieder auf (vgl. TS 52–54). 22 Vgl. TS 11. 23 TS 14. 24 Vgl. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd. 1: Einleitung: Spannweite des Problems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung. Frankfurt a.M./Bern 1964, 3. 25 TS 10. 26 TS 14. 27 TS 14; „zartern“ steht für „zarteren“, den Komparativ zu „zart“.

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regelgeleitetes Verhalten führen, so unaufgebbar ihre Bedeutung ist, nicht in jene Sphäre ein, weil sie nicht vermögen, die S-O-Dichotomie zu überwinden. In der Religion hingegen ist ein Wissen um die zarten und unendlicheren Verhältnisse, d. h. um einen Weltumgang, der sich nicht in jener S-O-Relation erschöpft, bewahrt, weshalb es einer „höhere[n] Aufklärung“28 bedürfe, welche, ohne das Anliegen der Aufklärung preiszugeben, die Dimension der Religion wiedergewänne. In der Folge gibt Hölderlin noch genauer Auskunft darüber, worin die Bedeutung der Religion bestehe. Sie vermag die „intellectualen moralischen rechtlichen“ Verhältnisse einerseits und die „physischen mechanischen historischen“29 Verhältnisse andererseits zu vereinen. Was ist damit gemeint? Die erste Reihe der Begriffe steht für den Menschen in seiner Individualität, Persönlichkeit und Freiheit, d. h. in seiner Singularität, die zweite Reihe für sein Eingelassen-Sein in allgemeine Verhältnisse, Zusammenhänge, Bestimmungen, d. h. für die Kontinuität. Religion bestimmt er in der Vereinigung der beiden Reihen als „intellectuell historisch, d. h. Mythisch“.30 Sie ist mithin auf jenen Freiheitsraum verwiesen, in welchem sich der Mensch als selbstverantwortliches Wesen eine Bestimmung geben muss, und gleichzeitig auf den Raum des Historischen, welcher ihm einen kontingenten, von ihm niemals gänzlich frei wählbaren Standpunkt zuweist. Das Besondere der Religion ist, dass sie jene gegenläufigen Tendenzen, welche am modernen Subjekt immer deutlicher zutage treten,31 in einer Balance zu halten vermag, ohne sie zu vernichten oder eine der beiden Seiten zu negieren. Damit ist erneut das Anliegen eines Ausgleiches angesprochen, welches im Brief an Niethammer begegnet war. Die spannungsreiche Verbindung des Intellektuell-Historischen, wie sie die Religion ausmacht bzw. wie sie die Religion zu leisten vermag, kann nicht allein gedanklich erfasst und gesichert werden, sie muss je neu gestaltet werden. Hölderlin deutet dies mit dem Terminus „mythisch“ an, welcher nicht einen der beiden Pole der Dichotomie von Mythos und Logos favorisieren und deren Trennung betonen möchte; die Fixierung jener Differenz würde erneut dem Anliegen des Briefes an Niethammer entgegenstehen. Hölderlin geht es überdies weder um eine Remythisierung der Welt noch um eine Rückkehr zum antiken Mythos, vielmehr werden die widerstrebenden Seiten des „Intellectuellen“ und „Historischen“ in einem Wort zusammengefasst. Als sprachliche Kategorie verweist „Mythisch“ auf die Notwendigkeit, dass jene Verbindung je neu einen Ausdruck finden muss. Damit sind wir einerseits bei dem oben erwähnten Gedanken angelangt, dass die Wiederholung, wie sie in der Sphäre statthaben kann, der Darstellung als Idee oder Bild, d. h. eines Ausdrucks, bedarf und nicht bloß in Gedanken erfolgen kann, und haben andererseits jenen Ort erreicht, an welchem für Hölderlin eine Verhältnisbestimmung von Religion und Poesie unausweichlich wird.

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TS 14. TS 14. 30 TS 14. 31 Seit Descartes wird das Subjekt in Form einer konstitutiven Spaltung (res cogitans – res extensa, empirisches Ich – intelligibles Ich . . . ) präsentiert. 29

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Religion und Poesie Ausgangspunkt für die Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Poesie ist die Balance des Intellektuell-Historischen, für welche Hölderlin den Terminus „mythisch“ verwendet. Dieser kann auch als Leitwort des letzten Abschnitts des „Fragments philosophischer Briefe“, den „Winken zur Fortsezung“,32 angesehen werden. In drei Anläufen möchte ich im Folgenden versuchen, das Verhältnis von Religion und Poesie zu bestimmen. 1) Wenn Hölderlin davon ausgeht, dass sich Religion mythisch entfalten müsse, meint er damit zunächst, dass sie – und zwar in allen ihren Formen – einen Ausgleich finden müsse, welcher jene beiden Aspekte, den der Singularität wie den der Kontinuität, der Freiheit wie der Bestimmtheit, zu balancieren vermag. Dies lässt sich an vielen Motiven darstellen: Vermutlich hat jede Religion einen historischen Kern, der gleichwohl nicht in seiner historischen Rekonstruktion aufgeht, sondern tief in das Gewebe einer Kultur einwächst und diese jenseits seiner Historizität gleichsam überzeitlich zu formen beginnt.33 Vermutlich ist jede Religion Ausdruck einer fundamentalen Form der Abhängigkeit und stellt gleichwohl eine Form der Subjektivierung und Verwirklichung von Freiheit dar. Vermutlich gestaltet jede Religion in je spezifischer Weise einen affektiven Raum, welcher die Individuen in ihrer je eigenen Weltwahrnehmung, aber auch die Gemeinschaft prägt. Religion hat den Anspruch, jene Extreme, von denen sich weitere Ausdrucksformen anführen ließen, nicht auseinanderfallen zu lassen, sondern ihnen einen symbolischen Ausdruck partiell gelingender Versöhnung zu geben.34 Sie findet jedoch niemals ein fixierbares Gleichgewicht dieser Aspekte, sondern muss ihre Balance je neu suchen. Ihre Fähigkeit liegt gerade darin, diese nie stillzustellende und veränderliche Spannung auszuhalten. Religion steht damit nicht in erster Linie für eine spezifische Weise der Bestimmung eines Gegenstandes (für Erkenntnisurteile) noch für eine bestimmte moralische Praxis, sondern hat ästhetischen Charakter. Sie ordnet die antagonistische Spannung von Vorstellungen, welche das Subjekt affizieren und zu zerreißen drohen, in einer lebbaren, auf Möglichkeiten hin offenen Weise. Diese Balance ist nicht als Ordnung widerstreitender Elemente unter einen bestimmten Begriff zu bringen, sondern hat mythischen Charakter. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass es nicht nur einer adäquaten Bestimmung ihres Stoffes, d. h. ihres Inhalts, sondern auch einer entsprechenden Bestimmung von dessen Vor-

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Die „Winke der Fortsezung“ können trotz ihrer fragmentarischen Gestalt in vielfältiger Weise eine Inspiration für Literaturwissenschaft und Theologie darstellen. In anderen theoretischen Texten („Das untergehende Vaterland . . . “, „Wenn der Dichter einmal . . . “) tauchen erneut poetologische Reflexionen auf. In diesen spielt jedoch die Frage nach Dichtung und Religion eine geringere Rolle. 33 Vgl. Peter Strasser: Journal der letzten Dinge. Frankfurt a.M. 1998, Aph. 277, 254 f. 34 Die Überlegungen sind inspiriert von den Arbeiten von Klaus Heinrich. Vgl. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt a.M./Basel 4 2002.

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trag, d. h. des Vollzugs,35 bedarf (wobei die Termini „Stoff“ und „Vortrag“ von Hölderlin stammen). Zur Religion gehört notwendig ihre „Aufführung“, ihr Stoff ist nicht unabhängig von seiner Performanz. Jene niemals sicherzustellende Balance muss ihre Ausgestaltung in einer Form des Vollzugs finden. Darin zeigt sich eine erste Analogie zur Literatur. Beide lassen sich nicht (dauerhaft) auf ihren Inhalt, Gehalt, Stoff, sie lassen sich nicht auf ihre Lehre (Religion) oder Aussage (Literatur) reduzieren, sondern bedürfen des Vollzugs. Um dies zu verdeutlichen, sei darauf hingewiesen, wie absurd es wäre, im Gottesdienst die Verlesung des Evangeliums zu überspringen, wenn es im Kreis der Teilnehmenden als inhaltlich bekannt vorausgesetzt werden kann, oder im Rahmen einer Lesung von Gedichten Hölderlins dem Kreis kundiger Hörer und Hörerinnern lediglich kurze Zusammenfassungen der Gedichte zwecks Erinnerung ihres Inhaltes zu geben. Religion und Literatur verweisen auf einen Überschuss des Vollzugs, der den „Text“ konstitutiv auf je neue Möglichkeiten (seiner Artikulation, Performanz und Aufführung . . . ) offenhält und sein gänzliches Eingehen in einen Begriff, der ihn vollständig zur Darstellung brächte, verhindert.36 Das Intellektuell-Historische erhält einen Ausdruck, der nicht durch einen allgemeinen Begriff darstellbar ist, sondern nur durch das Mythische, die Erzählung, den Vollzug zum Dasein gelangen kann. Damit ist der Bezug zum freien Spiel des Ästhetischen gegeben, das zwar (im Sinne Kants) nicht jenseits des Verstandes oder ohne diesen zu denken ist, gleichwohl aber nicht durch seine Tätigkeit unter eine bestehende Regel oder einen bestimmten Begriff gebracht werden kann.37 2) Verfolgen wir zunächst einen Weg, der von der Religion zur Dichtung führt: Religion ist Hölderlin zufolge die Verkörperung einer Balance von Singularität und Kontinuität, welche einen mythischen Ausdruck erhalten muss, der immer neuer Artikulation bedarf und somit in ein Spiel der Möglichkeiten führt, die sich als freie Wiederholung jener beiden Aspekte, der Singularität und Kontinuität, d. h. des „Intellectuell-Historischen“, gestalten. Wenn jene Balance nicht unter eine letzte Regel oder einen bestimmten Begriff gebracht werden kann, ist der Religion konstitutiv ein anarchisches Moment eingeschrieben, das bewirkt, dass auch sie selbst nicht zum alles umfassenden und bestimmenden Konzept werden darf, sondern sie auch ihre eigene Aufhebung in sich haben muss. Die Artikulation der Religion in der Mythe erschöpft sich nicht in sich selbst; die Religion genügt sich nicht darin, Religion zu sein, sondern stößt sich von sich ab zu dem, was sie nicht ist und sich nicht mehr durch sie kontrollieren lässt. Sie verweist auf ein anderes, welches sich nicht mehr als Religion fassen lässt, gleichwohl aber noch die Struktur an sich hat, Gestaltung des Gleichgewichtes von Singularität und Kontinuität, Freiheit und Bestimmtheit zu sein. 35

Den Terminus verwendet Heidegger in seiner Charakterisierung der Religion in seinen frühen Auslegungen der Thessalonicherbriefe. Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (Gesamtausgabe. Bd. 60). Frankfurt a.M. 1995. 36 Diesen Aspekt übersehen aufklärerische Theorien, welche davon ausgehen, dass sich Religionen insofern vom kritischen Denken gänzlich aneignen ließen, als sich ihr Gehalt vollständig in allgemein kommunikative Kategorien übersetzen lasse. 37 Vgl. KdU, besonders § 35 und § 49.

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Dies ist für Hölderlin, so möchte ich argumentieren, die Literatur. Von der Ausgestaltung der Balance des Intellectuell-Historischen, die ihren primären Ort in der Religion hat, leitet er auch verschiedene Dichtungsarten ab: die „epische Mythe“, die „dramatische Mythe“ und das „lyrischmythische“.38 Er kommt mithin über die Religion zu einer näheren Bestimmung der Richtung, in der die verschiedenen Formen der Dichtung gedacht werden können. Allerdings führt er deren Differenzierung nur mehr bruchstückhaft aus. Der Zusammenhang zeigt, dass Dichtung als freie Kunstnachahmung des wirklichen Lebens der Sphäre der Religion bedarf, von welcher sie sich jedoch gleichwohl abhebt.39 Religion hingegen müsste ein genuines Interesse haben, ihr anderes freizusetzen, d. h., sie müsste eine autonome Kunst und Literatur fördern, die nicht notwendig religiöse Formen, Inhalte und Strukturen hat. Sie müsste Räume zur Verfügung zu stellen suchen, in welchen sich Kunst und Literatur in freier Weise entfalten können. 3) Es gilt jedoch auch der umgekehrte Weg, der von der Dichtung zur Religion führt: Nicht nur erfährt die Dichtung ihre Bestimmung aus der Balance der individuellen und allgemeinen Aspekte, welche die Religion zu vereinigen vermag, Hölderlin greift zur Bestimmung der Religion auch, wie sich gezeigt hat, auf Kategorien der Dichtung zurück, etwa „Stoff“ und „Vortrag“; schließlich spricht er auch vom „Gott der Mythe.“40 Dem Begriff Gottes wird nicht einfach Sein prädiziert, er begegnet aber auch nicht primär als Postulat der praktischen Vernunft, sondern kann nur in der Erzählung, in der Dichtung zur Sprache kommen, „wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren“.41 Schließlich spricht Hölderlin die Überzeugung, dass Religion in der Dichtung ihren Ausdruck finde, in dem schönen Wort aus: „So wäre denn alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“42 Religion ist Hölderlin zufolge in ihrem Wesen auf Dichtung bezogen. So wenig Religion nur als Funktion von etwas anderem gedacht werden kann (Religion als Projektion, als Instrument politischer Interessen . . . ), sondern Selbstzweck ist, so wenig kann sie in ihren Vollzügen doch aus sich selbst begriffen werden. Sie verweist auf anderes. In ihrer Darstellung des Singulären und Kontinuierlichen, des Intellectuell-Historischen als Mythischen, ist sie immer auch und zwar grundsätzlich auf die Vollzüge der Dichtung und der Kunst angewiesen. Religion ist nicht einfach Dichtung und Dichtung nicht per se religiös; Religion muss aber als freie Wiederholung der Vollzüge der Kunst verstanden werden. Sie ist ein Ensemble, welches nicht zuletzt Lektüre, Gesang, Musik, Bild und Architektur umfasst, welche in freier Wiederholung, d. h. in einer neuen Bedeutungsgebung, in die Religion eingehen. Wo Vollzüge der Religion nicht ausgehend von dieser 38

TS 15. Die Überlegungen können in großer Nähe zu Vattimos Ausführungen über das Verhältnis von Religion und Kunst gesehen werden. Vgl. Vattimo, Jenseits der Interpretation (Anm. 2), 89–110, 168–170. 40 TS 14 f. 41 TS 15. 42 TS 15. 39

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wiederholenden Aufnahme und Neu-Interpretation, die immer auch eine Distanz voraussetzen (Dichtung, Kunst etc. sind nicht Religion), gesehen werden, besteht die Gefahr, einem Fundamentalismus sehr nahe zu kommen, der das Dasein mit all seinen Vollzügen und Gesten immer schon als entweder religiös oder aber als der Religion gegenüber feindlich ansieht. Ins Ensemble der Religion aufgenommen, nehmen die künstlerischen Vollzüge freilich den Charakter der Unmittelbarkeit an (d. h., sie sind authentisch religiöse Vollzüge) und erscheinen nicht als beliebig austauschbar, zufällig oder abgeleitet. Mithin erweist sich die Religion neuerlich als Balance zweier entgegengesetzter Pole, nämlich als Vermittlung von Unmittelbarkeit und Vermittlung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hölderlin jenen offenen Raum, wie er sich bei Kant in Verbindung mit den ästhetischen Ideen zeigt, als Wiederholung des wirklichen Lebens oder als freie Kunstnachahmung auffasst. Er ist Hölderlins Ausgangspunkt dafür, „von der Philosophie [d. h. von der Ästhetik] auf Poesie und Religion [zu] kommen“.43 Diese erweisen sich konzeptuell als aufeinander verwiesen. Zur weiteren Ausgestaltung ihres Verhältnisses gibt Hölderlin in seinen theoretischen Texten einige knappe Hinweise, die zu entwickeln ich für aufschlussreich halte; vor allem aber wird sich die Ausarbeitung ihres Verhältnisses in einem Durchgang durch die Gedichte zeigen müssen. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes sollen dazu einige wenige Hinweise gegeben werden.

II Religion und Dichtung nach dem Fehlen heiliger Namen Die Schwelle von Religion und Poesie kann bei Hölderlin in einer sehr eindrucksvollen Weise an den Schlusspassagen seiner Elegie „Heimkunft. An die Verwandten“44 betrachtet werden. Die Kategorien von Möglichkeit und Wiederholung werden dabei die folgenden Überlegungen leiten. 43

Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f., hier 615; vgl. StA 6.2, 783–787. Vgl. KA, 749–752; MA III, 117 f.; Rolf Zuberbühler: Hölderlin: ‚Heimkunft‘. In: HölderlinJahrbuch 19/20 (1975–1977), 56–75; Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4) [1944]. Frankfurt a.M. 6 1996, 9–31; Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (GA 13) [1983]. Frankfurt a.M. 2 2002, 231–235; Bruno Liebrucks: „Und“. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos. Realität und Wirklichkeit (Sprache und Bewußtsein 7). Frankfurt a.M./Bern 1979, 558–576; Wolfram Groddeck: Heimkunft. In: Johann Kreuzer (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011 [1 2002], 325–327, hier 335; Erich Przywara: Hölderlin. Nürnberg 1949, 85–87. Der Text wird, zumal ich auf den Unterschied der Druckfassung in der Flora und der Reinschrift im Homburger Folioheft eingehen möchte, zunächst nach Luigi Reitanis zweisprachiger Ausgabe Tutte le Liriche (Anm. 1) zitiert, 238–245. Reitani legt im ersten Teil seiner Ausgabe den Schwerpunkt auf die gedruckten Versionen der Gedichte Hölderlins und ist darum in diesem Fall die geeignete Referenz. Zwecks besserer Übersicht wird im Folgenden nach Vers 90 eine Leerzeile eingefügt, weil sich dort der Übergang zwischen fünfter und sechster Strophe findet, was jedoch im Satz der Druckfassung nicht berücksichtigt ist. Eine ausführlichere Interpretation des Gedichtes habe ich zu geben versucht in Jakob Helmut Deibl: Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen. Anachronistische Zeitgenossenschaft. Regensburg 2018, 105–149.

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1) Bereits der Textbestand des Gedichtes lässt sich ausgehend von diesen Kategorien deuten. Verfasst wurde die Elegie wahrscheinlich 1801, publiziert wurde sie 1802 in der Zeitschrift Flora. Hölderlin setzte das Gedicht aber auch an den Beginn des Homburger Folioheftes, seiner umfangreichsten Sammelhandschrift, wo es in schönster Reinschrift eingetragen ist. Das Homburger Folioheft sollte vermutlich zunächst als Ort für die Reinschriften eines geplanten Zyklus aus Elegien und freirhythmischen Gedichten (Gesängen, Hymnen) dienen, wurde aber immer mehr zur „Werkstätte“ (Uffhausen) oder zum „Atelier“ (Franz)45 für umfangreiche Überarbeitungen von bereits fertiggestellten Gedichten sowie für Entwürfe, Konzepte und Notizen. Seine Entstehungszeit fällt wohl in die Jahre 1801/02 bis 1806/07.46 Vielleicht ist es angebracht, das Homburger Folioheft nicht so sehr oder nicht allein über räumliche Metaphern (Werkstatt, Atelier) zu bestimmen, sondern ausgehend von der Funktion der Wiederholung. Die Elegie „Heimkunft“ erscheint neben der Druckfassung in einer leicht veränderten Reinschrift im Homburger Folioheft, was eine Verdoppelung, eine Wiederholung des Textes darstellt. In verschiedenen Phasen der Bearbeitung, im Rahmen derer, meist ohne die ursprüngliche Fassung auszustreichen, neue Wendungen in die Zwischenräume der Verse eingetragen wurden, erfährt der Text Neuschreibungen, die ihn in freier Weise wiederholen und auf neue Möglichkeiten hin öffnen. 2) Das Gedicht besteht aus sechs Strophen zu je 18 Versen im elegischen Distichon. In seiner ersten Strophe führt das Gedicht in das chaotische Werden einer noch menschenleeren Welt hinein, in welcher sich langsam erste Ordnungsstrukturen bilden. Aus den demiurgischen Gewalten geht in der zweiten Strophe der „Seelige Gott“ („Heimkunft“, V. 22) hervor,47 der „[s]tille wohnt“ (V. 23). Als der „Schöpferische“ (V. 31) spendet er den Menschen Leben und lässt sie auf diese Weise ins Gedicht eintreten. Ihm gegenüber erscheint der Mensch sodann in der dritten Strophe als Sprechender: „Vieles sprach ich zu ihm“ (V. 37). Menschliche Sprache ist zuerst an Gott adressiert, die Dichtung ist Nachhall davon und rückt mithin in enge Nähe zum Gebet: „Vieles sprach ich zu ihm, denn was auch Dichtende sinnen, / Oder singen, es gilt meistens den Göttern und ihm“ (V. 37 f.). Religion und Poesie erweisen sich an dieser Stelle als engstens miteinander verbunden. Der erste Adressat ihrer Rede ist grundsätzlich Gott, kann aber im Falle der Dichtung auch gelegentlich jemand anderer sein. 45

Dietrich Uffhausen: „Bevestigter Gesang“. Hölderlins hymnische Spätdichtung in neuer Gestalt. In: Bibliothek und Wissenschaft 28 (1995), 175–200, hier 176; Michael Franz: „poëtische Ansicht der Geschichte“. Eine Einführung in das Homburger Folioheft. In: Hölderlin-Jahrbuch 40 (2016– 2017), 9–37, hier 9. 46 Vgl. FHA, Homburger Folioheft, Faksimile-Ausgabe, 307/1–4; vgl. dazu Franz, „poëtische Ansicht der Geschichte“ (Anm. 45), 9–37; Gunter Martens: Was ist und zu welchem Ende studiert man das Homburger Folioheft? Entstehung, Nutzung und Überlieferung der bedeutendsten Sammelhandschrift von Gedichten Hölderlins. Eine Spurensuche. In: Hölderlin-Jahrbuch 40 (Anm. 45), 38–79; Roland Reuß: Ordnung, Chaos. Notizen zum Zusammenhang von Detail und Ganzem im Homburger Folioheft. In: Hölderlin-Jahrbuch 40 (Anm. 45), 80–87. 47 Wenn sich Zitate auf das zuvor genannte Gedicht beziehen, wird in Klammern lediglich die Angabe der entsprechenden Verse wiedergegeben.

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Der Mensch als sprachliches Wesen bzw. als Dichter erweist sich sodann als jemand, der sich langsam wieder seiner Heimat annähert (vgl. den Titel „Heimkunft“) und sich dort bereits in seinem Nahen gastfreundlich aufgenommen fühlt. In diese Annäherung, die vom Beginn der dritten Strophe bis etwa zur Mitte der fünften Strophe währt und vom Motiv des Wiederfindens (der Heimat) geprägt ist, mischt sich fast unmerklich ein Suchen ein: „und sucht liebenden Namen für dich / Mit Gesang ein wandernder Mann, glückseeliges Lindau!“ (V. 58 f.) Die Suche der Namen bezieht sich auf einen realen Ort, der bereits einen Namen besitzt, nicht auf etwas Unbekanntes oder Verlorenes. Der Name des Ortes soll vielmehr in den Gesang gehoben, d. h. im Lied wiederholt werden, Geographie soll in Poesie übergehen. Dem Suchen korrespondiert sodann der Verweis auf einen „Fund“ (V. 79), der als „das Beste“ (V. 79) bezeichnet wird. An dieser Stelle gilt es innezuhalten: Die Suche nach den liebenden Namen (V. 58) schien zunächst den Weg des Wiederfindens der Heimat nicht zu stören und mündet sogar in einen Fund. Dieser jedoch hält, obwohl als das Beste bezeichnet, die Suche in einer eigentümlichen, obzwar kaum merkbaren Schwebe: Der Fund ist „Jungen und Alten gespart“ (V. 80), geht mithin nicht in eine völlige Präsenz über. Er bleibt aufgespart, unverletzt erhalten und damit offen auf einen Raum kommender Möglichkeiten. An dieser Stelle tritt überdies die latent im Gedicht schon zuvor präsente Frage nach der Sprache immer mehr in den Vordergrund: Thörig red’ ich. Es ist die Freude. Doch morgen und künftig Wenn wir gehen und schaun draussen das lebende Feld Unter den Blüthen des Baums in den Feiertagen des Frühlings Red und hoff ich mit euch vieles, ihr Lieben, davon. Vieles hab’ ich gehört vom großen Vater und habe Lange geschwiegen von ihm, welcher die wandernde Zeit Droben in Höhen erfrischt, und waltet über Gebirgen Der gewähret uns bald himmlische Gaben und ruft Hellern Gesang und schikt viele gute Geister – o säumt nicht, Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! und ihr, Engel des Hauses, kommt! in die Adern alle des Lebens, Alle freuend zugleich, theile das Himmlische sich! Adle, verjünge, damit nichts Menschlichgutes, damit nicht Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch Solche Freude, wie jezt, wenn Liebende wieder sich finden, Wie es gehört für sie, schiklich geheiliget sei. Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring’ ich den Dank? Nenn’ ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott nicht,

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Ästhetik – Poesie – Religion Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein. Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen, Herzen schlagen, und doch bleibet die Rede zurük? Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne, Und erfreuet vieleicht Himmlische, welche sich nahn. Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge Schon befriediget, die unter das Freudige kam. Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.

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Der heimkehrende Wanderer bzw. Dichter (V. 37 f.), der nach liebenden Namen und Gesang sucht (V. 58 f.), kommentiert seine eigene Rede als die eines Toren: „Thörig red’ ich.“ (V. 81) Was aber lässt seine Rede als töricht erscheinen? Ist es der Bezug auf Suche und Fund, die sich einer vollständigen Präsenz entziehen („gespart“, V. 80), ist es dieser Bezug, den er nun als töricht zurückweist? Als wäre es mit diesen Überlegungen zu einem ausständigen, sich entziehenden Moment genug, kündigt er an, er werde „morgen und künftig“ (V. 81) vieles reden und hoffen und wendet sich dabei an einen Kreis der „Lieben“ (V. 84). Allerdings wird diese Ankündigung nicht in der erwarteten Weise eingelöst. Das sich entziehende Moment, welches den Fund begleitete, zeigt sich nun auch in einem Schweigen (V. 86), welches der Rede beigesellt ist. In Vers 85, jenem Vers, welcher der Ankündigung der Rede von vielem folgt, wird das Wort „vieles“ wieder aufgenommen und an den Satzanfang gestellt, wie dies bereits in Vers 37 beim ersten Auftreten der Sprache der Fall war:48 Vieles sprach ich zu ihm, denn was auch Dichtende sinnen, Oder singen, es gilt meistens den Göttern und ihm (V. 37 f.). Vieles hab’ ich gehört vom großen Vater und habe Lange geschwiegen von ihm (V. 85 f.).

Anders als in den Versen 37 f. wird der Verweis auf das Viele in den Versen 85 f. mit einem Hören in Verbindung gebracht, das sich nicht mehr unmittelbar in Sprache verwandelt und sich nicht mehr unmittelbar an Gott adressiert. Zunächst muss gesagt werden, dass sich das lange Schweigen wie ein Schutz um die fragile Rede vom großen Vater (V. 84) legt. An dieser Stelle, d. h. in diesem Schweigen, wird wohl am tiefsten in der gesamten Elegie von Gott gesprochen. Es handelt sich um ein großartiges Beispiel, wie Dichtung in Mystik übergeht. Allerdings führt das Gedicht vor, wie sich dieses Schweigen selbst nicht halten lässt und in den folgenden Versen (V. 86–89) von einer Rede überlagert wird, die zwar von Gott spricht, sich aber nicht mehr an ihn zu adressieren vermag. Die Rede von Gott verbleibt in der Gestalt eines beschreibenden Relativsatzes (beginnend mit V. 86), der Übergang in Anrufung und Gebet kann nicht mehr wie beim ersten Auftreten der Sprache vorausgesetzt werden: „was auch Dichtende sinnen, / Oder 48

Auch in den Versen 39 und 41 ist das Wort „Vieles“ an die erste Stelle im Vers gesetzt.

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singen, es gilt meistens den Göttern und ihm“ (V. 37 f.). Das Lied des Dichters oder Sängers ist nicht mehr an Gott adressiert, stattdessen spricht er die „Engel des Jahres“ (V. 90) und die „Engel des Hauses“ (V. 91) an und lädt sie ein, ins Lob Gottes einzustimmen („o säumt nicht“, V. 89). Der Bezug zum Göttlichen ist damit nicht zerbrochen, merkbar wird jedoch ein Auseinandertreten von Dichtung und Gebet. Bedenkt man, dass das Lob Gottes klassisch zu den wichtigsten Aufgaben der Engel zählt, scheint diese emphatische Aufforderung, welche überdies in einem Enjambement die Strophengrenze überspringt, was an dieser Stelle zum einzigen Mal im Gedicht erfolgt und damit die Stelle besonders hervorhebt, eher wie das Überdecken einer Problematik: Der Übergang von der poetischen Sprache zu der des Gebetes vollzieht sich nicht mehr. Dies stellt einen massiven Bruch dar, der – bedenkt man den Ursprung der Sprache im Gebet (V. 37 f.) – ins Innerste der Sprache reicht. Dieser Bruch wird zunächst noch verdeckt durch vier weitere Verse (V. 93–96), welche die Emphase, die sich in der Aufforderung an die Engel zum Lob Gottes zeigte, weiterführen. Adle, verjünge, damit nichts Menschlichgutes, damit nicht Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch Solche Freude, wie jezt, wenn Liebende wieder sich finden, Wie es gehört für sie, schiklich geheiliget sei. Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring’ ich den Dank?

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Der Bruch kann nicht unmittelbar ausgesagt werden, als handle es sich um eine Tatsache neben anderen; seine Thematisierung bedarf vielmehr der Vorbereitung und der langsamen Annäherung. Die Verse 93–96 sprechen im Modus des Imperativs oder des Wunsches von Adelung, Verjüngung, Freude, Wiederfinden und Heiligung. Dabei lässt sich nicht sicher klären, an wen sie sich eigentlich adressieren: Mit „Adle, verjünge“ (V. 93) ist ein Übergang vom Plural der Engel („o säumt nicht / Kommt“, V. 89 f.) zum Singular angezeigt. Als Referenzwort könnte entweder „das Himmlische“ (V. 92) oder der große Vater fungieren. Das Himmlische ist wohl zu blass und unbestimmt, um noch als Gegenüber eines Anrufes erscheinen zu können; der Vater hingegen ist zuletzt in Vers 85 aufgetreten. Danach war von den Engeln die Rede, somit ist es nicht leicht, die Imperative noch als Bitten auf ihn zu beziehen. Die Adresse im Singular (V. 93) wird in einer Schwebe der Unbestimmtheit gehalten, die bereits Ausdruck der schwindenden Selbstverständlichkeit ist, dass sich dichterische Sprache an Gott wenden kann. In dem mit „Adle, verjünge“ eröffneten Satz (V. 93–98) erfolgt dann – im Satz – auch der Umbruch in eine radikale Fraglichkeit. Der Satz, der vier Verse lang als Imperativ oder Wunsch gestaltet ist und eine große Begeisterung ausdrückt, mündet in eine Frage (V. 98). Eingeleitet wird der Umbruch durch die Konjunktion „Wenn“ (V. 97),49 die ähnlich wie in „Patmos“ auf die Darstellung einer Krise hinweist.50 Es handelt sich um 49

Retrospektiv kann der Bruch bis zur ersten Suche nach den liebenden Namen (V. 58 f.) zurückverfolgt werden. 50 „Patmos“, V. 136, 140, 145, 167.

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eine Krise der Sprache, die ihre primäre Funktion der Adressierung an Gott (V. 37 f.) nicht mehr einlösen kann: „wen darf ich nennen“ (V. 97). Erste Folge davon ist, dass die Zeit, deren wichtigstes Symbol der Tag ist,51 keinen Abschluss mehr zu finden vermag und der Dank des Menschen ins Leere zu gehen scheint: „und wenn wir / Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring’ ich den Dank?“ (V. 97 f.) Nach dem Hinweis auf diese Konsequenzen wird die Grundfrage nach dem Nennen Gottes wiederholt: „Nenn’ ich den Hohen dabei?“ (V. 99) Wo das Nennen des Namens Gottes zerbricht, verliert auch das Verhältnis des Menschen zu Gott seine entsprechende Form und droht unschicklich zu werden, d. h., es hat kein inneres Maß mehr: „Unschikliches liebet ein Gott nicht“ (V. 99). Die im gesamten Gedicht zentrale Freude bleibt zwar weiterhin dessen Grundton,52 wird aber als jene Sphäre fraglich, innerhalb derer bisher auch das Verhältnis von Gott und den Menschen verstanden werden konnte: „Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.“ (V. 100) Das folgende Distichon (V. 101 f.) fasst die gewandelte Situation des Gedichtes zusammen und spricht zunächst von einem Schweigen, von welchem sich nicht mehr eindeutig sagen lässt, dass es aus dem aufmerksamen Hören hervorging und das fragil sich zeigende Göttliche beschützt, wie dies in den Versen 85 f. noch der Fall war („Vieles hab’ ich gehört vom großen Vater und habe / Lange geschwiegen von ihm“ [V. 85 f.]). Zwar kann dies nicht ausgeschlossen werden, eher scheint es sich jedoch um ein Schweigen zu handeln, welches, wie der zweite Teil des Verses 101 aussagt, auf einen fundamentalen Verlust, der in der Sprache statthat, hinweist. Der Verlust dreht sich um die Möglichkeit des Sich-Adressierens im Namen: Der Dichter, der zuvor in liebenden Namen versucht hatte, die geographische Landschaft in eine Gedichtlandschaft zu verwandeln (V. 58 f.), findet sich nun in einer Gemeinschaft wieder (Wechsel von „ich“ zu „wir“), welche sich zwar noch an Gott adressieren möchte, der aber die Namen dafür fehlen. Dieses Fehlen, das ich für einen Angelpunkt des Gedichtes halte, spielt auch in den Überarbeitungen der Elegie im Homburger Folioheft eine große Rolle, wo zunächst auch noch dieses Fehlen aus dem Text verschwindet (das Distichon wird völlig abgeändert), die heiligen Namen aber an anderer Stelle in der Sammelhandschrift wiederkehren. Hatte sich in den ersten drei Strophen des Gedichtes gezeigt, wie sich der Mensch (der Wanderer oder Dichter) in einem Prozess des Werdens, der das Entstehen einer Welt aus dem Chaos schildert, im Gegenüber zum lebensspendenden Gott als sprechendes Wesen konstituiert und sich sprachlich an Gott wendet (V. 37 f.), so zeigt sich an dieser Stelle ein gegenläufiger Prozess an: Der Mensch bleibt zwar 51

Im Chaotischen der ersten Strophe entwindet sich der „Morgen“ (V. 8) der Nacht (V. 1), die als helle („ists noch helle Nacht“, V. 1) jeglicher Scheidung und damit Trennung von Chaos und Ordnung vorausgeht. Zur theologischen Bedeutung des Übergangs von der Nacht zum Tag vgl. Kurt Appel: Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling. Paderborn 2008, 32–39. 52 Sie tritt in diesem Gedicht nicht als eine subjektive Befindlichkeit auf, sondern als eine primordiale Stimmung, aus welcher vor aller Subjektivität die Sprachlichkeit („Freudiges dichtend“, V. 2) der Welt hervorgehen kann: „Drinn in den Alpen ists noch helle Nacht, und die Wolke / Freudiges dichtend sie dekt drinnen das gähnende Thal.“ (V. 1 f.) Vgl. auch V. 22, 25, 30, 36, 45, 75, 81, 92, 94 f., 100, 104, 106.

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sprachliches Wesen (weiterhin spricht ein Ich oder Wir), wird aber in der Sprache eines Verlustes gewahr, der genau deren Mitte, das Sich-Adressieren an Gott, betrifft. Er bleibt fühlendes, affektives Wesen („Herzen schlagen“), doch kann er dies in der „Rede“ (V. 102) nicht mehr einholen. Als sprachlichem Wesen bleibt ihm eine Distanz eingeschrieben, die er nicht mehr zu überbrücken vermag. In analoger Weise, wie sich bei Kant in der Subjektkonstitution und der damit verbundenen Frage, wie Gegenstandserkenntnis möglich ist, eine Distanz im Subjekt anzeigte, gelangt Hölderlin in der Dichtung zu einer Distanz, die sich in der Sprache auftut. Der Titel und die Widmung des Gedichtes sowie der darin beschriebene Weg erscheinen nun retrospektiv in einem anderen Licht. Die Rückkehr in die Heimat muss nun auch gelesen werden als Versuch einer Rückkehr zur Präsenz, Unmittelbarkeit und Geschlossenheit des Selbst (Heimat), welche jedoch letztlich vor eine nicht überbrückbare Distanz (das Zurückbleiben der Rede) und einen Bruch (das in der Sprache sich zeigende Fehlen der heiligen Namen) führt. Freilich ist dies auch der Weg zu einer leise sich ankündigenden Gemeinschaft, wie der Wechsel zu „wir“ (V. 100 f.) insinuiert. Die „Verwandten“ aus der Widmung sind nicht mehr nur die Menschen, auf die man in der Heimat trifft, sondern all die, welche aus jener von einem Bruch durchzogenen Sprache leben. Die aufgrund einer Sprache, die ihre Selbstpräsenz nie gänzlich einholen kann, entstehende Distanz bedeutet nicht das Ende des Gedichtes. Es stellt sich die Frage, ob die in ihm angezeigte verlorene Unmittelbarkeit auch als offener Raum der Möglichkeiten, als Raum offener Möglichkeiten gestaltet werden kann. Diesem Anspruch stellt sich Hölderlins Dichtung,53 wie der folgende mit einem „Aber“ (V. 103) einsetzende Vers zeigt. Das „Aber“ deutet eine leise Möglichkeit des Übergangs zu einer neuen Form der Sprache an. Der sich damit eröffnende Raum kann nicht mehr intentional von der Handlung eines Subjektes besetzt werden, sondern bedarf zunächst der Aufmerksamkeit für ein Geschehen, das keiner Planbarkeit und Herstellbarkeit unterliegt („vieleicht“, V. 104). Ein „Saitenspiel“ (V. 103) leiht seine Töne und vermag damit jener eröffneten Distanz einen ersten klanglichen Ausdruck zu geben, welcher vielleicht auch das Nahen der Himmlischen, die zuvor unnennbar geworden waren, ermöglichen kann. Die aus dem Zurückbleiben der Rede entstandene Distanz erhält damit eine neue Deutung. In einer schwer auflösbaren Konstruktion wird sodann ausgedrückt, dass der Aufnahme und Bereitung jener klanglichen Eröffnung (dem geliehenen Saitenspiel) eine besondere „Sorge“ (V. 105) gilt, welche die Aufgabe des Dichters darstellt (V. 107 f.). Die Wendung „Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge / Schon befriediget, die unter das Freudige kam.“ (V. 105 f.) kann meines Erachtens folgendermaßen interpretiert werden: „Das [4. Fall] bereitet [. . . ] die Sorge [1. Fall]“, d. h., diesem sich unverfügbar eröffnet habenden Saitenspiel hat sich die Sorge zuzuwenden und es zu bereiten, weiterzuentwickeln, zu gestalten; „so“, also gerade darin, „ist auch die Sorge beinahe schon befriedigt“, sie muss sich nicht darüber hinaus noch auf dieses oder jenes andere richten. Der Sänger oder Dichter muss 53

Spätestens seit etwa 1800 scheint dies aus meiner Sicht das bestimmende Thema seiner Dichtung zu sein.

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nicht alle Sorgen in sich tragen („aber die anderen nicht“, V. 108). „Sorgen, wie diese“ (V. 107), d. h. die weitere Gestaltung jener Distanz und jenes Saitenspiels in der Sprache, kann er jedoch nicht von sich weisen. Religion und Dichtung zeigen sich nicht nur beim ersten Auftreten der Sprache (V. 37 f.), sondern auch in der Krise beider, die ich als Sprachkrise bezeichnen möchte, als miteinander verbunden. Dichtung erfährt aus dieser Krise eine Neubegründung ihrer Aufgabe. Der Dichter hat sich um das Sprachwerden dessen, was sich klanglich, d. h. noch gänzlich unbestimmt und offen, in jenem mit der Sprachkrise aufgetretenen Freiraum anzeigt, zu kümmern. Seine Sorge besteht darin, das Saitenspiel, die Distanz des Zurückbleibens der Rede und das Fehlen der heiligen Namen als offenen Raum der Möglichkeiten zu gestalten und davor zu bewahren, unmittelbar in die Eindeutigkeit der Wirklichkeit umzuschlagen – sei es in ein Verstummen, aus dem nichts mehr hervorgeht, sei es in die Füllung durch irgendwelche Sujets (heute könnten wir sagen des Konsums, der Marken), sei es in eine erneute Gottesunmittelbarkeit. Diese Aufgabe des Dichters hat zunächst keine unmittelbar religiöse Bedeutung, Dichtung ersetzt nicht die Religion. Sie gibt ihr jedoch die Möglichkeit zur wiederholenden Aufnahme und Gestaltung dessen, was als Aufgabe, Gestus oder Arbeit des Dichters beschrieben wurde. Damit kann wieder eine Form der Interaktion der beiden einsetzen. Nimmt Religion es ernst, dass es sich dabei um eine wiederholende Wiederaufnahme der Kunst handelt, wird sie davor bewahrt, die verlorene Unmittelbarkeit des Gottesnamens direkt besetzen zu wollen.

Das Verschwinden der heiligen Namen und die freie Wiederholung 1) Das Anarchische eines Primats der Möglichkeit, wie es aus den theoretischen Schriften Hölderlins herauszulesen ist, schreibt sich auch in die Dichtung selbst ein, was zur Folge hat, dass Hölderlin diese immer mehr als offenen Raum der Möglichkeit im Sinne einer freien Wiederholung der Wirklichkeit versteht. Dies wird an den zahlreichen Überarbeitungen sichtbar, welche er in bereits bestehende, d. h. wirkliche Gedichte und Fragmente einträgt, vielfach ohne Streichungen vorzunehmen, so dass die Gedichte selbst einen offenen Raum der (Lektüre-)Möglichkeiten darzustellen beginnen und die Gestalt des Textes, wie zu zeigen ist, in die Nähe eines ästhetischen Ereignisses rückt. Besonders deutlich wird dies an der Entwicklung des Homburger Folioheftes, das – wie erwähnt – vermutlich zunächst ein sich aus Reinschriften zusammensetzendes Projekt darstellen sollte, sich aber immer mehr in die Richtung eines offenen Möglichkeitsraumes entwickelt hat. Die an den Anfang des Homburger Folioheftes gestellte Fassung der Elegie „Heimkunft“ unterscheidet sich leicht von der in der Flora gedruckten Version.54 Wohl in mehreren Schritten hat Hölderlin sodann Änderungen in den Text eingetragen, welche sich allesamt im zweiten Teil der Elegie, den Strophen IV–VI, die vom Rückweg in die Heimat berichten, finden. Die größte Dichte an Über54

Vgl. FHA, Homburger Folioheft, 307/1–4.

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arbeitungen ist in der sechsten Strophe in den Versen 91–102 anzutreffen, wobei die Verse 101 f., und zwar als einzige im Gedicht, gänzlich neu gefasst werden: „Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?“ (V. 101 f.) Die letzten sechs Verse (V. 103–108), welche – nach dem Schweigen-Müssen und dem Fehlen der heiligen Namen – vom Saitenspiel erzählen, behalten abgesehen von einer kleinen Änderung in Vers 103 ihre ursprüngliche Gestalt. Dort, wo die Sprachkrise am deutlichsten manifest wird, wo religiöse Innigkeit („Herzen schlagen“, V. 102) und Sprache (die Rede bleibt zurück) auseinanderzufallen drohen, geht auch das Gedicht am stärksten in den Prozess der Überarbeitung ein. Mehrere Bedeutungsschichten fügen sich aneinander, wobei die neuen Varianten in die Zwischenräume der Verse eingefügt, aber kaum Wörter gestrichen werden. Es handelt sich mithin nicht um Korrekturen, die auf einen Endtext abzielen,55 sondern eher um Wiederholungen, welche das vorhandene, d. h. wirkliche Textmaterial in freier Nachahmung neu fassen. Eine Lektüre des Textes als Ereignis der Wiederholung sieht die Textvarianten als wiederholende Bewegung der Abhebung von dem, was ursprünglich als Text präsent ist, wobei dieser Text aufgehoben wird im dreifachen hegelschen Sinn des Wortes: aufbewahrt, außer Kraft gesetzt, auf eine höhere Stufe gehoben.56 Er bleibt als ursprünglicher Text erhalten, verliert aber seine alleinige Stellung und wird im Übergang der Varianten zueinander mit Sinn angereichert. Das Gedicht wird selbst als Text-Ereignis zum Klang-Körper, in welchem all seine Varianten nachklingen; es wird Klang-Körper einer vibrierenden Offenheit für neue Formen einer freilich immer kontingenten Bedeutungsgebung, die keine Letztgültigkeit mehr für sich beanspruchen kann. Dabei handelt es sich um einen nicht mehr kontrollierbaren Vorgang der Eröffnung von Möglichkeiten.57 Sinn und Bedeutung haben nicht mehr nur die einzelnen Versionen (linear gelesen), sondern entstehen im Oszillieren zwischen den Varianten. Dies korrespondiert jenem Abschied von einem intentionalen Beherrschen der Sprache, auf welchen das Saitenspiel, das die Töne leihe (V. 103), am Ende des Gedichtes hinweist. 55

Groddeck spricht von der letzten Variante der Überarbeitungen als „folglich für den Kontext der Reinschrift [. . . ] verbindliche Formulierung“, Wolfram Groddeck: Die Revision der ‚Heimkunft‘. In: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992–1993), 239–263, hier 255. Ich möchte hingegen den Akzent auf ein Oszillieren zwischen den Varianten legen. 56 Ich stimme Éva Koczisky zu, wenn sie sagt: „Das Schreiben am Gedicht erwies sich als ein nie zu vollendender Prozess. Der Text selbst begann eine Landkarte von Worten auf der weißen Fläche des Papiers zu markieren.“ Allerdings bin ich wie Uwe Beyer (vgl. Uwe Beyer: Mythologie und Vernunft: Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin. Berlin 1993, 197 f.) auch der Ansicht, dass es um ein Lebendig-Erhalten des Textes geht – nicht um dessen Destruktion, wie Éva Koczisky dies hervorhebt: „Im Sprachgestus der radikalen Fragmentierung, die sich etwa im Homburger Folioheft erkennen lässt, bejahte man zugleich den Akt des Destruierens, des angestrebten Zerstörens des eigenen Textes, das seit Hölderlin unwiderruflich zum Schreibprozess des Dichtens gehört.“ Éva Koczisky: Wozu Dichter? Hundert Jahre Poetologien nach Hölderlin. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Wozu Dichter? Hundert Jahre Poetologie nach Hölderlin. Berlin 2016, 7–12, hier 10. 57 Für den Hinweis, dass sich diese Öffnung eines Möglichkeitsraumes der Kontrolle und Planung entzieht, danke ich Lisa Achathaler. Das Wort der ‚vibrierenden Offenheit‘ habe ich von Friedrich Kern übernommen.

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2) Wolfram Groddeck zeigt in einer umfangreichen Studie zur Revision der Elegie, dass die Änderungen im Gedicht wohl von den Versen 101 f. ihren Ausgangspunkt genommen haben.58 Am Beginn und am Ende des überarbeiteten Abschnitts finden sich zwei orthographische Fehler, welche in der Verdoppelung eines Vokals bestehen: „blühende Wege“ (V. 68) wird zu „Weege mit Beeren“: „die ‚Weege‘, so geschrieben, erscheinen nun fremder, gedehnter und seltsam verdoppelt“.59 Neben dem letzten, weitgehend unveränderten Abschnitt der sechsten Strophe (V. 103– 108) findet sich in einer Kolonne die Notiz „wie / kann / ich / saagen“: Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne, wie Und erfreuet vieleicht Himmlische, welche sich nahn. kann Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge ich Schon befriediget, die unter das Freudige kam. saagen Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.60

Groddeck sieht in der fehlerhaften Verdoppelung der Vokale („Weegen“, „saagen“) einen von Hölderlin bewusst gesetzten Hinweis auf die Strategie der Überarbeitung. Die „kommentierende Notiz“61 „wie kann ich saagen“ stehe in Verbindung mit der Wendung „Schweigen müssen wir oft“ (V. 101), insofern beide einen Bruch in der Sprache und die Suche nach neuen Sprachhorizonten zum Ausdruck brächten. Darin sei auch der eigentliche „Anstoß zur Revision der Elegie“62 gelegen, welche als Ausdruck jener Suche angesehen werden könne. Die Elegie sei „die Entdeckung neuer Möglichkeiten von Sprache, die freilich ‚vieldeutig‘ ist.“63 Meines Erachtens stellen die Bearbeitungen jedoch keine Revision des Textes dar,64 sondern dessen freie, veränderte Wiederholung – wie sie sich ebenfalls in der Wiederholung der Vokale in „Weegen“ und „saagen“ anzeigt. Versteht Hölderlin Dichtung (und Kunst im Allgemeinen) als Wiederholung und freie Kunstnachahmung, so muss dieser wiederholende Gestus, der Wirklichkeit in einen Raum freier Möglichkeiten versetzt, in die Gedichte selbst eingehen. Er ist nicht nur, wie mit Blick auf Hölderlins 58

Groddeck, Die Revision der ‚Heimkunft‘ (Anm. 55), 243. Hinsichtlich der Analyse des Textes werde ich mich im Folgenden auf die Ausführungen Groddecks stützen, daraus aber nicht immer dieselben Schlüsse ziehen wie der Autor. 59 Ebd., 242. 60 „Heimkunft“, V. 103–108; FHA, Homburger Folioheft, 307/4. 61 Groddeck, Die Revision der ‚Heimkunft‘ (Anm. 55), 243. Groddeck gibt trotz so greifbarer motivlicher Nähe keinen Hinweis auf eine mögliche Inspiration durch Derridas Text „Die Différance“, vgl. Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Wien 2 1999, 31–56. 62 Groddeck, Die Revision der ‚Heimkunft‘ (Anm. 55), 243. 63 Ebd., 247. 64 Vgl. ebd., 245.

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theoretische Schriften gezeigt wurde, deren Voraussetzung oder deren Bedingung der Möglichkeit, sondern muss auch an ihnen sichtbar werden. Was dies im Einzelnen bedeutet, muss an den konkreten Stellen, die eine Bearbeitung erfahren haben, gezeigt werden. Im Folgenden werde ich das neu konzipierte Distichon vom Fehlen der heiligen Namen (V. 101 f.), das für die Frage nach Religion und Sprache, Gottesfrage und Dichtung so zentral ist, in diesem Sinn zu interpretieren suchen. Zunächst wird die von Groddeck identifizierte Abfolge der Varianten wiedergegeben:65 RS I II III IV

Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Nahmen, Aber Erfindungen [auch] sind aber durcheinander ein Haus spricht Aber Erfindungen sind als wenn durcheinander ein Haus spricht Aber Erfindungen sind als wenn [unbesonnen] ein Haus spricht Aber Erfindungen gehn, wo Einfälle das Haus hat

RS I II III IVa IVb IVc

Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük? Heimlich wie sichs giebet eignen Sinn Zärtlich wie sichs giebet eignen Sinn Feinlich wie sichs giebet eignen Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Ein höherer Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Ein zärtlicher Sinn Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Geheimerer Sinn.

Die Reinschrift, in welcher der Text eine erste Form von Präsenz erlangt und Sinn Wirklichkeit wird, spricht von der Problematik des Schweigen-Müssens und des Fehlens der heiligen Namen, dem affektiven Raum des schlagenden Herzens und dem Aufschub der Versprachlichung, der sich ihm gegenüber einstellt. All diese Motive sind in der letzten Variante des Textes nicht mehr präsent: „Aber Erfindungen gehn, wo Einfälle das Haus hat / Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. Geheimerer Sinn.“ Wie ist dieser Übergang zu interpretieren? Dass das Schweigen-Müssen nicht Endpunkt sein soll, sondern als Eröffnung hin auf neue Möglichkeiten gedacht werden kann, drückt der Übergang zur Wendung „Aber Erfindungen“ in der ersten Bearbeitung aus, die sich in allen Varianten durchhält. Das „Aber“ scheint sich nicht allein vom vorausgehenden Vers 100 abzusetzen, der davon spricht, dass die Freude zu klein sei („Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein / Aber Erfindungen [auch] sind [. . . ]“), sondern auch vom „Schweigen müssen“, das vorher an seiner Stelle stand. Man könnte diesen Zusammenhang folgendermaßen wiedergeben: Zwar müssen wir schweigen, weil die heiligen Namen fehlen und unsere Freude zu klein ist, das entspricht der Realität, „[a]ber Erfindungen“ und neue Möglichkeiten sind auch, d. h., sie gibt es auch, sie stellen sich überraschend ein. Den offenen Möglichkeitsraum, um den es in der Dichtung Höl-

65

Vgl. ebd., 255–259. Wörter, die in einer späteren Überarbeitungsphase nicht wiederholt werden, aber für diese gültig bleiben, habe ich (anders als Groddeck) wiederholt. „RS“ steht für „Reinschrift“, die römischen Zahlen für die Überarbeitungsphasen.

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derlins geht, kann die Wendung „Aber Erfindungen auch sind“ in großartiger Weise zum Ausdruck bringen, weshalb sie auch das Motto dieses Aufsatzes bildet. Ebenfalls in allen Varianten hält sich das Wort „Haus“ im zweiten Teil des Verses 101: „aber durcheinander ein Haus spricht“ (Variante I). Das Haus ist Chiffre für das Umschließende der Sphäre,66 also für jenen Raum, in welchem sich eine neue Konfiguration aus Subjekt und Objekt, eine neue Konfiguration auch der Konstellation von Gott und Mensch einstellen kann. Freilich kann diese zunächst keine Sicherheit annehmen. Die heiligen Namen fehlen, neue Erfindungen treten auf, bleiben aber vorerst in einem Durcheinander, führen vielleicht nicht weiter und werden wieder verworfen. Die Sprache, welche sich nach dem Verlust der Möglichkeit, sich an den Gottesnamen zu adressieren, aus der neuen, sich ausbildenden Sphäre (dem Haus) erhebt, spricht „durcheinander“ – wie auch die einzelnen Varianten des Distichons ein nur schwer entwirrbares Durcheinander bilden. Das Adverb „durcheinander“ wird dann durch „unbesonnen“ ersetzt, was in dieselbe Richtung deutet: Sinn lässt sich nicht sofort wieder in eine Gestalt der Sammlung bringen und erfassen. Erhalten bleibt das Verb „spricht“ (bis zu Variante III) am Ende des Verses, welches mit dem Wort „Schweigen“ vom Anfang des Verses (in Variante I) eine fragile Klammer bildet, welche freilich nur sichtbar zu werden vermag, wenn man den Blick zwischen den Varianten schweifen lässt und sie nicht auf ihre Linearität festlegt. Als letzte Variante (IV) identifiziert Groddeck: „Aber Erfindungen gehn, wo Einfälle das Haus hat“. Das die Erfindungen in den vorangehenden Varianten begleitende statische „sind“ („Aber Erfindungen [auch] sind [. . . ]“) wird dynamisiert zu „gehn“. Am Ende der Entwicklung steht mithin nicht neu verfügbare Präsenz eines Sinns, sondern dessen Wegcharakter. Er stellt sich nur dann ein, wenn ein bestimmter Weg (durch die Varianten des Textes) zurückgelegt wird. Dabei löst sich nicht alles in ein unbestimmtes Spiel von Verweisen auf. Von der Sphäre des Hauses wird nun das Haben von Einfällen ausgesagt – freilich in einem Gliedsatz, der es in Schwebe hält: „wo Einfälle das Haus hat“. Die Dynamik des Gehens der immer neu zu findenden Erfindungen und das Statische des Habens der Einfälle, welche der Sphäre des Hauses entspringen können, bilden eine Spannung, welche der Vers in seiner letzten Variante zu balancieren vermag. Wie sehr es um die Frage nach der Eröffnung eines neuen Sinns geht, zeigt der zweite Vers des Distichons (V. 102), an dessen Ende, beginnend mit der ersten Bearbeitung, das Wort „Sinn“ zu stehen kommt, von dem ausgesagt wird, dass er sich als je bestimmter („eigner“) gäbe. Die Varianten zeigen jedoch, wie unsicher seine Bestimmung ist: Die adjektivische Kennzeichnung als heimlich, zärtlich oder feinlich am Beginn des Verses in den Varianten I–III sowie die Kennzeichnung als höherer, zärtlicher, geheimerer gegen Ende des Verses in der vierten Variante weisen auf das Ringen darum hin, wie man der Fragilität des Sinns noch eine Sprache geben könne. Alle Wendungen suchen das Subtile des Sich-jedem-Zugriff-Entziehens auszusagen. Erst aus der Zusammenschau der Varianten kann die umkreisende Bewegung der Suche nach einer adäquaten Sprache dafür sichtbar werden. Aus der

66

Vgl. dazu Hölderlins Gedicht „Am Quell der Donau . . . “, V. 29–32.

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Gabe des Sinns wird in der letzten Variante schließlich die Armut des Geistes,67 was keine Verkehrung ins Gegenteil, sondern eher einen Perspektivenwechsel anzeigt. Nicht mehr von der Gabe, auf die nicht selten Formen der Vereinnahmung folgen, sondern von der Bedürftigkeit her wird die Frage nach Sinn gedacht. Letzterer erscheint in der vierten Variante nicht mehr in einen vollständigen Satz („Heimlich / zärtlich / feinlich wie sichs giebet eignen Sinn“) integriert, sondern wird erratisch lediglich in einem Nominalsatz ausgesagt, der zusätzlich noch durch den Wegfall des Artikels „Ein“ verknappt wird: „Ein höherer Sinn“ – „Ein zärtlicher Sinn“ – „Geheimerer Sinn“. Ein tastendes Suchen umgibt die Rede von Sinn, wobei die Wendung „höherer Sinn“ an die Bestimmung der „höhere[n] Aufklärung“68 aus dem „Fragment philosophischer Briefe“ erinnert, welche Aufklärung und Religion miteinander zu vermitteln gedenkt. Der „zärtliche Sinn“ lässt an die ebenfalls dort begegnende Rede von den „zarten Verhältnisse[n]“69 denken, welche Hölderlin mit jenem Weltumgang, für den die Religion steht, sowie mit einem Denken der Sphäre in Verbindung bringt. In der Wendung „Geheimerer Sinn“ zieht schließlich der sonderbare Komparativ – wie sollte das Wort „geheim“ gesteigert werden? – die Aufmerksamkeit vom Sinn weg auf das Geheime und lässt damit den Sinn aus unseren Versuchen des Festhalten-Wollens ein Stück weit frei. Die zweiteilige Struktur des Verses bleibt lose erhalten, die beiden Glieder des Satzes lassen sich in analoger Weise aufeinander beziehen: Spricht der erste Teil von Affektivität, so der zweite von der Sprache bzw. dem Sinn. Oder im Übergang von der einen zur anderen Version gelesen: Der affektive Raum der schlagenden Herzen erscheint nun als bedürftig offen, mit dem Zurückbleiben der Rede verbindet sich ein geheimerer Sinn: Herzen schlagen || und doch bleibet die Rede zurük? Hehlings, Arm ist der Geist Deutscher. || Geheimerer Sinn.

3) Die Wendung „heilige Namen“ wird schon in der ersten Überarbeitungsphase „ersetzt“, womit auch das Fehlen der heiligen Namen unsichtbar zu werden droht. Im Vorgang der Bearbeitung vollzieht sich mithin ihr Verschwinden auch aus dem Text, in welchem sie – trotz oder gerade wegen ihres Fehlens – das Gravitationszentrum bildeten. Eine Lektüre, die sich im Zwischen der Varianten zu halten versucht, möchte verhindern, dass an die Stelle des Fehlens das positivierte Nichts tritt, welches die Erinnerung an die heiligen Namen gänzlich getilgt hätte. Darüber hinaus zeigt sich jedoch, dass die im Prozess der Überarbeitung entschwundenen heiligen Namen mit einer Verzögerung an anderer Stelle im Homburger Folioheft wiederkehren, und zwar auf Seite 70. Diese enthält mehrere kurze Segmente, die zum Teil ineinandergeschoben sind und sich nicht klar voneinander abgrenzen lassen, obwohl auf der Seite genügend Raum für deren klare Trennung bestanden hätte. Auf diese Weise entsteht ein Textgeflecht, das in seiner handschriftlichen Fassung 67

Vgl. Mt 5,3. TS 14. 69 TS 13 und 14. 68

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eine gewisse Schönheit entfaltet.70 Das Segment,71 in welchem die heiligen Namen auftreten, gehört zu den zwei umfangreichsten auf der Seite und kann – aus seinem Kontext herausgelöst – wie folgt wiedergegeben werden: wir aber singen Den Schiksaalshügel, nemlich die Berge Des Frankenlandes, und die Wartburg Schon blühen

daselbst

heilige Nahmen, o Gesang, aber Den Bußort Von Deutschland nennest du ihn;

Das Segment zieht sich beinahe über den gesamten beschriebenen Teil der Seite und ist als einziges in alle anderen verwoben, bildet somit in gewisser Weise deren Mitte. Trotz offensichtlicher Unvollständigkeit lässt sich der Text in einer durchgängigen Weise lesen. Die wieder auftauchenden heiligen Namen bleiben in einem sinnvollen Duktus lesbar, wenn auch nicht mehr ungebrochen und im Vordergrund stehend. Ihre Geschichte, in welche nun die von anderen Segmenten erzählte hineinverwoben ist, lässt sich nicht mehr als einstimmige und eindeutige lesen, sondern ist Gegenstand einer je neuen Re-Konstruktion des Zusammens der einzelnen Geschichten. Das Umfeld der Seite 70 lässt diese als eine freie und lose Wiederholung von Motiven der Elegie „Heimkunft“ interpretieren. Auf den Seiten 68 und 69 findet sich je einmal das Wort „Saitenspiel“,72 welches in den Schlusspassagen von „Heimkunft“ den Verlust der heiligen Namen vor dem gänzlichen Verschwinden ins Nichts bewahrt. Programmatisch und wie in Wiederaufnahme des Saitenspiels heißt es am Beginn des untersuchten Segments „wir aber singen“, was auf der gegenüberliegenden Seite 71 in Variation wiederholt wird: „Wir singen aber“.73 Die Gemeinschaft des Gesangs, die im „wir“ ausgedrückt ist, lässt an die Gemeinschaft der Verwandten aus der Elegie denken. In inhaltlicher Hinsicht kann in allen Fragmenten auf Seite 70 ein Neuaufbruch gesehen werden, der eine religiöse Dimension hat. In jenem Segment, dem auch die heiligen Namen angehören, findet sich ein Verweis auf die Reformation: „und die Wartburg“. Sie ist jener Ort, an welchem Luther die Bibel in deutsche Sprache 70 Vgl. Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen (Anm. 44), 149–154, wo ich versucht habe, die Seite 70 des Homburger Folioheftes ausführlicher zu interpretieren. 71 Vgl. FHA, Homburger Folioheft, 307/70; StA II,1, 327 (Bruchstück 46). 72 FHA, Homburger Folioheft, 307/68 f. 73 FHA, Homburger Folioheft, 307/71.

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übertrug und damit für viele Menschen neu ein „Wohnen“ im biblischen Narrativ ermöglichte. Die Wendung „aber / den Bußort / Von Deutschland nennest du ihn“ imaginiert einen Ort der Umkehr und damit des geschenkten Neubeginns. Mit Hinblick auf eine Erwähnung von „Heinrichs / Alpenübergang“74 im Entwurf zum Gedicht „Kolomb“ (Columbus) auf Seite 77 kann wohl der Gang nach Canossa als Hintergrund jener Passage angesehen werden. Die Wendung „Schon blühen daselbst / heilige Nahmen, o Gesang“ kann mit einem Neuanfang nach einer Zeit des Winters in Verbindung gebracht werden. Die zuvor aus dem Text entschwundenen fehlenden heiligen Namen kehren als aufblühende leise wieder in den Gesang zurück.

III Conclusio Die Verhältnisbestimmung von Religion und Dichtung, wie sie dieser Beitrag in enger Anlehnung an Hölderlin zu entwickeln sucht, stellte wohl schon um 1800 kein allgemein gültiges Modell dar, noch weniger kann sie heute als ein solches fungieren. Ihre Eckpunkte können jedoch zur Formulierung von Fragen führen, mittels derer sich die je spezifische Weise, wie sich die Beziehung von Religion und Literatur in bestimmten Kontexten gestaltet, näher in den Blick nehmen lässt. 1) In seinen philosophischen Schriften sucht Hölderlin eine Überwindung von wirkmächtigen Dichotomien zu geben, ohne deren jeweilige Pole aufzulösen. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Aussage zu sehen, er wolle ausgehend von der Philosophie auf Religion und Poesie kommen. War Hölderlin vom Anspruch geleitet, ihre innere, konzeptuelle Verwiesenheit aufeinander herauszuarbeiten, so scheint es, als ob in aktuellen Betrachtungen die Frage danach nicht mehr gestellt werden kann, weil das (berechtigte) Anliegen ihrer Autonomie im Vordergrund steht. Zumeist wird dann von zwei bestehenden, fixierten Polen, der Literatur und der Religion, ausgegangen, um nach Wegen zu suchen, wie sie nachträglich in einen Zusammenhang gebracht werden können. Dieser Zugang hat seine volle Berechtigung, dennoch darf das Fragen nach ihrer konzeptuellen Verwiesenheit aufeinander nicht prinzipiell abgebrochen werden, bevor man nicht zu Formen ihrer Vermittlung gelangt. Könnte die Erinnerung an Hölderlin davor bewahren, letztlich von einem Bild der Wirklichkeit auszugehen, welches die Anstrengung hinter sich gelassen hat, nach dem Zusammenhang der in ihr sich autonom entwickelnden Bereiche (in diesem Fall Literatur und Religion) zu fragen? 2) Hölderlin führt Religion und Poesie nicht (metaphysisch) auf ein gemeinsames Ursprungsprinzip zurück, sondern vermittelt sie über eine ästhetische Perspektive. Dies bedeutet, dass es in Religion und Literatur nicht in erster Linie um Gegenstandserkenntnis oder Moralität geht. Sie dienen nicht primär dazu, die Welt, wie sie ist, zu erkennen oder unser Verhalten in ihr zu regeln, sondern haben mit jener Weise zu tun, wie die Vorstellungen und Bilder der Welt uns affizieren, und damit, was dies in uns auslöst. Darin eröffnet sich ein vielfältiger Raum der In74

FHA, Homburger Folioheft, 307/77.

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teraktion, der nicht unter der Schirmherrschaft der begrifflichen Bestimmung der Gegenstandswelt oder aber des richtigen Verhaltens in ihr steht. Wo Religion und Literatur mit dem Anspruch der Erklärung der Welt, wie sie ist, oder aber der Anweisung, wie in dieser Welt zu leben sei, auftreten, laufen sie Gefahr, sich um das ihnen eigene Potential zu bringen und in unproduktive Auseinandersetzungen mit anderen Erkenntnisformen der Wirklichkeit (Naturwissenschaften etc.) zu treten. Nicht die Welt in ihrer faktischen Gegenwart ist ihr primäres Thema, sondern deren Öffnung auf neue unableitbare Möglichkeiten. Könnten Religion und Literatur, wenn sie dieses ästhetisch-utopische Verständnis nicht ganz vergessen, erkennen, dass sie hinsichtlich der Frage, wie eine sich immer mehr in bloßer Immanenz verschließende Welt auf neue Möglichkeiten aufgebrochen werden kann, ein gemeinsames Anliegen haben? 3) Jene Eröffnung der Welt, wie sie ist, hin auf neue Möglichkeiten fasst Hölderlin mittels des Begriffs der Wiederholung bzw. der freien Kunstnachahmung. Religion und Literatur, die sich von daher verstehen, haben nichts mit Fiktion als beliebiger Erfindung zu tun. Als Wiederholung der Wirklichkeit bleiben sie auf diese verwiesen, durchbrechen aber einen Primat der Wirklichkeit, welcher diese eingefügt in eine Notwendigkeit sieht – wobei diese Notwendigkeit, kausal determiniert, von einem fixierten Bild der Wirklichkeit zum nächsten fortschreitet. Entgegen einem bloß instrumentellen Verständnis, welches Wirklichkeit in eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen denkt, bewahren sie ein Bewusstsein von Zweck, Ziel, Utopie, Möglichkeit, Ambivalenz, Übergang, Schwelle, dem SichEntziehenden und dem Unscheinbaren sowie von der Vielfältigkeit der Mittel und Wendungen.75 4) Hölderlin zufolge sind ein Primat der Möglichkeit und der Gestus der freien Wiederholung nicht in einem S-O-Verhältnis zu denken, welches Welt als bearbeitbare und moralisch unmittelbar beurteilbare (verurteilbare) ansieht. Der zweistelligen Relation, deren Ziel immer Eindeutigkeit ist, stellt er den Gedanken der Sphäre gegenüber, welche einen offenen Raum intersubjektiven, geschichtlich-sprachlichen Weltverhältnisses darstellt. Die Gegenstände oder besser Komponenten dieser Sphäre, in welche auch der Mensch eingefügt ist, sind in einer lebendigen Beziehung miteinander vermittelt, welche nicht unter dem Geltungsanspruch der Beherrschung des anderen steht. In deutlichster Weise kann ein Denken der Sphäre für Hölderlin in der Religion sichtbar werden. Literatur und Kunst, welche sich als freie, wiederholende Kunstnachahmung der Wirklichkeit verstehen und also mit einem Denken der Sphäre, nicht jedoch der Beherrschung von Objekten zu tun haben, bleiben damit in einer losen Weise an Religion gebunden. Sie müssen nicht religiös werden, kommen aber an der Frage einer offenen Verhältnisbestimmung zur Religion nicht vorbei. Diese kann sich auf einzelne Wer75

Hans-Dieter Bahr unterscheidet die offenen Möglichkeiten, welche in den Begriffen „Mittel“ und „Wendung“ angelegt sind, von ihrer determinierenden Fixierung auf eine eindeutige VerWendung. Vgl. Hans-Dieter Bahr: Die Fraglichkeit der Technik oder Das Ge-rät. In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 3/1 (2016), 3–25. https://doi.org/10.1515/zksp-20160002.

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ke in ihrer Singularität beziehen, auf das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin als Ganzes oder aber auf die spezifische Kunst einer bestimmten Zeit. 5) Religion, welche besonders mit dem Motiv der Sphäre und damit mit einem bestimmten (nicht instrumentellen) Weltumgang verbunden ist, hat Hölderlin zufolge eine hohe verbindende Kraft und kann eine Balance widerstrebender Motive gewährleisten. Sie steht jedoch in der Gefahr, diese Vermittlung in bestimmten Formen zu fixieren, womit sie ihre verbindende Kraft verliert. Vielmehr muss jene Balance in der Religion je neu eine kontingente Ausgestaltung finden. Den Ausdruck dafür kann sie aber nicht aus sich selbst erzeugen. Sie ist auf das geschichtliche, gesellschaftliche und sprachliche Umfeld der Kunst verwiesen. Was genuiner Ausdruck der Religion wird, ist freie Wiederholung des Ausdrucks der Kunst (Literatur, bildende Kunst, Musik, Architektur . . . ). Religion kommt damit nicht um die Frage herum, wie sie zur Kunst steht – und zwar zur Kunst vergangener Epochen wie auch zu der der Gegenwart. 6) In den Motiven der Wiederholung und der freien Kunstnachahmung, im Primat der Möglichkeit sowie im ästhetischen Raum des Affiziert-Werdens des Subjektes, von denen ausgehend Religion und Literatur in diesem Beitrag bedacht wurden, liegt so viel an anarchischem Potential, dass die Frage nach der inneren, konzeptuellen Verwiesenheit von Religion und Literatur, die ich für unentbehrlich halte, nicht in eine abschließende Feststellung und Wesensbestimmung ihres Verhältnisses gebracht werden kann. Die philosophische Reflexion selbst weist an diesem Punkt über sich hinaus auf die Notwendigkeit, sich konkret auf Werke der Kunst sowie auf Praktiken und Narrationen der Religion einzulassen, an denen jenes Verhältnis weiter diskutiert werden kann.

Theologie und Literatur. (Zwischen-)Bilanz der „Tübinger Schule“ Georg Langenhorst

Der Diskurs um Religion/Theologie auf der einen, Literatur/Literaturwissenschaft auf der anderen Seite erlebt derzeit eine neue Blüte. Das von Daniel Weidner 2016 herausgegebene Handbuch Literatur und Religion1 markiert einen eindrucksvollen Beleg für den religious turn sowohl in der Literatur als auch in den Literaturwissenschaften. Neue Bände, seien es die einzelner Autoren zum Themenfeld wie in Literatur und Religion in der Moderne2 (2016) von Wolfgang Braungart oder breit gestreute Zugänge einer Vielzahl von Autor*innen wie in Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert3 (2015) oder Religion und Literatur. Konvergenzen und Divergenzen4 (2017), dokumentieren eindrücklich die Vitalität des interdisziplinären Spannungsfeldes. Hinzu tritt beispielsweise die inzwischen vierbändige Reihe über die Quellen und Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des modernen Katholizismus,5 die eine Spezialfrage innerhalb des breit gespannten Themenfeldes beleuchtet. Auffällig: All diese Arbeiten werden vor allem von Literaturwissenschaftler*innen konzipiert und verantwortet. 2005 konnte meine erste Zwischenbilanzierung zur Wechselbeziehung von „Theologie und Literatur“ noch mit Fug und Recht konstatieren: „Das Interesse der beteiligten Theologen ist ungleich intensiver 1

Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016. Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. Paderborn 2016. Vgl. auch Michael Braun: Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2018. 3 Tim Lörke/Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Göttingen 2015. 4 Richard Faber/Almut-Barbara Renger (Hg.): Religion und Literatur. Konvergenzen und Differenzen. Würzburg 2017. 5 Vgl. zuletzt: Walter Hömberg/Thomas Pittrof (Hg.): Katholische Publizistik im 20. Jahrhundert. Positionen, Probleme, Profile. Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2014; Thomas Pittrof (Hg.): Carl Muth und das Hochland (1903–1941). Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2018. 2

G. Langenhorst () Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_4

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als das der Literaturwissenschaftler.“6 Dieser Befund gilt heute nicht mehr. Auch wenn es nach wie vor ein vitales Interesse von Seiten der Theologie gibt, haben die Literaturwissenschaftler*innen das Steuerruder der interdisziplinären Arbeit übernommen. Nicht zuletzt die mit dem vorliegenden Buch aufgenommene Reihe Studien zu Literatur und Religion bestätigt diese Entwicklung nachdrücklich. Auch innerhalb der theologischen Zugänge zeichnen sich Verschiebungen ab. Die innovative Einrichtung der von Jan-Heiner Tück hauptverantworteten Wiener „Poetikdozentur Literatur und Religion“7 verschafft nicht nur Literaten einen bislang einzigartigen Hörraum im Reich der Theologie, sie befördert auch auf ihre Weise den hermeneutischen Diskurs. Genügend aktuelle Entwicklungen also, um fünfzig Jahre „Theologie und Literatur“ Revue passieren zu lassen! Dabei werden die hermeneutischen und methodischen Linien nachgezeichnet, die das Interesse der Theologie an Literatur und Literaturwissenschaft konturieren. Nicht um eine lückenlose Erfassung kann es dabei gehen, sondern um Hauptlinien, die bewusst der theologischen Perspektive entstammen und von ihr aus entfaltet werden. Sie laden zu Gegenperspektiven und Ergänzungen ein. Die somit aufgerufenen theologisch-literarischen Studien münden in den 1980er Jahren in einen Schwerpunkt, der sich an der Universität Tübingen bildet. In augenzwinkernder Anlehnung an die „Tübinger Schule“8 des 19. Jahrhunderts soll diese Bewegung als theologisch-literarische „Tübinger Schule“ bezeichnet werden. Damit ist weder intendiert, alle beteiligten oder assoziierten Forscher*innen in ein gemeinsames hermeneutisches Korsett zu pressen, noch lassen sich so sämtliche Beiträge zu Theologie und Literatur dieser Zeit auch nur annähernd erfassen. Gleichwohl lässt sich ein Zwischenstand von Zugängen und Verfahren bündeln. Wie es zu dieser „Tübinger Schule“ kommt, welche Wegmarken den dort entwickelten theologisch-literarischen Forschungen vorausgehen, was die Zugänge auszeichnet: Diese Fragen stehen im Zentrum dieses Beitrags. Er endet mit einem prognostischen Ausblick auf künftige Entfaltungen.

I Theologie und Literatur im Zeichen der Vormoderne Die Rede von zwei eigenständigen, klar voneinander abgegrenzten Bereichen von „Religion“ auf der einen, „Literatur“ auf der anderen Seite ist im europäischen Kontext alles andere als selbstverständlich. Mit aller Vorsicht – und im Bewusstsein von notwendiger Binnendifferenzierung – kann man doch sagen, dass diese Größen im 6

Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt 2005, 11. Zur Weiterführung vgl. ders.: Theologie und Literatur: Aktuelle Tendenzen. In: Theologische Revue 109 (2013), 355–372. 7 Vgl. Jan-Heiner Tück/Tobias Mayer (Hg.): Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion. Freiburg i.Br. 2017. https://dg-ktf.univie.ac.at/poetikdozentur/ (22.9.2018). 8 Diese Bezeichnung bezieht sich auf evangelische wie katholische Theologen der Universität Tübingen, die im 19. Jahrhundert Methoden der Geschichtswissenschaften auf die Bibelforschung übertrugen.

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Kontext der Vormoderne zusammengehörten oder zumindest eng aufeinander verwiesen waren. Die Loslösung der Kultur aus dem Bereich des Christentums vollzog sich in fortschreitenden Entwicklungsschüben seit dem 17. Jahrhundert. Mehr und mehr kam es erst jetzt zu einem „autonomen“ Kunst- und Literaturverständnis, das sich mit der zunehmenden Säkularisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts endgültig durchsetzte. Autonomie bedeutet freilich keineswegs Beziehungslosigkeit. Im Gegenteil, erst seitdem die Einheit von Volksreligion(en) und literarischem Schaffen zerbrochen ist, werden eigenständige, produktive und herausfordernde Auseinandersetzungen mit der christlichen Tradition im Bereich von Literatur möglich. Ging es zuvor vor allem um Ausschmückung, Bebilderung und Bestätigung der religiösen Vorgaben, so entsteht nun ein Spannungsverhältnis, das für beide Seiten bereichernd ist: für die Theologie, weil sie sich immer wieder überprüfen und weiterentwickeln kann durch die Spiegelungen und Provokationen der Literatur; für die Literatur, weil sie Auseinandersetzungen mit den traditionellen Religionen, mit religiösen Erfahrungen und theologischen Reflexionen immer wieder künstlerisch fruchtbar machen kann. Das erste theoretische Nachdenken über dieses neu entstandene Spannungsverhältnis im deutschsprachigen Raum erfolgte im Rahmen der Besinnung auf die „christliche Literatur“ – ein Begriff, der erst jetzt als Abgrenzung gegen „säkulare Literatur“ sinnvoll wurde. Erstmals tauchte der Begriff bei dem Romantiker August Wilhelm Schlegel (1767–1845) auf, der zusammen mit Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano, Annette von Droste-Hülshoff und anderen einen – vergeblichen – Versuch der Wiederherstellung der zerbrochenen Einheit von Literatur und Religion anstrebte. Die Rede von „christlicher Literatur“ war also eine direkte Reaktion auf die Säkularisierung und trägt zunächst einen bewahrenden, recht verstanden „konservativen“ Grundzug. Über Jahrzehnte konnten Begriff und Konzept einer „christlichen Literatur“ ohne genaue Definition und ohne allzu großen Erkenntnisgewinn verwendet werden. Im 1978 erschienenen Lexikon der christlichen Weltliteratur schlägt der Germanist Gisbert Kranz die folgende Begriffsbestimmung vor: „Christliche Literatur ist Schrifttum, gleich welcher Gattung und welcher Thematik, das aus christlichem Verständnis von Gott, Mensch und Welt entstanden ist und ohne Berücksichtigung dieses christlichen Verständnisses nicht adäquat interpretiert werden kann.“9 Warum aber interessierten sich Theolog*innen überhaupt für „christliche Literatur“? Welche Motivationen und Interessen lassen sich aus heutiger Sicht erkennen? Aufschlussreich, dass die zeitgenössischen literarischen Zeugen, die bis in die 1950er Jahre hinein theologisch aufgerufen wurden, fast ausnahmslos Autor*innen des renouveau catholique waren, also jener internationalen Bewegung, die sich bewusst einer katholischen Weltsicht und Ästhetik verschrieb. Schon die Bezeichnung „re-nouveau“ verdeutlicht das konservative Moment. Bei aller erneut notwendigen

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Gisbert Kranz (Hg.): Lexikon der christlichen Weltliteratur. Freiburg i.Br. 1978, 4.

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Binnendifferenzierung10 im Blick auf sehr unterschiedliche Biographien, Stile, Intentionen und Werke: Diese Bewegung verweigerte sich bewusst der Moderne. Als Reaktion auf die Krisen und Erschütterungen der Moderne wurde die Rückkehr zu den Weltbildern einer geschlossenen Wirklichkeitssicht propagiert: religiös, christlich, konfessionell, ästhetisch. Wie also ging man bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts theologisch mit Dichtung um? Im Rückblick lassen sich einige Grundlinien11 erkennen: 1. Theologische Literaturdeutung konzentrierte sich fast ausschließlich auf den vertrauten Bereich der christlichen Literatur, die weder formal noch inhaltlich als herausfordernder Partner fungierte, sondern eher als ideologische Selbstbestätigung und ästhetische Bereicherung. 2. In Form und Inhalt blieb diese Dichtung der Welt der Vormoderne verpflichtet, dem Festhalten an einem geschlossenen christlichen Weltbild vor aller Säkularisierung. Dazu zählt die Verweigerung der Aufnahme zeitgenössischer Entwicklungen und Erschütterungen. 3. Im Zentrum stand weniger das literarische Werk als die stilisiert-idealisierte Person des „christlichen Dichters“ oder des „Geistes“, der sein Werk prägt. Philologisch-analysierende Textdeutungen blieben die Ausnahme. Drei große Entwürfe des 20. Jahrhunderts sprengen diese Festlegungen auf. Ausgehend von ihnen lässt sich die Entwicklung hin zu dem eigenständigen theologischliterarischen Forschungsfeld der „Tübinger Schule“ aufzeigen.

II Dichter als „Propheten“ unserer Zeit: Romano Guardini Romano Guardini12 (1885–1968) hatte immer schon die Berufung zum Theologen mit der Neigung zu Literatur, den Künsten und der Philosophie verbunden. Neben kleineren Arbeiten etwa über Dante, Goethe, Shakespeare, Raabe oder Mörike entstehen im Laufe der Jahre drei große Monographien über prägende Dichter und ihr Werk: über Dostojewski (1932), Hölderlin (1939) und schließlich über Rilke (1953). Warum aber wendet sich Guardini der Literatur zu? Und was fasziniert ihn gerade an den von ihm intensiv gelesenen und gedeuteten Autoren? Für ihn, den bestens mit den großen philosophischen Entwürfen vertrauten systematischen Theologen stand fest: Das „Wort der Dichtung“ macht „das Ding, das Erlebnis, das Schick-

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Vgl. Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2008. 11 Ausführlich in: Georg Langenhorst (Hg.): Christliche Literatur für unsere Zeit. 50 Leseempfehlungen. München 2007. 12 Vgl. Georg Langenhorst: Romano Guardini und die Literatur. In: Stimmen der Zeit 229 (2011), 690–700.

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sal dichter und klarer zugleich“.13 Konkreter: Gerade im Gedicht richtet sich „ein Blick von besonderer Art auf das Dasein“, „tiefer dringend als der Blick des Alltags, und lebendiger als der des Philosophen“. Unverkennbar, dass „die Worte, in denen sich das Geschaute offenbart, größere Kraft haben, als jene des Umgangs, und ursprünglicher sind, als die Sprache des Intellektuellen“.14 Zwei Motivbündel sind es vor allem, die Guardinis Hinwendung zur Literatur beleuchten. In seiner epochalen Schrift Das Ende der Neuzeit (1950) formulierte er seine grundlegende Kritik am rationalistisch-technologischen Zweckdenken der Moderne, die nicht zufällig in die Katastrophen der Weltkriege und der Nazidiktatur hineingesteuert sei. Guardini ging es in seinem gesamten Schaffen zentral darum, in diese Zeitströmung hinein die geistig-geistliche Kraft des Christentums als Alternative zu setzen. Der Verweis auf die großen dichterisch-religiösen Geister der Geschichte hilft ihm zur Ausgestaltung eines solchen Gegenprofils. Dabei kommt es Guardini nicht primär darauf an, explizit christliche Zeugnisse vorzulegen. Die von ihm aufgerufenen Schriftsteller – tatsächlich ausschließlich Männer! – verbindet er vielmehr in der Kategorie der „Seher“, er spürt bei ihnen die Begabung zum visionären Propheten. Das also macht seine Schriftsteller zu religiösen Zeugen: die Fähigkeit, hellsichtiger, tiefer, klarer als andere die Wahrheit zu sehen und zu benennen. So etwa führt er Hölderlin ein: Sein Werk gehe nicht wie bei anderen aus der ästhetischen Energie des Künstlers hervor, die sich durch die „Echtheit des Erlebnisses, die Reinheit des Auges, die Kraft der Formung und der Genauigkeit bestimmt“. Bei Hölderlin stamme das Besondere vielmehr „aus der Schau und Erschütterung des Sehers“. Der Ursprung seines Schaffens „liegt um eine ganze Ordnung weiter nach innen oder nach oben“, so dass es „im Dienst eines Anrufs“ stehe, dem sich zu entziehen bedeuten würde, „einer das individuelle Sein und Wollen überschreitenden Macht zu widerstehen“. In Hölderlins Werk begegne dem Leser also nicht nur die Stimme eines genialen Menschen, sondern in der Stimme dieses „Sehers und Rufers“ wird eine göttliche Stimme hörbar. Guardini charakterisiert den Dichter als Propheten und kann so konsequent folgern: Diese Dichtungen zeichnen sich durch den „Charakter der ‚Offenbarung‘“ aus, selbst wenn er einschränkend hinzufügt: „das Wort in einem allgemeinen Sinn genommen“.15 Was Guardini über Hölderlin explizit ausführt, prägt seine Autorenwahl und Textdeutung grundsätzlich. Bei Dostojewski reizt ihn die Möglichkeit, die religiöse Ergriffenheit der herausragenden Figuren in dessen Romanwerk aufzuzeigen. Diese Menschen seien „in besonderer Weise dem Schicksal und den religiösen Mächten ausgesetzt“.16 Die seherische Kraft des Schriftstellers gestaltet die Konstellationen 13

Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. München 1953, 421. 14 Romano Guardini: Gegenwart und Geheimnis. Eine Auslegung von fünf Gedichten Eduard Mörikes [1957]. In: Ders.: Sprache – Dichtung – Deutung. Gegenwart und Geheimnis. Mainz/ Paderborn 1992, 153–230, hier 154. 15 Alle: Romano Guardini: Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939, 11 f. 16 Romano Guardini: Der Mensch und der Glaube. Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskis großen Romanen. Leipzig 1932, 11.

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zur Erleuchtung der menschlichen Seele allgemein. Sucher interessieren Guardini, verstörte und verstörende Grenzgänger, in sich Gefährdete und zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Erwartungen Zerrissene. Sie sind ihm seelenverwandte Zeugen des von ihm proklamierten „Endes der Neuzeit“. An ihnen, mit ihnen muss sich eine neue Spiritualität, ein neues tragfähiges Weltbild bewähren. Deshalb auch die Hinwendung zu Rilke, dem „vielleicht differenziertesten deutschen Dichter der endenden Neuzeit“,17 so Guardini. Mit keinem anderen Werk hat Guardini so sehr gerungen wie mit dem Rilkes, bei keinem anderen so sehr geschwankt zwischen Faszination und Ablehnung. Dieser sei – wie Hölderlin – „medial veranlagt“18 gewesen, habe sich ebenso „in der Situation des Sehers“ verstanden, „überzeugt, eine Botschaft auszusprechen, die ihm aus einem Ursprung heraus ‚diktiert‘ worden sei, der wohl nicht anders als religiös genannt werden“19 könne. Rilke sah sich – so Guardini – als „Propheten, der Organ ist; der weitergibt, was göttliche Stimme durch ihn spricht, und selbst, als Mensch, seinem eigenen Wort in der Haltung des Hörenden und langsam Eindringenden gegenübersteht“.20 Dass dieses Religiöse ausdrücklich auch solche Formen und Aussagen annehme, die im „Widerspruch zum Christlichen“21 stehen, gehört zur Provokation dieses Entwurfs. Auffällig: Romano Guardini kannte zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller seiner Zeit. Mit vielen war er befreundet, viele lud er zu Lesungen ein, las ihre Werke, tauschte mit ihnen Briefe aus. An keiner Stelle aber hat er Werke der für ihn zeitgenössischen Literatur interpretiert. Eine signifikante, sicherlich bewusst strategische Zurückhaltung! Seine Auseinandersetzung mit Literatur setzte offensichtlich die Vorlage von abgeschlossenen Lebenswerken voraus. Er wollte seine Deutungen nicht von persönlicher Bekanntschaft oder durch freundschaftliche Verpflichtung trüben lassen. Texte und ihre geistigen Welten interessierten Guardini theologisch konzeptionell, nicht Schriftstellerinnen oder Schriftsteller als Zeugen der Gegenwart. Wir werden sehen: ein signifikanter Unterschied zu allen aktuellen theologisch-literarischen Zugängen! Wie sehr Guardini an einer sehr persönlichen Aneignung und spirituellen Deutung von literarischen Entwürfen gelegen ist, wird an dem von ihm gewählten Verfahren deutlich. „Ich war bemüht, in möglichst enge Fühlung mit den Texten selbst zu kommen“,22 schreibt er repräsentativ im Vorwort zum Hölderlin-Buch. Es geht ihm nicht um eine Auseinandersetzung mit Literatur im philologischen Sinne, sondern bewusst um seine ganz individuelle Lesart. So kokettiert er fast schon damit, selbst zentrale Werke der literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur bewusst nicht gelesen zu haben, nimmt für sich das Recht in Anspruch, diese „Literatur auf

17

Guardini, Rilke (Anm. 13), 13. Ebd., 14. 19 Ebd., 19. 20 Ebd., 20. 21 Ebd., 21. 22 Guardini, Hölderlin (Anm. 15). 18

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jenes Mindestmaß beschränken zu dürfen, das nötig war, um über die Tatsachen unterrichtet zu sein“.23 So sympathisch der Grundzug einer möglichst engen und ganz persönlichen Auseinandersetzung mit den Urtexten selbst scheinen mag, diese Entscheidung zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Zunächst in ihrer Bindung an den eigenen Kontext: Wolfgang Frühwald resümiert im Blick auf die Literaturdeutungen Guardinis: Sie seien „stark ihrer Zeit [. . . ] verhaftet und damit (teilweise) unlesbar geworden“.24 Mit seinem „existenzphilosophischen Vokabular“ habe Guardini „in Kauf genommen, rasch zu veralten“.25 Dieses Urteil ist seinerseits zu pauschal. Man kann ihm entgegenhalten, dass diese Deutungen nach wie vor durchaus lesenswerte, auch aktualitätsüberdauernde Interpretationen sind. Eindeutig steht freilich fest, dass ihre wissenschaftliche Anschlussfähigkeit gering bleibt.

III Rückzug in die Geschlossenheit der Vormoderne: Hans Urs von Balthasar Dieses Schicksal wird auch dem imposanten Gesamtwerk Hans Urs von Balthasars (1905–1988) zuteil. Warum wendet sich der Schweizer, von Haus aus Germanist, als Theologe den Dichtern zu? Von Balthasar gibt offen an, dass er „bei den großen katholischen Dichtern mehr originales und groß und in freier Landschaft wachsendes Gedankenleben“ finde „als in der engbrüstigen und bei kleiner Kost genügsamen Theologie“26 seiner Zeit, so im Buch über Bernanos. Literatur bietet ihm den Raum zur Entdeckung und Pflege von gedanklicher Freiheit und Größe. Von hier aus wird er den einzigartigen Entwurf einer „theologischen Ästhetik“ vorlegen. „Gedankenleben“ in der Auseinandersetzung mit der Moderne sucht er, bleibt aber interessanterweise fast ausschließlich dem Bereich der christlichen Literatur verhaftet. Und ganz anders als Guardini bezieht sich von Balthasar neben Goethe, Rilke oder Dostojewski vor allem auf gegenwärtige Literatur seiner Zeit. So entstehen Bände oder Werkdeutungen über Paul Claudel, Charles Péguy, Georges Bernanos oder Gerard Manley Hopkins. Als Übersetzer, Herausgeber und Deuter wird er zu einem bis heute zentralen Mittler des renouveau catholique in den deutschen Sprachraum hinein. Aus dem Bereich der deutschen Literatur interessiert ihn ein Autor mehr als jeder andere: Reinhold Schneider. Von Balthasar geht zunächst durchaus ähnlich vor wie Guardini: Obwohl mit literaturwissenschaftlichen Methoden bestens vertraut, deutet von Balthasar Schneiders Werk ausschließlich ideengeschichtlich-inhaltlich. Im Gegensatz zu den meisten anderen Deutungen von „christlicher Literatur“ gibt er ganz transparent an, 23

Ebd. Wolfgang Frühwald: Deutung des Daseins. Romano Guardinis Lektüre der Dichter. In: Franz Henrich (Hg.): Romano Guardini. Christliche Weltanschauung und menschliche Existenz. Regensburg 1999, 115–134, hier 115. 25 Ebd., 117. 26 Hans Urs von Balthasar: Gelebte Kirche – Bernanos. Köln/Olten 1954, 9. 24

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das „Biographische oder die ästhetische Bewertung“27 wegzulassen. Literatur wird bei ihm, so er selbst, „ohne wesentliche Rücksicht auf ihre ästhetischen Qualitäten zu problemgeschichtlichen Untersuchungen herangezogen“.28 Da es allein um die Darstellung des stilisierten Lebens- und Weltentwurfs einer „christlichen Existenz“ in der Zeit geht, ist weder eine biographische noch eine philologisch-ästhetische Auseinandersetzung erforderlich. Ihm, dem ausgebildeten Philologen, geht es vor allem um Geistigkeit, Zeugnis, immer gleiche Figuralität, ewig gültige Typologie – die literarische Form ist dabei letztlich genauso wenig wichtig wie die konkrete Person und ihr Leben. Aus heutiger Sicht ist dieses Verfahren fragwürdig. Die Germanistin Sabine Haupt etwa charakterisiert dieses Verfahren als Variante einer „metaphysisch radikalisierten Form von geistesgeschichtlicher Textinterpretation“.29 Sie erkennt in der verwendeten Hermeneutik eine grundsätzliche „Enthistorisierung und Entrationalisierung der Geistesgeschichte“ mithilfe eines „dezidiert projektiven Verfahrens“.30 Von Balthasar greife wiederholt zur „Entkontextualisierung“31 von Zitaten, um sie so sinnwidrig seinen Gedanken anzupassen. Grundsätzlich „verflacht und verfälscht“ er so „das poetische Potenzial des Textes“,32 weil er dessen ästhetischen Eigenwert ignoriert. Hans Urs von Balthasars Verfahren erwies sich in jedem Fall als ungemein produktiv. Dabei ist es hier völlig unmöglich, die zwölf dickleibigen Bände von Herrlichkeit (1961–1969) und der Theodramatik (1973–1983) auch nur ansatzweise entsprechend zu würdigen. Einzig die Frage kann beleuchtet werden, welche Rolle der Literatur in diesem Entwurf zukommt. Der selbstverständliche Wahrnehmungsrahmen für alle Betrachtungen von Balthasars ist die von ihm entworfene theologischchristliche Weltsicht. In diesen Rahmen wird Literatur hineingenommen, insofern sie Grundprobleme der Beziehung von Gott und Mensch in authentischer Weise zur Sprache bringt. Deshalb interessiert ihn einerseits jene Sparte der Literatur, die in sich selbst bereits die religiöse Dimension explizit anspricht und der Tradition der klassischen christlichen Literatur zugeordnet werden kann, repräsentiert etwa durch Reinhold Schneider, Bernanos oder Claudel. Entscheidend ist also zunächst die inhaltliche Thematik. Daneben gilt von Balthasars Interesse jedoch den großen dramatischen Entwürfen von Shakespeare über Ibsen zu Brecht, Ionesco oder Pirandello. Denn ein entscheidender Anstoß wächst für ihn aus dem Bereich des Literarischen hinaus und wird tatsächlich zum kreativen Anstoß für den Bereich der Theologie. Die Analy27

Hans Urs von Balthasar: Reinhold Schneider. Sein Weg und sein Werk. Köln/Olten 1953, 11. Hans Urs von Balthasar: Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur. Freiburg i.Br./Einsiedeln 1988, 9. 29 Sabine Haupt: Vom Geist zur Seele. Hans Urs von Balthasars theologisierte Geistesgeschichte im Kontext der zeitgenössischen Germanistik und am Beispiel seiner Novalis-Auslegung. In: Barbara Hallensleben/Guido Vergauwen (Hg.): Letzte Haltungen. Hans Urs von Balthasars „Apokalypse der deutschen Seele“ – neu gelesen. Fribourg 2006, 40–62, hier 41. 30 Ebd., 52. 31 Ebd., 55. 32 Ebd., 57. 28

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se des formalen Aufbaus des Dramas in all seinen geschichtlichen Entwicklungen und Entfaltungen von der Antike bis in die Gegenwart liefert ihm die Schlüsselkategorien für eine neue Betrachtung christlicher Heilsgeschichte. Dieses „Kategorialsystem des Dramatischen“33 wird zu einem Kategorialsystem des Theologischen transformiert, ohne dass dies als wirkliche Neuschöpfung verstanden würde: „Es geht gewiss nicht darum, die Theologie in eine neue, ihr bisher fremde Form zu gießen. Sie muss diese Form von sich her fordern, ja sie implizit und an manchen Stellen auch explizit immer schon in sich haben.“34 Die kreative Leistung von Balthasars liegt vor allem darin, die Systematische Theologie mit den neu gewonnenen Kategorien eigenständig auszuformulieren. Balthasar selbst schreibt im Vorwort zur Theodramatik: „Die Welt des Theaters wird uns nicht mehr hergeben als ein Instrumentar, das später, im Theologischen, nur in gründlicher Transposition verwendbar sein wird“.35 Instrumentalisierung von Literatur – sie wird hier offen angesprochen. Der gigantische Entwurf Hans Urs von Balthasars erweist sich so bei aller Fülle der verwendeten Primärtexte und Sekundärliteratur als ein in sich geschlossenes theologisches Denksystem, das die Literatur – abgesehen von formalen Inspirationen und inhaltlichen Bestätigungen von bereits binnentheologisch Gewusstem – nicht braucht. „Dialogisch im Sinne solidarischer Wahrheitsfindung mit nichttheologischen oder nichtchristlichen Zeugnissen ist die Balthasarsche Theologie nicht“, befindet Karl-Josef Kuschel: „Die Ästhetik liefert ihm die Gestalt der Theologie, der kirchlich verfasste Glaube den Gehalt“.36

IV Guardini und von Balthasar: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Eine erste Zwischenbilanz: Was verbindet Hans Urs von Balthasars und Romano Guardinis theologische Literaturdeutung?  Gegen die bis in ihre Zeit hinein vorherrschenden Bestrebungen in der Auseinandersetzung mit der „christlichen Literatur“ geht es beiden unmittelbar um die Texte, weniger um die biographisch ausgeleuchteten und überhöht typisierten Autoren. Beide Theologen legen die literarischen Werke aus und integrieren die ästhetischen Deutungen in die vorgängig theologisch geprägte Weltsicht. Dazu ziehen sie nur peripher biographische, kulturell-kontextuelle oder philologische Sekundärliteratur heran, es geht ihnen um authentische eigene Deutungen.  Drei zentrale Schriftsteller werden von beiden Theologen unabhängig voneinander ausführlich gedeutet: Goethe, Rilke und Dostojewski. 33

Ebd., 116. Ebd., 113. 35 Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Bd. 1: Prolegomena. Einsiedeln 1973, 11. 36 Karl-Josef Kuschel: Theologen und ihre Dichter. Analysen zur Funktion der Literatur bei Rudolf Bultmann und Hans Urs von Balthasar. In: Theologische Quartalschrift 172 (1992), 98–116, hier 112 f. 34

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 Die Literatur liefert beiden Theologen Sprache, Authentizität und Aktualität, die sie bei den zeitgenössischen Theologenkollegen nicht finden. Beide vernehmen bei den großen von ihnen gedeuteten Dichtern eine „prophetische“ Kraft, die freilich nicht im Sinne biblischer Prophetie verstanden wird.  Von Balthasar wie Guardini erkennen klarsichtig den Epochenbruch, den sie selbst erleben und bezeugen. Die religiös bestimmte Vormoderne wird mehr und mehr abgelöst von einer Moderne, die sich nicht nur philosophisch, ökonomisch, soziologisch und politisch definieren lässt, sondern zunehmend das Alltagsleben der Menschen bestimmt. Dieser Wandel stellt das Christentum vor neue Herausforderungen, denen sie sich mit ihren theologischen Entwürfen stellen wollen. So weit die Gemeinsamkeiten. Zentrale Unterschiede:  Während Guardini ganz eng bei der Deutung von Texten bleibt, geht es von Balthasar um die Schärfung eines geistigen Profils, das die Stilisierung der Dichterpersönlichkeit oder der „Dichterseele“ mit einschließt.  Guardini greift ausschließlich auf abgeschlossene Gesamtwerke zurück, von Balthasar betrachtet daneben auch zeitgenössische, noch entstehende literarische Entwürfe. Das Risiko: Ändern Autoren ihre Schreibweise und Schreibinhalte, kommt es bei von Balthasar zu harten Absetzungen und Verwerfungen. Das von ihm konzipierte „geistige Profil“ definiert die Norm, an die sich – so der implizite Maßstab – auch die Schriftsteller halten müssen.37  Für von Balthasar liegt die orientierungsgebende Kraft des Christentums in der Konzentration auf ein bewährtes und a priori vorausgesetztes Glaubenssystem. Dieses muss zwar neu formuliert werden, es handelt sich aber tatsächlich nur um eine Neuformulierung, nicht um eine Neukonzeption. Guardini geht weiter: Ohne schon wirklich dialogisch mit Literatur umzugehen und ihr eben auch Theologiekritik oder sogar Infragestellung von Theologie zuzugestehen, gilt für ihn: Das Christentum muss in einem neuen Paradigma den Mut haben, sich grundsätzlich neu zu definieren. Von Balthasars Theologie bleibt so letztlich vormodern; Guardinis Theologie wagt den Schritt in die offene Suche.  Entsprechend unterschiedlich ist ihre Literaturauswahl: Von Balthasar sucht einerseits Literatur, die das Christentum inhaltlich bestätigt oder zumindest von ihm so gedeutet wird, vor allem Werke des re-nouveau catholique. Andererseits sucht er im Drama formale Anstöße für die erneuerte Formulierung des gleichbleibend feststehenden Inhalts. Guardini hingegen sucht Literatur, die das Christliche verlässt, die von außen die Herausforderungen der Zeit benennt und zugleich in ihrer visionären Kraft aufzunehmen versucht. Seine christlichen Literaturdichtungen ringen mit den Texten formal wie inhaltlich um Neues. 37

Am deutlichsten erkennbar in Hans Urs von Balthasars drastischer Verwerfung des Spätwerks von Reinhold Schneider, dem er unterstellt, nur noch „verworrene Klänge“ zu liefern, für die sich nur „Dekadente“ interessierten. Vgl. Georg Langenhorst: Reinhold Schneider heute lesen? Theologisch-literarische Annäherungen. In: Friedrich Emde/Ralf Schuster (Hg.): Wege zu Reinhold Schneider. Zum 50. Todestag des Dichters. Passau 2008, 1–30.

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Die Entwürfe von Guardini und von Balthasar sind eigenständige, ganz im Katholizismus verankerte Denksysteme, die eng an das jeweilige geistige Denksystem gebunden sind. Beiden Theologen ging es in ihren theologisch-literarischen Werken nicht darum, eine neue Hermeneutik zu entwerfen oder „Schulen“ zu bilden. Tatsächlich hat ihre jeweilige Literaturdeutung bis heute kaum produktive Anregungen zur Weiterführung dieser Ansätze und Entwürfe angeregt. Im Gegenteil: Die Dialogdisziplin von „Theologie und Literatur“ wird sich zum Teil explizit von den damit skizzierten Vorgaben absetzen. Als Kontrastfolie tragen diese beiden Entwürfe so auf ihre Art zur Ausformulierung des sich dann entwickelnden Ansatzes bei.

V Paul Tillich: Korrelation Aus heutiger Sicht lässt sich konstatieren: Guardinis und von Balthasars Literaturdeutungen markieren erste Höhepunkte der eigenständigen Dialogdisziplin „Theologie und Literatur“ im 20. Jahrhundert. Sie lassen die Verengungen und Ausblendungen einer einseitigen Rezeption von explizit „christlicher Literatur“ weit hinter sich. Die hermeneutischen Entwicklungen von „Theologie und Literatur“ seit den 1970er Jahren werden jedoch weder von Guardini noch durch von Balthasar entscheidend geprägt. Sie gehen eher von Paul Tillichs (1886–1965) „Theologie der Kultur“ und dem von ihm geprägten Verfahren der „Korrelation“ aus. Tillichs Impulse stimulieren die entscheidenden hermeneutischen Entfaltungen der Folgejahre. Zahllose Studien, Anthologien, Aufsätze und Essays bis in die Gegenwart schließen sich – explizit oder implizit – an seine Grundlegungen an. Im Konzept der Korrelation gelingt es Tillich, die Beziehung von Kultur und Religion als relational verbunden zu verstehen. Korrelation definiert er dabei wie folgt: „Die Methode der Korrelation erklärt die Inhalte des christlichen Glaubens durch existentielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit.“38 Das zieht einen methodischen Doppelschritt für Theologietreibende nach sich: „Die Theologie formuliert die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen“, und sie formuliert zugleich „die in der göttlichen Selbstbekundung liegenden Antworten in Richtung der Fragen, die in der menschlichen Existenz liegen.“39 Das Problem: Wie gelangt man zu einer Ausformulierung dieser „Fragen, die in der menschlichen Existenz liegen“? Für Tillich war klar, dass auch literarische Werke in diesem Sinne genuine Gegenstände von Theologie sein können. „Die Analyse der menschlichen Situation bedient sich des Materials, das die menschliche Selbstinterpretation auf allen Kulturgebieten verfügbar gemacht hat. Die Philosophie trägt dazu bei“ – und nun explizit genannt – „ebenso die Dichtkunst, die dramatische und epische Literatur“.40 Literatur ist also Teil von menschlicher 38

Paul Tillich: Systematische Theologie. Bd. 1. Stuttgart 1956, 74. Ebd., 75. 40 Ebd., 77. 39

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Selbstinterpretation. Sie wird zum theologischen Analysegegenstand, weil sie hilft, das menschliche Leben als existentielle Fragesituation zu beleuchten, auf welche die christliche Botschaft die verlässlichen Antworten gibt. Dieser Grundansatz wurde in den Folgejahren von Tillich-Schüler*innen immer wieder neu aufgegriffen, an vielen Beispielen plastisch und fruchtbar gemacht und gilt bis heute als produktives Grundmodell der Verhältnisbestimmung von „Theologie und Literatur“. Ohne dass Tillich selbst wirklich systematische Literaturdeutungen vollzogen hätte,41 wurde sein Ansatz zur zentralen Grundlage für die späteren theologisch-literarischen Forschungsansätze, die sich weitgehend unabhängig voneinander gleichzeitig in Deutschland, in England und in den USA entwickelten.  Hans Jürgen Baden, Friedrich Hahn, Dorothee Sölle, Henning Schröer und andere – allesamt evangelische Theolog*innen – bauten in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ihre eigenständigen theologisch-literarischen Deutungssysteme in Anknüpfung an die Arbeiten von Tillich aus.  Amos Niven Wilder, Nathan Scott oder Robert Detweiler, die seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA eigenständige Studiengänge in Theologie und Literatur konzipierten, beriefen sich explizit auf Tillich.  Auch David Jasper und Terry Wright, zentrale Gründergestalten der akademischen Dialogdisziplin von Theologie und Literatur in Großbritannien, nutzten Tillichs Ansatz als Grundlage für eigene später ausgestaltete Konzeptionen.

VI Theologie und Literatur im Zeichen des Dialogs: Sölle, Mieth, Kuschel Dass „autonome“ literarische Texte einen eigenen Erkenntniswert für Theologie und Kirche haben können, hat für die katholische Kirche erstmals das Zweite Vatikanische Konzil explizit erklärt. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes findet sich im 62. Kapitel unter der Überschrift „Das rechte Verhältnis der menschlichen und mitmenschlichen Kultur zur christlichen Bildung“ folgende Passage: Auf ihre Weise sind auch Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung. Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden; sie gehen darauf aus, die Situation des Menschen in Geschichte und Universum zu erhellen, sein Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft zu schildern und ein besseres Los des Menschen vorausahnen zu lassen. So dienen sie der Erhebung des Menschen in seinem Leben in vielfältigen Formen je nach Zeit und Land, das sie darstellen.42

Der Literatur wird hier zugesprochen: sich um das Wesen des Menschen zu bemühen; dabei vor allem seine Probleme und Erfahrungen in den Blick zu neh41

Vgl. Thomas Kucharz: Theologen und ihre Dichter. Literatur, Kultur und Kunst bei Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich. Mainz 1995. 42 Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hg.): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. Freiburg i.Br./Basel/Wien 1966, 515.

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men; sich vor allem dem Versuch der Selbst- und Welterkenntnis zu widmen, aber auch deren Vollendung; die Situation von Mensch und Universum (auffallend: nicht „Schöpfung“!) zu erhellen; sich auf die Schilderung von Elend und Freude, Not und Kraft zu konzentrieren; dadurch eine Vorausahnung eines „besseren Loses des Menschen“ zu ermöglichen; und so zur „Erhebung des Menschen“ beizutragen. Dieses außergewöhnlich umfassend formulierte Bündel an positiven Charakterisierungen und Funktionsbeschreibungen wirkte wie eine Ermutigung für die systematischtheologische Betrachtung von Literatur. Ohne falsche Vereinnahmung, ohne jegliche Engführung auf spezifisch christliche Literatur wird zum einen eine Wertschätzung deutlich, zum anderen aber auch ein hermeneutisches Interesse sichtbar, das zuvor in dieser Klarheit nirgends formuliert worden war. Hier bahnt sich erstmals ein wirklich dialogisches Verständnis den Weg. Angesichts dieser Vorgaben etablierte sich im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die eigenständige Disziplin von „Theologie und Literatur“ im Paradigma des Dialogs. Während Guardini und von Balthasar Literatur in ihre vorgegebenen theologischen Denksysteme integrierten, während Tillich und seine Gefolgsleute Literatur ausschließlich der Dimension der Frage zuordneten, auf welche die Theologie dann in sich geschlossen zu antworten habe, entstehen nun hermeneutische Systeme unter einer selbstverständlich werdenden doppelten Vorgabe: Literatur erstens nicht zu vereinnahmen und theologisch zu verzwecken, sondern ihre Autonomie und ihren unbedingten Selbstwert vorbehaltlos zu akzeptieren; zweitens die Auseinandersetzung mit Literatur wirklich dialogisch, kreativ und prozessorientiert aufzunehmen. Der zentrale Anstoß zu einer grundlegenden Neubesinnung ging von Dorothee Sölle (1929–2003) aus. Wie viele andere Protagonist*innen dieses Feldes war sie beides zugleich: studierte Literaturwissenschaftlerin und (evangelische) Theologin. In dieser doppelten Qualifikation war ihr an einer vollständigen Revision der bisherigen Ansätze gelegen. Denn, so der Befund in einem ersten Basisaufsatz „Zum Dialog zwischen Theologie und Literaturwissenschaft“ von 1969: Dieser Dialog sei „von Missverständnissen und Abwehrreaktionen auf beiden Seiten gekennzeichnet“.43 1970 legte sie ihre drei Jahre später im Druck erscheinende germanistische (!) Habilitationsschrift vor: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Zur präzisen Benennung ihres Ansatzes prägt sie jenen Begriff „Realisation“, welcher ihrer Arbeit den Titel gibt. Wie folgt wird er definiert: „Die Funktion religiöser Sprache in der Literatur besteht darin, weltlich zu realisieren, was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach. Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion ‚gegeben‘ oder versprochen ist.“44

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Dorothee Sölle: Zum Dialog zwischen Theologie und Literaturwissenschaft. In: Internationale Dialogzeitschrift 2 (1969), 296–318, hier 296. 44 Dorothee Sölle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt/Neuwied 1973, 29.

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„Realisation“ als „Grundbegriff einer theologischen Interpretation von Dichtung“.45 Damit werden also jene Phänomene in der Literatur beleuchtet, die in klassisch theologischen Begriffsfeldern wie „Sünde“, „Erlösung“ oder „Gnade“ verortet würden. Die moderne Literatur denkt und spricht nun aber nicht mehr in diesen Kategorien. Sehr wohl kennt sie jedoch analoge Probleme. Darum geht es: wahrzunehmen, wie die Literatur heute in allen Differenzierungen vom Menschen spricht. In ganz eigener Weise werden so Phänomene angesprochen, die in anderer Weise in theologischen Denk- und Sprachspielen ausgedrückt werden. Theologische Sprache braucht dieses Sich-Einlassen auf die heutige Sprache der Dichter, „sie ist nicht wirkliche, gegenwärtige, wirkende Sprache, solange sie nicht weltlich konkretisiert wird“.46 Die katholische Diskussion um ein dialogisches Verständnis von „Theologie und Literatur“ fand mit zeitlicher Verzögerung statt, führte dann jedoch zu intensiven und breit verzweigten Auseinandersetzungen. Der entscheidende hermeneutische Neuansatz wurde hier im Jahr 1976 gesetzt, als Dietmar Mieth (*1940) in Tübingen seine moraltheologische Habilitationsschrift vorlegte, die wegen ihres Umfangs in zwei separaten Teilen erschien: „Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik“ sowie „Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns“. Neu für den seit 1981 als Professor in Tübingen lehrenden Ethiker Mieth stellt sich die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Theologie und Literatur im spezifisch ethischen Feld. Er wendet sich dem „Problem der Analogie zwischen Dichtung und Glaubensinterpretation“47 zu und entwickelt für sein Vorgehen ein eigenes hermeneutisches Modell: Es gibt „strukturelle Entsprechung und Analogie“48 zwischen Dichtung und Glaube, die als „Beziehungsgefüge eigener Ordnung füreinander transparent gemacht“49 werden können. Mit der breit rezipierten Dissertation Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur betritt 1978 ein weiterer Protagonist des Dialogs von Theologie und Literatur das Feld: Karl-Josef Kuschel (*1948). Er wird das Forschungsfeld von „Theologie und Literatur“ und die sich auf ihn berufende „Tübinger Schule“ entscheidend prägen. Der dialogische Charakter seines Ansatzes wird gleich zu Beginn betont: Das Interesse dieser Arbeit? „Es ist literaturwissenschaftlich und theologisch zugleich.“50 Im Kern geht es ihm um „eine gegenseitige Herausforderung“, und zwar „dort, wo man sich vielfach überschneidet: in der Darstellung der Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt“.51 Wie ist das gewählte Paradigma der inhaltlichen gegenseitigen Herausforderung genau zu bestimmen? Beide Bereiche 45

Ebd., 31. Ebd. 47 Dietmar Mieth: Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Mainz 1976, 26. 48 Ebd., 94. 49 Ebd., 96. 50 Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1978]. München/Zürich 1987, 3. 51 Ebd., 4. 46

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können einander zum „kritischen Korrektiv“ werden: Literatur als kritisches Korrektiv „gegenüber einer theologischen Sprache, die die Wirklichkeit des Menschen oft durch hohle, abgegriffene, Unantastbarkeit und Unveränderlichkeit beanspruchende Formeln verstellte, statt sie zu erhellen“;52 Theologie als Korrektiv, weil sie die Literatur herausfordert, „die Frage nach dem Menschen, die Frage nach dem Zustand der Welt, wie sie ist, [. . . ] die Frage also nach dem Ganzen von Mensch und Welt in Raum und Zeit, in den vielfältigen Dimensionen der Wirklichkeit offen zu halten“.53 Diese herausfordernde Dimension bezeichnet aber nur die eine Seite der Beziehung, die andere ist von Gemeinsamkeiten zwischen Theologie und Literaturwissenschaft geprägt. Sie sollten sich besinnen auf die Bundesgenossenschaft „im Kampf um eine Sprache, die sich dem Einverständnis der Mächtigen entzieht, die der gelenkten, verkauften und abgerichteten Sprache mit Misstrauen begegnet und sich der perfekt funktionierenden Gesellschaft verweigert“.54 In den Folgejahren legte Kuschel ein umfangreiches und breit differenziertes Werk vor: motivgeschichtliche Studien und Textbände, an systematischen Fragestellungen orientierte Untersuchungen, Autorengespräche. Sein zentrales Anliegen liegt in der Profilierung eines eigenen Ansatzes, der auf Dietmar Mieths Vorklärungen aufbauenden „Methode der strukturellen Analogie“. Was ist darunter zu verstehen? Der Doppelblick auf „Entsprechungen und Entfremdungen“: „Entsprechungen suchen heißt nicht vereinnahmen. In strukturellen Analogien denken heißt gerade nicht vereinnahmen. [. . . ] Wer strukturell-analog denkt, kann Entsprechungen des Eigenen im Fremden wahrnehmen.“55 Umgekehrt gilt: „Auch das Widersprüchliche zur christlichen Wirklichkeitsdeutung“ muss klar erkannt und benannt werden, denn „nur so wird ja das Verhältnis von Theologie und Literatur ein Verhältnis von Spannung, Dialog und Ringen um die Wahrheit“. Worin liege das Spezifische, die neue Qualität dieses Modells für den angestrebten und beständig praktizierten Dialog? Im Ernstnehmen der literarischen Werke als „autonome Selbstzeugnisse der Dichter“ dürfe sich christliche Theologie eben gerade nicht im Sinne Tillichs „als Antwortgeberin auf alle existentiellen Fragen“ präsentieren. „Ziel ist eine Theologie mit einem anderen Stil“.56 Die folgenden acht Kennzeichen charakterisieren die von Karl-Josef Kuschel ausgehende Hermeneutik von „Theologie und Literatur“. Sie bestimmen dieses Dialogfeld im deutschsprachigen Raum für Jahrzehnte maßgeblich, sei es in Einstimmung, sei es in bewusster Absetzung: 1. Die vorbehaltlose (wenn auch kritische) Anerkennung der (Post-)Moderne als vorgegebenem Kontext, also der Verzicht auf alle Idealisierungen von vergangenen (weltanschaulichen und ästhetischen) Epochen. 52

Ebd. Ebd., 5. 54 Ebd. 55 Karl-Josef Kuschel: „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter . . . “ Literarisch-theologische Porträts. Mainz 1991, 385. 56 Alle: Ebd., 385 f. 53

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2. Das eindeutig benannte theologische „Interesse“: Der Blick auf Literatur erfolgt im Rahmen des Versuchs, eine „(post)moderne“ Theologie im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils zu entwerfen und für religiöse Lernprozesse fruchtbar zu machen. 3. Gleichwohl die Orientierung an den Grundmustern von Anerkennung der Autonomie der Literatur, Herausforderung an die Theologie und Dialog zwischen allen beteiligten Partnern. 4. Die Konzentration auf konkrete Textdeutungen, also Auseinandersetzung mit den Primärtexten unter gründlicher Hinzuziehung der relevanten Sekundärliteratur. Ziel ist erstens ein „Hören“ auf die Literat*innen, zweitens ein Austausch mit den Arbeiten der Literaturwissenschaft „auf Augenhöhe“. 5. Zwei „Gattungen“ dominieren: a) die motivisch-theologischen Literatursichtungen, orientiert an theologischen Strukturen wie Stoffen,57 Themen,58 Figuren mit dem Ziel systematisch-theologischer Ertragssicherung; b) daneben treten Werkporträts von Schriftsteller*innen, in deren Werk religiöse Spuren besonderes Profil gewinnen.59 6. Die Konzentration auf zeitgenössische deutschsprachige Literatur (erweitert um große zeitüberdauernde Entwürfe der Weltliteratur) unter weitgehender Ausblendung explizit christlicher Literatur (Vorwurf: bloße „Bebilderung“ und „Bestätigung“) zugunsten von Literatur der Krise, des Einbruchs der Moderne, der Entfaltung der Postmoderne. In diesem Zusammenhang erfolgt zunehmend eine interreligiöse Blickausweitung auf die literarische Spiegelung nichtchristlicher Religionen. 7. Auffällig bleibt zunächst die Vernachlässigung literaturtheoretisch-hermeneutischer Reflexionen auf der Metaebene des wissenschaftlichen Diskurses. 8. Als Methoden etablieren sich – gegen ausschließlich textimmanent arbeitende Ansätze – alle Verfahren, die eine möglichst umfassende Deutung bereichern: exemplarische Textdeutung unter Nutzung literaturwissenschaftlicher Verfahren; Autorengespräch; gesellschaftlich-zeitgeschichtliche Einbettung; biographische Nachzeichnung; Themenvergleich; Motivgeschichte u. a. Seit den 1980er Jahren entstanden im deutschsprachigen Raum zahlreiche Arbeiten im Bereich des Dialogfeldes von Theologie und Literatur, die sich implizit oder explizit an die oben aufgezeigten Ansätze anschließen und sie konzeptionell wie inhaltlich entfalten und differenzieren.60 Ihren sichtbarsten Ausdruck findet diese Traditionslinie in der von Karl-Josef Kuschel61 im Matthias-Grünewald Verlag her57 Z. B. Christoph Gellner: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2004; Chiara Conterno: Die andere Tradition. Psalm-Gedichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2014. 58 Z. B. Christoph Gellner: „. . . nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile. Ostfildern 2013. 59 Vgl. zuletzt: Pierre Bühler/Andreas Mauz (Hg.): Grenzverkehr. Untersuchungen zum Werk Kurt Martis. Göttingen 2016. 60 Vgl. Langenhorst, Theologie und Literatur (Anm. 6). 61 Ab Band elf in Kooperation mit dem Verfasser.

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ausgegebenen Reihe Theologie und Literatur, in der von 1994 bis 2016 30 Bände erscheinen, zum größten Teil Dissertationen, aber auch andere Monographien. Ergänzt werden die dortigen Studien seit 2008 durch die interaktive Website http:// www.theologie-und-literatur.de. Auch weitere Arbeiten, die nicht direkt diesem Kontext zuzuordnen sind,62 entstehen fast durchweg in direkter Auseinandersetzung mit den hier vorgelegten Koordinaten oder im Rahmen der damit abgesteckten hermeneutischen Vorgaben.63

VII Zugänge der Praktischen Theologie Im Laufe der Jahrzehnte lässt sich dabei eine schwerpunktmäßige Verschiebung beobachten. Mehr und mehr rückt der Diskurs um „Theologie und Literatur“ aus dem Feld der Systematischen Theologie heraus und hinein in das Feld der praktischen Theologie, also der Pastoraltheologie und der Religionspädagogik. Diese Zugänge stehen von vornherein unter dem Verdacht einer funktionalistischen Engführung. Diese Gefahr besteht. Gleichwohl finden sich hier die einzigen Zugänge, die kritisch und transparent ihre Interessen offenlegen. Warum sich Systematische Theologie mit Literatur befassen sollte und welche Konsequenzen diese Beschäftigung auf die eigene Hermeneutik haben könnte, wird fast nirgends auf aktuellem Stand reflektiert. Warum und mit welchen Interessen sich umgekehrt Literaturwissenschaftler*innen gerade mit Religion befassen, bleibt – als vermeintlich unwissenschaftliche Meta-Reflexion – ebenfalls fast durchgängig ungesagt.64 Bei allen möglichen Anfragen an die didaktische „Nutzung“ von literarischen Texten gilt es so zumindest auch, die eigenen, zum Teil vorwissenschaftlichen Interessen offenzulegen. Und genauso, wie die didaktische „Funktionalisierung“ von Literatur überlegt, transparent und unter Befolgung von genau benannten Regeln erfolgen kann,65 sollten sich andere „Funktionalisierungen“ – gerade die der Literaturwissenschaften – demselben kritischen Raster stellen.

62 Z. B.: Pascal Schmitt: Sehnsuchtsort – Sehnsuchtswort. Heimat als theologisch anschlussfähiger Begriff bei Arnold Stadler. Ostfildern 2014; Carina Abs: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungsnarrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und Friedrich Dürrenmatt. Ostfildern 2017. 63 Vgl. auch die multiperspektivischen Autorenporträts: Jan-Heiner Tück (Hg.): Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung – theologische Erwiderungen. Freiburg i.Br. 2013; ders. (Hg.): „Verwandeln allein durch Erzählen“. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2014; ders. (Hg.): „Auch der Unglaube ist nur ein Glaube“. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Freiburg i.Br. 2017. 64 Z. B. zuletzt in Norbert Fischer (Hg.): „Gott“ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Hamburg 2014; Manfred Engel/Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die Religion in der Moderne. Würzburg 2014; Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion. Berlin 2015. 65 Vgl. dazu: Eva Willebrand: Literarische Texte in Religionsbüchern. Zwischen Verkündigung, Erfahrungsspiegelung und Erschließung religiöser Tiefen. Bad Heilbrunn 2016.

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Aus bedachtsamer Reflexion heraus haben sich die folgenden fünf „Gewinndimensionen“ herauskristallisiert, die benennen, warum und wie religiöse Lernprozesse literarische Texte „nutzen“ können:

Textspiegelung Literarische Verarbeitungen biblischer oder allgemein religiöser Stoffe, Motive, Sprachformen oder Themen verweisen stets auf diese Grundtexte selbst zurück. So gewinnt man – reflektierbar im Spiegel theoretischer Intertextualitätstheorien – neben dem autonomen literarischen Text einen veränderten, geschärften Blick auf den ursprünglichen Text der Bibel oder der christlichen Tradition.

Sprachsensibilisierung Schriftsteller*innen spüren oft sehr genau, was Sprache kann und darf. Sicherlich sind literarischer Stil und Ausdruck von Theolog*innen und Religionspädagog*innen nicht einfach zu übernehmen. Das Nachspüren der sprachlichen Besonderheiten zeitgenössischer Literatur als beständige Erneuerung der Sprache kann jedoch zur unverzichtbaren Reflexion über den eigenen sorgsamen Sprachgebrauch anregen.

Erfahrungserweiterung Schriftsteller*innen erfahren sich selbst, ihre Zeit und ihre Gesellschaft und lassen diese Erfahrungen in ihren Sprachwerken gerinnen. Lesende haben zwar niemals einen direkten Zugriff auf Erfahrungen anderer, handelt es sich doch stets um gestaltete, gefilterte, gedeutete Erfahrung. Über den doppelten Filter der schriftstellerischen Gestaltung einerseits und der stets individuellen Deutung andererseits ist aber zumindest ein indirekter Zugang zu Erfahrungen anderer möglich.

Wirklichkeitserschließung Während die Erfahrungserweiterung eher „zurück“schaut, auf die hinter den Texten liegende Erfahrung der Schriftsteller*innen, blickt die Perspektive der Wirklichkeitserschließung eher nach „vorn“, auf die mit dem Text für die Leser*innen möglichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen. Theologie wie Literatur bemühen sich jeweils auf ihre Weise darum, in Sprache und mit Sprache Wirklichkeit zu beschreiben und herzustellen. Literarische Texte erschließen als konkurrierende Wirklichkeitsdeutungen eigene Realitätsebenen.

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Möglichkeitsandeutung Literatur lebt schließlich nicht nur von erfahrener und erschriebener Wirklichkeit, sondern vor allem vom „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil), von einer Sehnsucht nach dem Anderen und Unendlichen, von der Vision dessen, was sein könnte. Religiöse und literarische Sprache teilen grundlegende Gemeinsamkeiten: Beide weisen über sich selbst hinaus, „transzendieren“ somit Wirklichkeit. Dennoch gibt es vom Selbstanspruch her einen zentralen Unterschied. Religiöse Sprache modifiziert den transzendierenden Charakter dichterischer Sprache dadurch, dass sie auf eine andere Wirklichkeit – auf „Gott“ – hin orientiert ist. Im spezifisch monotheistischen Sinn ist Gott jene Größe, die dem Menschen die Fähigkeit zu diesem Transzendieren überhaupt erst ermöglicht. Im Tiefenverständnis ist der Transzendenzbezug religiöser Sprache also keineswegs ausschließlich ein menschliches Sich-selbstÜberschreiten, sondern ein von Gott gewährter Prozess des menschlichen SichÖffnens auf ihn hin. Fünf Chancen wurden benannt, die sich sowohl für Theolog*innen als auch für Religionspädagog*innen in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur eröffnen können. Man kann sie kritisieren und als Engführungen betrachten. Substantiell würde eine derartige Kritik aber nur dann, wenn man eigene Perspektiven dagegensetzt. Das wäre spannend und zukunftsführend. Denn einen religionspädagogischen Wert haben die genannten Leitkategorien: Zusammen betrachtet ergeben sie ein hermeneutisches Programm, das einen bereits benannten Namen trägt: „Korrelation“. Aber nicht im Sinne Tillichs, sondern im Verständnis gegenwärtiger Religionspädagogik. Dort versteht man unter „Korrelation“ eine kritische und zugleich produktive Wechselbeziehung zwischen dem Geschehen, dem sich der überlieferte Glauben verdankt, auf der einen und dem Geschehen, in dem Menschen heute ihre Erfahrungen machen, auf der anderen Seite. Den einen Pol dieser idealtypischen wechselseitigen Durchdringung bilden in diesem Fall jene Erfahrungen, die in biblischen Büchern und wegweisenden Texten der Kirchengeschichte als Grunddokumente des Glaubens fungieren. Den anderen Pol bilden die aus zeitgenössischer Erfahrung geronnenen literarischen Texte. Im Durchdenken und Mitfühlen des immer wieder neu auszulotenden Spannungsbogens zwischen diesen beiden Polen können sich Menschen unserer Zeit in diesen offenen Deutungsprozess einschalten. Dieser Prozess eröffnet zugleich hermeneutische wie didaktische Dimensionen. Deshalb bieten sich dem Spannungsfeld von Theologie und Literatur aus theologischer Perspektive bleibend fruchtbare Perspektiven für die Zukunft.

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VIII Perspektiven für „Religion und Literatur“ Wenn man aus heutiger Sicht eine Zwischenbilanz der Leistungen der „Tübinger Schule“ zu ziehen versucht, lassen sich – subjektiv gefärbt – einige Beobachtungen und Vermutungen anführen. Zunächst fallen zwei Ausweitungen auf, die hier nur schlagwortartig benannt werden können.  Mehr und mehr rücken zum einen die literarischen Spiegelungen der nichtchristlichen Religionen66 in den Fokus. Eine religiös zunehmend plurale Gesellschaft spiegelt sich in zunehmend pluralen religiösen Einspielungen in die Gegenwartsliteratur. Konsequenz: Die einseitige Fixierung von „Theologie und Literatur“ auf christliche und jüdische Facetten ist längst überwunden zugunsten religiös offener Theologie-Konzeptionen.  Zum anderen rückt zudem das weite Feld der Kinder- und Jugendliteratur,67 darin auch der Fantasy,68 in den Fokus. Die klassischen literaturwissenschaftlichen Unterscheidungen zwischen Kinder- und Jugendliteratur auf der einen, „Erwachsenenliteratur“ auf der anderen Seite haben in Zeiten der „All-age-Literatur“ an Plausibilität eingebüßt. Auffällig: „Theologie und Literatur“ fällt es augenscheinlich leichter, sich auf ein breites Literaturverständnis einzulassen, als der universitären Literaturwissenschaft, in der Kinder- und Jugendliteratur oftmals nach wie vor als Rand- oder Eigenbereich aus- oder abgegrenzt wird. Gleichwohl setzt sich der Eindruck durch, dass die in diesem Aufsatz aufgezeigte Tradition sicherlich noch quantitativ weiterentwickelt werden kann,69 qualitative Neuaufbrüche zeichnen sich jedoch nicht ab. Die Innovationskraft dieser Tradition scheint erschöpft. Im Rahmen der über Jahrzehnte entwickelten Vorgaben lässt sich weiterhin gut arbeiten, echte Neuentwicklungen werden aber eher aus anderen Quellen schöpfen. Umso mehr stellt sich die Frage, ob sich aus theologischer Sicht andere Impulse abzeichnen. Dazu einige Beobachtungen:

66

Vgl. Christoph Gellner: Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg. Zürich 2010; Michael Hofmann/Klaus von Stosch (Hg.): Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Paderborn u. a. 2012; Christoph Gellner/Georg Langenhorst: Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern 2013; Karl-Josef Kuschel: Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog über Buddha, Laotse und Zen. Ostfildern 2018. 67 Vgl. Georg Langenhorst (Hg.): Gestatten: Gott. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. München 2011. Vgl. http://www.religion-im-kinderbuch.de. 68 Vgl. Christina Heidler: Zwischen Magie, Mythos und Monotheismus. Fantasy-Literatur im Religionsunterricht. Ostfildern 2016. 69 Vgl. Gregor Maria Hoff/Ulrich Winkler (Hg.): Poesie der Theologie. Versuchsanordnungen zwischen Literatur und Theologie: Bachl-Lectures 2007–2011. Innsbruck/Wien 2012; Georg Langenhorst/Eva Willebrand (Hg.): Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts. Ostfildern 2017.

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 Nach wie vor uneingelöst bleibt das Desiderat nach einer internationalen Einbindung des theologisch-literarischen Diskurses. Zwar gibt es fruchtbare theologisch-literarische Diskussionsfelder sowohl im englisch-70 wie im spanischsprachigen71 Kontext. Die Diskurse sind jedoch innerlich weder miteinander noch mit den deutschsprachigen Forschungen verbunden. Zu eigenständig ist zunächst der Bereich der jeweils nationalsprachlich gefassten Literatur. Zu wenig verbunden sind aber auch die hermeneutischen Fachdiskurse, die jeweils auf ganz eigenen Prämissen, Traditionen und Verfahren beruhen. Bislang bleiben Kontakte zwischen den drei Diskursräumen – deutsch, englisch, spanisch – konzeptionell ergebnislose Einzelkontakte.  Die zu Beginn des Beitrags genannten – und weitere – literaturwissenschaftliche Zugänge zum Thema72 weiten den Blick gleich mehrfach: im Blick auf andere hermeneutische Zugänge; im Blick auf andere Sprachräume; im Blick auf andere Epochen. Theologische Wahrnehmungen und Reflexionen dazu stehen meistens erst am Anfang.  Immer wieder speisen Praktiker religionsdidaktische Bücher in den Markt ein.73 Mit ihnen lässt sich im besten Falle an den unterschiedlichen Orten von Literaturerschließung gut arbeiten. Eigene, die bisherigen Vorgaben aufsprengende Zugänge zeichnen sich dabei jedoch nicht ab.  Eine andere Traditionslinie rückt vor allem das Hören auf die derzeit schreibenden Literat*innen in den Vordergrund. Der Pastoraltheologe Erich Garhammer hat dazu einige grundlegende Bände vorgelegt.74 Auch die Wiener Poetikdozentur scheint zunächst den Schwerpunkt auf diesen Grundzug zu legen. Diese letzte Entwicklung birgt das größte Entwicklungspotential. Tatsächlich kann ein Dialog ja auch nur auf einem sorgsamen Hinschauen und Hinhören beruhen. Nur: Dieser dialogische Anspruch drängt nach Aus-Tausch. Wo bleibt die eigenständige – das muss ja nicht heißen: vollmundige – Stimme der Theologie? Was kann sie substantiell beitragen zu diesem vermeintlichen Gespräch? Und letztlich zurückgefragt an das eigene Selbstverständnis: Wie verändert sich theologisches Denken durch den Diskurs mit den Schriftsteller*innen? Erst wenn die eigene Theologie Spuren dieser Auseinandersetzung zeigt, ist der selbstgestellte Anspruch auf einen „Brückenschlag“75 eingelöst. Eine Spur le70 Vgl. http://www.isrlc.org. Befund und Zwischenbilanzen in: Andrew W. Hass/David Jasper/Elisabeth Jay (Hg.): The Oxford Handbook of English Literature and Theology. Oxford 2007; Heather Walton (Hg.): Literature and Theology: New Interdisciplinary Spaces. London 2011. 71 Vgl. http://www.alalite.org. Erster Überblick: Cecilia I. Avenatti de Palumbo/Hugo R. Safa (Hg.): Letra y Espíritu. Diálogo entre Literatura y Teología. Buenos Aires 2004. 72 Vgl. zuletzt: Tomas Sommadossi (Hg.): „Polytheismus der Einbildungskraft“. Wechselspiele von Literatur und Religion von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg 2018. 73 Vgl. Hubertus Halbfas (Hg.): Literatur und Religion. Ein Lesewerk. 3 Bde. Ostfildern 2015– 2017. 74 Erich Garhammer: Zweifel im Dienst der Hoffnung. Poesie und Theologie. Würzburg 2011; ders. (Hg.): Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion. Regensburg 2014; ders.: Erzähl mir Gott. Theologie und Literatur auf Augenhöhe. Würzburg 2018. 75 Tück/Mayer, Nah (Anm. 7), 16.

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gen die Wiener Protagonisten, die zukunftsweisend sein könnte: Es ginge darum, angeregt und in Auseinandersetzung mit den Literat*innen eine „verschwiegene Theologie“ zu entwerfen, „die allererst noch zu entbinden wäre“.76 Genau! Dieser Anspruch muss das dialogische Interesse prägen. Dass damit eine höchst komplizierte Aufgabe77 benannt ist, steht außer Frage.

76

Ebd., 21. Vgl. meine beiden eigenen, explizit diesem Anspruch verpflichteten Versuche: Georg Langenhorst: Als ein Kind bist du gekommen. Die Weihnachtsbotschaft neu entdeckt. Freiburg i.Br. 2016; ders.: Auferweckt ins Leben. Die Osterbotschaft neu entdeckt. Freiburg i.Br. 2018.

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Religion/Literatur

Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran Angelika Neuwirth

Anziehung und Abstoßung sind dank der Studien von Peter Schäfer1 und anderen Forschern2 längst als die formativen Kräfte hinter der Herausbildung der beiden Religionskulturen Judentum und Christentum erkannt. Diesem Kräftespiel zwischen Religionskulturen auch für die Genese des Islam nachzugehen, ist dagegen eine noch immer offene Herausforderung. Sie soll im Folgenden aufgegriffen werden. Dabei wird aber nicht, wie in der Islamwissenschaft und der ihr darin folgenden Theologie-Geschichte noch immer üblich,3 vom Koran als dem auktorial intendierten Werk Muhammads ausgegangen, noch auch von einem vorgefassten Projekt Muhammads, eine neue biblische Religion zu begründen, in die er folglich zentrale jüdische und christliche Elemente aufzunehmen hatte. Es ist vor allem der literarische Charakter des Koran selbst, der eine vorbedachte Abfassung durch einen Autor ausschließt. Die bisher dominierende Fehleinschätzung, die das „Ereignis“ der Korangenese unterschlägt, beruht auf einer Vernachlässigung der literarischen Form. Wir haben

1

Siehe zuletzt Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums. Tübingen 2010; siehe jetzt auch ders.: Anziehung und Abstoßung. Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Begegnung. Tübingen 2015. 2 Die These wird auch von den Arbeiten von Daniel Boyarin und Guy Stroumsa unterstützt. Dass diese beiden Kräfte den „Denkraum Spätantike“ beherrschen, zeigt der Sammelband: Nora Schmidt/Nora Katharina Schmid/Angelika Neuwirth (Hg.): Denkraum Spätantike. Reflexionen von Antiken im Umfeld des Koran. Wiesbaden 2016. 3 Diese von den klassischen Koranforschern, wie Heribert Busse: Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum. Grundlagen des Dialogs im Koran und die gegenwärtige Situation. Darmstadt 1988, und Rudi Paret: Der Koran. Kommentar und Konkordanz. Stuttgart u. a. 2 1977, vertretene Sicht hat inzwischen auch in Nachbardisziplinen wie Theologie-Geschichte Eingang gefunden, siehe etwa Thomas Hieke: Abraham im Islam, http://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/12288/ (6.3.2018). A. Neuwirth () Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_5

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mit dem Koran die Mitschrift spontaner prophetischer Rede vor uns. Einzelbotschaften sind uns als „Suren“ erhalten, einer vom Koran etablierten, sonst in der Literatur nicht bekannten polythematischen Gattung. Anfangs reflektieren sie in ihrer Form des gott-menschlichen Zwiegesprächs die Psalmen, nur dass der Sprecher im Koran nicht ein menschlicher Frommer, sondern Gott selbst ist. Später, in der mittleren Periode, spiegeln sie den Gottesdienst einer Gemeinde, können geradezu als „Libretti“ von gottesdienstlichen Feiern gelten. Hier leitet wie bei monotheistischen Feiern üblich ein paränetischer oder hymnischer Introitus den zentralen Teil, eine biblische „Lesung“ – koranisch: die Nacherzählung einer biblischen Geschichte –, ein, worauf eine freie Auslegung des Erzählten („predigt“-ähnlich) und wieder paränetische Rede folgt. In der Phase der Staatsgründung in Medina treten legislative Anweisungen hinzu, bei denen dann auch der angesprochene Prophet über seine in Mekka eingenommene bescheidene Rolle eines Warners hinausgehoben und als Leiter der Gemeinde legitimiert wird. Ohne jede historische Einführung – wie bei den biblischen Propheten üblich – ist der gesamte Koran Anrede an ein Du (des Propheten) oder ein Ihr (des Hörerkollektivs). Formal ist der Koran in seinen frühen Suren Poesie, er ist zwar nicht metrisch organisiert, aber doch durch Reimmarkierung der einzelnen Sinneinheiten als dichterische Rede erkennbar. Die späteren längeren Suren behalten den Reim bei, sind aber angesichts ihrer Verslänge und hypotaktischen Satzkonstruktionen eher als Kunstprosa zu bezeichnen. Sprecher und Angesprochene teilen im Koran weitgehend dieselben Wissensbestände, so dass der semantische Inhalt der Suren weniger Gegenstand der Mitteilung als der Diskussion ist. Der Text bildet einen bis zum Schluss in Bewegung befindlichen Prozess der Verhandlung ab, bei der – mündlich kursierende – biblische Traditionen von der Hörergemeinde debattiert und nicht selten sogar bereits „publizierte“, d. h. in ihre koranische, poetische Form gebrachte Aussagen durch Zusätze modifiziert wurden, mit denen einer neuen Hörersituation Rechnung getragen werden konnte.4 Die koranische Entwicklung spiegelt also gleichzeitig eine Textgenese und eine Gemeindebildung. Geht man – wie immer noch die Regel – von der „Werk-Muhammads-Vorstellung“, d. h. vom Koran als einem fait accompli, aus, unterwirft man den Text einer sinnverzerrenden Hermeneutik, indem man asynchrone Aussagen – frühe Verkündigungen und ihre späteren Modifikationen – als gleichzeitig und semantisch gleichrangig behandelt. Der Zugang zum Koran als auktorialem Text verstellt den Blick auf seine Sonderstellung als Transkript einer Religionsgenese. Aber nicht nur die Stimmen der Gemeinde hallen im – auf weite Strecken dialogischen – Text des Koran wider, auch die hermeneutischen Praktiken der plurikulturellen Spätantike, insbesondere das typologische und allegorische Bibelverständnis, sind als selbstverständlicher Hintergrund der koranischen Rede ernst zu nehmen.

4

Nicolai Sinai: The Qur’an as Process. In: Angelika Neuwirth/Nicolai Sinai/Michael Marx (Hg.): The Qur -a¯ n in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’anic Milieu. Leiden 2010, 407–440; vgl. allgemein Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Berlin 2010.

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Ein polemischer Topos und seine Auswirkungen Zumindest eines dieser beiden Desiderate: die in der westlichen Forschung fehlende Akzeptanz des Koran als einer Kommunikation, ist anderswo durchaus erfüllt worden. Die Anerkennung als „Lehre“ ist dem Koran in ostkirchlichen Kreisen nie versagt worden, allerdings um den Preis der verweigerten Teilhabe an der typologischen Hermeneutik. Nur so erklärt sich, dass die koranische „Lehre“ hier gleich von ihrem ersten Kritiker als Irrlehre disqualifiziert werden konnte. Johannes von Damaskus, ein arabisch-kundiger spätantiker Theologe, hat den Koran bereits wenige Jahrzehnte nach der Publikation des Textes (ca. 655)5 in seiner häresiologischen Summa Pege Gnoseos als eine antichristlich-polemische Schrift, verfasst von einem „falschen Propheten“, angeprangert:6 Schließlich gibt es auch noch die bis heute einflußreiche Irrlehre der Ismaeliten, ein Vorläufer des Antichristen. Sie leitet sich von Ismael her, der dem Abraham von Hagar geboren wurde: Deshalb werden sie Hagarener oder Ismaeliten genannt. Sarazenen aber nennt man sie ‚Sara-leer‘, weil Hagar zu dem Engel gesagt hat: „Sara hat mich leer fortgeschickt.“ Diese nun waren Götzendiener und beteten den Morgenstern und Aphrodite an, die sie in ihrer Sprache auch Khabar nannten, das bedeutet ‚Die Große‘. Bis zur Zeit des Herakleios nun waren sie offenbar Götzendiener, seitdem aber (und bis heute) erwuchs ihnen ein falscher Prophet (pseudoprophetes), Muh.ammad mit Namen, der, nachdem er mit dem Alten und Neuen Testament Bekanntschaft gemacht und anscheinend mit einem arianischen Mönch Umgang gepflegt hatte, eine eigene Häresie schuf. Um beim Volk den Anschein der Gottesfurcht zu erwecken, verbreitete er zum Schein das Gerücht, vom Himmel sei eine Schrift von Gott zu ihm herabgekommen. Indem er in dem von ihm Buch einige Lehrsätze aufstellte, die lächerlich sind, lehrte er sie auf diese Weise die Ehrfurcht! .

Johannes hat damit eine bis heute wirkmächtige Entstehungsnarrative des Islam begründet, die eine dezidiert negative Gegendarstellung zu der etwa gleichzeitig entwickelten innerislamischen Geschichte der Koranentstehung repräsentiert. Die islamische Position ist in der Prophetenbiographie des Ibn Ishaq7 dokumentiert, die Muhammads Mission im Gegenteil als einen Erfolgsprozess beschreibt. Die Koranverkündigung ist für den muslimischen Chronisten eine Bewegung, die die arabischen Paganen in die monotheistische Heilsgeschichte einholen sollte, die aber auch die beiden älteren, untereinander zerstrittenen, auf Mose bzw. auf Jesus Die islamische Tradition geht von einer Koranredaktion unter dem Kalifen ,Uthman, um 655, aus – ein Datum, das sich in etwa mit den gegenwärtig gezogenen Schlussfolgerungen aus den ältesten Handschriften deckt, siehe dazu Nicolai Sinai: Der Koran. Eine Einführung. Stuttgart 2017, 21–25. 6 Johannes Damascenus: De haeresibus, 100. Zit. nach: Johannes Damaskenos/Theodor Abu Qurra: Schriften zum Islam. Kommentierte gr./dt. Textausgabe. Hg. von Reinhold Glei/Adel Theodor Khoury. Würzburg/Altenberge 1995, S. 75. 7 Ibn Ishaqs Werk wurde von Ibn Hisham (st. 833) redigiert und erweitert: Ibn Hish¯am, ,Abd alMalik: al-Sira al-nabawi¯ya li-bni Hish¯am. Hg. von Ah.mad Muh.ammad Sh¯akir. Cairo 1955. Eine englische Übersetzung liegt vor von Alfred Guillaume: The Life of Muhammad. A Translation of Ibn Ish.a¯ q’s Si¯rat ras¯ul Allah. Lahore 1974. 5

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aufbauenden Religionen durch eine historisch unbelastete, auf Abraham gegründete Glaubenslehre zu ihren gemeinsamen Ursprüngen zurückgeleiten sollte. – Johannes (st. 756) schreibt in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts im Kloster Mar Saba in Palästina, unweit der beiden großen christlich geprägten Städte Jerusalem und Damaskus, die beide gerade zu repräsentativen Zentren des neuen islamischen Reiches umgestaltet werden.8 Ibn Ishaq (st. 764) schreibt etwa gleichzeitig im arabischen Medina. Welche Narrative hat Recht? Beiden gemeinsam ist das Bewusstsein, dass der Islam in eine Welt hineingeboren wurde, in der Zugehörigkeit zur biblischen Heilsgeschichte eine erstrebenswerte Identität war. Diese Identität hat die neue Gemeinde nach Ibn Ishaqs Zeugnis erfolgreich erworben, während nach Johannes der „falsche Prophet“ Muhammad mit seiner Mission und seiner Schrift gescheitert ist. Dass beide Narrative bis jetzt unverglichen nebeneinanderstehen, hat mit der dominierenden primär historisch-philologisch ausgerichteten Koranforschung zu tun, aber auch mit der längst erhärteten Position westlicher Islamforscher, die der Rekonstruktion der islamischen Faktengeschichte die Präferenz vor der spätantiken Ideengeschichte geben. Ibn Ishaqs Darstellung disqualifiziert sich nämlich für die westliche Forschung dadurch, dass sie etwa 100 Jahre von den Ereignissen entfernt ist und aus schwer kontrollierbaren Quellen schöpft. Vor allem aber ist Ibn Ishaq kein Annalist, sondern unterlegt die Ereignisse bereits mit einer Deutung. Er folgt dabei der repräsentativen Hermeneutik der Spätantike, die Johannes selbst auch exerziert, aber nur der „wahren Prophetie“, nicht der falschen, zugestehen will: nämlich der metaphorischen, nicht einfach empirischen Deutung von Aussagen. Um ein einziges Beispiel zu nennen: Wenn der Koran davon spricht, dass eine Schrift vom Himmel „herabgekommen“ ist, so gelten solche Aussagen Johannes als lächerlich, gelotos axia,9 obwohl er selbst in seinem Credo bekennt, dass Christus „von den Himmeln herabgekommen“ ist. Dass der Koran hier nicht anders als das Credo metaphorisch vom Logos spricht, gesteht er nicht zu. Und doch verdanken sich beide Ausdrucksweisen einer frühen, den Logos involvierenden Auslegung von Gen 1, die auch im Prolog des Johannes-Evangeliums zur Sprache kommt.10 Sie sind also nicht im Literalsinn, sondern schrift-referentiell, man könnte auch sagen: „typologisch“, eine frühere Aussage auslegend, zu verstehen. Gott bedient sich bei der Durchsetzung seines Willens auf Erden – gemäß den biblischen Weisheitsschriften – einer Mittlerfigur, des Logos, der in der christlichen Tradition inkarniert ist, während er in der islamischen im Wort des Koran verkörpert ist. Nun gilt Typologie, verstanden als spirituelle Deutung biblischer Figuren und Gedankenfiguren, deren voller Sinn sich erst im Licht der neuen Religionsstiftung „erfüllt“ hat, als charakteristisch für das christliche Schriftverständnis, geradezu als eine christliche Prärogative, auf die sogar ein Überlegenheitsanspruch gegen8

Siehe zu Jerusalem: Julian Raby: Abdalmalik’s Jerusalem. Oxford 1992. Johannes Damascenus, De Haeresibus (Anm. 6), 1. 10 Siehe zu der Deutung des Johannes-Prologs als einer Antwort auf einen Targum zu Gen 1 Daniel Boyarin: The Gospel of the Memra. Jewish binitarianism and the Prologue to John. In: Harvard Theological Review 94/3 (2001), 242–284. Der Koran führt diese Debatte fort, siehe den Kommentar zu Q 55:1–4 in Angelika Neuwirth: Der Koran. Bd. I: Frühmekkanische Suren. Berlin 2011, 586–620. 9

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über dem Judentum basiert worden ist. So führt Origenes das Scheitern der Juden auf ihre literalistische Hermeneutik zurück, auf ihre Weigerung, über die materielle Sprache hinauszugehen und den immateriellen Geist zu entdecken.11 Das schließlich durchgedrungene Verdikt der Kirchenväter, die Juden seien deshalb nicht verus Israel, sondern ein Israel kata sarka, ein „fleischliches Israel“ geblieben,12 gründet letztlich auf der paulinischen Unterscheidung kata sarka und kata pneuma für literale und figurative Rede.13 Derselbe Antagonismus „geistig“ und „ungeistig“, „auf den Wortsinn begrenzt“, dürfte sich auch in Johannes’ Verdikt gegen den Koran reflektieren, ein Topos antijüdischer Polemik scheint hier fortzuwirken. Doch ist die Unterstellung eines nicht geistigen, sondern nur auf dem literalen Sinn fußenden Bibelverständnisses und damit einer auch nur literal zu verstehenden koranischen Rede gänzlich willkürlich. Im Gegenteil prägt typologisches, an christliche Muster anschließendes Denken bereits die frühesten Teile des Koran und beherrscht die gesamte mekkanische Verkündigung. Dagegen finden sich die von Johannes im weiteren Text monierten und in der christlichen Rezeptionsgeschichte prominent gewordenen wörtlich zu verstehenden polemischen Auseinandersetzungen mit Christen (und Juden) erst in den späten Teilen des Koran. Der mit dem Verzicht auf Typologie einhergehenden Distanzierung von Christentum und Judentum voraus gehen nämlich langwierige und prägende Prozesse der Aneignung christlicher Traditionen, die dem gesamten Teilcorpus des mekkanischen Koran, d. h. den Verkündigungen aus den Jahren 610–622,14 einen deutlich spirituell orientierten Charakter verleihen. Die Alltagswelt der Hörer wird dabei von einer als höherwertig erachteten, mit biblischen Figuren besetzten „Textwelt“ überwölbt. Man könnte hier – an Max Weber anknüpfend – von einer „Verzauberung“ der bei den paganen Hörern vorgefundenen rein empirisch wahrgenommenen Welt sprechen.15 Erst in der medinischen Phase der Verkündigung, d. h. den Jahren 622–632, wird diese spirituelle, vom christlichen Denken inspirierte Weltsicht zugunsten einer – sich vor allem politisch niederschlagenden – neuen Realitätsgebundenheit revidiert, ohne allerdings die private Form der Frömmigkeit substantiell zu verändern. Wie kommt es zu dieser partiellen „Entzauberung der Welt“? Die

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Daniel Boyarin: „This we know to be the carnal Israel“. Circumcision and the Erotic Life of God and Israel. In: Ders.: Sparks of the Logos. Essays in Rabbinical Hermeneutics. Leiden/Boston 2003, 24–58, hier 24. 12 Daniel Boyarin: Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture. Berkeley/Los Angeles/London 1993. 13 Röm 7,5–6, siehe dazu Boyarin, This we know (Anm. 11), 25. 14 Der von Theodor Nöldeke begründeten klassischen Chronologie folgend unterscheidet man zwischen drei mekkanischen und einer medinischen Periode der Koranverkündigung, siehe Theodor Nöldeke/Friedrich Schwally/Gotthelf Bergsträsser/Otto Pretzl: Die Geschichte des Korantextes. Leipzig 1938, Reprint Hildesheim 1961. 15 Der Versuch, den Koran als Spiegel dieses dialektischen Prozesses zu lesen, wurde unternommen von Angelika Neuwirth: Die koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung in der Geschichte. Freiburg i. Br./Basel/Wien 2017. Dabei basiert die These der „Verzauberung“ nicht zuletzt auf expliziten Vorwürfen, die Realität zu „verzaubern“, die gegen den Verkünder von seinen paganen Gegnern erhoben werden.

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dialektische Entwicklung soll an der für die islamische Religionsgenese zentralen Figur des Abraham16 gezeigt werden.

Abraham als narrative Figur Mit Abraham beginnt für Juden und Christen biblische Verheißungs-Geschichte,17 seine Erzählung ist es, die dem religionsübergreifenden „abrahamitischen Dreieck“, wie Guy Stroumsa es genannt hat,18 zugrunde liegt, das auch den Koran und Islam einbegreifen soll. Es ist nicht verwunderlich, dass Abraham, der im siebten Jahrhundert längst über seine biblischen Dimensionen hinaus eine lange theologische Geschichte durchlaufen hatte, auch im Koran eine vielgesichtige Figur ist, die in verschiedenen Rollen auftritt. Als solche steht Abraham unter den koranischen Propheten einzig da. Abrahams erstes Auftreten im Koran knüpft an Gen 18,1–17 an: 1 Und der HERR erschien ihm im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. 2 Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde 3 und sprach: Herr, hab ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber. 4 Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und lasst euch nieder unter dem Baum. 5 Und ich will euch einen Bissen Brot bringen, dass ihr euer Herz labt; danach mögt ihr weiterziehen. Denn darum seid ihr bei eurem Knecht vorübergekommen. Sie sprachen: Tu, wie du gesagt hast. 6 Abraham eilte in das Zelt zu Sara und sprach: Eile und menge drei Maß feines Mehl, knete und backe Brote. 7 Er aber lief zu den Rindern und holte ein zartes, gutes Kalb und gab’s dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. 8 Und er trug Butter und Milch auf und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum, und sie aßen. 9 Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. 10 Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. 11 Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. 12 Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt! 13 Da sprach der HERR zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? 14 Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben. 15 Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht –, denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht. 16 Da brachen die Männer auf und wandten sich nach Sodom, und Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten.

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Die Ausführungen basieren auf früheren Arbeiten der Verfasserin, deren Ergebnisse hier erweitert und vertieft werden. 17 Siehe zu der Dimension Abrahams als Verheißungsträger Hermann Spieckermann: „Ein Vater vieler Völker“. Die Verheißungen an Abraham im Alten Testament. In: Reinhard Gregor Kratz/Tilman Nagel (Hg.): „Abraham, unser Vater“. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam. Göttingen 2003, 8–21. 18 Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike. Berlin 2011.

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Die biblische Erzählung berichtet von einer Theophanie: Abraham wird von himmlischen Gästen geehrt, deren Identität er zunächst nicht durchschaut. Sie kommen, um ihm und seiner Gattin, beide bereits im hohen Alter stehend, die Geburt eines Sohnes anzukündigen. Die erste, noch frühmekkanische und daher in kurzen poetischen Versen gehaltene der drei koranischen Versionen, die dieses Ereignis nacherzählen, ist Q 51:24–30: Kam zu dir die Kunde von Abrahams Gästen, den geehrten? Als sie bei ihm eintraten und sprachen: Friede. Er sprach: Friede. Unbekannte Leute. Da ging er hinein zu den Seinen und brachte ein fettes Kalb herbei und setzte es ihnen vor: wollt ihr denn nicht essen? Und es überkam ihn Furcht vor ihnen. Sie sprachen: Fürchte dich nicht und verkündeten ihm einen klugen Knaben. Da kam seine Frau herbei, sie schlug sich auf die Wangen und rief: eine unfruchtbare Alte! Sie sprachen: so spricht dein Herr. Er ist der Wissende und Weise.

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Es folgt die Geschichte von Lot: Abraham sprach: was habt ihr vor, Gesandte? Sie sprachen: wir sind zu einem Volk gesandt, das sündigt, Steine aus Lehm über sie zu schicken, bei deinem Herrn für diejenigen gebrannt, die nicht Maß halten. Doch führten wir die, die in der Stadt gläubig waren, hinaus. Es gab in ihr nur ein einziges Haus von Gottergebenen. In ihr sind Zeichen für die, die die schmerzliche Strafe fürchten.

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Die kurze Erzählung (V. 24–30) referiert den biblischen Bericht, der nun aber gänzlich entdramatisiert erscheint. Sie berichtet dem biblischen Plot entsprechend von Abrahams spontaner Gastfreundschaft gegenüber ihm ganz unbekannten Gästen, mit der er zugleich das beduinisch-arabische Ideal der auch fremden Schutzsuchenden zu erzeigenden Großzügigkeit bestätigt. Die Erzählung ist aber vor allem eine Ankündigungsgeschichte, die deutlich auf die christliche Annuntiation verweist. Wie Maria wird Abraham und seiner namenlos bleibenden Gattin – trotz fehlender physischer Voraussetzungen – die Geburt eines Sohnes prophezeit. Zwar folgt der koranische Bericht darin der GenesisGeschichte, wo Sarah gleichfalls trotz ihres Alters ein Sohn versprochen wird, doch gibt es deutliche Hinweise auf eine spätantike, aus der christlich-exegetischen Tradition bekannte Einfärbung des Textes.19 Nicht nur die Darstellung der Fremden 19

Eine andere Version der Erzählung in Q 11: 69–76, die das ungläubige Lachen Saras, V. 71, über die Ankündigung als den Ausdruck ihrer Vorfreude über die mit der Geburt Isaaks typologisch angekündigte Geburt des Erlösers deutet, ist von G. Reynolds untersucht worden, siehe Gabriel Reynolds: Reading the Qur’an as Homily. The Case of Sarah’s Laughter. In: Neuwirth/Sinai/Marx, The Qur -a¯ n in Context (Anm. 4), 585–592.

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als Engelwesen, erkennbar an ihrer – biblisch nicht vorgegebenen – Verweigerung der Speise, die sowohl der jüdischen als auch der christlichen Tradition zufolge auf ihre Engelnatur deutet, auch die aus der Ankündigung der Geburt Jesu in Lk 1,30 bekannte Replik „Fürchte dich nicht“ (V. 28) lässt auf christliche Vermittlung der Geschichte schließen. Die biblisch erzählte Begebenheit der Erscheinung Gottes in Gestalt mehrerer Boten bei Abraham in Mamre reflektiert in ihrer koranischen Wiedergabe also bereits eine exegetische Bearbeitung. Im Koran ist auch nicht von Gott selbst (Gen 18,1) als Besucher die Rede, sondern von Anfang an von einer Mehrzahl von Gästen (V. 24), die nach christlicher Auslegung der Geschichte die Trinität verkörpern. Ephrem von Nisibis zieht nur die christologische Konsequenz, wenn er die Isaak-Ankündigung als Präfiguration der Ankündigung der Geburt Jesu darstellt.20 Zwar bleiben diese typologischen Assoziationen im Koran theologisch funktionslos, Abraham und Sarah sind nicht Präfigurationen Marias, doch verschieben sie narrativ den Fokus der Genesis-Erzählung von der Auszeichnung des biblischen Stammvaters Abraham durch eine göttliche Epiphanie, die eine frühere Verheißung bestätigt, hin zu der Ankündigung eines Sohnes an den genealogisch nicht determinierten Gerechten Abraham als einer wunderbaren Bezeigung göttlicher Treue und Allmacht. Die anschließende Lot-Erzählung (V. 31–37) ist demgegenüber bereits pure Straflegende und integraler Teil eines koranischen, spezifisch strafbezogenen narrativen Ensembles. Die Abraham-Erzählung bietet eine erste koranische Momentaufnahme seines Wirkens. Sie wird isoliert von ihrem biblischen Kontext erzählt, wo Abraham im unmittelbar vorausgehenden Kapitel, Gen 17, den Bund der Beschneidung vollzogen und eine zahlreiche Nachkommenschaft versprochen bekommen hat. Was biblisch der Anfang einer großen Verheißung ist: die Ankündigung der Geburt eines Sohnes –, bleibt im Koran auf eine „okkasionelle“ wunderbare Zuwendung an den Gerechten Abraham begrenzt. In keiner der drei koranischen Versionen der Geschichte ist von einer zahlreichen Nachkommenschaft Abrahams mit einer signifikanten Rolle für das Gottesvolk in der Weltgeschichte die Rede, wie sie biblisch (Gen 17,16) zur Ankündigung gehört. Die „Entbettung“ Abrahams aus dem biblisch vorgegebenen genealogischen Diskurs ist aber nicht einfach narrativer Verzicht auf ein Detail, sondern ist als „negative Intertextualität“21 zu verstehen.22 Denn obwohl auch frühere spätantike Schriften Abraham unter Ausblen20

Ephrem: Sancti Ephraem Syri in Genesim et in Exodum. Commentarii. Hg. von Raymond M. Tonneau. Leuven 1955, 75. 21 Thomas Bauer hat den Begriff der „negativen Intertextualität“ in die Koranforschung eingeführt, siehe Thomas Bauer: The Relevance of Early Arabic Poetry for Qur’anic Studies. Including Observations on Kull and on Q 22:27, 26:225, and 52:31. In: Neuwirth/Sinai/Marx, The Qur -a¯ n in Context (Anm. 4), 699–732, hier 714 f. Diese Analysekategorie ermöglicht, die für die koranische Entwicklung gerade bedeutenden Exklusionen von vorgefundenen Theologumena zu erkennen und die koranischen Innovationen als Antworten wahrzunehmen. 22 Angelika Neuwirth: Eine „religiöse Mutation der Spätantike“. Von tribaler Genealogie zum Gottesbund. Koranische Refiguration tribaler Ideale nach biblischen Modellen. In: Almut-Barbara

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dung der Genealogie als vorbildliches Individuum feiern,23 hat erst die koranische Darstellung Abrahams Person gänzlich aus ihrer national-historischen Verankerung gelöst und in eine geschichtsferne – man könnte sagen: spirituell abgehobene – „Parallelwelt“ gestellt. Die Gastfreundschaftsgeschichte hat häufig bildlichen Niederschlag gefunden, besonders in dem Ikonentypus der „Philoxenie“, der die Besucher mit der Trinität identifiziert. Die Prominenz des Motivs hat aber auch zu tun mit der in der christlichen Theologie brennenden Frage nach der Inklusivität von Abrahams Gastfreundschaft,24 die in der frühen koranischen Abraham-Perikope noch nicht im Blickfeld steht, später aber für das Abraham-Bild umso wichtiger wird, die Frage: Wie wirkt sich Abrahams „nicht von vornherein jüdische Identität“ auf seine Gastfreundschaft aus? Abraham bewirtet die himmlischen Gäste zwar, nachdem er kurz vorher seine Beschneidung vollzogen hatte, jedoch schon in einem sehr hohen Alter stehend, von dem er 99 Jahre außerhalb des Bundes durch die Beschneidung gelebt hatte. Nach jüdischer Tradition ist Abrahams Gastfreundschaft – im weiteren Sinne der spirituellen Gastfreundschaft –, sein Aufruf zur Verehrung des einen Gottes, inklusiv, er ist nicht auf Juden begrenzt. Paulus, selbst Zeitgenosse der rabbinischen Tradition, hat den Kreis derjenigen, die Anspruch auf Abrahams Gastfreundschaft haben, noch entscheidend erweitert. Im Römerbrief hat er aus Abrahams Gastfreundschaft eine Einladung gerade der Nicht-Juden, der Nicht-Beschnittenen, in den Abrahamsbund hineingelesen und damit den nicht jüdisch-stämmigen, hellenistischen Christen die Aufnahme in die neue Glaubensbewegung ermöglicht: Röm 4,9–16: 9 Diese Seligpreisung nun, gilt sie den Beschnittenen oder auch den Unbeschnittenen? Wir sagen doch: „Abraham wurde sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.“ 10 Wie wurde er ihm denn zugerechnet? Als er beschnitten oder als er unbeschnitten war? Ohne Zweifel nicht, als er beschnitten, sondern als er unbeschnitten war! 11 Das Zeichen der Beschneidung aber empfing er als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er noch nicht beschnitten war. So sollte er ein Vater werden aller, die glauben, ohne beschnitten zu sein, damit auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde; 12 und ebenso ein Vater der Beschnittenen, wenn sie nicht nur beschnitten sind, sondern auch gehen in den Fußstapfen des Glaubens, den unser Vater Abraham hatte, als er noch nicht beschnitten war. 13 Denn die Verheißung, dass er der Erbe der Welt sein sollte, ist Abraham oder seinen Nachkommen nicht zuteilgeworden durchs Gesetz, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens. 14 Denn wenn jene, die aus dem Gesetz leben, Erben sind, dann ist der Glaube nichts, und die Verheißung ist dahin. 15 Denn das Gesetz richtet Zorn an; wo aber das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung. 16 Deshalb muss die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, damit sie aus Gnaden sei und die Verheißung festbleibe für alle Nachkommen, nicht allein für die, die aus dem Gesetz leben, sondern auch für die, die aus Abrahams Glauben leben. Der ist unser aller Vater.

Renger/Isabel Toral-Niehoff (Hg.): Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel. Berlin 2014, 201–230. 23 Siehe etwa Philo von Alexandria: De Abrahamo. In: Ders.: Die Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Leopold Cohn. Bd. I. Berlin 2 1962, 91–152. 24 Siehe Salomon Buber (Hg.): Midrasch Tanchuma. Ein aggadischer Commentar zum Pentateuch von Rabbi Tanchuma ben Rabbi Abba. Wilna 1885. lekh lekha 6, und bT Sukka 49b, Hagiga 3a.

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Nicht erst kraft des physischen Zeichens, sondern wegen seines bereits vorher gelebten unverbrüchlichen Gottvertrauens ist Abraham Vorbild. „Durch den Glauben“ sind auch spirituelle Kinder Abrahams als solche gerechtfertigt. Die in Q 51 noch nicht als Inklusionsfigur fokussierte Gastfreundschaft wird später für die entstehende islamische Identität grundlegend werden. Sie wird den Schlüsselbegriff für die Selbstwahrnehmung der Gemeinde liefern, die sich als millat Ibrahim, als „Bundesgemeinde Abrahams“, als „Kreis der Gastfreunde Abrahams“, bezeichnen wird. Dagegen ist die mekkanische Verkündigung noch unpolitisch. Die mekkanischen, d. h. zwischen 610 und der Hidjra 622 entstehenden Suren präsentieren biblische Geschichten – im Einklang mit christlicher mündlicher Tradition – als Exempla, als Vorbildgeschichten. Sie präfigurieren so die psychische Befindlichkeit des Verkünders und seiner Gemeinde, in unserem Fall die Herausforderung, auch gegen die Vernunft Gott zu vertrauen. Denn selbst in vernunftwidrigen göttlichen Ankündigungen liegt – das vermittelt ihr aus der christlichen Interpretation bewahrter Unterton – eine Verheißung verborgen.

Mekka und die Biblisierung des paganen Weltbilds Der biblischen Abraham-Biographie folgend müsste nun die Akedah, Abrahams Bereitschaft zur Opferung seines Sohnes, folgen. Stattdessen wird zunächst – in Q 37:89–98 – aber eine Begebenheit erzählt, die in Abrahams Vorgeschichte in Haran zurückreicht: seine Zerstörung der Götzen seines Vaters.25 Dieser Begebenheit kam in der Makkabäerzeit besondere Bedeutung zu, wo man dem Inklusivismus des hellenistischen Judentums entgegentreten musste: Das Jubiläenbuch, aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert stammend, führt die Geschichte im Zusammenhang einer generellen Denigrierung der vorjüdischen Verhältnisse an.26 In der Spätantike wird sie philosophisch ausgelegt: Philo liest aus ihr eine Umkehrung der biblischen Migrationsrichtung Abrahams heraus: Dieser wandert nicht aus der Heimat in ein fremdes Land aus, sondern aus der Fremde in die Heimat ein.27 In der koranischen Verkündigung, wo sie siebenmal erzählt wird, erhält die Begebenheit wiederum eine neue Bedeutung, bildet nun typologisch die Situation der Gemeinde im paganen Mekka ab. Zu seiner [Noahs] Gemeinschaft gehört auch Abraham. Als er zu seinem Herrn mit lauterem Herzen kam, als er zu seinem Vater und zu seinem Volk sprach: „Was ist das, was ihr da verehrt?

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Siehe zur Sure den Kommentar zu Q 37 in Angelika Neuwirth: Der Koran. Bd. 2/1: Frühmittelmekkanische Suren. Berlin 2017, 147–216. Zu der bereits aus der Haggadah bekannten Erzählung vgl. Heinrich Speyer: Die biblischen Erzählungen im Qoran. Gräfenhainichen 1931, 139 f. 26 Siehe dazu Reinhard Gregor Kratz: „Öffne seinen Mund und seine Ohren“. Wie Abraham Hebräisch lernte. In: Kratz/Nagel, Abraham, unser Vater (Anm. 17), 53–65. 27 Siehe Philo, De Abrahamo (Anm. 23).

Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran Wendet ihr euch lügnerisch Göttern zu – statt dem einen Gott? Was denkt ihr denn vom Herrn der Welten?“ Und er blickte auf zu den Sternen und sprach: „Ich bin krank“. Da kehrten sie ihm den Rücken. Er aber wandte sich den Götzen zu und sprach: „Wollt ihr denn nicht essen? Was ist euch, dass ihr nicht sprecht?“ Und er versetzte ihnen einen Schlag mit der Rechten. Da stürmten seine Leute auf ihn los. Er sprach: „Dient ihr etwa dem, was ihr selbst gemeißelt habt? Wo doch Gott euch erschuf und das, was ihr macht?“ Sie sprachen: „Baut ihm einen Bau und werft ihn in den Brand!“ Sie planten gegen ihn eine List, doch wir machten sie zu den Unterlegenen.

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Zweimal steht Abraham für eine Erneuerung: Wenn Abraham im Genesis-Bericht mit seiner Bereitschaft, Heimat und Clan zu verlassen, und seinem grenzenlosen Vertrauen in die göttlichen Verheißungen einen ethisch revolutionären Entwicklungssprung vollzieht, dann vollzieht er im Koran einen nicht weniger revolutionären Entwicklungssprung, hier jedoch epistemisch: durch rigoroses Neudenken. Denn Abrahams Bruch mit seiner Vorgeschichte erfolgt nicht im Gehorsam gegenüber der göttlichen Aufforderung – lekh lekha („zieh fort“) –, sondern ist seine eigene Initiative: Er greift aktiv in die arationale, obsolete Praxis der Götzenverehrung seiner Umwelt ein – schon für Philo ein Schritt zur Selbstvervollkommnung und Einsicht in die geistige Struktur der Welt. Die koranische Verkündigung geht noch einen Schritt weiter: Indem Abraham die Götzen argumentativ als machtlos erweist, stiftet er die Paganen, die zeitgenössischen wie die späteren, zu theoretischem Nachdenken an, drängt sie zu der Einsicht in den Status des Menschen als Geschöpf des einen Gottes. Durch seine Zerstörung der Götzen seines Vaters wird Abraham gleichzeitig zu einem sozialen Vorbild für die Gemeinde, die ihrerseits dabei ist, mit der tribalen Kultur ihres Umfelds zu brechen. Wie die Gemeinde tauscht Abraham die genealogische Loyalität zu seinem Vater gegen eine spirituelle, einen Gottesbund.28 Er qualifiziert sich damit für seine Rolle als Verheißungsträger, dem nun der bereits in der Gastfreundschaftsgeschichte angekündigte Sohn auch wirklich geschenkt wird. Es folgt unmittelbar anschließend an die Götzen-Zerstörungs-Erzählung – sehr verknappt und überhaupt das einzige Mal erzählt – die Akedah-Geschichte. Sie hat die emotional ergreifende biblische Geschichte von Abrahams Bereitschaft zur Opferung seines Sohnes auf einen gänzlich undramatischen Bericht reduziert: Gen 22,1–19: 28

Neuwirth, Eine „religiöse Mutation der Spätantike“ (Anm. 22).

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A. Neuwirth 1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. 3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt. 14 Und Abraham nannte die Stätte „Der HERR sieht“. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt. 15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, 17 will ich dich segnen und deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; 18 und durch deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. 19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.

Dagegen Q 37:99–109: Er sprach [zu seinem Vater]: Ich gehe hin zu meinem Herrn, Er wird mich leiten. Herr, schenk mir einen von den Frommen! Da verkündigten wir ihm einen sanften Knaben. Als er mit ihm soweit gekommen war, den Lauf zu vollziehen, sprach er: Mein Sohn, ich sah im Traum, dass ich dich opfern soll. So sieh, was du dazu meinst. Er sprach: Mein Vater, tu was dir befohlen wird, du wirst mich, so Gott will, geduldig finden. Als sich die beiden [in Gottes Willen] ergeben hatten, und er ihn auf die Schläfe geworfen hatte, da riefen wir ihn an: Abraham, du hast den Traum erfüllt. So lohnen wir denen, die Gutes tun! Dies ist eine deutliche Prüfung. Durch ein gewaltiges Schlachtopfer schafften wir Ersatz für ihn, und wir ließen für die Späteren den Spruch zurück: Segen sei über Abraham!

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Die Geschichte sollte den Hörern bekannt gewesen sein, denn sie wird im mekkanischen Kerntext von Q 37, d. h. ohne den später hinzugefügten V. 102 gelesen, narrativ gar nicht voll entfaltet, das Opfer selbst wird nur angedeutet. Auch in dieser Reduktion auf die bloßen Fakten könnte wieder ein Verzicht auf die in der spätantiken Literatur beliebten Erzähldetails zu den psychologischen Verfasstheiten der Protagonisten zu sehen sein.29 Auffallend ist, dass der Sohn aktiv an der Handlung beteiligt ist (V. 103). Dies entspricht der rabbinischen Deutung30 – wo die biblisch hochdramatische Geschichte ebenfalls entschärft wird, Abrahams Unterordnung der elementarsten menschlichen Beziehung zwischen Vater und Kind unter seine persönliche Gottestreue nicht zugelassen wird. Doch ist die jüdische nicht die radikalste Umdeutung, die die biblische Geschichte in der Spätantike erfahren hat: Wirkmächtig war vor allem die christliche Ummünzung des Geschehens in einen Typus des Sohnesopfers Gottes selbst, der sich schon bei den frühen Kirchenvätern findet.31 Der koranische Bericht weist noch Spuren davon auf: Aus der Kennzeichnung des Ersatzopfers als „gewaltig“ (V. 107) erhellt, dass auch in der hier reflektierten Tradition das Christus-Opfer im Hintergrund steht: Gott hat ein anderes, größeres Opfer vor! Wenn dieser Gedanke im Koran auch theologisch unausgesprochen bleibt, so wird dem Ereignis doch auch hier eine Verheißungsdimension unterlegt. Kein Wort fällt in der koranischen Geschichte über die biblische Auszeichnung der „Abraham-Abstammung“ als Segnung für alle Völker wie in Gen 22,18: „Durch deine Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden, weil du auf meine Stimme gehört hast.“ An deren Stelle steht die Einführung einer schlichten Segensformel, die von allen Menschen gesprochen werden kann. Abraham bleibt also Teil der universalen spirituellen „Gegenwelt“ ohne unmittelbar historische, geschweige denn nationale Aktualität. Gleichwohl ist die Geschichte ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Gemeinde zur Konstruktion einer eigenen Identität. Mit dem Abraham-Zyklus aus Q 51 und 37, der die für Judentum und Christentum paradigmatischen Erzählungen des Heimat-Verlassens, des Verheißungsempfangs und der Opferbereitschaft in den Horizont der koranischen Gemeinde holt, wird ein ganz neuer Zugang zur biblischen Vergangenheit eröffnet. Die bis dahin erzählten Geschichten kreisten zumeist um Moses Auseinandersetzung mit Pharao, bildeten also den in der Welt der Gemeinde aktuellen Machtkampf zwischen Tyrann/Unterdrückern und Prophet ab. Mit Abrahams Eintritt in die koranische Narrative wird nun dieses „einfache“ typologische Muster des Abbildens bzw. Neu-Durchlebens biblischer Situationen durchbrochen und die Basis für eine andere Typologie, eine „Verheißungstheologie“, gelegt, die über das Mose-Paradigma hinausgeht. 29 Flavius Josephus: Flavii Iosephi Antiquitatum Iudaicarum Epitoma. Edidit Benedictus Niese. Bd. I. Berlin 1892, 222–236, gibt ausführliche Dialoge zwischen Vater und Sohn wieder. 30 Siehe zur Sure Neuwirth, Der Koran. Bd. 2/1 (Anm. 25), 147–216. Zu der aus der Haggadah bekannten Erzählung vgl. Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran (Anm. 25). 31 Z. B. Irenäus von Lyon: Adversus haereses. Teilbd. 4. Übers. und eingeleitet von Norbert Brox. Freiburg i. Br. u. a. 1997, 5, 4–5; siehe für weitere Zeugnisse im frühen Christentum Thomas Hieke, http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/12288/ (6.3.2018).

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Muhammad und Mose Einige kurze Bemerkungen zu dem konkurrierenden Mose-Paradigma sind erforderlich, um die mit Abrahams Profilierung eintretende Wende zu verdeutlichen. Die Identität der sich herausbildenden Gemeinde wird zunächst in der Nachfolge des Mose-Volkes gesucht. Als Empfänger biblischer Botschaften versteht man sich zunehmend als selbst der biblischen Heilsgeschichte zugehörig, als Fortsetzer der von Mose geführten Israeliten.32 Wie ist ein solcher Zeitsprung in die biblische Vergangenheit möglich? – Nur dank der bereits vorausgegangenen Verwandlung der historischen Israeliten in ein spirituelles Gottesvolk, dank einer neuen typologischen Lektüre der Bibel. Denn zwischen der biblisch erzählten Geschichte und der spätantiken Deutung steht die erst in der Spätantike etablierte Instanz der „Schrift“, kit¯ab. Sie genießt bereits in der mittelmekkanischen Verkündigung höchste Autorität; ein Status, der auch im Religionsvergleich Aufmerksamkeit erregt hat. Guy Stroumsa charakterisiert sie so: „Dieses von Natur aus himmlische Buch kann auf die Erde herniedersteigen und sich sozusagen ‚inkarnieren‘, aber es ist im Wesentlichen ewig und funktioniert wie eine Art platonische Idee des Buches, parallel zur geschaffenen Welt und in gewissem Maße als deren Modell.“33 Herabsteigen kann die „Schrift“ aber nur durch das Wort der Propheten. Die in der himmlischen Schrift erzählten Geschichten werden damit zu prophetischen „Mitteilungen“, nehmen eine ahistorisch gottesdienstliche Funktion an. Der narrative Pakt der biblischen Erzählungen hat einem „liturgischen Pakt“ Platz gemacht. Das Wort qur’¯an, die Selbstbezeichnung der Verkündigung, meint nichts anderes als die „Lesung“ aus einer – nur Propheten zugänglichen – Lesevorlage, einer himmlischen Schrift, der auch die anderen Heiligen Schriften entstammen. Man mag sich fragen, wie es zu der Wahrnehmung der – hierarchisch hoch über den übrigen Mitteilungen der Verkündigung rangierenden – himmlischen Schrift gekommen ist. Eine plausible Erklärung könnte die Anschauung der Liturgie der Nachbartraditionen liefern. Die aus der himmlischen Schrift mitgeteilten biblischen Geschichten haben in den gottesdienstlichen Feiern der Juden und Christen einen besonderen Status: Sie stehen bei den zeitgenössischen Juden und Christen, als qeri’at Torah oder als anagnosma, als „Lesung“ aus der Bibel, im Mittelpunkt des gottesdienstlichen Zeremoniells. Mehr noch: Vor Beginn der Schriftlesung werden die irdischen Manifestationen der himmlischen Schrift, Kodizes bzw. Schriftrollen, in Prozessionen feierlich herumgetragen und von den Gläubigen verehrt, so dass der Rang der Bibel-Vergegenwärtigung durch Lesung vor allen anderen Gottesdienstteilen außer Frage steht. Nicht dramatisch inszeniert, aber doch im Textverlauf eindeutig hervorgehoben, nehmen die biblischen Geschichten seit den mittelmekkanischen Suren auch in der koranischen Verkündigung die zentrale Position ein. Die Suren dieser Zeit sind eben nicht Predigten,34 sondern eher „Libretti“ von vollständigen Gottesdiensten der neuen Gemeinde. Die im Text durch Ein- und 32

Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 4). Stroumsa, Das Ende des Opferkults (Anm. 18), 60–61. 34 Reynolds, Reading the Qur’an as Homily (Anm. 19). 33

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Ausleitungen hervorgehobenen biblischen Geschichten35 eröffnen der Gemeinde den Einstieg in die „Parallelwelt“ der israelitischen Heilsgeschichte. Diese mentale Bewegung heraus aus der Realität wird in dem mit dem Surenvortrag eng verbundenen Gottesdienstteil des Gebets durch Körpersprache orchestriert: Die Gemeinde markiert ihre Neuorientierung dadurch, dass sie im Gottesdienst dem lokalen Heiligtum, der Kaaba, den Rücken kehrt und sich zum Zentrum des biblischen Heiligen Landes, nach Jerusalem, hin verneigt. Die reale lokale Kaaba, als Ort eines inneren Exils wahrgenommen, wird also mit einem fernen, spirituellen Heiligtum verbunden. Imaginierte, „verzaubernde“ Wahrnehmung der Topographie als in eine spirituelle Welt einmündend befreit von der belastenden empirischen Realität.36 Der Verkünder erlebt sogar eine Traum-Entrückung von Mekka in das visionäre Jerusalem.37 Wenn im Koran auch nur von dem Ausgangs- und dem Zielort, dem Heiligtum in Mekka und dem in (oder über) Jerusalem die Rede ist, so wird die Versetzung selbst doch eindeutig mit dem arabischen Wort für Moses befreienden Auszug, den Exodus, – mit „isra“ – bezeichnet. Beide Heiligtümer, das in Mekka und das in und über Jerusalem, werden dabei – spätantik – als masdjid, als „Gebetsstätte“, d. h. nicht mehr als Tempel, bait, sondern als Ort von Liturgie, wahrgenommen: Sie bilden eine „Heiligkeitsachse“, durch die Mekka an der Ausstrahlung Jerusalems als heiligem Ort teilhat.

Abraham als Akteur in der Geschichte Abraham ist mit diesem neuen Raum-Konzept zunächst nicht verbunden. Anders als Mose38 hat Abraham keine kohärente Vita im Koran, seine Person steht symbolisch für „Gottvertrauen“ und beherztes Eintreten für den reinen Gottesdienst. Dennoch wird er, insofern ihm und ihm allein Nachkommen als Fortführer seines Gottesdienstes gewährt sind, als einziger koranischer Prophet mit einer Zukunftsverheißung für die Geschichte verbunden. Sie bleibt zunächst unterschwellig, da er bis in mittelmekkanische Zeit hinein eine Beispielfigur aus der biblischen „SchriftWelt“ bleibt, die sich nicht direkt mit der Realwelt berührt. Doch kurz vor der Auswanderung der Gemeinde nach Medina tritt Abraham unerwartet in die „reale Geschichte“ ein. In einem Gebet erbittet er eine segensreiche Zukunft für die Gemeinde, Q 14:35–40: Als Abraham sprach, Herr mach diese Ortschaft sicher! Und lass mich und meine Söhne den Götzendienst meiden! [. . . ]

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Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 4), 321–327. Siehe dazu jetzt Neuwirth, Die koranische Verzauberung der Welt (Anm. 15). 37 Zu dem vom Propheten Muhammad mit seiner visionären Nachtreise nach Jerusalem vollzogenen „transhistorischen Exodus“, Isra’, siehe Neuwirth, Die koranische Verzauberung der Welt (Anm. 15), 181–223. 38 Eine Kindheitsgeschichte und Darstellung der Mose-Vita bis zur Idolatrie-Episode bietet Q 20, siehe dazu Neuwirth, Der Koran. Bd. 2/1 (Anm. 25), 303–376. 36

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A. Neuwirth Herr, ich habe Leute aus meiner Nachkommenschaft angesiedelt in einem Tal, in dem kein Getreide wächst, damit sie das Gebet verrichten. Mach, dass die Herzen der Menschen sich ihnen zuneigen und beschere ihnen Früchte, dass sie dir dankbar seien! [. . . ] Lob sei Gott, der mir noch im hohen Alter Ismael und Isaak geschenkt hat. Mein Herr erhört das Gebet. Herr gib, dass ich das Gebet verrichte und Leute aus meiner Nachkommenschaft! Herr nimm mein Gebet an!

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Typologisch gesehen wird damit eine Segnung nachgeholt, die die Israeliten längst erfahren haben: Nachdem ihm in Gen 15 das Vorauswissen um die nationale Zukunft seiner jüdischen Nachkommen anvertraut worden war, erbittet Abraham nun eine Verheißung auch für seine arabische Nachkommenschaft. Mit dieser Bitte um ein historisches Eingreifen Gottes in die Geschicke der arabischen Nachkommen, d. h. der nachmaligen Glaubensgemeinde, qualifiziert sich Abraham – wie das von keiner anderen biblischen Gestalt gilt – als Schutzherr der neuen Gemeinde. Sure 14 gehört in die Zeit kurz vor der erzwungenen Auswanderung, in der zwei Selbstbilder, das biblisch geprägte der Gemeinde und das eher autochthon-arabische der Gegner des Propheten, aufeinanderprallen. Mit dem Gebet bietet sich Abraham als eine mögliche Brückenfigur an: Als spirituelles Glaubensvorbild der Gemeinde, d. h. erfahren im Gebet, und gleichzeitig als Stammvater der Araber, d. h. als Garant des Wohlergehens einer Nachkommenschaft, konnte er sich nun auch für seine arabischen Kinder verwenden. Der Text des Gebets ist eine arabische Gegenversion zu Gen 15, wo ihm der Einzug ins verheißene Land für seine Nachkommen über Isaak prophezeit wird. Diesem Einzug soll nun eine Rolle für seine arabischen Nachkommen entsprechen, aber nicht in einem Land, da Milch und Honig fließt, sondern in einem unfruchtbaren Gebiet, in Mekka, einer Stadt, die nur durch ihr Heiligtum ausgezeichnet ist. Mit dieser Aufhebung der Grenzen zwischen der „Parallelwelt“ und der Realwelt, mit der Politisierung von Abrahams Prophetenrolle, zeichnet sich für Abraham bereits der Sonderstatus ab, durch den er in medinischer Zeit zur Gründerfigur einer neuen Gemeindegeschichte werden wird.

Medina und die Arabisierung des biblischen Weltbilds Spricht man über Medina, so reicht die einfache, für die mekkanische Zeit gültige Vorstellung von der Gemeinde als einer typologisch an biblischen Vorbildern orientierten Betergemeinschaft, die missionarisch für den Eingottglauben eintritt, nicht mehr aus.39 Man hat für diese Situation davon auszugehen, dass der Verkünder und seine Hörerschaft nun (622–632) mit gebildeten Mitgliedern einer jüdischen 39

Zu den medinischen Suren siehe Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 4), 510– 527.

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Gemeinde konfrontiert waren, die über ein ungleich tieferes und breiteres Bibelwissen verfügten als sie selbst. Dieses Wissen war nicht mehr primär Gegenstand frommer Meditation, sondern vor allem gelehrter Verhandlung. Das bekannte rabbinische Prinzip „Nicht im Himmel ist sie (die Torah), sondern auf Erden“ – ein Kürzel für die in der jüdischen Tradition bereits erfolgte „Erdung“ der Torah durch die Exegese ihrer Ausleger40 – kann den hermeneutischen Graben ausleuchten, der sich zwischen der neu entdeckten jüdischen Bibellektüre und der bis dahin spirituell wahrgenommenen biblischen Parallelwelt für die Gemeinde auftat. Denn anders als die Gemeinde besitzen die Juden die Bibel „wörtlich“, d. h. sie sind aus ihrem Gottesdienst mit den biblischen Texten verbatim vertraut,41 die sie durch eine eigene, für die jüdische Heils- und Nationalgeschichte relevante Auslegung verstehen. Von der Gemeinde für verbürgt gehaltene Wissensbestände aus der spirituellen Parallelwelt werden durch die Begegnung mit der jüdischen Exegese, in der diese eine politische Kontextualisierung erfahren haben, notwendig verfremdet. Die in Medina bei den jüdischen Exegeten vorgefundene politische Lektüre von Schrifttexten bleibt nicht ohne Folgen. In der Tat ist das auffallendste Merkmal der „neuen“ Verkündigung ihre politische Dimension. Nicht nur entstehen nun politische Ansprachen, auch bereits in Mekka verkündete Texte werden in Medina einer Revision unterzogen, die nachträglich politische Konsequenzen aus dem Mitgeteilten zieht.42 Unter diesen nachträglich als politisch signifikant erkannten Texten sollte auch und vor allem die für die jüdische Identität zentrale Geschichte von Abrahams Sohnesopfer, die Akedah, gewesen sein. Wir können diese „Entdeckung“ der jüdischen Bedeutungsdimension der Akedah durch die koranische Gemeinde nur aus einigen koranischen Texten erschließen, deren Zeugnis aber insofern relevant ist, als sie nur vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der jüdischen Deutung Sinn ergeben. Die Akedah, die in Mekka (Q 37:99–108, ohne 102) noch erbaulich, als beispielhafter Treuebeweis der Person Abrahams, dargestellt worden war, muss jetzt in ihrem vollen theologischen Gewicht erkennbar geworden sein: nämlich als

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Die Formel formuliert das Fazit aus einer rabbinischen Debatte über den Status von Text vs. Exegese, aus der die Exegese als höherrangig gegenüber dem Text hervorgeht, siehe bT Baba Mezia 59a–b. Siehe dazu Gershom Scholem: Offenbarung und Religion als religiöse Kategorien im Judentum. In: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a.M. 1996, 90–120, hier 102–104. 41 Eine in Q 7:172–174 den medinischen Juden zugeschriebene Verfälschung eines Torah-Verses, die zunächst unentdeckt bleibt, dann aber durchschaut wird, beruht auf einem Wortspiel, das die wörtliche Kenntnis des Bibelverses seitens der jüdischen Gewährsleute voraussetzt, siehe dazu Dirk Hartwig: Der „Urvertrag“ (Q 7:172). Ein rabbinischer Diskurs im Koran. In: Ders./Walter Homolka/Michael Marx/Angelika Neuwirth (Hg.): „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der Koranforschung. Würzburg 2008, 191–202. 42 Ein frappierendes Beispiel ist die nachträgliche Umdeutung der Geschichte von der Idolatrie des Goldenen Kalbes, siehe Angelika Neuwirth: Oral Scriptures in Contact. The Quranic Story of the Golden Calf and its Biblical Subtext between Narrative, Cult, and Inter-communal Debate. In: Dies.: Scripture, poetry and the making of a community: reading the Qur -an as a literary text. Oxford 2014, 306–327.

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Urszene des jüdischen Opferkults,43 so wie sie in der Spätantike wahrgenommen wurde. Mit Abrahams Opferaltar war das Fundament für den Tempel gelegt worden – eine exklusiv jüdische Angelegenheit. Was konnte die Akedah angesichts dieser bereits erfolgten Vereinnahmung als Teil der jüdischen Kultgeschichte für die neue Gemeinde noch bedeuten? Die Frage tangiert den Status des Gebetsrichtungsziels, Jerusalem. Welche Auswirkungen hatte die neue Deutung der Akedah als Gründungsereignis des Tempelkults auf das Bild des ja auch für die Gemeinde als Gebetsrichtung und damit als spirituelle Heimat relevanten Jerusalem? Obwohl der Tempelkult als Institution bis dahin keine Rolle gespielt hatte, der Jerusalemer Tempel im Gegenteil bereits nicht mehr räumlich, sondern in seiner spätantiken Sublimierung zu einem kosmischen, spirituellen Heiligtum, einem masdjid al-aqsa, wahrgenommen worden war, wird der physische Tempel unerwartet für die medinische Gemeinde zum neuen Modell des monotheistischen Heiligtums: Am Ende der Entwicklung steht die Realität eines steingebauten Tempels als Zentrum der rituellen Verrichtungen. Die Kaaba wird als kultisches Zentrum der sich nun herausbildenden neuen Religion etabliert. Man kann diese Wende nicht einschneidend genug einschätzen, denn mit der neuen Heiligtumsvorstellung wandelt sich der Status des bisher im Mittelpunkt der Gebetsliturgie stehenden spirituellen Jerusalem: Indem nun der jüdische Opferkult als raison d’etre des irdischen Jerusalem in den Blick trat, fiel die Vorstellung von der mit einem transzendenten Jerusalem verbundenen „ferneren Gebetsstätte“, als dem universalen monotheistischen Heiligtum, zu dem hin man seit Jahren seine Gebete ausgerichtet hatte, in sich zusammen. Der Ort war nicht nur als der jüdische Tempel bereits „besetzt“ mit schwerwiegenden biblischen, exklusiv jüdischen Verheißungen. Er hatte zusätzlich durch seine Gründung durch den jüdischen Erzvater Abraham eine politische Bedeutung erhalten.44 Dieses auch politisch vereinnahmte Jerusalemer Heiligtum entsprach nicht mehr der ökumenischen, spirituellen Gebetsstätte, dem „entfernten“, d. h. transzendenten Heiligtum, dem masdjid al-aqsa. Damit geriet die Heiligkeitsachse Mekka-Jerusalem und mit ihr die in der frühen Verkündigung etablierte „spirituelle Parallelwelt“ in Erschütterung.

Die qibla-Änderung Die hier wirksamen Irritationen sind im Koran nicht dokumentiert, wir stoßen stattdessen auf ein fait accompli, die fanal-ähnliche Weisung, die Gebetsrichtung nach Mekka zu verlegen (Q 2:142–145): 43

Siehe dazu Neuwirth, Die koranische Verzauberung der Welt (Anm. 15), 225–246. Siehe dazu Joseph Witztum: The Foundations of the House (Q 2:127). In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 72 (2009), 25–40. Die Übertragung des Abrahamsopfers auf den Tempelberg ist auch Gegenstand von bildlichen Darstellungen, man denke an den Mosaik-Fußboden der Synagoge von Bet Alpha, Baruch Kanael: Die Kunst der antiken Synagoge. München/Frankfurt a.M. 1961, 84. 44

Anziehung und Abstoßung. Hermeneutische Wandlungsprozesse im Koran Die Törichten unter den Menschen werden sprechen: „Was brachte sie von ihrer Richtung ab, in der hin sie bisher gebetet haben?“ Sprich: „Gottes ist der Osten und der Westen. Er leitet, wen er will, auf einen geraden Weg.“ So machten wir euch zu einer Gemeinde der Mitte, damit ihr Zeugen für die Menschen seiet und der Gesandte für euch Zeuge sei. Wir setzten die Richtung, zu der hin du bisher gebetet hast, nur deshalb ein, um zu sehen, wer dem Gesandten folgt und wer auf dem Absatz kehrtmacht. Wenn es tatsächlich schwer ist, dann nicht für die, die Gott geleitet hat. Es ist Gott nicht angemessen, dass er euch euren Glauben verlieren lässt. Gott ist zu den Menschen gütig, barmherzig. Wohl sehen wir, wie du dein Angesicht am Himmel hin- und her wendest. So wollen wir dir eine Richtung geben, die dein Gefallen findet. So wende nun dein Angesicht zur heiligen Anbetungsstätte! Wo immer ihr auch seid, kehrt euer Angesicht ihr zu! Die, denen die Schrift gegeben wurde, die wissen, dass es die Wahrheit ist von ihrem Herrn. Gott lässt, was sie tun, nicht unbeachtet. Kämst du auch mit jedem möglichen Zeichen zu den Schriftbesitzern, sie würden deiner Richtung nicht folgen, wie du nicht ihrer, da doch keiner von ihnen der Richtung des anderen folgt. Wenn du ihren Neigungen folgen wolltest, nachdem etwas vom Wissen zu dir kam, so wärst du unter den Frevlern.

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Dieser frühe Reformschritt der medinischen Gemeinde, traditionell ins Jahr 2 der Hidjra datiert, war als einschneidender Eingriff in das liturgische Leben offenbar eine umstrittene Maßnahme, deren Durchsetzung einer ausführlichen Offenbarung, Q 2:142–145, bedurfte. Wenn die Institution der Gebetsrichtung hin zum Tempel bei den Juden eine nicht nur spirituelle, sondern auch heilsgeschichtlichpolitische Dimension besaß – dies gewiss schon bei dem in die Exilszeit zu datierenden Tempelweihe-Gebet,45 aber noch konkreter dadurch, dass sich der Tempel symbolisch auf den einzigartigen Treueakt des jüdischen Stammvaters Abraham und seines Sohnes gründete –, musste auch die neue islamische qibla einem heilsgeschichtlichen Anspruch genügen. Aus der Abraham-Fürbitte für seine arabischen Nachkommen in Q 14:35–40 ging bereits seine besondere Verbindung zu Mekka als ihr Schutzherr hervor. Mekka verdankte seine Bestimmung als Heiligtum für die arabischen Nachkommen Abrahams dessen Gebet für die Segnung der Stadt und ihrer Bewohner. Es ist von hier nur ein kurzer Schritt hin zu der Vorstellung, 45

Siehe vor allem 1 Kön 8,49 f. („so wollest du ihr Gebet und Flehen hören im Himmel, an dem Ort, wo du wohnst, und ihnen Recht schaffen und wollest vergeben deinem Volk, das an dir gesündigt hat, alle ihre Übertretungen, mit denen sie gegen dich gesündigt haben, und wollest sie Erbarmen finden lassen bei denen, die sie gefangen halten, sodass sie sich ihrer erbarmen“).

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dass die Kaaba – analog zum Jerusalemer Tempel – auch von ihm errichtet wurde.46 Die Gründungsgeschichte der Kaaba wird nicht narrativ entfaltet, sie liegt aber zwei – anders nicht sinnvoll verstehbaren – Texten zugrunde. Der erste ist ein in die mekkanische Akedah-Erzählung eingefügter Zusatzvers Q 37:102, der das unmittelbare Vorspiel zur mekkanischen Heiligtumsstiftung liefert: Als er [Abraham] mit ihm [seinem Sohn] soweit gekommen war, den Lauf-Ritus zu vollziehen, sprach er: Mein Sohn, ich sah im Traum, dass ich dich opfern soll. So sieh, was du dazu meinst. Er sprach: Mein Vater, tu was dir befohlen wird, du wirst mich, so Gott will, geduldig finden.

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Der auf den ersten Blick unauffällige Vers enthält Elemente, die seine biblische Kontextualisierung mit dem Berg Moria unmöglich machen. Das Alter des Sohnes – offenbar als mündig – wird festgemacht an seiner Fähigkeit, eine der Hadjdj-Riten, den rituellen Lauf zwischen al-Safa und al-Marwa, zwei kleinen Heiligtümern in der Umgebung Mekkas, mit zu vollziehen. Diese Angabe verlegt die Handlung der Akedah vom Berg Moria auf die arabische Halbinsel. Abraham befindet sich mit seinem Sohn auf der Pilgerfahrt, dem Hadjdj, in Mekka, er ist im Begriff, den „Lauf-Ritus“ zu vollziehen, der dem Abschluss-Ritus der Opferung vorausgeht, als er in einem Traum den Auftrag zur Opferung des Sohnes erhält. Er zieht den Sohn zurate und erhält dessen Zustimmung. Wo fand jedoch das Opfer statt? Diese Frage wird in einer Fortsetzung des kurzen Vater-Sohn Dialogs in Sure 2:127–129 beantwortet, wo die beiden Patriarchen während ihrer Opfervorbereitungen ein Gebet sprechen, das faktisch den Gründungsakt der Kaaba besiegelt, Q 2:127–129: Als Abraham die Grundmauern des Tempels (bait) aufrichtete, sprachen er und Ismael: „Unser Herr nimm [unser Opfer?] von uns an! Du bist der Hörende, der Sehende. [. . . ] Weise uns in unsere Riten ein und wende dich uns zu! Du bist der, der sich zukehrt, der Barmherzige. Unser Herr, lass unter ihnen einen Gesandten aus ihrer Mitte auftreten, der ihnen deine Zeichen [Verse] vorträgt und sie die Schrift und die Weisheit lehrt und sie läutert. Du bist der Mächtige, der Weise.“

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Die von einzelnen Forschern, wie Tilman Nagel: „Der erste Muslim“. Abraham in Mekka. In: Kratz/Nagel, Abraham, unser Vater (Anm. 17), 133–149, angenommene, bereits vorkoranische Verbindung Abrahams zu Mekka ist nicht zu erweisen; sie ist zumindest nicht Teil des Bildungshorizonts der Hörer Muhammads gewesen, siehe dazu Nicolai Sinai: Fortschreibung und Auslegung: Studien zur frühen Koraninterpretation. Wiesbaden 2009, 97–151, und Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 4), 633–651.

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Wie Joseph Witztum47 gezeigt hat, liegt hier eine koranische Reinszenierung der Akedah vor, in deren Zentrum die Bauaktivität und das Gebet der beiden Patriarchen stehen. Beide sind gemeinsam aktiv. Hier ist es der arabische Sohn, der mitwirkt und damit dem Kaaba-Kult eine gleichzeitig biblische und arabische Genealogie verschafft. Nachdem Mekka bereits den Rang als Gebetsrichtung, als Sammelpunkt aller im Exil gesprochenen Gebete, von Jerusalem geerbt hatte, erbt Mekka mit diesem Gebet (V. 129) noch einen weiteren Ruhmestitel Jerusalems, den des Ausgangsortes von Wortgottesdienst. Mekka ist damit zu einem neuen Jerusalem geworden, das der axialen Verbindung zur „ferneren Gebetsstätte“ nicht mehr bedarf. Sein Heiligtum ist nun ein unabhängig-nationales, ein Tempel, bait, das, insofern auf Abraham zurückgehend, sogar der ältere gegenüber dem Tempel in Jerusalem ist, Q 3:96: Der erste Tempel, bait, der den Menschen errichtet wurde, ist der in Bakka [d. h. Mekka] als Segen und Rechtleitung für die Welten.

Damit hat sich der Blick auf die Heiligtümer gewendet: Sie sind nicht mehr spirituelle Endpunkte einer imaginierten Heiligkeitsachse, sondern sind für die Argumentation „entzaubert“ zu realen „Tempeln“ innerhalb von Nationalgeschichten geworden. Insofern aber die Heiligkeit der einstigen Achse nun an dem einen Punkt Mekka zusammenfließt, insofern Mekka die Heiligkeitszeichen Jerusalems, Ursprungsort von Prophetie und Schrift zu sein, erbt, bleibt seine besondere Aura des Heiligen – nun mit der Kaaba verbunden – für den Kult erhalten. Der „Typus“ Jerusalem mit seiner Verbindung zu den Israeliten ist durch den „Antitypus“ Mekka, dessen Heiligtum von Abraham gegründet ist, überlagert – oder aus anderer Perspektive: neu verkörpert worden.

Millat Ibrahim – die neue „Gastfreundschaft Abrahams“ Mit der Verbindung des Kaaba-Kults mit Abraham beginnt die politische Geschichte Abrahams für den entstehenden Islam. Sie wird in der Forschung oft als einem Kalkül, einem diplomatischen Schachzug verdankt, dargestellt. Die neue politische Errungenschaft der Vereinigung der paganen Araber unter dem nun abrahamitisch verstandenen Kult an der Kaaba ruht aber vor allem auf einem neuen Denken. Die Situation des Verkünders in Medina ähnelt der des Paulus, dem es darum ging, die Abraham-Gastfreundschaft auf die nicht jüdischen angehenden Christen zu erweitern.48 Dies allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass Abraham für Paulus bereits eine „Figur der Exegese“ gewesen war und nicht – wie im Falle der mekkanischen Verkündigung – eine Gestalt aus der zeitenthobenen spirituellen Parallelwelt. Wenn die medinische Argumentation an paulinische Muster anknüpft oder ähnliche 47

Witztum, The Foundations of the House (Anm. 44). Erik Aurelius: „Durch den Glauben gehorsam – durch Werke gerecht“. Streit um Abraham im Neuen Testament. In: Kratz/Nagel, Abraham, unser Vater (Anm. 17), 98–111.

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Muster entwickelt, so vollzieht sie damit den Schritt der anderswo bereits vollzogenen Umdeutung Abrahams nach. Abraham ist in der Spätantike nicht mehr primär biblische Gestalt, sondern eine exegetisch verfügbare Sinnfigur. Hier erweist sich nun die anderswo viel diskutierte „Gastfreundschaft“ als tragfähig. Es ging darum, die neue Gemeinde als „Angehörige Abrahams“, „Gastfreunde Abrahams“ (millat49 Ibrahim) zu erweisen; ein Gedanke, der schon in Abrahams Zusicherung in seinem Gebet für Mekka in Q 14:36 angesprochen worden war, wo es heißt: „wenn einer mir folgt, so gehört er zu mir“. Es waren nun Argumente für die Inklusivität von Abrahams Gastfreundschaft zu entwickeln, die auch die neue Gemeinde einfassen konnte. Dazu waren neben dem jüdischen Gedanken der Privilegiertheit der jüdischen Abrahamskinder auch christliche Ansprüche zu entkräften: Abrahamskindschaft – heißt es in Q 3:65, 67 f. – ist durch keine Schrift verbrieft, denn seine Frömmigkeit geht der Entstehung der Buch-Religionen voraus. Ihr Leute der Schrift, was streitet ihr euch über Abraham, wo doch Torah und Evangelium erst nach ihm herabgesandt wurden? [. . . ] Abraham war nicht Jude, noch Christ. Er war ein gottergebener h.an¯if [d. h. ein Gottesdiener aus den Völkern]. [. . . ] Die Menschen, die Abraham am nächsten stehen, sind die, die ihm gefolgt sind und dieser Prophet, und die, die gläubig sind! Gott ist der Freund der Gläubigen.

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Offenbar ist der kontrovers wahrgenommene jüdische und gleichzeitig christliche Anspruch auf Abraham nun auch im Bewusstsein der Gemeinde zum Anstoß geworden. In dieser Auseinandersetzung beansprucht die Gemeinde ihren eigenen Platz: nämlich als spirituelle – nicht durch historische Konfessionsentwicklung erst dazu aufgestiegene – Abrahamsgemeinschaft, als millat Ibrahim. Dieser Sinnzuwachs der Gestalt Abrahams, die bereits erfolgte Erfüllung seiner Gebete und seine Präzedenz vor den etablierten Religionen, koinzidiert mit der Herausbildung eines neuen Selbstbilds des Verkünders. Aus dem Apostel, dem „Gesandten“ (ras¯ul) Muhammad, der in Mekka einen „eschatologischen Ökume¯ mit einer prononciert eigenen nismus“ vertrat, ist in Medina ein „Prophet“ (nabi) religionspolitischen Botschaft geworden. Er ist aber nicht nur ein Prophet aus der biblischen Tradition, er ist gleichzeitig ein Prophet aus einer Gegentradition, der Gemeinschaft der bereits von Paulus geadelten Frommen „aus den Völkern“. Er nimmt zu Ende seiner Laufbahn den Titel eines nabi¯ ummi¯, eines „Propheten aus

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Millat Ibraham: Die Etymologie des koranischen Neologismus milla ist umstritten. Die häufig vertretene Ableitung aus aramäisch meltha, „Wort“, steht in keinem direkten Zusammenhang mit der Figur Abrahams. Vielmehr dürfte dessen wichtigste Errungenschaft, der „Bund aus der Beschneidung“, berit mila, hinter dem Kürzel mila, arab. milla, stehen, die im Koran für eine weiter reichende Bundeszusammengehörigkeit reklamiert wird.

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den Völkern“ (ein arabischer pun aus hebräisch navi me-ummot ha- ,olam) an, so heißt es in Q 7:157 f.: Ich werde meine Barmherzigkeit gewähren, denen die gottesfürchtig sind [. . . ] und die dem Gesandten, dem Propheten aus den Völkern (nab¯i umm¯i), folgen, den sie bei sich in der Torah und im Evangelium verzeichnet finden, der ihnen gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist, und der die guten Dinge für erlaubt, die schlechten für verboten erklärt und die drückende Verpflichtung und die Fesseln, die auf ihnen lagen, abnimmt. Sprich: Ich bin der Gesandte Gottes, des Herrschers über Himmel und Erde, an euch alle, kein Gott außer ihm! Er macht lebendig und lässt sterben. Darum glaubt an Gott und den Propheten aus den Völkern und folgt ihm!

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Hier stehen die Nicht-Juden, die „Völker“, beiden, den Juden und den Christen, gegenüber. Umso leichter sind sie selbst zu identifizieren, nämlich als die Bewohner der arabischen Halbinsel, die keiner der beiden großen Religionen angehören. Sie, die am Anfang der koranischen Entwicklung noch uneingeschränkt ihre Vorbilder in Juden und Christen sahen, lassen diese nun hinter sich zurück und behaupten, selbst die neue ideale Gemeinde, d. h. Nacheiferer Abrahams, zu sein, seiner Gemeinschaft (milla), seiner Gastfreundschaft, anzugehören – eine Selbsteinschätzung, die an die paulinische erinnert. Die Etablierung einer abrahamitischen „Gemeinde aus den Völkern“ auf der Halbinsel ist dabei kein bloßer Anspruch: Der durch die christliche Exegese der Bibel geprägten „Verzauberung der Welt“ in der mekkanischen Verkündigung folgte ja in Medina eine exegetische „Veralltäglichung“, eine „Entzauberung“, der spirituell besetzten Figuren und Gedankenfiguren, die nun nach dem Vorgang der jüdischen Exegese50 in die empirische Welt hereingeholt wurden. Abraham ist am Ende der Verkündigung gar nicht mehr Teil der biblischen „Parallelwelt“, sondern vollends Teil der lokalen Geschichte geworden, die nun ihrerseits zu einer parabiblischen Geschichte geworden ist. Er ist zugleich aus einer biblischen zu einer „spätantiken Figur“ geworden, zu einem für die Exegese zur Verfügung stehenden Sinnträger. Es ist diese bereits innerweltlich „verfügbare“, da zu einem exegetischen Faktor abstrahierte AbrahamFigur, die sich durch die Zeiten als Brückenfigur geeignet hat und noch eignet. Nicht mehr wie in den Philoxenie-Geschichten vom Geheimnis des Numinosen umflort, sondern selbst historisch aktiv werdend, kann Abraham nun eine exegetische Funktion übernehmen, nämlich Gastfreundschaft an Nicht-Juden leisten, seinen Gottes50

Sie wird auf eine Formel gebracht in dem talmudischen Verdikt „Denn nicht im Himmel ist sie (die Torah), sondern auf Erden“, mit dem eine rabbinische Erzählung endet, die die Höherrangigkeit der Exegese gegenüber dem Text vertritt, siehe bT Baba Mezia 59a–b. Siehe dazu Scholem, Offenbarung und Religion (Anm. 40).

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bund für sie öffnen. Er wird, indem er nun fest für die Realwelt reklamiert wird, zum eigentlichen „Begründer“ der sich herausbildenden neuen Religion, die der Verkünder Muhammad nur vervollkommnet. Er ist damit der Anfangspunkt einer religionshistorischen Achse, deren Endpunkt Muhammad besetzt. Abraham – nicht Mose und nicht Jesus – ist deswegen auch die einzige biblische Referenz im täglichen Gebet der Gemeinde, das eine Litanei enthält, die Abraham und Muhammad, die beiden „Architekten“ der neuen Religion, über ihr vorher aufrechterhaltenes typologisches Verhältnis hinaus in ein Sukzessionsverhältnis stellt, durch das nun Abraham definitiv zu einer innerweltlichen Figur wird: Gott, segne Muhammad und das Haus Muhammad, wie du Abraham und das Haus Abraham gesegnet hast. Und gib Heil Muhammad und dem Haus Muhammad, wie du Abraham und dem Haus Abraham Heil gegeben hast.

Hiermit ist der Prozess der Selbst-Abstoßung von der christlichen Tradition abgeschlossen. Wenngleich mit der Zentralisierung Abrahams noch dem paulinischen Konzept der Rehabilitierung der Gläubigen „aus den Völkern“, der im Koran ummiyun genannten neuen Monotheisten, Rechnung getragen wird, so ist doch die Lokalisierung des neuen Zentrums in das mit dem biblischen Abraham verbundene Arabien ein deutlicher Indikator einer Wende: Die nun erfolgende Verlegung der Topographia sacra nach Arabien, das damit eine Re-Biblisierung erfährt, ist zugleich eine Abkehr von Gedächtnisorten der christlichen Bibel, insbesondere dem zwischen Realität und Transzendenz oszillierenden Jerusalem. Obwohl in der Gebetsformel kaum primär an genealogische, sondern an spirituelle Nachkommen gedacht sein sollte – es geht nicht um den im Koran ganz marginalen AbrahamSohn Ismael –, steht Abraham, der sich ja bereits früh als Schutzherr der neuen mekkanischen Gemeinde qualifiziert hatte und der mit seiner Erneuerung der Hadjdj-Riten zum Gründer des mekkanischen Heiligen Bezirks erhoben worden war, auf arabischem Boden. Die Gebetsformel weist den Islam als eine auf den Abrahamsbund gegründete Religion aus. Die Gemeinde hat sich damit definitiv aus ihrer christlich geprägten Verankerung, der typologisch mit christlichen Sinnfiguren unterlegten Lektüre biblischer Geschichten, gelöst. Im Hintergrund steht nicht mehr die von vielen Geschichten unterschwellig mitgetragene Verheißung einer Erlösung. Vielmehr ist, mit der Identifikation des letztgültigen Heilsvermittlers als eines Abraham nachstrebenden „Gastfreunds der Völker“, Muhammad selbst ins Zentrum getreten. Dabei hat sich eine neue – legitime – Genealogie herausgebildet: eine Prophetensukzession. Stellt man diese Gebetsformel ernsthaft in den Kontext des heute so viel beschworenen „abrahamitischen Dreiecks“, so muss auch ihr theologischer Anspruch zur Kenntnis genommen werden: Sie reklamiert unüberhörbar den Einlass auch des Propheten Muhammad in das Konzept der abrahamitischen Gastfreundschaft, also die Aufnahme des Islam zusammen mit seinem Verkünder unter die abrahamitischen Geschwister-Religionen – ein Anspruch, der immer noch nicht klar genug wahrgenommen wird.

Vom nationalen Narrativ zur dialektischen Didaktik. Die Erzählform der Aggada bei Chaim Nachman Bialik und Shmuel Faust Alfred Bodenheimer

I Die klassische rabbinische Erzählform der Aggada ist integraler Teil der gesamten rabbinischen Literatur. Sie umfasst in der rabbinischen Literatur nach dem 2. Jahrhundert (und je nach Betrachtungsweise bis ins 6. oder auch noch ins 8. Jahrhundert hinein) alle Teile, die nicht unmittelbar dem halachischen (religionsgesetzlichen) Aspekt zugerechnet werden. Diese Definition der Aggada ex negativo als nichthalachisch war ihren unmittelbaren Urhebern selbst noch gar nicht geläufig, sie wird auf eine spätere Zeit, das Zeitalter der Geonim (geistigen Führer) in Babylonien im 9. und 10. Jahrhundert, zurückgeführt. Aggadot (so die Pluralform des aramäischen Begriffs) erstrecken sich auf die Ausschmückung und Erweiterung biblischer Geschichten (versuchen z. B., die in der Bibel nicht restlos geklärte Frage, warum Kain den Abel getötet hat, durch Ergänzungserzählungen zu erläutern), sie enthalten aber auch eine Anzahl von Erzählungen, in denen die Rabbinen selbst eine tragende Rolle spielen (berühmt sind solche wie die vom Märtyrertod des Rabbi Akiba, die Aggada berichtet aber auch von vielen innerrabbinischen Episoden), und auch Erzählungen, in denen nichtjüdische historische Persönlichkeiten, z. B. Alexander der Große, eine zentrale Rolle spielen. Die Rezeption der Aggada hat die jüdische Geistesgeschichte durchgehend begleitet und mitgeformt, und sie unterschied sich profund etwa in der Wahrnehmung eines auf „den einfachen Wortsinn“ der Torah fokussierten Exegeten wie Rabbi Shlomo ben Jizchak (Raschi, 1040–1105), eines rationalistischen Philosophen wie Maimonides (1135–1204) oder der Kabbalisten ab dem 13. Jahrhundert. All diesen Zugängen ist, bei ihrer Unterschiedlichkeit, gemeinsam, dass die Instanzen, von denen diese Erzählungen überliefert werden (also die Rabbinen), als religiös autoritative Persönlichkeiten betrachtet werden. Auch wenn somit die Aggada einen illustrierenden, lehrhaften, ausschmückenden und nicht den normativen Charakter A. Bodenheimer () Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_6

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der Halacha besitzt, wird sie als Ergänzungselement der verbindlichen (und notgedrungen höheren) „Wahrheit“ gelesen, die nicht empirisch, sondern in heiliger Inspiration gegründet ist. Die mit der Säkularisierung insbesondere im 19. Jahrhundert vollzogene Wahrnehmungswandlung der Aggada zu einer literarischen Grundkategorie hat insbesondere Johannes Sabel exakt aufgezeichnet.1 Im Gegensatz zu den jüdischen Gelehrten vor Beginn der Neuzeit sehen die Vertreter der Wissenschaft des Judentums, aber auch nichtjüdische Judaisten wie Franz Delitzsch, die kulturelle Bedeutsamkeit dieser Gattung gerade angesichts der an Bedeutung und Beachtung verlierenden Halacha als das wesentliche, kulturgestaltende Erbe des Judentums an. Das 19. Jahrhundert kann im Wesentlichen als der Zeitraum angesehen werden, der, vom Erbe Herders und Goethes getragen, die Aggada in ihrem literarischen Rang einzuordnen sucht. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzen Bemühungen ein, diese Erzählform explizit in ihrer Volkstümlichkeit wie auch einer Form von postulierter Ursprünglichkeit wieder zu beleben und für die breitere Masse zugänglich zu machen. Zwar gibt es schon im 19. Jahrhundert eine Anzahl von Textsammlungen, in denen, nicht selten von der Absicht der erbaulichen oder homiletischen Wirkung getragen, Aggadot nacherzählt werden. Sieht Sabel Wissenschaft und anthologischen Umgang mit der Aggada im 19. Jahrhundert noch miteinander verschränkt, so komme es, wie er schreibt, mit der Jahrhundertwende zu einer „von den vorangegangenen emanzipatorischen Programmatiken der Wissenschaft des Judentums ab[gelösten]“ Forschung einerseits und „zu einem umfassenden Nacherzählen des aggadischen Stoffes, das auf Kanonizität zielt“, andererseits.2

II Dieser anthologische Aspekt, der hier im Zentrum des Interesses steht, wird wiederum von drei Autoren in den Vordergrund gerückt, die sämtlich aus Osteuropa stammen. Zwei dieser Sammlungen sind ursprünglich in deutscher Sprache verfasst worden: Louis Ginzbergs Sammlung ist aber nie auf Deutsch erschienen,3 sondern wurde von Anfang an für ein englischsprachiges Publikum in den USA übersetzt und erschien in sieben Teilen unter dem Titel The Legends of the Jews (1909–1938), während Micha Josef Berdyczewsky unter dem nom de lettre Micha Josef Bin Gorion seine Sammlungen Die Sagen der Juden (1913–1927) und Der Born Judas (1913–1927) in deutscher Sprache publizierte. Hier allerdings geht es um die dritte Sammlung, die, ungeachtet der starken zeitgenössischen Rezeption aller drei, zur wirkungsmächtigsten wurde: Chaim Nachman Bialiks Sefer Ha-Aggada von 1908. 1 Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas. Tübingen 2010. 2 Ebd., 214. 3 Martin Buber hat dem Geschäftsmann und Mäzen Salman Schocken, als dieser 1929 im Begriff war, seinen Verlag mit einem Schwerpunkt auf jüdischen Inhalten zu gründen, die Veröffentlichung des deutschen Originaltextes von Ginzbergs Sammlung als Projekt ans Herz gelegt, sie wurde aber nie realisiert.

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Grundsätzlich ist sie von einer ähnlichen Überzeugung getragen wie die beiden anderen Anthologien: den Schatz der Aggada als aus dem Volk gewachsene Literatur zu feiern und nicht, wie es die Wissenschaft des Judentums hauptsächlich getan hatte, als rabbinische (und damit an die Personen einer Bildungselite geknüpfte) Literatur zu lesen. Doch seine beispiellose Popularität (im Vorwort zur erweiterten Ausgabe erwähnen die Autoren 1929 bislang achtzehn Auflagen der Erstausgabe) bezog das Buch wohl vor allem aus der Tatsache, dass es in hebräischer Sprache erschien und – trotz Vereinheitlichungen und anderen Eingriffen Bialiks und seines Mitherausgebers Jehoshua Hana Rawnitzki – eine spezifische Aura der Authentizität ausstrahlte. Gerade indem die Herausgeber jeweils unten an jeder Seite Begriffe und Satzformeln aus dem rabbinischen Hebräisch in modernes Hebräisch übertrugen und damit natürlich auch die Distanz zwischen den beiden Sprachschichten offenlegten, schufen sie zugleich doch auch den Eindruck einer grundsätzlichen Zugänglichkeit des Originaltextes für des Hebräischen Kundige – und nur für sie. Wer sich die kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland abgelaufene Kunstwart-Debatte anschaut, in der es vorab darum ging, ob und in welcher Form Juden überhaupt am deutschen Kulturkanon partizipieren könnten oder ob sie sich nicht auf eine eigentlich jüdische Literatur zurückzuziehen hätten,4 kann ermessen, als wie drängend in jenen Jahren die Frage empfunden wurde, ob es für als genuin betrachtetes jüdisches Erzählgut nur eine authentische Sprache, nämlich die hebräische, gebe. Bialik, der sich in mancherlei Hinsicht als Adept des kulturzionistischen Autors Acha Ha’am (eigentl. Ascher Ginsberg) verstand, lässt in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der Aggada-Sammlung keinen Zweifel an seiner Intention, die Aggada als „Haus des wahren Lebens der jüdischen Nation“ und „gemeinsames Gebilde des ganzen Volkes“5 explizit in die hebräische Literatur einzufügen,6 deren Wiederetablierung er sein ganzes Schaffen widmete.7 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung des israelischen Philosophen Nathan Rotenstreich, dass für Bialik letztlich auch die Sprache eher ein Behelfsmittel gewesen sei, im Zeitalter einer geschwundenen Autorität des Religiösen eine zentrale Form der Kontinuität und Traditionslinie erhalten zu können, die das, was er eine jüdische Nation nannte, mit ihren Ursprüngen zu verbinden imstande war.8 Ironischerweise war, gerade wenn man das nationale Primat im Sprachlichen festmachte, damit unmittelbar die Erkenntnis verbunden, dass es sich bei literarischer Kohärenzbildung im Wesentlichen um den Bestandteil einer Strategie handelte, für die das „Nationale“ – oder was das frühe 20. Jahrhundert als solches benannte – gerade nicht primär

4 Vgl. dazu Julius H. Schoeps (Hg.): Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 13 (2002). 5 Die Übersetzung des Vorworts findet sich unter dem Titel „Zum Einsammeln der Aggada“ in Chaim Nachman Bialik: Essays. Autorisierte Übertragung aus dem Hebräischen von Viktor Kellner. Berlin 1925, 72–81, hier 74. 6 Ebd., 81. 7 Vgl. ebd. auch Bialiks Aufsatz „Das hebräische Buch“, 35–63. 8 Nathan Rotenstreich: Bialik on the Renaissance of Jewish Culture. In: Judaism. A Quarterly Journal 10/2 (1961), 151–159, hier 153 f.

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in Zeiten territorialer Integrität, sondern in Zeiten einer Diaspora- bzw. (religiös ausgedrückt) Exil-Existenz von höchstem Belang war. Anders als Ginzburg widmete sich Bialik womöglich auch deshalb nicht nur jenen Aggadot, die sich als unmittelbare homiletische Erklärungen zum biblischen Text lesen ließen, sondern griff weiter in die innerrabbinischen Erzählungen aus. Wie sehr es ihm dabei eben gerade nicht nur um das Heben eines jüdischen Kulturschatzes ging, sondern um die Zugänglichkeit dessen, was er Grundlagen einer neuen und zugleich klassisch verbrämten hebräischen Volksliteratur betrachtete, wird deutlich, wenn man seinen berühmt gewordenen Aufsatz „Halacha und Aggada“ heranzieht, der 1916 auf Hebräisch, in der Zeitschrift Der Jude dann 1919 in einer Übersetzung des jungen Gershom Scholem erschien. In dem Text bezeichnet Bialik die angeblich starre Halacha, die sich der Moderne als zusehends fremder und überholter dargestellt hatte, und die als fließender, geschmeidiger gepriesene Aggada als lediglich zwei Aggregatszustände derselben Materie, „in Wahrheit zwei Dinge, die eines sind, zwei Gesichter eines Wesens“.9 Bialik illustriert seine Idee am Beispiel des Sabbath. Dieser zentrale Tag der Woche habe sich in Form der „Königin Sabbat“ als lebendiges Wesen und „Inbegriff der Schönheit“10 im Bewusstsein des Volks und seiner Dichter verkörpert, obwohl seine von den Rabbinen im Talmud gelegten Grundlagen praktisch ausnahmslos als trockene, pedantische Rechtsauslegung daherkommen. Es war beileibe nicht die Gültigkeit der Halacha, die Bialik hier gefeiert hätte – ihr hatte er sich schon als junger Jeschiwa-Schüler entfremdet –, sondern es war ihre „Inspiration“.11 In diesem Sinne ist die Halacha nach Bialik geradezu die in dünne Rechtsformeln geronnene Sammlung der existentiellen Fragen des Judentums während der Jahrhunderte des Exils, die in ihren eigenen Diskussionen (denn aus solchen und nicht aus dogmatischen Rechtssätzen setzt sich ja die talmudische Rechtsprechung, wie Bialik zeigt, zusammen)12 etwa die Fragen bündeln, in welcher Sprache am Ende die Lehre dauerhaft überliefert werden solle, welche Einstellung zu Krieg das Judentum pflege (ob das Schwert als Schandmal oder als Schmuck des Mannes betrachtet wird) und in welchem Verhältnis das Pflegen der Buchlehre zu einem Leben in der empirischen Natur stehe. Bialiks Ziel in dieser Abhandlung ist es, die Verbindlichkeit und Verdichtung der Halacha nicht in ihrem rituellen, wohl aber in ihrem handlungsgenerierenden Sinne zu beleben. Ein Judentum, das sich auf die Wertschätzung kultureller Güter alleine beruft, ohne die daraus erwachsenden und damit für Bialik intrinsisch ver9

Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada, aus dem Hebräischen übers. von Gerhard [Gershom] Scholem. In: Der Jude 4/1 (1919), 61–77, hier 62. 10 Ebd., 64. 11 Ebd. 12 Bialik verwahrt sich explizit dagegen, dass er mit seiner Lobrede auf die Funktion der Halacha eine Rückkehr zum Schulchan Aruch, dem kodifizierten Gesetzeswerk Rabbi Josef Karos aus dem 16. Jahrhundert, propagiere (ebd., 74) – denn gerade in der Kodifizierung des Gesetzes, in deren Zentrum der normative Charakter der Anwendung steht, war aus seiner Sicht der narrativ oder (im Falle nicht mehr rational herleitbarer Satzungen) mythisch fundierte Charakter talmudisch halachischer Fragestellungen abhandengekommen.

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bundenen Verpflichtungen zur Weiterentwicklung eines jüdischen Gemeinwesens (das nicht notwendigerweise territorial definiert sein musste) zu erkennen, war für ihn ein zukunftsloses, beliebiges Strohfeuer. Immer mehr entsteht eine Art Willkürjudentum; man hat laute Schlagworte: Nationalismus, Renaissance, Literatur, Schaffen, hebräische Erziehung, hebräischer Gedanke, jüdische Arbeit – und all diese Dinge hängen an dem dünnen Haar irgendeiner Liebe: Liebe zu Land, Liebe zur Sprache, Liebe zur Literatur. Was kostet eine ätherische Liebe? Liebe? – Aber wo ist die Pflicht? Und woher soll sie kommen? Woher soll sie Kraft saugen? Aus der Aggada? Sie ist ihrer Natur nach ja selbst Willkür, Ja und Nein sind schlaff in ihrer Hand. Ein Judentum, das nur Aggada wäre, gliche einem Eisen, das man wohl in die Flamme, aber nicht in die Kühlung gebracht hat. Streben des Herzens, guter Wille, Erhebung des Geistes, innere Liebe – all dies sind schöne und sinnvolle Dinge, wenn an ihrem Ende Tat steht, eisenharte Tat, strenge Pflicht.13

Sabel sieht in Bialiks Aufsatz „Halacha und Aggada“ „das ästhetische Feld eingetragen [. . . ] in eine Semantik lebensweltlicher Wirksamkeit. Eine Abgrenzung findet so gegenüber einer autonomieästhetischen Bedeutungszuweisung statt.“14 Die Angst, dass der Kulturzionismus, als Versuch einer postreligiösen Authentizitätssuche des Judentums, aufgerieben werden könnte zwischen einer Kulturaffinität, die er als im Grunde assimilationsgesteuert denunzierte, und einem politischen Zionismus, dem wiederum über dem territorialen Primat die kultur- und traditionsgebundene Erhaltung einer noch als „jüdisch“ zu beschreibenden Essenz verloren gehen würde, erscheint hier klar spürbar. Kultur und Erzählkultur, so lässt sich aus Bialiks Aufsatz schließen, konnten für ihn und seine Generation nicht als romantisierende Gegen- oder Fluchtwelt, sondern mussten geradezu notgedrungen als eigentliches Substrat für alle sonst einer „normalen“ nationalen Existenz vorbehaltenen Werte und Gewährsformen dienen.

III Wird der Sprung von Bialiks Aktivierung und Indienststellung der Aggada in das Projekt einer hebräischen Literatur und letztlich nationalen Identitätserhaltung über ein Jahrhundert hin zur Anthologie Shmuel Fausts vollzogen, so können (nebst den politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts) auch die Entwicklungen des Zugangs zur Aggada natürlich nicht übersehen werden. Nur zwei wesentliche Forschungsansätze seien hier genannt. Zum einen Isaac Heinemann, der mit seiner Idee von der Aggada als „kreativer Geschichtsschreibung“ im Sinne einer (wie Sabel es nennt) „Textfortschreibung“15 der Bibel gewisse Spuren in die Rezeption der 1980er Jahre, gerade im angelsächsischen Raum, legte. Auf der anderen Seite, und mit großer Wirkung auf die israelische Aggada-Rezeption und -Forschung, Jonah 13

Ebd., 76. Sabel, Die Geburt der Literatur (Anm. 1), 238. 15 Ebd., 267. 14

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Frenkel (dessen Werk Sabel erstaunlicherweise nicht zur Kenntnis nimmt). Frenkels Zugang wiederum wird von Faust als modifizierter Ausgangspunkt seines eigenen Zugangs zur Aggada bezeichnet. Im Gegensatz zu den Anthologien von Ginzberg, Bin Gorion oder Bialik bezieht Faust keine Aggadot mit ein, die unmittelbar auf die Einordnung oder Kommentierung von Bibelstellen bezogen sind, sondern konzentriert sich ganz auf den innerrabbinischen Diskurs. Auch unterscheidet sich sein Zugang von den älteren Werken darin, dass er (wie auch andere Herausgeber neuerer Aggada-Anthologien, z. B. Admiel Kosman)16 die Geschichten mit ausführlichen eigenen Kommentaren versieht. Wie Bialik knüpft Faust, der sich dem nationalreligiösen Segment des Judentums zurechnet, an die Verbindung von Halacha und Aggada an. Sein Zugang ist jedoch unmittelbar an die didaktische Funktion der Aggadot geknüpft. Für ihn sind sie nicht mehr primär Grundlage eines nationalen oder anderweitig identitätsstiftenden Diskurses, sondern sollen die Umsetzungsrealität der Halacha durch den dahinter zu verstehenden „Geist“ jüdischen Denkens ergänzen: „Es ist die Art der Weisen, ideenbezogene und didaktische Lehren durch die Verbindung von Halacha und Aggada zu übermitteln, unter anderem auf durch Handlung illustrierende Art, über Geschichten.“17 Den Reiz der Erzählungen versucht Faust dadurch kenntlich zu machen, dass die jeweiligen Protagonisten, die als Rabbinen autoritative Rollen innehaben, darin oft nicht als a priori vorbildhafte Charaktere, sondern durchaus als Menschen mit ihren Schwächen und Eitelkeiten gezeichnet werden, deren Vorbildcharakter in den äußerst knapp erzählten, auf jede Art der Ausschmückung praktisch gänzlich verzichtenden Erzählungen gerade aus ihrer Fähigkeit entsteht, ihre Fehler zu bereuen, sie einzugestehen und aus ihnen Lehren zu ziehen. Die Aggada sei deshalb gerade in ihrer Funktion narrativer Selbstkritik interessant.18 Was den narrativen Rahmen und die Wirkungsweise der Aggadot angeht, weiß sich Faust, dessen Anthologie auf einer Reihe beruht, die zunächst in der nationalreligiös ausgerichteten Zeitung Makor Rischon erschien, in seiner potentiellen Leserschaft einer Vielzahl möglicher Zugänge ausgesetzt. Das betrifft zum einen jene eher religionsfern aufwachsenden Israelis, die zuweilen in ihrer Kindheit noch einzelne solcher Erzählungen vernehmen, aber keinen Zugang zur talmudischen Literatur haben. Bei ihnen verblieben diese Erzählungen auf dem Niveau des Kin16

Vgl. Admiel Kosman: Men’s Tractate: Rav and the Butcher and other Stories – On Manhood, Love and Authentic Life in Aggadic and Hassidic Stories. Jerusalem 2002 [hebräisch]. 17 Shmuel Faust: Agadata. Stories of Talmudic Drama. Or Yehuda 2011, 25 [hebräisch; alle Übersetzungen vom Verfasser]. 18 Ebd., 46. Hier trifft sich Fausts Blick auf die moralischen Lehren der Aggada und ihren Umgang mit dem Vorbildbegriff etwa mit Ansätzen der modernen Jugendpsychologie. Vgl. etwa den Artikel des schweizerischen Jugendpsychologen Allan Guggenbühl: Jugend ohne Vorbild. In: NZZ, 22.1.2002. Dort heißt es, „statt auf die Wirkung von Vorbildern zu setzen, gilt es Kindern und Jugendlichen die Probleme zu kommunizieren, die uns beschäftigen. Wir müssen ihnen zeigen, mit welchen existenziellen Herausforderungen wir konfrontiert werden. Sie sollen von Chaos, Streit, Leiden und dem Scheitern an sich selbst erfahren und nicht nur von grandiosen Lösungen hören.“ https://www.nzz.ch/article7WHC4-1.35981 (22.6.2018).

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dergartens, sie könnten deshalb ihre tiefere Bedeutung nicht erkennen. Unter den religiös Gebildeten wiederum gebe es zwei Tendenzen: jene, die Aggadot als bloßes Beiwerk zu den eigentlich relevanten halachischen Teilen verstünde und verachtete, und jene, die sie als integralen Teil des Talmuds überhöhte und als in ihrer Erhabenheit jeder Interpretation entzogen betrachtete. Allerdings sieht Faust in den vergangenen Jahren, gerade durch das Werk Jonah Frenkels, aber auch des in Israel äußerst geachteten Talmud-Übersetzers ins Hebräische und -Kommentators Rabbi Adin Steinsaltz neue Zugänge zur Aggada eröffnet.19 In Abgrenzung von Frenkel erklärt Faust, dass er dessen Methode einer akribischen literarischen Lektüre (close reading) zwar grundsätzlich gutheiße, aufgrund der komplexen Überlieferungsgeschichten der Aggadot und der durch eine Vielzahl womöglich oft zufälliger oder arbiträrer Ereignisse veränderten Form aber weniger als Frenkel darauf bedacht sei, tatsächlich jedem einzelnen Wort der Erzählung dieselbe interpretative Aufmerksamkeit zu schenken. Dem Streben nach einer möglichst breiten Wirkung seines Werks entsprechend verzichtet Faust auch darauf, die im Talmud oder in Midrasch-Sammlungen vorzufindenden Fassungen mit Varianten aus Handschriften abzugleichen und kritisch zu bearbeiten. Dennoch spielen die Anwendung der Sprache und Eigenheiten des Stils der einzelnen Aggadot bei seinen Analysen eine wichtige Rolle, ja, man kann die Auseinandersetzung mit der Sprache als einen der Haupterträge des Buches bezeichnen, das auch von der linksliberalen, stark säkular geprägten Zeitung Haaretz nach Erscheinen überschwänglich gelobt wurde20 – eine angesichts der insgesamt extrem kritischen Rezensionspraxis der Zeitung gerade bei einem so stark von religiösen Texten geprägten Buch durchaus erwähnenswerte Tatsache. Faust beschreibt sein Vorgehen im Umgang mit den Aggadot folgendermaßen: Ich erachtete es als richtig, [die aggadische Erzählung] zuweilen auf ihre überzeitliche Lehre hin auszulegen, und ich habe mir erlaubt, ihre didaktische Botschaft nahezulegen und auf ihre aktuelle Bedeutung hinzuweisen. Auf die anderen Funktionen der Erzählung, in ihren unterschiedlichen Kontexten, habe ich, wo nötig, hingewiesen, indem ich Verbindungen zur ursprünglichen Textstelle herstelle, in der die Erzählung erscheint, sowie zu den biblischen Versen, die darin aufgeführt sind.21

Dass die didaktische Linie der Erzählung durchaus nicht als dogmatisch „korrekte“ zu gelten hat, macht Faust jedoch gleich darauf deutlich, indem er darauf hinweist, dass die Aussagen der Erzählungen in den Aussagen ihrer Protagonisten selbst, aber auch für den Leser nach wiederholter Lektüre, widersprüchlich sein können. Das Vorschlagen alternativer Lesarten, zuweilen einschließlich des expliziten Darlegens, weshalb er sich, auf der Basis einer sprachlichen, morphologischen und kontextualen Analyse, für eine von ihnen entschieden hat (ohne sie exklusiv zu benennen), bezeichnet Faust als Teil seiner eigenen didaktischen Praxis. 19

Faust, Agadata (Anm. 17), 19. Shoham Smith: Reading against the Fur. In: Haaretz (English Edition), 23.1.2012, https://www. haaretz.com/life/books/1.5171739 (22.6.2018). 21 Faust, Agadata (Anm. 17), 54. 20

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Darin äußert sich wohl der tiefere Anspruch, den Faust verfolgt: seine Klientel das Lesen zu lehren – dies gilt auch, aber bei Weitem nicht nur, hinsichtlich einer Horizontöffnung bei der Lektüre religiös inspirierter Erzählungen, die, wie oben dargelegt, nach Fausts Einschätzung entweder simplifizierend oder in kaum mehr hinterfragbarer Überhöhung rezipiert werden. Das gilt in einem weiteren Sinne in einer von sinnfragmentierten Informationshäppchen zugeschütteten Gesellschaft des elektronischen Zeitalters für die Fähigkeit überhaupt, sich in Texte und ihre Kontingenz zu vertiefen. Die Didaktik ist somit eine dialektische, die einerseits den Erwerb der Kenntnis über die „Botschaften“, andererseits auch die Reflexion und Infragestellung von deren eingängiger Zwangsläufigkeit ermöglichen soll. Als Beispiel für Fausts Vorgehensweise sei aus den knapp sechzig von ihm ausgewählten, oft aus dem aramäischen Original ins Hebräische übersetzten und kommentierten Aggadot eine exemplarisch ausgewählt (im Buch S. 206–210), die sich mit einem Thema nie endender Aktualität und Brisanz im Leben jedes Menschen auseinandersetzt, Trauer und Trost bzw. Untröstlichkeit. Die Darstellung folgt, sowohl in der Textgestalt und ihrer Separierung einzelner Textsequenzen wie auch in den Erklärungen von Begriffen, zum Teil mit leichten Erweiterungen um Feststellungen, die Faust im folgenden Lauftext anbringt, derjenigen der Anthologie. Pinchas, dem Bruder von Mar Samuel, widerfuhr eine Sache (Euphemismus für: Ein naher Verwandter [vermutlich sein Sohn] starb, und er musste für ihn die Trauerriten einhalten). Samuel trat [in seinem Trauerhaus] ein, um von ihm Sinn zu erfragen (ihm Trost zuzusprechen). Er [Samuel] sah seine Fingernägel, dass sie lang waren. Er fragte ihn: Warum hast du sie nicht geschnitten? Er sagte ihm: Wenn es ihn betroffen hätte (wenn er selber über seinen Verwandten trauern würde), hätte er sich darüber so verächtlich geäußert? Es war, wie wenn „ein Versehen ausgeht vom Herrschenden“ (Eccl. 10,5) [seine Aussage hatte unbeabsichtigte fatale Folgen], und Samuel widerfuhr eine Sache (ein Verwandter von ihm starb). Sein Bruder Pinchas trat bei ihm ein, um von ihm Sinn zu erfragen. Mar Samuel schnitt seine Fingernägel und warf sie ihm ins Gesicht. Er sagte ihm: „Gilt für dich nicht, ein Bund ist geschlossen für die Lippen?“ [Dinge, die ein Mensch sagt, haben Einfluss auf die Wirklichkeit]22

Für eine eingehende Besprechung der Erzählung ist hier kein Raum. Sie thematisiert ganz offensichtlich mehrere Fragen: Inwieweit sind halachische Normen oder Standpunkte (wie derjenige Mar Samuels, der Trauernden, die z. B. dreißig Tage lang die Haare nicht schneiden dürfen, das Schneiden der Fingernägel auch in der allerersten siebentägigen Trauerzeit erlaubt) in Übereinstimmung zu bringen mit der individuellen Trauer, etwa bei seinem Bruder, der aufgrund seines Verlusts das Schneiden der Nägel aus Trauer oder aus allgemeiner Vernachlässigung seiner körperlichen Belange unterlässt? Welche Folgen kann das Sprechen von Menschen haben bzw. wie wichtig ist das Schweigen in Momenten hoher Emotionalität? Faust behandelt diese Fragen mit großem Sprachgefühl (so stellt er etwa zwischen dem Schließen eines Bundes, was auf Hebräisch als „Schneiden eines Bun22

Ebd., 206.

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des“ der Lippen bezeichnet wird, und dem mit einem anderen Wort bezeichneten Schneiden der Fingernägel eine Beziehung her), zeigt Tiefenschichten dieser Aggada, die wie alle Aggadot sehr reduktionistisch erzählt ist, auf, um zum Schluss aber seiner Interpretation eine interessante Wendung zu geben, die stark auf das heutige Alltagshebräisch bezogen ist. Er stellt nämlich fest, dass in der Aggada selbst für alle negativen Ereignisse (das Sterben der Verwandten, die Trostbedürftigkeit des Trauernden, die fatalen Folgen einer Aussage für die Realität) jeweils Umschreibungen gewählt sind, wie auch heute im Hebräischen oft z. B. eine Krebserkrankung einfach „die Krankheit“ oder die Unheilbarkeit eines Menschen als „der Zustand“ benannt wird. Der unmittelbar leserbezogene Sinn der Aggada, so Faust, könnte es deshalb sein, Menschen für den Gebrauch der Sprache und dessen mögliche Konsequenzen zu sensibilisieren, und dies mit einem sprachlichen Instrumentarium zu tun, das in sich diese Vorsicht bereits demonstriere. Inhalt und Form der Erzählung verschmelzen somit zu einer in sich geschlossenen Aussage, „eine ganze Erzählung, in der Zorn, Streit, Trauer und Tod vorkommen, ohne diese auch nur mit einem Wort zu erwähnen“.23

IV Stellt man die ein Jahrhundert auseinanderliegenden Ansätze Bialiks und Fausts nebeneinander, so fällt die Differenz zu dem stark nationalen Streben Bialiks auf, der sich bemüht, entgegen einer Historisierung ein gültiges nationales Grundnarrativ zu entwickeln bzw. wiederzubeleben. Die Aggada als Stifterin einer Identität, wo dies die Religion nicht mehr vermag (und damit auch die Rückführung der Halacha auf ihre aggadischen Elemente), soll den Boden bereiten für ein kollektives Bewusstsein des Jüdischen, das weit tiefer als „Kultur“ geht, in die Dimensionen eines bewussten, verpflichtenden literarischen Bekenntnisses. Demgegenüber liegt Fausts Anthologie in gewisser Weise gerade die Erweckung der Aggada aus einer Erstarrung zugrunde, die aus einer (in durchaus gegenläufigen Weisen gewachsenen) Etikettierung der Aggada in unterschiedlichen Milieus der israelischen Realität erwachsen ist. Für Faust ist es gerade die Ermächtigung einer Individualisierung des Zugangs durch die Wiederheranführung an die intrinsische Macht des Lesens, Interpretierens und selbstständigen, auch widerständigen Reflektierens, was er mit der Aggada anstrebt. Not tut seiner Generation nicht der kollektivistische Gedanke, sondern die aus einem längst vollzogenen, vielleicht sogar wieder hinterfragten nationalen Denken des Jüdischen heraus erwachsende Aufhebung monistischer Denkmuster, sei es des Verneinens oder Belächelns oder des dogmatischen Überhöhens dieser Erzählungen, in denen er zuvörderst eine didaktische Anleitung zum Umgang mit eigenem Fehlverhalten sieht, nicht zuletzt im Festgefahrensein des eigenen Rechthabens oder der Überzeugungen von der eigenen persönlichen

23

Ebd., 210.

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Wichtigkeit. Autoemanzipation, das einstige zionistische Schlagwort,24 in dessen geistigem Rahmen auch das Schaffen Bialiks gesehen werden kann, ist im 21. Jahrhundert zu einer nicht weniger drängenden, aber auf den jüdischen Leser – und die jüdische Leserin – bezogenen Aufforderung geworden.

24

„Autoemancipation“ war der – anonym publizierte – Essay von Arthur Pinsker aus dem Jahr 1882, in dem er etliche Gedanken vorwegnahm, die fünfzehn Jahre später Theodor Herzl – der eigenen Angaben zufolge den Text damals nicht kannte – in seinem Buch Der Judenstaat, der Grundschrift der zionistischen Bewegung, formulierte.

Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion Jörg Lauster

Die Suche nach dem, was unseren besonderen Platz als Menschen in dem großen Reich des Lebendigen ausmacht, wird durch die neueren Einsichten der Lebenswissenschaften von Mal zu Mal schwieriger. Nicht wenige schlagen darum vor, die Suche ganz aufzugeben und uns klaglos in die große „Kette des Seins“ einzuordnen. Andere wiederum probieren verschiedene Alleinstellungsmerkmale aus. Die Gabe des Menschen zur Fiktion gehört dazu. Wir staunen immer mehr darüber, wie viel Tiere können. Fingieren können sie offensichtlich nicht. Die Fiktion ist ein Resultat der hervorragendsten Vermögen des menschlichen Geistes, sie bemüht gleichermaßen die Kraft der Sprache und die Macht der Imagination. Fiktion genießt darum als Kulturtat des Menschen einen legendären Ruf – und zum legendären Ruf gehören notwendigerweise Licht und Schatten. An einer möglichen Eindeutschung des Begriffs tritt die gesamte Ambivalenz zutage. Fiktion ist Erfindung und Erfindung ist beides – großartig Neues, aber auch schlichte Lüge. Die Auseinandersetzung mit dieser Doppelbödigkeit ist alt, bekanntlich kritisiert Platon die Fiktion harsch: „Alle Dichter lügen“, während sie Aristoteles noch vor der Geschichtsdarstellung anpreist, da sie nicht einfach erzählt, was war, sondern was sein könnte. Dies ist ein gutes Beispiel, warum wir den beiden großen Griechen noch heute mühelos klassischen Rang zubilligen. Ihre Positionen sind exemplarische Verdichtungen dessen, was sich über die Fiktion sagen lässt. Sie steht einerseits in einem offensichtlich problematisch unzuverlässigen Verhältnis zu dem, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen, sie eröffnet aber andererseits neue Welten und damit immer auch neue Perspektiven auf diese Wirklichkeit. Wie dies beides zusammengehen soll, ist seit jeher Gegenstand der Beschäftigung mit der Fiktion und dem Fiktiven. Kulturelle und geistesgeschichtliche Verschiebungen der letzten Jahrzehnte haben ein neues Interesse an der Bedeutung des Fiktiven hervorgebracht. Wer mag, kann das als Übergang von der Moderne zur Postmoderne beschreiben – gewonnen J. Lauster () München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_7

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ist freilich mit dieser Überschematisierung m. E. so gut wie nichts. Lohnender ist der Blick auf die einzelnen Verschiebungen. Gravierend hat sich – hier muss man weit ausholen – seit Kant das Zutrauen in die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten verschoben. Begriffe wie Objektivität und Wahrheit sind epistemologisch strittig und werden von der Einsicht in die Relativität menschlicher Weltzugänge abgelöst. Der linguistic turn stellt die sprachliche Verfasstheit dieses Weltzugangs heraus, zwängt damit aber zugleich auch die menschliche Welterfassung in die Grenzen des Sprachlichen hinein. Dabei wird dann allerdings der narrativ-fiktiven Darstellung eine besondere Leistungskraft zugesprochen, die in Konkurrenz zum begrifflichen Erfassen tritt. Vor diesem Hintergrund kann man von einer durchaus neuen Debatte zum Fiktionalitätsbegriff in den letzten Jahren sprechen, die in ihrer ganzen Dimension zu überschauen gar nicht mehr möglich ist. Einige Punkte des von mir einsehbaren und eingesehenen Materials möchte ich im Folgenden vorstellen.1 Das Interesse an der Fiktion lässt sich schematisch – und folglich mit der nötigen Vergröberung – in zwei Fragerichtungen zusammenfassen: In einer anthropologischen Ausrichtung ist an der Fiktion erstens interessant, dass Menschen sie überhaupt praktizieren. Warum erfinden Menschen unter Bemühung ihrer Vorstellungskraft Geschichten und Erzählungen, geben sie weiter, lesen und hören sie? Zweitens weckt die Fiktion Interessen, die man in der üblichen philosophischen Einteilung dem Feld der Ontologie zurechnen kann. In der Frage, wie sich das Fingierte zur vermeintlichen Wirklichkeit verhält, wird das klassische Referenzproblem menschlicher Wirklichkeitsaussagen virulent.

I Die Ontologie der Fiktion Um mit diesem zweiten Feld zu beginnen: „Dem einen sein Leid ist des anderen seine Freud“ – das gilt auch in der Wissenschaft. Die Einsicht in die grundsätzliche Konstruktivität menschlicher Wirklichkeitszugänge unterspült das Gebäude einer objektiv erfassbaren Wirklichkeit und wertet gewissermaßen von selbst die Fiktion als menschliche Geistestätigkeit auf. Die Fiktion wird nicht nur als Gegenstand, sondern als Methode der Wirklichkeitsverarbeitung salonfähig. An der neueren Diskussion springt ins Auge, wie unterschiedlich im Vergleich zu früheren Epochen heute die Referenzrelevanz der Fiktion beurteilt wird. Wer sie noch als blo1 Vgl. den Überblick: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein Interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014; Maria E. Reicher: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Paderborn 2007; Georg Weidacher: Fiktionale Texte – Fiktive Welten. Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht. Tübingen 2007; vgl. auch zur klassischen Theorie der Fiktion im Deutschen Idealismus, die im Folgenden leider unberücksichtigt bleiben muss: Ulrich Keller: Fiktionalität als literaturwissenschaftliche Kategorie. Heidelberg 1980. Es fällt allerdings auf, dass Kants und Hegels starke Theorien der Fiktion in den gegenwärtigen Debatten nur marginal Berücksichtigung finden. Für eine umfassende Theorie der Fiktion wäre dort allerdings einiges zu entdecken, denn für Hegel ist die Fiktion nicht nur schöner Schein, sondern eine Realisierungsform der Idee im Geist und damit ein notwendig „ideales“ Widerspruchsmoment zur Macht des Faktischen.

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ße Erfindung und damit ganz ohne Bezug zur Wirklichkeit abtun wollte, würde den aktuellen Diskussionsstand eklatant unterschreiten. Auffallendstes Symptom dieser Verschiebung ist das große Interesse sprachanalytisch dominierter Texttheorien. In früheren Zeiten konnte die analytische Philosophie ein rigoroses Verhältnis zur Fiktion an den Tag legen. Aussagen, die keinen Gegenstandsbezug aufweisen, galten als „ontologisch“ sinnlos. Komplexer ist die Einschätzung sprachanalytischer Koryphäen wie Searle und Austin, sie attestierten der Fiktion ein „parasitäres“2 Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie aber kann ein parasitäres Verhältnis überhaupt funktionieren, wenn die Fiktion doch offensichtlich gar keinen Gegenstandsbezug zur mutmaßlichen Wirklichkeit hat? Vor allem darum drehen sich die gegenwärtigen Debatten.3 Einflussreicher Ausgangspunkt ist Kendal Waltons Theorie der Fiktionalität.4 Seiner Auffassung nach besteht die Leistung der Fiktion in Make-BelieveProzessen, die trotz des fiktionalen Charakters funktionieren. Denn sie bringen die Rezipienten dazu, das in der Fiktion Dargestellte als tatsächlich anzunehmen. Im Sinne der Sprechakttheorie realisiert sich das Fiktive in der Vorstellung als etwas, das wirklich der Fall ist. Man kann also der Fiktion nicht einfach Referenz absprechen. Die Frage verschiebt sich vielmehr. Auf was beziehen sich die Aussagen der Fiktion? Die Fiktion eröffnet die Ermöglichung neuer und anderer Welten.5 Schon Aristoteles hatte in der Abwehr der platonischen Dichterschelte diese Möglichkeitsdimension herausgestellt. Analytische Philosophen, das ist, wie gesagt, erstaunlich genug, sprechen in unseren Tagen vom Realismus der Fiktion.6 Denn es sind reale Möglichkeiten des Lebens, die die Fiktion vor Augen stellen kann. Die Fiktion simuliert Wirklichkeit. Die Eröffnung nicht tatsächlicher, und doch realer Lebensmöglichkeiten gelingt der Fiktion mit erstaunlicher affektiver Wirkungskraft. Die Fiktion simuliert Wirklichkeit in einem sehr effektiven Maß, sie kreiert Erlebnisräume realer Lebensmöglichkeiten. Leserinnen und Leser nehmen mit echten Gefühlen Anteil am tragischen Schicksal Anna Kareninas, obgleich sie wissen, dass die bedauernswerte Frau allein ein Geschöpf der künstlerischen Imagination Leo Tolstois ist. Dieses „Paradoxon der Fiktion“ ist für die gegenwärtig stark diskutierte Philosophie der Gefühle ein bemerkenswertes Phänomen.7 Die Analyse zeigt, dass sich Gefühle keineswegs nur an Tatsachen oder an kognitiven Überzeugungen ausbilden, sondern an Vorstel2

Zit. nach: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, 54. 3 Die sprachanalytisch geprägte Fragestellung dominiert in dem von Klauk und Köppe herausgegebenen Handbuch (Anm. 1) den Teil zur Theorie der Fiktionalität. 4 Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/London 1990; vgl. J. Alexander Bareis: Fiktionen als Make-Believe. In: Klauk/ Köppe, Fiktionalität (Anm. 1), 50–67; zum Folgenden auch: Tilmann Köppe: Fiktive Tatsachen. In: Klauk/Köppe, Fiktionalität (Anm. 1), 191–208. 5 Vgl. ebd., 194 f., wo allerdings auch die Unterschiede der „Neue-Welten-Theorie“ zu Waltons Fiktionstheorie deutlich gemacht werden. 6 Henning Tegtmeyer: Kunst. Berlin/Boston 2008, 19–23. 7 Vgl. Íngrid Vendrell Ferran: Das Paradoxon der Fiktion. In: Klauk/Köppe, Fiktionalität, 313– 337.

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lungsgehalten und zwar im Modus unbestreitbarer Echtheit. Was Leserinnen und Leser bei der Lektüre empfinden, stellt bereits eine vorsprachliche Interpretation des Textes dar. Die evozierten Gefühle verleihen den Texten schließlich eine enorme handlungsorientierende Kraft. Berühmt ist das historische Beispiel: „So this is the little lady who made the big war.“8 Mit dem legendären Satz soll Abraham Lincoln seine Begegnung mit Harriet Beecher Stowe kommentiert haben. Ob Lincoln den Satz je gesprochen hat, sei dahingestellt. Fakt ist, dass der Roman Uncle Tom’s Cabin die öffentliche Meinung in den Nordstaaten nachhaltig dahingehend beeinflusste, die Sklaverei zu bekämpfen. Das Eröffnen fiktiver Vorstellungswelten prägt offensichtlich entscheidend die vermeintlich reale Welt der Tatsachen. Die gegenwärtig so stark diskutierte Erkenntnis- und Motivationskraft der Gefühle zeigt sich also auch und gerade an der Fiktion. Literatur wiederum ist die erhabenste Quelle menschlicher Fiktionsleistungen. Von daher ist es dann auch plausibel, dass etwa Martha Nussbaum, eine der prominentesten Philosophinnen unserer Zeit, im Zuge ihrer Theorie von der Erkenntniskraft der Gefühle menschliche Haltungen wie Mitleid oder Liebe ausführlich an literarischen Beispielen entfaltet.9 Die Literatur ist ein Reservoir kognitiver, affektiver und experimenteller Bewertungen der Lebenswirklichkeit durch das Mittel der Fiktion.10 Neben den repräsentativen und affektiven Stärken der Fiktion wird auch eine epistemische angeführt. Catherine Elgin hat im vergangenen Jahr einen bemerkenswerten Versuch unternommen, das Fiktionale auch epistemisch aufzuwerten. Programmatisch ist schon der Titel ihrer Untersuchung True Enough.11 Etwas kann auch dann als epistemisch akzeptabel gelten, wenn es offensichtlich und auch durchaus so intendiert keine akkurate Repräsentation dessen ist, was als Realität aufgefasst wird. Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt lebt sogar essentiell von Modellen, Idealisierungen und Gedankenexperimenten, die ihre Stärke daraus beziehen, dass sie in fiktiver Gestalt über eine enorme Exemplifizierungskraft verfügen. An ihnen lassen sich Sachverhalte, Beobachtungen, Lösungswege deutlicher aufzeigen. „Felicitous Falsehoods“12 nennt Elgin diese fiktiven Modellierungen aufgrund ihres nachweislichen kognitiven Erfolgs. Ich beschließe hier die Skizze, die Aspekte des gegenwärtigen Gesprächs zur Fiktionalität mit Blick auf ihre Bedeutung für das Verhältnis von Literatur und Religion aufgreift. Natürlich wird in den aktuellen Debatten das Rad nicht neu erfunden. Eine Reihe von Punkten, wie sie etwa in der literarischen Anthropologie Wolfgang Isers oder in einer philosophischen Fiktionalitätstheorie bei Dieter Henrich ausgeführt sind, werden aufgenommen und weitergeführt. Als Fazit ist festzuhalten: Der Versuch, zu verstehen, was Fiktionen von ihrem Aussagegehalt her sind, lässt das Zit. nach: Jürgen Osterhammel: Sklaverei und die Zivilisation des Westens. München 2 2009, 60, mit Hinweisen zur unsicheren Quellenlage ebd., Anm. 100. 9 Vgl. exemplarisch: Martha Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions. Chicago 2008. 10 Eine gute Übersicht bieten: Christoph Demmerling/Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin/Boston 2014. 11 Catherine Z. Elgin: True Enough. Cambridge, Mass. 2017. 12 Ebd., 1 f. 8

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Klischee des bloß Erfundenen weit hinter sich und entfaltet eine beachtliche Ontologie der Fiktion. Die Fiktion ist das Vermögen des menschlichen Geistes, eine mögliche Welt als eine reale vorstellbar zu machen, und zwar in einer Art und Weise, die gleichermaßen affektive und handlungsbestimmende Kräfte freisetzt. Die Fiktion simuliert erlebbare Wirklichkeit, die zwischen einem vermutenden „Was wäre wenn“ und einem setzenden „Als ob“ oszilliert. Die Fiktion bildet darin das, was sinnlich evident als Wirklichkeit erachtet wird, nicht einfach ab, sondern greift durch die Ausbildung innerer Haltungen und Bewertungen in die Wahrnehmung und Erfassung dieser mutmaßlichen Wirklichkeit ein. Versteht man unter der ontologischen Kategorie der Referenz nicht nur Repräsentationsverhältnisse, sondern wirksame wechselseitige Beeinflussung, dann liegt die Referenzrelevanz der Fiktion deutlich auf der Hand. Diese ontologische Bedeutung führt dann gewissermaßen von selbst zur Beantwortung der ersten, anthropologischen Frage, warum Menschen überhaupt Fiktionen produzieren. Dieser Frage will ich mich auch gleich widmen, zwei präzisierende Bemerkungen seien aber an dieser Stelle noch eingefügt. Die Aufwertung der Fiktion – ich habe es eingangs erwähnt – steht im Kontext größerer geistesgeschichtlicher Verschiebungen. Wenn das Zutrauen in die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen schwindet, dann werden alle Wirklichkeitsbeschreibungen zu Fiktionen, noch konsequenter müsste man sagen: Was die Wirklichkeit ist, rückt wie Kants „Ding an sich“ in weite Ferne, es gibt nur Repräsentationsformen des menschlichen Geistes. Der Mensch lebt dann in seiner Welt wie Rilkes gefangener Panther, der in Paris aus seinem Käfig hinaus in den Jardin des Plantes zu blicken versucht: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“13 Der sogenannte „Panfiktionalismus“ kommt nahe an diese Auffassung heran. Für literarische Texte wird die Unterscheidung in faktuale, also tatsachenorientierte, und fiktionale Texte eingezogen. Alle Texte sind fiktional.14 Darin sind wichtige Einsichten zur menschlichen Wirklichkeitserschließung verarbeitet, gleichwohl bedeutet der Panfiktionalismus auch eine Überstrapazierung des Fiktionsbegriffs. Er legt über Texte und literarische Gattungen ein Dunkel, das alle Katzen grau macht, und verhindert so den Blick auf die unterschiedlichen Grade und Funktionen von Fiktionalität. Das geschieht dann auch tatsächlich, wenn etwa von den großen Narrativen der Wissenschaft die Rede ist, von den sogenannten großen Erzählungen, z. B. dem Säkularisierungsnarrativ, dem Narrativ der Evolution oder des Urknalls. Mühelos könnte und kann man dies dann auch auf die Theologie übertragen und beispielsweise vom Trinitäts- oder Sündennarrativ sprechen. Ist damit aber gemeint, dass dies alles nur reine Konstruktionen sind? Die Ergebnisse der Referenzrelevanz der Fiktion sprechen eine andere Sprache, sie dokumentieren das Wechselverhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das macht es aber erforderlich, sehr präzise die Modalitäten der Fiktionalität im Blick zu halten. Die universale Ausweitung 13

Rainer Maria Rilke: Der Panther. In: Ders.: Die Gedichte. Frankfurt a.M./Leipzig 2006, 447. Vgl. zur Diskussion: Eva-Maria Konrad: Panfiktionalismus. In: Klauk/Köppe, Fiktionalität (Anm. 1), 235–254; ausführlich: Eva-Maria Konrad: Dimensionen der Fiktionalität. Analyse eines Grundbegriffs der Literaturwissenschaften. Münster 2014, 57–161.

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erscheint mir für das Gespräch zwischen Religion und Literatur nicht sinnvoll, sie setzt menschliche Wissenskonstruktion, Fiktion und Narration vorschnell in eins. Nicht nur in formaler Hinsicht – da liegt der Unterschied ja ohnehin allzu offensichtlich auf der Hand –, auch in inhaltlicher und methodischer Perspektive besteht zwischen dem, was man wissenschaftliche Narrative nennt, und einer literarischen Erzählung ein großer Unterschied. Ich beschränke mich mit Blick auf unser gemeinsames Thema Religion und Literatur im Folgenden auf die Fiktion im Rahmen der literarischen Gattung der Erzählung. Rilkes trauriger Panther mahnt noch zu einer anderen Einschränkung. Fiktion heißt eben nicht, dass es hinter den Stäben der Fiktion keine Welt mehr gibt. Einmal mehr ist der besondere Referenzwert der Fiktion im Blick zu halten. Wir können trotz formaler Analogien rasch zwischen einer literarischen Erzählung, einem Traum und einer Projektion unterscheiden. Um es drastisch zu sagen: Das „Als ob“ der literarischen Fiktion ist tatsächlicher, die Simulation echter als andere Fiktionalitätsprodukte. Es schimmert eben doch eine „echte“ Welt durch die Stäbe hindurch. Von daher ist die literarische Fiktion auch strikt von dem Phänomen zu unterscheiden, das wir heute als fake news bezeichnen. Auch diese sind formal dem Bereich der Fiktionen zuzurechnen, sie funktionieren aber ganz anders als literarische Fiktionen. Für die Theologie ist diese Unterscheidung – ich komme darauf zurück – überlebenswichtig.

II Die Anthropologie der Erzählung Der Beantwortung der Frage, warum Menschen fingieren und sich der Fiktionen dann produktiv bedienen, widmet sich die Erzählanthropologie. Erstaunliches fördern hier evolutionäre Kulturtheorien zutage. Die zugrundeliegende Logik hat zwar – naturgemäß, möchte man sagen – stets etwas brachial Biologistisches. Der Sinn menschlicher Kulturproduktion liegt am Ende immer in der Bereitstellung von Selektionsvorteilen. In der Phänomenbeschreibung gelingen der evolutionären Psychologie jedoch bedenkenswerte Einsichten. Es ist vor allem der Simulationsmodus, der aus dieser Perspektive an der Fiktion besonderes Interesse weckt. Textualität wird verstanden als Imaginationstrigger. Fiktionale Texte setzen dauerhaft Vorstellungswelten frei, vulgo: Sie setzen Kopfkino in Gang, das bestimmte Funktionen erfüllt. Dennis Dutton und ähnlich auch Stephen Boyd listen in ihren Arbeiten zu evolutionären Literaturtheorien einige dieser Funktionen auf.15 Die imaginativ evozierten Leseerlebnisse ermöglichen low-cost- bzw. low-riskexperience. Lebensmöglichkeiten können vorstellungshaft ausprobiert werden, ohne dabei einen hohen oder gefährlichen physischen Einsatz erbringen zu müssen. Zudem transportieren Erzählungen zweitens in Frühgesellschaften tatsächlich faktisches Wissen. Vor allem aber räumen sie drittens die Möglichkeit ein, Weltan-

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Vgl. zum Folgenden die Übersicht: Rüdiger Zymner: Evolutionäre Psychologie der Fiktionalität. In: Klauk/Köppe, Fiktionalität (Anm. 1), 277–297.

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sichten, Haltungen, Überzeugungen und Motivationsbegründungen durchzuspielen. Die evolutionären Fiktionalitätstheorien sichern also allesamt die „Was wäre wenn“-Funktion und Simulationsleistung der Fiktion ab. Darüber gehen dann allerdings philosophische Erzähltheorien deutlich hinaus. Exemplarisch sei das an Albrecht Koschorkes Wahrheit und Erzählung vorgeführt, eine der gegenwärtig anspruchsvollsten und interessantesten Erzähltheorien.16 In Anlehnung an die von Walter Fisher geprägte Denkfigur des homo narrans erhebt Koschorke die Erzählung zu einer anthropologischen Universalie. Menschen erzählen sicher auch, um Lebensmöglichkeiten simulativ durchzuspielen, sie erzählen aber vor allem, um sich in ein freies Verhältnis zur Welt zu setzen. Die Erzählung ermöglicht, in Distanz zur Welt, so wie sie ist, zu treten. Der Mensch kann in der Literatur „Nein“ zur Wirklichkeit sagen.17 Das ist nicht einfach nur ein imaginativer Trotz, sondern das Aufleuchten einer Kraft des Geistes, die ausgreift auf eine Dimension der Wirklichkeit, die so nicht ist, noch nicht ist, aber sein könnte und sein sollte. Literatur ist ein Modus des Weltwiderstandes aus der Kraft des Geistes. Die Anwendung dieses hermeneutischen Schlüssels lässt dann doch manches Werk in einem anderen Licht erscheinen. Stifters Nachsommer müsste beispielsweise nicht einfach als langweilige, quasi-realistische Abbildung einer Biedermeier-Welt gelesen werden, sondern als der in der extremen Verlangsamung des Erzähltempos und der Einbremsung der Handlungsabläufe gewissermaßen performativ vollzogene ideale Entwurf der Lebensweise zu höherem Seelenadel aufgestiegener Menschen – und damit als ein radikaler Gegenentwurf zu den Entfremdungs- und Verlusterfahrungen des 19. Jahrhunderts. Koschorke legt eine detaillierte Analyse der Erzählung vor, die mit anderen Erzähltheorien abzugleichen zweifelsohne eine lohnende Aufgabe wäre. Erzählungen arbeiten, so seine Beschreibung, mit den Verfahren der Reduktion, der Schema- und Sequenzbildung und der Bindung von Affekten.18 Diese Techniken dienen allesamt letztlich der Produktion von Sinn, allerdings tun sie das in einer sehr besonderen Weise, denn die Stärke der Erzählung liegt darin, in einer „vorbegrifflichen und präsemantischen Zone“19 operieren zu können. Das hochtrabende Wort Sinnstiftung bekommt bei Koschorke eine interessante Wendung. Der ausschließlichen Inanspruchnahme des Sinnbegriffs durch „Legitimationsexperten – Priester, Philosophen, Ideologen, Angehörige von Deutungseliten aller Art“20 widerspricht er. Koschorke versteht Sinn im Gegensatz zu der klassisch hermeneutischen Option als einen „erzeugten Effekt“.21 Man könnte darin aufs Erste eine bloße Äquivokation sehen, die den Sinnbegriff zwar bemüht, aber in diesem Gebrauch ganz offensichtlich keine der geläufigen Bedeutungen aufruft. Üblicherweise wird Sinn

16 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012. 17 Vgl. ebd., 12. 18 Vgl. ebd., 27–110. 19 Ebd., 155. 20 Ebd., 157. 21 Ebd., 155.

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mit Zweck, Bedeutung und Vernunft gleichgesetzt.22 Wenn Koschorke in durchaus ähnlicher Weise den Sinn aus dem immer schon im Voraus anzuerkennenden übergeordneten Deutungsraum herausnimmt, unterscheidet sich die – wenn man es überhaupt so nennen will – Sinnstiftung der Erzählung eklatant von anderen Formen der Sinnstiftung, wie sie etwa das begriffliche Denken vollzieht. Keineswegs beantwortet die Erzählung alle Fragen, die dem Denken und Begreifen offenbleiben müssen. Sinnstiften heißt in der Erzählung vielmehr, mit dieser existentiellen Offenheit produktiv umgehen zu können. Die Erzählung kann auch das Widersprüchliche, das nicht in Sinn Überführbare, das Opake und Undurchsichtige des Daseins thematisieren. Sinnentzug und Sinnzuweisung können nebeneinanderstehen, denn die Erzählung versucht bestenfalls Bedeutungen auszuloten, nicht aber Zwecke und Ziele zuzuweisen. Sinn ist ein Darstellungsmodus, ein Präsentmachen des sonst nicht Gesagten, eine Artikulation des Unaussprechlichen, die Erzählung vermittelt im Gegensatz zur Logik des Begriffs ein „weiches Wissen“. Im Anschluss an Überlegungen von Aleida und Jan Assmann ist es für Koschorke dieses „weiche Wissen“, das der Erzählung eine besondere Kraft verleiht, Vergangenheit bewohnbar zu machen. Narrative umschiffen die harten Klippen strenger Kausalität, wenn es darum geht, einen Jetzt-Zustand individuell oder kollektiv zu erläutern. Schwerlich lässt sich das jeweilige Heute, sei es einer Person oder einer Gesellschaft, aus notwendigen Kausalabfolgen und einer klaren Ausgangspunkt-Zielbestimmung-Linie beschreiben.23 Sehr viel besser geht die Erzählung mit dem Opaken und dem Undurchsichtigen um. Schließlich macht der Modus des weichen Wissens die Erzählung zu einem vorzüglichen Medium der „Bewirtschaftung kognitiver Dissonanzen“.24 Sie kennt nicht die Ausschließlichkeit begrifflicher Logik, sondern lässt den Betrieb unterschiedlicher Wahrheitsprogramme nebeneinander zu. Koschorke zeigt sich an diesem Punkt beeindruckt von den Arbeiten Paul Veynes zur Frage, ob die Griechen ihre Mythen glaubten.25 Offensichtlich konnten die Griechen sich die Vorstellungswelten ihrer Göttererzählungen präsent und lebendig halten und gleichzeitig einen ontologischen Skeptizismus pflegen, der nicht notwendigerweise mit der Existenz der Bewohnerinnen und Bewohner des Olymps rechnen musste, in etwa analog zu dem modernen Verhalten, in dem sich Menschen vor Gespenstern fürchten, obwohl sie nachweislich nicht an deren Existenz glauben.26 Es deutet sich hier die für die Religion folgenreiche Kraft des Vorstellungsvermögens an, etwas, worü22

Ich will hier nur am Rande darauf hinweisen, dass Koschorke damit jedoch durchaus in einiger Nähe zu dem steht, was der in Bonn lehrende Philosoph Markus Gabriel vertritt. In seinen jüngeren Werken wird der Sinn – im Übrigen bei Gabriel im Plural als Sinne gebraucht – aus seiner klassisch metaphysischen Verwendung herausgenommen und als „objektive Arten des Gegebenseins“, als realistische „Eigenschaften von Gegenständen“ der Dinge verstanden. Markus Gabriel: Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie. Berlin 2016, 37. 23 Vgl. Koschorke, Wahrheit (Anm. 16), 224–229. 24 Ebd., 196. 25 Vgl. ebd., 194–196 unter Berufung auf Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstruktive Einbildungskraft. Frankfurt a.M. 1987. 26 Vgl. Koschorke, Wahrheit (Anm. 16), 191.

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ber ontologisch kein eindeutiger Existenzbeweis geführt werden kann, dennoch im menschlichen Bewusstsein präsent und damit gewissermaßen real zu halten. Die Erzählung unterstützt diese Imaginationsleistung in vorzüglicher Weise.

III Die Bedeutung der religiösen Fiktion Die neuere Debatte um den Begriff der Fiktion ist m. E. für die Verhältnisbestimmung von Religion und Literatur in zweifacher Weise interessant. Was folgt daraus, so die erste Frage, für die dem Christentum selbst immanenten Fiktionen, für seine tragenden Erzählungen? Die zweite Frage behandelt dann das Thema, wie sich Religion zur Literatur im Allgemeinen stellt. Die mit dem Phänomen der Fiktionalität verhandelten Themen betreffen das Christentum von Anfang an. Schon die antiken Religionskritiker kritisierten die Fabeln des Christentums. Zu allen Zeiten muss es Menschen kognitive Mühen bereitet haben, die biblischen Erzählungen für bare Münze zu nehmen. Das Verhältnis von Fiktion und historischen Fakten wird nicht erst in der Moderne problematisch, es nimmt jedoch seit der Aufklärung wenigstens in drei Punkten neue Dimensionen an. Erstens ermöglicht das Aufkommen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel methodisch einigermaßen präzise, die fiktionalen Anteile herauszuarbeiten. Zweitens erhöht das sich allmählich durchsetzende wissenschaftliche Weltbild den Druck auf den Wahrheitswert der Fiktion – wir dürfen nicht vergessen, dass die hier vorgestellten produktiven Theorien zur Fiktion vergleichsweise jungen Datums sind und die Fiktion in der Moderne überwiegend in der Kategorie des Erfundenen verhandelt wurde. Drittens weitet sich im Gefolge der modernen Religionskritik der Fiktionsverdacht auf das Ganze der Religion aus. Die großen dogmatischen Systeme wie Heilsgeschichte, Sünde und Erlösung geraten in den Verdacht, Narrative der religiösen Imagination und damit Fiktion zu sein. Ich beschränke mich im Folgenden umständehalber auf das Fiktionalitätsproblem der biblischen Erzählungen. Die These, die es vorzustellen gilt, ist einfach: Die Erkenntnisse der neueren Fiktionalitätsforschung sind für die Theologie ein großer Gewinn. Sie helfen, die schlicht unterkomplexe Alternative von historischen Tatsachenberichten auf der einen oder literarischen Erfindungen auf der anderen Seite zu überwinden. Damit kann viel zur Plausibilisierung religiöser Gehalte beigetragen werden. Was alle Fiktionalitätsforschung am Ende aber nicht beiseiteschaffen kann, ist das Referenzproblem. Im Falle der biblischen Berichte nimmt es die Gestalt des Rätsels an, welche Ereignisse und Erlebniskonfigurationen die Ausbildung dieser Fiktionen evoziert haben. Maßgeblicher Standard zur Bearbeitung des Themas ist immer noch die inzwischen über zehn Jahre alte Arbeit meiner katholischen Münchner Kollegen Knut Backhaus und Gerd Häfner.27 Backhaus kann mit der Einordnung der biblischen Geschichtserzählungen in die antike Historiographie aufweisen, dass das antike

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Vgl. Knut Backhaus/Gerd Häfner: Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese. Neukirchen 2007.

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Verständnis der Darstellung von Geschichte andere „Spielräume der Wahrheit“28 kennt als die Darstellung historischer Sachverhalte heute. Es handelt sich vielmehr um einen „Mischtypus, der die Rekonstruktion extratextualer Sachverhalte mit ordnenden Konstruktionselementen aus Rhetorik, mimetischer Kunst (Epos, Drama, Roman) und paideutischem Traktat zur narrativen Kohärenz verbindet.“29 Die Mittel der literarischen Fiktion werden in der antiken Geschichtsschreibung in den Dienst der historischen Konstruktion gestellt, um die Bedeutung des Geschehens in ihrem Aktualitätswert schärfer und effektiver herausstellen zu können. Backhaus spricht von intentionaler Geschichtsschreibung und exerziert das am Beispiel des Lukas, dem wichtigsten Geschichtsschreiber des Neuen Testaments, durch. Lukas erzählt, was an der Vergangenheit für die Identitätskonstitution der Christinnen und Christen seiner Zeit, also der zweiten und dritten Generation des frühen Christentums, wichtig zu wissen ist.30 Die „Stiftungsmemoria“ wird darin mit der „bleibenden Attraktivität“31 der urchristlichen Religion verknüpft. Die interessengeleitete Perspektive auf die Vergangenheit rückt das Fiktionale in den urchristlichen Erzählungen in ein anderes Licht. Der Einbau fiktionaler Elemente bewegt sich im Rahmen antiker Geschichtskonstruktion. Die aufkommende Religionskritik hat die Entdeckung der fiktionalen Bestandteile gewissermaßen schadenfroh ausgenutzt, um mit den biblischen Berichten gleich insgesamt das Christliche als Illusion und Projektion zu entlarven. Aber der literaturhistorische Vergleich mit anderen Repräsentationsformen der Vergangenheit in der Antike macht deutlich, dass es sich bei den biblischen Erzählungen zwar in vielen Teilen um Fiktionen, darum aber eben nicht um fake news handelt. Der entscheidende Unterschied liegt in der Intention. In letzter Konsequenz der Illusionstheorie hätten die Autoren der Bibel gewissermaßen absichtsvoll die Geschichten z. B. der Evangelien am Schreibtisch erfunden. Dagegen spricht jedoch alles, was wir über die antike Literaturproduktion wissen. Die urchristlichen Autoren nutzen das Fiktive nicht, um willentlich etwas an der vermeintlichen Realität vorbei zu konstruieren, sondern sie fliehen gewissermaßen ins Fiktive, um darzustellen, was sich offensichtlich nicht anders sagen lässt.32 Exegetische und literaturhistorische Einsichten rücken ganz analog zu ihrer grundsätzlichen Aufwertung die Fiktion als humane Ausdrucksgestalt in ein weit 28

Knut Backhaus: Spielräume der Wahrheit. Zur Konstruktivität in der hellenistischreichsrömischen Geschichtsschreibung. In: Backhaus/Häfner, Historiographie (Anm. 27), 1–29, hier 1. 29 Ebd., 4. 30 Vgl. Knut Backhaus: Lukas der Maler. Die Apostelgeschichte als intentionale Geschichte der christlichen Epoche. In: Backhaus/Häfner, Historiographie (Anm. 27), 30–66; Backhaus verweist als Ideengeber des Konzeptes der intentionalen Geschichtsschreibung auf die Arbeiten des Historikers Hans-Joachim Gehrke (vgl. ebd., 31 f., Anm. 6). In einem weiteren, über die Geschichtsschreibung hinausgehenden Rahmen berühren sich diese Einsichten auch mit Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses. 31 Ebd., 31. 32 Im Übrigen – das wäre ein eigenes Thema – sind ja auch die Geschichtsdarstellungen unserer Zeit keineswegs so objektiv und allein an der bloßen Geschehensrekonstruktion orientiert, wie die Geschichtswissenschaften selbst bisweilen glauben machen. Es sind andere als in der Antike, aber eben dennoch Prinzipien der Konstruktion, die hier am Werke sind.

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positiveres Licht. Die Theologie hat das im letzten Jahrzehnt mit deutlich spürbarer Erleichterung aufgenommen, ist dann aber offensichtlich in ihrer Erleichterung auch sanft zur Ruhe gekommen, um nicht zu sagen: eingeschlafen. Der überwiegende Teil der Veröffentlichungen zur Sache arbeitet detailliert an den einzelnen Texten die Vorzüge der Fiktion für die aktualisierende Rekonstruktion der Vergangenheit heraus oder rekapituliert die inzwischen sattsam bekannten theoretischen Unterfütterungen, warum antike Texte einen freieren Umgang mit dem Fiktiven haben als moderne.33 Das eigentlich und unvermeidlich Delikate wird jedoch meist ausgespart: das Referenzproblem. Doch anders als literarische Fiktionstheorien steht eine theologische Fiktionstheorie hier vor einem schier unüberwindbaren Hindernis. Es ist darum für das religiöse Bewusstsein auch schwierig, die biblischen Texte umstandslos und bereitwillig der Gattung der Literatur zuzuschreiben. Denn das religiöse Bewusstsein kann die Einsicht, dass Jesu Wandeln über den See eine Fiktion ist, nicht mit der gleichen Gefasstheit ertragen wie das kulturelle Bewusstsein damit leben kann, dass die Verwandlung von Gregor Samsa in einen Käfer eine Fiktion ist. Gerd Häfner hat in dem bereits erwähnten Band deutlich auf die Gefahren hingewiesen, mit denen die Theologie zu rechnen hat, wenn sie sich allzu schnell mit einer rustikalen Auffassung von der Fiktionalität der Texte zufriedengibt und es sich versagt, hinter sie zurückzufragen.34 Man vermisst dabei den Mut zur guten alten hermeneutischen Frage, was die Frage war, auf die die Texte eine Antwort geben. Diese methodische Enthaltsamkeit schafft der wissenschaftlichen Exegese Relevanzprobleme, denn man fragt sich, zu welchem Ziel all dieser philologische Großaufwand betrieben werden soll. Doch ist diese Selbstbeschränkung allemal besser als die Leichtsinnigkeit eines Fiktionalitätsbooms in der Theologie nach dem Motto: „Wenn alles Fiktion ist, dann erst recht“. Von einer postmodernen Wort-Gottes-Theologie, die die Chance zu einer theologischen Aufladung der Bibelworte nutzt, bis hin zu einer ebenfalls postmodern geprägten Rezeptionsästhetik, die Gottesgegenwart ganz mit der durch die Texte evozierten Imagination identifiziert, reicht die Liste. Letztlich gleicht dies aber alles einer entschlossenen Umgehung, wenn nicht einer Kapitulation vor dem Referenzproblem. 33

Vgl. exemplarisch mit Verweisen auf weitere Literatur: Susanne Luther/Jörg Röder/Eckart D. Schmidt (Hg.): Wie Geschichten Geschichte schreiben. Tübingen 2015. 34 Er führt das in der Auseinandersetzung mit Hayden Whites prominentem Konzept der Metahistory aus. In Fortschreibung des linguistic turn denkt White die Fiktionalität der Texte konsequent zu Ende. Zwar streitet auch White nicht ab, dass sich historische Texte auf eine außerhalb ihrer selbst liegende Realität beziehen. Diese ist aber den Rezipienten der Texte nicht mehr zugänglich, die Texte stellen sich gewissermaßen zwischen Rezipient und den außertextlichen Bezugspunkt. Für White gibt es keinen Weg zurück hinter die Texte, vgl. Gerd Häfner: Konstruktion und Referenz. Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion. In: Backhaus/Häfner, Historiographie (Anm. 27), 67–96. Zwar wird in diesem Denkmodell eingeräumt, dass Fiktionalität ein Verarbeitungsmodus von Wirklichkeit ist, es ist aber nicht mehr zu entscheiden, von welcher Wirklichkeit. Die Auffassung hat bei White trotz ihres resignativen Gestus unbestreitbare Züge intellektueller Redlichkeit, denn wir haben nun einmal nichts anderes als die Texte. Tatsächlich bestimmt diese resignative Beschränkung auf die Texte auch das Alltagsgeschäft der wissenschaftlichen Exegese. Das Fiktionalitätsproblem wird abgestellt, indem man aufhört, hinter die Texte zurückzufragen.

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Man kann die Aufwertung der Fiktion auch fatal nutzen und mit ihr religiösen Hokuspokus betreiben. Die neuere Debatte bietet freilich genug Anlass, Fiktionalität auch produktiver und seriöser zu nutzen. Dazu zählen freilich klare Grenzmarkierungen. Für die religiöse Perspektive bleibt ein wichtiger Aspekt des Fiktionalitätsbegriffs unerschwinglich. Der Geltungs- und Gewissheitsanspruch religiöser Auffassungen muss sich notwendigerweise schwertun mit dem Simulationsaspekt der Fiktion. Es reicht eben nicht aus, Jesu Wandel über den See als eine Geschichte zu lesen, die vor Augen führt, wie man sich Jesu Kräfte über die Natur vorstellen müsste, wenn er der Sohn Gottes wäre. An diesen Schwierigkeiten, die die Vorstellung der Fiktionalität bereitet, lässt sich erahnen, warum das religiöse Bewusstsein so hartnäckig und bisweilen geradezu gewollt irrational am Literalsinn der Texte als historischer Beschreibung festzuhalten versucht. Wenn überhaupt, dann lässt sich die simulative Dimension an den Texten der Bibel anwenden, die sich selbst als fiktive Texte zu erkennen geben, wie z. B. die Gleichnisse. Hilfreicher erscheint das Konzept des „weichen Wissens“. Die Fiktion bringt ihre Darstellungsstärke vor allem dann zum Einsatz, wenn es um die Darstellung des schwer Darstellbaren oder gar Undarstellbaren geht. Nach dem Modell der parallel laufenden Wahrheitsprogramme kann die Fiktion an der gewöhnlichen Weltauffassung vorbei Wirklichkeitsanmutungen kraft der Imagination mit Vorstellungen ausfüllen. Der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen spricht daher von der „Fiktionalitätsaura“,35 die die historische Gestalt Jesu umgibt. Die Person Jesu strahlt aus und hinein in die Erzählungen über seine Person, sie realisiert sich in den fiktiv produzierten Bildern. Die Fiktionen stiften in der oben skizzierten Bedeutung Sinn über die Kraft der Imagination. Die religiöse Kraft dieser Fiktionalitätsaura ist nicht zu unterschätzen. Mit der paulinischen Theologie verfügte das Christentum ja schon in der ersten Generation über ein eher begrifflich-exklamatorisches Explikat seiner eigenen Religiosität. Dem Bedürfnis einer gelebten Religion war das offensichtlich zu wenig. Die Evangelien entstehen bekanntlich nach Paulus und durchaus als Reaktion auf ihn, das Christentum beschreitet also sozusagen den Rückweg vom Logos zum Mythos. Die Fiktionalität spricht in der Vorstellungskraft etwas an, was die theologische Argumentation nicht leisten kann. In Abwandlung des allseits bekannten Spruches könnte man sagen, dass nicht das Wunder, sondern die Fiktion des Wunders des Glaubens liebstes Kind ist. Es gibt allerdings bemerkenswerterweise Grenzen der „fiktionalen Zumutbarkeit“.36 Die späteren Kindheitsevangelien und Apostelgeschichten können mit spektakulären Geschichten von Jesus als Kind oder von Petrus als Zaubermeister aufwarten, sie mögen durchaus Bedürfnisse der religiösen Phantasie befriedigt und einen religiösen Unterhaltungswert gehabt haben, in der späteren Kanonisierung hat die Kirche jedoch einen Bogen um diese Texte gemacht. Natürlich kann daraus im Umkehrschluss nichts über den historischen Wahrheitswert der kanonischen Erzählungen gefolgert werden, aber die Beobachtung liefert ein interessantes Indiz, wie Fiktionen religiös funktionieren. 35 36

Gerd Theißen/Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 3 2001, 31. Vgl. zum Begriff: Backhaus, Lukas (Anm. 30), 64.

Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Fiktion für die Religion

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Sie beziehen ihre Kraft daraus, dass den Rezipienten das Fingierte nicht gänzlich abseitig vorkommt. Die aufgerufenen Vorstellungswelten müssen wenigstens schemenhaft einen Aspekt des Dargestellten treffen. Die Aura des Fiktiven lebt entscheidend von dieser vagen und losen, aber doch vorhandenen Referenz auf das, was fiktiv bearbeitet wird, es entsteht eine Art Resonanz. Zur Aura gehört aber gerade in dieser Vagheit bleibend das Rätselhafte und Geheimnisvolle, das Unklare, das Opake. Darin liegt die Größe, aber auch die Grenze der Fiktion. Die Tatsache, dass es die Religion immer und notwendigerweise mit dem argumentativ nicht Einholbaren zu tun hat, entbindet die Theologie eben gerade nicht von der Arbeit an den Argumenten. Das Fiktive lässt sich nicht im Verhältnis eins zu eins in die Sprache des begrifflichen Arguments übersetzen. Es ist – wie gesagt – der große Reiz der Fiktion, dass sie hier einen unnahbaren Rest bewahrt. Den gilt es aber nicht einfach nur narrativ zu wiederholen, sondern argumentativ zu entfalten und zu anderen Weltzugängen in Beziehung zu setzen. Die argumentativ-begriffliche Entfaltung holt die Fiktion heraus aus dem Solipsismus ihres Weltzugangs. Die Theologie muss nicht, wie Hegel meinte, von der Vorstellung in den Begriff fliehen, sie muss sich aber in beiden Symbolisierungssystemen bewegen können und nicht das eine gegen das andere ausspielen. Das religiös-skeptische Motto, dass es wenig Neues unter der Sonne gibt, ist bisweilen auch ein hilfreicher Ratgeber im Umgang mit wissenschaftlichen Methoden. Die Theologie hat in den 70er Jahren bereits eine lebendige Debatte über die Bedeutung einer narrativen Theologie geführt.37 Es verdient festgehalten zu werden, dass Autoren wie Metz oder Weinrich schon vor 40 Jahren deutlich affektivpragmatische Vorzüge der Erzählung für die religiöse Praxis herausarbeiten konnten. Ihr Bedauern über den Verlust der narrativen Unschuld des frühen Christentums in der Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und die daraus resultierende Priorisierung der Narration als theologischer Methode haben sich mit guten Gründen nicht durchgesetzt.

IV Die Bedeutung der Literatur für die Religion Während also die aktuelle Debatte um Fiktionalität für die in einer Religion selbst notwendigerweise überlieferten Fiktionen gleichermaßen Größe und Grenze der Fiktion zutage fördert, wird man das Verhältnis der Religion zur Literatur im Allgemeinen sehr viel positiver beurteilen können. Denn die neueren Einsichten befördern eine Auffassung, Fiktionen als großartige Formen der Wirklichkeitsverarbeitung ernst zu nehmen. Wenn es für die Theologie darum gehen muss, ihre tragenden Grundinhalte in das Lebensgefühl der Menschen hinein zu übersetzen, wird die Literatur zu einer vorzüglichen Gesprächspartnerin. Man kann von daher die jüngeren Bemühungen um das Verhältnis von Religion und Literatur, deren Protagonisten ja auch diese Tagung hier mitverantworten und mitbestreiten, nicht hoch genug einschätzen. Literarische Texte eröffnen Weltsichten, Stimmungen, Perspek37

Vgl. zum Folgenden: Bernd Wacker: Narrative Theologie? München 1977.

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tiven auf die Wirklichkeit mit der gesamten skizzierten Leistungskraft der Fiktion. Man wird einräumen müssen, dass nicht jede Form von Literatur gleichermaßen von der Religion produktiv genutzt werden kann. Interessant scheint jedoch, dass die Literatur m. E. ihr Potential für die Religion dann am eindrücklichsten entfaltet, wenn sie religiöse Themen gerade nicht explizit thematisiert. Es gibt seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe von Versuchen, die großen christlichen Themen in Romanen zu traktieren. Man mag sich mit dieser Einschätzung auf dem Niveau eines Geschmacksurteils bewegen, aber: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Diese pädagogisch-didaktisch motivierten Verarbeitungen drohen die Literatur zur Magd der Theologie zu machen. Die Möglichkeiten fiktionaler Wirklichkeitserschließung sind größer. Literarische Fiktion kann im Bann sprachlicher Gestaltungskraft neue und unverbrauchte Vorstellungswelten erschaffen, die Perspektiven auf unser In-der-Welt-Sein kognitiv eröffnen und affektiv erlebbar machen. Die Fiktion deckt darin die enorme Bandbreite vom ästhetischen Genuss, der Unterhaltung, über die kognitive und affektive Welterkenntnis bis hin zum existentiellen Appell ab und lässt eben gerade darin die großartige Undurchschaubarkeit des Lebens thematisch werden.

Literatur/Religion

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option. Martin Luther als Wegbereiter einer modernen Literatur Joachim Jacob

I Spannungsverhältnisse (H. Rosa, H. Joas, M. Weber) Seit einigen Jahren beginnt sich auch im intellektuellen Diskurs die Einsicht durchzusetzen, dass die Religion ein Teil moderner Gesellschaften und Kulturen bleibt. Jüngst haben Hartmut Rosa (Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016) und Hans Joas (Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, 2017) aus soziologischer Sicht viel beachtete, umfassende Gesellschaftstheorien vorgelegt, in denen die Religion als „vertikale Resonanzachse“ (Rosa) neben Literatur und Kunst bzw. als „Macht des Heiligen“ (Joas) weitgehend unabhängig von Literatur und Kunst ein Heimatrecht in der Moderne zugesprochen bekommt. Joas und Rosa zeigen, was auch schon ein Blick auf die Welt außerhalb der „höchst kontingenten Geschichte der Säkularisierung einiger europäischer Länder“1 zeigen kann, dass die Religion, das Heilige und die Formen ihrer Artikulation gegenwärtig bleiben und die Moderne als Emanzipation von der Religion – wie es lange Zeit und nicht zuletzt in der Literaturwissenschaft üblich war – keineswegs zureichend begriffen ist. Der Stellenwert von Kunst bzw. Literatur in ihrem Verhältnis zur Religion ist in beiden Entwürfen in sehr unterschiedlicher Weise ausgearbeitet. In Rosas Resonanz-Theorie, in der die Religion als eine Form der Weltbeziehung erscheint und „Gott“ als „die Vorstellung einer antwortenden Welt“, kommt der Literatur in Form von „Liedern und Erzählungen“ in diesem Zusammenhang bis in die Gegenwart die Aufgabe zu, diese Vorstellung „erfahrbar“ zu machen.2 Andererseits lässt Rosa keinen Zweifel daran, dass „die Kunst im Zuge ihrer Emanzipation zu 1 Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, 22. 2 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016, 435 f. Hervorhebungen folgen hier und im Folgenden dem Original.

J. Jacob () Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_8

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einer autonomen Sphäre in der modernen Gesellschaft funktional an die Stelle der Religion getreten ist“ – wenigstens was das „Resonanzverlangen“ ihrer Mitglieder angeht – und „zur vielleicht wichtigsten [. . . ] Resonanzsphäre der Moderne geworden“ ist.3 Kunst, Literatur und Religion sind in Rosas „Soziologie des guten Lebens“,4 unabhängig vom relativen Bedeutungsverlust der Letzteren in der Moderne, eng miteinander vermittelt und positiv aufeinander bezogen. Dies spiegelt sich auch in Rosas Darstellungsweise wider, in der das Kapitel über die Religion mit literarischen Bezugnahmen dicht durchsetzt ist. Umgekehrt ist dies nicht der Fall, doch eignet der nach Rosa zentralen Erfahrung von „Unverfügbarkeit“ in der modernen Kunstauffassung und -wahrnehmung auch ein religiöses Moment.5 Hans Joas betont dagegen in seiner Studie über Die Macht des Heiligen, die sich mit Max Webers überaus einflussreicher Vorstellung einer fortschreitenden „Entzauberung“ der Welt durch Rationalisierung auseinandersetzt, gegenüber dem integrativen Ansatz Rosas eher die Spannungsverhältnisse, die Konkurrenzen und gegenseitige Aus- und Einschlüsse, die das Verhältnis zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur prägen. Dabei geht Joas auf Ästhetik und Kunst nur im Zuge einer kritischen Rekonstruktion der „Zwischenbetrachtung“ Max Webers ein,6 in der Weber bekanntlich die „Entfaltung der Eigengesetzlichkeit der Kunst“ und die „Herausarbeitung eines zunehmenden Spannungsverhältnisses“ zwischen der Kunst und den Erlösungsreligionen als einen wesentlichen Zug der modernen Rationalisierung konstatiert hatte.7 Joas’ Kritik an Weber und der ihm folgenden Rezeption richtet sich vor allem gegen die Unterstellung einer kontinuierlichen Zunahme dieses „Spannungsverhältnisses“.8 So gebe es historisch keinen Grund, das moderne „L’art pour l’art“ als repräsentativ für eine allgemeine Tendenz der Kunst anzusetzen, da es „sich dabei nur um die Parole einer Richtung im Wettstreit künstlerischer Schulen gehandelt hat [. . . ]. Es kann gerade der Ehrgeiz der Künstler sein, die starre Trennung der kulturellen Sphären in Frage zu stellen und zu überwinden.“9 Zudem müssen die „konkurrierenden Quellen [. . . ] ästhetischer und religiöser Erfahrung“ nicht aus Spannungen zwischen „stabilisierte[n] Wertsphären“ herrühren, sondern können sich bereits, einem entsprechenden Hinweis Joas’ auf eine Bemerkung Karl Mannheims folgend, in einzelnen konkreten historischen Situationen ausbilden.10 3

Ebd., 472 f. Ebd., 14. 5 Siehe ebd., 475. 6 Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1915): Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen der religiösen Weltablehnung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I. Tübingen 9 1988, 237–573, hier 536–573. 7 Ebd., 555. 8 Joas, Macht des Heiligen (Anm. 1), 402. Vgl. 406 f. 9 Ebd., 402. 10 Ebd., 413. Joas unterscheidet bei Weber insgesamt vier Typen des „Spannungsverhältnisses“. Im Verhältnis von Kunst und Religion rührt es nach Joas vor allem aus der gemeinsamen „Erfahrung der Selbsttranszendenz“, ebd. 4

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option

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Die im vorhergehenden Absatz sehr verkürzt herausgehobenen Überlegungen Joas’ sind für eine historisch wie systematisch am Verhältnis zwischen Religion und Literatur interessierte Literaturwissenschaft hilfreich, weil sie von „der Vorstellung von linearen Prozessen der Säkularisierung“ auf die genauere Analyse eines jeweils in besonderen historischen Kontextbedingungen situierten „Wechselspiels“11 zwischen Religion und Literatur in Produktion und Rezeption umstellen helfen. Am Beispiel einer kleinen Fabel Martin Luthers – für den sich Joas und Rosa gleichermaßen nicht interessieren – und seiner Vorrede zu den biblischen Psalmen möchte ich dies in den Abschnitten III. und IV. versuchen. Um Luther vor diesem Hintergrund als Wegbereiter einer gerade auch das Verhältnis von Religion und Literatur berührenden modernen Literatur auffassen zu können (V.), soll zunächst jedoch noch der Begriff der „säkularen Option“ eingeführt werden, mit dem sich die Freiheit verdeutlichen lässt, im Wechselspiel von Literatur und Religion situationsabhängig Position beziehen zu können.

II Martin Luther und die säkulare Option Klaus Doderer hat 1964 in einem sehr erhellenden Aufsatz über Martin Luthers Fabelbearbeitungen die auffallende Tilgung einer christlich-theologischen Passage in einer ersten Fassung des Fabelmanuskripts von Luthers eigener Hand mit „dem Säkularisierungszwang“ erklärt, „der von der weltlichen Thematik der Fabelgattung auferlegt“ werde.12 Der überzeugenden, oben angedeuteten Kritik der Vorstellung einer linearen und situationsübergreifenden Säkularisierung, von der auch Doderers Annahme eines „Säkularisierungszwang[s]“ getragen ist, setzt Hans Joas in Die Macht des Heiligen den – auf Charles Taylor zurückgehenden – Begriff einer „säkularen Optio[n]“ entgegen,13 mit der, wie Joas an anderer Stelle zusammenfasst, die „Möglichkeit des Unglaubens“ gemeint ist, also die Möglichkeit, zwischen Glauben und Unglauben zu wählen.14 Letztere Option beschreibt Charles Taylor als die sich 11

So ebd., 415: „An die Stelle der Vorstellung von linearen Prozessen der Säkularisierung oder Entzauberung muß die Analyse des Wechselspiels von Sakralisierung und Desakralisierung, eines Wanderns des Sakralen treten; an die Stelle von ‚funktionaler Differenzierung‘ und ‚Rationalisierung‘ die Analyse von ergebnisoffenen Prozessen des Wechselspiels institutionalisierter Handlungslogiken.“ 12 Klaus Doderer: Über das „betriegen zur Warheit“. Die Fabelbearbeitungen Martin Luthers. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 14 (1964), 379–388, hier 384. Die folgenden Überlegungen sind maßgeblich durch die kritische Diskussion meines Vortrags während der Tagung „Literatur und Religion. Bilanz und Perspektiven eines Forschungsgebietes“ an der Universität Wien, 26.–28. Februar 2018, angeregt, die sich an der Frage entzündete, ob man 1530 das Wort „Lämmlein“ lesen bzw. hören konnte, ohne dabei auch an Jesus Christus zu denken. Ich danke allen Beteiligten sehr herzlich dafür. Eine Antwort darauf versuche ich im folgenden Abschnitt zu geben. 13 Joas, Macht des Heiligen (Anm. 1), 26 f. 14 Hans Joas: Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen. In: Zeitschrift für Deutsche Philosophie 57 (2009), 293–300. Auch verfügbar unter: https://philpapers.org/rec/JOADSO-2 (16.8.2018).

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historisch seit dem 18. Jahrhundert entwickelnde Möglichkeit eines „neuzeitlichen Säkularismus“, der mit der Entwicklung einer Gesellschaft zusammenfällt, in der ein völlig selbstgenügsamer Humanismus zum erstenmal in der Geschichte zu einer in vielen Kreisen wählbaren Option wird. Unter „Humanismus“ verstehe ich in diesem Zusammenhang eine Einstellung, die weder letzte Ziele, die über das menschliche Gedeihen hinausgehen, noch Loyalität gegenüber irgendeiner Instanz jenseits dieses Gedeihens akzeptiert.15

In kleinerem Maßstab, nicht als existentielle Glaubensfrage und auch nicht als Breitenphänomen, sondern als individuelle Möglichkeit eines säkular begründeten und ausgerichteten Handelns (Schreibens und Lesens) verstanden, möchte ich die Möglichkeit einer solchen „säkularen Option“ bereits dem Reformator Luther zusprechen. Die notwendig hypothetisch bleibende These eines „Säkularisierungszwangs“, dem der Autor unterworfen gewesen wäre – wer hätte Luther zwingen können und wer wollte die tatsächlichen Beweggründe seines Handelns ermitteln? –, wird damit durch die bescheidenere, aber für ein „Europa ohne säkulare Option (um 1500)“16 nicht weniger bemerkenswerte Beobachtung ersetzt, dass Luther sich im besonderen Fall der Fabel gleichwohl dafür entschieden hätte, eine säkulare Option wahrzunehmen. Der es freilich noch nicht darum geht, einen „völlig selbstgenügsamen Humanismus“ zu installieren, sondern vielmehr das Überleben in einer Gemeinschaft „ohne letzte Ziele“ zu lehren. Auffällig ist schließlich, dass in den von Luther 1530 zur Bearbeitung ausgewählten Fabeln und insbesondere in der im Folgenden im Zentrum stehenden Fabel „Vom Wolff und Lemlin“ eine an Schärfe ihresgleichen suchende Sprachkritik artikuliert wird. Sie steht polar dem Sprachvertrauen gegenüber, das nicht nur gegenüber dem biblischen Text in Gestalt des reformatorischen Grundsatzes „sola scriptura“ zum Ausdruck kommt, sondern auch in Luthers Hochschätzung des menschlichen Sprachvermögens, wie sie die „Vorrede auff den Psalter“ (1528) formuliert: „Vnd kein krefftiger noch edler werck am Menschen ist / denn reden / Sintemal der Mensch durchs reden von andern Thieren am meisten gescheiden wird / mehr denn durch die gestalt oder ander werck.“17 Diese zeitgleiche Polarität von Sprachvertrauen und Sprachkritik deutet nicht nur auf die Möglichkeit einer kontextbestimmten Wahl hin, sondern auch auf die Gestalt einer modernen Literatur, in der beides zusammenfällt.

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Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a.M. 2009, 41 (orig. A Secular Age, 2007). So Joas mit Taylor, Joas, Säkulare Option (Anm. 14), 295. 17 Martin Luther: Vorrede auff den Psalter. In: Ders.: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Neudruck der Ausgabe Wittenberg 1545. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Bd. 1. München 1972, 964–968, hier 965. 16

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option

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III Vom Wolff und Lemlin (1530) – Luthers Sprachkritik II. Hass. Vom Wolff und Lemlin. EJn Wolff und Lemlin kamen on gefehr beide an einen Bach zu trincken. Der Wolff tranck oben am Bach, das Lemlin aber fern unten. Da der Wolff des Lemlins gewar war, lieff er zu jm, und sprach, Warumb trübestu mir das Wasser, das ich nicht trincken kan? Das Lemlin antwortet, Wie kan ich dirs Wasser trüben, trinckestu doch uber mir und möchtest es mir wol trüben? Der Wolff sprach, Wie? Fluchstu mir noch dazu? Das Lemlin antwortet, Ich fluche dir nicht. Der Wolff sprach, Ja, Dein Vater thet mir für sechs Monden auch ein solchs. Du wilt dich Vetern. Das Lemlin antwortet, Bin ich doch dazumal nicht geborn gewest, wie sol ich meins Vaters entgelten? Der Wolff sprach, So hastu mir aber mein Wiesen und Ecker abgenaget und verderbet. Das Lemlin antwortet, Wie ist das müglich, hab ich doch noch keine Zeene? Ey sprach der Wolff, und wenn du gleich viel ausreden und schwetzen kanst, wil ich dennoch heint nicht ungefressen bleiben, und würget also das unschüldig Lemlin und frass es. Lere. DEr Welt lauff ist, wer Frum sein wil, der muß leiden, solt man eine Sache vom alten Zaun brechen, Denn Gewalt gehet für Recht. Wenn man dem Hunde zu wil, so hat er das Ledder gefressen. Wenn der Wolff wil, so ist das Lamb unrecht.18

Die hier in der Fassung ihres ersten Drucks 1557, posthum im Rahmen der Jenaer Lutherausgabe, wiedergegebene Aesop-Fabel „Vom Wolff und Lemlin“ besteht im Wesentlichen aus Dialog. Erzählende oder beschreibende Passagen sind auf ein Minimum reduziert. Besonders deutlich zeigt dies ein Vergleich etwa mit der Fassung, die der Luther-Anhänger, Pfarrer und Theologe Erasmus Alberus 1534 in seinem Fabelbuch präsentiert, die allein 14 Verse benötigt, bis der Sachstand nach dem ersten Satz der Luther-Version erreicht ist: WENN man will gehn ins Hessenlandt / Von Franckfurt / zu der lincken handt / Ein groß gebirg reycht biß an Rhein / Vnd in das Hessenlandt hinein / Vom Mayn ligt zwo meil oder drey / Was etwan da geschehen sey / Vnd was ein Wolff da hab gethan / Will ich jetzt kürtzlich zeigen an. Es hett der Wolff getruncken gern / Er wust ein born / vom weg nicht fern / Vom berg trollt er baldt durch den waldt Biß an den Buochbaum / der ist alt / Da steht der born / er tranck sich sat / Ein Lämblein zu dem bornfluß trat / [. . . ].19 18

Ich zitiere hier und im Folgenden nach der kommentierten Ausgabe: Martin Luther: Fabeln und Sprichwörter. Hg. von Reinhard Dithmar. Darmstadt 2 1995, 28. Vgl. auch die Edition der Fabeln mit Luthers Vorrede zu den Fabeln in der Weimarer Ausgabe der Schriften Luthers: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 50. Weimar 1914, 432–460. 19 Erasmus Alberus: Von eim Wolff vnd Lamb. In: Ders.: Die Fabeln. Die erweiterte Ausgabe von 1550 mit Kommentar sowie die Erstfassung von 1534. Hg. von Wolfgang Harms/Herfried Vögel/Ludger Lieb. Tübingen 1997, 51–53, hier 51.

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Luther folgt in der sprachlichen und inhaltlichen Konzentration der Darbietung dagegen dem Vorbild des „Originals“, d. h. der Aesop-Übersetzung Heinrich Steinhöwels (Ulm 1476/77) aus den lateinischen Prosafassungen des „Romulus“.20 Ihnen allen ist gemeinsam, dass das szenisch-dialogische Moment im Vordergrund der Fabel steht. So treten neben die Erzählstimme (die erzählt und eine Lehre erteilt) die Stimmen von Wolf und Lamm. Während jedoch die Erzählstimme im ersten Teil der Fabel, wie im Deutschen üblich, das Präteritum wählt („EJn Wolff und Lemlin kamen on gefer“) und auch die Redebeiträge des Wolfs in der Vergangenheit situiert sind („Da der Wolff des Lemlins gewar war, lieff er zu jm, und sprach“), spricht das Lamm im Präsens: „Das Lemlin antwortet, Wie kan ich dirs Wasser trüben“. Der – von Steinhöwel abweichende – Kunstgriff in der Tempusgestaltung lässt sich nicht nur als Wille zur stilistischen Variation und Spannungssteigerung deuten, mit der sich Luther einmal mehr als versierter Rhetoriker zeigt. Sondern die Versetzung der Reden des Lamms ins Präsens rücken das Lamm auch nah an die Welt der Lesenden bzw. Zuhörenden heran. Das Lamm spricht in ihrer Gegenwart.21 Doch über was wird geredet? Luthers Fabel „Vom Wolff und Lemlin“ ist schon oft interpretiert und u. a. als Kritik des Reformators an der Arroganz der Mächtigen und der Ständegesellschaft,22 als Erzählung vom Triumph des Rechts (wenigstens im Bewusstsein der Leser)23 oder auch nur zum „lehrreichen Amüsement über törichtes menschliches Verhalten“ bestimmt gedeutet worden.24 Aber alle diese Lesarten sind zu harmlos. „Hass“ ist das Wort, unter das Luther selbst in seiner Reinschrift diese Fabel gestellt hat,25 feindliche Konfrontation also und das Gegenteil zu christlichen Tugenden wie Liebe oder Gerechtigkeit. Hass jedoch zeigt 20

Luthers scharfe Kritik an dem, wie er glaubt, Übersetzer-Kollektiv in seiner eigenen Vorrede zu den Fabeln, „welche wol werd weren einer grossen Straffe, als die nicht allein solch sein nützlich Buch zu schanden und unnütz gemacht, sondern auch viel Zusatz aus jrem Kopff hinzu gethan“, Luther, Fabeln (Anm. 18), 157–163, hier 161, übertreibt maßlos, vgl. die Fabel in der Übersetzung Steinhöwels ebd., 58 f. Einführend zu Steinhöwel und Luther siehe in der Einleitung des Herausgebers Reinhard Dithmar, ebd., 16–18. 21 Der Kunstgriff ist offensichtlich eine Idee, auf die Luther erst im Lauf der Bearbeitung kommt. In einer ersten Fassung der Fabel spricht das Lamm noch im Präteritum, siehe Luther, Fabeln (Anm. 18), 29. 22 Thomas Möbius: Aufsatz für das 11.–13. Schuljahr. Bd. 2. Bange Lernhilfen, 2000, http:// digitale-schule-bayern.de/dsdaten/450/110/index.html (17.8.2018). 23 Reinhard Dithmar in: Luther, Fabeln (Anm. 18), 201: „[. . . ] der Wolf bemüht sich, das Lämmlein ins Unrecht zu setzen, um seiner Gewalttat den Anschein des Rechts zu geben, aber sein Opfer behält – in einer für den Hörer oder Leser sehr überzeugenden Weise – Recht, obwohl es gefressen wird.“ 24 Heinz Schilling: Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München 4 2016, 534: „So wählt Luther Fabeln aus über einen Hahn und eine Perle, über die Begegnung von Wolf und Lamm [. . . ], jeweils zum lehrreichen Amüsement über törichtes menschliches Verhalten wie Dummheit, Hass, Neid, Stolz etc.“ 25 Dithmar hält es für sinnentstellend, Luther, Fabeln (Anm. 18), 200. Diametral entgegengesetzt dazu die Auffassung Henning Siekmanns: „Tatsächlich kann das Wort Hass, das über Luthers Fabel prangt, nicht genügend gewürdigt werden.“ Henning Siekmann: Wolf und Lamm. Zur Karriere einer politischen Metapher im Kontext der europäischen Fabel. Bamberg 2017, 190. Siekmann versteht den Begriff im Kontext eines „‚ethische[n] Weltdualismus‘[, der] auch das theologische Fundament von Luthers Fabel sein könnte“, ebd., 192.

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option

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sich in dieser Fabel nicht nur im Auffressen des Unterlegenen, als Naturgewalt also (dazu bräuchte es nicht viel Erzählens), sondern als Sprachgewalt. Sie wird dargestellt, indem die Fabel vorführt, wie die Gebote von Vernunft und Rationalität, der Anerkennung sachbezogener Argumente (von Empathie oder Nachsicht nicht zu reden), rein sprachlich durch die Gegenreden des Wolfs ignoriert und außer Kraft gesetzt werden. Die Äußerungen des Lamms bleiben in immer neuen Anläufen vollkommen wirkungslos (für ein rhetorisch geschultes Zeitalter eine ziemliche Provokation), bis es am Ende, nach einem logisch für Lese- und Denk-Ungeübte nicht ganz leicht zu verstehenden Redewechsel, wieder ganz einfach wird und die Darstellung von der Rede zur Tat wechselt: „und würget also das unschüldig Lemlin und frass es.“ Die abschließende Lehre nimmt das Motiv der gnadenlos in ihrem Scheitern vorgeführten Rede auf drastische Weise noch einmal auf.26 Hatte Luther in einer der Reinschrift vorhergehenden Fassung offensichtlich erwogen, die Lehrweisheit ausschließlich in dem Sprichwort „Wenn man dem Hunde zu wil, so hat er das Ledder gefressen“ (Wenn man den Hund schlagen will, findet sich leicht ein Grund) bestehen zu lassen,27 der Volksweisheit also das letzte Wort über die soziale Empirie zu überlassen, sind in Luthers mit der Reinschrift übereinstimmenden Druckfassung diese und eine weitere volkstümliche Redensart („solt man eine Sache vom alten Zaun brechen“, wenn man Streit anfängt) von drei den Gehalt der Erzählung vermittelnden Aussagen größter Tragweite durchsetzt: „DEr Welt lauff ist, wer Frum sein wil, der muß leiden“ – „Denn Gewalt gehet für Recht“ – „Wenn der Wolff wil, so ist das Lamb unrecht.“ Im Zentrum dieser drei Lehrsätze steht die apodiktische Feststellung, dass Gewalt vor Recht geht. Aus ihr leitet der letzte Lehrsatz eine radikale, allgemeine Regel ab: „Wenn der Wolff wil, so ist das Lamb unrecht.“ Nicht etwa: „so wird das Lamm gefressen“ oder „so wird es falsch beschuldigt“, sondern „so ist das Lamb unrecht“. Der Sprachgewalt der Mächtigen steht demnach auch die Definitionsgewalt über das, was Recht und Unrecht ist, zu. Aus dieser Fabel eine Kritik Luthers an den Mächtigen oder der zeitgenössischen Ständegesellschaft herauszulesen, einen kontrafaktischen Triumph des Rechts oder Anlass zu Amüsement, verkennt ihre Lehre. Denn sie führt eine geschlossene Welt vor, in der es gerade keine andere Norm gibt, auf die man sich gegen die unnachgiebige, von Erfahrung gesättigte Sprachrealität nach dem Gesetz des Stärkeren berufen könnte. Gegen diese Interpretation scheint allerdings die erste der in der Lehre nebeneinandergestellten Lebensweisheiten zu sprechen: „DEr Welt lauff ist, wer Frum sein wil, der muß leiden“, die immerhin ein „frommes“ Leiden des Gottesfürchtigen (Deum verens) in der ungerechten Welt anzusprechen scheint. Doch spricht gegen diese Deutung der mittelalterliche und frühneuhochdeutsche, auch Luthers eige26

Dithmar hält alle aus Luthers Hand überlieferten Versionen der „Lere“, wenn nicht für irreführend, so doch nur für eingeschränkt der eigentlichen „Aussage“ der Fabel angemessen, Luther, Fabeln (Anm. 18), 200 f. 27 Vgl. in Luthers eigener Sprichwörter-Sammlung Nr. 31, ebd., 180; die zugehörige frühere Fassung der Fabel ebd., 29 f.

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ner Sprachgebrauch, der „frum“ bzw. „fromm“ vor allem im Sinne von „gut“ und „gerecht“ verwendet.28 Damit erhielte die Feststellung über den Lauf der Welt allerdings einen biblischen, ja, wörtlichen Bezug auf Ps 34,20: „DEr Gerecht mus viel leiden“. Doch das anklingende Bibelwort ist entscheidend verkürzt. Das im Psalmvers unmittelbar anschließende Trostwort: „Aber der HERR hilfft jm aus dem allen“ findet in der innerweltlichen Perspektive der Fabel und ihrer Lehre keinen Platz. – Zur christlichen Allegorese lädt vielmehr allein im letzten Satz der Fabel die Rede vom „unschüldig Lemlin“ ein, die an den Opfertod Jesu Christi denken lässt, so wie Luther auch prominent an anderer Stelle, in seinem „Bekenntnis“ von 1528, Jesus Christus als „unschüldigs lemlin“ bezeichnet.29 Ein Spalt weit wenigstens wird damit die in sich geschlossene Welt geöffnet, mit einer Wendung nur, aber immerhin, erscheint die Idee einer ganz anderen Ordnung jenseits dieser Welt. Klaus Doderer hat im Detail gezeigt, wie konsequent Luther seine Fabeln ansonsten als weltliche Literatur konzipiert. In den erhaltenen Überarbeitungsschritten lässt sich nachvollziehen, wie Luther biblische und christliche Bezüge aus seinen Fassungen herauskorrigiert.30 So spannt Luther im selbständigen „Erzählraum“ der Fabel (Doderer)31 wie auch in den nachgestellten Lehren eine konsequent säkulare Welt auf. Er realisiert in der Narrenmaske32 der Literatur eine säkulare Option, um Lesenden und Hörenden die Wahrheit über die Welt vor Augen zu führen: eine Wahrheit, die auch das Medium der Literatur, die Sprache, fragwürdig werden lässt, wenn in ihr offenkundig Unrechtes unwidersprochen festgestellt werden kann: „Wenn der Wolff wil, so ist das Lamb unrecht.“

28 Dies gegen Siekmann, Wolf und Lamm (Anm. 25), 198, der bei Luther eine „stark forcierte religiös-geistliche Transformation des Wortsinns“ annimmt. Vgl. dazu Art. Fromm. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, 240–247, hier 241: „aus den beigeschriebnen texten ist ersichtlich, dasz Luthers fromm meistens unser jetziges gerecht oder auch gut bezeichnet, nicht fromm im sinne von deum verens“, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF09669#XGF09669 (20.4.2019). Auch in Luthers Fabel „Vom Diebe“ ist „frum“ im weltlichen Sinn verwendet, Luther, Fabeln (Anm. 18), 44. Zum weiteren, auch dem theologischen, Kontext siehe Matthias Mikoteit: Theologie und Gebet bei Luther. Untersuchungen zur Psalmenvorlesung 1532–1535. Berlin/New York 2004, 14–47. 29 Martin Luther: Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. Zum Dritten. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 26. Weimar 1909, 499–509, hier 502. Siekmann, Wolf und Lamm (Anm. 25), 201, macht darauf aufmerksam, dass „unschüldig Lemlin“ überhaupt die einzige Charakterisierung in der ganzen Fabel ist. 30 Doderer, Fabelbearbeitungen (Anm. 12), 384 f. Doderer nennt beispielhaft den Strich der Passage „Malum. Malum dicit omnis emptor, Wer Christum nicht hat der begerd sein sicut gentes Wer yhn hat der creutzigt yhn vnd wil yhn nicht wie die Juden Sic omnis ars praesens, absens habet“ im Epimythion der ersten, programmatischen Fabel „Vom Han und Perlen“, ebd., 384. Im Epimythion der Fabel „Vom Hunde und Schaf“ tilgt Luther „Gott behut fur bosen nahbarn“, Luther, Fabeln (Anm. 18), 35 f. In „Vom Diebe“ wird aus einer ,himmlischen‘ Stimme die Stimme Jupiters, ebd., 44 f. 31 Doderer, Fabelbearbeitungen (Anm. 12), 386. 32 „Nicht allein aber die Kinder, sondern auch die grossen Fürsten und Herrn kan man nicht bas betriegen zur Warheit und zu jrem nutz, denn das man jnen lasse die Narren die Warheit sagen, dieselbigen können sie leiden und hören, sonst wöllen oder können sie von keinem Weisen die Warheit leiden.“ Martin Luther: Vorrede. In: Ders., Fabeln (Anm. 18), 157–163, hier 159.

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option

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Nicht weniger sprachkritisch zeigen sich auch die Fabeln „Vom Hunde und Schaf“, in der es um falsche Zeugenaussagen geht, „Vom Diebe“, die lehrt, nicht jedem Rat, „Vom Hund und der Hündin“, nicht jedem Versprechen, „Vom Esel und Lewen“, nicht jedem Gruß zu trauen, oder schließlich „Vom Raben und Fuchse“, in der Lüge, Schmeichelei und Verstellung in besonders abgründiger Weise zusammenfinden. Ein skeptischer Schleier liegt damit fast in der Hälfte der von Luther für die Bearbeitung ausgewählten dreizehn Fabeln über der Sprache und dem Sprechen, das gänzlich säkular und in seinem heillosen Wirken vorgeführt wird.

IV „Vnd kein krefftiger noch edler werck am Menschen ist / denn reden [. . . ]“ – Luthers Sprachvertrauen Der Option einer säkularen Sprachbetrachtung steht jedoch in Luthers Werk zeitgleich eine religiöse Option gegenüber, die in vergleichbarer Radikalität die Sprache feiert. Kurz nach seinem Eintreffen auf der Veste Coburg skizziert Luther dem Freund Philipp Melanchthon in einem Brief vom 24. April 1530 sein Arbeitsprogramm für die Zeit des erzwungenen Aufenthalts: Endlich sind wir auf unserm Sinai angelangt, teuerster Philippus. Aber wir werden ein Zion aus diesem Sinai machen und hier drei Hütten bauen: dem Psalter eine, den Propheten eine und dem Aesop eine.33

Zusammen mit der Arbeit am Aesop, für dessen Hochschätzung diese Stelle zum einschlägigen Beleg geworden ist, stellen die weiteren in ihr angesprochenen Vorhaben: die Auslegung des ganzen alttestamentlichen Psalters sowie die Übersetzung und Auslegung der Prophetenbücher des Alten Testaments, eine Konstellation dar, in der Sprachkritik und Sprachverehrung auf engstem Raum zusammenfinden. Denn wie schon die Schriften der Propheten als „Gottes wort“, so Luther, mehr Beachtung verdienten, als ihnen gegenwärtig zuteilwerde,34 belegt der Psalter an erster Stelle, dass „kein krefftiger noch edler werck am Menschen ist / denn reden“.35 Die zuerst 1528 publizierte und dann in die vollständige Bibelübersetzung von 1534 übernommene „Vorrede auff den Psalter“ ist ein eindrucksvolles Dokument der Sprachfeier und des Sprachvertrauens. Einen „so trefflichen edlen geruch“ habe der Psalter auch in „finstersten“ Zeiten von sich gegeben, „das alle frome hertzen auch aus den vnbekandten worten andacht vnd krafft empfunden / vnd das Büchlin darumb lieb hatten.“36 Und weiter: VND solt der Psalter allein des halben thewr vnd lieb sein / das er von Christus sterben vnd aufferstehung / so klerlich verheisset / vnd sein Reich vnd der gantzen Christenheit stand 33

Hier in Übersetzung zit. nach: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Hg. von Kurt Aland. Bd. 10: Die Briefe. Göttingen 1991, 199. 34 Martin Luther: Vorrede auff die Propheten (zuerst 1532). In: Ders., Heilige Schrifft (Anm. 17), Bd. 2, 1160–1168, hier 1160. 35 Martin Luther: Vorrhede. In: New Deudsch Psalter. Wittenberg 1528. Hier zit. nach: Luther, Vorrede auff den Psalter (Anm. 17), 965. 36 Ebd., 964.

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J. Jacob vnd wesen furbildet. Das es wol möcht ein kleine Biblia heissen / darin alles auffs schönest vnd kürtzest / so in der gantzen Biblia stehet / gefasset vnd zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht vnd bereitet ist. Das mich dünckt / Der heilige Geist habe selbs wöllen die mühe auff sich nemen / vnd eine kurtze Bibel vnd Exempelbuch von der ganzten Christenheit oder allen Heiligen zusamen bringen. Auff das / wer die ganzten Biblia nicht lesen kündte / hette hierin doch fast die gantze Summa verfasset in ein klein Büchlin.37

Die besondere Hochschätzung des Psalters gründet jedoch nicht allein in der Zusammenfassung der biblischen Lehre oder darin, dass er von den „werck der Heiligen erzelet“,38 sondern dass er die Worte der Psalmisten an Gott und damit die „Kraft“ der menschlichen Rede in ihrem Vollzug vorführt. Der Psalter führt nicht die alltägliche „schlechte gemeine rede der Heiligen“: Sondern die aller besten [Reden] / so sie mit grossem ernst in der aller trefflichsten sachen mit Gott selber geredt haben. Da mit er nicht allein jr wort vber jr werck / Sondern auch jr hertz vnd gründlichen schatz jrer Seelen vns furlegt / Das wir in den grund vnd quelle jrer wort vnd werck / das ist / in ir hertz sehen können [. . . ].39

Die Reden der Psalmisten lassen unverstellt in ihr Herz schauen, in den „schatz jrer Seelen“ und damit in den Quellgrund ihrer „wort vnd werck“. Das ist ein Verständnis von Sprache und Reden, das man existentialistisch nennen kann. Die Rede, und nur sie, wenn es ihr „Ernst“ ist,40 erlaubt den Zugang ins Innerste der Sprechenden. Die üblichen Heiligenlegenden dagegen, die „allein von der Heiligen werck oder Wunder rhümen“, d. h. nur davon erzählen, halten „vns schier eitel stumme Heiligen“ vor, wogegen der Psalter „rechte wacker lebendige Heiligen vns einbildet“ – die reden.41 Durch die Lektüre des Psalters wird den Seelen der Lesenden demnach mit den lebendigen Heiligen auch ihr Sprachvermögen „ein[ge]bildet“. Der Begriff der „Einbildung“, den Luther im Sinne eines sich in die Seele „Einprägens“ in der mystischen Tradition Meister Eckharts verwendet,42 lässt die „allerbeste“ Sprachfertigkeit der Heiligen auf alle Menschen übergehen. Luther verwendet den Begriff der „Einbildung“ in seiner Bibelausgabe nur noch ein einziges Mal, in der Vorrede zum apokryphen Buch Tobias. Auch dort ist der leitende Gedanke ein Einprägen durch „Einbildung“ mittels Lektüre, die in diesem Fall sogar durch „ein Geschicht“ oder „ein Geticht“ außerhalb des biblischen Kanons geleistet werden kann. So stellt Luther das Buch Tobias als Beispiel einer historischen Praxis vor, in der durch einen „geistreichen Poeten“ in „Gottes wort vnd werck“ unterwiesen worden sei, Religion und Literatur mithin verschmolzen waren: 37

Ebd., 964. Ebd., 965. 39 Ebd. 40 Zur Verarbeitung dieses protestantischen Spracherbes in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts siehe Joachim Jacob: Unterwegs zur Kunstreligion? – Kunstlose Kunst, heiliger Ernst. Zur Heiligung der Kunst im deutschen Pietismus. In: Hermann Deuser/Markus Kleinert/Magnus Schlette (Hg.): Metamorphosen des Heiligen. Tübingen 2015, 171–189. 41 Luther, Vorrede auff den Psalter (Anm. 17), 965. 42 Zur Bedeutung von Eckhart und der mittelalterlichen Mystik für Luther siehe Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016. 38

Sprachkritik, Sprachvertrauen und die säkulare Option

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WAs vom Buch Judith gesagt ist / das mag man auch von diesem buch Tobie sagen. Jsts ein Geschicht / so ists ein fein heilig Geschicht. Jsts aber ein Geticht / so ists warlich auch ein recht / schön / heilsam / nützlich Geticht vnd Spiel / eines geistreichen Poeten. Vnd ist zuuermuten / das solcher schöner Geticht vnd Spiel / bey den Jüden viel gewest sind / darin sie sich auff jre Feste vnd Sabbath geübt / vnd der Jugent also mit lust / Gottes wort vnd werck eingebildet haben / Sonderlich da sie in gutem Friede vnd Regiment gesessen sind. Denn sie haben gar treffliche Leute gehabt / als Propheten / Senger / Tichter / vnd der gleichen / die Gottes wort vleissig / vnd allerley weise getrieben haben.43

V Martin Luther als Wegbereiter einer modernen Literatur Aus theologischer Perspektive ließe sich die janusköpfige Gestalt der Lutherschen Sprachreflexion möglicherweise recht einfach auflösen und könnte als Kontrast zwischen einem als göttliche Gabe angelegten, „edlen“ Sprachvermögen und einer zutiefst korrumpierten Sprachrealität in einer gottfernen sozialen Gemeinschaft verstanden werden, als weitere Ausprägung eines Lutherschen Dualismus zwischen dem „Reich Gottes“ und dem „Reich der Welt“ („Von weltlicher Obrigkeit“, 1523). Aus literaturwissenschaftlicher Sicht erscheint jedoch interessanter als die Kohärenz die Diskrepanz, die sich in den Texten Luthers zwischen dem Sprechen in der religiösen und in der säkularen Sphäre, zwischen Sprachvertrauen im biblischen und Sprachkritik im außer-biblischen Zusammenhang auftut. Die „Spannungsverhältnisse“, die sich damit bereits am Beginn der Neuzeit auftun, lassen noch einmal diskutieren, in welchem Maß ein Epochenbegriff der Moderne oder Modernisierung überhaupt mit der Zunahme solcher Spannungen in Verbindung gebracht werden kann (vgl. I.). Unabhängig davon gilt jedoch, dass die bei Luther aufgewiesene Polarität von Sprachvertrauen und Sprachkritik auch ein Strukturmerkmal derjenigen Literatur ist – genannt seien hier nur Klopstock, Hölderlin oder Hofmannsthal –, die auch gerne innerhalb oder jenseits der üblichen historischen Epochenzuschreibungen „modern“ genannt wird.44 Zu dieser Modernität gehört es, sowohl die Religion als Thema der Literatur mit der Reflexion ihrer Möglichkeiten und Grenzen im Auge zu behalten als auch der Literatur innerhalb stark religiös geprägter Kontexte in Vergangenheit und Gegenwart die Möglichkeit einer säkularen Option offenzuhalten. So oder so: Die Verflechtungen, die das „Wechselspiel“ (Joas) zwischen Religion und Literatur in je eigenen historischen Ausprägungen entspinnt, bleiben in und jenseits der Moderne eine Herausforderung. 43

Martin Luther: Vorrede auffs Buch Tobie. In: Ders., Heilige Schrifft (Anm. 17), Bd. 2, 1731 f., hier 1731. 44 So etwa Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“. Nachwort zu: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Frankfurt a.M. 1989, 259–351; Gerhard Kurz/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Tübingen 1995; Friedrich Vollhardt (Hg.): Hölderlin in der Moderne. Kolloquium für Dieter Henrich zum 85. Geburtstag. Berlin 2014; Bernhard Böschenstein: Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900. In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: 1900. Paderborn u. a. 1998, 111–121.

Warten auf ein Gewitter. Zur Wiederholung in Literatur und Religion anhand von Kierkegaard und Stifter1 Markus Kleinert

Kierkegaard und Stifter werden selten zueinander in Beziehung gesetzt: Zu verschieden wirken das jüngste Kind eines Wollwarenhändlers aus Kopenhagen und das älteste Kind eines Leinwebers und -händlers aus dem südböhmischen Oberplan, der Einfluss des Pietismus in Gestalt der Herrnhuter Brüdergemeine und der eines liberalen Katholizismus im Benediktinerstift Kremsmünster. Vergleichbar erscheinen allenfalls die unerfüllten Liebesbeziehungen zu Regine Olsen beziehungsweise Fanny Greipl oder auch der Kollaps des Kirchenkämpfers und der Selbstmordversuch des vom Nervenleiden Zerrütteten. Dementsprechend berücksichtigt nur ein Forschungsbeitrag etwas eingehender das Verhältnis beider Zeitgenossen.2 Wird jedoch das Thema der Wiederholung als Vergleichspunkt gewählt, scheint ein Vergleich beider Autoren weniger abwegig, wie im Folgenden mit Konzentration auf Kierkegaards Die Wiederholung (1843) und Stifters Der Nachsommer (1857) gezeigt werden soll, auch und gerade weil auf diese Weise unterschiedliche Wiederholungskonzepte hervortreten. Auf der Basis einer kursorischen, die Differenz der Wiederholungskonzepte akzentuierenden Präsentation besagter Texte lassen sich schließlich einige allgemeine Bemerkungen zum Verhältnis von Literatur und Religion formulieren.

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Der Aufsatz basiert auf einem Auszug aus meiner 2018 eingereichten Habilitationsschrift „Andere Klarheit. Versuch über die Verklärung im Spannungsfeld von Kunst, Religion und Philosophie“. 2 Christa Kühnhold: Adalbert Stifter – Ein Zeitgenosse Kierkegaards. Studien zu Stifters Stil und Wirklichkeitsbegriff. Innsbruck 1986. M. Kleinert () Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_9

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I Kierkegaard: Ereignis oder Ereignislosigkeit Kierkegaards Wiederholungsschrift wird im Untertitel als „[e]in Versuch in der experimentierenden Psychologie“ bestimmt,3 wobei eigentlich zwei Versuche dargestellt werden: erstens ein Selbstversuch von Constantin Constantius, dem von Kierkegaard für diese Schrift gewählten Pseudonym und Erzähler, und zweitens ein Experiment, das ein namenlos bleibender junger Mann teils unter Anleitung von Constantin Constantius, teils gegen dessen Rat durchführt. Die Wiederholung wird von Constantin Constantius zunächst abstrakt als Prinzip glücklichen Gegenwärtigseins und Bestandhabens bestimmt, das als solches spezifisch modern sei und sich von der melancholischen Erinnerung der antiken Philosophie ebenso unterscheide wie vom Vermittlungsenthusiasmus der zeitgenössischen Philosophie, die dem faktischen Existieren entgegenlaufe oder es zugunsten abstrakten Denkens überginge. Die so geweckten höchsten Erwartungen an die Wiederholung scheinen durch den Handlungsverlauf der Schrift enttäuscht werden zu sollen, wird in ihr doch eher die Unmöglichkeit einer Wiederholung vorgeführt beziehungsweise, was aufs Gleiche hinausläuft, die Fragwürdigkeit und Verkehrtheit aller eintretenden Wiederholungen. Statt Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit oder Authentizität wiederherstellen oder erneuern zu können, machen diese Wiederholungen Entfremdung erst recht bewusst. Das zeigt der Selbstversuch von Constantin Constantius, der zur Erprobung der Möglichkeit und Bedeutung der Wiederholung spontan ein zweites Mal nach Berlin reist, ohne die neuen Eindrücke mit den Erinnerungen an seinen ersten Besuch in Einklang bringen zu können, alles scheint irgendwie anders, jede Kontinuität künstlich. Fruchtlos scheint das Bemühen um eine Wiederholung, wenn schon die Absicht verhindert, dass sich der ursprüngliche Zustand wieder einstellen kann. Beschworen wird der Zauber des ersten Aufenthalts insbesondere beim wiederholten Besuch des Königstädter Theaters, in dem Nestroys Talisman aufgeführt wird. Vormals wirkten alle Umstände zu einem mitreißenden Theatererlebnis zusammen: das durch die Spannung zwischen Stereotypie und Improvisation die Phantasie stimulierende Genre der Posse, der einsame Logenplatz, die musikalische Einstimmung, das Interagieren von Schauspieler und Publikum, Letzteres „die Stimme der Natur auf der Galerie“4 (wie überhaupt der Hörsinn die dominierende Sinneswahrnehmung in Kierkegaards Wiederholungsschrift ist). Dies naive Treiben im Theater konnte so mit sentimentalen Kindheitserinnerungen des Besuchers verschwimmen. Die ultimative Steigerung erhielt der Genuss durch die Beobachtung der Selbstvergessenheit eines Mädchens in der gegenüberliegenden Loge. Wie könnte es überraschen, dass sich eine solche Konstellation nicht erneut ergibt, Constantin Constantius das Theater überstürzt verlässt, danach ebenso seine Berliner Pension, in 3 Kierkegaards Wiederholungsschrift wird zitiert nach Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, übers. von Emanuel Hirsch. Köln 1955; in Klammern wird der Beleg in der neuen dänischen Kierkegaard-Ausgabe ergänzt: Søren Kierkegaards Skrifter. Hg. von Niels Jørgen Cappelørn u. a. Bd. 4. Kopenhagen 1997, hier 1 (7). 4 Ebd., 39 (40).

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der ihm nun jedes Detail, der Schreibtisch, die Gasbeleuchtung, irgendwie fehl am Platze scheint – nur um bei seiner Rückkehr entdecken zu müssen, dass das eigene Heim entgegen seinen strikt „konservativen“ Anordnungen gerade einer Generalreinigung unterzogen wird und nichts mehr so ist, wie es war. Das Ergebnis dieser komischen Klimax von Enttäuschungen ist eine pessimistische Lebensanschauung, die Augenblicke der Verklärung kennt,5 die Möglichkeit eines anhaltend glücklichen Lebens aber bestreitet. Dabei wirkt das Erkenntnisinteresse als negativ verstärkender Faktor, habe doch gerade die Frage nach der Wiederholung den Genuss der zweiten Berlin-Reise verhindert, doch auch ein Begnügen mit der Formel vom „Strom des Lebens“ unmöglich gemacht, auf die sich alle, „geistliche wie weltliche Redner, Dichter wie Prosaiker, Schiffer wie Leichenbitter, Helden wie Memmen“6 einigen können. So gibt Constantin Constantius alle theoretischen Ambitionen auf, um die bestehende Ordnung nach Kräften zu konservieren (wie es seinem Namen entspricht), in der Überzeugung, „daß man durch Unerschütterlichkeit und dadurch, daß man seine Beobachtungsgabe abstumpft, eine Einförmigkeit erzielen kann, welche weit mehr die Macht hat zu betäuben als die launischsten Zerstreuungen und zugleich im Laufe der Zeit mächtiger und mächtiger wird gleich einer Beschwörungsformel.“7 Vor dem Hintergrund der so beschworenen Einförmigkeit gewinnt jener andere Versuch in der experimentierenden Psychologie an Bedeutung, den Constantin Constantius als Vertrauter eines jungen Mannes begleitet und in dessen Verlauf sich vielleicht doch die Möglichkeit einer Wiederholung andeutet. Den jungen Mann treibt ein Liebesverhältnis um, in welchem ihm ein unbefangenes Verhalten gegenüber der Geliebten nicht länger möglich ist, das er aber auch nicht aufgeben kann und möchte, weshalb er die ursprüngliche Unbefangenheit auf irgendeine Weise zurückgewinnen muss. Auf einen Plan von Constantin Constantius, der durch ausgeklügelte Täuschung „eine Wiederherstellung des früheren Zustands (redintegratio in statum pristinum)“8 herbeizuführen verspricht, lässt sich der junge Mensch nicht ein. Er orientiert sich vielmehr an einem religiösen Vorbild, was der zurückgewiesene Ratgeber folgendermaßen kommentiert: Mein Freund sucht also glücklicherweise keine Aufklärung bei einem weltberühmten Philosophen oder bei einem öffentlichen ordentlichen Professor, er wendet sich an einen privatisierenden Denker, welcher voreinst der Welt Herrlichkeit besessen hatte, sich aber später vom Leben zurückzog – mit andern Worten, er nimmt seine Zuflucht zu Hiob, der nicht auf einem Katheder Figur macht und mit beteuernden Gestikulationen für die Wahrheit seiner Sätze einsteht, sondern in der Asche sitzt und sich mit einem Tonscherben kratzt, und ohne dies Werk der Hände zu unterbrechen, flüchtige Winke und Bemerkungen hinwirft. Hier meint er gefunden zu haben, was er gesucht; in diesem kleinen Kreis von Hiob und Frau samt drei Freunden klingt, seiner Meinung nach, die Wahrheit herrlicher und froher und wahrer als auf einem griechischen Symposion.9 5

Ebd., 48 (47). Ebd., 48 (48). 7 Ebd., 51 (50); vgl. 45 f. (45). 8 Ebd., 17 (21). 9 Ebd., 59 (57). 6

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In den sieben Briefen des jungen Mannes an den Erzähler, die Constantin Constantius dann wiedergibt, ist mitzuvollziehen, wie Lebensekel und Sprachkrise als radikale Konsequenzen der das Lebensgefühl des jungen Mannes bestimmenden Entfremdung durch Aneignung der biblischen Hiobsgeschichte überwunden werden sollen. Dazu gehört selbstverständlich das wiederholte Lesen: „Obwohl ich das Buch immer wieder gelesen, ist jedes Wort mir neu. Jedesmal, wenn ich zu einem Worte komme, wird es zum ersten Mal geboren oder entsteht es mit Ursprungsmacht in meiner Seele.“10 Die existentielle Vergegenwärtigung und Aneignung des Gelesenen ist daran zu erkennen, dass der von Hiob gegen alle Erklärungsangebote behauptete Glaube an Gottes Gerechtigkeit zum eigenen Handlungsimpuls wird und damit Distanzierungstechniken der Ästhetisierung (Hiob als Glaubensheld) oder Rationalisierung (Hiobs Prüfung) verunmöglicht. Wie Hiob die Erklärungen seiner Freunde abweist, so der junge Mann den Plan des Constantin Constantius, eine Wiederholung durch Manipulation zu befördern, im Glauben daran, dass, wenn Hiob nach dem Gewitter, in welchem ihm der Herr antwortet, alles zweifach wiederbekommt (Hi 38–41 bzw. 42), dann auch in seinem Fall eine Wiederholung möglich ist, dass sich dann auch in seinem Fall eine Wiederholung ereignen kann: „Ich warte auf ein Gewitter – und auf die Wiederholung.“11 An diesem Punkt der Entwicklung kann sich der theoriemüde Constantin Constantius eine Zwischenbemerkung nicht verkneifen: „Das, woran er [der junge Mann] leidet, ist eine unzeitige melancholische Hochherzigkeit, die nirgends zu Hause ist außer im Hirn eines Dichters. Er wartet auf ein Gewitter, welches ihn zum Ehemann machen soll, vielleicht einen Schlaganfall.“12 Doch es kommt anders, im nachgereichten achten Brief des jungen Mannes wird eine unerwartete Aktion der Geliebten, die inzwischen einen Anderen geheiratet hat, als die erhoffte Wiederholung präsentiert: „Es kam ja auch wie ein Gewitter, wenn ich es auch ihrer Großmut zu danken habe, daß es eintrat.“13 Diese Wiederholung entziehe sich dem außenstehenden Beobachter, ereigne sich allein in der Innerlichkeit, „wo man jeglichen Augenblick das Leben einsetzt, jeglichen Augenblick es verliert und wieder neu gewinnt“.14 Als wolle er angesichts dieser Entwicklung und der Entmachtung des Beobachters die Deutungshoheit zurückgewinnen, wendet sich Constantin Constantius zum Schluss in einem Brief direkt an den Leser des Buches,15 in welchem er durch Entwicklung der Dialektik von Allgemeinheit und Ausnahme die ästhetisch-religiöse Doppeldeutigkeit der vom jungen Mann beanspruchten Erlösung hervorzuheben sucht. Die Wirkung der Wiederholungsschrift besteht nach Constantin Constantius darin, dass das Problem der Ausnahme für den Leser überhaupt relevant wird, da anhand der Geschichte des jungen Mannes nicht einfach der Gegensatz von Allgemeinem und Ausnahme festgestellt, sondern der 10

Ebd., 76 (73). Ebd., 83 (81). 12 Ebd., 85 (83). 13 Ebd., 89 (87). 14 Ebd., 90 (88). 15 Ebd., 91–97 (89–96). 11

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Versuch einer Selbstrechtfertigung als Ausnahme mitvollzogen wird. Die Selbstdarstellung des jungen Mannes als berechtigte Ausnahme (weshalb sein Verhältnis zur Geliebten gar nicht in ein Eheverhältnis münden und darin entfaltet werden konnte) zeigt nach Constantin Constantius allerdings, dass es sich bei der in Anspruch genommenen Ausnahmestellung um die eines „Dichters“ handelt. Als solcher vermag der junge Mann die Wirklichkeit auf mitreißende Weise darzustellen und zu erklären, auch und gerade getragen von einer unbestimmten religiösen Stimmung wie dem Hochgefühl der Hiob-Nachfolge. Zur echten religiösen Ausnahme gehöre dagegen die mit einem eindeutigen Gottesverhältnis und einer entsprechenden Vollmacht verbundene endgültige Unabhängigkeit der „religiösen Individualität“ von der Wirklichkeit. Zu bedenken bleibt freilich, dass Constantin Constantius mit diesen Ausführungen über die ästhetische und die religiöse Ausnahme das letzte Wort über seine Geschichte behalten will. So ist in Bezug auf Kierkegaards Wiederholungsschrift festzuhalten, dass diese mittels einer sowohl den Bericht des Constantin Constantius als auch die Briefe des jungen Mannes und erst recht deren Zusammenspiel prägenden Poetik der Unruhe und Uneigentlichkeit (als ein Vorbild dieser vom ständigen Wechsel der Stimmen und Stimmungen sowie von potenzierter Selbstreflexion und Mehrdeutigkeit gekennzeichneten Schreibweise wird Hamann genannt)16 die Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung offenlässt, dabei aber verdeutlicht, dass die Wiederholung als Wiedergewinn von Ursprünglichkeit etwas anderes sein müsse als eine begrifflich konstruierte oder poetisch inszenierte Wiederholung.

II Stifter: Allmählichkeit Auch in Stifters Nachsommer wird das Problem der Wiederholung anhand zweier modellhafter Handlungsverläufe thematisiert („der Wege sind verschiedene“), deren Hauptfiguren ein wenig an Kierkegaards Constantin Constantius und den jungen Mann erinnern können, wobei die Rollen dann vertauscht wären: Stifters „Erzählung“ lässt den Leser zum einen die kontinuierliche Bildungsgeschichte eines jungen Mannes mitvollziehen, der erst ganz am Ende, im letzten Kapitel des dritten Teils, namentlich identifiziert wird (Heinrich Drendorf) und der um der im Roman herrschenden Atmosphäre der Anonymität und Allgemeinheit willen hier weiterhin als junger Mensch oder junger Mann angesprochen wird; zum anderen wird darin die entsagungsreiche Geschichte eines väterlichen Freundes mitgeteilt, die Merkmale einer Hiobsiade hat.

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Und zwar von Constantin Constantius mit einem vermutlich fingierten Zitat ebd., 22 (26): „indem ich nach Hamanns Beispiel ‚mit mancherlei Zungen mich ausdrücke, und die Sprache der Sophisten, der Wortspiele, der Creter und Araber, Weißen und Mohren und Creolen rede, Critik, Mythologie, Rebus und Grundsätze durcheinanderschwätze, und bald ›’£’ ’ª%¨ o bald ›’£’ ©Ÿo¦˜ argumentiere‘“. Vgl. mit Blick auf Kierkegaards Gesamtwerk Angelika Jacobs: Kierkegaards heteronome Texturen. In: Hermann Deuser/Markus Kleinert (Hg.): Sokratische Ortlosigkeit. Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers. Freiburg i.Br. [in Vorbereitung].

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Zunächst zur Geschichte des jungen Mannes, dessen Bericht den größten Teil des Romans ausmacht. In seiner Jugend darf sich dieser auf der Suche nach der eigenen Bestimmung zu einem Wissenschaftler im Allgemeinen ausbilden, entsprechend der ebenso unbestimmt gehaltenen Vorhersage seines Vaters: „ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge werden, oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt, an denen er so Antheil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.“17 Und so beschreibt und zeichnet er denn nach und nach Steine, Pflanzen und Tiere, die Erde, den Himmel und das Wetter, wobei er weniger die etablierte wissenschaftliche Systematik übernimmt als alternative Ordnungen entwirft. Auf einer seiner Wanderungen im Gebirge führt ein vermeintlich unmittelbar bevorstehendes Gewitter den hinsichtlich seiner Beobachtungsgabe durchaus selbstbewussten jungen Menschen zu jener arkadisch-paradiesisch anmutenden Anlage des Rosenhauses, dessen Eigentümer, der Gastfreund, die Vorhersage des Gewitters korrigiert und sich dabei auf unabsichtlich gemachte und wiederholt geprüfte Beobachtungen der Natur beruft. So heißt es etwa über die das Ausbleiben des Gewitters anzeigenden Naturphänomene: Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergründet, [. . . ] noch weniger den Ausdruck dafür gefunden; beides dürfte in dieser Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufällig einige Beobachtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wiederholt, und daraus Erfahrungen gesammelt, und Ergebnisse zusammen gestellt, die eine Voraussage mit fast völliger Gewißheit möglich machen.18

Diese Haltung der Geduld und der Gleichgültigkeit im positiven Sinne erläutert der Gastfreund dem jungen Menschen folgendermaßen: Viele Menschen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt.19

Und angesichts der den jungen Menschen verwirrenden Gegensätzlichkeit von städtischer Geschäftigkeit und Beschaulichkeit des Rosenhauses führt er das später weiter aus: Weil die Menschen nur ein Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann.20 17

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Bd. 1–3. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe (HKG). Bd. 4/1–3. Hg. von Wolfgang Frühwald/Walter Hettche. Stuttgart/Berlin/Köln 1997–2000, hier HKG 4/1, 30. 18 HKG 4/1, 120. 19 HKG 4/1, 122. 20 HKG 4/1, 217 f.

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Um die Ordnung im eigenen Inneren beziehungsweise im Verhältnis zwischen dem Inneren und den Dingen herzustellen, wendet sich der junge Mensch neben der Wissenschaft der Kunst, und zwar vor allem der bildenden Kunst zu (wie für Stifters Roman der Gesichtssinn überhaupt die dominierende Sinneswahrnehmung ist). Der Besuch einer Theatervorstellung von Shakespeares König Lear wirkt dagegen als abschreckendes Beispiel der Maßlosigkeit nach: Die Überreizung der Einbildungskraft und die fatale Ungeduld innerhalb der Dramenhandlung erschüttern den jungen Mann wie auch das von ihm erblickte Mädchen, welches später seine Frau werden wird (wie anders der passionierte Theatergänger Constantin Constantius!). Nicht das gesellschaftliche Spektakel, sondern die einsame Begegnung mit einer von Gewitterblitzen erleuchteten Marmorstatue im Haus des Gastfreundes wird für den jungen Mann bei Stifter zum ästhetischen „Erweckungserlebnis“. Die durch das Kunstwerk eröffnete Sichtweise bedarf jedoch über einen solchen Augenblick hinaus der beständigen Einübung, wie zum Beispiel in den weit weniger dramatischen Bildbetrachtungen der Hausgemeinschaft: „Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich Manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte. So wiederholte man den Genuß, und verlebte sich in das Kunstwerk.“21 Die wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven verbindende Bildung des jungen Mannes, die durch das endliche Wiedererkennen der mehrfach aus der Distanz bemerkten und verkannten Geliebten einen Höhepunkt erfährt,22 befördert eine alle persönlichen Präferenzen übersteigende, allseitig von Geduld, Anteilnahme und Liebe bestimmte Lebensanschauung, deren Ausdrucksformen von der Anbetung des Unbedingten über die verhältnismäßige Liebe innerhalb der Sphäre der Sittlichkeit bis zur bloßen Liebhaberei reichen (und aus der nur die Vereinseitigung, die fälschlich so genannten „edlen Leidenschaften“ ausgeschlossen sind).23 Der Optimismus, der in dieser so überdeutlich kontinuierlichen, auf produktiven Wiederholungen basierenden Bildungsgeschichte dargestellt ist, kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Gastfreund anlässlich eines Gesprächs über die Möglichkeit des Verfehlens der eigenen Bestimmung diese Möglichkeit nur unter der Voraussetzung eines grundsätzlich positiv orientierten Menschenbildes erörtert. In der Frage nach dem Erfüllen oder Verfehlen der eige21

HKG 4/2, 123 f. Mit dem Augenblick des Erkennens erscheint dem jungen Mann die Welt verklärt, HKG 4/2, 262: „Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert, und wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht eigen war. Nataliens Augen, in welche ich schauen konnte, standen in einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte. Das unermüdlich fließende Wasser die Alabasterschale der Marmor waren verjüngt; die weißen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar im Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüssigkeit rann plätscherte oder pippte oder tönte im einzelnen Falle anders; das sonnenglänzende Grün von draußen sah als ein neues freundlich herein, und selbst das Hämmern, mit welchem man die Tünche von den Mauern des Hauses herabschlug, tönte jezt als ein ganz verschiedenes in die Grotte von dem, das ich gehört hatte, als ich aus dem Hause gegangen war.“ Und anlässlich der von den Eltern gutgeheißenen Verbindung, HKG 4/3, 71: „Alles, die Wolken die Sterne die Bäume die Felder schwebten in einem Glanze, und selbst die Personen ihrer [Nataliens] Mutter und ihres alten Freundes waren verklärter.“ 23 HKG 4/3, 63. 22

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nen Bestimmung zeigt sich demnach „die Freiheit der Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von ihm fern halten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und dann trauern kann, daß sie sich von ihm abgewendet hat, oder die endlich in das Paradies eingeht, und sich glücklich fühlt, daß sie eingegangen ist.“24 Dieser Optimismus ist nun gerade beim väterlichen Gastfreund, dem Freiherrn von Risach, nicht selbstverständlich, dessen spät, nachträglich, im Roman mitgeteilte Lebensgeschichte von Brüchen und Entsagungen, Diskontinuität und Resignation, gekennzeichnet ist. So verhinderten etwa die Umstände, dass er seinen künstlerischen Anlagen nachgehen konnte. Eine alternativ ergriffene politische Karriere beendete er selbst (wie sollte sich auch jemand im politischen System behaupten können, der seine Aufmerksamkeit nicht auf einen vorgegebenen Zweck richtet, sondern auf das, „was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind“).25 Die markanteste Entsagung betrifft das junge Mädchen, dem der verwaiste und notdürftig als Hauslehrer untergekommene Risach einst seine Liebe gestanden hatte (während der Bruder des Mädchens bezeichnenderweise früh- und unreife Äpfel sammelt). Dass dieser „Sündenfall“ und seine Folgen verwunden werden können, liegt an der für Stifters Roman titelgebenden Wiederholung, dem Nachsommer, den die Entsagenden nach Irrungen und Wirrungen am Ende ihres Lebens als andere Art von Glück erfahren: Die „gewitterartige[]“ Liebe als Passion hat sich in eine Liebe verwandelt, die „als stille durchaus aufrichtige süsse Freundschaft auftritt, die über alles Lob und über allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das Spiegelklarste ist, was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben.“26 Diese sublimierte Wiederholung wird mit dem Ritual der gemeinschaftlichen Betrachtung der Rosenblüte gefeiert. So führen beide Handlungsstränge in Stifters Roman, die kontinuierliche Entwicklung des jungen Mannes wie die diskontinuierliche des Gastfreundes, zum Optimismus im Hinblick auf Möglichkeit und Bedeutung der Wiederholung. Von diesem Optimismus sind auch die kulturellen Aktivitäten des Rosenhauses getragen. In einer als Übergangszeit erfahrenen Gegenwart, die revolutionäre Vereinseitigungen der Vergangenheit überwinden könnte, ohne jedoch den sich abzeichnenden Einfluss der Naturwissenschaften schon abschätzen zu können, soll durch ein umfassendes Wiederherstellungsprogramm die Möglichkeit der Vervollkommnung gewahrt werden. Das Sinnbild dieser Wiederherstellung, die sich von der Neuschöpfung wie von der Nachahmung unterscheidet und der es um die Weiter-

24

HKG 4/3, 60. HKG 4/3, 145. 26 HKG 4/3, 223. Vgl. das vom jungen Mann unabsichtlich mitgehörte Gespräch zwischen Mathilde und dem Freiherrn von Risach, HKG 4/2, 121: „‚Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück abgeblüht.‘ [/] Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welche sagte: ‚Es ist nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.‘“ 25

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führung von Anfängen (das „Wiederbeleben“) geht, ist die Arbeit am Kerberger Altar.27 Die Darstellung der Wiederholung als Wiederherstellung geschieht bei Stifter im Unterschied zu Kierkegaard mittels einer Poetik der Ruhe und Eigentlichkeit. Die eigentliche Rede wird ausdrücklich gegenüber dem Gebrauch von Redensarten oder gesellschaftlichen Floskeln gewürdigt,28 ebenso die Zurückhaltung gegenüber der „Sprechlust“.29 Mit Vorsicht wird insbesondere die „wissenschaftliche Necksprache“30 und die Redeweise der zeitgenössischen Philosophie behandelt, an die der Maßstab der gewöhnlichen Sprache und des gemeinen Menschenverstands angelegt wird.31 Die fatalen Folgen unzeitiger und uneigentlicher Rede werden insbesondere durch die tragisch endende erste Liebe von Risach und Mathilde mit ihrer erzwungenen Geheimniskrämerei und dem vermeintlichen Verrat illustriert; die zur durchsichtigen Erzählkonstruktion beitragende Einstimmigkeit zeigt sich auch daran, dass der Erzähler noch seine Korrespondenz referiert und nicht eine andere Stimme zu Wort kommen lässt.

III Fazit zur Wiederholung bei Kierkegaard und Stifter Damit dürfte deutlich geworden sein, dass Kierkegaards Wiederholung und Stifters Nachsommer im Hinblick auf das Problem der Wiederholung und dessen Darstellung genau gegensätzliche Positionen repräsentieren. Während bei Kierkegaard aus ironisch-pessimistischer Perspektive (Constantin Constantius) lebensgeschichtliche Brüche und deren mögliche Heilung (der junge Mann) problematisiert werden, ist eine solche Heilung aus der von Stifter dargestellten heiter-optimistischen Perspektive nicht nötig, da sie entweder gar nicht erst auftreten (der junge Mensch) oder aber verheilt scheinen (der Gastfreund). Bei Kierkegaard verdeutlicht das Unglück der ausbleibenden Wiederholung die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, die mit ästhetischen Mitteln vergegenwärtigt, aber nicht aufgehoben werden kann und die so auf eine religiöse Erlösung verweist. Bei Stifter führt die durch wissenschaftliche und künstlerische Bildung beförderte Haltung der Geduld und Gleichgültigkeit zur Mitwirkung an einem umfassenden kulturellen Wiederherstellungsprogramm, das auf eine allmähliche Vervollkommnung von Mensch und Welt abzielt. Mit Bezug auf das erwartete Gewitter lässt sich das so zusammenfassen: Bei Kierkegaard zählt das erlösende Gewitter, Stifter akzentuiert (mit dem die Naturbeobachtung fördernden ausbleibenden Gewitter, mit den ästhetisches Erleben initiierenden Gewitterblitzen, selbst mit der Metapher von gewitterartiger Passion und spiegelklarer

27

HKG 4/1, 283–286; vgl. HKG 4/1, 110–112. Vgl. zum Zusammenhang von Kunst und Religion HKG 4/2, 143–146; zur Bildung des Schönen HKG 4/3, 57–69. 28 HKG 4/1, 175 bzw. HKG 4/1, 188 f. 29 HKG 4/3, 232. 30 HKG 4/1, 219. 31 HKG 4/2, 240.

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Liebe) das Warten, oder mit den Worten des Gastfreundes aus dem Rosenhaus, „und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung Vertrauen Warten“.32

IV Wiederholung im Hinblick auf Literatur und Religion Dieser im Hinblick auf die Wiederholung entwickelte Vergleich von Kierkegaard und Stifter lässt sich zunächst in struktureller Hinsicht auf das Verhältnis von Literatur und Religion beziehen, insofern das Prinzip der Wiederholung und insbesondere die Unterscheidung von entfremdender und erneuernder Wiederholung in vielfältiger Hinsicht Literatur und Religion betrifft. Die Wiederholung ist selbstverständlich ein in grammatischer, semantischer und pragmatischer Hinsicht grundlegendes Verfahren der Literatur, das als solches auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat.33 Dass Überlieferung auf Wiederholung basiert, versteht sich von selbst, in welcher Weise das für die religiöse Überlieferung und insbesondere die religiöse Rede gilt, hat in jüngerer Zeit zum Beispiel Bruno Latour in seinem Buch Jubilieren problematisiert,34 das als ein katholisches Pendant zu Kierkegaards Wiederholungsschrift bezeichnet werden könnte. Um ihre verwandelnde Wirkung entfalten zu können, bedarf die religiöse Rede demnach einer Wiederholung, die sich von der vermeintlich treuen Wiedergabe von Inhalten und Formen freimacht und eine aktualisierende Übersetzung der Botschaft wagt. Die Verwirrung der Gegenwart geht darauf zurück, dass zum einen die Aufgabe der erneuernden Wiederholung, der Wiedergewinnung von Performanz verkannt und mit der Wiedergabe bestimmter Semantiken und Grammatiken verwechselt wird und dass zum anderen die herkömmlichen religiösen Institutionen als selbstverständlicher Bezugsrahmen religiöser Kommunikation unverbindlich geworden sind. Die verwandelnde Wirkung religiöser Rede lässt sich ohnehin nicht durch direkten Zugriff auf Traditionsbestände erzeugen, sondern nur von einer Vergegenwärtigung erhoffen, die, wie stark oder schwach die Anbindung an die Tradition auch ist, immer ein Wagnis bleibt. Die Herausforderung besteht genauer darin, für die Wiederholung verwandelnder religiöser Rede mit Fiktionen, einschließlich literarischer Fiktionen, zu experimentieren, ohne dem Verdacht der Fiktionalität religiöser Wahrheit zu erliegen, vielmehr im Sinn zu behalten, „daß die Religion um der Wahrheit willen tatsächlich lügen oder zumindest, falls dieses Wort schockiert, zu gelehrten, nein, zu frommen, nein, zu vernünftigen Elaboraten greifen muß.“35 Kierkegaards Schrift und Latours Essay lassen sich als mehr oder weniger elaborierte literarische Präsentationen des

32

HKG 4/2, 146. Vgl. z. B. Károly Csúri/Joachim Jacob (Hg.): Prinzip ‚Wiederholung‘. Zur Ästhetik von Systemund Sinnbildung in Literatur, Kunst und Kultur aus interdisziplinärer Sicht. Bielefeld 2015; Rüdiger Görner: Ästhetik der Wiederholung. Versuch über ein literarisches Formprinzip. Göttingen 2015. 34 Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. Aus dem Französischen von Achim Russer. Berlin 2011 (frz. 2002). 35 Ebd., 102. 33

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Problems religiöser Wiederholung verstehen – wobei eine überzeugende Problematisierung nicht mit einer Problemlösung zu verwechseln ist. Der angedeutete Vergleich von Kierkegaard und Stifter kann über die prinzipielle Problematisierung der Wiederholung hinaus durch die verschiedenen Wiederholungskonzepte für das Verhältnis von Literatur und Religion aufschlussreich sein. Das gilt für das explizit in ästhetischer und religiöser Hinsicht relevante Wiederholungskonzept Kierkegaards, doch auch und gerade für Stifters Wiederholungskonzept, wobei Stifters Ästhetik der Wiederholung zwar Gegenstand intensiver literaturwissenschaftlicher Forschung ist,36 nicht aber ein analoges religiöses Wiederholungskonzept. Stifters Konzept der Wiederholung als Wiederherstellung37 und Vervollkommnung lässt sich nämlich als literarische Analogie zur theologischen Transfiguration (Verklärung oder Verwandlung in die Herrlichkeit, deren Inbegriff die Verklärung Jesu auf dem Berge ist, Mk 9,2–13 et pass.) verstehen, die als religiöse Leitidee im Einflussbereich der Westkirchen aus dem kulturellen Bewusstsein verdrängt oder in heterodoxe Bereiche abgedrängt ist. In der zeitgenössischen Theologie wurde ein solches Konzept zum Beispiel bei Franz von Baader ausgeführt, der die auf Sündenfall und Erlösung fokussierte Heilsgeschichte dadurch modifiziert, dass die Menschwerdung Gottes auch unabhängig vom Sündenfall zur Verklärung des Kosmos geschehen würde, zu welcher der Mensch mit berufen ist.38 Dass die Vermittlung religiöser Überlieferung durch ein (autonomes) Kunstwerk nicht direkt erfolgt, bedarf eigentlich keiner Erwähnung. Vor einem verklärungstheologischen Übergriff auf Stifters Nachsommer würde zudem die Beobachtung warnen, dass die literarische Weltverklärung mit einem derartigen technischen Aufwand verbunden ist, dass die Grenzen zwischen Paradies und Zwangsanstalt verschwimmen. Es geht 36

Vgl. z. B. Michael Titzmann: Wiederholung/Variation/Transformation. In: Christian Begemann/Davide Giuriato (Hg.): Stifter-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, 290–294; Michael Wild: Wiederholung und Variation im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 2001, 9–20, 80– 104. 37 Clemens Heselhaus: Wiederherstellung. Restauratio – Restitutio – Regeneratio. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), 54–81, hier 54–60; zusammenfassend 73: „Diese drei Quellen: die Entwertung des Zeit- und Epochenbewußtseins, das Hinausgewiesensein auf die christliche Heilsverwirklichung jenseits dieser entwerteten Zeit und die Anschauung vom Leben und von der Geschichte als eines Kreislaufes, worin ein christlich-mystisches Gnadenmoment eingesenkt ist, entsprechen genau den drei Formen der Wiederherstellung, die ich bei Stifter zu erkennen glaube, der Restauratio als Aufholung des Zeitverfalls, der Restitutio als Wiedererhöhung der gefallenen Natur, der Regeneratio als Geheimnis des steten Neubeginns.“ 38 Vgl. z. B. Franz Baader: Sätze aus der Bildungs- oder Begründungslehre des Lebens. Berlin 1820, 26 (Satz 41): „Nicht nur der Mensch ist folglich schon in seinem Erdenleben des theilweisen Erhobenwerden in die ihm höhere (göttliche) Natur oder Region fähig, und ihrer bedürftig, nicht nur sind es durch ihn andre, sich mit ihm in Rapport setzende, Menschen; sondern selbst die Naturen unter ihm sind einer ähnlichen ihrer Urnatur entsprechenden Verklärung durch ihn fähig. Und wenn diese Zeit schon nur der Winter der Ewigkeit ist, so vermag doch der Mensch gleich einem verständigen Gärtner auch mitten in diesem eisigen Winter, wenigst einzelne, wenn auch nur flüchtige und schnell sich wieder schließende Blüthen der Ewigkeit hervorzurufen, jenen Paradieszustand der Natur hiemit, wenn auch nur unvollkommen, außer sich anticipirend, den er bereits in sich bleibender anticipirte.“

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auch nicht um die literarische Mitteilung religiöser Motive, vielmehr können durch Kunstwerke spezifische – orthodoxe wie heterodoxe sowie konfessionell geprägte – Grundhaltungen, Einstellungs- und Handlungsmuster, vermittelt werden und wirksam sein, auch und gerade dann, wenn diese nicht mehr als religiös identifiziert werden.39 Dass Stifters Nachsommer als literarisches Werk die religiös präfigurierte Idee der Verklärung artikuliert, könnte vielleicht die Faszination erklären, die diese auf allmähliche Verwandlung und Vervollkommnung und nicht auf Fall und Erlösung gründende Vater-und-Sohn-Geschichte auf Nietzsche ausgeübt hat.40 Die kulturelle Verdrängung des religiösen Verklärungsmotivs ließe sich in diesem Fall daran erkennen, dass Nietzsches Affinität zu Stifters Ästhetik für Leopold Ziegler und Ernst Bertram noch ins Zentrum seines Werkes führt,41 während sie für Gottfried Benn schlicht unverständlich ist. Im zunehmenden Interesse an Stifter verrät sich für Benn vielmehr eine idealistische Sentimentalität, die durch die Vermarktung solcher Literatur zum Zwecke der Erbauung kultiviert wird. Als Bibel dieser Kunstreligion gilt Goethes Novelle, doch auch Stifter gehört zu den kanonischen Autoren.42

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Worauf Wolfgang Braungart wiederholt aufmerksam gemacht hat, so z. B. in seinem Aufsatz: Der Maler ist ein Schreiber. Zur Theo-Poetik von Rilkes ‚Stunden-Buch‘. In: Ders.: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. Paderborn 2016, 263–296, hier 293. 40 Vgl. v. a. Nietzsches späte Notiz: „Was Goethe angeht: so war der erste Eindruck, ein sehr früher Eindruck, vollkommen entscheidend: die Löwen-Novelle, seltsamer Weise das Erste, was ich von ihm kennen lernte, gab mir ein für alle Mal meinen Begriff, meinen Geschmack ‚Goethe‘. Eine verklärt-reine Herbstlichkeit im Genießen und im Reifwerdenlassen, – im Warten, eine OktoberSonne bis ins Geistigste hinauf; etwas Goldenes und Versüßendes, etwas Mildes, nicht Marmor – das nenne ich Goethisch. Ich habe später, um dieses Begriffs ‚Goethe‘ halber, den ‚Nachsommer‘ Adalbert Stifters mit tiefer Gewogenheit in mich aufgenommen: im Grunde das einzige deutsche Buch nach Goethe, das für mich Zauber hat.“ Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Neuausgabe. München 1999, NL 1888, 24[10], KSA 13, 634 f., hier 634. 41 Leopold Ziegler: Volk, Staat und Persönlichkeit. Berlin 1917, 200 f.; Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918, 238–248. 42 Mit offensichtlichem Vergnügen kritisiert Benn diese Kunstreligion parodierend und profanierend in seinem Aphorismus „Eine Kammfirma“ (1943), der als Reaktion auf die zitierte Notiz Nietzsches formuliert scheint: „Hofmannsthal kämmt sich mit Heimann über einen Kamm, wenn er ihn beifällig zitiert: ‚Ein Mann, der mit 35 Jahren stirbt, ist auf jedem Punkt seines Lebens ein Mann, der mit 35 stirbt. Das ist das, was Goethe die Entelechie nannte.‘ Ja, diese Kammfirma heisst historisch-publizistisch ‚Novellen‘goethe – Inselverlag, Geschäftsführer Carossa, Zeichnungsberechtigte Otto Taube und R. A. Schröder, grössere Beiträge hatte Stifter geliefert, die Firma signiert: Alles ist Eins und Alles west im Allgemeinen, und wenn ich eine Tomate auf mein Schmalzbrot schneide – nein, diese ewige purpurne Fülle, dies letztlich Schöne – ! – und diese Tomate ist gar keine Tomate, sondern ein Granatenes, so ründet sich Alles und der grösste Gott fährt immer im Kreise. [. . . ] Man muss nur alles recht deuten, dann verwischen sich die den Deutschen so lästigen Konturen, man muss nur recht schauen, dann kommen die Zusammenhänge, nämlich die Zusammenhänge des bürgerlichen Alls, von dem man in der Tat sagen kann, es west Alles in Allem: die Tomate in der Schmalzstulle und der Registrator in der Klapperschlange. Aber ausserhalb der Kammfirma führt das zu nichts, höchstens zu gewissen Grundgefühlen in der Dämmerstunde.“ Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. IV: Szenen und Schriften. Hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M. 1990, 242 f.

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Die Skala der mit der Stifter-Lektüre assoziierten Verklärungen, von der Vermittlung eines (verdrängten) religiösen Vervollkommnungskonzepts bis zur Erzeugung diffuser Alleinheitsgefühle, verweist auf die zu einer Verhältnisbestimmung von Literatur und Religion erforderliche Berücksichtigung der historischen Situation. Eine (wissenschaftliche) Bestimmung benötigt Typologien, um Literatur und Religion voneinander trennen und zueinander in Beziehung setzen zu können, und dabei etwa zwischen autonomer Kunst und religiöser Kunst, Kunstreligion und Kitsch zu unterscheiden; zugleich muss solchen Typologien beständig entgegengearbeitet werden, sind Alternativen und Ambivalenzen zu fördern, um das aktuelle Verhältnis von Kunst und Religion nicht aufgrund wissenschaftsimmanenter Wiederholungszwänge zu verkennen. Die auf diese Weise mühsam erreichbare Flexibilität wissenschaftlicher Systematisierung mutet freilich schwerfällig an im Vergleich mit dem Gang einer Erzählung, in der die Versöhnung von Gegensätzen und vor allem das Aushalten von Unentschiedenheiten spielerisch leicht scheint. In seinem Buch Die Wiederholung (1986) beschreibt Peter Handke eine Reise, die der Protagonist Filip Kobal auf den Spuren seines verschollenen Bruders Gregor (eines Spezialisten für das Anpflanzen und Veredeln von Apfelbäumen) unternimmt. In Handkes Geschichte harmoniert die angesichts des Titels erwartbare Kierkegaard-Lektüre des Protagonisten (er liest mit Furcht und Zittern das Zwillingsbuch von Kierkegaards Wiederholungsschrift)43 mit der als „Gleichmaß“ bezeichneten Verzauberung der Welt. Und hoffnungsfroh blickt der Erzähler in die Zukunft, wenn er abschließend die Erzählung selbst anruft, in der Gewissheit der Wiederholung und Fortsetzung: Erzählung, nichts Weltlicheres als du, nichts Gerechteres, mein Allerheiligstes. [. . . ] Erzählung, wiederhole, das heißt, erneuere; immer neu hinausschiebend eine Entscheidung, welche nicht sein darf. [. . . ] Erzähler in deiner verwachsenen Feldhütte, du mit dem Ortssinn, magst ruhig verstummen, schweigen vielleicht durch die Jahrhunderte, horchend nach außen, dich versenkend nach innen, doch dann, König, Kind, sammle dich, richte dich auf, stütze dich auf die Ellenbogen, lächle im Kreis, hole tief Atem und heb wieder an mit deinem allen Widerstreit schlichtenden: „Und . . . “44

43

Peter Handke: Die Wiederholung. Frankfurt a.M. 1992, 155 f. Vgl. zur Verklärungsidee bei Handke Helmuth Kiesel: Verklärung und Heilszuversicht. Peter Handkes ‚Über die Dörfer‘. In: Jan-Heiner Tück/Andreas Bieringer (Hg.): „Verwandeln allein durch Erzählen“. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2014, 55–68. 44 Handke, Die Wiederholung (Anm. 43), 334 f.

Mehrdeutigkeit und Religion in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray Mark W. Roche

Bevor ich mich der Analyse von Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray (Das Bildnis des Dorian Gray) zuwende, die der zweite Teil meines Essays beinhaltet, möchte ich zunächst einige Überlegungen zu Religion und Literatur in Form von sechs Thesen vorstellen.

I Bis zum Beginn der Neuzeit wohnte fast allen literarischen Werken ein religiöses Element inne, in der Moderne ist dieses religiöse Element weniger präsent, und zwar aus mindestens zwei Gründen: (These 1) Der Verlust religiöser Impulse hat teilweise mit einem ontologischen Wandel zu tun. In der Moderne entsteht ein neuer Realitätsbegriff. In der griechischen Antike war Mimesis nicht nur eine Nachahmung der uns umgebenden Welt, sondern auch ein Versuch, die metaphysische Bedeutung der Wirklichkeit aufzudecken, höhere Formen zu erkennen, Figuren darzustellen, die überlebensgroß waren. Mit dem Verlust des klassischen Ideals und der Auflösung des Christentums wird eine weitreichende Ablehnung der Transzendenz wahrnehmbar. Die Vorstellung, dass es eine ideale Welt gebe, die wir in unserem sittlichen und religiösen Tun zu verstehen und nachzuahmen versuchen, geht verloren. Es bleibt nichts übrig als eine Vorstellung von Wirklichkeit als allein dessen, was der Fall ist. So weicht Wittgensteins „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ deutlich von Platons Sicht der Wirklichkeit als höherer Sphäre ab.1 Die Realität der Moderne ist keine Seinssphäre mehr, die in sich einen normativen Anspruch trägt, sondern sie ist bloße Faktizität, die Welt der Sinneswahrnehmungen. Die Moderne bleibt je1

Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus [1921]. Frankfurt a.M. 1979, 11.

M. W. Roche () Notre Dame, Indiana, USA E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_10

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doch nicht dort stehen. Es taucht die Sicht auf und wird vorherrschend, dass unsere existierende Welt hässlich, fragmentarisch und ohne übergreifende Bedeutung sei. „Ugliness was the one reality“, sagt Wildes Dorian Gray.2 Die zwei kennzeichnenden Momente dieses neuen Realismus sind pure Immanenz und zugleich Abscheu vor ihr. Dieser neue Realitätsbegriff ging einher mit einer Aufgabe der Theodizee. In der Moderne weichen die großen Metanarrative einer Beschränkung auf einzelne Momente der Dissonanz, die von jedem übergreifenden spekulativen Rahmen losgelöst sind. Statt zu fragen, wie wir auf der Grundlage einer bestimmten Gottesvorstellung die scheinbare Dissonanz der Wirklichkeit verstehen sollten, fragen wir, was für eine Gottesvorstellung sich aus der eindeutigen Dissonanz der Wirklichkeit ergeben könnte.3 (These 2) In der Moderne entsteht auch ein neuer Begriff von Ästhetik, der die Autonomie betont und so die Religion an den Rand drängt. Es entwickelt sich die Vorstellung, dass die Kunst keinen anderen Zwecken verpflichtet ist als z. B. der Verkörperung religiöser Bedeutung. Diese Vorstellung erreicht ihren Höhepunkt, als die Kunst von jeder Verbindung zu anderen Sphären getrennt wird, auch der ethisch-moralischen. In seinem Dialog „The Critic as Artist“ und im Namen seiner Figur Gilberto äußert sich Wilde dazu folgendermaßen: „[T]he sphere of Art and the sphere of Ethics are absolutely distinct and separate“.4 Die sich entwickelnde Autonomie der Ästhetik ist Teil eines breiteren Phänomens, das den Verlust eines organischen Weltbildes in der Moderne mit sich bringt. Innerhalb der platonischen und christlichen Paradigmen wurden alle Werte als letztlich miteinander verbunden angesehen, als ein großer Zusammenhang. In der Moderne ist dies nicht mehr der Fall. (These 3) Dennoch bleibt die Religion bestehen, wenn auch häufig nur in verdeckter Form. Eine unserer Aufgaben als Interpreten ist es, solche religiösen Momente aufzuspüren. Die Religion mag vorhanden sein, aber anderen Themen untergeordnet, wie in Fontanes Effi Briest; wir mögen das nur indirekte Vermächtnis des religiösen Erbes erkennen, wie in Brechts Bibelanspielungen; das religiöse Element mag mit anderen Elementen verwoben sein und daher nicht immer direkt zum Vorschein kommen, wie bei Kafka; die Autoren mögen mit ihrem Verhältnis zur Religion noch kämpfen, wie bei Benn; oder religiöse Kategorien mögen nur indirekt anwesend sein, wie in Hofmannsthals Der Schwierige. Darüber hinaus finden wir Religionskritik, wie z. B. der Verrat höherer religiöser Ideale in Lasker-Schülers 2

Oscar Wilde: The Complete Works of Oscar Wilde. 8 Bde. New York 2001–2018, hier 2001 f., 3.325 (Dorian Gray); Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, übers. von Ingrid Rein. Stuttgart 1992 (engl. 1891), 266: „Die Hässlichkeit war die einzige Realität“. 3 Vgl. Vittorio Hösle: God as Reason. Essays in Philosophical Theology. Notre Dame 2013, 51. 4 „Die Sphäre der Kunst und die Sphäre der Ethik sind völlig verschieden und getrennt“ (Wilde 2001 f., The Complete Works of Oscar Wilde [Anm. 2], 4.189), Übersetzungen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser.

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„Saisonbeginn“. In unserer vielfältigen Welt haben wir natürlich auch religiöse Werke, wie einige der Gedichte Ludwig Steinherrs. Literarische Werke sind dann besonders attraktiv, wenn sie zwei Elemente verkörpern, die zu Recht von Kritikern privilegiert behandelt werden und die sich auf These 2, den ontologischen Wandel, und These 3, die Betonung der Form, beziehen. (These 4) Literarische Werke, die die Religion aufnehmen, sind anziehend, wenn sie religiösen Kitsch vermeiden und in die Hässlichkeit der Realität eintauchen, wozu auch das Leiden und das Böse gehören. Trotz der Fülle an christlichem Kitsch erkennt die christliche Welt die Sünde als zentrales Element der conditio humana an. Während in der Antike die Tugenden mit den vier Kardinaltugenden und ihrer wechselseitigen Bezogenheit systematisiert worden waren, war Gleiches nicht für die Laster vollzogen worden. In der christlichen Welt hingegen wurde der Begriff der sieben Todsünden entwickelt. Die große christliche Kunst taucht tief in das Hässliche ein. Das Hässliche ist z. B. ein zutreffendes Attribut für Grünewalds Isenheimer Altar. Auch Caravaggio verflechtet das Transzendente und das Unwürdige, so z. B. in Form der ungewaschenen Füße und der schmutzigen Kopfbedeckung der Pilger in der Madonna di Loreto. Ein zeitgenössisches Beispiel für einen Maler, der im Christentum das Hässliche und das Schöne erkennt, wäre der Russe Maxim Kantor. (These 5) Literarische Texte, die die Religion einbeziehen, wirken anziehend, wenn sie nicht nur Chiffren für religiöse Aussagen sind, sondern reichhaltige Formelemente, einschließlich der Mehrdeutigkeit, enthalten. Gryphius vermittelte seine Weltanschauung durch meisterhafte Sonette. Eichendorff vermag es, religiöses Gedankengut über wirkungsvolle lyrische Sprache zum Ausdruck zu bringen, wie in seiner „Mondnacht“. Bei beiden Autoren sind die Ideen klar. Wohl noch anziehender für heutige Rezipienten sind Autoren, die nicht nur ihre Sinnesgehalte indirekt vermitteln, sondern deren Werke auch mehrdeutig sind. Ob Sophokles von tiefer Frömmigkeit geprägt oder ein religiöser Skeptiker ist oder beides, ist nicht leicht zu bestimmen. Lessing lässt in Nathan der Weise die zentrale religiöse Frage offen. Benns „Verlorenes Ich“ scheint die moderne Welt einer idyllischen christlichen Vergangenheit gegenüberzustellen, aber im Gedicht haben Mittelalter und Moderne versteckte Ähnlichkeiten. Roland Joffés Filmtragödie The Mission wirft genauso viele Fragen über religiöse Haltungen auf, wie sie beantwortet, und Woody Allens Crimes and Misdemeanors (Verbrechen und andere Kleinigkeiten) lässt offen, ob wir in einem religiösen Universum leben. Schließlich ist Jeff Walls inszenierte Fotografie The Flooded Grave (Das überflutete Grab) insofern zweideutig, als sie sowohl das Christentum als auch den Verlust des Christentums evoziert. (These 6) In der Wissenschaft war die Religion einige Zeit lang in den Hintergrund getreten, aber nun zeichnet sich nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch in anderen Fächern eine Trendwende ab.

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In der weithin anerkannten Säkularisierungstheorie wurde prophezeit, dass alle Kulturen post-religiös werden würden. 1992 beklagte Jaroslav Pelikan, dass amerikanische Forschungsuniversitäten das Studium der Religion größtenteils ausgeklammert hätten. Immer weniger Mittel wurden für die Erforschung des ungeheuren Einflusses der Religion auf die Kunst, Literatur und Philosophie bereitgestellt. Die vertiefte wissenschaftliche Kenntnis religiöser Traditionen, die von wesentlicher Bedeutung für das Verstehen eines Großteils früherer Kulturen waren, wurde zu einem knappen Gut. In der Wissenschaftsgemeinschaft bestand eine weitverbreitete Indifferenz gegenüber diesen Traditionen. Aber nun ist eine Wende eingetreten. 2005 konnte der bekannte Anglist Stanley Fish berichten: „When Jacques Derrida died I was called by a reporter who wanted to know what would succeed high theory and the triumvirate of race, gender, and class as the center of intellectual energy in the academy. I answered like a shot: religion.“5 Vier Jahre später bemerkte die American Historical Association ein weitverbreitetes Interesse an der Religion, vor allem bei Nachwuchswissenschaftlern. Ähnlich erging es den Sozialwissenschaften. Im Februar 2010 stellte eine Studie zu Mustern in der Religionssoziologie fest: „a steady increase of research that portrays religion as an independent variable having causal impact, accompanied by a steady decrease of research portraying religion as a dependent variable caused by something else“.6 Oft hat sich das erneute Interesse an der Religion auf die ferne Vergangenheit, insbesondere auf die Antike und das Mittelalter, wo es unmöglich ist, die Religion auszuklammern, konzentriert. Allerdings sollten die intellektuellen und kulturellen Implikationen der Religion in späteren Epochen noch genauer untersucht werden. In den Bemühungen um einen erneuten Einbezug der Religion muss nicht nur der Versuchung einer immer größeren Spezialisierung der Forschung widerstanden, sondern auch eine unter Wissenschaftlern weitverbreitete mangelnde Sensibilität gegenüber der Religion überwunden werden. Um zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen, leitete ich von 2010 bis 2016 ein mit $ 657.000 von der Andrew W. Mellon-Stiftung gefördertes Projekt. Ziel war es, die Lage in fünf Fächern mit Bezug auf die Religion einzuschätzen und Desiderata für die Zukunft aufzuzeigen. Wir stellten Arbeitsgruppen in den Fächern Geschichte, Politik, Literatur, Musik und Soziologie mit mehr als 60 Hochschullehrern und Doktoranden aus verschiedenen Ländern auf. Die Arbeitsgruppe Literatur, die von meiner Kollegin aus der Anglistik-Abteilung Susannah Monta geleitet wurde, veröffentlichte eine Reihe von Essays in Religion 5 Stanley Fish: One University Under God. In: Chronicle of Higher Education, 7 January 2005 („Als Jacques Derrida starb, rief mich ein Reporter an, der wissen wollte, was die großen Theorien und das Triumvirat von Rasse, Gender und Klasse als intellektuelles Kraftzentrum der Universität ablösen würde. Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: die Religion.“) 6 Robert B. Townsend: A New Found Religion? The Field Surges among AHA Members. In: Perspectives on History, December 2009 („eine stetige Zunahme an Forschungsarbeiten, die Religion als unabhängige Variable darstellen, die einen kausalen Einfluss hat, und eine stetige Abnahme an Forschungsarbeiten, die Religion als abhängige Variable beschreiben, die von etwas anderem verursacht wird“).

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and Literature. Trotz der Vielstimmigkeit dieser Essays war ein immer wiederkehrendes Thema, inwieweit die Forschung der Religion zu einer Verdichtung der Literaturwissenschaft beitragen kann, während die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen Literaturwissenschaftler dazu auffordert, sich Fragen von größerer Tragweite zu widmen.

II Meine eigene Auseinandersetzung mit Religion und Literatur hat sich schwerpunktmäßig mit Werken befasst, in denen die Religion im Brennpunkt der Darstellung steht. Angesichts der Komplexität der heutigen Lage wird meines Erachtens die Zahl der Forschungsarbeiten zunehmen, die sich mit der Rolle der Religion in Werken befassen, wo diese zunächst sekundär erscheinen mag. Ein Beispiel dafür ist Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray, das Elemente der soeben erläuterten ersten fünf Thesen enthält. Wilde präsentiert uns eine oberflächlich schöne Figur, die in moralische Hässlichkeit abtaucht. In jungem Alter bewundert der Titelheld ein Gemälde von sich. Unter dem Einfluss des zynischen Lord Henry, der den Verlust der Schönheit bis hin zu einem „dreadful“ (furchtbaren) Zustand beklagt, in dem man „old and wrinkled and ugly“ (alt und faltig und hässlich) werde,7 wünscht sich Dorian, dass er auf immer ein so jugendliches Aussehen wahren könnte wie in dem Porträt. In einer phantastischen, fast faustischen Transformation wird Dorians Wunsch Realität. Als er seine Seele fahren lässt, gewalttätig wird und schließlich einen Mord begeht, offenbart das auf dem Dachboden verstaute Gemälde sein inneres Selbst. Unfähig, mit dem hässlichen Bild und der von ihm ausgehenden Erinnerung an seine Sünden zu leben, sticht Dorian ganz am Ende des Romans auf dieses ein. Allerdings führt die Zerstörung seiner Seele im Gemälde dann zu seinem eigenen Tod. Das Gemälde wird plötzlich in seiner ursprünglichen Schönheit wiederhergestellt, während Dorian als physisch alter und hässlicher Mann zugrunde geht.

III Vieles spricht dafür, dass das Werk amoralisch ist, ein ästhetisches Konstrukt, das in keiner Beziehung zu Moral oder Religion steht. In seinem Vorwort argumentiert Wilde, dass die Kunst rein gar nichts mit der Moral zu tun habe: „There is no such thing as a moral or an immoral book. Books are well written, or badly written. That is all“.8 Die gleiche Ansicht vertritt der schlagfertige und zynische Lord Henry, der viel mit Wilde gemein hat. Indem er den Tod von Sibyl Vane als Kunst auffasst, 7

Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.186. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.167. „So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 5).

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bietet Lord Henry dem Leser ein Modell dafür an, wie man die Realität mit einem ästhetischen statt einem moralischen Kompass vermessen kann. Lord Henry macht sich Dorians Leben als Kunst zu eigen, womit er indirekt hervorhebt, dass wir sein Leben ästhetisch und nicht moralisch auffassen sollen.9 Obwohl Lord Henry unfähig ist, Dorians Handlungen zu durchschauen und zu werten,10 stellen das Wahre und das Gute keine Kategorien für Lord Henry dar. Ihn interessiert nicht der Wahrheitsgehalt oder die Widerspruchsfreiheit seiner Aphorismen, sondern deren Cleverness. Er ist unzuverlässig nach dem Maßstab der Wahrhaftigkeit, aber nichts stellt seine Zuverlässigkeit in Hinblick auf die ästhetische Form infrage, und nur Letztere zählt. Bezeichnenderweise überlebt am Ende der amoralische Lord Henry, während die zwei Figuren, die Moral und Unmoral darstellen, Basil und Dorian Gray, sterben. Was bleibt ist der rein ästhetische Modus, wie das Gemälde selbst. Der Roman macht sich über jede Vermischung des Ästhetischen und des Moralischen lustig, auch über das Konzept der poetischen Gerechtigkeit. „In the common world of fact the wicked were not punished, nor the good rewarded“.11 Die Frage der Theodizee ist für ein literarisches Werk irrelevant. Im Gegensatz zu Basils Meinung offenbart nicht Gott,12 sondern die Kunst die Seele, und die einzig relevante Frage für unsere Bewertung von Dorian ist, ob die Entwicklungsgeschichte seiner Seele den Stoff für eine faszinierende Geschichte liefert, eine schöne Handlung. Im Vorwort weist Wilde darauf hin: „Vice and virtue are to the artist materials for an art“.13 Moralische Themen tauchen auf, aber nur als Ressourcen für eine gute Story. Dorian ahnt dies selbst: „There were moments when he looked on evil simply as a mode through which he could realize his conception of the beautiful“.14 Im Großteil der Handlung entzieht sich Dorian dem Alterungsprozess durch Magie, was ihn scheinbar mit Faust verbindet. Allerdings bezieht Wildes Roman den Teufel nicht ein – und zwar aus gutem Grund. So wie Lord Henry eine vage Ähnlichkeit mit Mephisto hat, so wie Sibyl entfernt an Gretchen denken lässt und James Vane an Valentin, so ist Lord Henrys Gegenpart Basil, der als Schöpfer in bescheidener Weise an Gott erinnert. Aber bei jeder derartigen Analogie gilt, dass Gott mit dem Tod Basils ebenfalls tot ist. Der Roman ist ein ästhetisches, nicht ein moralisches oder religiöses Werk. Jegliche moralische Interpretation – „ugly meanings in beautiful things“ (hässliche Bedeutungen in schönen Dingen) zu sehen – entsteht durch den Beobachter, nicht durch die Geschichte selbst, und eine jede solche Bewertung ist „corrupt without being charming“ (korrupt ohne charmant zu sein), d. h. sie ist schlechter 9

Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.352. Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.214, 3.349. 11 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.339. „In der alltäglichen Welt der Tatsachen wurden weder die Bösen bestraft noch die Guten belohnt“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 286). 12 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.295. 13 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.167. „Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 6). 14 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.290. „Es gab Augenblicke, in denen er das Böse lediglich als Mittel betrachtete, durch das er seine Vorstellung von Schönheit verwirklichen konnte“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 211). 10

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Stil.15 Dorian lässt es zu, dass das gelbe Buch ihn beeinflusst, und dies ist ein Fehler, eine Verwechslung von Kunst und Moral, die zu seinem Verderben beiträgt. Die Schuld liegt bei Dorian als Leser, nicht bei dem Buch, das Lord Henry eben nicht gleichermaßen beeinflusst hat. Jegliche Kritik von Dorian würde sich daher darauf beschränken, dass er sich durch seine Lektüre beeinflussen lässt, denn es ist diese Lektüre, die ihn in das Reich des Hässlichen und des Vulgären bringt: „Dorian Gray had been poisoned by a book“.16 So etwas kann passieren, wenn Literatur zu einem Leitfaden für das Leben wird. Genauso verknüpft Basil Kunst und Moral auf zu enge Weise. Er glaubt an die Symmetrie der physischen und moralischen Hässlichkeit: „Sin is a thing that writes itself across a man’s face. It cannot be concealed“.17 Basils Wahrnehmung der Wirklichkeit ist aber schlicht falsch; er wird zu einer unzuverlässigen Leitfigur. Diese amoralische Deutung wird durch die Schlussszene gestützt: Als Dorian versucht, das Porträt zu zerstören, um sein Bewusstsein auszulöschen, bringt er sich ums Leben und stellt gleichzeitig die Kunst (das Gemälde) wieder her, die von der Moral unbeeinflusst bleibt. Der Mann in seiner Abscheulichkeit bringt sich um, während das Bild, „in all the wonder of his exquisite youth and beauty“ (in all dem Wunder seiner herrlichen Jugend und Schönheit), in den Originalzustand zurückgeführt wird.18 Im vorhergehenden Teil des Romans bestand eine zu enge Verbindung (in Form des Gemäldes) zwischen Moral und Kunst, aber am Schluss wird diese Trennung wiederhergestellt. Indem Dorian das Bild zerstört, löscht er das moralische und religiöse Gewissen aus und opfert sich, so dass das schöne Bild wieder dasteht. Auf die gleiche Art und Weise wie Sibyls Ableben ist dies ein schöner Tod: faszinierend, fesselnd, kunstvoll. Er ist ein ästhetisches Schauspiel, nicht eine moralische Lektion. Das Bild überlebt, und Dorian wird in der Kunst verewigt. Als Basil gegenüber Lord Henry gesteht, dass er Dorian vergöttert, wird Lord Henrys Interesse geweckt, was schließlich zu Dorians Verderben führt. Sibyls Liebesgeständnis gegenüber Dorian führt zu ihrem Versagen als Künstlerin, ihrer Ablehnung und ihrem Tod. Später vertraut Dorian Basil an (weniger, um seine Seele zu entlasten, sondern eher aus Stolz und Boshaftigkeit, aus Neugier auf die Reaktion des Malers, fasziniert von dem Gedanken, sein Leiden an einen anderen weiterzugeben): „He felt a terrible joy at the thought that some one [sic] else was to share his secret, and that the man who had painted the portrait that was the origin of all his shame was to be burdened for the rest of his life with the hideous memory of what he had done“.19 Dorians Geständnis führt zum Mord. Im ganzen Roman ist das Ablegen von Geständnissen bzw. Beichten keine privilegierte religiöse In15

Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.167. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.290. „Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 211). 17 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.293. „Sünde ist etwas, was im Gesicht eines Menschen Spuren hinterläßt. Sie läßt sich nicht verbergen“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 215). 18 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.357. 19 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.295. „Er empfand ein schreckliches Vergnügen bei dem Gedanken, daß jemand sein Geheimnis mit ihm teilen sollte und daß dem Mann, der das Porträt, diesen Quell all seiner Schmach, gemalt hatte, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen 16

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stitution, sondern eine hervorragende Triebfeder der Handlung, die düstere Folgen zeitigt. Die verschiedenen anderen Bezugnahmen des Werks auf die Religion sind bloße ästhetische Gesten, die den moralischen Leser in die Irre führen sollen. In Wirklichkeit ist Dorians Interesse an Religion eher ästhetisch als religiös. Selbst die scheinbar auf das Jenseits gerichtete Transformation am Ende des Romans stellt nichts anderes dar als einen für den Schauerroman durchaus üblichen ästhetischen Kunstgriff, um die Handlung einer Lösung zuzuführen, die das schöne Bild wiederherstellt.

IV Allerdings können wir den Roman gegen die Intention des Autors lesen (oder zumindest gegen die im Vorwort geäußerte Intention) und behaupten, dass das Werk moralische Hässlichkeit im Grunde als etwas Abstoßendes darstellt. Mit anderen Worten lässt sich eine moralische Interpretation des Romans durchaus rechtfertigen. Selbstverliebtheit und der Verzicht auf jegliche Verbindung zu höheren Werten führen zu Selbstzerstörung und Selbstmord. Durch die Verquickung der zunehmenden Hässlichkeit des Porträts mit Dorians Seele wird angedeutet, dass Kunst und Moral in der Tat miteinander verbunden sind. Die Hässlichkeit des Gemäldes, das Dorian zunächst verzaubert und dann später anekelt, bringt die Fähigkeit der Kunst zum Vorschein, sichtbar zu machen, was ansonsten unsichtbar ist, im vorliegenden Fall Dorians Seele: „This portrait would be to him the most magical of mirrors. As it had revealed to him his own body, so it would reveal to him his own soul“.20 Im Gegensatz zu Lord Henrys Standpunkt, dass Kunst „has no influence“ (keinen Einfluss hat),21 wird Dorian durch das Gemälde gravierend beeinflusst. Darüber hinaus wird er durch das giftige Buch in die Irre geführt. Seine unmoralische Lektüre erinnert an andere Sünder in der literarischen Tradition wie z. B. Dantes Francesca.22 Auch das Verhältnis von Basil und Dorian stützt eine moralische Lesart. Dorian versucht, die scheinbare Ursache seines Elends auszumerzen, nämlich Basil. Das „uncontrollable feeling of hatred“ (unkontrollierbares Hassgefühl),23 das Dorian für Basil empfindet, der Dorian liebt und von seiner hässlichen Seele weiß, ist eine partielle Projektion, was durch die Tatsache unterstrichen wird, dass Dorian Basil und dem Porträt die Schuld für seine Missetaten gibt:24 Dorian „loathed the man who

Erinnerung an das, was er getan hatte, aufgebürdet würde“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 220). 20 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.258. „Dieses Bild würde für ihn ein wahrhaftiger Zauberspiegel sein. So, wie es ihm seinen Körper offenbart hatte, würde es ihm auch seine Seele offenbaren“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 153). 21 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.352. 22 Inferno 5.88–142. 23 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.299. 24 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.260, 3.301, 3.308, 3.355.

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was seated at the table, more than in his whole life he had loathed anything“.25 Dorian will die Person, die von seinen Schwächen weiß, beseitigen. Seinem Gewissen dagegen, mit dem er trotz äußerlichen Leugnens ringt, kann Dorian nicht entkommen. Er sehnt sich danach, vor sich selbst zu fliehen.26 Basil hat die Antwort auf Dorians Bedürfnisse: die Wahrheit über seine Seele. Wir lieben das, was uns besser machen kann, aber wir hassen es auch, weil es beschämend ist, wenn andere unsere Schwächen durchschauen, und weil eine Veränderung schwierig, ja qualvoll wäre und ein Teil von uns daher jeden, der uns zur Veränderung auffordert, am liebsten auslöschen würde. Eine Veränderung würde eine Bestrafung unseres gegenwärtigen Selbst bedeuten, denn nur das kann uns besser machen. Dorian spürt, auf eine fast platonische Weise, dass „purification“ (Läuterung) „in punishment“ (in der Strafe) besteht,27 aber er lehnt diesen Weg ab. Stattdessen tötet er Basil und flüchtet vor der Wahrheit seiner Seele. Dorians unbefriedigte Sehnsucht nach einer Symmetrie des inneren und äußeren Selbst erklärt, warum er nicht nur gegenüber Basil, sondern indirekt auch gegenüber Lord Henry Beichte ablegt.28 Allerdings kann Dorian die ersehnte Symmetrie auf keine substantielle oder dauerhafte Weise umsetzen, er spielt nur mit dem Gedanken daran. Lord Henry übersieht Dorians Beichtversuch völlig und missdeutet seinen Charakter, indem er auf Dorians indirektes Geständnis antwortet, dass dieser eines Mordes nicht fähig sei. Lord Henry und Dorian haben ihre jeweiligen Positionen getauscht: An Lord Henrys Beharren darauf, dass Dorian eines Mordes nicht fähig sei, zeigt sich, dass er hinsichtlich der menschlichen Seele hoffnungslos naiv ist. Während Lord Henry Dorian falsch einschätzt, deutet Dorian selbst die Beichte als Last: „Was he always to be burdened by his past? Was he really to confess?“29 Die Beichte ist eine Entlastung der Seele, eine Rückkehr zum Kollektiven, eine Überwindung dessen, was Dorian an einer Stelle des Romans the „pride of individualism that is half the fascination of sin“ nennt (den „Hochmut des Individualismus, der die halbe Faszination der Sünde ausmacht“).30 In der katholischen Kirche, von der Dorian sich teilweise aus ästhetischen Gründen,31 teilweise aus einer abartigen Faszination für die Beichte angezogen fühlt,32 soll auf die Beichte mit einem reuevollen Herz und einer frommen Geisteshaltung „Friede und Heiterkeit des Gewissens, verbunden mit starker Tröstung des Geistes“, folgen.33 Lord Henry sagt 25

Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.300. Dorian „verabscheute den Mann, der da am Tisch saß, mehr, als er jemals in seinem ganzen Leben irgendetwas verabscheut hatte“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 228). 26 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.292, 3.325, 3.341. 27 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.354. 28 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.348. 29 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.356. „Sollte seine Vergangenheit für immer als Bürde auf ihm lasten? Sollte er wirklich ein Geständnis ablegen?“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 318). 30 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.286. 31 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.280, 3.285–86. 32 Vgl. Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.280. 33 Katholische Kirche: Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina. München/Wien 2007, 1468.

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mehr, als er eigentlich vorhat, als er nach den passenden Worten zu Markus 8,36 sucht: „What does it profit a man if he gain the world and lose – how does the quotation run? – his own soul?“34 Dorian unternimmt einen halbherzigen Versuch, gut zu sein und sich selbst zu erlösen, aber am Ende gelingt ihm keine öffentliche Beichte. Er scheitert, da er unwillens ist, sein Leben für seine Sünden aufzugeben, und er sieht ein, dass seine bescheidenen Versuche unzulänglich sind; sie sind nur die Folge seiner Eitelkeit. Man findet hier die traditionellen Überschneidungen des Religiösen mit dem Moralischen vor. Basil erweckt Anspielungen eher auf Christus als auf Gott. Basil stirbt bei dem Versuch, Dorian bei der Heilssuche zu helfen. Seine Ermahnung „Pray, Dorian, pray“ (Bete, Dorian, bete)35 erinnert daran, wie Christus kurz vor seinem Tod seine Jünger im Garten Gethsemane auffordert, mit ihm zu beten. Das Zinnoberrot, mit dem Basil das Porträt unterzeichnete, ist ein Vorbote des Blutes, das Basil vergießt, als er nach Dorians Heil im alten Klassenzimmer sucht. Dass sowohl Basil als auch Dorian durch dasselbe Messer umkommen, lässt sich im Nachhinein so deuten, dass Dorian durch den Mord an Basil auch sein eigenes (höheres) Selbst zerstört.36 Dorian versucht das Bild nicht etwa deswegen zu vernichten, weil er erlöst werden will, sondern um vor dem Werk und damit vor seiner Seele zu flüchten. Das Gemälde ist die einzige Last, die ihn davon abhält, ein unmoralisches Leben zu führen. Das Bild zu zerstören heißt jedoch, sein Leben auszulöschen, was darauf hindeutet, dass man der moralischen Welt nicht entrinnen kann, dass sie unauslöschbar ist und nicht bloß ein menschliches Konstrukt. Im Gemälde wird das Moralische und Ästhetische miteinander verwoben, denn bei Dorians Suche nach einem schönen, aber unmoralischen Leben wird seine Seele hässlich, beschmutzt durch seine Gedanken und Taten. Die Sünde ist hässlich, also ist der unmoralische Ästhet per definitionem hässlich. Da das Bild ein integraler Bestandteil seiner selbst ist, ersticht er sich und begeht damit faktisch Selbstmord. Diese Tat ist nicht etwas von außen kommendes oder motiviertes, sondern Teil seiner Identität. Moralische Überlegungen können zeitweise versteckt werden, aber zu versuchen, sie vollständig auszuschließen, heißt, das Leben selbst zu zerstören. Die Kunst erweist sich als klüger als Dorian. Das Gemälde, dessen Hässlichkeit er nicht ertragen kann, behält seine Macht und wird schön, während er hässlich wird. Der Name Dorian spielt auf den dorischen Modus an, ja erfüllt ihn sogar, wie Platon ihn in seinem frühen Dialog Laches erläutert, nämlich als eine Harmonie von Wort und Tat.37 Natürlich ist Dorians Mangel an innerer Einheit teilweise ästhetisch zu sehen, als ein Charaktermangel, aber es ist auch ein Mangel an Einheit auf moralischer Ebene: Er ist nicht innerlich konsequent, sein Körper und seine Seele sind gespalten, er möchte ein anderer sein. Einheit ist sowohl eine moralische 34

Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.350. „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch – wie heißt es noch? – Schaden an seiner Seele?“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 306). 35 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.299. 36 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.357. 37 188d.

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als auch eine ästhetische Kategorie. Und ganz offensichtlich ist sie auch religiös, denn die Einheit von Körper und Seele wird sowohl durch Dorians Handlungen als auch durch eine höhere Macht bewirkt, die jenseits unseres Auffassungsvermögens liegt. Die magische Transformation, die ja keiner inneren Verwandlung Dorians entspricht, ist nicht nur ein ästhetischer Kunstgriff, sondern eine Geste, die auf einen höheren Sinn verweist, vielleicht die Objektivität und Macht des moralischen Gesetzes, vielleicht ein numinoses Reich. Wilde stellt immer wieder das Ästhetische und das Moralische gegenüber, aber die Religion weist Schnittmengen mit beiden Bereichen auf und erscheint so am Ende als eine überraschend privilegierte Sphäre. Wie wir in der ersten Interpretation sehen, stellt das Sich-zu-eigen-Machen des Amoralischen selbst eine moralische Position dar, und zwar eine Position, die die Gültigkeit moralischer Urteile negiert, auch wenn Wilde sich dadurch abzusichern versucht, dass er die Anwendung moralischen Urteilens auf die Kunst nicht strenggenommen als falsch, sondern eher als „corrupt“ (korrupt) und nicht „charming“ (reizvoll) bezeichnet.38 Diese Kritik der moralischen Position als nicht „charming“ verliert jedoch ihre Glaubwürdigkeit, wenn durch und durch pejorative Assoziationen des Wortes in Verbindung mit dem Attribut „Prince Charming“ entstehen, welches der Begriff ist, der James Vane mit der Person Dorian verbindet, die für den Tod seiner Schwester verantwortlich ist. Außerdem werden diesem Begriff durch eine der Frauen in der Opiumhöhle negative Konnotationen verliehen.39 Schließlich empfängt Dorian Basil in der Nacht, als er ihn umbringt, mit den Worten „I shall be charmed“; etwa: „ich werde entzückt sein“.40 Dorians Eitelkeit, Leere und Unmoral sind die Ursache für seinen Tod. Sie trennen ihn von der Liebe und führen zu seiner Selbstzerstörung. Dorian verursacht mittelbar oder unmittelbar den Tod anderer, nämlich den Sibyls, Basils, James Vanes und Alan Campbells. Während Lord Henry seine Vorstellungen nicht in die Tat umsetzt, ist Dorian konsequenter. Die Beziehung von Lord Henry und Dorian erinnert an jene zwischen Platons Gorgias und Kallikles. Dorian setzt die in Rede stehende Philosophie konsequenter um: Trotz seiner körperlichen Schönheit ist seine Hässlichkeit offenkundig.

V Beide Interpretationen lassen sich durch Belege aus dem Text stützen. Der Roman ist mehrdeutig, nicht schwarz oder weiß, sondern grau, gray. In diesem Werk ist der Weg der Paradoxe der Weg der Wahrheit: „[T]he way of paradoxes is the way of truth“.41 Als Leser können wir Belege für die zynische Perspektive eines Lord Henry und die moralische und religiöse Weltsicht, die Basil verkörpert, finden. Auch können wir erkennen, dass beide Künstlerfiguren sind und beide Anteile von Wil38

Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.167. Vgl. sogar Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.329. 40 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.291. 41 Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.202. 39

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de haben. „Diversity of opinion about a work of art shows that the work is new, complex, vital“.42 Wildes Roman ist ein großes Werk, in dessen Zentrum Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit stehen, zwei herausragende literarische Qualitäten, und diese Mehrdeutigkeit macht seine Verknüpfung von Ästhetik, Moral und Religion zu einem Faszinosum.43

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Wilde 2001 f., Dorian Gray (Anm. 2), 3.168. „Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigen, daß das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist“ (Wilde 1992, Dorian Gray [Anm. 2], 6). 43 Frühe Rezipienten haben Wildes Roman mit zeitbezogenen moralischen Kategorien heftig kritisiert. Heute sind produktions-ästhetische Herangehensweisen, einschließlich Queer Studies und Irischer Studien, vorherrschend. Einen Überblick zur neueren Forschung bietet Philip E. Smith II (Hg.): Approaches to Teaching the Works of Oscar Wilde. New York 2008. Weniger präsent in der Forschung sind Mehrdeutigkeit und Religion. Der bisher stärkste Fokus auf Mehrdeutigkeit ist bei Michael Patrick Gillespie: The Picture of Dorian Gray: „What The World Thinks Me.“ New York 1995, zu finden, der allerdings den zwei zentralen Schwerpunkten meiner Deutung, dem Schluss und dem Verhältnis von Vorwort und Roman, wenig Aufmerksamkeit schenkt.

Figurationen mimetischer Rivalität in der Literatur als Anstoß für die Theologie. Assoziationen im Anschluss an das Werk eines Literaturwissenschaftlers, eines Theologen und eines Schriftstellers Józef Niewiadomski „Lieber Herr, ich habe Ihr Buch ‚La violence et le sacré‘ über die Zeitschrift ‚Esprit‘ kennen gelernt. Ich habe es sofort gekauft und es nach der Lektüre bewundernswert gefunden. Ich bin freilich nicht in der Lage, ein kompetentes Urteil über alle Stellen abzugeben, aber das Ganze hat mich sehr beeindruckt und ich neige sehr dazu, Ihre Theorie zu akzeptieren“, schrieb im April 1974 der Schweizer Jesuit Raymund Schwager an René Girard.1 „Ich würde mich freuen, mit Ihnen in Kontakt zu bleiben. Die intellektuelle Produktion ist heute enorm; aber die Bücher, die etwas Wesentliches zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit beitragen, sind trotzdem rar. Ich zähle das Ihre zu diesen raren Werken. Ich hoffe also, dass Ihre These eines Tages Gegenstand einer großen intellektuellen, religiösen und politischen Debatte sein wird. Vielleicht ist der Boden noch nicht gut bereitet, aber ich werde meinerseits das Beste geben, um ihn mit meinen sehr beschränkten Mitteln ein wenig zu bearbeiten.“2

Mit diesen Zeilen, die ich aus den ersten zwei Briefen eines Theologen an einen Literaturwissenschaftler zitiert habe, beginnt eine 30-jährige intensive Auseinandersetzung im Bereich „Literatur und Religion“, die um die anthropologischen Grundund Grenzerfahrungen kreist und nach und nach auf ein fundamentales religiöses Thema fokussiert wird, nämlich auf die Thematik religiös verschleierter, religiös motivierter Gewalt und religiös motivierter Gewaltüberwindung. Der folgende Beitrag kann die Leser überraschen und dies aus mehreren Gründen. Zum einen behandelt er die Theorie eines Denkers, der ganz und gar nicht in die vertrauten akademischen Schemata passt.3 Der doppelt promovierte Historiker war Sprachlehrer, dann Literaturwissenschaftler an amerikanischen Top-Universitäten, legte aber mit seiner „Mimetischen Theorie“ ein Theoriekonzept zu Fragen der 1

Raymund Schwager: Briefwechsel mit René Girard. Gesammelte Schriften Bd. 6. Hg. von Nikolaus Wandinger/Karin Peter. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2014, 47. 2 Ebd., 53. 3 Vgl. die gerade erschienene Biographie: Cynthia L. Haven: Evolution of Desire. A Life of René Girard. East Lansing, Michigan 2018. J. Niewiadomski () Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_11

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Anthropologie, Ethnologie, Religions- und Sozialwissenschaft vor. In der englischsprachigen Welt gehört seine Theorie zum festen Kanon der Methoden des „Literary criticism“.4 Zum anderen stellt dieser Beitrag zum Thema „Religion und Literatur“ zwei – für die heutige akademische Welt – außergewöhnliche Biographien ins Zentrum. Beide Wissenschaftler, die aufeinander einen starken Einfluss ausübten und voneinander auch fasziniert waren, verhielten sich dem Thema einer lebendigen Religiosität gegenüber nicht neutral. Ihr Glaubensengagement stellte eine Motivationsquelle ihrer wissenschaftlichen Arbeit dar. Schlussendlich wird hier Bezug genommen auf einen Schriftsteller, dem die biblische Sprache eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration darstellt,5 dessen Romane aber – zumindest aus dem Blickwinkel der Mimetischen Theorie – gefährlich nahe an der Grenze einer religiösen Verklärung der Gewalt lavieren.

I Der Literaturwissenschaftler Der im Jahre 2015 in Stanford verstorbene Vater der „Mimetischen Theorie“ faszinierte und verstörte nicht nur die akademische Welt.6 Viele sahen in ihm ein Genie, andere einen Scharlatan.7 Man wird ihm vermutlich am ehesten gerecht, wenn man seine Theorie als eine Art heuristische Metatheorie begreift, als eine Theorie, die einer Intuition entspringt. Girard selber hat diese Intuition in einem der Gespräche, die er 1990 mit den Vertretern der Befreiungstheologie in Lateinamerika führte, folgendermaßen beschrieben. Meine Intuition betreffend mimetische Begierde, Opfer und alles, was damit zusammenhängt, ist in gewisser Weise die Eingabe eines Augenblicks, ein Überfall sozusagen, den ich Ende der fünfziger Jahre hatte und der sich Anfang der sechziger Jahre erhärtete. Wie 4

Vgl. Pierpaolo Antonello/Heather Webb (Hg.): Mimesis, Desire, and the Novel. René Girard and Literary Criticism. East Lansing, Michigan 2015. 5 Vgl. Michaela Koop-Marx/Georg Langenhorst (Hg.): Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „Christus-Trilogie“ bis „Sunrise. Das Buch Joseph“. Göttingen 2014. 6 Seit dem Symposion zum Thema „Literaturkritik und die Wissenschaft vom Menschen“, das Girard an der John Hopkins University in Baltimore im Oktober 1966 organisiert und zu dem er eine Reihe französischer Denker in die USA „gebracht“ hat (Roland Barthes, Lucien Goldmann, Jean Hyppolite, Jan Kott, Jacques Lacan, Georges Poulet, Tzvetan Todorov, Jean-Pierre Vernant, vor allem aber Jacques Derrida, der für diese Tagung den inzwischen zum Klassiker der Dekonstruktion avancierten Text „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“ erarbeitet hat), war Girard immer wieder bevorzugtes Gesprächsthema in den Medien und intellektuellen Kreisen Frankreichs. 7 Der an der École Politechnique in Paris und in Stanford dozierende Philosoph Jean-Pierre Dupuy bekennt im Le Nouvel Observateur no. 1554 vom 18.8.1994 auf Seite 60 freimütig: „Girard ist ein Phänomen. Viele in der ganzen Welt halten ihn für einen der größten zeitgenössischen Denker, der einem Freud oder Marx gleichkommt, und sie sprechen ihm darüber hinaus Wahrheit zu. Im engen Kreis der Humanwissenschaftler hingegen stellt man ihn nicht selten als Schwindler dar. Wahrscheinlich ist noch kein Intellektueller dermaßen von seinesgleichen verfemt worden. Ich kenne so manche Professoren, die trotz dieser Verfemung bei Girard Anregungen holen, es aber gleichzeitig für klüger halten, dies zu verbergen.“ Zit. nach: René Girard: Wenn all das beginnt . . . Dialog mit Michel Treguer. Thaur u. a. 1997 (frz. 1994), 189.

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eine Wahrnehmung, die plötzlich da ist, als Ganzes. Danach habe ich versucht, sie zu erklären und auf unterschiedliche Gebiete anzuwenden. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich mit dem Erklären schon fertig bin. Im Gegenteil, ich hoffe, das Ganze noch erschöpfender erklären zu können. Mein Eindruck ist, dass es sich um eine globale, massive Intuition handelt. Ich habe sie entwickelt, ohne sofort alle Implikationen zu sehen. Wahr ist, dass ich – auch wenn ich eigentlich nie gezögert habe – beinahe im Dunkeln vorwärtsgetapst bin, getrieben sozusagen von der Sache selbst.8

Der Literaturwissenschaftler, seit seinem 10. Lebensjahr antiklerikal und agnostisch eingestellt, erlebt im Kontext seiner wissenschaftlichen Arbeit eine Art intellektuelle Bekehrung. Das Werk, an dem er damals arbeitete,9 kann deswegen gar als eine Art des spirituellen itinerarium gelesen werden. Es ist ein „Reiseführer“ durch das Universum dessen, was Girard mit dem Begriff der „horizontalen Transzendenz“ bezeichnet, vor allem ihrer zahlreichen „Höllen der Rivalität und des Neides“. Es ist ein Bericht über das Eingeschlossensein in solchen Höllen, aber auch Zeugnis über den Weg aus der Hölle.10 Diese Logik des Eingeschlossenseins und der Befreiung sah der junge Autor im Motto, das er seinem Meisterwerk voranstellte und das er bei Max Scheler entlehnte, verdichtet: „[. . . ] der Mensch glaubt entweder an Gott, oder er glaubt an einen Götzen. Kein Drittes!“11 Jahrzehnte nach der gemachten Erfahrung erzählte er von diesem Erlebnis seiner intellektuellen Bekehrung: Im Herbst 1958 arbeitete ich an meinem Buch über den Roman [. . . ]. Ich dachte über die Analogien zwischen der religiösen Erfahrung und der des Romanschriftstellers nach, der sich als systematischer Lügner entdeckt, als ein Lügner zugunsten seines Ichs, das letztlich aus tausend Lügen besteht, die sich über eine lange Zeit hinweg angehäuft haben und die manchmal im Laufe eines ganzen Lebens zusammengetragen wurden. Ich habe schließlich begriffen, dass ich gerade dabei war, eine Erfahrung zu machen wie diejenige, die ich gerade beschreiben wollte. Der religiöse Symbolismus, der bei den Romanschriftstellern im Keim vorhanden ist, begann in meinem Fall ganz von allein zu wirken, und er entflammte sich spontan. Ich konnte mich hinsichtlich dessen, was mit mir geschah, keinen Illusionen mehr hingeben, was mich vollkommen aus der Fassung brachte, denn ich war stolz auf meinen Skeptizismus. Ich konnte mir nicht vorstellen, in die Kirche zu gehen, niederzuknien, etc. Ich war wie ein Windbeutel, erfüllt von dem, was in den alten Katechismen als Menschenfurcht bezeichnet wird. Auf intellektueller Ebene war ich bekehrt, aber ich war immer noch unfähig, mein Leben mit meinen Gedanken in Übereinstimmung zu bringen.12

Ein Jahr später entdeckte er an seiner Stirn einen Pickel, der sich als eine Form von Hautkrebs entpuppte. Der junge Literaturprofessor stürzte in die Krise. Am 8 René Girard, zit. nach: Hugo Assmann (Hg.): Götzenbilder und Opfer. René Girard im Gespräch mit der Befreiungstheologie. Thaur u. a. 1996 (port. 1991), 264. 9 René Girard: Mensonge romantique et Vérité romanesque. Paris 1961; dt. Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh. Thaur u. a. 1998; hier verwendet: 2. überarbeitete Aufl. 2012. 10 Die Analogien zu Dantes Göttlicher Komödie liegen auf der Hand. Vergil führt bei ihm durch die Hölle und das Fegfeuer und verhilft zur Befreiung aus der Hölle. Eine solche Befreiung kann in den klassischen Termini theologischer Tradition beschrieben werden, oder aber in Kategorien, ohne den ausdrücklichen Rückgriff auf religiöse Begrifflichkeit. 11 Max Scheler: Vom Ewigen im Menschen. Bern/München 5 1968, 399. 12 Girard, Wenn all das beginnt (Anm. 7), 180.

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Mittwoch in der Karwoche wird er dann nach allen Untersuchungen für geheilt erklärt. Nie zuvor hatte ich ein Fest erlebt, das mit dieser Befreiung zu vergleichen gewesen wäre. Ich sah mich schon tot, und auf einmal war ich auferstanden. Das Wundervollste an dieser ganzen Geschichte war für mich die Tatsache, dass meine intellektuelle und spirituelle Neuausrichtung, meine wahre Bekehrung, vor meiner großen Angst während der Fastenzeit geschehen war. Wenn sie danach eingetreten wären, hätte ich nie wirklich geglaubt. Da ich von Natur ein Skeptiker bin, wäre ich überzeugt geblieben, dass mein Glaube allein auf meine Angst zurückzuführen sei. Die Angst ihrerseits konnte nicht die Folge des Glaubens sein. [. . . ] Ich bin überzeugt, dass Gott den Menschen viele Zeichen sendet, die für die Weisen und Gelehrten objektiv nicht existieren. Jene, für die sie nicht bestimmt sind, halten sie für Einbildung, aber jene, für die sie bestimmt sind, können sie nicht missverstehen, denn sie machen die Erfahrung von innen her.13

Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen und der daran anschließenden Neuausrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wird sein – beim Jahreskongress der Modern Language Association in San Francisco im Jahr 1998 geäußertes – Bekenntnis verständlich: „Das Thema Literatur und Christentum steht für meine ganze intellektuelle und spirituelle Existenz. Ich habe mit den großen Romanen angefangen, bin dann zu Mythen und Tragödien übergegangen, um dann Mitte der 1970er Jahre mit der biblischen Literatur fortzufahren.“14 Der Ansatz von Girard provoziert weiterhin und dies zuerst, weil er die philosophisch vertraute Abstraktion des Subjektes und des autonomen Individuums durch den Rückgriff auf die literarischen Analysen der Dynamik des menschlichen Begehrens radikal unterläuft. In den Romanen von Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust, Dostojewskij und später auch im Werk von Shakespeare findet er einen Menschen vor, der, bevor er zum rationalen Wesen wird, ein begehrendes Wesen ist. Was sagt also ein Literaturwissenschaftler, der mit Hilfe literarischer Klassiker zum Anthropologen wird, über die Figurationen menschlichen Begehrens?15 Geschult in der „Werkstatt“ des Strukturalismus fragt Girard nicht nach Unterschieden und Originalität der Autoren und ihrer „Helden“, sondern nach gemeinsamen Strukturen. Obwohl die Schriftsteller unterschiedliche Welten beschreiben, bestimmt ihrer Meinung nach „ähnliche Geometrie“ die zwischenmenschlichen Beziehungen. Man ist geneigt zu sagen, dass überall „dieselben Kräfte“ am Werk sind. Nicht Autonomie zeichnet nämlich die Helden der großen Romane aus, sondern das mimetische Begehren, das bei aller Unterschiedlichkeit von Individuen sie nach und nach zu spiegelbildlichen Kopien macht. Man hat es mit einem fast konstanten „System von Beziehungen“ zu tun. Seinen spezifischen Begehrensbegriff, der ihm den Zugang zu diesem System eröffnet, gewinnt Girard, indem er den platonischen Mimesisbe13

Ebd., 183. René Girard: Mimesis and Theory. Essays on Literature and Criticism, 1953–2005. Stanford, California 2008, 262 (Übers. JN). 15 Zum Folgenden vgl. Józef Niewiadomski: Girard, René. In: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.): Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt 2009, 141– 146; Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Hamburg/Münster/Wien 2 2004. 14

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griff mit dem des Begehrens verbindet und damit auch dieses von den freudschen und marxschen Konnotationen loslöst. Demnach begehrt der Mensch vornehmlich das, was andere begehren, und er begehrt, weil andere begehren. Er ahmt also das Begehren anderer nach: Er will dasselbe haben, dasselbe sein und an die Stelle von anderen treten. Die mit dem mimetischen Prozess mitgegebene Dreieckstruktur menschlichen Begehrens (Vorbild, Nachahmender, Objekt) führt quasi-automatisch zu Rivalitäten, zur Ambivalenz und Spiegelbildlichkeit – ja zur Rollenumkehrung – von Vorbild und Nachahmer, damit auch zu diffuser Aggressivität und Gewalttätigkeit als Folge. Da das so gefasste trianguläre Begehren nicht objektfixiert bleibt, kann es unmöglich zur Auflösung solcher Konflikte durch die Befriedigung der Bedürfnisse kommen; der Konnex von nachahmendem Begehren und diffuser Aggressivität stellt also eine Quasi-Konstante, ihre Kanalisierung aber einen niemals abgeschlossenen Prozess dar. Die Vernunft selbst genügt zu einer solchen Kanalisierung nicht, da sie vom mimetischen Taumel nicht frei ist, deswegen auch selbst im Prozess der Kanalisierung des Begehrens generiert und später auch immer wieder rekonstruiert wird. Eine fundamentale Frage ist nicht von der Hand zu weisen: Bei so viel mimetischem Taumel, wer vermag die Fänge oder zumindest die Figurationen des Begehrens zu durchschauen? Girard misstraut der Philosophie, umso mehr traut er den Dichtern und ihrer literarischen Inspiration zu. Allerdings: Nur jene Autoren, die sich selber aus den Fängen dieses Begehrens, die im Fall des Künstlers durch den Wunsch „ein großer Künstler zu werden“ zur „Hölle“ des Zweifels werden können, frei gemacht haben, also eine Art Bekehrung hinter sich haben, können – illusionsfrei – die Dynamik des Begehrens und die Figurationen mimetischer Rivalitäten „vom Ende her“ beschreiben. Das auf wenige Begriffe reduzierte Instrumentarium der Mimetischen Theorie wird in der Analyse literarischer Werke verständlich. In seiner Analyse des Werkes von Proust glaubt Girard die Dynamik und die Figurationen mimetischer Rivalität quasi lupenrein darstellen zu können.16 Er setzt bei der Annahme an, dass der Held des großen Romanzyklus von Proust und der Schriftsteller selbst letztlich identisch sind. Zu Beginn haben wir mit dem „Held“ zu tun, während der Handlung wird der „Held“ zunehmend durch den Schriftsteller überblendet, bis wir am Schluss nur noch den Autor vor uns haben. Als Held fällt eben dieser zum Beginn des letzten Bandes des ganzen Romanzyklus „Die wiedergefundene Zeit“ in eine tiefe Depression und ist krank. Das abgeschaute Begehren, ein ebenso großer Schriftsteller zu werden wie seine Rivalen und Modelle, hat ihn in eine „Hölle“ gestoßen. Er ist in seiner Hoffnung total desillusioniert. Am Tiefpunkt der Depression bewirkt aber eine banale Kleinigkeit den radikalen Wandel. Er geht über den unebenen Boden im Hof der Guermantes und erinnert sich an eine ähnliche Erfahrung in der Vergangenheit. Die Erinnerung bewirkt eine ästhetische und spirituelle Erleuchtung und macht ihn frei vom mimetischen Begehren, sein Glück durch die Erfüllung seines – auf literarische Karriere fixierten – Begehrens zu finden. Die Zeit, die der Held auf der Suche nach der Erfüllung seines Begehrens verloren hat, mündet nun in 16

Zum Folgenden vgl. René Girard: Literatur and Christianity. In: Antonello/Webb, Mimesis (Anm. 4), 279–290, hier 286 f.

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die „wiedergefundene Zeit“. Von dieser Episode ausgehend, unterstreicht Girard die Bedeutung zweier Perspektiven im literarischen Schaffen bei Proust selber. Die erste stand unter dem Diktat der Verführung des mimetischen Begehrens und wurde von permanenter Frustration dominiert. Die zweite startet mit der Bekehrung und Befreiung vom mimetischen Begehren und stellt ausdrückliche Kritik an der ersten Perspektive dar. Der Autor vermag in der „verlorenen Zeit“ nur noch Eifersucht, Neid, Snobismus, eben Götzendienst zu finden. Indem Proust selber den Prozess erlebt und auch zu beschreiben vermag, vollzieht er aber jenen Schritt, der ihm in der ersten Phase versagt blieb: den Schritt in die Welt der großen Literatur. Und was hat diese Erfahrung mit Religion zu tun? Girard vergleicht das Eingeschlossensein des Dichters in dem von Korkplatten ausgelegten Raum, in dem der Großteil seines Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit entstanden ist, mit der spirituellen Existenz eines Mönchs in seiner Klosterzelle. Dessen „intellektuelle Konversion“ stellt dem Theoretiker die Matrix dar, auf der er seine eigene Bekehrung deutet. Fortan werden ihm auch Augustinus’ Bekenntnisse zu einer Art geistlichem Führer. Den Umschlag der Perspektiven vergleicht er auch mit jenem Perspektivenwechsel, den die Autoren der Evangelien vollzogen haben mussten, wenn sie aus der Position der bekehrten Jünger nach der Auferstehung die Kraft zur unvergleichbaren Meisterschaft in der Narration und der Beschreibung des Lebens Jesu samt seiner Passion entwickelt haben. Mit derartigen Reflexionen über den Zusammenhang von literarischen Techniken und Inspiration schlägt Girard eine Brücke zu den Grundprämissen seiner Theorie. Der Umschlag vom aneignenden zum konfliktiven Begehren und der damit hervorgerufene Rollentausch zwischen den Begehrenden macht sie nämlich zu Gefangenen der „Hölle der mimetischen Rivalität“. In einer solchen „Hölle der Doubles“ scheint es nur eine Alternative zu geben: entweder Untergang in „apokalyptischen Welten“ oder aber die Bekehrung. Geradezu meisterhaft beschreibt Girard den Absturz in die apokalyptische Zerstörung anhand des Werkes von Dostojewskij, dem er ein „geschärftes Bewusstsein für die tödliche Dynamik des Begehrens“ zuspricht.17 Der im Verlauf der Neuzeit sich abzeichnende Verlust der „vertikalen Transzendenz“ und die Umleitung der Kräfte des Begehrens allein auf „horizontale“ Ebene entfesseln nämlich das Begehren auf „Teufel komm raus“. Je moderner die Romane sind, umso deutlicher steigen die Helden in die „immer tiefer reichenden Kreise der Hölle“. Deswegen wird auch die große „romaneske Literatur“ derart von den Figurationen mimetischer Rivalität geprägt, dass letztendlich „alle Figuren [. . . ] demselben Ruf nach dem Nichts und dem Tod [gehorchen]. Die fehlgeleitete Transzendenz ist ein taumelnder Abstieg, ein blinder Sprung in die Finsternis. Sie endet in der Monstrosität eines Stawrogin, im infernalen Hochmut aller Besessenen.“18 Und was bedeutet die Alternative der „Bekehrung“? Wie tief muss der Prozess ansetzen? Paradigmatisch wird diese Frage durch die Interpre17

Vgl. René Girard: Resurrection from the Underground: Fedor Dostoevsky. New York 1997; ders., Figuren des Begehrens (Anm. 9), vor allem die Kapitel „Literarische Techniken bei Proust und Dostojewskij“ und „Dostojewskijs apokalyptische Welt“, 233–290. 18 Girard, Figuren des Begehrens (Anm. 9), 290.

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tation der Figur des Fürsten Myschkin aus dem Roman Der Idiot beantwortet. Im Leben von Myschkin scheint es eine grundlegende Transformation der mimetischen Prozesse gegeben zu haben. Der Fürst ist nicht ohne Begehren, doch seine Träume schweben über den anderen Figuren [. . . ]. Er ist der Mensch des allerfernsten Begehrens in einer Welt des allernächsten Begehrens. Vom Standpunkt der ihn umgebenden Menschen aus ist es, als würde er gar nicht begehren. Er lässt sich nicht in die Dreiecke der anderen einbinden. In seiner Umgebung blühen Neid, Eifersucht und Rivalitäten, doch er lässt sich davon nicht anstecken. Er ist keineswegs gleichgültig, doch seine Menschenliebe und sein Mitleid binden ihn nicht, wie ihn das Begehren binden würde. Er bietet den übrigen Figuren nie die Stütze seiner Eitelkeit an, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich.19

Das Beispiel zeigt aber, wie außerordentlich fraglich es ist, die Transformation der mimetischen Krise einzig und allein auf individuell-existentieller Ebene anzusiedeln. Dieser „Bekehrte“ kann die Prozesse mimetischer Rivalität, die in seiner Umgebung laufen, keineswegs heilen. Sein Handeln bleibt in die abgründige, strukturelle Mechanik und Tödlichkeit der mimetischen Krise eingebunden. In der Dostojewskijschen Welt ist der Triumph des Bösen derart vollkommen, dass die Demut eines Myschkin, sein bewundernswertes Bemühen, die Existenz seines Nächsten durch die Liebe zu verklären, dieselben giftigen Früchte trägt wie die grausame Gefühlskälte des Hochmuts. Es wird verständlich, weshalb der Fürst und Stawrogin in den Entwürfen des Romanciers den gleichen Ausgangspunkt haben.20

Myschkin verbleibt aufgrund des systembedingten Fortbestehens der mimetischen Mechaniken auf zwischenmenschlicher Ebene weiterhin in diesen verhängnisvollen Zusammenhängen gefangen, was nach Girard schlussendlich sogar dazu führt, dass auch er – und zwar gerade in seiner Bekehrtheit – Verantwortung für den Tod von General Iwolgin trägt. Ist also doch der Untergang im wahnhaften Verfall in die apokalyptischen Welten der Rivalität und des Neids unausweichlich? Um die Aporie, die seiner Mimetischen Theorie auf anthropologischer Ebene anzuhaften scheint, zu sprengen, wendet sich Girard ausdrücklich den Fragen gesellschaftspolitischer Natur zu und sucht nach einer Antwort, wie – gerade angesichts der Figurationen mimetischer Rivalität – das Überleben oder nur das friedliche Zusammenleben von Menschen möglich sei. Seine „Intuition“ sagt ihm, dass wir gerade angesichts der ausbleibenden Veränderung im Kontext der „Geometrie“ der zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch der raren Bekehrungen uns deswegen nicht permanent umbringen, weil wir durch Strukturen geschützt werden, durch Institutionen und Hierarchien, deren primärer Zweck es sei, die mimetische Rivalität auf „Dritte“ abzuwenden und die Menschen so vor der Falle der Doubles zu schützen. Die ganze Breite der Figurationen mimetischer Rivalität kennt nämlich auch den Sündenbockmechanismus als den von der Rivalität selbst angebotenen Ausstieg aus der „Hölle der Doubles“. Man findet diesen Schritt bei Proust in seinem großartigen Romanzyklus beschrieben. In seiner Analyse der Atmosphäre im 19 20

Ebd., 169. Ebd., 169 f.

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Salon der Verdurins vermag der Dichter bis in die Abgründe der zwischenmenschlichen Beziehungen durchzudringen. Mit einer Klarheit sondergleichen legt er die mimetische Wurzel aller Jagden auf Sündenböcke offen, wenn er die Einmütigkeit beschreibt, die dem Saniette entgegenschlägt: Fast keiner der Getreuen hielt sich mit seinem Gelächter zurück; sie wirkten wie eine Bande von Menschenfressern, deren Blutdurst durch die erste Wunde eines Weißen geweckt worden war, denn der Nachahmungstrieb und Mangel an persönlichem Mut beherrschten die gehobenen Gesellschaften genauso wie die Massen. Jeder lacht über einen Menschen, sobald er sieht, dass die anderen sich über ihn lustig machen, ist aber umgekehrt sehr wohl bereit ihn zehn Jahre später in einem Kreis, in dem er bewundert wird, ebenso mit seiner Verehrung zu bedenken. In gleicher Weise verjagt und umjubelt das Volk die Könige.21

Mit der Zuwendung seiner Aufmerksamkeit zu diesen Figurationen mimetischer Rivalität hat Girard den Schritt zum zweiten Aspekt seiner Mimetischen Theorie vollzogen. In seinem von vielen Interpreten als zentral eingeschätzten religionswissenschaftlichen Werk22 sprengt Girard die anthropologische Aporie seiner Theorie, indem er auf umfassende Weise jene Kräfte beschreibt, von denen die unterschiedlichsten Figurationen mimetischer Rivalität im Zaum gehalten werden. Die großen Themen der klassischen Kulturtheorie aufgreifend, wendet er sich dem Phänomen des sakral-rituellen Opfers als dem schlechthin zentralen Ritual menschlicher Kultur zu. Und er wehrt sich gegen die Annahme moderner Religionskritiker, die in den Religionen letztendlich einen gesellschaftlich sekundären Komplex sehen. Für primitive Gesellschaften – Gesellschaften, die das zentrale Gewaltmonopol und die damit verbundenen Institutionen nicht kennen, deswegen auch dem Taumel der mimetischen Rivalität scheinbar schutzlos ausgeliefert sein müssten – haben die religiösen Rituale einen konstitutiven Wert. Sie wurden aber keineswegs von den auf Ausbeutung ausgerichteten Priesterkasten eingeführt, noch wurden sie von den unaufgeklärten Menschen in ihrem unbeholfenen Umgang mit Naturkatastrophen erfunden. Vielmehr rekurrieren sie auf die fundamentale Krise der Gruppe und das quasi spontan gefundene Überlebensszenario, sind also Ergebnis eines auf dem Höhepunkt des mimetischen Taumels eingetretenen „Wunders“, das von Girard als Sündenbockereignis dekonstruiert wird. Auf eine geradezu mechanische Art und Weise kanalisiert es die diffuse Aggressivität, strukturiert damit auch das gesamte Leben der primitiven Gesellschaft und sichert so den von mimetischen Rivalitäten geblendeten Menschen das Überleben. Mit dieser These, die durch den transkulturell vorhandenen Mechanismus der Sündenbockjagd plausibel gemacht wird, stellt Girard alle Theorien vom Gesellschaftsvertrag in Frage, setzen doch diese jene Vorstellung vom rationalen und kalkulierbaren Handeln der Subjekte voraus, das im Kontext des mimetischen Taumels alles andere als selbstverständlich ist, deswegen auch erst erklärt werden müsste. Von welcher fundamentalen Annahme wird dieser 21

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 4: Sodom und Gomorrha. Frankfurt a.M. 2 2002, 490; vgl. Girard, Figuren des Begehrens (Anm. 9), 217. 22 René Girard: La violence et le sacré. Paris 1972; dt. Das Heilige und die Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich 1987.

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Teil der Mimetischen Theorie geleitet? In einer Welt, in der bei den Primaten das instinktgebundene Verhalten immer mehr dem mimetisch strukturierten Begehren Platz machte, in der aber die gesellschaftlichen Institutionen noch nicht existierten, mussten die diffuse Rivalität und die Gewalttätigkeit aller gegen alle immer wieder neu in die Gewalt aller gegen ein zufälliges Opfer umschlagen. Schlugen sie nicht um, so zerstörte sich die Gruppe durch das entfesselte mimetische Begehren. Schlugen sie um, generierten sie eine neue – bisher nie da gewesene – Konfiguration mimetischer Rivalität. So befriedete sich die Gruppe: Sie überlebte. Aber sie überlebte auf Kosten des im blinden Zorn ausgestoßenen und getöteten Opfers. Dieser Umschlag markiert die fundamentale kulturgenerierende Wende vom Chaos zur Ordnung, von der Entdifferenzierung zur ersten Differenz. Die Wahrnehmung des Unterschiedes zwischen der Gruppe und dem Opfer: „wir hier, das Opfer dort“, generiert nämlich die Kategorien des Raumes. Die Rückbesinnung auf die „vorher“ erlebte Krise und den nun greifbaren Frieden generiert auch die Kategorien der Zeit. Das Opfer selbst, das zur Projektionsfläche sondergleichen wurde, bleibt in der Wahrnehmung der Gruppe durch gewaltsame Projektionen zugedeckt. Es sei an allem schuld: sowohl an der Krise als auch an deren Lösung. Als auszuschließendes Opfer stellt es den Inbegriff des mysterium tremendum dar, als ausgeschlossenes Opfer mutiert es zum mysterium fascinosum; das einzig schuldige Scheusal wird so zum Segen. „Die Völker erfinden nicht ihre Götter, sondern sie divinisieren ihre Opfer.“23 Die Entstehung des Religiös-Sakralen ist hier identisch mit dem Gründungsvorgang einer archaischen Gesellschaft. Die Vergesellschaftung wird fortan rituell stabilisiert. In der Nachahmung dessen, was sich spontan ereignet hat, wird das rituelle Opfer, das die Urmatrix allen rituellen Verhaltens darstellt, praktiziert. Die Erinnerung an die Krise und deren Lösung generiert aber Mythen. Die Überlebenden erzählen über das Geschehene, und zwar so, wie sie es in ihrer Verblendung wahrgenommen haben. Der Mythos gibt demnach die verfälschende Perspektive des lynchenden Mobs, der von der Schuld des Opfers überzeugt ist, wieder. Das Geheimnis des so rekonstruierten Sakralen lautet: Es beinhaltet ein Minimum von ritualisierter und somit auch legitimierter Gewalt gegen den jeweilig ausgeschlossenen, weil „geopferten“ Sündenbock, um die diffuse Gewalt der Gruppe zu kanalisieren. Woher nimmt Girard in diesem Zusammenhang seine Erkenntnisse? Welche Art von der „zweiten Perspektive“ erlaubt es, den Prozess anders zu sehen und auch anders zu beschreiben? Auch in diesem Kontext stellen literarische Werke die primären Quellen der Erkenntnisse dar. Es sind dies zuerst die griechischen Tragödien (vor allem Sophokles und seine Ödipusdramen). Girard liest diese im Kontext der sogenannten Verfolgungstexte, jener mittelalterlichen Berichte über kollektive Verfolgungen der Juden, bei denen in einer stereotypen und verschleierten Art und Weise von Krisen, Anschuldigungen, Opfern und kollektiver Gewalt die Rede ist. Die Logik der Verfolgungstexte, die der Logik einer fundamentalen Differenz zwischen den Verfolgern 23

Auf diese Kurzformel brachte Girard das Wesen der archaischen Religionen. Vgl. René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. München/Wien 2002 (frz. 1999), 94.

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und den Verfolgten verpflichtet sind, wird von dem „Strukturalisten“ Girard auch auf die Mythendeutung angewendet. Dadurch wird der von einer ganzen Generation von Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern als normativ angeschaute Strukturalist Claude Lévi-Strauss einer harten Kritik unterzogen. Beide Denker treffen sich zwar in der Einschätzung, dass dem Begriff der Differenzierung ein hoher Wert bei der Kulturschaffung zukommt. Dort aber, wo Lévi-Strauss im Kontext der Mytheninterpretation von reinen Verstandesoperationen, die mit einem wirklichen Ereignis nichts zu tun haben, spricht, genau dort nimmt Girard ein konkretes Ereignis der Ausgrenzung und Tötung des beschuldigten, dadurch auch „versöhnenden“ Opfers als den ersten Akt der Differenzierung wahr. Der entscheidende Unterschied zu Lévi-Strauss besteht also in der Frage nach dem Ursprung des Symboldenkens. „Lévi-Strauss – und der Strukturalismus im Allgemeinen – weigern sich, das Problem des Ursprungs anders als rein formal zu betrachten. Der Übergang von der Natur zur Kultur wurzelt in den ‚permanenten Gegebenheiten der menschlichen Natur‘; es besteht kein Anlaß, sie zu hinterfragen.“24 Schon aus diesem Grund wird den Berichten über solche Ursprünge – den Mythen – die Entsprechung in der Realität abgesprochen. Indem Girard Mythen wie historische Verfolgungstexte liest, entwickelt er eine – gerade für die Literaturwissenschaft – weitreichende Hypothese: „Das Symboldenken hat seinen Ursprung im Mechanismus des versöhnenden Opfers. [. . . ] Wer Ursprung des Symboldenkens sagt, sagt ebenfalls Ursprung der Sprache.“25 Im Lichte der mittelalterlichen Verfolgungstexte gelesene griechische Tragödien erhärten die fundamentale Intuition des Literaturwissenschaftlers. Beim tragischen Autor nimmt er dieselbe – aus der Bekehrung folgende – Qualifikation an, die er den „romanesken Autoren“ zugesteht. Der Tragiker erahnt den täuschenden Abgrund des Mythos und der in ihm greifbaren „horizontalen Transzendenz“, die ja letztendlich bloß mit der gewaltsamen, „nach außen“ projizierten, damit auch sakralisierten Gewalt identisch sei. Deswegen weigert sich auch die tragische Gestalt der Antigone, die „Reste der mythischen Logik der Differenzierung“, die Kreon aufrechterhalten möchte, indem er willkürlich den Strich zwischen dem schuldigen und unschuldigen Opfer der Gewalt zieht, zu akzeptieren. Lässt sich aber auch die biblische Literatur analog zu Mythen (damit auch der Gott der Offenbarung analog zu den Göttern archaischer Religionen) begreifen? Zum dritten Mal könnte Girard auf die Inspiration, die er dank seiner Intuition bekam, hinweisen. Weil er die prophetische Literatur in Analogie zur (griechischen) Tragödie sah, entdeckte er den springenden Punkt, der den einzig relevanten Unterschied beschreibt: Die Bibel verteidigt die Opfer und zeigt ihre Unschuld auf. Der Text der biblischen Überlieferung nimmt mythische Überlieferungen auf, transformiert sie aber im Lichte jener Erfahrung, die Opfer gemacht haben. Sie ist nicht identisch mit der Erfahrung der verfolgenden Menge. Mit einer derart angelegten Apologie des biblischen

24 25

Girard, Das Heilige (Anm. 22), 339. Ebd., 341.

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Religionsverständnisses26 setzt Girard – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – jenen Diskurs fort, den Friedrich Nietzsche provoziert hat. So lässt sich das Werk Girards auch als Dekonstruktion der Philosophie Nietzsches lesen, als eine Dekonstruktion, die im Dienste der Rehabilitierung der Opfer steht. Die von Nietzsche so geschätzte Welt der mythisch-heidnischen Religiosität wird von Girard als das Ergebnis gesellschaftlicher Täuschung im Kontext der Viktimisierungsvorgänge dekonstruiert. Es ist eine Täuschung, die jedoch den relativen Frieden der Gesellschaft sichert. „Die Bibel verweigert jede Dämonisierung-Divinisierung der Opfer der blutrünstigen Massen.“27 Das Verhältnis der so verstandenen Offenbarungsimpulse zur geschlossenen mythischen Welt vergleicht Girard mit der Inversion eines Pelzmantels.28 Die glatte Oberfläche des Pelzmantels wird durch die Offenbarungsimpulse „umgedreht“. Die Spuren eines gehäuteten Tieres – der Preis für die Stabilität, Schönheit und Geborgenheit – werden sichtbar. Das Opfer qua Opfer zu offenbaren, den hinter dem durch Projektionen verborgenen Menschen als Menschen sichtbar werden zu lassen, das sei der entscheidende kulturbildende Impuls biblischer Offenbarung. Warum kommt es zu dieser Umdrehung? Kann sie nicht aus den Figurationen mimetischer Rivalitäten selbst erklärt werden? Die mythische Welt bleibt in ihrer Struktur der klaren Differenzierung auf Kosten des Opfers in sich geschlossen. Weil die ganze Gesellschaft aus der Faszination der Gewalt und aus der Kraft der Opferung lebt, kann niemand deren Ambivalenz durchschauen. Für diese Art von Rationalität ist die Tatsache von entscheidender Bedeutung, dass auch das Opfer sich der Anschuldigung anschließt, im Grunde also derselben Konfiguration mimetischer Rivalität verpflichtet bleibt wie die verfolgende Menge. Die entscheidende kulturproduzierende Kraft des Mythos besteht gerade darin, eine solche Einmütigkeit herzustellen. „Ich bin ein Inzestuöser und Vatermörder“ – bekennt das mythische Paradeopfer Ödipus freimütig, fügt sich in das Anschuldigungsszenario und in die Rechtfertigungsstrategie seiner Viktimisierung ein. Die Anschuldigung stellt allerdings bloß eine nachträgliche Rechtfertigung der stattgefundenen Verfolgung dieses Individuums durch die Meute dar. „Gestehe [. . . ], dass auch du ein Ungeheuer bist“ – drängen „die Freunde“ samt der übrigen Menge den leidenden Ijob.29 Doch im Unterschied zu Ödipus gesteht Ijob nicht. Mehr noch: Er durchbricht die alles beherrschende Konfiguration mimetischer Rivalität, indem er nach einem Anwalt ruft. Dieser ist aber weder mit den anschuldigenden Stimmen seiner „Freunde“ noch mit den ihn selber plagenden Zweifeln über seine Rechtschaffenheit identisch. Der deutliche Einbruch der Transzendenz in die geschlossene Welt der mythischen Immanenz mit ihren sakralisierten Gottheiten, 26

Mit dem „dritten“ der großen Hauptwerke wird auch bewusst der Schritt zum dritten Aspekt der Mimetischen Theorie vollzogen; vgl. René Girard: Des choses cachées depuis la fondation du monde. Recherches avec J.-M. Oughourlian et G. Lefort. Paris 1978; dt. Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, vollständige Neuübersetzung von Elisabeth MainbergerRuh. Ungekürzte Neuausgabe. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2009. 27 Girard, Ich sah den Satan (Anm. 23), 149. 28 Ebd., 151. 29 René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich 1990 (frz. 1985).

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ihren mysteria tremenda et fascinosa, wird von Girard also dort geortet, wo ein mit dem Opfer nicht identischer Gott, der nicht als Inbegriff der gewaltsamen Projektionen der Meute dekonstruiert werden kann, die Partei des Opfers ergreift. Der Topos des sich gegen die Verfolgung wehrenden Opfers wird damit zum privilegierten Ort der Offenbarung. Deswegen bewertet Girard die Psalmen als die ersten Texte der Menschheitsgeschichte, die den in der Mythologie zum Schweigen gebrachten Opfern das Wort geben. Diese Opfer schweigen nicht. Sie verfluchen ihre Verfolger und machen damit die kollektive Gewalt sichtbar. Mit denselben Codes arbeitend wie die mythische Religiosität, entschleiert die biblische Offenbarung die Täuschung und die Lüge der Mythen und zeigt den wahren Gott als einen Gott, der frei von Gewalt ist. So lässt sie die Vorstellung einer Opfergottheit sterben. Welche Inspiration für das theologische Denken ging von dieser Metatheorie über die Figurationen mimetischer Rivalität aus? Längst ist das Feld theologischer Rezeption unüberschaubar geworden; aus den vielen Ansätzen ragt jedoch der Ansatz, der auf den Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager zurückgeht, als der wichtigste Ansatz hervor.

II Der Theologe In einem Brief an Girard aus dem Jahr 1976 wagt Schwager zwei Jahre nach seinem ersten Brief ein persönliches Bekenntnis: „In meinem Gebet danke ich Gott, dass er Ihnen diese Weisheit gegeben hat. Dieses Gebet ist für mich zugleich das Mittel, nicht einer lächerlichen Rivalität zu verfallen, indem ich Sie als Modell (Meister des Denkens) nehme.“30 In diesen zwei Jahren ist der Theologe in seiner Meinung, Girards Denken ermögliche eine Revolution theologischer Rationalität, stark bestärkt worden. Kein Wunder, dass die ersten Monate des wissenschaftlichen Austausches zwischen beiden Denkern dem mimetischen Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler glichen. Der Theologe schien durch den Literaturwissenschaftler in seiner Leidenschaft für Theologie geradezu elektrisiert worden zu sein.31 Und warum dies? Weil die Analysen der Figurationen mimetischer Rivalitäten ihm nicht nur die Möglichkeit boten, einige vertraute theologische Denkschemata mit interdisziplinären – aus der Literaturwissenschaft und auch der Literatur kommenden – Anmerkungen zu verschönern, sondern ihm auch eine neue Art von Theologie versprachen. Die Lektüre von La violence et le sacré öffnete ihm zuerst die unerwartete Möglichkeit, genau das zu wagen, was die Theologie seiner Meinung nach so dringend brauchte: einen Neuaufbruch auf der Grundlage einer erneuerten – die Grenzen der historisch-kritischen Methode sprengenden – Bibelinterpretation. Gott spricht zu Menschen nach Menschenart, sagte das Zweite Vatikanische 30

Schwager, Briefwechsel (Anm. 1), 85. Mathias Moosbrugger: Die Rehabilitierung des Opfers. Zum Dialog zwischen René Girard und Raymund Schwager um die Angemessenheit der Rede vom Opfer im christlichen Kontext. Innsbruck 2014, 223–245, unterscheidet in der (wohl auch) mimetisch strukturierten Beziehung zwischen Schwager und Girard folgende Nuancen: ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, eine intellektuelle Verwandtschaft, einen hermeneutischen Unterschied. 31

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Konzil in der Offenbarungskonstitution. Das müsste doch heißen, dass gerade die Sprache der Bibel sowohl dem Mythos (also der Täuschung, wenn auch der überlebensnotwendigen Täuschung) als auch dem – diese Täuschung entlarvenden – Offenbarungsimpuls verbunden ist. Die abstrakt klingende These wurde für Schwager im Kontext der Figurationen mimetischer Rivalität, wie er diese bei Girard beschrieben fand, sehr konkret. Mutig wagte er die These von der Sakralisierung der Gewalt in der Offenbarungsschrift. Viele biblische Aussagen über das Gottesbild, vor allem jene, die seit Jahrzehnten verdrängt, weil nicht mehr gelesen und gar zensiert wurden, würden mythische Elemente enthalten, müssten deswegen auch im Sinne der Mimetischen Theorie als Projektionen gedeutet werden. Die Infizierung der Aussagen durch die Strategie der Abschiebung der Gewalt auf Dritte müsste durch die Theologie sichtbar gemacht werden. Was war dabei so neu? In den 1970er Jahren war das Thema „Gewalt“ der Theologie eigentlich fremd. Man fand es höchstens in der Moraltheologie im Kontext der Diskussion über den gerechten Krieg. Als einer der wenigen, wenn nicht gar als einziger systematischer Theologe sah Schwager schon damals dessen Bedeutung für die Religion der Zukunft, vor allem aber dessen Relevanz für die biblische Hermeneutik. Von der Arbeitsgemeinschaft der Deutschsprachigen Alttestamentler zu ihrer Jahrestagung im Jahre 1981 eingeladen, sprach er deutliche Worte: Keine andere menschliche Tätigkeit oder Erfahrung wird so oft erwähnt, weder die Welt der Arbeit und Wirtschaft, noch die der Familie und Sexualität oder der Naturerfahrung und des Wissens. Für die biblischen Autoren scheint die eindrucksvollste und bedrängendste Erfahrung gewesen zu sein, dass Menschen einander bekriegen und töten.32

Bereits 1978 legte der Dogmatiker einen umfassenden – systematisch ausgerichteten und auch Grenzen der historisch-kritischen Methode aufzeigenden – Entwurf biblischer Hermeneutik mit dem vielsagenden Titel Brauchen wir einen Sündenbock? vor.33 Paradoxerweise arbeitete er an diesem Werk parallel zu Girard, der zur selben Zeit seine eigene Interpretation biblischer Schriften verschriftlichte34 und im selben Jahr auch publizierte. Auf weiten Strecken denken die Autoren parallel. Sie unterziehen die gewaltverhafteten Gottesbilder einer messerscharfen Kritik und zeigen den Mehrwert der Offenbarungsimpulse auf. Diese bringen neue Strategien der Kanalisierung von Rivalität und diffuser Aggressivität mit sich. Schwager rückt die opferkritische Botschaft der Propheten und das Thema „Gerechtigkeit“, den Dekalog und die Bergpredigt ins Zentrum der religiösen Praxis. In den Fußstapfen Girards legt er den Nachdruck auf den Aspekt der Neuausrichtung oder gar der Unterbindung des mimetischen Begehrens. Schwagers Hermeneutik vermeidet konsequent die markionitische Versuchung der Zuordnung der gewaltaffinen Aussagen zu einem anderen Gott, sie vermengt auch nicht die Aussagen vom Gott des 32

Raymund Schwager: Eindrücke einer Begegnung. In: Norbert Lohfink (Hg.): Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. Freiburg i.Br./Basel/Wien 1983, 214–224. 33 Jetzt in: Raymund Schwager: Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in biblischen Schriften. Gesammelte Schriften Bd. 2. Hg. von Mathias Moosbrugger/Karin Peter. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2016. 34 Girard, Das Ende der Gewalt (Anm. 26).

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Zornes mit den Aussagen über den Gott der Liebe, wie dies seit Irenäus in der Theologie gemacht wird. Weil die Aussagen über den „Zorn Gottes“ systematisch als projektionsgeladene Aussagen über das „Selbstgericht der Menschen“ gedeutet werden, mündet diese Hermeneutik nicht in der Zensur der Texte, vielmehr stellt sie einen dauernden Prozess der Interpretation und der „Entmischung“ dar.35 Zum anderen wurde Schwager durch die Lektüre von Girard elektrisiert, weil dessen Analysen der Figurationen mimetischer Rivalität eine Neudeutung fast aller traditionellen dogmatischen Traktate versprachen.36 In seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Ich sah den Satan vom Himmel fallen bezeichnete Peter Sloterdijk die Mimetische Theorie als „wissenschaftliche Fassung der Erbsündenlehre.“37 Bereits im Jahr 1994 publizierte Schwager einen ersten systematischen Aufsatz mit dem Titel: „Neues und Altes zur Lehre von der Erbsünde“. Dem Erstversuch folgten mehrere andere Artikel, schlussendlich auch ein Büchlein mit dem vielsagenden Titel Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik.38 Darin suchte er nicht nur die biblischen Erzählungen von der Versuchung im Paradies, die ja ein Paradebeispiel für die (von der Schlange postulierte) mimetische Rivalität zwischen Gott und den Menschen darstellen, für die systematische Reflexion fruchtbar zu machen; auch die Narrationen über den in die Thematik der Erbsünde gehörenden Mord an Abel samt der Eskalation der Gewalt bis zur Sintflut fanden den Weg in den dogmatischen Kontext. Mit der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Figurationen mimetischer Rivalität konnte die traditionelle – auf Augustinus zurückgehende – Denkform der Reduktion der Problematik der Erbsünde auf Adam als Sündenbockstrategie dekonstruiert und die Frage in der Soteriologie situiert werden, wo sie eine gegenwartsrelevante Deutung bekommt. Denn die Frage nach der Möglichkeit einer radikal neuen Deutung der Heilsbedeutung des Todes Jesu war der entscheidende Grund, warum Schwager durch die Analysen der Figurationen mimetischer Rivalität derart elektrisiert worden ist. Die „Hermeneutik des Kreuzes“ ist aber auch zum zentralen Punkt der Auseinandersetzung beider Denker geworden. Die Frage, die dabei einer Klärung zugeführt wurde, lautet: Stehen die dogmatischen Kategorien Opfer, Stellvertretung, Hinga35

Vgl. Raymund Schwager: Biblische Texte als „Mischtexte“. Das hermeneutisch-spirituelle Programm der Entmischung. In: Ders.: Kirchliche, politische und theologische Zeitgenossenschaft. Gesammelte Schriften Bd. 8. Hg. von Mathias Moosbrugger. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2017, 360– 367. 36 Seit der Übernahme des Lehrstuhls für Dogmatik in Innsbruck suchte Schwager nach Weggenossen und gründete auch so etwas wie eine theologische Schule, die konsequent das Programm eines von der Mimetischen Theorie inspirierten und alle traditionellen theologischen Traktate umfassenden Modells verfolgte. Vgl. Józef Niewiadomski/Roman Siebenrock: Dramatische Theologie. Ein Blick in die Forschungswerkstatt. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 132 (2010), 385–388. 37 Peter Sloterdijk: Erwachen im Reich der Eifersucht. In: Girard, Ich sah den Satan (Anm. 23), 241–254, hier 250. 38 Vgl. Raymund Schwager: Beiträge zur Schöpfungslehre, Erbsündenlehre und zur Pneumatologie. Gesammelte Schriften Bd. 7. Hg. von Nikolaus Wandinger. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2018, 179–339.

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be, Sühne und auch die biblische Metapher des göttlichen Zornes für überhöhte Gewalt? Und wenn ja, wie soll dann eine Soteriologie konzipiert werden? Als im Jahre 1978 das zentrale bibelhermeneutische Werk von Girard Des choses cachées depuis la fondation du monde erschien, traute Schwager bei der Lektüre der Passagen über den Tod Jesu seinen Augen nicht: „Nichts in den Evangelien legt uns nahe, der Tod Jesu sei ein Opfer – wie immer dieses Opfer auch definiert werde: Sühne, Stellvertretung usw. In den Evangelien wird Jesu Tod niemals als Opfer definiert.“39 Dem Dogmatiker war zwar klar, dass Girard den Tod Jesu auf Golgotha zuerst als Mord, gar als einen rational verantworteten Mord sah. Für diese Strategie der Rationalisierung nach dem Muster des Sündenbockmechanismus steht der Hohepriester Kajaphas mit seinem Satz: „Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt“ (Joh 18,14), der das Sündenbockereignis direkt beim Namen nennt. Jesus wurde als unschuldiges Opfer verurteilt, steht damit auch in einer Reihe mit den vielen unschuldigen Opfern. Ein solcher Zugang macht aber – so die Meinung Schwagers – keineswegs einen Strich durch die Rechnung im Kontext der soteriologischen Deutung des Kreuzestodes Jesu. In einem fast zweijährigen Briefwechsel, den man fast schon als Musterbeispiel des Dialogs zwischen Literaturwissenschaft und Theologie begreifen kann, präzisieren die beiden ihre Positionen. Girard stimmt schlussendlich Schwager zu, der seiner Meinung nach das Problem gerade aufgrund theologischer Logik tiefer erfasst hat.40 Zum einen geht es dabei um die Frage nach der Tiefe der Infizierung des Gottesbildes durch Projektionen, die aus den vielfältigen Figurationen mimetischer Rivalität entspringen. Sah Girard das Kreuz primär im Kontext der Aufklärungslogik als Aufdeckung der Gewaltmechanismen, so vertieft Schwager diese Sichtweise, wenn er auch von der Überwindung derselben spricht. Dieser Aspekt ist ihm deshalb von zentraler Bedeutung, weil alle prophetischen Versuche, das mimetische Begehren anders als durch den Sündenbockmechanismus zu kanalisieren, im Grunde gescheitert sind. Schwager spricht deswegen auch von der „Katastrophe der Ethik“ als der entscheidenden Erfahrung, die den Erlösungsglauben notwendig macht. Deswegen unterscheidet er zwischen der Außenperspektive des Kreuzesgeschehens, in der dieses als ein Sündenbockereignis wahrgenommen wird, und der Innenperspektive, in der die Transformation der Viktimisierung eines Sündenbocks durch dessen Haltung der Hingabe verwandelt wird. Die Menschen haben Christus geopfert. Er hat es akzeptiert, geopfert zu werden, um zu offenbaren, dass Gott kein Opfer fordert (Hebr 10,5 f.). „Akzeptieren geopfert zu werden“ (obwohl man sich mit Gewalt wehren oder fliehen könnte) wird allgemein „sich opfern“ genannt. Ich verstehe wohl das gewaltige Problem dieses Vokabulars. Aber ich sehe keine Möglichkeit, dieses Problem endgültig zu lösen. Das Ereignis, durch das Christus den gewaltlosen und nichtsakrifiziellen Gott offenbart, ist ein sakrifizielles Ereignis aus der Perspektive der Menschen. Christus teilt diese Sicht nicht, er hat eine ganz andere Intention, aber er akzeptiert das, was die Menschen tun, völlig. Er akzeptiert es, geopfert zu werden. Auf der inhaltlichen Ebene gibt es also einen vollständigen Bruch zwischen der Intention der Menschen und der Intention Christi, aber auf der Ebene des konkreten Ereignisses 39 40

Girard, Das Ende der Gewalt (Anm. 26), 233. Minutiös wurde diese Kontroverse in: Moosbrugger, Rehabilitierung (Anm. 31), rekonstruiert.

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Die Innenperspektive, die letztendlich nur im Glauben zugänglich ist, wurde von Schwager in seiner „Dramatischen Erlösungslehre“ durchbuchstabiert.42 Wie sehen die entscheidenden Argumentationsschritte aus und was haben sie mit der Frage nach den Figurationen mimetischer Rivalität zu tun? Im mimetischen Taumel machen die Menschen Jesus zum Opfer. Er selber entzieht sich aber der mimetischen Rivalität mit den Tätern, weil er sich an den Vater hingibt. So mögen zwar die Täter über seinen Körper verfügen, den innersten Kern seiner Person erreichen sie aber nicht. Denn dieser ist identisch mit der Beziehung des Vaters zum Sohn. Er ist ja nicht deswegen Sohn Gottes, weil er am Kreuz stirbt. Die Gottessohnschaft Jesu macht ihn gegen alle Figurationen mimetischer Rivalität gleichsam immun. Für Schwager (und in der Folge auch für Girard) ist die christliche Trinitätslehre das exakte Gegenmodell des triangulären mimetischen Begehrens. Indem sich Jesus im Sterben dem Vater hingibt, entgeht er der in jeder Viktimisierung so gefährlich werdenden Symbiose zwischen dem Opfer und dem Täter. Er unterbricht den Sündenbockmechanismus zwar schon dadurch, dass er in die Anschuldigung nicht einstimmt und an seiner Unschuld festhält. Sein Gott ist auch nicht identisch mit dem Gott des Kajaphas. Die Hingabe an seinen Vater ermöglicht ihm aber noch mehr. Er kann auch jene Figuration mimetischer Rivalität unterbrechen und verwandeln, die sich direkt aus dem Hass des Opfers auf den Täter ergibt. Ein solcher Hass des Opfers schafft ja nur oberflächliche Distanz zwischen ihm und den Tätern. Auch wenn in der Fantasie des Opfers der Hass scheinbar den Täter beseitigt, so bleibt dessen Stelle nicht leer. Das Opfer selbst steht in der mimetisch strukturierten Gefahr, an die Stelle des Henkers zu treten, und ist auf dem besten Weg, sich selbst zu viktimisieren und sich selber zu opfern. Die Selbstopferung stellt ja nichts anderes dar als die mimetisch bedingte Ersetzung des Opferers durch das Opfer selbst. Der Teufelskreis, den die Faszination der Gewalt zu verantworten hat, bleibt weiterhin geschlossen, die erkenntnistheoretische Allmacht der Opferung verführt die Beteiligten: Das Töten und Sterben werden in einem derart geschlossenen Horizont als der eigentliche Ursprung des Lebens wahrgenommen. Aus der Kraft der Hingabe zwischen dem Vater und dem Sohn kann sich das Opfer Jesus mit anderen Opfern identifizieren. Mehr noch: Er kann in den ihn misshandelnden und tötenden Tätern, in den Sündern also, nichts anderes erblicken, als er immer schon in den Sündern gesehen hat: Er sieht in ihnen bloß Opfer der Verblendung, Opfer der Sünde, Opfer der Gewalt und damit auch Opfer der eigenen Tat. So handelt er nun als Opfer, er handelt aber anders, als die Opfer in solchen Zusammenhängen normalerweise handeln, wenn sie im Taumel mimetischer Rivalität ihre Peiniger verfluchen und ihnen die Vergeltung und Rache an den Kopf wünschen. Nicht in der direkten Konfrontation mit den Tätern, sondern über die 41

Schwager, Briefwechsel (Anm. 1), 157. Raymund Schwager: Jesus im Heilsdrama (1990); jetzt in: Ders.: Heilsdrama: Systematische und narrative Zugänge. Gesammelte Schriften Bd. 4. Hg. von Józef Niewiadomski. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2015, 39–400.

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Vermittlung eines „Mediators“ wendet sich das Opfer Jesus auch an die Täter: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Er stirbt, wird damit auch zum Opfer des Todes. Weil er aber in der Haltung der Hingabe an den lebendigen Vater stirbt, ist seine Hingabe im Tod alles andere als die Kehrseite der Tötung. Deswegen ist sie stärker als alle Gewalt und auch als der Tod. Deswegen kann sie das Leben durch den Tod hindurch bewahren. Die jesuanische Hingabe sprengt so die Projektionsmechanismen, die wir aus den Strategien der Überlistung der Gewalt kennen. Sein sacrificium, seine Hingabe zeigt den radikalen Vorrang des Lebens und dessen Transformationskraft. Es ist eine Kraft, die die größten tremenda der Viktimisierungsvorgänge zu wandeln vermag. Das fascinosum des Kreuzes stellt also nicht die Kehrseite des tremendum, wie dies in den archaischen Religionen der Fall ist, dar. Das christliche Gottesbild entspringt nicht der Faszination der Gewalt und dem Sündenbockmechanismus, der die Gottheit im mimetischen Taumel der Gewalt generiert. Das trinitarische Gottesbild ist der genau entgegengesetzten Logik verpflichtet: In Jesus Christus ist der göttliche Sohn selber Mensch geworden, hat sich den Sackgassen menschlicher Aggressivität ausgeliefert und diese durch die Kraft göttlicher Liebe auf gewaltfreie Art und Weise transformiert. Dieser Vorrang des Lebens, der Vorrang des sacrificium vor dem Tod und vor der Viktimisierung, wird durch die Szene vom „Letzten Abendmahl“ noch einmal unterstrichen. Durch die Deuteworte Jesu und die Metapher von Brot und Wein wird sein ganzer Weg – gerade angesichts des drohenden Todes – von ihm selber schon vor der Opfererfahrung positiv als Hingabe gedeutet. Es ist ein sacrificium, aber nicht eines, das bloß die Kehrseite der victima darstellt. Die Analogie – aber auch der radikale Unterschied – zur Logik der Opferriten wird damit radikal greifbar. Jesus wird zwar zum Opfer gemacht, doch geht dieser Erfahrung eine umfassende Gotteserfahrung voraus. In seinem Fall sogar eine Erfahrung, die den Inbegriff seiner Person darstellt. Die auf Analogien basierende biblische Sprache, die aber gleich zur Artikulation der Unterschiede vordringt, kann deshalb Christus in seiner „Opferrolle“ als „Lamm Gottes“ bezeichnen. Der von Menschen gewaltsam ausgestoßene Sündenbock offenbart sich ihnen als das Lamm, das ganz Gott zu gehören scheint und sich deswegen auch frei an alle Menschen verschenken kann. Auf diese Art und Weise baut er eine neue Gemeinschaft auf, eine Gemeinschaft, die nicht vom Ausschluss und der Überlistung der Gewalt lebt, sondern auf Integration und Wandlung ausgerichtet ist. Die Frage eines von der Gewalt gereinigten Gottesbegriffes ist demnach alles andere als zweitrangig. Letztendlich vermag nämlich nur ein von Gewalt gereinigtes Gottesbild die „vertikale Transzendenz“ zu rekonstruieren. Diese Erkenntnis dürfte auch der entscheidende Mehrwert sein, den wir der Begegnung zwischen dem Theologen Schwager und dem Literaturwissenschaftler Girard verdanken. Diese These soll nun durch eine kurze Analyse des modernen – nach der Intention des Autors sich als biblisch inspiriert ausgebenden – Romans erhärtet werden, der die biblische Revolution in ihr Gegenteil verkehrt.

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III Der Schriftsteller Was mich betrifft, geht wirkliche Literatur immer über das Ästhetische hinaus. Geht in einen Bereich des Transzendenten, den man auch mit dem Wort „religiös“ umschreiben kann, insofern damit eine größere, umfassendere Wirklichkeit als unser Alltag gemeint ist. Wenn Literatur im Ästhetischen hängen bleibt, also das Bezogensein auf ein Absolutes, auf ein Unendliches nicht besitzt, dieses Bezogensein nicht anstrebt oder es außer Acht lässt, dann verliere ich einfach das Interesse.43

Seit Jahrzehnten bilden die Sprache und die Bilderwelt der biblischen Überlieferung eine Inspirationsquelle des schriftstellerischen Wirkens des in den USA lebenden deutschen Autors Patrick Roth. Geschult durch den analytischen Ansatz von C.G. Jung, auf jeden Fall „ohne jeden Ansatz einer religiösen Dogmatik“,44 löst Roth die biblischen Bilder aus den vertrauten theologischen Zusammenhängen, um ihnen neue Strahlkraft zu geben. In seinem letzten Roman Sunrise. Das Buch Joseph45 findet man das ganze opfertheologische Universum an Bildern, Begriffen und Narrationen, die alle in den Dienst der Erzählung von der Opferung des Sohnes durch den Vater gestellt werden. Der biblische Joseph, der von Gott aufgefordert wird, den Sohn Jesus zu opfern, weigert sich. Man kann Roths literarisches Schaffen mit jenem Urteil zusammenfassen, mit dem Michaela Kopp-Marx sein letztes Werk gewürdigt hat. Sie schlägt vor, den aussagekräftigen Roman „als Antwort auf das religiöse Problem der Moderne zu lesen, die gelernt hat, ohne Bezug zum Göttlichen, ohne Mythos, ohne anleitendes Narrativ zu leben und an einer umfassenden Sinnleere laboriert.“46 Stellt man dieses Urteil in den Kontext jener Spannung, die Girard in seiner Analyse des modernen Romans aufbaut, wenn er vom Verlust der „vertikalen Transzendenz“, von Umleitung der Kräfte des Begehrens allein auf „horizontale Transzendenz“ und dem Eingeschlossensein der Helden und der Autoren in der „Hölle der Doubles“ spricht, so wird man geneigt sein, auch bei Roth nach den Figurationen mimetischer Rivalitäten zu suchen. Diese wurden durch die Kritiker auch längst bemerkt. So sucht Karl-Josef Kuschel das biblisch inspirierte Werk in den Griff zu bekommen, indem er von „Spiegelungen“ spricht;47 Daniel Weidner verortet gleich „die eigentliche Provokation und Radikalität des Textes [. . . ] in der Imitation biblischer Literatur in sprachlicher und textueller Hinsicht“;48 Eckart Reinmuth begnügt 43

Patrick Roth im Interview: Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen. In: KoppMarx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 363–371, hier 364. 44 So Michaela Kopp-Marx und Georg Langenhorst in ihrem Vorwort zum Band: Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 7. 45 Patrick Roth: SUNRISE. Das Buch Joseph. Göttingen 2012. 46 Michaela Kopp-Marx: „Denn ins Herz reißt ER mir sein Geritz“. Das Gottesbild in „Sunrise. Das Buch Joseph“. In: Kopp-Marx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 209–236, hier 209. 47 Karl-Josef Kuschel: Von „Riverside“ bis „Sunrise“. Spiegelungen im Werk von Patrick Roth. In: Kopp-Marx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 44–68. 48 Daniel Weidner: Die Gewalt der Schrift. Biblisches Erzählverfahren in Patrick Roths „Sunrise. Das Buch Joseph“. In: Kopp-Marx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 172–188, hier 174.

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sich nicht mit dem Urteil über die „Imitation biblischer Literatur in sprachlicher und textueller Hinsicht“, vielmehr verweist er auf das „literarische Phänomen der rewritten bible“,49 von dem die frühchristliche und frühjüdische Literatur geradezu besessen waren. Gerade dieser Hinweis ermöglicht die Folgerung, dass solche Techniken im Grunde nichts anderes darstellen als ein Paradebeispiel des mimetischen Begehrens von Autoren, die direkt an die Stelle ihrer Modelle treten möchten, weil sie den Status der anerkannten (und kanonisierten) Verfasser heiliger Schriften gerne ihr Eigen nennen würden. Sowohl unter sprachlich-grammatikalischer Rücksicht als auch im Hinblick auf die Fülle von Bildern erweist sich Roth als Meister des mimetischen Taumels. Die Hinweise auf die literarischen Techniken des Autors leiten nämlich nur zur Frage nach jenem „System von Beziehungen“ über, in denen die Helden des Romans gefangen bleiben. Da ist zuerst der von Joseph das Opfer fordernde Gott. Roth „zeichnet einen begehrenden Gott in seiner Widersprüchlichkeit; er spricht davon, dass Gott – unermesslich und unfassbar – hungrig wie ein Mensch ist, dass es Gott und Mensch nacheinander hungert“.50 Joseph und sein Gott sind letztendlich als mimetische Zwillinge konstruiert, die sich unmöglich aus dieser „Hölle der Doubles“ befreien können. In seinem mimetischen Taumel kann dieser Gott von Joseph nicht lassen und auch Joseph wird trotz aller Versuche der Verweigerung des Befehls von seinem blutrünstigen Gott nicht loskommen. Unterschiedliche Biographien der biblischen Geschichte, Brüche und Neuaufbrüche verdichten sich in den Gestalten von Joseph und seinem Gott und der die beiden Protagonisten verzerrenden mimetischen Rivalität, aus deren Fängen es kein Entrinnen gibt. Triumphierend macht Gott dem aufbegehrenden Joseph die Ausweglosigkeit seiner Befreiungsversuche deutlich: „Machtlos bist du, Joseph. Denn verweigerst du den mir, den ich gefordert als Opfer, so schlägst du mir jenem im Mord.“51 Machtlos ist aber letztendlich auch dieser Gott selber, dessen schlichte Existenz vom Geschäft der Opferungen abhängig ist. Liest man den Roman von der zentralen „Theophanie“ her, die Joseph im 86. Kapitel, das mit dem Titel „Das Gesicht“ umschrieben ist, erlebt, so bekommt man jenes mysterium tremendum et fascinosum in kristallklarer Form vor Augen geführt, das Girard als den Inbegriff der mythischen Verschleierung von Gewalt beschrieb. Diese Gewalt mag zwar auf den ersten Blick als tödlich erscheinen. Doch stellt der von ihr bewirkte Tod den Ursprung des Lebens dar. Wie in den unzähligen Mythen die Schöpfung durch den Mord geschieht, so verdichtet auch das von Roth mit einer ungeheuren Bilderwucht beschriebene „Absolute“ nur deswegen das Leben, weil es der Inbegriff der bluttriefenden Gewalt ist. Und er [Joseph] sah: Der da sitzt, saugt auf und trinkt und schwitzt selbst das Blut und vergießt und trinkt es in Strömen. [. . . ] 49

Eckart Reinmuth: Der Gott des Entsetzens. Neutestamentliche Stimmungslagen in Patrick Roths „Sunrise. Das Buch Joseph“. In: Kopp-Marx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 189–208, hier 194. 50 Ebd., 202 f. 51 Roth, Sunrise (Anm. 45), 351.

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J. Niewiadomski Da, getroffen vom Blick, erkennt Joseph, jenseits der Grenzen alles Gesehenen, jenseits des Sehens, jenseits allmöglicher Sicht: SEIN Angesicht. Erkennt, daß es Gott ist, der sieht herauf, und Sein Sehen ist, das er sieht. Und sieht Gottes Angesicht und erkennt IHN: gebunden. Gefesselt an Strängen und Seilen und Fäden, die kreuzhin und querhin IHN binden. Als zerrissen IHN, die IHN tränkten und speisten und trauften das Blut durch den gläsernen Kasten. Da: Verzerrt war von Leid, von maßloser Qual, das Angesicht, das heraufsah zu Joseph. Und Joseph entsetzt sich vor IHM, der so leidet. [. . . ] Da hört Joseph die Worte: „Heute habe ich dich gezeugt. Neuerschaffen hast du die Welt.“52

Roths Prosa stellt also eine „Form der Remythologisierung“ dar; sie ist – wie dies Horst Langenhorst betont – „jenseits der Alternative von Säkularisierung und christlicher Verkündigung angesiedelt“. Sie mag zwar – wie der Kritiker es im Anschluss an die Würdigung der „Christus-Trilogie“ durch Gerhard Kaiser53 meint – auch „einen Zugang zur biblischen Tradition“ mit sich bringen, „der von Faszination geprägt ist, aber nicht irgendeine Form von Glauben oder verbindlicher Festlegung aufdrängt“.54 Im Horizont der Reflexionen über Figurationen mimetischer Rivalität wird aber genau dieser Mehrwert zum trojanischen Pferd des ganzen literarischen Unternehmens. Roths Bemühung, über den Alltag in den „Bereich des Umfassenderen“ hinauszugehen, verliert sich im mimetischen Taumel, vermag auch nicht einen archimedischen Punkt anzudeuten, von dem aus zumindest ein Schein der Hoffnung auf Entkommen sichtbar wäre. Daniel Weidner diagnostiziert zwar „den Zusammenhang“, der „durch die Logik des Opfers gestiftet“ wird.55 Dass damit aber kaum so etwas wie „vertikale Transzendenz“ regeneriert werden kann, müsste in der Epoche nach Nietzsche und den Ereignissen des letzten Jahrhunderts mehr als klar sein: „Wer glaubt, mit der Beibehaltung des Opfers die Transzendenz zu verteidigen, irrt auf der ganze Linie“.56 Nicht einmal „horizontale Transzendenz“ kann Roth noch retten. Die Allgegenwart des Mimetischen, die in der archaischen Kultur jene Figuration mimetischer Rivalitäten quasi mechanisch durch den Sündenbockmechanismus hervorrief, zerstört in Sunrise auch diese, rücken dort der „Opfernde und Geopfertes“ derart nahe aneinander, dass „opfernder Vater und geopferter Sohn“ im Grunde eins werden.57 Es sind dies Abgründe von Gewalt, die Roth uns vor Augen führt. Das täglich erlebbare Grauen wird in seinem Text aber letztendlich nur ästhetisch bearbeitet und religiös verklärt. Das erhoffte „Andere“, 52

Ebd., 370 f. Vgl. Gerhard Kaiser: Resurrection. Die Christus-Trilogie von Patrick Roth. Der Mörder wird der Erlöser sein. Tübingen/Basel 2008, 115 f. 54 Georg Langenhorst: „. . . nimm das Kind und seine Mutter . . . “ Literarische Transformationen Josephs von Henriette Brey bis Patrick Roth. In: Kopp-Marx/Langenhorst, Wiederentdeckung der Bibel (Anm. 5), 120–144, hier 142. 55 Weidner, Die Gewalt der Schrift (Anm. 48), 184. 56 Girard, Das Ende der Gewalt (Anm. 26), 291. 57 Weidner, Die Gewalt der Schrift (Anm. 48), 185. 53

Figurationen mimetischer Rivalität in der Literatur

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die Transzendenz, die diesen Namen auch verdient, ist auf diesem Weg nicht zu finden. Die „gefundene Nähe“ zur Bibel und ihren Inhalten, die sich dem Autor „erst über die Psychologie, genauer gesagt: die Tiefenpsychologie C.G. Jungs“ erschlossen hat,58 entpuppt sich in Sunrise doch als Ferne.

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Roth, Das Ästhetische (Anm. 43), 366.

Rezeption und Transformation

Schwer erleuchtet – Moderner Buddhismus, transkulturelle Verflechtungen und populäre Erzählliteratur Almut-Barbara Renger

I Aufriss: Sehnsuchtsformel „Erleuchtung“ Schwer erleuchtet, so lautet der Titel eines Romans, den der deutsche Journalist und Buchautor Dieter Bednarz (geb. 1956) im Juni 2017 herausbrachte.1 Er beruht auf einer „wahren Geschichte“, die sich im Jahr 2002 ereignete. Damals lernte der Autor auf Sri Lanka den Mönch Kosgoda Siri Sudhamma Thera (1936–2016) kennen, der für seine Frau Esther und ihn eine Hochzeitszeremonie in einem buddhistischen Tempel veranstaltete – mit dem Ergebnis, dass Siri nur wenige Monate später nach Hamburg reiste, um für drei Monate bei Bednarz Quartier zu beziehen. Die Erzählung knüpft hieran an, indem sie den singhalesischen Bhikkhu, seine Lehre und Praxis in die mondäne Altbauwohnung des gestressten enddreißiger Doppelverdiener-Paares Daniel Plötner und Maya Meyerding im Hamburger Grindel-Viertel verbringt. Daniel ist TV-Journalist, von der Ambition besessen, große Moderatoren-Karriere zu machen, Maya erfolgreiche Anwältin, die mit allen Mitteln versucht, schwanger zu werden. Dass beide ihr Ziel trotz aller Hartnäckigkeit, mit der sie es verfolgen, nicht ohne Weiteres erreichen, ist für sie mit großer Not verbunden, wie überhaupt allenthalben in der Erzählung Figuren auftauchen, deren Leben von Leid infolge von Entbehrungen gekennzeichnet ist – bis sie die Dinge dank des Mönches in anderem Licht sehen und auf einen neuen Weg finden. Erzählt ist Bednarz’ Roman in, so der Rückseitentext der Originalausgabe, „augenzwinkernd-heiterer“2 Weise, wider alle autobiographische Nähe, aus auktorialer Perspektive in flexibler Distanz zum Geschehen. Der Erzähler kennt seine Figuren mit all ihren Fehlern und Tugenden, Wünschen und Absichten, den über weite Strecken unergründlich scheinenden Siri, der streng nach den Regeln bud-

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Dieter Bednarz: Schwer erleuchtet. Roman. München 2017. Ebd., hinterer Buchdeckel außen.

A.-B. Renger () Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_12

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dhistischen Mönchtums lebt, eingeschlossen. Er nutzt dies aber nicht, um sich in großer Geste kommentierend und bewertend in den Vordergrund zu bringen, sondern macht seine Allwissenheit im Modus alltagsrealistischer Darstellung geltend. In dieser Weise erzählt der Roman von der Welt des Journalismus, in der sich der Protagonist Daniel verdingt, einerseits und der Strahlkraft der Lehre Siddhartha Gautamas (vermutl. um 450–370 v. Chr.) andererseits und nimmt so den Leser sowohl in die individuelle Lebensgeschichte eines mit seinem Beruf hadernden Journalisten hinein als auch in die buddhistische Vergewisserung, für die Siri steht: dass Erwachen (Sanskrit und Pali: bodhi) und damit das Erlangen der Buddhaschaft möglich ist, das heißt, dass der leidvolle Kreislauf von Wiedergeburt und Wiedertod (Sanskrit, Pali: sam . s¯ara) überwunden und es zum Erlöschen (Sanskrit: nirv¯an.a; Pali: nibb¯ana) aller Faktoren, die ihn bedingen, kommen kann.3 Säkulare und religiöse Aspekte und Perspektiven prallen dabei teils krude aufeinander, teils fließen sie ineinander, mitunter sind sie vollständig ineinander verschmolzen. Ihr Konvergenzpunkt am Sinnhorizont des Erzählten ist eine Heilsvorstellung, die in wiederkehrender Metaphorik mit dem Substantiv „Erleuchtung“ und angrenzenden Begriffen umschrieben wird: Es geht darum, „erleuchtet zu sein“.4 Diese Sehnsuchtsformel, die Bednarz seinem Protagonisten Daniel wiederholt in den Mund legt, während „das Wort ‚Erleuchtung‘“5 auch ansonsten im erzählten Geschehen allenthalben Verwendung findet, ist keinesfalls eine Erfindung des beginnenden 21. Jahrhunderts. Im Kontext asiatisch-euroamerikanischer Beziehungsdynamiken als Heilskonzept popularisiert, wird „Erleuchtung“ vielmehr seit den späten 1800er Jahren von Akteuren unterschiedlichster Provenienz in zahlreichen Sprechweisen und Medien als erstrebenswert propagiert, nicht zuletzt in der Literatur. Dass dies, wie in Bednarz’ Roman, unter Bezug auf den Buddhismus erfolgt, ist Austauschbeziehungen zwischen Vertretern des Christentums in Asien, asiatischen Buddhisten, europäischer Buddhismus-Forschung und europäischen und amerikanischen Sympathisanten des Buddhismus im 19. Jahrhundert geschuldet. In ihrem Kontext wurde der in christlichen Zusammenhängen vielgebrauchte europäische Erleuchtungsbegriff auf den historischen Buddha übertragen und im damals sich verbreitenden modernen Buddhismus, der als religiöses Angebot für den modernen aufgeklärten Menschen konzipiert wurde, zentral gesetzt. Konzeptionelle Eckpfeiler dieses „buddhistischen Modernismus“, der das Bild eines Buddha Shakyamuni vermittelt, der auf Dogmen und Rituale verzichtet, sind Selbsterforschung, Erkenntnis und Wissen an Stelle von Mythologie, Ritualismus und „blindem Glauben“.6 3 Buddhistische Namen und Fachausdrücke erscheinen im vorliegenden Text mit Diakritika nur dort, wo sie in wissenschaftlicher Umschrift kursiviert und mit kleinen Anfangsbuchstaben in runde Klammern gestellt sind. In Zitaten von bzw. aus Fachliteratur sind deren jeweilige Transliterationen beibehalten. In allen übrigen Fällen ist die im Deutschen geläufige vereinfachte Schreibweise ohne angefügte Zeichen verwendet. 4 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 393. 5 Ebd., 268. 6 Für die Formen des modernen Buddhismus, die im Laufe des 19. Jahrhunderts infolge der Kontakte mit eurogenen Kulturen entstanden sind, gibt es seit der klassisch gewordenen Studie von

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Korrelat des infolgedessen erhobenen Anspruchs auf Rationalität und Kompatibilität mit der modernen Naturwissenschaft ist die Erhebung von Meditation als Form erfahrungsbasierter Selbsttherapie zur Hauptpraxis.7 Maßgeblich im kolonialen Ceylon und anderen asiatischen Ländern entworfen, in denen der Buddhismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Ruf geraten war, mit Aberglauben, Idolatrie und erstarrten monastischen Machtstrukturen behaftet zu sein,8 hat sich diese Neuinterpretation rationalen Zuschnitts, ursprünglich zugleich als Gegenentwurf zu einem vermeintlich überalterten Christentum gedacht, weltweit variationsreich durchgesetzt. Sie ist es, die in Schwer erleuchtet ihren Niederschlag gefunden hat (nicht etwa ein traditioneller Buddhismus, wie er mit devotionalen Kulten, magischen Praktiken und allerlei nutzbringenden Ritualen unter Rezitation von Schriften und Darbringung von Opfergaben mehrheitlich in Asien praktiziert wird). Ihr Repräsentant ist Siri, der sich durch Charakteristika wie Rationalität, soziales Engagement, die Förderung von Laienreligiosität und einen mitfühlenden Fokus auf weltliche Belange seiner Mitmenschen auszeichnet. Der vorliegende Beitrag skizziert – mit der Entwicklung des Erleuchtungsbegriffs von einem Terminus der europäischen Religionsgeschichte, der einen festen Platz im Christentum fand, zu einem überkonfessionellen Sammelbegriff, der heute regelmäßig mit asiatischen oder zumindest asiatisch inspirierten Traditionen in Verbindung gebracht wird – den religionsgeschichtlichen Hintergrund der Erleuchtungssehnsucht, die wie ein roter Faden durch Bednarz’ Roman läuft. Anhand ausgewählter Akteure und Texte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart wird der Wirkmächtigkeit des Begriffs in wissenschaftlichen, theologischen, religiösen und literarischen Verwendungen nachgegangen, sowie seinem diskursiven Gebrauch über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Dies geschieht unter verschiedenen Schwerpunktsetzungen, die jeweils asiatisch-euroamerikanische Austauschbeziehungen zwischen Akteuren, Gruppen und Räumen in den Blick rücken. Verdeutlicht wird so die Relationalität und Dynamizität religiöser und anderer kul-

Heinz Bechert: Buddhismus. Staat und Gesellschaft in den Ländern des Theravada-Buddhismus. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1966–1973, verschiedene Bezeichnungen wie „protestantischer Buddhismus“ und „buddhistischer Modernismus“, die mit jeweils unterschiedlichen Theoriemodellen einhergehen. Die Mehrzahl der Abhandlungen hierzu konzentriert sich auf Sri Lanka, wo sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den Einfluss der Kolonialmächte und den Kontakt mit dem Christentum in Anpassung an Bedingungen der Moderne international einflussreiche Reformbewegungen entwickelten. Hierzu einschlägig geworden ist die Studie von Richard Gombrich/Gananath Obeyesekere: Buddhism Transformed. Religious Change in Sri Lanka. Princeton, New Jersey 1988, 215–224. Aus einem besonders weiten Blickwinkel erörtert das Phänomen David L. McMahan: The Making of Buddhist Modernism. Oxford 2008. 7 Zu diesen Aspekten des modernen Buddhismus vgl. Donald S. Lopez, Jr.: Buddhism and Science. A Guide for the Perplexed. Chicago/London 2008; McMahan, The Making of Buddhist Modernism (Anm. 6), 89–116, 183–214; David L. McMahan/Erik Braun: Introduction. From Colonialism to Brainscans. Modern Transformations of Buddhist Meditation. In: Dies. (Hg.): Meditation, Buddhism, and Science. Oxford 2017, 1–20. 8 Hiervon wird weiter unten noch die Rede sein. Für nähere Details siehe dort die Literaturangaben in den Anm. 79 und 81.

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tureller Felder in ihrer transkulturellen Bezogenheit aufeinander.9 In Rückbindung an Schwer erleuchtet als Aufhänger der Ausführungen habe ich vornehmlich Akteure und Texte gewählt, die für die Entwicklung im so bezeichneten Westen repräsentativ sind und Bedeutung insbesondere für den deutschsprachigen Raum haben.10 Vorangestellt ist dieser Skizze ein Plädoyer dafür, verstärkt Texte in Studien zu Literatur und Religion einzubeziehen, die Produkt jener Verflechtungen und Beziehungsdynamiken sind, die Forscherinnen und Forscher aus einer postkolonialen Perspektive unter Schlagworten wie entangled history, histoire croisée und shared history diskutieren.11 Wie von Thomas Tweed in Crossing and Dwelling (2006) dargelegt, sind auch Religionen nicht statisch-konsistente Einheiten. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um flexible Traditionskomplexe, die sich in „Zusammenströmungen“ (confluences) von historischen, soziokulturellen und persönlichen flows (im Sinne des Begriffs, wie ihn u. a. der Kulturanthropologe Ulf Hannerz populär gemacht hat12 ) beständig neu konstituieren.13 Religionen – Tweed betont in seiner

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Transkulturalität wird hier und im Folgenden als dynamischer Prozess verstanden, der nicht nur in eine Richtung (gleichsam als Einbahnstraße zwischen zwei Polen), sondern in reziproken Beziehungsdynamiken multidirektional verläuft. Vgl. zur Thematik z. B. auch Klaus Hock: Religion als transkulturelles Phänomen. Implikationen eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas für die Religionsforschung. In: Berliner Theologische Zeitschrift 19/1 (2002), 66–82; Andreas Grünschloß: Synkretismus, Translation, Hybridisierung & Co. Eine kritische Durchsicht begrifflicher Alternativen zur Erfassung interreligiöser und inter-/transkultureller Beziehungsdynamiken. In: Claudia Rammelt/Cornelia Schlarb/Egbert Schlarb (Hg.): Begegnungen in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge dialogischer Existenz. Festgabe zum 60. Geburtstag von Martin Tamcke. Berlin 2015, 339–356. 10 Daher auch sind im Folgenden, wo ich mich auf Texte beziehe, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum stammen, aber ins Deutsche gebracht wurden und so ihre Wirkung bei einem deutschsprachigen Publikum zu entfalten vermögen, die deutschen Übersetzungen in den bibliographischen Angaben der Fußnoten angegeben und originalsprachliche Textausgaben nur genannt, wenn aus ihnen zitiert wird. Der Haupttext führt die Originaltitel. 11 Vgl. z. B. Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780– 1914. Frankfurt a.M. 2006 (engl. 2004); und Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. Zum Konzept der „geteilten Geschichte“ siehe z. B. Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies./Regina Römhild (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften [2002]. Frankfurt a.M./New York 2 2013, 32–70. 12 Gemeint sind mit dieser Verwendung des Flow-Begriffs vor allem Kapital-, Waren- und Rohstoffströme, aber auch Migranten- und Touristenströme oder Informations- und Kommunikationsströme, die Gegenwartsgesellschaften durchkreuzen; es werden mit ihm aber auch grenzüberschreitende flows früherer Jahrhunderte z. B. in Gestalt von Auswanderungen oder Handelswegen bezeichnet. Vgl. Ulf Hannerz: Flows, Boundaries and Hybrids: Keywords in Transnational Anthropology. In: Ali Rogers (Hg.): Transnational Communities. Online Working Paper Series, Institute of Social and Cultural Anthropology (ISCA), University of Oxford, WPTC-2K-02, http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/hannerz.pdf (18.2.2018); auf Portugiesisch in: Mana (Rio de Janeiro) 3/1 (1997), 7–39. 13 Siehe Thomas A. Tweed: Crossing and Dwelling. A Theory of Religion. Cambridge, Mass./London 2006, insbes. 54–79.

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Theorie den Plural – bilden nicht in sich abgrenzbare monolithische Blöcke, sondern „translokale“ Bedeutungs- und Praxiszusammenhänge, die sich in Austauschprozessen regionaler und überregionaler Art kontinuierlich neu formieren. Das gilt z. B. für den Buddhismus ebenso wie für das Christentum und seine globalen Entfaltungen. Vor diesem Hintergrund und der Einsicht, dass sich Religionen permanent aufeinander beziehen und verschiedene transkulturelle Verhältnisse miteinander eingehen, erweist sich jede Prognose des „Endes der Religion“ und jede Diagnose ihrer „Wiederkehr“ als hinfällig. Stattdessen ist es dringend geboten, dem Wandel von Religion in unseren religionspluralistisch verfassten Gesellschaften der Gegenwart nachzugehen und Religionen in ihren Wechselwirkungen mit anderen Religionen und Kulturbereichen wie etwa den Literaturen – um auch hier den Plural zu verwenden – in den Blick zu nehmen. Bilden doch Literaturen Religionen, ihren Wandel und die Austauschprozesse, in denen sie sich, oft zumal jenseits von traditionalen Organisationsstrukturen, formieren, nicht nur ab – sie gestalten sie auch mit. Das geschieht auf viele verschiedene Weisen und mit zahlreichen Besonderheiten. Eine häufig anzutreffende Eigenheit rezenter populärer Erzählliteratur z. B., die dazu einlädt, das Erzählte in die eigene Lebenssituation zu übertragen, ist es, dass sie unter Verbindung rein fiktiver Elemente mit Referenzen auf historische und soziale Realität religiöse Geltungsansprüche in den Lebensgeschichten der Protagonisten aufgehen lässt und den Lesern hierbei Anknüpfungspunkte für eigene Erfahrungen bietet, durch die das Erzählte individualisiert, mit Leben gefüllt und so zu eigen gemacht werden kann. Bednarz’ „frei erfundener Tatsachenroman“14 teilt diese Eigenheit und Möglichkeit der Erzählliteratur. Dabei ist der Text in der Art und Weise, wie er Religion und Individualität unter Verwendung der Sehnsuchtsformel „Erleuchtung“ in eine dynamische Beziehung bringt, beispielhaft für die in der Gegenwart verstärkt beobachtbaren Interrelationen von Literatur und modernem Buddhismus, die von Säkularisierungs-, aber auch und zumal Individualisierungsprozessen im Umgang mit Religionen zeugen.15

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So der Kommentar von Paul-Josef Raue: Sommer-Lektüre 1: Der Redakteur, der zum Mönch werden will (24.7.2017), https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/138187-sommer-lektuere-1der-redakteur-der-zum-moench-werden-will.html (18.2.2018). 15 Seit einigen Jahrzehnten wird eine kontroverse Debatte darüber geführt, ob sich die religiöse Gegenwartskultur Europas durch Säkularisierung oder Individualisierung auszeichne. Für einschlägige Positionen siehe z. B. Karl Gabriel (Hg.): Religiöse Individualisierung oder Säkularisierungsthese. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität. Gütersloh 1996; Detlev Pollack/Gert Pickel: Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Soziologie 28/6 (1999), 465–483; Annette Wilke: Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21/1 (2013), 29–76.

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II Kein „Ende der Religion“: Suche nach Sinn und Heil und die Wendung nach Asien Wenn ich daher dafür argumentiere, Erzählungen wie Schwer erleuchtet – und jeweilige zeitgenössische Einstellungen zu „Religion“, an denen solche Erzählungen partizipieren – verstärkt in Studien zu Wechselbeziehungen von Religionen und Literaturen der sog. westlichen Welt einzubeziehen, so plädiere ich dafür, den Fokus dieser Studien in zweifacher Hinsicht weit zu halten. Zum einen gilt es, den Bezugsrahmen über traditionelle organisierte Religionen der europäischen Religionsgeschichte, wie z. B. Judentum und Christentum, hinaus auszudehnen. Der Roman von Bednarz – mit seiner geplanten Kino-Verfilmung16 anschauliches Beispiel für die Interrelationen von Religionen und massenwirksamen Literaturen – ist repräsentativ für eine große Menge an populärer Erzählliteratur der Gegenwart, die Alternativen zu etablierten institutionalisierten Religionen stark macht oder zumindest thematisiert. Als Reflex auf die individuelle Suche des modernen Menschen nach Sinn und Heil setzt sie sich bevorzugt mit Antworten auseinander, die Diskurse und/oder Traditionen, die sie als nicht hegemonial wahrnimmt, auf Fragen zu Kontingenzen des Lebens bieten. Dabei gehört zu ihren Hauptmerkmalen die nicht affirmative Teilhabe an einem herkömmlichen Religionsbegriff, der sich an offizieller, institutionalisierter Religion orientiert und dessen grundlegende Referenz auf einen monotheistisch gedachten „Gott“ sich aus der Dominanz des Christentums in der europäischen Religionsgeschichte speist. Aus dieser Partizipation heraus wendet sie sich – darin Intellektuellen schon des 19. Jahrhunderts folgend, die ihren Blick gen Osten wandten, um so neue Antworten auf die Fragen nach Sinn und Heil zu gewinnen – bevorzugt Asien zu und verknüpft dort vorfindliche Traditionen mit modernen esoterischen Diskursen der europäischen Religionsgeschichte und/oder holistischen Sichtweisen der sog. NewAge-Bewegung.17 Der Terminus „Erleuchtung“ zur Bezeichnung für Einsicht in die letzte Realität der Dinge und deren existentielle Dimension, für das Aufgehen von Lebenssinn, lebensumgestaltende Offenbarung und Konversion, für Gipfelerlebnisse auf dem Heilsweg oder „die Erlangung des Heils im Hier und Jetzt“18 fungiert hierbei als wichtiger Referenzbegriff. Scheint er doch als überkonfessionelle, trans16

Vgl. zur geplanten Verfilmung die Angaben auf der Internet-Verlagsseite zum Buch: Verlagsgruppe Droemer Knaur: Dieter Bednarz, Schwer erleuchtet, https://www.droemer-knaur.de/buch/ 9255195/schwer-erleuchtet (18.2.2018). 17 Zur kontroversen Debatte um die Begriffe „New Age“ und „New-Age-Bewegung“ sowie ihre Bedeutungsnuancen vgl. z. B. Christoph Bochinger: New Age und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen. Gütersloh 1994; Wouter J. Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought. Albany, New York 1998; Dominic Corrywright: Theoretical and Empirical Investigations into New Age Spiritualities. Oxford u. a. 2003; Christoph Bochinger/Karl R. Essmann/Medard Kehl: New Age. In: Johannes Sinabell/Harald Baer/Hans Gasper/Joachim Müller (Hg.): Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Freiburg i.Br. 2005, 892–901; Daren Kemp/James R. Lewis (Hg.): Handbook of New Age. Leiden 2007. 18 Annette Wilke: Erleuchtung. In: Christoph Auffarth/Hans G. Kippenberg/Axel Michaels (Hg.): Wörterbuch der Religionen. Stuttgart 2006, 130–131, hier 131.

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kulturelle Kategorie, zu der er im Zuge der Pluralisierung der Religionskulturen seit dem 18. Jahrhundert geworden ist – hierum geht es weiter unten19 –, an keine Institution, keinen Kanon und keine Autorität gebunden. Beispiele für diese Entwicklung bietet der internationale Buchmarkt in großer Fülle. Zu den bekanntesten gehört der wohl berühmteste Bestseller der Selbstfindungsliteratur des beginnenden 21. Jahrhunderts: Eat, Pray, Love. One Woman’s Search for Everything (2006) der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Gilbert (geb. 1969), deren Reise durch Italien, Indien und Bali zu sich selbst 2010 mit Julia Roberts in der Hauptrolle der 32-jährigen Liz filmisch adaptiert wurde.20 Die Erzählung wendet sich wiederholt der Erleuchtungsthematik zu, vor allem in den Passagen über Liz’ Aufenthalt in einem indischen Ashram, die von der Notwendigkeit handeln, sich auf dem „Pfad der Erleuchtung“21 von einem religiösen Spezialisten anleiten zu lassen, und wirft dabei nicht zuletzt Seitenblicke auf die „Erleuchtung des Buddha“.22 In über dreißig Sprachen übersetzt, fand sie international großen Anklang und wurde in ihrer filmischen Version ein gewaltiger Box-Office-Erfolg – und nicht nur dies. Sie löste ganze Tourismusströme nach Indien und Indonesien aus, insbesondere nach Bali, wo die Reisenden hoff(t)en, „Balance zwischen innerem und äußerem Glück“23 zu finden24 – ein Tatbestand, der zeigt, wie ernst das Angebot solcher Literatur genommen wird, das Erzählte in die eigene Lebenssituation zu übertragen. Zudem trug ihr Erfolg dazu bei, dass sich seither zahlreiche Titel autobiographisch fundierter Selbstfindungsliteratur auf den Buchmarkt drängen, darunter Yoga Memoirs wie Enlightenment for Idiots: A Novel (2008) und Yoga Bitch: One Woman’s Quest to Conquer Skepticism, Cynicism, and Cigarettes on the Path to Enlightenment (2011)25 – Erzählungen, die dem zeitgenössischen Kontext des globalen Yoga entstammen und in ähnlicher Weise wie Gilbert Sinnsuche und Lebensentwürfe thematisieren. Erzählungen im Stil der Reise- und Liebesromanze Gilberts stehen Texte gegenüber, die ebenfalls von der Suche nach einem gelingenden Leben erzählen und den Leserinnen und Lesern subjektive Beteiligungsmöglichkeiten über den Transfer auf die jeweils eigene Lebenswirklichkeit anbieten, aber sehr viel kritischere Töne anschlagen – wie On The Edge (1998) von Edward St Aubyn (geb. 1960) und 19

Für eine eingehendere Darstellung dieser Zusammenhänge siehe auch Almut-Barbara Renger: Erleuchtung. Kultur- und Religionsgeschichte eines Begriffs. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Erleuchtung. Kultur- und Religionsgeschichte eines Begriffs. Freiburg i.Br. u. a. 2016, 9–46. 20 Elizabeth Gilbert: Eat, Pray, Love. Eine Frau auf der Suche nach allem quer durch Italien, Indien und Indonesien [2006]. Berlin 6 2015 (engl. 2006). 21 Ebd., 183. 22 Ebd., 229. 23 Ebd., Klappentext vorne innen. 24 Siehe zum Eat, Pray, Love-Tourismus auf Bali z. B. Adrian Vickers: Bali. A Paradise Created. North Clarendon, Vermont 2 2012, 306 f. Bei dem Buch handelt es sich um eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung der Erstausgabe, die 1989, also vor Gilberts Roman und seiner Verfilmung, erschien; vgl. auch ebd., 10–12 („Preface to the Second Edition“). 25 Anne Cushman: Ich, mein Karma und Er. Roman. München 2010 (engl. 2008); Suzanne Morrison: Bin ich schon erleuchtet? Jung, skeptisch, kaffeesüchtig und auf der Suche nach dem Yoga-Glück. Frankfurt a.M. 2013 (engl. 2011).

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Triffst du Buddha, töte ihn! (2010) von Andreas Altmann (geb. 1949).26 Die Erzählung des britischen Journalisten und Roman-Autors St Aubyn führt verschiedene Figuren auf ihrer Sinnsuche im Vor- und Umfeld eines „Workshop[s] für tantrische Sexualität“27 im kalifornischen Esalen-Institut zusammen, das als eine der Geburtsstätten der New-Age-Bewegung gilt und über die Verbindung von „Techniken des Ostens“ mit der „Psychologie des Westens“ Erleuchtung in luxuriösem Stil verheißt. Dabei zeigt der Text, wie seine in Selbstbezogenheit gefangenen Figuren an ihren Leben leiden und in anhaltende Sinnkrisen verstrickt sind. Zugleich legt er „Scharlatanerie“28 und Profitdenken selbsterklärter „spiritueller Lehrer“29 bloß, die aus der Sinnsuche des Menschen unter Funktionalisierung buddhistischer und anderer religiöser Texte und Praktiken Asiens Kapital schlagen. Eine Tourismuswelle ins Esalen-Institut von Big Sur dürfte St Aubyns Roman nicht ausgelöst haben, auch nicht die, bei aller Spöttelei, versöhnliche Schilderung mehrerer Gipfelerlebnisse im Maslow’schen Sinne, die sein Protagonist Peter im Angesicht des Pazifiks hat. Das Setting des „Selbstversuchs“ von Altmann bildet das Dhamma Chakka Vipassana Center des berühmten Vipassana-Lehrers Satya Narayan Goenka (1924– 2013) in Nordindien. Dort nimmt der deutsche Reporter und Reiseschriftsteller nach einer Reise „zu jenen vier Orten, die jedem Buddhisten nah sind“30 – Lumbini (Geburt Shakyamunis), Bodghaya („Erleuchtung“), Sarnath (erste Lehrrede), Kushinagar (Tod) –, an einem zehntägigen Meditationskurs teil. Altmann entschließt sich zu dem Kurs angesichts der von ihm diagnostizierten Sinnentleertheit unserer Gesellschaft, die dringend „Hilfe“31 benötige, und des Verlustes der eigenen „Menschenfreundlichkeit“,32 in der Hoffnung, „die Hornhaut abzutragen, die das Herz zu ersticken droht“, und so einen „(aberwitzig bescheidenen) Beitrag gegen den Irrsinn der Zeiten“ zu leisten.33 Auf Reflexionen anlässlich seines Besuchs der buddhistischen Pilgerstätten folgt die Schilderung seiner Erfahrung des schweigenden Sitzens über jeweils zehn Stunden an zehn Tagen. Insbesondere beschreibt er die während des Sitzens auftretenden Gefühle und Assoziationen, „den Seelenschlamm, den das stille Sitzen nach oben [befördert]“.34 Altmann spricht sich dabei wiederholt gegen alle „Religionen“ mit ihrem „klerikalen Lichtertalg“, „prophetische[n] Geraune“ und „inbrünstigen Glaubensschmalz“35 aus, die den Menschen von konsequent gelebter Selbstverantwortung abhielten, und gibt am Ende, aus diesem Grund, nicht nur dem Wort „Erleuchtung“, sondern auch dem Buddha selbst den Abschied. Nach Hause zurückgekehrt, verschenkt er seine fünf Buddha26

Edward St Aubyn: Am Abgrund. Roman. München 2013 (engl. 1998); Andreas Altmann: Triffst du Buddha, töte ihn! Ein Selbstversuch. Köln 2010. 27 St Aubyn, Am Abgrund (Anm. 26), 114. 28 Ebd., 282. 29 Ebd., 10. 30 Altmann, Triffst du Buddha (Anm. 26), 24. 31 Ebd., 8. 32 Ebd., 37. 33 Ebd. 34 Ebd., 105. 35 Ebd., 27.

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Statuen. Meint er doch, durch seine Erfahrung in Indien nicht nur zu einem höheren „Freundlichkeitsquotient[en]“, einer weiteren „Achtsamkeitsspanne“, „Lässigkeit im Umgang mit der Welt“ und einer erhöhten „Lebenstemperatur“ gefunden zu haben,36 sondern auch und vor allem zu jener „geistigen Unabhängigkeit“, die der Buddha selbst forderte: Jetzt hatte ich dank Buddha genug vom Buddhismus. Als ob eine, nur eine, Lehre ausreichen würde, um mit der aberwitzigen Vielfalt des Lebens, der Welt, der Weltgeheimnisse fertig zu werden. Ich will wieder zu jenen zurückkehren, die ich schon immer für ausgesprochen attraktiv hielt: zu den Fassungslosen, den haltlos Überwältigten.37

Vor dem Hintergrund der Zunahme populärer Erzählliteratur der umrissenen Art, die expressiv und formativ auf die religiöse Gegenwartskultur vor allem jenseits institutionalisierter monotheistischer Traditionen bezogen ist, erscheint es mir – damit komme ich zum zweiten Punkt meines Plädoyers – angeraten, in Studien zum Verhältnis von Religion und Literatur keinesfalls nur kanonisch gewordene literarische Texte aus den traditionellen Großbereichen Epik, Lyrik und Dramatik einzubeziehen. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch und verstärkt Werke der Unterhaltungs- und Schemaliteratur sowie (nicht- und semifiktionale) Texte aus den Bereichen Tagebuch und Autobiographie, die nicht primär verfasst sind, um einer dezidiert elaborierten Gattungspoetik zu folgen oder z. B. ob sprachlicher Schönheit gewürdigt zu werden. Zumal die Sichtung größerer Korpora an Texten, deren Bezüge auf und Darstellungen des Buddhismus zur kulturellen Wahrnehmung und Formierung des modernen Buddhismus im euroamerikanischen Raum beitragen, gibt dieses Forschungsdesiderat deutlich zu erkennen. Viele populäre Erzählungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, die den Buddhismus belehnen oder Erfahrungen mit ihm thematisieren, sind nicht zuvörderst darauf angelegt, die Aufmerksamkeit der Leser auf die Gestalt und den Aufbau des Textes zu lenken und durch einen Poesiecharakter zu bestechen, der sich an sprachlichen, syntaktischen, lexematischen und stilistischen Konventionen, die für Literarizität stehen, orientiert. Auch geht es ihnen nicht etwa um die detaillierte Aufbereitung buddhistischer Grundlagentexte wie der Lehrreden des Buddha und anderer Schriften des Pali-Kanons bzw. Dreikorbs (Sanskrit: tripitaka; Pali: tipit.aka), die sich ohne intensive Beschäftigung nicht ohne Weiteres erschließen. Es ist vielmehr in erster Linie hohe Lesbarkeit und Aufnahme in der Breite der Gesellschaft, worauf sie zielen. Zu diesem Zweck setzen die Texte auf Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit, durch die der Zugang zur erzählten Welt leicht gemacht werden soll, sowie auf Heiterkeit und Kurzweiligkeit des Erzählten, in der Regel, wie es Eat, Pray, Love erfolggekrönt vorführt, durch vergnüglich sinnliche Ansprache des Lesers. So setzt die deutsche Ausgabe von The Buddha, Geoff and Me (2005) des britischen Drehbuchund Roman-Autors Edward Canfor-Dumas (geb. 1957) auf den Frontdeckel den 36 37

Ebd., 249. Ebd., 253.

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Ausruf: „Nie war Buddhismus so amüsant!“38 Der Rückdeckel der deutschen Übersetzung von Teach Us to Sit Still. A Skeptic’s Search for Health and Healing (2010) des in Italien lebenden britischen Schriftstellers Tim Parks (geb. 1954) verspricht, es handele sich um ein „neue[s] Meisterwerk des Bestsellerautors [. . . ] mit ‚Happy End‘ – klug, weise und unglaublich unterhaltsam.“39 Und Parks Folge-Roman The Server (2012), der wie Teach Us to Sit Still ebenfalls von buddhistisch grundierten Meditationsrückzügen erzählt, lockt mit der Thematisierung von sinnlicher Lust und Erotik. Auf dem Rückdeckel der deutschen Ausgabe, die unter dem Titel des ersten Kapitels Sex is forbidden erschien, steht als Teaser in roten Großbuchstaben „Auf dem Weg zur Erleuchtung ist Sex verboten . . . “ Und ein Leserurteil weiter unten auf der Buchrückseite verkündet, gleichsam als Bildunterschrift unter dem Bildnis eines Buddhas in sitzender Meditationshaltung, die strenggläubige Buddhisten empören dürfte: „Hochspannend, intelligent, lustvoll.“40 In zugespitzter, verdichteter Form zum Tragen kommt diese Intention auf Unterhaltung in den Romanen Mieses Karma (2007) und Mieses Karma hoch 2 (2015) von David Safier (geb. 1966), die u. a. Elemente des Buddhismus verwenden.41 Ich erwähne sie hier vor allem deshalb, weil ihr Ziel in besonders offensichtlicher Weise Massenwirksamkeit ist. Die Vorderansicht der leuchtend gelb eingebundenen Bücher zeigt in Cartoon-Stil die Ameise, in die die Roman-Protagonistin infolge ihres Karmas nach ihrem Tod verwandelt wurde. Auf der Rückseite des Einbandes wird der Leser provokant gefragt „Wiedergeburt gefällig?“ (2007) bzw. mit „Die Wiedergeburt von Mieses Karma“ (2015)42 informiert, dass er eine Fortsetzung des Romans von 2007 in Händen hält. Wenn Schwer erleuchtet den potentiellen Leser ebenfalls mit einem leuchtend gelben Hingucker-Cover umwirbt, das auf der Vorderseite signalhaft popkulturell einen von einem Strahlenkranz umgebenen Mönch auf einem geflügelten Koffer zeigt und den Blurb auf der Rückseite mit „Wenn das Karma zweimal klingelt“43 überschreibt, ist dies eine bewusste Anspielung auf Safiers Romane, die zugleich anzeigt, dass hier ebenfalls eine Intention auf Massenwirksamkeit zugrunde liegt. Und wenn bereits die Filmrechte für Schwer erleuchtet verkauft sind, dann ist dies u. a. deshalb der Fall, weil massenwirksame Darstellungen von Erleuchtungssuche im deutschsprachigen Raum und international auch im Kino Erfolge feiern. Erinnert sei nur an das Roadmovie Erleuchtung garan38

tEdward Canfor-Dumas: Der Buddha, Geoff und ICH. Taufkirchen a.d. Vils 2010 (engl. 2005), vorderer Buchdeckel außen. 39 Tim Parks: Die Kunst stillzusitzen. Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung. München 2012 (engl. 2010), hinterer Buchdeckel außen. 40 Tim Parks: Sex ist verboten. Roman. München 2014 (engl. 2005), hinterer Buchdeckel außen (Kursivierung A.-B.R.). Das Bildnis im Stile des Großen Buddha von Kamakura in Japan, eine der bedeutendsten Darstellungen des Buddha Amitabha, nimmt das Motiv der Frontseite auf, wo die Figur in Händen ruht, die im Dhyana-Mudra, der Geste der Versenkung, zusammengelegt sind – also auch hier der Verweis auf das Thema Meditation. 41 David Safier: Mieses Karma. Roman. Berlin 2007; David Safier: Mieses Karma hoch 2. Roman. Reinbek bei Hamburg 2015. 42 Safier, Mieses Karma (Anm. 41), hinterer Buchdeckel außen; Safier, Mieses Karma hoch 2 (Anm. 41), hinterer Buchdeckel außen. 43 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), hinterer Buchdeckel außen.

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tiert (1999), das Doris Dörrie (geb. 1955) nach der Erzählungssammlung Samsara (1996) etwa zeitgleich mit ihrem thematisch verwandten Roman Was machen wir jetzt? (1999) vorlegte.44 Unter Überblendung von Stereotypen und Klischees der japanischen, amerikanischen und europäischen Kultur lässt die Regisseurin darin die Brüder Uwe (Uwe Ochsenknecht) und Gustav (Gustav-Peter Wöhler) auf der Suche nach Erleuchtung im buddhistischen S¯oji-ji-Tempel in Japan meditieren – und, bei aller Ironie, mit der die Suche dargestellt wird, jeweils zu sich finden.

III Gottes Licht und Licht der Ratio: Unter dem Eindruck von „biblischer Schreibart“ und Aufklärung Die Genealogie der Konjunktur des Erleuchtungsbegriffs ist komplex und reicht mit vielen kultur- und religionsgeschichtlichen Verläufen und Verflechtungen bis in die frühe Moderne zurück, von wo aus Spuren durchs Mittelalter ins Altertum weisen. Beginnen wir, um Prozesse, die dem umrissenen Trend zur Darstellung von Erleuchtungssuche in der Erzählliteratur den Weg geebnet haben, an ausgewählten Stationen nachzuvollziehen, mit einem Blick zurück – zu den Wurzeln des objektsprachlichen Gebrauchs des Erleuchtungsbegriffs in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte. Das Lexem „Erleuchten“, das in Worten wie „erleuchten“, „Erleuchter“ oder „Erleuchtung“ realisiert wird, ist seit dem Mittelalter Bestandteil des deutschen Wortschatzes. Es hat sich aus ahd. arliuhtan bzw. irliuhtan und mhd. erliuhten, „erleuchten“, entwickelt.45 Im Englischen wird für die neuhochdeutsche Wortgruppe „erleuchten-Erleuchtung“ meist enlighten-enlightenment verwendet. Im Französischen sind illuminer-illumination und im Spanischen illuminar-iluminación vom Lateinischen illuminare-illuminatio geläufig. Die altgriechische Entsprechung ist ph¯otizein-ph¯otismos von ph¯os („Licht“). Sie findet sich seit Platon (428/427–348/347 v. Chr.) in erkenntnistheoretisch-philosophischen Texten der griechisch-römischen Antike, etwa bei Plotin (204/205–270) und im Platonismus, aber auch in zahlreichen anderen Traditionen, in denen der Zusammenhang von Licht, Sehen und Erkennen zentralen Stellenwert hat – nicht erst in der christlichen Mystik, sondern schon in den sog. paganen Mysterienkulten, aber auch in Gnosis und Hermetik.46 Insofern ist der Erleuchtungsbegriff, wie er sich sukzessive herausgebildet hat, fest in der europäischen Antike verwurzelt. 44

Doris Dörrie: Samsara. Zürich 1996; Doris Dörrie: Was machen wir jetzt? Roman. Zürich 1999; Doris Dörrie (Regie): Erleuchtung garantiert. Deutschland 1999, 109 Minuten. 45 Siehe auch Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: erleuchten. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862, 903–904. 46 Vgl. hierzu z. B. die Übersichtsartikel: Léon Veuthey/Eulogio de la Virgen del Carmen: Illumination. In: André Rayez/André Derville/Aimé Solignac (Hg.): Dictionnaire de spiritualité ascetique et mystique. Doctrine et histoire. Bd. 7/2. Paris 1971, 1330–1367; Werner Beierwaltes: Erleuchtung. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt 1972, 712–717; Falk Wagner: Erleuchtung. In: (In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz u. a.) Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 10. Berlin/New

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Aufschluss über Semantik und Anwendungsbereiche des Lexems im deutschsprachigen Raum seit dem Mittelalter erteilt das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1793–1801), das erste und seinerzeit maßgebliche wissenschaftliche Wörterbuch der deutschen Sprache von Johann Christoph Adelung (1732–1806), einem Vertreter der rationalistischen Dimension der Aufklärung. Im ersten Band aus dem Jahr 1793 unterscheidet das Wörterbuch im Lemma „Erleuchten“ eine „eigentliche“, d. h. unverschobene, und eine „figürliche“, d. h. übertragene Bedeutung des verbum regulare activum.47 Für Erstere gibt es Beispielsätze wie „Die Sonne erleuchtet den Mond“ und die Hinzufügung: „In engerer Bedeutung, mit vielen Lichtern oder Lampen helle machen, illuminiren.“ Zur figürlichen Bedeutung im Sinne von „mit Einsicht begaben“ erklärt es: „In diesem Verstande ist außer der Theologie nur das Mittelwort erleuchtet üblich“, und gibt als Beispiele: „Ein erleuchteter Mann, ein erleuchteter Verstand, der viele und tiefe Einsichten besitzet.“ Den übrigen Teil des Lemmas widmet der Lexikograph – darin der Verortung des Begriffs im Christentum folgend, wie sie den maßgeblichen Eintrag in Zedlers Universal-Lexicon von 1734 bestimmt48 – dem Lexemgebrauch zur Bezeichnung der „Verleihung übernatürlicher Einsichten“ in „der Theologie und der biblischen Schreibart“. Als Belegstellen dienen Zitate aus dem Brief des Paulus an die Epheser und aus dem Hebräer-Brief in Luthers deutscher Übersetzung: „Gott erleuchtet die Menschen. Christus wird dich erleuchten, Ephes. 5, 14. Die einmahl erleuchtet sind, Ebr. 6, 4.“ Zudem werden althochdeutsche Verwendungen von „erleuchten“ im Sinne von „licht machen“, „Helligkeit schaffen“ angeführt, mit denen eine „durch den Geist Gottes gewirkte Überzeugung von übernatürlichen Wahrheiten“ zum Ausdruck gebracht wird. Verdeutlicht wird so, neben der longue durée des Lexemgebrauchs im deutschsprachigen Raum, die Übernahme aus älteren Kontexten. Diese unterstreicht, mit zahlreichen Belegstellen aus der christlichen Bibel, auch das Lemma „Erleuchten“ im dritten Band des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), der 1862 erscheint. Zitate aus dem Alten Testament (u. a. Hiob 33,30 und Jesus Sirach 51,27) geben dabei den Eingang der hebräischen Anschauung des Lichts als Symbol für Leben und Heil in christliche Kontexte zu erkennen.49 Zugleich verweist das Lemma auf die Indienstnahme

York 1982, 164–174; Karl Matthäus Woschitz: Erleuchtung als philosophische und theologische Metapher. In: Ders./Maximilian Liebmann/Erich Renhart (Hg.): Metamorphosen des Eingedenkens. Gedenkschrift der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz 1945–1995. Graz/Wien/Köln 1995, 141–172; Hubert Mohr: Licht/Erleuchtung. In: Christoph Auffarth/Jutta Bernard/Hubert Mohr (Hg.): Metzler-Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 1999, 332–336, insbes. 335 f. 47 Johann Christoph Adelung: Erleuchten. In: Ders.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Erster Theil, von A–E. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Wien 1793, 1917. 48 Vgl. Johann Heinrich Zedler: Erleuchten. In: Ders.: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 8. Halle/Leipzig 1734, 1691–1692. 49 Vgl. Grimm/Grimm, erleuchten (Anm. 45), 904.

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der Lichtmetaphorik durch die Aufklärung und ihren Rationalismus, indem es unter mehreren Zitaten von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) u. a. eine Zeile aus Der Triumph der Empfindsamkeit (1777) anführt: „das ist eine erfindung oder vielmehr eine wiederauffindung, die unsern erleuchteten (aufgeklärten) zeiten aufbehalten war.“50 Dieser Verweis im Jahre 1862, in dem die Lexeme „Erleuchten“ und „Aufklären“ als synonym geführt werden, überrascht nicht. Steht doch das 19. Jahrhundert noch ganz unter dem Eindruck der Aufklärung, deren epochengeschichtliche Namen (engl.) enlightenment, (frz.) siècle éclairé bzw. siècle des lumières, (it.) illuminismo, (span.) siglo de las luces vom Anspruch künden, das Licht der Ratio sei Ort wie Instrument der Durchdringung und Überwindung bloßer Einbildungen. Der lexikalische Exkurs ließe sich erheblich ergänzen, doch sollen die angeführten Aspekte und Beispiele genügen, um die damalige semantische Aufladung des Erleuchtungsbegriffs, wie er sich herausgebildet hatte, zu veranschaulichen. Sie ist es, mit der er im 19. Jahrhundert von Europa und dem Christentum auf den Buddhismus nach Asien transferiert wird und im 20. Jahrhundert (in großer Nähe zum Begriff der Mystik und ähnlich dem der Meditation51 ) eine Ausweitung zu einer transkulturellen Kategorie weit über europäische Grenzen hinaus erfährt. Ergebnis ist, dass sich heute, im 21. Jahrhundert, die Rede von „Erleuchtung“ als Heilszustand im Zusammenhang mit so disparaten Traditionen wie Kabbala und Sufismus, Yoga und Tantra, Pali- und Mahayana-Buddhismus, Vajrayana und Daoismus habitualisiert hat.52 Die erste und die vierte Auflage des Handwörterbuchs Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) zeigen diese Entwicklung sehr anschaulich. 1910, in der RGG 1, ist der Begriff in näherer Qualifizierung als „Erleuchtung, innere“ noch ganz im christlichen Bereich angesiedelt.53 Das entsprechende RGG 4-Lemma von 1999 demgegenüber behandelt „Erleuchtung“ konfessionsübergreifend als einen Begriff, in dem das Universelle und das Partikulare einander durchdringen54 – als eine universelle „heilsrelevante Erkenntnis in

50

Ebd., 904. Siehe zum synonymen Gebrauch von „Erleuchtung“ und „Aufklärung“ zur damaligen Zeit auch Friedrich Ludwig Karl Weigand: 631. Erleuchtung. Aufklärung. In: Ders.: Wörterbuch der deutschen Synonymen. Bd. 1. Mainz 1843, 387. 51 Vgl. hierzu z. B. Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚The Mystic East‘. London 1999, 7–34, 161–186; Karl Baier: Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien. Bd. 2. Würzburg 2009. 52 Vgl. hierzu näher Renger, Erleuchtung (Anm. 19). 53 Arnold Meyer: Erleuchtung, innere. In: Friedrich Michael Schiele/Leopold Zscharnack (Hg.) unter Mitwirkung von Hermann Gunkel und Otto Scheel: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung (RGG 1). Bd. 2. Tübingen 1910, 469–473, hier 473. 54 Vgl. Christoph Elsas/Markus Mühling-Schlapkohl/Manfred Marquardt/Heinz Mürmel: Erleuchtung. In: Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage (RGG 4). Bd. 2. Tübingen 1999, 1429–1432.

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unaussprechlicher plötzlicher existentieller Erfahrung“.55 Als partikulare Beispiele angeführt werden der theosophische Sufismus des 12. Jahrhunderts und das Dictum Avicennas (um 980–1037), der „Orient“ sei der „Ort der Erleuchtung“, der „Okzident“ eine „Welt der Finsternis“,56 zudem Traditionen wie Daoismus, Chan- und Vajrayana-Buddhismus. Ein eigenes Unterkapitel zum Buddhismus, in dem skrt. bodhi mit „wörtl. ‚erlösende Erkenntnis; Erwachung, Erleuchtung‘“ übersetzt wird, schließt den Artikel ab.57

IV „Buddha, the Enlightened“: Im Wirkungsfeld transkultureller Austauschprozesse der Kolonialzeit Begünstigt, ja maßgeblich bewirkt hat diese Entwicklung der Austausch und Fluss kultureller und religiöser Ideen, Institutionen und Praktiken in der Kolonialzeit, die von Prozessen wechselseitiger Faszination, Abgrenzung und Übernahme von Vorstellungen und Handlungsformen Europas und Asiens geprägt war. Kanäle und Träger waren akademische Forschungen europäischer Regierungsbeamter, die in die asiatischen Kolonien versetzt wurden, die Ankunft asiatischer Immigranten und Wortführer religiöser Traditionen in Europa und Amerika sowie die kreative Auseinandersetzung westlicher Philosophen und Literaten mit Asien, die durch die Institutionalisierung asienspezifischer Spezialisierungen in Europa ermöglicht wurde. Mit der Einrichtung von Professuren wie 1818 der von August Wilhelm Schlegel (1767–1845) für Indologie in Bonn und 1832 der von Horace H. Wilson (1786–1860) für Sanskrit in Oxford ging – unter wachsender Neigung zu Religionstransfer und -vergleich58 – ein zunehmendes Interesse an asiatischen Quellentexten einher, das zu umfassend angelegter Editions- und Übersetzungsarbeit in den späten 1890er Jahren führte. Dabei traten zu epochemachenden Einzelpublikationen – wie etwa den Sechzig Upanishads des Veda (1897) von Paul Deussen (1845–1919)59 oder den Reden Gotamo Buddhos (1896–1902) von Karl Eugen Neumann (1865–1915)60 – großflächig organisierte Herausgeberaktivitäten. 1881 gründete Thomas William Rhys Davids (1843–1922) die Pali Text Society zum Zwecke der Edition und Übersetzung von Texten des buddhistischen Pali55

Christoph Elsas: Erleuchtung I. Religionswissenschaftlich. In: RGG 4. Bd. 2, 1429–1430, hier 1429. 56 Ebd., 1430. 57 Heinz Mürmel: Erleuchtung IV. Buddhismus. In: RGG 4. Bd. 2, 1432. 58 Vgl. hierzu – vor allem zur Rolle des Buddhismus im Rahmen des europäischen Religionsvergleichs – Jürgen Mohn: Der Buddhismus im Mahlstrom europäischen Religionsvergleichs: Religionswissenschaftliche Anmerkungen zur semantischen und normativen Konstruktion einer Fremdreligion im Kontext philosophischer und religiöser Religionstheorien. In: Christian Hackbarth-Johnson/Eva-Maria Glasbrenner (Hg.): Einheit der Wirklichkeiten. Festschrift für Michael von Brück zum 60. Geburtstag. München 2009, 376–404. 59 Paul Deussen: Sechzig Upanishad’s des Veda. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen. Leipzig 1897. 60 Karl Eugen Neumann: Die Reden Gotamo Buddho’s. Aus der mittleren Sammlung Majjhimanik¯ayo des P¯ali-Kanons zum ersten Mal übersetzt. 3 Bde. Leipzig 1896–1902.

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Kanons. Und auch die Sacred Books of the East (1879–1910) gehören hierher, eine von dem Sprach- und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller (1823–1900) initiierte fünfzigbändige Buchreihe mit englischen Übersetzungen von Texten aus Hinduismus, Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus, Zoroastrismus, Jainismus und Islam.61 Diese Entfaltung von akademischer Herausgebertätigkeit und Übersetzungen ist in der Diskussion der Pluralisierung der Religionskulturen seit dem 18. Jahrhundert wohlbekannt und ein Gemeinplatz in dem von Edward Said (1935–2003) angestoßenen Orientalismusdiskurs.62 Ich beziehe mich hier auf sie, da es ihr Wirkungsfeld war, in dem der Erleuchtungsbegriff gemeinsam mit dem modernen europäischen Religionsbegriff und vielen weiteren europäischen Termini Anwendung auf (als solche konstruierte) asiatische „Religionen“ fand;63 und in dem er Prozesse der Kommodifizierung und Vermarktung durchlief, die Orientalismen wie das Phantasiegebilde eines von Erleuchtungsweisheit durchdrungenen Asiens stützen. Bei der Erschließung buddhistischer Primärliteratur und der Abfassung entsprechender Sekundärliteratur im Rahmen der Entdeckung des Buddhismus durch den Westen wurden die Sanskritwörter bodhi und buddha (von der Wurzel budh, „erwachen“, „gewahr werden“, „erkennen“), obwohl ihnen eine Lichtmetaphorik sprachlich keineswegs inhärent ist, mit dem Lexem „Erleuchten“ (engl. enlighten, frz. illuminer) übersetzt.64 Dieser Gebrauch beschränkte sich zunächst auf den historischen Buddha, der mit dem Partizip Perfekt Passiv des verbum regulare activum in adjektivischer Verwendung als „erleuchtet“ bzw. in der substantivierten Form als „(der) Erleuchtete(r)“ bezeichnet wurde, erstreckte sich dann aber zunehmend auch auf weitere Zusammenhänge des Buddhismus, zumal in Werken, die Primär- und Sekundärliteratur der Forschung für eigene, an ein breites Publikum gerichtete Texte aufbereiteten. Ein Gang durch Werke des 19. Jahrhunderts – bis hin zum Gospel of Buddha (1894) des deutsch-amerikanischen Verlegers und Schriftstellers Paul Carus (1852–1919), das Buddhas Leben im Stil des Neuen Testaments anhand von Parabeln erzählt und dabei das Bild einer mit Aufklärung und Wissenschaft vereinbaren Lehre entwirft – macht diese Entwicklung transparent. Während Carus’ Text, 1895 61 F. Max Müller (Hg.): Sacred Books of the East. Translated by Various Oriental Scholars. 50 Bde. Oxford 1879–1910. 62 Zur Bedeutung der Indologie und der Entdeckung des Buddhismus innerhalb dieses Diskurses vgl. z. B. J[ohn] J[ames] Clarke: Oriental Enlightenment. The Encounter Between Asian and Western Thought. London/New York 1997, 71–92; King, Orientalism and Religion (Anm. 51), 143–160; Sheldon Pollock: Ex Oriente Nox: Indologie im nationalsozialistischen Staat. In: Conrad/Randeria/Römhild, Jenseits des Eurozentrismus (Anm. 11), 162–196. 63 Ausführlich hierzu Mohn, Der Buddhismus (Anm. 58), der eindrücklich darlegt, wie sich im 19. Jahrhundert die Kategorien „Religion“ und „Buddhismus“ im Prozess des Vergleichens wechselseitig konturierten und konstituierten. 64 Für entsprechende Stellen aus Sanskritliteratur der vedischen und späterer Epochen vgl. Otto Böhtlingk/Rudolph Roth: budh, bodhi. In: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Hg.): Sanskrit-Wörterbuch. Bd. 5. St. Petersburg 1868, 102–104 (budh), 126 (bodhi). Für die Bedeutung und etymologische Einordnung siehe Manfred Mayrhofer: BODH. In: Ders.: Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. Bd. 2. Heidelberg 1996, 233–235.

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auf Deutsch unter dem Titel Das Evangelium Buddhas (1895) erschienen, ein ganzes Kapitel enthält, das mit „Erleuchtung“65 („enlightenment“66 ) betitelt ist, und den Begriff auch ansonsten in großer Variationsdichte führt, wird von Erleuchtung noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher selten in Verbindung mit dem Buddha gesprochen. Eine der Ausnahmen innerhalb der Wissenschaft bildet ein Artikel des deutschen Orientalisten und Sinologen Karl Friedrich Neumann (1793–1870), der 1834 auf Französisch im Nouveau Journal Asiatique erschien, gefolgt von einem englischen Auszug daraus, den 1835 das Asiatic Journal and Monthly Register abdruckte. Darin wird die Bezeichnung „Bouddha“ bzw. „Buddha“ mit „l’illuminé“ bzw. „the [. . . ] ‚enlightened‘“ wiedergegeben und das Bild eines historischen Buddha vermittelt, der sich durch höchsten Wissensstand und Weisheit auszeichnete.67 Gut zwanzig Jahre später kehrt Neumanns Wortwahl bei Friedrich Max Müller wieder, nachdem sich dessen Sanskritlehrer Eugène Burnouf (1801–1852) in seiner einflussreichen Introduction à l’histoire du buddhisme indien (1844) für „l’éclairé“ bzw. „éclairé“ entschieden hatte.68 In einem vielbeachteten und mehrfach, teils in Auszügen, wiederabgedruckten Artikel Müllers zum buddhistischen Pilgerwesen von 1857 heißt es, Siddhartha Gautama habe den Namen „the Buddha, or the Enlightened“ für sich beansprucht, und zwar in dem Moment, als er alle Rituale und allen Aberglauben der Brahmanen sowie die Komplexität philosophischer Systeme zugunsten einer konzisen Heilslehre verworfen habe.69 Mit dieser Darstellung übernimmt Müller Burnoufs weitgehend entmythologisierendes Profil des historischen Buddha, das diesen als einen zwar außergewöhnlichen, aber letztlich doch menschlichen Lehrer und Philosophen präsentierte.70 Burnoufs und Müllers jeweils ausgeprägter Einfluss tun das Übrige. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ist in Darstellungen der Lehre und des Lebens Siddhartha Gautamas nun regelmäßig von „enlightenment“ die Rede, sei es, dass auf den Sanskritbegriff bodhi Bezug genommen wird, sei es, dass ein freierer Zusammenhang gegeben ist.71 65

Paul Carus: Das Evangelium Buddhas nach alten Quellen erzählt. Leipzig 1895, 40–45 („Erleuchtung“). 66 Paul Carus: The Gospel of Buddha According to Old Records [1894]. Chicago 6 1895, 30–34 („enlightenment“). 67 Karl Friedrich Neumann: Coup d’oeil historique sur les peuples et la littérature de l’Orient. In: Nouveau Journal Asiatique 14 (1834), 39–73, 81–114, hier 95; Karl Friedrich Neumann: Buddhism and Shamanism. In: Asiatic Journal and Monthly Register 16 (1835), 124–126, hier 124: „Shákya, having exhausted every species of science, received the name of Buddha, that is, the ‚sage‘ or ‚enlightened‘.“ 68 Eugène Burnouf: Introduction à l’histoire du buddhisme indien. Paris 1844, 70–72, 153, 296 f. 69 [Friedrich] Max Müller: Buddhism and Buddhist Pilgrims. A Review of M. Stanislas Julien’s „Voyages dèpelerins bouddhistes“. London 1857. Hier zitiert aus dem Wiederabdruck [Friedrich] Max Müller: Buddhist Pilgrims. In: Ders.: Chips from a German Workshop. Bd. 1. London 1867, 235–278, hier 246. 70 Vgl. zu Burnoufs entmythologisierender Darstellung und seiner Bedeutung für die BuddhismusForschung z. B. Oliver Freiberger/Christoph Kleine: Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung. Göttingen 2011, 12 f. 71 Vgl. hierzu auch Richard S. Cohen: Beyond Enlightenment. Buddhism, Religion, and Modernity. London/New York 2006, insbes. 3–7.

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Das hierfür prominenteste Beispiel aus der Dichtung ist das vielfach übersetzte epische Gedicht The Light of Asia (1879) des Journalisten und Dichters Edwin Arnold (1832–1904), das den historischen Buddha als „das Licht Asiens“ preist. Es erschien 1887 auf Deutsch unter dem Titel Die Leuchte Asiens und wurde 1926 durch Franz Osten (1876–1956) und Himansu Rai (1892–1940) filmisch adaptiert.72 In dem Gedicht wird zweimal rückblickend unter formelhaftem Gebrauch des Erleuchtungsbegriffs auf einen frühen Lebensabschnitt Siddhartha Gautamas Bezug genommen und zudem seine Rede nach der Buddha-Werdung als „alle erleuchtend“ („enlightening all“73 ) qualifiziert. Ein ebenfalls bekanntes Beispiel ist der gleichfalls vielübersetzte Buddhist Catechism (1881) des Juristen und ersten Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft Henry Steel Olcott (1832–1907). Der Text gibt gleich auf der ersten Seite zu verstehen, „Buddha“ bezeichne einen erleuchteten („enlightened“74 ) Zustand des Geistes – das, so die erste deutsche Fassung von 1887, sei die Bedeutung des Namens „Der Erleuchtete“.75 Das dann folgende Bild, das Olcott vom „Stifter“ des Buddhismus, seiner Lehre, Geschichte und Beziehung zur Wissenschaft malt, speist sich aus der Ansicht, der Pali-Kanon als „der wahre Kern“ des Buddhismus zeige, dass es sich bei diesem nicht um eine ritualgesättigte Religion mit einem Glauben an übermenschliche Mächte, sondern um eine rationale Erfahrungswissenschaft mit einem Praxisschwerpunkt auf Meditation handele. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass Überarbeitungen der ersten Katechismus-Ausgabe Olcotts eine Zunahme und Diversifizierung von Licht- und Erleuchtungsmetaphorik verzeichnen. Die 42. Auflage z. B., die 1908 vom Ministry of Cultural Affairs in Sri Lanka herausgegeben wurde, enthält nicht nur weitere entsprechende Bezüge auf den Namen „Buddha“76 und auf die Buddha-Werdung als „Große Erleuchtung“.77 Die Metaphorik wird vielmehr auch und darüber hinaus in sehr viel freierer Form in Anschlag gebracht – etwa um zu behaupten, rechte Meditation führe zu „spiritueller Erleuchtung“.78 Olcotts Katechismus ist für die Zusammenhänge, von denen der vorliegende Beitrag handelt, von besonderem Interesse auch deshalb, weil er auf das voraus-

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Edwin Arnold: Die Leuchte Asiens, oder Die grosse Entsagung (Mahabhinishkramana). Leipzig 1887; Franz Osten (Regie)/Himansu Rai: Die Leuchte Asiens/Prem Sanya. Indien/Deutschland 1925, 97 Minuten. 73 Zit. aus: Edwin Arnold: The Light of Asia, or The Great Renunciation [1879]. Chicago 1900, 177 („enlightening all“). Der Rückblick auf die Zeit vor der „Erleuchtung“ erfolgt ebd. mit der Formel „Lang’ danach, als die Erleuchtung war vollkommen“ bzw. „Lang’ danach, als über ihn Erleuchtung war gekommen“ („Long after – when enlightenment was full“, 33; „Long after – when enlightenment was come“, 43). 74 Henry S. Olcott: A Buddhist Catechism. According to the Canon of the Southern Church. London 1881, 1. 75 Henry S. Olcott: Ein buddhistischer Katechismus nach dem Kanon der Kirche des südlichen Indiens. Leipzig 1887, 19. 76 Henry S. Olcott: A Buddhist Catechism. Approved and Recommended for Use in Buddhist Schools by H. Sumangala. Colombo 42 1908, 3, 12, 22, 89 u. a. 77 Ebd., 38 („the Great Enlightenment“). 78 Ebd., 90 („spiritual enlightenment“).

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verweist, wovon für die Gegenwart der eingangs angesprochene Roman Schwer erleuchtet Zeugnis ablegt – den Austausch zwischen westlichen und asiatischen Akteuren, Gruppen und Räumen, der dazu führt, dass Religionen sich in transkulturellen Beziehungen auch zumal mit anderen Religionen bilden und neu formieren. Olcott steht für das Zusammenwirken westlicher und asiatischer Akteure bei der Konstituierung eines laienbetonten buddhistischen Modernismus protestantischer Prägung, der in der zweiten Hälfte der 1800er Jahre seine Anfänge in Sri Lanka nahm79 – also dort, von wo Bednarz’ Mönch im 21. Jahrhundert seine Reise nach Hamburg antritt, um, so die Darstellung des Romans, „Westler“,80 nicht zuletzt über die Praxis der Meditation, auf einen besseren Weg zu sich selbst zu führen. Zunehmend bedrängt durch christliche Missionierung und europäische Expansion, war der Buddhismus in den Verflechtungen der Kolonialzeit im Ceylon des 19. Jahrhunderts stark vom Niedergang bedroht. In Form einer kulturellen Erneuerungsbewegung erfuhr er aber eine antikolonialistisch ausgerichtete, auf nationale Identität zielende Wiedererstarkung, in deren Rahmen schärfste Debatten zwischen christlichen Klerikern und buddhistischen Mönchen stattfanden – unter ihnen der berühmt gewordene dreitägige Disput von Panadura (1873) über Grundfragen der Religion, der von buddhistischer Seite als großer Sieg der eigenen Religion über die der Fremdherrscher zelebriert wurde.81 Diese Debatten waren es, die das Interesse des Amerikaners Olcott weckten, so dass er 1880 zusammen mit Helena P. Blavatsky (1831–1891) nach Sri Lanka reiste, wo er offiziell Zuflucht zu den Drei Juwelen Buddha, Dharma und Sangha nahm. Olcott wirkte hinfort in diesem Klima der polemischen Auseinandersetzung zwischen buddhistischen und christlichen Gelehrten, in Zusammenarbeit mit einigen ihrer zentralen buddhistischen Akteure. Der Mönch Hikkaduve Sumangala Thera (1827–1911), der nach der Debatte von Panadura 1873 die erste Klosteruniversität Vidyodaya-Pirivena in Colombo gegründet hatte und mit dessen Hilfe Olcott den Katechismus veröffentlichte, gehört hierzu ebenso wie der Laienbuddhist Anagarika Dharmapala (1864–1933), der zusammen mit anderen Vertretern der buddhistischen Delegation auf dem Weltparlament der Religionen von 1893 in Chicago einen modernen Buddhismus profilierte, der auf individuellen Zugang des Einzelnen zu den

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Vgl. hierzu näher z. B. George D. Bond: The Buddhist Revival in Sri Lanka. Religious Tradition, Reinterpretation and Response. Columbia, South Carolina 1988; Gombrich/Obeyesekere, Buddhism Transformed (Anm. 6); Richard F. Gombrich: Therav¯ada Buddhism. A Social History from Ancient Benares to Modern Colombo [1988]. London 2 2006, 171–195; Elizabeth J. Harris: Therav¯ada Buddhism and the British Encounter. Religious, Missionary and Colonial Experience in Nineteenth-Century Sri Lanka. London/New York 2006. 80 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 25. 81 Vgl. zu diesen Ereignissen und ihren Bedingungen, neben der oben in den Anm. 6 und 79 genannten Literatur, z. B. Richard Fox Young/G[intota] P[arana] V[idanage] Somaratna: Vain Debates. The Buddhist-Christian Controversies of Nineteenth-Century Ceylon. Wien 1996; Sven Bretfeld: Buddhistische Laien, buddhistische Profis. Religiöse Individualisierung als Folge einer Neuverteilung religiösen Wissens in Sri Lanka. In: Transformierte Buddhismen 1 (2008), 108–135, http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/tb/article/viewFile/10066/3925 (18.2.2018).

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buddhistischen Schriften, Wissenschaftlichkeit und Meditation als wesentliche Praxis setzt.82

V Siddhartha, der „reine Individualist“: Erleuchtung als empty signifier im Kontext individualisierter Religiosität Nicht zuletzt über den regen Gebrauch in populären Texten des angloamerikanischen Raums verbreitete sich der Erleuchtungsbegriff zunehmend auch in deutschsprachigen Publikationen. Zu den einflussreichsten gehört die BuddhaMonographie des Indologen Hermann Oldenberg (1854–1920) aus dem Jahr 1881, die sich vor allem auf Pali-Texte stützt und, nach Burnoufs Introduction, für viele nachfolgende Texte über den Buddha gleichsam die Blaupause bildet.83 Oldenberg verwendet darin den Begriff wiederholt unter Bezug auf das buddhistische Kernnarrativ, „aus dem Asketen Gotama“ sei „der Buddha, der Erwachte, der Erleuchtete“ geworden – und zwar in Erörterungen, die neben dem eigentlichen Inhalt des Narrativs auch seinen soziokulturellen Kontext in den Blick nehmen.84 So vertritt er z. B. im ersten Kapitel des Abschnitts „Buddha’s Leben“ die Ansicht, die Pali-Texte bezeugten die seinerzeit herrschende Überzeugung, der Zugang zum „seligmachenden Erkennen[]“ werde durch „das Wort eines Lehrers und Stifters der Gemeinde“ eröffnet, „den man als den Erhabenen (bhagav¯a) oder als den Erkennenden, den Erleuchteten (buddha) bezeichnet[e].“85 Und in einer religionsvergleichenden Passage zu Vorstellungen von Konversionserfahrungen, denen zufolge an einem bestimmten „Wendepunkt[]“ im Leben „aus dem Unerlösten und Unerleuchteten ein Erlöster, Erleuchteter“ werde, schließt Oldenberg aus den Quelltexten, zu Buddhas Lebzeiten sei der „Glaube“ an einen solchen Wendepunkt unter „plötzliche[m] Hellwerden des Geistes“ weit verbreitet gewesen. Man habe „nach 82

Vgl. hierzu z. B. Donald S. Lopez, Jr.: Introduction. In: Ders. (Hg.): Modern Buddhism. Readings for the Unenlightened. London 2002, ix–xliii; McMahan, The Making of Buddhist Modernism (Anm. 6), 89–118. 83 Das gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus. Das Buch erschien bereits 1882 auf Englisch: Buddha: His Life, His Doctrine, His Order. London/Edinburgh 1882 (dt. 1881). 84 Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. Berlin 1881, 110. Oldenberg gibt in seiner Studie für die Bezeichnung „Buddha“ nicht durchgehend die Übersetzung „der Erleuchtete“ an. Wenn er auch die Buddha-Werdung mit Hilfe von Lichtmetaphorik umschreibt und von Erleuchtung spricht (z. B. ebd., 129 f.), so streicht er doch die Zentralität des Aspekts befreiender „Einsicht“ und erlösenden „Erkennens“ heraus. Im Kapitel „Buddha’s Jugend“ (ebd., 97–114) etwa betont er, „der Name Buddha, d. h. ‚der Erwachte, der Erkennende‘“ sei die Bezeichnung, mit der die Gläubigen „seine dogmatische Würde [. . . ] als Erkenner der erlösenden Wahrheit ausgedrückt“ haben (ebd., 97, Kursivierung A.-B.R.). Und in seiner Darstellung der „Anfänge der Lehrtätigkeit“ (ebd., 115–139) will er die „wahrhaftige Erkenntniss“ der Vier Edlen Wahrheiten im Begriff „Erlösung“ (ebd., 131 f.) zusammengefasst wissen. Unter anderem hierauf bezieht sich die durch Kürzung leider missverständliche Bemerkung zu Oldenberg in dem Interview: Almut-Barbara Renger/Ursula Richard: Im Gespräch: „Mit dem Erleuchtungsbegriff ist es ein wenig wie mit der Pizza“. In: Buddhismus Aktuell 30/4 (2017), 22–27, hier 27. 85 Oldenberg, Buddha (Anm. 84), 73–96, hier 77.

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der ‚Erlösung vom Tode‘“ gesucht und „einander leuchtenden Angesichts“ mitgeteilt, dass man sie gefunden habe.86 Daher sei es gut denkbar, dass auch Gotama „ähnliche Erwartungen [. . . ] erfüllten“ und „nach Zeiten heftigsten [. . . ] Leidens in einem bestimmten Augenblick das Gefühl klarer Ruhe und innerer Gewissheit in ihm erwachte und er dies als die ersehnte Erleuchtung, als das Zeichen der gewonnenen Erlösung ergriff [. . . ]“.87 Es würde hier zu weit führen, die Dynamiken, in deren Zuge sich die geschilderte Begriffsübertragung auf den Buddhismus in den 1900er Jahren festigte, im Detail zu schildern. Auch habe ich mit Blick auf diese Dynamiken an anderer Stelle eine ausführliche Darstellung der Zunahme von Verflechtungen asiatischer Konzepte und Vorstellungen mit westlichen Diskursen und Orientbildern in den letzten 100 Jahren gegeben.88 Daher soll an dieser Stelle der Verweis genügen, dass es zum Ausgreifen der Übertragung über den Buddhismus hinaus auf auch andere asiatische Traditionen u. a. durch zunehmende Mobilität sowie neue Kommunikationsmedien und Informationstechnologien des 20. Jahrhunderts gekommen ist. Ergebnis war, dass immer mehr Akteure, Medien und Diskurse auf Routen und Trassen zwischen Asien, Europa und Nordamerika hin- und herzirkulierten, Spuren hinterließen und zugleich orientierend Wege anboten. Wie schon im 19. Jahrhundert spielen in dieser fluiden Gemengelage des 20. Jahrhunderts international erfolgreiche populäre Darstellungen und Neudeutungen asiatischer Religionen eine essentielle Rolle. Wie schon Arnolds Buddha-Gedicht, Olcotts Katechismus und Carus’ Buddha-Evangelium durch Übersetzung in zahlreiche Sprachen sowie hohe Auflagen und Verkaufszahlen auf internationaler Ebene89 den habitualisierten Gebrauch des Erleuchtungsbegriffs in Verbindung mit dem Buddhismus gefördert haben, tragen auch Werke der 1900er Jahre durch hohen internationalen Absatz dazu bei, den Terminus in einer Fülle von Bewegungen, die sich aus transkulturellen flows speisen, in verschiedene Richtungen über den Transfer auf den Buddhismus hinaus zu streuen. Das wohl bekannteste Werk der modernen deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, das aus dieser Streuungsdynamik ebenso resultierte wie es zu ihr infolge seines anhaltenden internationalen Erfolgs bis heute beiträgt, ist Siddhartha (1922) von Hermann Hesse (1877–1962), das die Engführung der Begriffe Erleuchtung und Erlösung aufweist, wie sie u. a. durch Oldenberg im deutschsprachigen Raum gängig wurde.90 Ich führe Siddhartha hier u. a. auch deshalb an, da er in Bednarz’ Text über die „Literaturempfehlungen“ auf der letzten Buchseite präsent 86

Ebd., 112 f. Ebd., 113 f. 88 Siehe Renger, Erleuchtung (Anm. 19), 9–34. 89 Vgl. hierzu auch Thomas A. Tweed: The American Encounter with Buddhism 1844–1912. Victorian Culture and the Limits of Dissent. Bloomington 1992, passim. 90 Vgl. z. B. Leopold von Schroeder: Buddhismus und Christentum [1893]. In: Ders.: Reden und Aufsätze vornehmlich über Indiens Literatur und Kultur. Leipzig 1913, 85–127, hier 121, wo es in einem Vergleich von Buddhismus und Christentum heißt, dass „[Buddha] [d]urch tiefes Denken, durch philosophische Vertiefung in den Weltzusammenhang die Erleuchtung und die Erlösung gewonnen“ habe. 87

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ist.91 Die „indische Dichtung“ erzählt die Geschichte eines fingierten Zeitgenossen des historischen Buddha, der sich aus allen familiären und gesellschaftlichen Bindungen zu einem eigenständigen Leben befreit, um Erleuchtung zu finden. Dabei installiert der Text gegen das im Kapitel „Gotama“ gemalte Bild „des erleuchteten“ – in vollkommenem Gleichmut strahlenden – „Buddha“92 das eines „reinen Individualisten“,93 der sich, um ins Innerste seines Selbst zu dringen, entschließt, seinen Weg alleine zu gehen. „Du hast die Erlösung vom Tode gefunden“, begründet der Protagonist diesen Entschluss dem Buddha gegenüber.94 Sie sei ihm, dem Erhabenen, geworden aus dem „eigenen Suchen“, auf dem „eigenen Wege, durch Gedanken, durch Versenkung, durch Erkenntnis, durch Erleuchtung“. Nicht sei sie ihm „geworden durch Lehre“. Und so erteilt er Gotama die Absage: Keinem, o Ehrwürdiger, wirst du in Worten und durch Lehre mitteilen und sagen können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner Erleuchtung! [. . . ] Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen [. . . ].

Die Umsetzung dieses Ziels, die der Text schildert, hat eine, in der modernen westlichen Asienfaszination gründende Erfolgsgeschichte bis ins 21. Jahrhundert geschrieben, die sich bereits 1923 nach Erscheinen des Buchs andeutete. So schwärmt Melchior Vischer (1895–1975), die „Dichtung“ habe „das Blut Indiens, die weiten Fernen des Nirvana, des Erleuchteten“ und „die alte Weisheit des Ostens“ rausche in den Sätzen.95 Otto Doderer (1892–1962) lobt an der „indischen Dichtung“, sie spanne sich „läuternd über den Zwiespalt zwischen Intellekt und Instinkt, den Zwiespalt des heutigen Abendlandes“.96 Und Otto Zarek (1898–1958) misst Siddhartha bei, „den Begriff der Religion“ zu revolutionieren, indem er „die Erkenntnis“ ausrufe, „daß Lehre nicht mitteilbar sei“, und „die Religiosität des reinen Schauens“ heilige.97 Und in der Tat, Siddhartha ist eine Erzählung, in der bereits 1922 poetisch verdichtet ist, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Bedürfnis in der Breite der Gesellschaft zunehmend an Konturen gewinnt: die „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“,98 das institutionalisierten Sinnstiftungen den Abschied und individueller Entscheidung gegenüber dem, was traditionell festgelegt ist, den 91

Siehe Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 400. Hermann Hesse: Siddhartha [1923]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M. 2001, 369–472, hier 394. 93 Adolf Saager: Zu Hermann Hesses „Siddhartha“ [1923/24]. In: Volker Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses „Siddhartha“. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1976, 46–49, hier 48. 94 Ab hier bis zum Ende des Absatzes: Hesse, Siddhartha (Anm. 92), 394. 95 Melchior Vischer: Siddhartha [1923]. In: Michels, Materialien (Anm. 93), 43–45, hier 44. 96 Otto Doderer: Hermann Hesses „Siddhartha“ [1923]. In: Michels, Materialien (Anm. 93), 50– 53, hier 51 f. 97 Otto Zarek: Notizen über einen deutschen Dichter [1923]. In: Michels, Materialien (Anm. 93), 33–39, hier 37 f. 98 Winfried Gebhardt/Martin Engelbrecht/Christoph Bochinger: Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der „spirituelle Wanderer“ als Idealtypus spätmoderner Religiosität. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 13 (2005), 133–151. 92

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Vorzug gibt. Indem der Protagonist, so fasst es Hugo Ball (1886–1927) zusammen, „keine äußere Autorität, heiße sie Vater oder Gautamo Buddha“, sondern „nur die Stimme des eigenen Innern“ anerkennt,99 gelangt er „ungläubig-gläubig“, so Stefan Zweig (1881–1942), auf seiner Wanderschaft „immer näher an sich selbst“.100 Dementsprechend individualisierend geht der Text mit den Traditionen um, aus denen er schöpft. Er hybridisiert sie zu einem individuellen Heilsweg jenseits vorgegebener Dogmen und Lehren, wie er nur infolge der modernen Globalitätserfahrung und Entstehung von Begegnungsräumen durch transkulturelle Austauschbewegungen denkbar ist. Der Text konnotiert „Erleuchtung“, die er mit „Erlösung“ zusammendenkt, mit Aspekten der Alleinheitserfahrung, indem er Elemente der Upanishaden-Lehre und des Pali-Buddhismus mit solchen des Daoismus und der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs (1875–1961) engführt.101 Erzählt wird so, wie Siddhartha nach langen Phasen der Askese und Besitzlosigkeit, der Sinnenlust und materiellen Ausschweifung, die in Lebensekel und -überdruss gipfeln, am Ufer eines Flusses endlich das Ziel seines Wegs erreicht: das Bewusstwerden der Vollendung.102 Schon Jahre zuvor wie „aus langen Träumen“ zu sich selbst „erwacht“,103 gelangt er nun nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen zur „Heiterkeit des Wissens“, das „die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig.“104 In dieser Stunde beginnt auch er, wie Gotama, zu leuchten. Er hört auf, „mit dem Schicksal zu kämpfen, [. . . ] zu leiden“: „Hell glänzt[]“ sein Lächeln auf seinem Gesicht, „sein Leid strahlt[]“, „sein Ich“ ist „in die Einheit geflossen“.105 Was auch immer aus literaturkritischer Sicht heute von Hesses Erzählung zu halten sein mag: Die „indische Dichtung“ wurde zu einem Bestseller und ihr Protagonist zu einer Ikone der Individualisierung des Religiösen, wie sie seit den religionssoziologischen Arbeiten von Peter L. Berger (1929–2017) und Thomas Luckmann (1927–2016) in subjektbetonenden Studien zu Veränderungen religiöser Glaubensvorstellungen und Organisationsstrukturen in Moderne und Gegenwart wiederholt diagnostiziert worden ist.106 Entscheidend hierzu bei trug die Popularität Siddharthas in der von Kalifornien ausgehenden Hippie- und Gegenkulturbewegung, die in 99 Hugo Ball: Hermann Hesse und der Osten [1926]. In: Michels, Materialien (Anm. 93), 54–69, hier 60. 100 Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses [1923]. In: Michels, Materialien (Anm. 93), 26–32, hier 31. 101 Vgl. hierzu z. B. Adrian Hsia: Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretation [1974]. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 2002, insbes. 237–248 („Siddhartha“); Christoph Gellner: Hermann Hesse und die Spiritualität des Ostens. Düsseldorf 2005, insbes. 118–151 („Religionsübergreifendes Bekenntnis“), mit weiteren Literaturangaben „Zu Hesses Rezeption der Religion und Philosophie Indiens und Chinas“ ebd., 267–268. 102 Vgl. Hesse, Siddhartha (Anm. 92), Kap. „Om“, 457–462. 103 Ebd., Kap. „Erwachen“, 396–399, hier 397 f. 104 Ebd., 462. 105 Ebd. 106 Vgl. z. B. – als Reaktion auf und in Nachwirkung von Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M. 1991, und verwandte(n) Schriften – Gabriel, Religiöse Individualisierung

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der, von deutschen Migranten nach Amerika mitgebrachten Lebensreform- und Jugendbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gründete.107 Nachdem Hesses Beliebtheit in Deutschland Mitte der 1960er Jahre stark zurückgegangen war und sein Absatz durch Suhrkamp einen Tiefpunkt erreicht hatte, wurden in den USA 1967 rund 100.000 Exemplare von Siddhartha verkauft108 – was der Spiegel 1968 mit „Es waren die Hippies, die Hesse aus der Talsohle zogen“, kommentierte.109 Mit diesem Boom avancierte Hesse, Bindeglied zwischen europäischer Lebensreform und amerikanischer Counter Culture, zu einem Kultautor und Siddhartha, Prototyp des „spirituellen Wanderers“,110 zu einer vielbeschworenen Kultfigur im New Age, der Conrad Rooks (1934–2011) mit seiner filmischen Adaption der Erzählung 1972 ein Denkmal setzte.111 Die Vorstellung von der individuellen Selbstermächtigung zu Sinn und Heil, für die Siddhartha steht, hat zahlreiche Analogien noch im alternativreligiösen Feld des ausgehenden 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, dessen Heterogenität und offene Struktur mit Konzepten wie „Populäre Religion“112 und „Esoterik-Kultur“113 beschrieben worden ist. „Erleuchtung“ ist hier, weit gestreut, kommodifiziert und global wirksam vermarktet, gewissermaßen zu einem empty signifier im Laclau’schen Sinne geworden: zu einem signifiant mit einer vagen, höchst variablen signifiée, der auf die Kontingenz von Bedeutung und die Vergeblichkeit des Versuchs, dem Gleiten und Wandel von Bedeutungen dauerhaft Einhalt zu gebieten, verweist.114 In ihm durchdringen das Universelle und das Partikulare einander, ohne dass er einem partikularen Anspruch auf Bedeutung, Geltung oder gar Wahrheit aus sich heraus den Vorzug gäbe. Er lässt vielmehr ungezählte heterogene Ansprüche zu, wobei es gerade seine semantische Offenheit ist, die dazu führt, dass er von unterschiedlichen Akteuren hegemonisiert wird. Je nach Verwendungszusammenhang und Partikularinteressen unterschiedlich gefüllt, bietet er konkurrierende Identifikationsmöglichkeiten, eröffnet er Raum für unterschiedlichste Interpretationen und immer neue Konstruktionen von „Religion“ und „Spiritualität“, oft in dichotomischer Abgrenzung beider Begriffe (Religion = „traditionell“, Spiritualität = „al(Anm. 15); Pollack/Pickel, Individualisierung (Anm. 15); Volkhard Krech: Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion. Bielefeld 2013, insbes. 24–29. 107 Gordon Kennedy: Children of the Sun. A Pictorial Anthology. From Germany to California 1883–1949. Ojai, Kalifornien 1998. 108 Für die Verkaufszahlen vgl. Sigrid Mayer: Die Hesse-Rezeption in den Vereinigten Staaten. In: Text + Kritik 10/11 (Mai 1977), 86–100, insbes. 88. 109 [Anonym]: Hesse. Wonnen für Hippies. In: Der Spiegel 22/40 (1968), 177. 110 Vgl. zum Typus des „spirituellen Wanderers“ Gebhardt/Engelbrecht/Bochinger, Die Selbstermächtigung (Anm. 98). 111 Conrad Rooks (Regie): Siddhartha. USA 1972, 82 Minuten. 112 Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York 2009. 113 Stefan Rademacher: „Meister“ und „Schüler“ in der gegenwärtigen Esoterik-Kultur – Chiffren sich verändernder sozialer Konstellationen im alternativreligiösen Feld. In: Almut-Barbara Renger (Hg.): Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik. Göttingen 2012, 425–442. 114 Vgl. Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Ders. (Hg.): Emanzipation und Differenz. Wien/Berlin 2002, 65–78 (engl. 1996).

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ternativ“) voneinander. Dabei halten im Marktgeschehen, gerade auch auf dem Buchmarkt, Akteure asiatischer und westlicher Provenienz, die als religiös profilierte Individuen um Anerkennung der Bedeutung, mit der sie den Signifikanten füllen, wetteifern, einander die Waage. Unter ihren prominentesten sind tibetische Lamas wie Chögyam Trungpa (1939– 1987), der in Nordamerika die, heute in verschiedenen Teilen der Welt bekannte Organisation Vajradhatu (später Shambhala International) begründete, und seine amerikanische Schülerin Pema Chödrön (geb. 1936), deren Konzepte „weltlicher Erleuchtung“115 über ihre große westliche Schülerschaft eine rege Rezeption erfahren. Aber auch Verfasser von Werken, die zu „spirituellen Klassikern“ geworden sind, erfreuen sich einer großen Popularität, die sich in zahlreichen Übersetzungen und hohen Auflagen manifestiert. Zu den bekanntesten zählen der japanische Autor Daisetz T. Suzuki (1870–1966), der lange Zeit in den USA lebte und mit seinen Schriften zur „Erleuchtungserfahrung im Buddhismus“ substantiell zur Schaffung des modernen Buddhismus beitrug,116 und der US-amerikanische Autor Ken Wilber (geb. 1949), in dessen „integraler Theorie“ verschiedene asiatische Heilsvorstellungen gemeinsam mit europäischen und amerikanischen Erkenntnistheorien und Therapieformen ihren Platz in der Auseinandersetzung mit der Erleuchtungsthematik haben. International besonders populär ist seit fast zwei Jahrzehnten der aus Deutschland stammende Wahlkanadier Eckhart Tolle (geb. 1948), der in seinen spirituellen Büchern Elemente aus Traditionen wie christlicher Mystik, Sufismus, Buddhismus und Daoismus miteinander verbindet. Mit seinem Erstling The Power of Now – A Guide to Spiritual Enlightenment (1997),117 der es auf Platz eins der BestsellerListe der New York Times schaffte und in über dreißig Sprachen übersetzt wurde, avancierte er zum Shootingstar der internationalen Satsang-Szene, die sich auf berühmte indische Vertreter des Advaita-Vedanta wie Ramana Maharshi (1879–1950) beruft,118 und fand auch darüber hinaus nachhaltig breiten Anklang. Noch Anfang 2018 führt ihn die vierteljährlich in London erscheinende Esoterik-Zeitschrift Watkins Mind Body Spirit (zuvor Watkins Review) auf Platz vier ihrer jährlich aktualisierten Liste der 100 einflussreichsten spirituellen Persönlichkeiten – direkt nach dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche Papst Franziskus (geb. 1936), dem

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Chögyam Trungpa: Weltliche Erleuchtung. Der essentielle Trungpa [2002]. Freiamt im Schwarzwald 2 2009 (engl. 1999). 116 Besonders einschlägig in dieser Hinsicht sind die Essays in Zen Buddhism (First Series) von Daisetz T. Suzuki: Satori: der Zen-Weg zur Befreiung. Die Erleuchtungserfahrung im Buddhismus und im Zen. Bern/München/Wien 1987 (engl. 1927). 117 Eckart Tolle: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. Ein Leitfaden zum spirituellen Erwachen. Bielefeld 2000 (engl. 1997). 118 Vgl. zur Satsang-Szene Claudia Knepper: Satsang-Bewegung. In: Materialdienst der EZW 73/10 (2010), 389–392; Michael Utsch: Ausbreitung der Satsang-Szene. In: Materialdienst der EZW 78/2 (2015), 66–67. Zum Umgang mit dem Erleuchtungsbegriff in der Szene vgl. Jan Ole Bangen: Zum Begriff der Erleuchtung in der Satsang-Szene Berlins. Fallstudie anhand des „forum erleuchtung. Erleuchtung und soziales Leben“ (22.–24. August 2014), unveröff. MA-Arbeit, Freie Universität Berlin 2015.

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14. Dalai Lama Tenzin Gyatso (geb. 1935) und dem südafrikanischen anglikanischen Geistlichen und Menschenrechtler Desmond Tutu (geb. 1931).119 Es war nicht zuletzt der Eindruck solcher Erfolge, unter dem der US-amerikanische Guru Andrew Cohen (geb. 1955), der den Erleuchtungsbegriff in seinem Wirken mit besonderer Persistenz umkreist, im Jahr 2000 behauptete: Im Osten ist Erleuchtung immer als das Ziel allen spirituellen Strebens verstanden worden – als Gipfel dessen, was spirituell zu erreichen ist. Und so wie Mystizismus und Spiritualität aus dem Osten langsam, aber sicher im Westen einsickern und Fuß fassen, so finden auch ihre Philosophie und Terminologie Eingang in unsere Weltsicht.120

Fortgeschrieben und ergänzt werden solche Behauptungen, die Orientalismen der Vergangenheit phantasiereich fortschreiben, in zahllosen ephemeren Publikationen aus dem Bereich der spirituellen Selbsthilfeliteratur. Sie geben Antworten auf die Frage Bin ich schon erleuchtet? (2013),121 versprechen Instant Erleuchtung (2008) oder bieten „geniale Schritte“ zu Erleuchtung durch Selbstfindung (2017) an122 – teils auch in Seminaren und mit Utensilien, die in Publikumszeitschriften, wie in Berlin und Hamburg Körper Geist Seele (KGS),123 beworben und in Buchläden, auf Esoterikmessen sowie über das Internet vertrieben werden.

VI Schluss: Abschied vom „Überwort“ Der Roman Schwer erleuchtet bildet diese Entwicklung ab und bezieht zugleich Stellung in ihr, indem er dem Erleuchtungsbegriff offiziell eine Absage erteilt. Bewerkstelligt wird dies, indem „das Wort ‚Erleuchtung‘“124 aus seiner Verwendungsbreite in den modernen Buddhismus zurückgeholt, in dieser Rückholbewegung in kritische Distanz gerückt und anderen Begriffen an seiner statt, wie „Befreiung“ und vor allem „Erwachen“,125 der Vorzug gegeben wird. Von nicht unerheblicher Bedeutung hierbei ist die paratextuelle Einspielung der bereits erwähnten „Literaturempfehlungen“126 in den Roman; impliziert doch ihr 119

The 100 Most Spiritually Influential Living People 2018 List. In: Watkins Mind Body Spirit 53/1 (2018), https://www.watkinsmagazine.com/watkins-spiritual-100-list-2018 (18.2.2018). 120 Zitiert aus der „Einleitung“ der Ausgabe 03 (Frühjahr/Sommer) der deutschsprachigen Fassung der amerikanischen Zeitschrift What is Enlightenment?, die seit 1991 und unter dem geänderten Titel EnlightenNext bis 2011 erschien: Andrew Cohen: Was ist Erleuchtung? Weiss überhaupt irgendjemand, worum es geht? In: Was ist Erleuchtung? 3/1 (2000), 16–17, hier 16. 121 Morrison, Bin ich schon erleuchtet? (Anm. 25). 122 David Deida: Instant Erleuchtung. Schnell, tief und sexy. Bielefeld 2008; Christopher Klein/Jens Helbig: Erleuchtung durch Selbstfindung in 7 genialen Schritten. Eine Anleitung zur Achtsamkeit, Spiritualität, Selbstverwirklichung sowie innerer Ruhe und Gelassenheit. Düsseldorf 2017. 123 Körper, Geist, Seele. KGS Berlin. Gesundheit, Lebenshilfe und Inspiration. Berlin: Körper Geist Seele Verlagsgesellschaft; KGS. Hamburgs Magazin für Körper, Geist & Seele. Hamburg: Hamburg Wrage GmbH. 124 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 268. 125 Ebd., 9. Vgl. auch ebd., 48, 69, 115, 260, 262, 294 f., 312 f. 126 Ebd., 400.

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Verweis auf eine Reihe buddhistischer und buddhistisch inspirierter Titel, dass diese den vorangehenden Basistext fundieren. Unter den Empfehlungen sind populäre Publikationen prominenter Lehrer und Interpreten des modernen Buddhismus, wie der Bestseller des vietnamesischen Mönches Thich Nhat Hanh (geb. 1926), Old Path White Clouds (1991), eine literarische Einführung in das Leben und die Lehre des historischen Buddha, die auf Deutsch seit 1998 unter dem Titel Wie Siddhartha zum Buddha wurde127 vorliegt. Vor allem aber wird mit Nachdruck der Verlag Beyerlein & Steinschulte empfohlen und damit eine Rückbindung an Sri Lanka und die seit den Verflechtungen der Kolonialzeit verbreitete Ansicht vorgenommen, der Pali-Kanon bilde „den wahren Kern“ des Buddhismus. Der Verlag ist Mitglied und Mitbegründer der Sarananda Karuna Foundation in Sri Lanka, die dort eine Form des Engagierten Buddhismus praktiziert.128 Sein spezifisches Anliegen für den deutschsprachigen Raum ist es, Lesern die „Lehre des Erwachten“ (nicht des „Erleuchteten“), wie sie in den Lehrreden des Pali-Kanons „ohne Färbung durch die später sich herausbildenden verschiedenen Schulrichtungen des Buddhismus dargestellt“ sei, zugänglich zu machen, um ihnen zu ermöglichen, „den Weisungen und Vorschlägen, dieses größten aller Lehrer, zur vollkommenen Befreiung aus allem Leiden zu folgen“.129 Über die Empfehlung des Verlags im nachgestellten Paratext tritt der Geltungs- und Wahrheitsanspruch der Lehre Buddhas, den im erzählten Geschehen Bhikkhu Siri repräsentiert, eindringlich in Erscheinung: Der singhalesische Mönch ist „der Wahrheit so nahe“, dass er „in Momenten der Besinnung den Buddha vor seinem geistigen Auge“ sieht und dessen Botschaft hört: „Wer die Wahrheit sieht in meiner Lehre, der sieht auch mich“.130 Es ist diese Warte, von der aus Bednarz’ Text den Erleuchtungsbegriff in, wie es der Titel erwarten lässt, humorvoll-ironischer, aber auch ernst-nachdenklicher Weise umkreist. Früher oder später im erzählten Geschehen spricht fast jede seiner Romanfiguren von Erleuchtung, sei es, dass sie den Begriff als leere Worthülse verwendet, sei es, dass sie um seine Bedeutung ringt – sei es, dass sie das Lexem spöttisch einsetzt, wie der Journalist Gommez, der Daniel als „schwer Erleuchteten“131 verhöhnt und damit das Stichwort für den ironisch anmutenden Titel des Romans liefert. Rechtes Verständnis spricht der Text in dieser Darstellung des heterogenen Lexemgebrauchs nur einer Person im Figurenarsenal zu, Siri; alle anderen Figuren „dilettieren“ im Kontrast zu ihm, auch und zumal Daniel, der im Laufe des erzählten Geschehens zum bekennenden Laienanhänger wird. Als religiöser Virtuose im Weber’schen Sinne gezeichnet, der seinen Alltag und seine Lebens127

Die deutsche Übertragung erschien zuerst 1992 unter dem Titel Alter Pfad, Weiße Wolken. Leben und Werk des Gautama Buddha. Zürich/München 1992, und in späteren Auflagen unter Thich Nhat Hanh: Wie Siddhartha zum Buddha wurde. Eine Einführung in den Buddhismus [1992]. Bielefeld 10 2016 (engl. 1991). 128 Therav¯adanetz: Therav¯ada und Soziales: Karunastiftung des ehrw. Saranada, http://www. theravadanetz.de/soziales.php%23karuna_stiftung (18.2.2018). 129 Verlag Beyerlein & Steinschulte: Das Anliegen unseres Verlags, http://www.buddhareden.com/ index.php?id=38 (18.2.2018). 130 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 26 f. 131 Ebd., 189.

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führung ganz einer „systematischen Lebensreglementierung in Unterordnung unter den religiösen Zweck“132 – dauerhafte Befreiung vom Leid – unterwirft, wird Siri erzählerisch ungebrochene Autorität zuerkannt. Und so ist es denn auch seine Haltung zum Erleuchtungsbegriff, daran lässt der Text keinen Zweifel, die den rechten Maßstab und die rechte Orientierung birgt. Von verschiedenen Romanfiguren hierzu gedrängt, gebraucht zwar auch er ihn wiederholt, rät aber angesichts des weit verbreiteten Unverständnisses, von dem seine Verwendung zumal „im Westen“133 zeuge, davon ab. „Schon gar nicht sollte man von Erleuchtung reden, wie das diese Touristen taten, die in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr geworden waren“, lässt Bednarz seinen Bhikku denken. „Sich dreimal vor einer Buddha-Statue verneigen und dann auf die Erleuchtung warten“ oder „Erleuchtung erzwingen“ wollen – „das war typisch für die Menschen im Westen“.134 Demgegenüber tritt Siri für konsequente Anwendung buddhistischer Methoden unter regelmäßiger Selbstprüfung und „Gleichmut gegenüber dem Erwachen“ ein.135 In dieser Haltung Siris und seinen Gedanken zum „Westen“, das sei abschließend betont, klingen nicht zuletzt die polemischen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Buddhisten im Ceylon des späten 19. Jahrhunderts und ihre Nachwirkungen im 20. Jahrhundert an, als zunehmend Menschen aus verschiedenen, auch christlich geprägten Kulturen der Welt auf der Suche nach gelebter buddhistischer Weisheit nach Sri Lanka reisten. Siri erinnert sich an das, was ihm sein Klosterbruder Kandako – „ein Westler“, der in Sri Lanka zum Buddhismus konvertiert und Mönch in seinem Kloster geworden war – „vor mehr als einem halben Jahrhundert“ vermittelt hatte, bevor er nach langen Jahren nach Deutschland zurückkehrte und dort ein Kloster im Bayrischen Wald gründete: „Und die im Westen, [. . . ] die glaubten immer, bei der ‚Erleuchtung‘ würde so etwas wie ein ‚Heiliger Geist‘ in sie fahren und dann seien sie im Nirwana.“136 Um solche Missverständnisse auszuräumen, lehrt Siri – nun selbst „im Westen“ – das, „was nützlich ist zur Erlösung vom Leiden, zur Erlangung des Gleichmuts, des Friedens und der Befreiung“.137 Dabei gewinnt er den in seinem Beruf unglücklichen Daniel als von „Erleuchtungshoffnung“138 durchdrungenen „Schüler“, der sich „mit der Entschlossenheit des Verzweifelten auf die Lehre des Erhabenen stürzt[]“.139 Ihn unterweist Siri in den Vier Edlen Wahrheiten, dem Edlen Achtfachen Pfad und Meditationstechniken, um ihm zu vermitteln, dass „Befreiung vom Leid“140 mittels geeigneter Methoden möglich sei. Zu diesem Unterweisungsverhältnis gehört auch, dass er Daniel darauf

132 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie [1921]. Tübingen 1980, 327. 133 Bednarz, Schwer erleuchtet (Anm. 1), 25. 134 Ebd., 25, 256. 135 Ebd., 295. 136 Ebd., 25. 137 Ebd., 256. 138 Ebd., 293. 139 Ebd., 256. 140 Ebd.

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hinweist, dass er eine Einsicht, die er als „wunderbare Erleuchtung“141 einschätzt, fälschlicherweise dafür hält: „Ist das Wort ‚Erleuchtung‘ [. . . ] nicht etwas zu hoch gegriffen? [. . . ] Erleuchtung oder richtiger: Erwachen geht über eine bloße Erkenntnis weit hinaus.“142 Und er fügt, als Daniel einwendet, durch seine Einsicht sei er in der Lage, seinem Leiden an seinem Beruf ein Ende zu setzen, hinzu: „[. . . ] das Leid, das wir mit dem Erwachen abschütteln, ist ein viel größeres, nämlich das Leid des ewigen Kreislaufs von Geburt, Tod und Wiedergeburt.“143 Daniel, „bereit alles“ für seine Erleuchtung „zu geben“, siedelt daraufhin in ein von Siris Klosterbruder Kandako gegründetes Waldkloster um, mit dem Wunsch, selbst Mönch „und vom schlichten Mönch zum Erleuchteten, zum Buddha“ zu werden.144 Seine Ordination, nachdem er alle 227 Regeln für vollordinierte Mönche auswendig gelernt hat, scheitert nur daran, dass seine Frau Maya zum Kloster reist und ihm mitteilt, dass er nun doch Vater wird. Wie oben dargelegt, ist der hohe Stellenwert, den der Roman dem Erleuchtungsbegriff als Sehnsuchtsformel zuweist, in der rezenten populären Erzählliteratur des euroamerikanischen Raums, die auf den Buddhismus bezogen ist, alles andere als ungewöhnlich. Ob z. B. der Roman Buddha Da (2003) der schottischen Schriftstellerin Anne Donovan (geb. 1956?),145 der bereits erwähnte Reisebericht Triffst du Buddha, töte ihn! (2010) von Andreas Altmann oder der Roman Buddhaland Brooklyn (2012) des nordamerikanischen Autors Richard C. Morais (geb. 1960)146 – sie alle umkreisen den Begriff, jeder Text je nach Aussageabsicht auf seine Weise. Dabei weisen auch sie, wie Bednarz’ Text, neben dem historischen Buddha hauptsächlich monastischen Vertretern des Buddhismus Kompetenz und rechtes Verständnis zu. Den übrigen Figuren wird ein solches abgesprochen. „Darum ging es also. Einfach nur hinschauen. Einfach nur klar sehen. Das Licht kam durchs Fenster. Er-leuch-tung. Das Licht sehen. Ich hatte das Licht gesehen“,147 jubiliert einer von Donovans Ich-Erzählern, der kurz darauf einsieht, dass seine „Erleuchtung“ nur eine Illusion war. Es ist Jimmy, der hier spricht, Mittelpunkt der erzählten Ereignisse, westlicher Adept einer tibetischen Form des Buddhismus in Schottland, der gerade ein Buch „über die Erleuchtung und wie man sie ganz plötzlich kriegen kann“148 gelesen und sich einem Rinpoche angeschlossen hat. Und Altmann, der im Angesicht des Bodhi-Baumes beim Mahabodhi-Tempel in Bodhgaya darüber deliberiert, wie er sich zu „dem Wort ‚Illumination‘“ verhalten soll, da „kein anderes in diesen Breitengraden unbedachter ausgesprochen“ werde,149 gesteht zwar zu: „Schon möglich, dass aus einem königlichen Jüngling ein Buddha wurde, der [. . . ] in Einklang mit sich und jedem in seiner Nähe lebte.“ Doch er vermutet zugleich, 141

Ebd., 265. Ebd., 268. 143 Ebd., 269. 144 Ebd., 336 f. 145 Anne Donovan: Einmal Buddha und zurück. Roman. München 2006 (engl. 2003). 146 Richard C. Morais: Buddha in Brooklyn. Roman. München 2013 (engl. 2012). 147 Donovan, Einmal Buddha (Anm. 145), 160. 148 Ebd., 157. 149 Altmann, Triffst du Buddha (Anm. 26), 69. 142

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dass es sich um eine „Ausnahme“ gehandelt haben muss: „Wir anderen aber, wir rastlosen Schwächlinge? Wir Aufrechner und Verräter?“150 Demgegenüber nimmt Morais’ Ich-Erzähler, der buddhistische Mönch Oda, der sein japanisches Kloster verlassen hat, um dabei zu helfen, einen Tempel in den USA zu eröffnen, einen sehr viel optimistischeren Standpunkt ein. Einer New Yorkerin, die ihn fragt: „Was ist eigentlich Erleuchtung?“, das habe ihr „bisher noch niemand erklären können“,151 antwortet er, es handele sich nicht um einen „Zustand einer überirdischen Glückseligkeit“, es sei „nicht so, dass eines Tages die Lichter angehen, und peng, man ist erleuchtet“.152 Vielmehr sei davon auszugehen, „dass ein Mensch, der Erleuchtung sucht, bereits in diesem Moment erleuchtet ist, weil die Ursache der Erleuchtung gleichzeitig die Wirkung der Erleuchtung beinhaltet.“153 Es wäre lohnenswert, den Strategien nachzugehen, mit denen diese und viele weitere Texte der Erzählliteratur der Gegenwart buddhistische Lehrinhalte in den individuellen Lebenssituationen und -geschichten, von denen sie erzählen, aufgehen lassen; herauszuarbeiten, wie sie den Erleuchtungsbegriff dabei mit Bedeutung füllen und ihn ins Ganze der Erzählung einbetten; und zu zeigen, wie sie über die Abbildung und Schaffung transkultureller Begegnungsräume individuelle Formen eines modernen Buddhismus kreieren, die zur Wahrnehmung und Konstruktion „des Buddhismus“ in der Öffentlichkeit beitragen. Doch ist der zur Verfügung stehende Raum erschöpft. Ich schließe daher – vor allem für alle diejenigen, die sich von Verwendungen des Erleuchtungsbegriffs Aufschluss darüber, was denn Erleuchtung nun eigentlich sei, erhoffen – mit der Lösung, die Altmanns „Selbstversuch“ – ebenfalls eine von Bednarz’ „Literaturempfehlungen“ – dem Leser als „Geistesblitz“ und „Erlösung“ anbietet, nachdem er sich zuvor an dem, zum empty signifier gewordenen, Begriff abgearbeitet hat: Ich habe mich von dem Überwort „Erleuchtung“ verabschiedet. So ein Anspruch kann tot machen, an ihm kann man zerbrechen. Ich suche niemanden und nichts, um erleuchtet zu werden. Weil ich nicht daran glaube. Weil auch „Erleuchtete“ Irrwege betraten, auch buddhistisch Erleuchtete, weil keiner jede „Wahrheit“ wusste und nie einer imstande war – den pompösen Ausdruck habe ich vor kurzem gelesen – die „Wesensschau aller Dinge“ zu erfahren.154

Dies freilich ist nichts als ein Zitat, das weitere Überlegungen zum Thema des Beitrags anregen mag.

150

Ebd., 70. Morais, Buddha in Brooklyn (Anm. 146), 293. 152 Ebd., 294. 153 Ebd. 154 Altmann, Triffst du Buddha (Anm. 26), 35. 151

Schiffbruch und Planke. Transformationen des Odysseus-Mythos bei den Kirchenvätern, Dante und Claudel Jan-Heiner Tück

Für Sibylle Lewitscharoff

Vorweg Religiöse Motive in der Literatur sind seit langem Gegenstand der theologischen, aber auch der literaturwissenschaftlichen Forschung. Umgekehrt scheint die Aneignung und Transformation mythischer Motive durch die christliche Theologie bislang weniger im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Dabei haben bereits die Apologeten des 2. Jahrhunderts und die Kirchenväter mythische Motive aufgenommen und christlich umgedeutet. Das Bild einer pauschalen Mythenkritik, die im Namen des menschgewordenen Logos erfolgte, ist daher unvollständig und ergänzungsbedürftig. Gewiss, dieses Bild konnte sich durch die scharfe Ablehnung des Schauspielwesens und die nahezu ungebrochene Übernahme von Platons Kritik an den „Lügenmärchen“1 der Dichter verfestigen. Unterbelichtet blieb in diesem Zusammenhang allerdings, dass bereits die patristische Theologie unterschiedliche Lesarten mythischer Stoffe ausgebildet hat. Der folgende Beitrag will darauf aufmerksam machen, dass die „Lügenmärchen“ Homers im Raum christlicher Theologie und Dichtung durchaus Resonanz gefunden haben, allerdings wurden mythische Motive auf ihre moralische Funktion oder christologische Bedeutsamkeit hin befragt und entsprechend um- oder fortgeschrieben.

Platon: Der Staat. Über das Gerechte. Übers. und erläutert von Otto Apelt. Hamburg 9 1973, 77 (Politeia II, 377d): „Denn sie [Hesiod und Homer] ersannen Lügenmärchen und erzählten und erzählen sie den Menschen.“

1

J.-H. Tück () Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_13

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Domestizierung des Mythos im Namen des Logos? Vom Mythos zum Logos – auf diese griffige Formel hat man lange Zeit die Kritik der Philosophen an der griechischen Mythologie gebracht.2 Dabei hat man zu wenig bedacht, dass beide wechselseitig verflochten sind und schon der Mythos Funktionen der Welterklärung übernimmt,3 so wie umgekehrt auch die Philosophie an ihren Grenzen auf die Mittel des Mythos immer wieder dankbar und gerne zurückgegriffen hat. Allerdings haben schon Vorsokratiker wie Xenophanes4 den Anthropomorphismus und die moralische Anstößigkeit der homerischen Götter bemängelt, um einen philosophisch gereinigten Begriff des letzten Ursprungs zu entwickeln. Bekanntlich hat auch Platon die Dichter aus seinem Idealstaat mit der Begründung ausgeschlossen, ihre „Lügenmärchen“ seien der Erziehung der Jugend abträglich. Geschichten, in denen Götter miteinander im Streit liegen, Ehebruch begehen, täuschen und betrügen, widersprechen der Überzeugung, dass das Göttliche gut, gerecht und vollkommen ist. Aus pädagogischen Gründen sind solche Mythen Heranwachsenden nicht zumutbar, die sie später als Vorbilder im Schlechten zur eigenen Rechtfertigung heranziehen könnten. Bei aller grundsätzlichen Vorordnung des Logos vor dem Mythos kommt es bei Platon allerdings zugleich zu einer signifikanten Rehabilitierung der mythischen Rede, gerade dann, wenn es um Grenzfragen geht, welche die Entstehung der Welt5 oder das postmortale Geschick der Seelen betreffen.6 Der Mythos hat offensichtlich Möglichkeiten, die der Logos nicht hat, außerdem vermag er die didaktische Funktion der Veranschaulichung zu übernehmen.7 Die platonische Kritik an den homerischen Mythen als unwahre Märchen und Lügen, die vielfältige Rezeptionsspuren in der paganen Antike wie in der patristischen Literatur hinterlassen hat, ruft allerdings in Stoa und Neuplatonismus Versuche einer Homer-Allegorese hervor, die hinter der bunten Textoberfläche einen verborgenen Sinn (hyponoia) zu 2

Vgl. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens [1940]. Stuttgart 2 1975. Vgl. zum Thema Richard Buxton: From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought. Oxford 1999. 3 „Nichts hat die Aufklärer mehr überrascht und ungläubiger vor dem Scheitern ihrer vermeintlich letzten Anstrengungen stehen lassen als das Überleben der verächtlichen alten Geschichten, der Fortgang der Arbeit am Mythos“, notiert Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 5 1990, 303. Blumenberg schreibt dem Mythos die Funktion zu, den „Absolutismus der Wirklichkeit“ zu depotenzieren, er kann der Vielstimmigkeit des Polytheismus im Sinne einer „Gewaltenteilung“ des Absoluten durchaus etwas abgewinnen. Die Kritik, Blumenberg habe durch die Ästhetisierung des Mythos die Remythisierungstendenzen des Politischen gerade im Faschismus des 20. Jahrhunderts verkannt, kann inzwischen durch seine postum edierte Schrift ausgeräumt werden: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Hg. von Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Berlin 2014. 4 „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern aufgeladen, was bei den Menschen Vorwurf und Tadel ist: Stehlen, Ehebruch treiben und einander zu betrügen.“ Vorsokratiker 21 B 11 (Diels/ Kranz). 5 Vgl. Platon: Timaios 20d–26e. 6 Vgl. die Jenseitsmythen bei Platon: Apologie 40e–41c; Gorgias 523a–527a; Phaidron 107d– 114c; Politeia X, 614a. 7 Vgl. Markus Janka/Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Darmstadt 2 2014.

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eruieren sucht. Entsprechend vielfältig fällt die Resonanz bei den Apologeten des zweiten Jahrhunderts und den dann folgenden Kirchenvätern aus. Justin sieht bei Platon die Kraft des Logos wirken, weil er die Dichtungen Homers aus seinem Staat ausschließt. Auch das Urteil Tertullians ist abschätzig, wenn er den Dichter der Odyssee als dedecorator deorum bezeichnet, der durch seine menschlich allzu menschliche Darstellung der Götter unfreiwillig deren Masken und Kostüme heruntergerissen habe.8 Andere wie Clemens von Alexandrien oder Hieronymus loben die poetische Qualität und Weisheit Homers.9 Von Ausnahmen abgesehen aber haben die Kirchenväter weder die mythische Theologie der Dichter, deren anthropomorphen Charakter sie durchschauten, noch die politische Theologie des Staatskultes aufgenommen, sondern die natürliche Theologie der Philosophen rezipiert, um das Christentum als vera religio auszuweisen. Schon im Neuen Testament war wiederholt vor „Mythen“ gewarnt und ihnen die „gesunde Lehre“ gegenübergestellt worden (vgl. 1 Tim 1,4; 4,7; 2 Tim 4,4; Tit 1,14; 2 Petr 1,16).10 So lag die Koalition zwischen der philosophischen Kritik am Götterpantheon Homers und der patristischen Theologie auch aus biblischen Gründen nahe. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass sich die Kirchenväter bei allen Vorbehalten gegenüber den griechischen Mythen immer wieder mit einzelnen Gestalten auseinandergesetzt und diese in einen christlichen Deutungshorizont integriert haben. Dabei haben sie auf gängige Verfahren der paganen MythenAllegorese zurückgreifen können, diese aber zugleich transformiert. Neben der physikalischen Lesart, welche die Götter mit kosmischen Mächten identifizierte,11 gab es die moralische Allegorese, welche hinter der mythischen Oberfläche einen verborgenen Sinn zu eruieren suchte. In dieser Lesart offenbart der Streit der Götter den sittlichen Grundkonflikt zwischen Gut und Böse, die Aufdeckung der negativen Auswirkungen des Lasters erfolgt in der moralischen Absicht, zu einem tugendhaften Leben anzuhalten.12 Die Kirchenväter haben die Mythen, die im Bildungskanon selbstverständlich weiter tradiert wurden, partiell aufgenommen, um das Evangelium von Jesus Christus, dem menschgewordenen Logos, in die hellenistische Kultur einzuschreiben – wohl auch in der Ahnung, dass im Modus der Erzählung eine bildhafte Vorstellung und lebensweltliche Konkretion erreichbar ist, die im Modus der begrifflich-systematischen Durchdringung zurücktreten muss. Anders allerdings als die hellenistische Allegorese, welche „einen zeitlosen und

8 Tertullian: Apologeticum – Verteidigung des christlichen Glaubens (FC 62, ed. Tobias Georges). Freiburg i.Br. 2015, 130 und 132 (Apol. 14,4 und 15,1). 9 Vgl. die Übersicht bei Hugo Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung. Mit einem Geleitwort von Alfons Rosenberg. Freiburg i.Br. 1992, 285–287. 10 Vgl. Gerhard Sellin: Art. Mythos/Mythologie II. Geschichtlich, 4: Neues Testament. In: RGG 5 (4 2001), 1697–1699. 11 Vgl. den Nachhall bei Cicero: De natura deorum II, 64: Physica ratio non inelegans inclusa est in impias fabulas – „Der physische Grund ist nicht unelegant in den unfrommen Fabeln eingeschlossen.“ 12 Vgl. Christine Schmitz/Susanne Heydasch-Lehmann/Francesco Zanella: Art. Mythos. In: Reallexikon für Antike und Christentum 24 (2013), 471–516, bes. 495–497.

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apersonalen Charakter“13 aufwies, wenn sie den moralischen oder metaphysischen Extrakt der Mythen zu erheben suchte, haben die Kirchenväter einzelne mythische Gestalten auf das Christusereignis hin bezogen. Ihre Lektüre hat einen geschichtlichen Referenzpunkt, den sie gegen jede gnostische Verflüchtigung verteidigen: die Person Jesu. So hat etwa Clemens von Alexandrien Christus als „neuen Orpheus“ gedeutet. Der Sänger, der in die Unterwelt geht, um seine Gattin Eurydike zu erlösen, erschien ihm als Vorausbild Christi14 – andere haben in Herakles nicht nur ein Vorbild biblischer Helden wie Simson, sondern auch eine Präfiguration des österlichen Siegers über Leiden und Tod gesehen.15 Ein besonders vielfältiges Echo hat der Mythos von Odysseus gefunden, der den Verlockungen der Sirenen widerstanden hat, weil er sich freiwillig an den Mastbaum des Schiffes band.

Die doppelte Gefahr des Odysseus Die schriftliche Endfassung der Odyssee dürfte, wie die neuere Homer-Forschung geltend macht, auf Vorstufen der Oral-poetry-Tradition zurückgehen, die von einem Autor (oder Autorenkollektiv?) schließlich geordnet und zu einem Epos konfiguriert wurden.16 Ohne die Frage nach Genese und Struktur des homerischen Epos hier weiter zu verfolgen und ohne eine Einordnung der Sirenenepisode in das Ganze der Odyssee vorzunehmen,17 sei sogleich der Inhalt des zwölften Gesangs in Erinnerung gerufen, der architektonisch geradezu die Mitte der Odyssee bildet. Nachdem Odysseus im Hades (nekyia) die Seele des Sehers Teiresias nach seinem weiteren Schicksal befragt hat und mit seinen Gefährten der Unterwelt lebend wieder entronnen ist, steuert er das Schiff zur Insel der Göttin Kirke zurück. Dort geht er mit seinen Gefährten an Land, um den Mitstreiter Elpenor zu bestatten. Nach der Bestattung gewährt Kirke den Männern ein stärkendes Mahl. Bei Sonnenuntergang, als die Gefährten des Odysseus sich schlafen legen, nimmt Kirke den Sohn des Laertes noch einmal zur Seite und eröffnet ihm die Gefahren der weiteren Schifffahrt. Zwei Herausforderungen werde er zu bestehen haben, wenn er die Heimkehr (nostos) antreten wolle: zuerst den berückenden Gesang der Sirenen, 13 Henri de Lubac: Hellenistische und christliche Allegorese. In: Ders.: Typologie – Allegorie – geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von Rudolf Voderholzer. Freiburg i.Br. 2 2007, 343–394, hier 383. 14 Wilhelm Geerlings: Das Bild des Sängers Orpheus bei den griechischen Kirchenvätern. In: Raban von Haehling (Hg.): Griechische Mythologie und frühes Christentum. Darmstadt 2005, 254–267. 15 Vgl. Henrike Maria Zilling: Jesus als Held. Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie. Paderborn 2011; Knut Backhaus: Religion als Reise. Intertextuelle Lektüren in Antike und Christentum. Tübingen 2014, 133–153. 16 Vgl. Anton Bierl: Odysseus als Sänger im Prozess narrativer Sinnbildung. In: Hubert Roeder (Hg.): Das Erzählen in frühen Hochkulturen II: Eine Archäologie der narrativen Sinnbildung. Paderborn 2018, 197–219. 17 Zu Struktur und Funktion der Irrfahrten vgl. die instruktive Analyse von Almut-Barbara Renger: Zwischen Märchen und Mythos. Die Abenteuer des Odysseus und andere Geschichten von Homer bis Walter Benjamin. Stuttgart 2006, 211–248.

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dann die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis. Wer dem verführerischen Zauber der Sirenen erliege, der kehre, so warnt Kirke, „nimmer nach Hause. Sein Weib, seine lallenden Kinder / Treten ihm nicht mehr zur Seite in herzlicher Lust“ (XII, 42 f.). Um der tödlichen Gefahr zu entgehen, empfiehlt die Göttin Odysseus, er möge die Ohren der Gefährten mit geschmolzenem Wachs verstopfen, damit sie den hellen Gesang erst gar nicht hören. Wenn er selbst eine Ausnahme machen wolle, so solle er sich „aufrecht stellen“ und „mit Händen und Füßen“ an den Mastbaum des Schiffes binden lassen, um der todbringenden Verlockung zu entgehen. Erst wenn das Schiff an der Gefahr vorübergerudert sei, dürften die Fesseln wieder gelöst werden. Diese mythische Szene des Odysseus und der Sirenen hat schon in der Antike die allegorische Auslegung beflügelt. Der Weg vom Reich des Schattens, dem Hades, zur Sonne der Heimat ist von Gefahren gepflastert, die es zu meistern gilt. In moralisierenden Deutungen hat die Homer-Allegorese die Tugend der Selbstbescheidung als Weg der Überwindung von Risiken dargestellt. Daran konnten die Kirchenväter anknüpfen, die in der Selbstbindung des Odysseus an den Mastbaum des Schiffes einen verborgenen Vorverweis auf das Kreuz erblickten.18 Diese haben das Meer auf die Welt, das Schiff auf die Kirche und den Mast auf das Kreuz bezogen. „Kirche ist Seefahrt zum portus salutis“, schreibt Hugo Rahner, der dem Motiv in seinem Buch Symbole der Kirche eine Abhandlung von überbordender Gelehrsamkeit gewidmet hat.19 Die Schifffahrt, die nicht nur auf die Kirche, sondern auch auf den Lebensweg des Einzelnen hin gedeutet wurde, war in der Antike allerdings hochambivalent: Sie galt als schönes Abenteuer, aber auch als lebensgefährliches Risiko – immer war ungewiss, ob man den sicheren Hafen am Ende der Reise wohl erreichen würde. Wellengang, Unwetter und Sturm waren nicht vorhersehbar, Klippen, Sandbänke und seichte Buchten galt es zu vermeiden. Ob man im Falle des Schiffbruchs die rettende Planke erreichen würde – wer konnte das wissen?

Die Selbstbindung an den Mastbaum als Modell für den christlichen Lebensstil – ein Topos patristischer Theologie Es ist deutlich, dass diese Zusammenhänge ohne Schwierigkeiten ins Theologische übertragen werden konnten. Den Hafen des Heils kann man nur im Schiff der Kirche erreichen, das den Stürmen der Welt standhalten kann. Schon Justin der Märtyrer ergänzt die nautische Symbolik um das Kreuz, das er in Mastbaum und Segelstange sinnenfällig ausgeprägt sieht: „Nicht kann das Meer durchsegelt werden, außer wenn auf dem Schiff das Tropaion des Kreuzes, der Mastbaum unbeschädigt ist.“20 18

Vgl. die Dokumentation der einschlägigen Texte bei Sabina Wedner: Tradition und Wandel im allegorischen Verständnis des Sirenenmythos. Frankfurt a.M. 1994. 19 Hugo Rahner: Odysseus am Mastbaum. In: Ders.: Symbole der Kirche. Salzburg 1964, 230– 271, hier 240. Vgl. auch Jean Daniélou: Le navire de l’église. In: Ders.: Les symboles chrétiens primitifs. Paris 1961, 65–76. 20 Justin: Apologie I, 55, 3 f.

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An dieser Stelle ist der Einsatzpunkt für allegorische Lesarten im Horizont der hellenistischen Kultur, für die Homers Odyssee ein wichtiges Referenzwerk darstellte. Christen, die mit der griechischen Kultur vertraut waren, beziehen den an den Mast gebundenen Odysseus auf den Christen, der sich mit Christus freiwillig an den Balken des Kreuzes binden lässt, um die Gefährdungen des Säkulums bestehen zu können. Die Klugheit des Odysseus, der den Verlockungen der Sirenen gegenüber Vorsorge trifft, um das Schiff nach Hause zu lenken, konnte als Vorbild für einen christlichen Lebensstil angeführt werden, der angesichts möglicher Irrund Abwege das Ziel der ewigen Heimat nicht aus den Augen verliert. Die Zirkelbewegung der Odyssee wird hier allerdings aufgesprengt und ins Eschatologische verschoben. Anders als der Heimkehrer Odysseus, der sich nach dem Rauch der irdischen Heimat sehnt und am Ende zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückfindet, geht es dem christlichen Pilger nicht um ein irdisches Reiseziel, sondern um das himmlische Vaterland. Die Schifffahrt als Chiffre des Lebens ist in christlicher Lesart an den Topos des portus salutis gebunden. Damit ist die Frage der Lebensführung berührt. Statt sich an die Güter des Lebens zu binden und das Vorletzte mit dem Letzten zu verwechseln, geht es darum, sich freiwillig an Christus zu binden, der am Kreuz die Mächte des Todes überwunden hat. Statt List und Schläue als Strategien der Risikobewältigung zu empfehlen, wird an die richtige freie Entscheidung appelliert: „Der Christ ist auf seiner Fahrt zum Hafen der Ewigkeit vor die herrlich freie, aber todesgefährliche Entscheidung gestellt zwischen Glauben und Unglauben. Im Schiff der Kirche aber vollzieht sich diese Entscheidung – [. . . ] im Festgebundensein an den Mastbaum dieses Kirchenschiffes: ans Kreuz.“21 Neben dem Motiv der freien Bindung des Christen rückt hier der Gesang der Sirenen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Christ, der als Seefahrer unterwegs zum portus salutis ist, muss mit den Herausforderungen der Welt klug umgehen, um kein naufragium zu erleiden. Wie aber sind die Sirenen zu verstehen? Kann ihrem Gesang auch Positives abgewonnen werden?

Ambivalenz der Sirenen: sinnliche Verlockung – Weisheit der Welt: Clemens von Alexandrien Schon in der griechischen Antike gibt es zwei Deutungsstränge für die Sirenen, die etymologisch die „Bestrickenden“ oder „Fesselnden“ bedeuten. Den polymorphen Mischwesen aus Frau und Vogel hat man den Charakter von „vampirartigen Totengespenstern, die vom Blut leben“,22 zugesprochen. Für den einen Strang symbolisieren die Sirenen die Verlockung irdischer Schönheit, vor der man sich in Acht nehmen muss, weil sie todbringend ist. Der sinnliche Reiz und die erotische Anzie21

Rahner, Symbole der Kirche (Anm. 19), 258. Ebd., 250. Almut-Barbara Renger stellt demgegenüber heraus, dass die Sirenen weder etymologisch noch ikonographisch fixierbar sind. Das polymorphe Erscheinungsbild der Sirenen sei für Kunst und Literatur unerschöpflich und für die Wissenschaft nicht eroberbar. Vgl. dies., Zwischen Märchen und Mythos (Anm. 17), 253–258.

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hungskraft des Gesangs, aber auch die einnehmende Gestalt der Sirenen schlagen in Bann – und bringen das Schiff des Lebens vom Kurs ab, ja lassen es vorzeitig auflaufen oder stranden. Der andere Strang versteht die Sirenen als allwissende und hochgelehrte Dämonen, die den Wissensdurst des Menschen zu befriedigen versprechen. Dichter wie Homer und Pindar konnten auf dieser Interpretationslinie mit den Sirenen in Zusammenhang gebracht werden. In seinen Metamorphosen spricht Ovid von doctae Sirenae.23 An beide Stränge der vorchristlichen Allegorese kann die theologische Deutung der Kirchenväter anknüpfen, die durch die Septuaginta mit dem Motiv der Sirenen vertraut sind.24 Für die einen stehen die Sirenen für die vielfältigen Verlockungen der Weltlust, denen der Mensch nicht erliegen darf, wenn er den Hafen des Heils erreichen will. Für die anderen sind die Sirenen Symbole der paganen Weisheit, die den christlichen Glauben anregen und bereichern können. Clemens von Alexandrien, der sich in seiner Logos-Theologie für eine Synthese von Glaube und Vernunft einsetzt, spricht sich gegen eine pauschale Ablehnung der griechischen Philosophie aus. Er will die versprengten Samenkörner des Logos im hellenistischen Dichten und Denken einsammeln, eine übertriebene Ängstlichkeit gegenüber der paganen Kultur lehnt er ab. Auch wenn er im Protreptikos – seiner Mahnrede an die Heiden – wiederholt vor den Verführungskünsten der Sirenen warnt und diese mit der schlechten „Gewohnheit“ (synetheia) zusammenbringt, welche von der Wahrheit des Logos wegführt,25 so bietet er an einer Stelle seiner Stromateis doch eine bemerkenswert positive Deutung. Dort schreibt er über den Sirenen-Mythos: Es scheint, die meisten derer, die sich dem Namen [Christi] verschrieben haben, gleichen den Gefährten des Odysseus, indem sie sich ohne Verständnis für eine feinere Bildung an die Glaubenslehre heranmachen und so nicht nur an den Sirenen, sondern sogar an jeglichem Rhythmus und aller Melodie vorbeisegeln, indem sie sich durch Ablehnung jeder Wissenschaft die Ohren verstopfen, weil sie wissen, dass sie den Weg nach Hause nicht mehr finden würden, wenn sie auch nur ein einziges Mal ihre Ohren der griechischen Weisheit geöffnet hätten!26

Clemens betreibt hier eine gezielte Entdämonisierung der Sirenen und empfiehlt seinen christlichen Zeitgenossen, den Denkangeboten der griechischen Weisheit mit klugem Unterscheidungsvermögen zu begegnen. Dabei setzt er sich scharf 23 Ovid: Met. 5,535. Auch bei Cicero: De fin. V, 49 (eingeleitet und übertragen von K. Atzert. Zürich/Stuttgart 1964, 429) findet sich der Hinweis, dass die Sirenen „verkündeten, viel zu wissen, so dass die Schiffer aus Wissbegierde an ihren Fesseln hängen blieben“. 24 In der Septuaginta finden sich sechs Stellen, an denen die alexandrinischen Übersetzer die hebräischen Ausdrücke für „Schakale“ und „Straußenweibchen“ mit dem griechischen Wort „Sirene“ wiedergeben, das ursprünglich vampirartige Bestien meint, die sich vom Blut von Leichen ernähren, später aber auch die Semantik des Bestrickenden mit sich führt und auf Vögel mit gefährlichen Krallen bezogen wird (vgl. LXX Iob 30,29; Jes 13,21 f.; 34,12; 43,20; Jer 50,39; Mi 1,8). Vgl. Ambrosius: De fide (FC 47/2, ed. Christoph Markschies). Turnhout 2005, 3,1,4. 25 Vgl. dazu Christian Wirz: Der gekreuzigte Odysseus. „Umbesetzung“ als Form des christlichen Verhältnisses zur Welt als dem Anderen. Regensburg 2005, 26–36. 26 Clemens von Alexandrien: Strom VI,11 (89,1). Übersetzung: Rahner, Symbole der Kirche (Anm. 19), 255.

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ab von der Lesart seiner paganen Zeitgenossen, die das Verhalten der Gefährten des Odysseus als klug und umsichtig loben. Clemens identifiziert das Verstopfen der Ohren mit Wachs mit Lernunwilligkeit und polemisiert damit zugleich gegen die Abschottungshaltung vieler seiner Mitchristen, die gegenüber der griechischen Wissenschaft prinzipielle Vorbehalte anmeldeten.27 Weiter heißt es: „Wer aber das Brauchbare zum Vorteil der zu Unterweisenden auswählt, zumal wenn es sich um Griechen handelt, darf sich nicht von der Freude am Lernen abkehren wie ein unvernünftiges Tier, er muss im Gegenteil für seine Hörer möglichst viele Hilfsmittel zusammenbringen.“ Zugleich aber darf man sich bei den Sirenen, die aus der Unbildung herauslocken, auch nicht allzu lange aufhalten, wenn man nach Hause zur wahren Philosophie des Logos gelangen wolle. Clemens schreibt den Sirenenmythos um, um sein Programm einer via media zu plausibilisieren: Weder will er eine pauschale Verwerfung noch eine kritiklose Anpassung an die Denkangebote der griechischen Philosophie.

Die Sirenen als Sinnbild der Häresie: Hippolyt von Rom Die dialogisch wertschätzende, aber keineswegs unkritische Haltung von Clemens ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass andere frühchristliche Stimmen vor Dichtung und Philosophie der Griechen gewarnt haben. Berühmt ist die Frage Tertullians: Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen? Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos, der selbst gelehrt hatte, man müsse den Herrn in der Einfalt seines Herzens suchen [vgl. Weish 1,1]. Mögen sie meinetwegen, wenn es ihnen so gefällt, ein stoisches und platonisches und dialektisches Christentum aufbringen! Wir bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seit das Evangelium verkündet wurde. Wenn wir glauben, so wünschen wir über den Glauben hinaus nichts mehr.28

Solche Abschottungstendenzen gegenüber der griechischen Philosophie führen im Binnenraum der christlichen Selbstverständigung zu einer neuerlichen Fortschreibung des Motivs. Die Sirenen werden nun auf Häresien und gnostische Spekulationen bezogen, die vom wahren Glauben abweichen. Ein prominenter Textzeuge ist hier Hippolyt von Rom, der in seiner Schrift Refutatio omnium haeresium den „schwachen“ Christen empfiehlt, sie sollten sich wie die Gefährten des Odysseus die Ohren verstopfen, um an den Häresien vorbeizusegeln und auch nicht dem Anreiz zur Lust zu erliegen; die „starken“ aber könnten, gebunden an den Mast Christi und aufrecht stehend, die Gefahren der Irrlehren ohne Schwierigkeiten überstehen.29 Die antihäretische Absicht führt bei Hippolyt zum Ausfall einer 27

So Christoph Markschies: Odysseus und Orpheus – christlich gelesen. In: Haehling, Griechische Mythologie und frühes Christentum (Anm. 14), 227–253, hier 235. 28 Tertullian: De praescriptione haereticorum 7,9. 29 Hippolyt von Rom: Elenchos VII, 13, 1–3. Vgl. dazu das Kapitel: Odysseus bei Hippolyt. In: Zilling, Jesus als Held (Anm. 15), 108–115.

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wertschätzenden Haltung gegenüber dem Erbe der griechischen Philosophie. Für den christlichen Umgang mit der Welt der anderen empfiehlt er die Doppelstrategie des homerischen Mythos: entweder das Verstopfen der Ohren oder kluge Vorsorge, wobei mit Christian Wirz festzuhalten ist: „In der Logik Hippolyts ist gerade der Gefesselte frei, den Gesang friedlich und unbeschadet anzuhören, während jener, der aus Schwäche noch nicht wagt, sich zu binden, der eigentlich Unfreie ist, der sich gehörlos machen muss gegenüber den Gesängen der Häretiker, um keinen Schiffbruch zu erleiden.“30

Die Sirenen und die Schönheit des Glaubens – überbietende Anknüpfung: Ambrosius Bei Ambrosius von Mailand lässt sich ein gutes Jahrhundert später erneut eine Akzentverschiebung feststellen, wenn er die Sirenen vor allem als Symbole der Weltlust deutet. Nicht die Skepsis gegenüber philosophischen Gedanken oder die Abwehr häretischer Ideen stehen bei ihm im Zentrum, obwohl auch diese in seiner Schrift De fide vorkommen,31 sondern die moralische Wachsamkeit gegenüber den gleisnerischen Verlockungen des Diesseits, die Warnung vor der Wollust der Welt (saeculi voluptas), welcher der Christ auf seiner irdischen Reise ausgesetzt ist und der er nicht erliegen darf.32 Dabei ist es entscheidend, dass nicht die Welt, nicht die Schönheit abgelehnt wird, sondern der Missbrauch und falsche Umgang damit. Überdies findet sich bei Ambrosius in seinem Kommentar zum Lukas-Evangelium an der Stelle, wo es um die Versuchungen Jesu geht (vgl. Lk 4,1–5), ein bemerkenswerter Homer-Exkurs. Rhetorisch geschickt rechtfertigt der Bischof von Mailand seine Abschweifung vom Evangelium, indem er das Schifffahrtsmotiv reflexiv auf seinen exegetischen Kommentar bezieht. Die Methode der Auslegung selbst sei einer Küstenfahrt vergleichbar, welche das Risiko der Ausfahrt auf hohe See scheue und immer wieder unterbrochen wird, um schöne Landschaften und Städte an der Küste aufsuchen zu können. „Um wieviel mehr müssen wir, die wir zwar nicht inmitten eines gewaltigen tiefen Elementes, wohl aber gewaltig tiefer himmlischer Geheimnisse uns befinden, an näher gelegenen Hafenplätzen anlegen und gern des öfteren Abstecher machen, damit nicht einer, der langen Fahrt überdrüssig und müde, vor Ekel sich nicht mehr des Erbrechens erwehren kann.“33 Um Langeweile bei den Rezipienten zu vermeiden und deren Aufmerksamkeit zu stei30

Wirz, Der gekreuzigte Odysseus (Anm. 25), 37. Vgl. Ambrosius, De fide (Anm. 24), 1,6,46 f. 32 Vgl. ebd., 3,1,4 f.: „Von dem griechischen Dichter [Homer] selbst wird auch der Weise [Odysseus] eingeführt, der gewissermaßen mit den Banden seiner Klugheit gefesselt, an diesen Verlockungen [den Sirenen] vorbeigesegelt sein soll [. . . ]. Wenn aber dieser Dichter die Verlockung der weltlichen Ausgelassenheit als schädlich für den menschlichen Sinn und als eine solche, die zwangsläufig Schiffbruch erleiden muss, beurteilt hat, wie müssen wir es einschätzen, wir, für die geschrieben steht: ‚Lasst die Sorge für den Leib nicht zur Begierde werden‘ (Röm 13,14)?“ 33 Ambrosius: Expositio evangelii secundum Lucam IV,1. Übersetzung: Johann Ev. Niederhuber (BKV, Ambrosius von Mailand: Lukaskommentar mit Ausschluss der Leidensgeschichte. Kempten/München 1915, 158). 31

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gern, sind in den Homilien abwechslungsreiche Exkurse zu den Mythen Homers durchaus statthaft. Um das Thema der Versuchungen Jesu vorzubereiten, wendet sich Ambrosius nun dem Sirenenmythos zu. Dabei bietet er eine kühne Neuinterpretation, welche die wertschätzende Haltung des Clemens von Alexandrien noch einmal steigert, wenn sie den ästhetischen Reiz der Sirenen positiv aufgreift, um sie dann christlich zu überbieten. Mag der Gesang der Sirenen bezaubern, die Schönheit des christlichen Glaubens bezaubert noch mehr! Diese komparativische Logik der Überbietung bestimmt die rhetorisch glanzvolle Passage: Die Reize der Sirenen sind für Odysseus und seine Gefährten schon verlockend, aber wieviel mehr müssen nicht religiös gesinnte Männer von der Bewunderung der himmlischen Begebenheiten bezaubert werden! Und da gibt es nicht nur süßer Beeren Saft zu kosten, sondern jenes „Brot, das vom Himmel gekommen ist“ (Joh 6, 50 f.); nicht bloß des Alkinoos Gemüsebeete zu schauen, sondern Christi Geheimnisse [. . . ]. Nicht schließen, sondern öffnen soll man die Ohren, um Christi Stimme zu hören; denn wer sie vernimmt, braucht nicht Schiffbruch fürchten, nicht wie Ulixes mit physischen Stricken an den Mastbaum gebunden, sondern mit geistigen Banden an das Kreuzholz geheftet zu werden, um nicht von den Lockungen der Lüste betört zu werden und das Lebensschifflein in die Gefahr der Lust hineinzusteuern.34

Die geistige Selbstbindung an das Kreuz macht frei, sie ist nicht mehr wie Odysseus auf Stricke angewiesen, weil sie sich von Jesus Christus und seiner Botschaft in Freiheit gewinnen lässt. Allerdings scheint Ambrosius gleich im Anschluss an diese Passage seine kühne Auslegung wieder zurücknehmen zu wollen, wenn er in geläufige Fahrwasser zurückrudert und die typische Abwertung der Mythen als lügnerische Fiktion vornimmt, die vor der Wahrheit des Glaubens als bloßer Schein zurücktreten muss; das „Heidentum“ wird gleichsam herbeizitiert, um vor dem „Heidentum“ zu warnen: Dichterische Einbildung nämlich malte den Mythos aus, wonach Mädchen am klippenreichen Meeresgestade gehaust haben sollen: verführten sie mit süßer Stimme Seefahrer um des lieblichen Ohrenschmauses wegen zur Abänderung des Kurses, gaben sie die in die verborgenen Untiefen geratenen, durch die falsche Landungsstelle getäuschten Opfer dem Schicksal unseligen Schiffbruches preis. Das ist Dichtung, auf Schein beruhend, eitle Ausschmückung, mit künstlichen Farben aufgetragen.35

Im Sinne der moralischen Allegorese werden das Meer als Welt, die Sirenen als Symbole der Lust und der Schiffbruch als Folge mangelnder Vorsicht gedeutet. Dabei fällt auf, dass das Motiv der Heimkehr, das für die Odyssee selbst so wichtig ist, in der Ausdeutung des Ambrosius beinahe ganz zurücktritt.36 Dafür stellt er in einer christologischen Transformation des Mythos heraus, dass in der Bindung an das 34

Ebd., IV, 2 (BKV, 159). Ebd., IV, 3 (BKV, 160). 36 Anders bei Paulinus von Nola, der in einem seiner Briefe ebenfalls in moralischer Absicht vor den Sirenen warnt. Vgl. ders.: Epistulae – Briefe. Übers. und eingeleitet von Matthias Skeb OSB (FC 25/1). Freiburg i.Br. 1998, Bd. 1, 389 = ep. 16,7: „Denn der unheilvolle Reiz der Vergnügungen bringt bei uns das Vaterland in Vergessenheit, da er die Menschen Gott vergessen lässt, 35

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Kreuz Rettung und Heil liegen. Dem entspricht, dass sich das Motiv des Odysseus am Mastbaum im vierten Jahrhundert auch auf christlichen Sarkophagen abgebildet findet.

Odysseus am Mast als Präfiguration des Gekreuzigten: Maximus von Turin Auf der Linie des Ambrosius betont Maximus von Turin, der dem Sirenen-Mythos eine eigene Predigt widmet,37 ebenfalls die Differenz zwischen Fabel und Wirklichkeit und greift dazu erneut auf die Denkfigur der Überbietung zurück. Wenn schon in der Fabel Odysseus durch die Bindung an den Mastbaum die Gefahren bewältigt, um wie viel mehr ist in Wirklichkeit geschehen, als Christus am Mastbaum des Kreuzes das ganze Menschengeschlecht der Gefahr des Todes entrissen hat. Der Sirenen-Mythos ist Dichtung, das Kreuz Christi ist Wirklichkeit! Anders als Ambrosius hebt Maximus allerdings nicht so sehr auf die Moral ab, um die Verlockungen der Weltlust zu überwinden. Vielmehr betont er das kreuzestheologische Fundament, das allem Bemühen der Christen vorausliegt. Ausdrücklich schreibt er: Weil nämlich Christus der Herr ans Kreuz gebunden worden ist, deswegen überwinden wir die verlockenden Gefahren der Welt gleichsam mit verschlossenem Ohr; weder werden wir vom verderblichen Hören auf die Welt mit Beschlag belegt, noch werden wir von einem besseren Lebenswandel abgelenkt an die Klippe der Lust. Der Mastbaum des Kreuzes nämlich führt nicht nur den gebundenen Menschen selbst zur Heimat, sondern schützt auch die Gefährten um ihn herum im Schatten seiner Kraft.38

Während bei den anderen Kirchenvätern Odysseus am Mastbaum ein Sinnbild für den Christen darstellt, dessen Bindung ans Kreuz implizit auf Christus verweist, wird bei Maximus von Turin Christus selbst ins Zentrum gerückt.39 Ihm kommt der Primat zu, dann erst kommt der Christ, der sich in Freiheit an Christus bindet, um gegenüber den Ambivalenzen der Welt die richtige Haltung einzunehmen. Es genügt, wenn er sich dabei „im Schatten seiner Kraft“ aufhält. Das ist das Neue. „Odysseus ist zuerst Christus, bevor es der Christ werden kann.“40 Christus hat die

der das gemeinsame Vaterland aller ist.“ Wegen der Engführung des Sirenenmotivs auf sinnliche Verlockungen empfiehlt Paulinus übrigens, „nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen“ – non auribus tantum, sed et oculis – fest verschlossen zu halten, um nicht auf den „Felsen der Schuld“ oder die „Klippe des Todes“ aufzulaufen und den „Schiffbruch des Heils“ (naufragium salutis) zu erleiden. 37 Maximus Turinus: Sermo XXXVII: De die sancto paschae et de cruce domini (CCSL 23). Turnhout 1962, 145–147. Dokumentiert bei Wedner, Sirenenmythos (Anm. 18), 208. 38 Sermo XXXVII, 2 (Übersetzung: Wirz, Der gekreuzigte Odysseus [Anm. 25], 47). 39 Das betont auch Rahner, Symbole der Kirche (Anm. 19), 266: „Nicht mehr der Christ ist es, der sich in Nachahmung des gefesselten Odysseus ans Kreuz anbinden soll, sondern Odysseus am Mastbaum ist das Vorbild für Christus selbst.“ 40 Wirz, Der gekreuzigte Odysseus (Anm. 25), 48.

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Welt besiegt – und Christen können Anteil an diesem Sieg erlangen, indem sie sich an Christus binden. Augustinus liegt auf derselben Linie, wenn er vermerkt: „Das Schiff sticht in See und erreicht den Hafen. Aber zum Hafen gelangen wir nur durch das Schiff. Wir setzen nämlich die Segel, wenn wir den Fluten und Stürmen dieser Welt ausgesetzt sind. Und ich bin sicher, dass wir nicht untergehen, weil wir durch das Holz des Kreuzes getragen werden.“41 Es ist demnach nicht das Holz des Schiffes, das vor dem Untergang bewahrt, auch nicht der Mastbaum mit dem Segel, welches das Vorankommen bei Wind und Sturm sichert, sondern das Holz des Kreuzes. Augustinus erweitert die Bildsprache der nautischen Symbolik, ja durchkreuzt sie sogar, wenn er sagt, dass wir deshalb nicht untergehen, weil wir durch das Kreuz getragen werden! Das Schiff der Kirche durchquert das gefährliche Meer der Zeit und erreicht die rettenden Gestade der Ewigkeit nicht ohne das Kreuz. Aber das Kreuz ist nicht der Mastbaum mit Antenne, an die das Segeltuch geknüpft ist, sondern das tragende Fundament und rettende Symbol: „Nemo enim potest transire mare huius saeculi nisi cruce Christi portatus – niemand kann das Meer dieser Welt durchqueren, wenn er nicht durch das Kreuz Christi getragen wird.“42 Destilliert man den vielstimmigen Chor dieser Lesarten auf eine Grundaussage, dann ließe sie sich in folgende Mahnung fassen: Der Christ, der das Meer der Welt ohne Schiffbruch durchqueren und den Hafen des Heils erreichen will, muss sich in Freiheit an das rettende Zeichen des Kreuzes binden. Dann ist er gefeit gegen sinnliche Verlockungen und geistige Irrlehren, wie sie von den Schulen der Philosophie, aber auch diversen Häresien angeboten werden. Für dieses Verhalten zur Welt, offen, aber vorsichtig, ist der Seefahrer Odysseus Modell, der sich freiwillig an Händen und Füßen an den Mastbaum des Schiffes fesseln ließ, um der Gefahr der Sirenen zu entgehen. Zugleich aber, das zeigen Clemens von Alexandrien und Ambrosius von Mailand, repräsentieren die Sirenen neben den sinnlichen und intellektuellen Verlockungen auch die Weisheit der antiken Kultur, die man nicht unbeachtet lassen sollte. Ja, der ästhetische Reichtum dieser Kultur kann sogar als Vorlage herangezogen werden, um die noch größere Schönheit des Glaubens in überbietender Absicht zu illustrieren.43 Das Sinnbild der Sirenen ist demnach keineswegs auf einen Bedeutungsaspekt engzuführen. Neben dem Reiz der Welt steht es auch für das reichhaltige Erbe der griechischen Kultur. Und neben der Empfeh41

Augustinus: Tractatus sive sermones inediti (ed. G. Morin). Kempten/München 1917, 125: Transit navis et venit in patriam. Sed ad patriam non nisi per navem. Navigamus enim, si attendamus fluctus tempestatesque huius saeculi. Nec dubito quod ideo non mergimur quia crucis ligno portamur. 42 Augustinus: Tract. in Joh. II, 2.3 (PL 35, 1389 f.). 43 Ein später Reflex dieser Überbietungsfigur ist in der Enzyklika Humani generis (1950) von Papst Pius XII. zu finden, der die Theologie in antimodernistischer Manier vor Gefährdungen warnen will. Dort heißt es: „Was aber aus volkstümlichen Erzählungen in die Heilige Schrift übernommen wurde, das darf keineswegs mit Mythologien oder anderem Derartigen gleichgestellt werden, das mehr aus einer weitschweifenden Einbildungskraft herrührt als aus jenem Streben nach Wahrheit und Einfachheit, das in den Heiligen Büchern auch des Alten Testaments so sehr aufstrahlt, dass man von unseren Verfassern der heiligen Bücher sagen muss, dass sie die alten Profanschriftsteller klar überragen [praecellere].“ (DH 3899)

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lung, sich in Freiheit an Christus zu binden, um die Verlockungen der Weltlust zu bestehen, steht die Aufforderung, das Dichten und Denken Athens aufmerksam zu prüfen, um es für die rechte Explikation des Glaubens zu nutzen.44

Grenzüberschreitung und Schiffbruch – die Umbesetzung des Odysseus-Mythos bei Dante Gegenläufig zur Deutung der Kirchenväter fällt die Behandlung des OdysseusMythos aus, die Dante Alighieri an der Schwelle zwischen Spätmittelalter und Neuzeit in seiner Divina commedia vorlegt.45 Von Odysseus am Mastbaum als Sinnbild für Christus oder den Christen ist hier nicht mehr die Rede. Dante rückt vielmehr den kühnen Seefahrer und Entdecker ins Zentrum, der ins Offene hinaussegelt – und dabei scheitert. „Odysseus als welterkundender Seefahrer ist eine zutiefst moderne Neugierfigur, gleichsam der Urvater von Kolumbus und all den anderen Entdeckern zur See, die das Antlitz der Erde für uns radikal verändert haben.“46 Die Ambivalenzen unbeschränkter Welterkundung des Menschen, der letztlich „Gott Paroli bieten will“,47 werden in der Divina commedia herausgestellt. Im achten Höllenkreis stoßen Dante und sein väterlicher Begleiter auf die Gestalt des Odysseus, der durch flackernde Flammenzungen ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vergil erklärt, dass der antike Held hier als Betrüger bestraft wird, und erinnert daran, dass Odysseus das hölzerne Pferd erbauen ließ, um die belagerte Stadt trickreich zu erobern, dass er Achill überredete, am Krieg gegen die Trojaner teilzunehmen, was diesem das Leben kostete. Diese Negativzeichnung entspricht der Umwertung der Gestalt in der Aeneis, die aus dem bewunderten Helden Odysseus den verhassten Betrüger Ulysses macht, dem genau das fehlt, was den neuen Helden Aeneas auszeichnet: die Tugend der pietas, die Bereitschaft zur Demut, das „eigene Streben dem providentiellen Geschichtsplan“ unterzuordnen. „Der Weg des homerischen Odysseus in die Hölle Dantes führt über Vergil, dem sich der christliche Epiker in so wichtigen Punkten wie Pietas und Geschichtstheologie verbunden fühlte.“48 Odysseus selbst spricht in seiner eindrücklichen Rede an die beiden Jenseitswanderer von einem unersättlichen Welthunger, der ihn verleitet habe, seine natürlichen Bindungen an den Sohn Telemachos, den Vater Laertes und die treue Gattin Penelope aus dem Blick zu verlieren; er gesteht: 44

Zur Frage des rechten Gebrauchs vgl. Christian Gnilka: Chresis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. Bd. 1: Der Begriff des „rechten Gebrauchs“. Basel/Stuttgart 1984. 45 Dante: Divina commedia, Inf., c. XXVI. 46 So treffend Sibylle Lewitscharoff in ihrem Dante-Roman Das Pfingstwunder. Berlin 2016, 195. 47 Ebd., 196. 48 Aleida Assmann: Odysseus und der Mythos der Moderne. Heroisches SelbstbehauptungsWissen und weisheitliches Selbstbegrenzungs-Wissen. In: Gotthard Fuchs (Hg.): Lange Irrfahrt – große Heimkehr. Odysseus als Archetyp – zur Aktualität des Mythos. Frankfurt a.M. 1994, 103– 122, hier 104.

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né dolcezza di figlio, né la pieta del vecchio padre, né ’l debito amore lo qual dovea Penelopè far lieta, vincer potero dentro a me l’ardore ch’i’ ebbi a divenir del mondo esperto e de li vizi umani e del valore; Da konnte nicht die Lust am Sohn, das Weh Des alten Vaters, noch die schuldige Liebe, Die wohltun sollte der Penelope, Den Durst nach Kenntnis von dem Weltgetriebe In mir verlöschen, noch auch von der Art Der guten und der bösen Menschentriebe!49 (Inf., c. XXVI, 94–99)

Im Inneren brennt das Verlangen nach Welterkundung. Odysseus erzählt, dass er und seine Gefährten so lange durchs Meer gesegelt seien, bis sie schon alt und müde – vecchi e tardi – waren. Das aber wäre eigentlich der angemessene Zeitpunkt gewesen, die Heimreise anzutreten. Aber sie übergehen den Zeitpunkt, weil sie auf ihrer Fahrt soeben die Säulen des Herkules erreichen, das klare Zeichen einer Grenze, die nicht überschritten werden darf. (Später wird Dante von Adam im „Paradiso“ erfahren, dass das Wesen der Sünde in der „Überschreitung des Zeichens“ – il trapassar il segno50 – besteht.) Das Verbotene aber lockt. So stachelt Odysseus in einer Brandrede seine erschöpften Gefährten an, weiterzufahren, um den Erfahrungshorizont über das Bisherige hinaus zu weiten. Er appelliert an das menschliche Streben nach Erkenntnis und Tugend. Angespornt rudert die Mannschaft „in tollem Flug“ (folle volo) über die Grenzen der damaligen Welt hinaus. Nach fünf Monaten sehen sie in der Ferne endlich einen verheißungsvollen Berg. Doch der Jubel über das unbekannte Land weicht jäh dem Entsetzen, als von dort ein heftiger Wirbelsturm losbricht, der das Schiff erfasst und in einen Strudel reißt. Am Ende schlagen die Wellen über Odysseus und seinen Gefährten zusammen. Bei Dante zeigt sich eine radikale Umdeutung des Odysseus-Bildes. Schon der Grundriss der Odyssee erfährt eine Verformung: Die Sinnfigur der Rückkehr zum Ausgang, die schon bei den Kirchenvätern ins Eschatologische transponiert wurde, wird hier geradezu demontiert. Dante „lässt Odysseus nicht in die Heimat zurückkehren, sondern über die Grenzen der bekannten Welt, über die Säulen des Herkules hinaus auf den Ozean vordringen. Dort entschwindet er dem Blick im Ungewissen, getrieben von seinem hemmungslosen Wissensdrang und dem endgültigen Schiffbruch am Berg Eden“.51 Das führt zu einer theologischen Umcodierung 49

Dante: Die göttliche Komödie. Übertragen von Wilhelm G. Hertz. Frankfurt a.M. 1955, 108. Dante: Divina commedia, Par., c. XXVI, 117. 51 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 5 1990, 89 f. – An anderer Stelle notiert Blumenberg: „Vielleicht war die Kühnheit, mit der Dante der antiken Grundfigur [der Kreisbewegung der Rückkehr zum Ausgang] widersprach und gerade dadurch die Neuheit seiner Konzeption 50

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des Odysseus-Bildes: Aus dem Vorbild des Heils wird ein Warnbild des Unheils. Der Topos der freiwilligen Selbstbindung, in dem die Kirchenväter ein Modell für die christliche Haltung zur Welt gesehen hatten, weicht dem Topos einer grenzenlosen Entfesselung der Freiheit, die gewachsene Bindungen hinter sich lässt. Der Welt- und Wissensdurst hat für Dante an der Epochenschwelle zur Neuzeit durchaus etwas Faszinierendes. Das wird an der Art und Weise deutlich, wie er Odysseus auftreten und sprechen lässt. Zugleich ist das Scheitern des antiken Seefahrers, wie Hans Blumenberg notiert, in Dantes Weltsicht zutiefst angemessen: „Der Mann, der die Neugierde der Trojaner mit dem hölzernen Pferd geweckt und so ihren Untergang listig herbeigeführt hatte, verfällt selbst einem Untergang, in den ihn seine Neugierde beim Anblick eines verhängnisvollen Zieles, des aus dem Weltmeer emporragenden dunklen Berges, hineinlockt.“52 Die ungezügelte Neugierde, die bereits Augustinus theologisch in Misskredit brachte, wird verworfen; der eschatologische Ort, den Dante dem Odysseus im Rahmen seiner Topographie des Jenseits zuweist, ist die Hölle! Bei der Begegnung zwischen Odysseus und den beiden Jenseitswanderern ist allerdings nirgends von den Sirenen die Rede.53 Diese Leerstelle wird im XIX. Gesang des „Purgatorio“ nachgetragen, und es verwundert nicht, dass aus dem strahlenden Helden Homers, der die Gefahr durch kluge Vorsorge besteht, bei Dante ein kläglicher Versager wird, der sich leichtfertig bezaubern lässt. Nicht ohne Stolz verkündet die Sirene: „Io volsi Ulisse, del suo cammin vago, / al canto mio, e qual meco si ausa, / rado sen parte, sì tutto l’appago – Ich zog Odysseus von seiner ziellosen Fahrt zu meinem Gesang. Wer mit mir vertraut wird, zieht selten weiter, so stille ich all sein Verlangen“ (Purg., c. XIX, 19–20). Die Sirene aber scheint ihn weniger durch erotische Verlockung als durch Stimulierung seiner Wissensbegierde bezaubert zu haben. Überhaupt erinnert das Erkenntnisstreben des Odysseus an den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem in der Paradieserzählung die Rede ist. Ihn lockt das Verbotene, seine Expedition ins Unbekannte macht selbst vor heiligen Grenzen nicht halt. Will er am Ende sein wie Gott? Ein kluger DanteKommentator hat vermerkt: „Odysseus hat bewusst das Medium des lignum vitae verschmäht und das lignum scientiae boni et mali gewählt.“54 Ähnlich hält Ernst Bloch fest: „Odysseus, als Kapitän der Hybris, stirbt, aber er ist bei Dante der erste titanische Mensch.“55 In der Tat, nachdem Entdecker wie Vasco da Gama und Christoph Kolumbus eine Entgrenzung des geographischen Horizonts ermöglicht hatten, wird Dantes signifikant machte, nur möglich, weil er zum Original der Odyssee keinen Zugang hatte und sich ihm die Gestalt des mythischen Helden schon in den Verformungen der Rezeption darbot.“ Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, 385. 52 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 2 1988, 394 f. 53 Darauf hat mit wachem Blick Wirz, Der gekreuzigte Odysseus (Anm. 25), 211 f., hingewiesen. 54 Georg Rabuse: Die letzte Irrfahrt des Danteschen Odysseus. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zu Dante. Wien 1976, 149–183, hier 175. 55 Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1973, 1203. Die Linie Dantes weiter ausziehend, schreibt Bloch den Begriff „Heimat“ um als den „Nicht-Ort“, an dem noch niemand war.

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Verurteilung der Neugierde zurückgenommen, die Expedition des Odysseus ins Unbekannte erscheint nun als Vorläufer der Entdeckung neuer Kontinente. Die Grenzziehung, die in der Formel Nec plus ultra Ausdruck findet, wird infrage gestellt und erhält durch Francis Bacons Programmformel der neuen Wissenschaft Konkurrenz: Plus ultra.56

Der Gottesbalken für den Schiffbrüchigen im Meer des Nichts: Paul Claudel Die Umdeutung des Odysseus-Bildes durch Dante, der aus dem Helden einen schiffbrüchigen Versager werden lässt, der wegen seiner ungezügelten Neugierde am Ende im Inferno landet, hat in der modernen Dichtung eine vielgestaltige Rezeptionsgeschichte gefunden. Die Expedition ins Offene konnte die Erfolgsgeschichte der okzidentalen Rationalität und ihren Entdeckungs- und Eroberungsdrang zum Ausdruck bringen, der Schiffbruch im Meer ließ aber zugleich auch deren Schattenseiten ins Bewusstsein treten. Die poetischen Stimmen, die vor der Ambivalenz der ungezügelten Weltneugierde warnen, spiegeln gewissermaßen die „Pathogenese der Moderne“.57 Statt diesen bemerkenswerten Motivstrang hier weiter zu verfolgen, sei abschließend der Blick auf eine kreative Fortschreibung bei Paul Claudel gelenkt. In der Eingangsszene seines Stücks Der seidene Schuh, das im Dezember 1924 vollendet und im November 1943 uraufgeführt wurde, findet sich eine eindrückliche Anspielung auf das Motiv des schiffbrüchigen Odysseus, ohne dass auf Homer oder Dante ausdrücklich rückverwiesen würde. Der Rahmen hat sich verschoben. Das Stück spielt am Ende des 16. Jahrhunderts. Die Welt ist entdeckt. Neue Kontinente sind nicht mehr zu erobern. Zugleich steht die veränderte Situation des Glaubens unter den Bedingungen der Moderne im Hintergrund. Nach der Religionskritik durch Feuerbach, Marx und Nietzsche droht der Glaube des Gläubigen im Salzwasser des Zweifels unterzugehen. Die Frage steht im Raum, ob der homo viator nach der Proklamation des Todes Gottes weiterhin auf Gott und seine Verheißung einer himmlischen Heimat setzen kann – oder ob sich der Mensch verliert in den ozeanischen Weiten des Nichts. Die Eröffnung von Claudels Stück nimmt das Motiv des Mastbaums auf, ohne dass – wie bei Joyce, Kafka oder Brecht58 – von den Sirenen noch eigens die Rede 56

Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 52), 396. Vgl. Manfred Frank: Kaltes Herz – Unendliche Fahrt – Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt a.M. 1989. 58 Vgl. James Joyce: Ulysses. Übertragung von Hans Wollschläger. Frankfurt a.M. 1981, der den Stoff der Odyssee auf einen Tag im Leben seines Anti-Helden Leopold Bloom in Dublin, nämlich den 16. Juni 1904, zusammenzieht. Im Sirenenkapitel (355–403), das nach Art einer fuga per canonem aufgebaut ist, werden zwei Motive der Rezeptionsgeschichte, Erotik und Musik, aufgenommen und fortgeschrieben. Bloom besucht die Ormond-Bar, in der ihn zwei Bardamen, Miss Douce und Miss Kennedy, am „Thekenriff“ (358) bedienen, sie haben „Korallenlippen“ (383). Während er Leber isst und einen Brief an seine Freundin Martha Clifford schreibt, werden im Salon nebenan Arien und Liebeslieder mit wechselnder Klavierbegleitung gesungen. Blooms Ehefrau Molly begeht zeitgleich Ehebruch. Wichtiger als die Handlung des Kapitels ist die „singende“ 57

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wäre. Das Wrack eines Schiffes ist zu sehen, das steuerlos auf den Wogen treibt – der Mast ist geschleift, Rahen und Takelage sind auf das Deck gestürzt. An den Stumpf des Mastes ist ein Jesuitenpater gefesselt, der mutterseelenallein durch den Atlantischen Ozean treibt. Kein Land in Sicht, das ihn retten könnte. Piraten, die sein Schiff geplündert und die restliche Besatzung ermordet haben, sind mit der Beute auf und davon. Statt verzweifelt gegen seinen Schöpfer aufzubegehren und mit aller Wucht die Theodizeefrage gen Himmel zu schleudern, nimmt der gefesselte Pater sein Schicksal an und stammelt ein Gebet (dessen elaborierte Diktion in der Übersetzung Hans Urs von Balthasars mit der dramatischen Situation nicht ganz zusammenstimmt): Herr, ich danke dir, dass du mich so gefesselt hast. Zuweilen geschah mir, dass ich deine Gebote mühsam fand und meinen Willen angesichts deiner Satzung ratlos, versagend. Doch heute kann ich enger nicht mehr an dich angepresst sein, als ich es bin, und mag ich auch meine Glieder eins ums andere durchgehn, keines vermag sich auch nur um das geringste von dir zu entfernen. Und so bin ich wirklich ans Kreuz geheftet, das Kreuz aber, an dem ich hänge, ist an nichts mehr geheftet. Es treibt auf dem Meere.59

Das bergende Schiff ist ruiniert, der Mastbaum umgehauen, kein rettender Hafen in Sicht. Man könnte meinen, von der Schiffstheologie der Kirchenväter sei bei Claudel nichts mehr geblieben. Das ausgeplünderte Schiffswrack – Bild für die Kirche, die ihrer Schätze beraubt wurde; der Mensch im Meer – Treibgut der Geschichte, das früher oder später auf dem Grund des Ozeans versinkt. Der Schiffbruch – eine plastische Metapher für das Finale ins Nichts, das allen bevorsteht und von dem Nietzsche so emphatisch gesprochen hat!60 Aber ein solches Urteil wäre vorschnell. Denn anders als bei Dante, der Odysseus’ Fahrt ins Offene hinaus scheitern lässt, ist bei Claudel die Bindung an den Stumpf jenes Mastbaums geblieben, der schon im Sirenen-Mythos Homers, aber erst recht bei den Kirchenvätern die Semantik der Rettung mit sich führt. Und wie der am Kreuz nach Gott schreiende Christus sein Leben für die Verlorenen gegeben hat, so will auch der Pater in seiner aussichtslosen Lage sein Leben für seinen Bruder Rodrigo geben. Zumindest bittet er darum. Gewiss, Claudels Szene zeigt die radikale Fraglichkeit des Glaubens heute, dem alle Sicherheiten zerbrochen, dem alle Garantien zerbröselt scheinen. Wie ein Sprachbehandlung mit Effekten der Lautmalerei und der Synästhesie. Vgl. Wirz, Der gekreuzigte Odysseus (Anm. 25), 245–262. – Franz Kafka hat in „Das Schweigen der Sirenen“ eine signifikante Umschreibung vorgenommen, wenn er mutmaßt, Odysseus sei dem Schrecken des Schweigens der Sirenen nur durch die Imagination ihres Gesanges entgangen. Vgl. Renger, Zwischen Märchen und Mythos (Anm. 17), 290–315. – Bei Bertolt Brecht schließlich werden unter dem Titel „Berichtigungen alter Mythen“ ausdrücklich Zweifel am Sirenenmythos geäußert: „Das ganze Altertum glaubte dem Schlauling das Gelingen seiner List. Sollte ich der erste sein, dem Bedenken aufsteigen?“ Vgl. Frank D. Wagner: Antike Mythen: Kafka und Brecht. Würzburg 2006. 59 Paul Claudel: Der seidene Schuh. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hans Urs von Balthasar. Salzburg 1953, 16. 60 Vgl. Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft III § 124, der unter dem Titel „Im Horizont des Unendlichen“ notiert: „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! . . . und es gibt kein ‚Land‘ mehr!“ Zur Stelle vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997, 23 f.

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Kommentar dazu liest sich eine Aufzeichnung, an die Maurice Blanchot in seinem Buch Der Gesang der Sirenen erinnert hat. Hier deutet Claudel das Meer als Chiffre für die Haltlosigkeit des modernen Menschen: „Fortgerissen, hin- und hergeworfen im Niederbrechen des Meeres, im Tohuwabohu des unbegreiflichen Meeres, verloren im Wellenklatschen des Abgrunds, sucht der sterbliche Mensch mit seinem ganzen Gewicht nach irgendetwas Festem, woran er sich halten kann.“61 Aber die Eingangsszene des Seidenen Schuhs ergänzt das Bild des im Ozean dahintreibenden Paters durch die Planke, die für die Hoffnung auf Halt in aller Haltlosigkeit steht. „Nur ein loser Balken knüpft ihn an Gott“, schreibt Joseph Ratzinger in seiner Einführung ins Christentum, „aber am Ende weiß er, dass dieses Holz stärker ist als das Nichts, das unter ihm brodelt, das aber dennoch die bedrohende, eigentliche Macht seiner Gegenwart bleibt.“62

Ewiger Schiffbruch? Die Planke des Heils im Meer der Verlorenheit – Hans Urs von Balthasar Die Verlorenheit des transzendental obdachlosen Menschen heute scheint durch den Odysseus-Mythos nur dann noch zum Ausdruck gebracht werden zu können, wenn dieser radikal umgeschrieben wird. Bei Claudel jedenfalls bleibt vom geschleiften Mast nur der Stumpf, der auf dem Ozean richtungslos dahintreibt, Wind und Wellen ausgesetzt. Das unendliche Blau – weit und abgründig, eine Chiffre des Nichts, in dem sich alles zu verlieren droht. In seinem zu wenig beachteten Buch Die Gottesfrage des heutigen Menschen (1956) hat Hans Urs von Balthasar unter dem Titel „Verlorenheit“ das Gespräch mit der Dichtung des 20. Jahrhunderts aufgenommen, um abgründige Erfahrungen des Bösen, der Gottferne, aber auch der Anklage und Rebellion gegen Gott zu sichten.63 Moderne Verlorenheitserfahrungen, die in literarischen Zeugnissen zum Ausdruck gebracht werden, und eine Karsamstagstheologie, die kühn den Gottesverlust in Gott selbst einschreibt und darin einen Solidaritätsakt Christi mit den Verlorenen sieht, bilden die Eckpunkte einer spannungsreichen Konstellation zwischen Literatur und Theologie. Metaphorisch gesprochen: Schiffbruch und Planke sind die elliptischen Brennpunkte seines Interesses. In seinem Buch Die Gottesfrage des heutigen Menschen beschreibt Balthasar eine Wende von der Kosmologie zur Anthropologie. Der „heutige Mensch“ könne sich in der Ordnung der Welt nicht mehr beheimaten. Auch sei sein Sensorium zu stumpf geworden, um in den Werken der Schöpfung das verborgene Wirken des Schöpfers noch erkennen zu können. Durch diese Krise sieht sich der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen und ist – mit dem existentialistischen Pathos Sartres gesprochen – zur Freiheit verdammt. In der modernen Literatur ortet Balthasar seis61 Maurice Blanchot: Claudel und das Unendliche. In: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Frankfurt a.M. 1982, 95–111, hier 104. 62 Joseph Ratzinger: Einführung ins Christentum. Neuausgabe. München 2000, 37 f. 63 Hans Urs von Balthasar: Die Gottesfrage des heutigen Menschen. Erweiterte Neuausgabe aus dem Nachlass. Hg. und eingeleitet von Alois M. Haas. Freiburg i.Br. 2009, 175–225.

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mographische Aufzeichnungen dieses Verlustes an kosmischer Beheimatung und sichtet in einer anthropologisch ausgerichteten Lesart unterschiedliche Formen der Rebellion gegen Gott, der Einsamkeit und Obdachlosigkeit. Bemerkenswert ist nun, dass Balthasar die literarischen Zeugnisse der Verlorenheit mit einem lange vergessenen Topos der Theologie des Ostens verbindet: dem Descensus ad inferos. Im Abstieg Christi zu den Toten haben die griechischen Kirchenväter einen Solidaritätsakt Gottes mit den Verlorenen gesehen. Während die lateinische Theologie des Westens sich früh auf das Kreuzesgeschehen konzentriert und dabei die Bedeutung des Karsamstags vernachlässigt hat, ist für die Theologie des Ostens der Hades-Abstieg Christi von Anfang an zentral gewesen. In ihm hat sie die Befreiung von den Todesmächten gesehen, die auf Ikonen oft triumphal zur Darstellung gebracht wird. Balthasar zitiert in Die Gottesfrage des heutigen Menschen eine eindrückliche Homilie des Ps.-Epiphanias, um in Erinnerung zu rufen, dass Gott durch den Descensus „das Unterste des Untersten einholen wollte“.64 Überdies macht er deutlich, dass die griechische Patristik ein waches Bewusstsein dafür hatte, was Hölle bedeuten würde: das ewige Ausgeschlossensein aus der Gemeinschaft mit Gott, unwiderrufliche Isolation, Verlorenheit. Dagegen setzen Clemens von Alexandrien, Origenes, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Evagrius, Maximus Confessor und andere die Glaubensgewissheit, dass Gott sich aller erbarmen wird, damit sie die ewige Heimat im Himmel erreichen. Diese Hoffnung auf universale Erlösung kann und will sich mit der Vorstellung nicht abfinden, dass auch nur ein einziges Geschöpf in Gottes Schöpfung verloren geht. Dies bringt eindrücklich die Vision des wartenden Christus zum Ausdruck, der so lange nicht von der Frucht des Weinstocks trinken will, bis auch der letzte Sünder im Reich des Vaters angekommen ist.65 Balthasar macht nun – und darin liegt eine innovative Leistung – auf einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen der östlichen Patristik und der neueren westlichen Literatur aufmerksam, der im Motiv der Heimholung des Verlorenen konvergiert. Anders als Dante, der die Hölle durchwandert, als sei der Heilsverlust der Verdammten kein theologisches Problem,66 haben insbesondere katholische Dichter des 20. Jahrhunderts wie Léon Bloy, Paul Claudel, Charles Péguy und Georges Bernanos die Solidarität mit den Verlorenen neu betont und eine „Revolte gegen das stumpfe Sich-Abfinden mit der Verdammnis ihrer Brüder [und Schwestern]“67 64

Vgl. die Homilie des Ps. Epiphanias, ebd., 190–193, hier 191. Vgl. Origenes: Der wartende Himmel. In: Henri de Lubac: Glauben aus der Liebe. „Catholicisme“. Eingeleitet und übertragen von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 3 1992, 368–373. 66 Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen (Anm. 63), 198: „Das höhnische Wort Charles Péguys, Dante habe die Hölle als ein Tourist durchschritten, trifft sachlich das Richtige.“ Ausdrücklich wird wenig später der hermeneutische Abstand markiert: „Dante gehört in eine Zeit, die nicht mehr die unsere ist. Ihm war es möglich, die Hölle anzuschauen, wie man ein objektives Gemälde betrachtet; obwohl er topographisch ‚in‘ ihr ist, nimmt er doch an ihrer Realität nicht teil.“ (199) 67 Hans Urs von Balthasar: Eschatologie in unserer Zeit. Hg. von Alois M. Haas. Nachbetrachtung und Kommentar von Jan-Heiner Tück. Freiburg i.Br. 2005, 73. Dort auch der Hinweis: „Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Werk Charles Péguys, dessen Lebensdrama ganz von der Auseinandersetzung mit dem Dogma von der Hölle bestimmt ist und der nach anfänglicher Revolte dagegen 65

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angezettelt. Sie haben damit den Finger auf einen blinden Fleck der westlichen Theologie gelegt: die Karsamstagsvergessenheit. „An dieser Stelle der christlichen Dichtung des Westens flutet breit der Osten herein“.68 Literatur schildert demnach nicht nur facettenreich und eindrücklich die Gefahr, auf der Suche nach sich selbst verloren zu gehen und mit seiner Existenz in höllischer Einsamkeit Schiffbruch zu erleiden, sie gibt der Theologie zugleich auch einen produktiven Anstoß, aus dem langen Schatten der heilspessimistischen Theologie des Augustinus herauszutreten und das heilsuniversalistische Erbe der griechischen Patristik, wenn man so will: die rettende Planke, neu zu bedenken. Balthasar, der sich wegen seiner heilsuniversalistischen Theologie im Alter mit Häresievorwürfen konfrontiert sah, verweist noch in einer seiner letzten Arbeiten auf Léon Bloy: „Kein Wesen ist ausgeschlossen aus der Erlösung, sonst gäbe es keine Gemeinschaft der Heiligen. Der Ausschluss einer einzigen Seele aus dem wunderbaren Konzert der Welt ist unvorstellbar, wäre eine Gefahr für die universale Harmonie.“69 Damit stellt sich die Frage, ob am Ort der Verlorenheit und des Kommunikationsabbruchs mit Gott neue Kommunikation möglich ist. Balthasar hat diese Frage in seiner eigenen Theologie des Karsamstags, welche die mythologische Einkleidung des Motivs abstreift und den Gedanken der Solidarität, das „Mitsein des toten Christus mit den Toten“, starkmacht, entschieden bejaht. Der Mensch, der sich auf sich selbst versteift, kann in der selbst gewählten Hölle einen anderen finden, der mit verdammt sein will, um ihm am Ort des Sinnverlusts Sinn, am Ort des Kommunikationsverlust Kommunion, am Ort der Isolation Trost – consolatio – aufzurichten. Das wäre nach Balthasar die Planke, die den ewigen Schiffbruch abwenden kann.70

Resümee Leben heißt unterwegs sein. Obwohl der Mensch gewöhnlich auf dem sicheren Festland lebt und arbeitet, imaginiert er seit alters her den Gang seines Lebens bevorzugt im Bild der Schifffahrt. Dabei stellt er fest, immer schon aufgebrochen und in See gestochen zu sein. Aber auf welches Ziel hin richtet er seine Reise aus? Welche Navigationsinstrumente, welcher Kompass stehen ihm zur Verfügung? Wie sind die Segel zu setzen? Wo liegen die Herausforderungen und Klippen, die zu bestehen sind? Die nautische Symbolik eignet sich zur Verständigung über uns selbst, die Schiffsreise mit ihren Reizen und Risiken taugt zur „Daseinsmetapher“.71 und Austritt aus der Kirche, um dem sozialistischen Gedanken einer zeitlichen und ewigen Solidarität aller mit allen (bis in die Verlorenheit hinein) anzuhängen, mit seinem ‚Mystère de Jeanne d’Arc‘ zum Glauben der Kirche zurückgekehrt ist, um den Solidaritätsgedanken in die christliche Eschatologie miteinzubauen.“ (72) 68 Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen (Anm. 63), 201. 69 Hans Urs von Balthasar: Kleiner Diskurs über die Hölle – Apokatastasis. Freiburg i.Br. 1999, 14. 70 Vgl. zum Hintergrund: Magnus Striet/Jan-Heiner Tück (Hg.): Die Kunst Gottes verstehen. Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen. Freiburg i.Br. 2005. 71 Vgl. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer (Anm. 60), Untertitel.

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Das zeigt der Mythos von den Irrfahrten des Odysseus, der am Ende den heimatlichen Hafen Ithaka erreicht. Er bietet eine willkommene Vorlage zur Ausdeutung der conditio humana, die je nach Situation und Interesse um- und fortgeschrieben werden kann. Die Schifffahrt steht für die viatorische Dimension des Lebens; das Meer, das zu durchqueren ist, für die Welt; die Witterung und die Willkür der Naturgewalten für glückliche oder weniger glückliche Kontingenzen; der Gesang der Sirenen für Herausforderungen, die auf dem Weg zu bestehen, aber auch Bereicherungen, die aufzunehmen sind. Ob sinnlich-ästhetisch oder intellektuell-geistig – die Sirenen können faszinierend oder gefährlich oder auch beides zugleich sein. Odysseus überwindet die todbringende Gefahr nicht aus eigener List, sondern dank einer Empfehlung der Göttin Kirke, die er – das macht seine Klugheit aus – nicht unbeachtet lässt. Die freiwillige Bindung an den Mastbaum des Schiffes rettet ihn – ein Motiv, das für christliche Fortschreibungen offen ist. Durch die Transposition des Odysseus-Motivs in den Kontext der christlichen Theologie verschieben sich allerdings die Vorzeichen. Der Mythos, der nicht einfach im Sinne Platons als „Lügenmärchen“ disqualifiziert wird, kann im Licht der Offenbarung des menschgewordenen Logos neu gelesen und in theologischen Kategorien reinterpretiert werden. Zunächst wird die Zirkelbewegung des homerischen Epos – Heimkehr zum Ausgangspunkt – aufgesprengt.72 Das Ziel der irdischen Wanderschaft liegt nicht mehr in den Koordinaten von Raum und Zeit, es wird ins Eschatologische verschoben: Nicht Ithaka, der Himmel ist die Heimat des homo viator. Zugleich zeigt die patristische Rezeption, dass das Motiv der Sirenen unterschiedliche Ausdeutungen erfährt. Neben der moralischen Warnung vor den Verlockungen zum Bösen oder der theologischen Inkriminierung von Häresien – oft radikalisiert durch eine dämonologische Interpretation der Sirenen – steht die inkulturationstheologische Werbung für eine differenzierte Öffnung zur paganen Kultur der Griechen. Statt sich in eigenen Glaubensmilieus abzuschotten und Sondergruppensemantiken auszubilden, die extra muros ecclesiae nicht mehr verstehbar sind, sollen die Denkangebote Athens aufmerksam wahrgenommen und kritisch geprüft werden. Dichtung als ancilla theologiae, könnte man meinen. Aber die Theologie verändert sich durch die Auseinandersetzung mit den Mythen selbst. Noch kühner ist die komparative Lesart des Ambrosius, die den ästhetischen Reiz der Sirenen würdigt, um sie dann durch die Schönheiten des Glaubens überbietend in den Schatten zu stellen. Schließlich kulminiert die christliche Rezeption des Odysseus-Motivs in dem Hinweis auf die freiwillige Bindung an den Mastbaum als Präfiguration des Kreuzes Christi. Dabei wird über die Differenz zwischen der Passion des Ge72

Die Kritik an der Kreisbewegung des abendländischen Denkens, das wie Odysseus ausfährt, um zu sich selbst zurückzukehren, ist auch von Emmanuel Lévinas geltend gemacht worden. Um seine Philosophie der Alterität zu profilieren, hat er selbst auf Abraham als Gegenfigur verwiesen, „der für immer sein Vaterland verlässt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen“. Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i.Br./München 2 1987, 215 f. Vgl. zum Hintergrund Walter Lesch: Philosophie als Odyssee. Profile und Funktionen einer Denkfigur bei Lévinas, Horkheimer, Adorno und Bloch. In: Fuchs, Lange Irrfahrt – große Heimkehr (Anm. 48), 157–188.

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kreuzigten, der brutal hingerichtet wird und sterbend nach Gott schreit, und dem gebundenen Odysseus, der sich nicht ohne Genuss dem Gesang der Sirenen hingibt, großzügig hinweggesehen. Wichtiger als Differenzen sind die Entsprechungen, hier vor allem die soteriologische Dimension, dass in der freien Bindung des Christen an das Kreuz Christi eine Strategie liegt, das Risiko des naufragium salutis abzuwenden. Das naufragium aber wäre für die patristische Theologie der eschatologische worst case. An der Schwelle zur Renaissance setzt Dante in der Divina commedia genau diesen worst case ins Bild. Die Figur der Heimkehr wird nicht nur umgeschrieben, sondern durchkreuzt. Odysseus ist nicht der Weise, der seine Expedition durch kluge Vorsorge erfolgreich zu Ende führt, sondern der Betrüger und Frevler: Von unersättlichem Welthunger getrieben, überschreitet er die Grenzen der damaligen Welt und scheitert. In der Topographie des Jenseits, die in der Divina commedia bildstark ausgebreitet wird, gehört der Held des Homer zu den für immer Verlorenen, die das Inferno bevölkern. Abgesehen davon, dass Dante hier eine mythische Figur genauso behandelt wie eine historische Person, steht Odysseus, der klassische Bindungen geringachtet und die Fahrt ins Offene riskiert, für die Entfesselung der Neugier, theologisch gesprochen: für den Frevel der Hybris. Der griechische Heros mutiert vom Modell des Heils zum Warnbild des Unheils. In einer Serie weiterer poetischer Zeugnisse ließe sich die Witterung für die Ambivalenzen einer Rationalität aufweisen, die mit der Erkundung der Welt ein klares Herrschaftsinteresse verbindet. Ein später Nachhall dieser Umschreibung findet sich in der Eingangsszene von Claudels Stück Der seidene Schuh, die einen schiffbrüchigen Pater auf dem Atlantischen Ozean zeigt. Dem Abgrund des Meeres ausgesetzt und verloren, kann er mit den Augen des Glaubens in der Fesselung an den Stumpf des Mastes die rettende Planke entdecken. Der Germanist und Theologe Hans Urs von Balthasar hat die Erfahrungen, die in der Literatur der Moderne artikuliert werden, zum Anlass genommen, über das Problem von Verlorenheit und Rettung neu nachzudenken. Insbesondere die Rebellion gegen die Hölle aus Solidarität mit den Verlorenen, die sich bei Claudel, aber auch anderen Autoren des Renouveau catholique findet, hat er als Impuls aufgenommen, die Descensus-Theologie des Ostens einer Relektüre zu unterziehen. Seine eigene Karsamstagstheologie, die den Gottesverlust des heutigen Menschen als theologische Herausforderung ernst nimmt, geht so auch auf einen literarischen Anstoß zurück. Schiffbruch und Planke – das sind die elliptischen Brennpunkte dieser Theologie, welche die anthropologische Situation der Orientierungslosigkeit und Unbehaustheit als Anstoß für die soteriologische Reflexion aufgreift. Man mag an Balthasars theologischem Umgang mit der Literatur einiges bemängeln. An textgetreuen Nachzeichnungen, literaturgeschichtlichen Einordnungen oder biographischen Hintergründen ist er wenig interessiert. Aber sein waches Sensorium für menschliche Grenzfragen könnte der weiteren theologischen Auseinandersetzung mit Literatur doch auch einen programmatischen Anstoß im Sinne einer Perspektiverweiterung geben. Die vielfältige Präsenz biblischer und religiöser Motive in der Literatur aufzuspüren und den Gestaltwandel literarischer Verarbeitungen in der Gegenwart nachzuzeichnen, ist gewiss verdienstvoll. Ob beabsichtigt

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oder nicht, stellt sich ein solcher Ansatz auch dem Verblassen religiöser Traditionsbestände entgegen. Das ist in den beschleunigten Lebenswelten von heute allemal wichtig. Aber methodisch hat dieser Zugang doch auch den Nachteil, dass er den Suchfilter von vornherein auf ausdrücklich Religiöses einschränkt. Stimmen, die das menschliche Transzendenzbegehren oder das metaphysische Trostbedürfnis ohne Rückgriff auf biblische, kirchliche oder liturgische Motive zum Ausdruck bringen, bleiben von der Methode her ausgeblendet. Nicht weniger vielversprechend als die Untersuchung religiöser Motive oder der Aufweis von Krisen oder Renaissancen der Gottesfrage,73 der Christusfigur74 oder des Hiobmotivs erscheint mir daher das theologische Interesse an literarischen Suchbewegungen zu sein, die der Frage des Menschen nach sich selbst in den unübersichtlichen Lebenswelten der späten Moderne Ausdruck verleihen. Nicht selten gelingen gerade den Stimmen, die auf religiöses Vokabular ganz oder fast ganz verzichten, die eindringlichsten Formen von Wirklichkeitsverdichtung, wenn es um flüchtiges Glück, melancholische Trauer, emphatische Liebe oder definitiven Abschied geht.75

73 Vgl. das instruktive Panorama bei Georg Langenhorst: „Ich gönne mir das Wort Gott“. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Freiburg i.Br. 2 2014. 74 Vgl. Karl-Josef Kuschel: Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen. Düsseldorf 1999. 75 Vgl. als einen ersten, noch vorläufigen Versuch: Jan-Heiner Tück: Hintergrundgeräusche. Liebe, Tod und Trauer in der Gegenwartsliteratur. Ostfildern 2010, sowie ders.: „Feuerschlag des Himmels“. Gespräche im Zwischenraum von Literatur und Religion. Freiburg i.Br. 2018.

Literatur und die Entzauberung der Welt. Arbeit an der Figur Daniel Weidner

Von Max Weber stammt die Formulierung von der „Entzauberung der Welt“, die bis heute unser Selbstverständnis prägt: die Art, wie wir uns, unser Verhältnis zu unser Vergangenheit und auch zu anderen vorstellen. Wir leben in der Moderne, und das heißt für uns: in einer Welt, die keinen Zauber mehr kennt, die nur noch eine Dimension hat und unter der oder über der es nichts mehr gibt – allenfalls blitzt hier für Momente etwas auf, stabil und verlässlich ist es nicht. „Welt“ ist für uns geradezu der Inbegriff dieser eindimensionalen Wirklichkeit, die alles ist, was wir haben, was uns gemeinsam und verbindlich ist. Der Weg dahin war ein langer, mitunter schmerzlicher, ein Prozess der Enttäuschung, auf den wir – wie immer beim Verlust von Illusionen – auch ein bisschen stolz sind. Andere Welten können wir uns kaum noch vorstellen, sie machen uns ungeduldig, manchmal auch neidisch, vor allem aber nervös. Die Rede von der „Entzauberung“ lässt dabei – anders als etwa die vom „Fortschritt“ – die Bewertung dieses Prozesses durchaus offen, auch bleibt unbestimmt, ob diese „Entzauberung“ aktiv oder passiv, transitiv oder intransitiv zu verstehen ist: Wurde die Welt entzaubert, ist ihr Zauber einfach irgendwie verblasst, oder waren wir es, die sie entzaubert haben? Geht es um einen Entwicklung oder ein Resultat, ist die Entzauberung vollendet oder hält sie noch an? Und wofür steht Entzauberung eigentlich, ist das ein Begriff oder eine Metapher oder etwas anderes? Denn es geht ja wohl nicht nur um das Verschwinden von Zauberei, sondern auch um allgemeinere Prozesse wie etwa den Bedeutungsschwund der Religion oder das Problematisch-Werden von Sinn. Hans Blumenberg spricht von „absoluten Metaphern“, wenn es nicht möglich ist, das mit solchen Metaphern Ausgedrückte wörtlich zu sagen. Absolute Metaphern stehen für Vorstellungen, die uns beherrschen, derer wir uns aber auch bedienen, um uns zu orientieren, wo Begriffe nicht zur Verfügung stehen. Sie sind in der Regel nicht starr, sondern variieren, werden immer wieder neu artikuliert und verschieden ausgeformt. Sie verwandeln sich leicht in Geschichten über die Wirklichkeit, D. Weidner () Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9_14

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in Mythen, die dann ihrerseits zum Gegenstand konstanter Bearbeitung werden: Sie werden fortgesponnen, ergänzt, neu gedeutet oder umerzählt.1 Nur so, nur indirekt, können wir uns Wirklichkeit – oder auch „Welt“ in dem erwähnten Sinn – verständlich machen, also das, was uns immer schon so selbstverständlich ist, dass wir es nicht explizit beschreiben, nicht aktiv in den Fokus nehmen können. „Entzauberung der Welt“ scheint eine solche absolute Metapher, ein solcher Mythos, allgemeiner: eine solche Figur zu sein, mit der wir uns die Welt und insbesondere die moderne Welt zugänglich machen. Eine solche Figur ist immer auch eine literarische Figur. Denn die Variation der Metapher und die Arbeit am Mythos vollziehen sich auf der Ebene der Worte und der Geschichten, sie nehmen ihre Anregungen oft aus Formulierungen der Dichter – die „Entzauberung der Welt“ ist, wie wir sehen werden, ein poetisches Bild bei Schiller und Heine –, und sie geben Dichtung selbst eine wichtige Rolle in dem Prozess, den sie beschreiben. Literatur kann „entzaubern“, weil sie feste Behauptungen in den Modus der Fiktion überführt, sie kann aber auch „verzaubern“, indem sie dem Gegebenen wenigstens poetisch eine weitere Bedeutung gibt. Was Literatur ist und was sie tut, ist dabei jeweils selbst Teil der Geschichte, die mit der Figur und über die Figur erzählt wird. Anstatt die eine oder andere dieser Deutungen einfach zum Vorverständnis zu machen – und zu erklären, Literatur sei „immer“ oder „wesentlich“ entzaubernd oder (rück)verzaubernd –, muss man diese Geschichte lesen und die Arbeit an der Figur nachvollziehen und „durcharbeiten“. Dabei vollzieht sich solche Arbeit oft in bestimmten Formen. Blumenberg hat einmal versucht zu zeigen, dass sich das Wirklichkeitsverständnis der Moderne an der Gattung des Romans ablesen lässt, der keine vollständige, geschlossene oder gar in verschiedene Ordnungen und Schauplätze gegliederte Wirklichkeit entwirft, sondern zunächst einmal „horizontal“ immer weiter erzählt.2 Die Rede von der „Entzauberung der Welt“ verweist aber eher auf eine andere Gattungstradition: auf die Elegie. An ihr lässt sich nicht die Geschichte von Literatur und Religion erzählen, aber eine Geschichte, an der nicht nur konstant am Verhältnis von Religion und Literatur gearbeitet wird, sondern auch an der Frage, was es eigentlich heißt, in einer entzauberten Welt zu leben. Eine Geschichte, die dann freilich wieder verschiedene Varianten hat, in denen sich ihre Bearbeitung vollzieht.

I Weber spricht von der „Entzauberung“ in seinem berühmten Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, als er den reformierten Protestantismus der Reformationszeit beschreibt, der alle „äußerlichen“ Heilsmittel wie Wallfahrten und Reliquien, gute Werke und Seelenmessen ablehnt: „Jener große 1

Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 1998; ders.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1978. 2 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Ders.: Ästhetische und Metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, 47–73.

Literatur und die Entzauberung der Welt. Arbeit an der Figur

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religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte, und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier seinen Abschluß.“3 Diese Formulierung scheint nicht nur auf den Begriff zu bringen, worum es Weber in diesem Aufsatz geht, sondern auch sein größeres Forschungsprogramm über die Geschichte des okzidentalen Rationalismus zusammenzufassen. Allerdings steht dieser Satz nicht im Original, wird erst in der Buchveröffentlichung eingefügt und bleibt auch dort ein „völliger Fremdkörper“4 in einem Text, der sonst nie von Entzauberung spricht. Es ist eine späte und eigentlich nie ausgeführte Idee Webers, eher ein Denkbild als ein Begriff, wie besonders dort deutlich wird, wo Weber am explizitesten von der „Entzauberung“ spricht: in „Wissenschaft als Beruf“. Auch hier steht der Ausdruck für die Intellektualisierung und Rationalisierung der Welt in der Moderne, charakteristisch ist aber, dass nun nach der Bedeutung und dem Wert dieser Phänomene gefragt wird: Hat denn aber nun dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: dieser „Fortschritt“, dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit angehört, irgendeinen über dies rein Praktische und Technische hinausgehenden Sinn?5

Entzauberung ist also zunächst ein Problem, und ein Problem, das Weber auch nicht lösen kann, jedenfalls nicht als Wissenschaftler. Denn für Weber liegt die Grenze der Wissenschaft bekanntlich gerade in der Unmöglichkeit, solche darüber „hinausgehenden“ Fragen zu beantworten: Wie man es machen will, „wissenschaftlich“ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine „Wissenschaft“.6

Die moderne Welt ist also eine entzauberte Welt, aber zu ihrer Beschreibung greift Weber auf die Metaphorik der Götter zurück. Das eine Bild der Entzauberung wird von einem anderen Bild des Götterstreits komplementiert. Die Götter sind nicht verschwunden, sondern auf die Bildebene verschoben, wo sie weiterexistieren, „nur 3

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1988, 94 f. Friedrich Tenbruck: Das Werk Max Webers. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), 663–702, hier 667. Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung bei Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, 201 ff., der betont, dass Webers Ausdruck die drei verschiedenen Prozesse der „Entmagisierung, Entsakralisierung und Enttranszendentalisierung“ beschreibe und „daß das ganze so überaus wirkungsvolle Narrativ der Entzauberung auf dieser begrifflichen Uneindeutigkeit beruht“, ebd., 207. 5 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988, 582–613, hier 594. 6 Ebd., 604. 4

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in andrem Sinne“. Dabei hat Weber selbst keine systematische Werttheorie ausformuliert: Er hat niemals geklärt, was Werte für ihn sind, welche verschiedenen Wertsphären es für ihn gibt und in welchen Verhältnissen diese stehen; insbesondere wird nie wirklich klar, ob das Religiöse für ihn eine eigene Wertsphäre darstellt oder ob alle Werte eine im Kern religiöse Natur haben. Das Bild vom Götterkampf ist daher mehr als eine Illustration, es ersetzt vielmehr die fehlende Werttheorie; noch dazu gerät es bald in Bewegung, weil Weber die polytheistische mit einer monotheistischen Illustration ergänzt. Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist. [. . . ] Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen Prophetie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des „Einen, das not tut“ – und hatte dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen und Relativierungen genötigt gesehen, die wir alle aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute aber ist es religiöser „Alltag“. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.7

Der Streit der Götter erweist sich als Teil einer größeren Geschichte der Vertreibung und Wiederkehr der Götter – die Entzauberung als Vorgang der Entmythisierung ist selbst Teil eines Mythos, der wiederum einer Ambivalenz von Webers Wertvorstellung Ausdruck verleiht: Explizit bestätigt Weber die polytheistische Natur der Werte, die vom Christentum nur lange verdeckt worden sei – implizit entfaltet die Erwähnung des Monotheismus auch den normativen Charakter der Werte, die für ihn eben nicht nur (polytheistisch) kulturelle Gegebenheiten sind, sondern auch (monotheistisch) ethische Aufgaben, für die man sich „entscheiden“ muss. Daher ist der Polytheismus in der Logik des Bildes heute auch ein anderer als in der Antike: Während der Hellene mal diesem und mal jenem Gott opferte, herrscht in der modernen Welt ein „Kampf“ der Götter, den Weber als manichäischen Kampf zwischen Gott und Teufel, also in monotheistischer Semantik beschreibt. Damit wandelt sich das Bild vom Götterkampf zugleich ins präskriptive: Der Einzelne „hat“ sich zu entscheiden, gerade heute, auch und gerade weil das tragische Konsequenzen hat.8 Das Bild der Entzauberung ist also Teil eines viel größeren Bildes, das man als theoretische Allegorie oder eben auch als Mythos bezeichnen kann, weil die einzelnen Metaphern – „Werte sind Götter“ – in ihnen ausgesponnen werden, bis sie schließlich zu handelnden Gestalten werden. Dieser Mythos dient dazu, eine Erfah7

Ebd., 604 f. Zu Webers Tragizismus vgl. die Interpretation von Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt a.M. 1977, 67 f.: „Die kampfzerrissene Welt verlangt ein kampfzerrissenes Individuum. [. . . ] Der Kampf würde nicht völlig vorherrschen, wenn man der Schuld ausweichen könnte. [. . . ] Er [Weber] mußte die durch den Atheismus erzeugte Angst (das Fehlen jeglicher Erlösung, jeglichen Trostes) mit der durch die offenbarte Religion erzeugten Angst (das erdrückende Schuldgefühl) verbinden. Ohne jene Verbindung würde das Leben aufhören, tragisch zu sein, und so seine Tiefe verlieren.“ 8

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rung der Moderne zu beschreiben und deren Geschichte zu erzählen, eingearbeitet in ihn sind Handlungsanweisungen und Verhältnisbestimmungen wie die von Wissenschaft und Werten, von Religion und Politik, die auch am Schluss des Textes noch einmal deutlich werden. Nachdem Weber immer wieder vor den „Kathederpropheten“ gewarnt hat, vor denen, die im Namen der Wissenschaft Werturteile verkünden, heißt es nun, daß heute die Lage für alle jene vielen, die auf neue Propheten und Heilande harren, die Lage die gleiche ist, wie sie aus jenem schönen, unter die Jesaja-Orakel aufgenommenen edomitischen Wächterlied in der Exilszeit klingt: „Es kommt ein Ruf aus Se’ir in Edom: Wächter wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder.“ Das Volk, dem das gesagt wurde, hat gefragt und geharrt durch weit mehr als zwei Jahrtausende, und wir kennen sein erschütterndes Schicksal. Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der „Forderung des Tages“ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.9

Hier wird noch einmal die Aporie der Wertlehre durchgespielt: die Forderung sich zu entscheiden, egal wie. Aber das Pathos dieses Schlusses liegt nicht nur im letzten Satz und im Rekurs auf die Goethe’sche „Forderung des Tages“, sondern auch im Jesaja-Zitat, das Weber als Prophetie der Nicht-Prophetie zitiert. Das Paradox dieses Zitats beschreibt das Paradox des ganzen Textes, in dem Weber mit prophetischem Pathos vor den Kathederpropheten warnt, Werte und Tatsachen zugleich radikal unterscheiden will und dann diese Trennung als höchsten Wert behauptet. So wie die Götter als entzauberte zurückkehren, so verschwindet auch die unmöglich gewordene Prophetie nicht einfach, sondern bleibt als Möglichkeit präsent – als Möglichkeit auch, diese Geschichte über die Wissenschaft überhaupt zu erzählen. Gerade dieses Moment, das auch poetologisch die Frage nach der „Stimme“ der Entzauberung stellt – also: wer spricht eigentlich von „Entzauberung“, wer kann sie proklamieren, fordern, vor ihr warnen, über sie trösten etc.? –, wird sich als entscheidend für die Entwicklung der Figur erweisen. Es ist eine genuin literarische Frage, insofern Literatur nicht nur das Gesagte, sondern das Sagen problematisiert.

II Woher kommt das Bild von der Entzauberung und vom Götterkampf? Der Konflikt von Polytheismus und Monotheismus hat literaturgeschichtlich seinen klassischen Ort in Friedrich Schillers „Die Götter Griechenlandes“, das 1788 in einer ersten, 1800 in einer zweiten Fassung erscheint. Das Gedicht beginnt mit der Erinnerung an eine glücklichere Vorzeit in der Form einer Rede an die Götter: Da ihr noch die schöne Welt regiertet, 9

Weber, Wissenschaft als Beruf (Anm. 5), 613.

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An der Freude leichtem Gängelband Glücklichere Menschalter führtet, Schöne Wesen aus dem Fabelland!10

Rückblickend beschwört das Gedicht die Zeit der griechischen Antike als Zeit der „Lebensfülle“, als die angeredeten Götter in ihrer Anschaulichkeit die Brücke zwischen Erscheinung und Idee bildeten. Vor allem Strophe acht und neun überstürzen sich geradezu vor Komparativen: „reizender“, „prangender“, „schmelzender“, „liebenswerter“, „blühender“, „heldenkühner“, „göttlicher“, „sanfter“, „heiliger“ und „weicher“ (165) sei diese „schöne Welt“ im Verhältnis zu unserer gewesen, die sich durch „traurige Stille“ (168) und die Entfremdung von Mensch und Natur auszeichnet: „Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr, / Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere, / Die entgötterte Natur!“ (168) Auch hier steht die entzauberte Welt also im Gegensatz zu einer schönen Welt des Zaubers. Das Gedicht, das in seiner strengen, ebenmäßigen Form ganz bewusst die antiken Versmaße imitiert und in der überarbeiteten Fassung noch bestehende Unregelmäßigkeiten beseitigt, feiert also die Antike als die Zeit der sinnfälligen Schönheit und der Götter, die nun verschwunden sind, „unnütz einer Welt, / Die, entwachsen ihrem Gängelbande, / Sich durch eignes Schweben hält.“ (168) Die Menschen und sogar ihre Welt sind erwachsen geworden und brauchen kein „Gängelband“; die Welt braucht niemanden mehr, der sie lenkt und bewegt: Wo jetzt nur, wie unsere Weisen sagen, Seelenlos ein Feuerball sich dreht, Lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät. (163)

Die kopernikanische und noch mehr die Newton’sche Welt ist leer, sie ist nur noch ein Raum, der in sich selbst besteht, aber keine Bedeutung mehr kennt, eine Welt von Tatsachen ohne Werte, wie es bei Weber heißen würde. Das lyrische Ich beschreibt diesen Verlust der Bedeutung im Modus der Klage: Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, Holdes Blütenalter der Natur! Ach! nur in dem Feenland der Lieder Lebt noch deine goldne Spur. Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach! von jenem lebenwarmen Bilde Blieb nur das Gerippe mir zurück. (167)

Wie der Frühling ist die schöne Zeit vergangen, die einst lebendige Landschaft ist nun ausgestorben, und vom Leben ist nur dasjenige „gräßliche Gerippe“ (166) zurückgeblieben, das schon vorher für das traurige Verhältnis der Gegenwart zum Tod 10

Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlandes. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1987, 161–173, hier 161. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit einfachen Seitenzahlen zitiert. Zu Schiller als Vorbild von Weber vgl. Morris Berman: The Reenchantment of the World. Ithaca 1981, 69.

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stand. Der Text klagt aber nicht nur, sondern erzählt auch, wie es zu diesem Verlust kam. Neben dem modernen Wissen „unserer Weisen“, das die Natur entgöttert hat, ist es vor allem ein Ereignis, das die Götter verschwinden ließ: Alle jenen Blüten sind gefallen Von des Nordes winterlichem Wehn. Einen zu bereichern, unter allen, Mußte diese Götterwelt vergehn. (168)

Wir sind nicht einfach nur erwachsen geworden, so dass wir unsere Eltern nicht mehr brauchen, sondern ein anderer hat sie verjagt: Ein Gott hat die Herrschaft von den Göttern übernommen, ein Gott, dem freilich die Nähe zu den Menschen abgeht: Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen, Keiner Göttin, keiner Ird’schen Sohn, Herrscht ein Andrer in des Äthers Reichen, Auf Saturnus’ umgestürztem Thron. Selig, eh sich Wesen um ihn freuten, Selig im entvölkerten Gefild, Sieht er in dem langen Strom der Zeiten Ewig nur – sein eignes Bild. (168)

Es ist diese Kritik am Monotheismus, an seiner Sinnenfeindschaft und seiner Abstraktion, die die große Kontroverse über das Gedicht auslöst und auch in den Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus noch lange nachklingt.11 Im Rahmen des Gedichts wird die Götterwelt durch die Gegenüberstellung der vielen Götter und des einen Gottes dynamisiert und dramatisiert, denn nun gibt es nicht nur die verlorene Welt, sondern auch den Verlust selbst zu erzählen. Die Unterscheidung von antiker „schöner“ und moderner „leerer“ Welt erhält gewissermaßen ihr mythisches Komplement: Während das lyrische Ich die „Bürger des Olymp“ noch „erreichen“ konnte, weil sie sinnlich anschaulich waren und es ihm erlaubten, sich selbst auch als „Bildner“, also als Künstler, zu verstehen, so tritt ihm dieser neue Gott nur als „Werk und Schöpfer des Verstandes“, als etwas Fremdes, gegenüber (168 f.). Daher kann der Unterschied von Antike und Moderne auch anthropologisch formuliert werden: „Da die Götter menschlicher noch waren, / Waren Menschen göttlicher“ (169). Die Geschichte von der Entzauberung der Welt ist daher immer auch eine Geschichte der Götter, ja Götter- und Menschengeschichte lassen sich eigentlich gar nicht trennen – diese doppelte Geschichte ist also im eigentlichen Sinne nicht nur eine Geschichte über den Mythos, sondern eine mythische Geschichte.

11

Vgl. Hans-Dietrich Dahnke: Die Debatte um „Die Götter Griechenlandes“. In: Ders./Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin/Weimar 1989, 193–269. Allgemein zum ästhetischen Pantheismus um 1800 vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M. 2000, 173 ff.

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III Schillers Gedicht ist aber nicht nur der Entwurf einer Geschichtsphilosophie, sondern auch ein poetologisches Gedicht, das von der Möglichkeit der Poesie handelt, wie ja schon die Rede vom „Feenland der Lieder“ und vom „Fabelland“ deutlich macht, besonders aber die letzte Strophe der zweiten Fassung: Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne, Alles Hohe nahmen sie mit fort, Alle Farben, alle Lebenstöne, Und uns blieb nur das entseelte Wort. Aus der Zeitflut weggerissen, schweben Sie gerettet auf des Pindus Höhn, Was unsterblich im Gesang soll leben, Muß im Leben untergehn. (173)

Der Tod der Götter, von dem das Gedicht spricht, ist nicht einfach eine Wirklichkeit außerhalb des Gedichtes, sondern dessen eigentliche Möglichkeitsbedingung: Gerade weil die Götter „untergegangen“ sind, können sie im „Gesang“ fortleben. Die Strophe vollzieht diese Wendung geradezu nach: Spricht die erste vom Verlust des „Hohen“, der „Farbe“ der Rede, die „nur das entseelte Wort“ zurücklässt, so erweisen sich die Götter in der zweiten Hälfte als „gerettet“ und „unsterblich“; das letzte Verspaar fasst dies noch einmal umgekehrt zusammen: Leben im Gesang ist Untergang im Leben. Das Modell, das diesem Gedanken zugrunde zu liegen scheint, ist selbst wiederum ein literarisches: das der Elegie. Auch wenn „Die Götter Griechenlandes“ formal keine Elegie ist, folgt das Gedicht dem Muster dieser Gattung, in deren Toten- und Liebesklage sich die Verhandlung von An- und Abwesenheit immer mit der Frage nach der poetischen Stimme überschneidet.12 Denn die Elegie steht immer vor dem Problem, wie es überhaupt noch möglich ist, den Toten oder die verlorene Geliebte zu adressieren, wie man überhaupt noch sprechen kann nach dem Verlust – hier also, wie denn in der entgötterten Welt noch ein Gesang möglich sein kann. Schon Schillers Vorgänger im 18. Jahrhundert hatten das psychologisierend so verstanden, dass das elegische Gedicht in dem Moment entsteht, wo das poetische Subjekt eine gewisse Distanz von seiner Leidenschaft gewinnt und daher in der Lage ist, ihr Form zu geben. Dementsprechend wird die Elegie auch durch eine bestimmte Bewegung konstituiert, die von der Sehnsucht nach vergangenem Glück über die Anerkennung des Verlustes zu einer Form des Trostes reicht. Formal entspricht dieser Spannung zwischen Leidenschaft und Form das elegische Distichon – also die Abfolge von einem Hexameter und einem Pentameter –, das sich durch eine gewisse Irregularität und Asymmetrie auszeichnet, in denen 12

Für eine generelle Übersicht über die Gattung vgl. Karen Weisman (Hg.): The Oxford Handbook of Elegy. Oxford 2010, sowie Klaus Weissenberger: Formen der Elegie von Goethe bis Celan. Bern/München 1969. Zur Theorie der Leidenschaft in der Elegie des 18. Jahrhunderts im Speziellen vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005.

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der rhythmische Fluss immer wieder zum Stillstand kommt, wie etwa in Schillers „Nänie“ (1800) deutlich wird, wenn das typische Thema, die Vergänglichkeit der Schönheit, verhandelt wird: Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.13

Dabei kann die innere Spannung des Distichons ganz verschieden ausgearbeitet werden: Es neigt zur Serienbildung, in der dann die Abfolge von Versen eine Art epischen Fluss bildet, es kann die Unmittelbarkeit der Leidenschaft durch lyrische Intensität ausdrücken, es tendiert aber auch zu epigrammatischer Verdichtung, in der sich das Distichon von seiner Umgebung isoliert. „Nänie“ benutzt alle diese Möglichkeiten: Zunächst werden eine Reihe von Beispielen vergänglicher Schönheit erzählt, dann wird in hoher Intensivität vom Mitleid und vom Weinen der Götter gesprochen, schließlich aber – wie so oft bei Schiller – endet das Gedicht mit einer epigrammatischen Formulierung: Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.14

Die Transformation von reiner Klage in Trost wird hier poetisch figuriert: Wissen, dass man an der Schönheit teilgenommen hat, ist der Grund sowohl für die Klage wie auch für deren Überwindung, denn das „Klaglied“ macht den Verlust erträglich, wenn nicht sogar „herrlich“, während das „Gemeine“ oder Prosaische einfach tonlos und formlos verhallt. Die Möglichkeit der Objektivierung des eigenen Verlustes im Gedicht als solchen, vor allem aber im epigrammatischen Distichon, ist daher die Bedingung zur Konstitution einer poetischen Stimme, die die Vergänglichkeit überstehen kann: Aus dem Pathos des Verlustes wird gleichsam eine „unsterbliche“ Grabinschrift. Die Elegie ist also eine Art Trauerarbeit und auch ein Modell von Trauer und Gedächtnis, das in gewisser Weise charakteristisch ist für das bürgerliche 19. Jahrhundert.15 In ihr werden persönliche Affekte und Bindungen in ideale Gehalte transformiert. Aus den Göttern werden Ideen, aus der verlorenen Geliebten Gedichte. Das wird umso wichtiger, als die „poetische“ Erinnerung in hohem Maße an die Stelle des Unsterblichkeitsglaubens tritt, der im 18. Jahrhundert noch die aufgeklärten Geister in Atem gehalten hatte. Und es beschränkt sich keineswegs auf die Gattung der Elegie im eigentlichen Sinne. Elegische Motive bestimmen auch den Desillusionsroman oder den Bildungsroman des poetischen Realismus, in dem der Held die Poesie seiner verlorenen Kindheit – und oft: seiner verlorenen Liebe und seines verlorenen Glaubens – der Prosa der Verhältnisse gegenüberstellt. Dass dabei gerade Schiller und gerade „Die Götter Griechenlandes“ eine wichtige Referenz 13

Friedrich Schiller: Nänie (Zweite Fassung). In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1 (Anm. 10), 242. Zur metrischen Analyse vgl. Weissenberger, Formen der Elegie (Anm. 12), 26–28. 14 Schiller, Nänie (Anm. 13), 242. 15 Vgl. dazu, weitgehend ohne Gattungsbezug: Eva Horn: Trauer schreiben: Die Toten im Text der Goethezeit. München 1998.

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sind, kann man noch bei Sigmund Freud beobachten, der in Der Mann Moses Schillers „Was unsterblich im Gesang will Leben, muss im Leben untergehn“, zitiert, um die Verwandlung der getöteten Vaterfigur in eine moralische Instanz zu beschreiben.16 Freilich weist das bereits darauf hin, dass die „Unsterblichkeit“ dieses Überlebens ambivalent ist: nicht nur eine ideale Erinnerung, sondern eine Wiederkehr, ein gespenstisches Umgehen im Leben, das der Tote in seine Gewalt bringt.

IV Schillers idealistische Deutung der Elegie als Form der Aufhebung des Verlustes in der Erinnerung ist tatsächlich nicht die einzige. Die Ambivalenz der Gattung zwischen Leidenschaft und Trost macht auch andere Modi möglich, in der die Reflexion nicht das letzte Wort behält und das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben anders figuriert wird. Das geschieht etwa bei Hölderlin, dessen „Menons Klagen um Diotima“ sich offensichtlich an Schillers „Nänie“ orientiert, aber auch entscheidend von diesem Gedicht abweicht. Wie bei Schiller durchschreitet auch hier das lyrische Subjekt die verschiedenen Stadien des poetischen Prozesses: die Erinnerung an vergangenes Glück, die Anerkennung des Verlustes, die Betonung der Einsamkeit und schließlich den Trost. Weil Hölderlin aber hier wie auch sonst den mythologischen Rahmen mit persönlicher Erfahrung anreichert, ist die reflexive Distanz viel geringer und der Verlust wird viel unmittelbarer artikuliert als bei Schiller. Auf der Ausdrucksebene führt das zunächst zu paradoxen Metaphern wie den „Strahlen der Nacht“, die hier sowohl dafür stehen, dass sich in der Trauer sogar die Sonne verfinstert, als auch für die Morgendämmerung, also für die Vorausdeutung auf eine kommende Zukunft, die in der letzten Strophe entworfen wird: Und wie, wenn ich mit ihr, auf sonniger Höhe mit ihr stand, Spricht belebend ein Gott innen vom Tempel mich an. Leben will ich denn auch! schon grünt’s! wie von heiliger Leier Ruft es von silbernen Bergen Apollons voran! Komm! es war wie ein Traum! die blutenden Fittige sind ja Schon genesen, verjüngt leben die Hoffnungen all.17

Auch hier kehren die Götter zurück. Aber nicht einfach in der Erinnerung, sondern das lyrische Subjekt wird konkret aus dem Tempel „angesprochen“, „belebt“ und „verjüngt“. Formal drückt sich dieses Erscheinen in der zunehmenden Auflösung des Distichons und der syntaktischen Bezüge generell aus, die so typisch für Hölderlin sind: Sie beginnt im doppelten „mit ihr“ und lässt bald unbestimmt, wer hier genau spricht – wichtiger als das wird der Gestus, die Ansprache des „schon 16

Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. Amsterdam 1939, 457–581, hier 548. 17 Friedrich Hölderlin: Menons Klagen um Diotima. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 1. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992, 267–272, hier 271. Zur metrischen Analyse vgl. Weissenberger, Formen der Elegie (Anm. 12), 38–46.

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grünt’s“, oder, noch dichter, des „Komm“. In der harten Fügung Hölderlinscher Verse löst sich das Wort von der Satzstruktur, das epische und das reflexive Moment werden zurückgenommen, weil die Verbindung von Pathos und Enthusiasmus nicht mehr durch philosophische Reflexion vermittelt wird. Charakteristischerweise gibt es dann auch kein abschließendes Distichon, sondern das Gedicht endet in einer langen anaphorischen und deiktischen Reihe von „Dort, wo“: [. . . ] o bleibt, heilige Ahnungen, ihr Fromme Bitten! und ihr Begeisterungen und all ihr Guten Genien, die gerne bei Liebenden sind; Bleibt so lange mit uns, bis wir auf gemeinsamem Boden Dort, wo die Seligen all niederzukehren bereit, Dort, wo die Adler sind, die Gestirne, die Boten des Vaters, Dort, wo die Musen, woher Helden und Liebende sind, Dort uns, oder auch hier, auf tauender Insel begegnen, Wo die Unsrigen erst, blühend in Gärten gesellt, Wo die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge schön sind, Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt.18

Am Schluss des Gedichts steht nicht eine epigrammatische Zusammenfassung, ein Rückblick oder eine Moral, sondern eher eine Geste und eine Sprachbewegung, die auf etwas Zukünftiges hinweist. Das Gedicht insgesamt besteht nicht in der Entwicklung eines Arguments, sondern im Entstehen und Vergehen verschiedener Äußerungsformen, die Hölderlin selbst als Verbindung verschiedener Töne beschrieben hat.19 Nicht Idealisierung und Erinnerung sind demgemäß die Aufgabe der Elegie, sondern Evokation einer Präsenz, die über die Reflexion hinausgeht. Damit ist aber auch der „Gesang“ anders bestimmt. Der Poet schaut nicht mehr zurück und deutet erinnernd das Vergangene, sondern wendet sich der anbrechenden Zukunft, dem kommenden „Jahr der Seele“ zu. Solcher Zukunft sind auch andere Texte Hölderlins gewidmet, etwa das Ende 1799 oder Anfang 1800 verfasste Hymnen-Fragment „Wie wenn am Feiertage“, in dem das morgendliche Erwachen der Natur als Bild der politischen Umwälzung benutzt wird, wobei der Sprecher die wesentliche Veränderung zugleich „jetzt“ situiert, als bereits geahnt charakterisiert und in die erst heraufdämmernde Zukunft projiziert: „Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.“20 Was das poetische Subjekt „kommen sah“, bricht „jetzt“ an, muss aber noch „Wort“ werden: eine Zeitlichkeit, die auch im Gedicht fortschreitet, das von der vagen Andeutung zu immer größerer Bestimmtheit vorankommt, insbesondere, was die Bestimmung der eigenen Stimme angeht, in der das Wissen vom Werdenden als Auftrag der Götter aufgefasst und als Sendung an das Volk figuriert wird: 18

Hölderlin, Menons Klagen (Anm. 17), 271 f. Für Hölderlins poetologische Theorie der verschiedenen Töne vgl. Cyrus Hamlin: The Philosophy of Poetic Form. Hölderlin’s Theory of Poetry and the Classical German Elegy. In: Aris Fioretos (Hg.): The Solid Letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Stanford 1999, 291–319. 20 Friedrich Hölderlin: Wie wenn am Feiertage. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1 (Anm. 17), 239– 241, hier 239. Vgl. dazu auch Ian Balfour: The Rhetoric of Romantic Prophecy. Stanford 2002, 178–183. 19

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Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.21

Der Dichter erscheint als Vermittler zwischen Gott und Mensch, also auch als derjenige, der nicht nur an die Götter erinnert, sondern ihr Wort übermittelt, eine Figur, die nicht wenig zu Hölderlins Ruhm als „Dichter in dürftiger Zeit“ beigetragen hat. Aber diese Rolle erweist sich auch als höchst prekär, denn die Auflösung der Form kann schließlich auch dazu führen, dass sich das Gedicht als solches auflöst. Tatsächlich ist „Wie wenn am Feiertage“ eigentlich ein Fragment: In der Niederschrift folgen auf die zitierten Verse noch einige notierte Verse, die wohl die Skizze einer Klage sind; aus dem hingeworfenen „Weh mir“ wird schließlich ein anderes Gedicht, die Elegie „Hälfte des Lebens“. Wie Peter Szondi betont hat, wird die Zuversicht der künftigen dichterischen Sendung durch einen „Einbruch der Verzweiflung“ untergraben: „Es ist dieses Moment persönlichen Leids, das aus dem hymnischen Raum, der den Dichter nur als Dienenden kennt, verbannt ist.“22 Es ist ein Moment der Elegie, mit dem der Dichter-Prophet nicht nur die Autorität der Dichtung verkörpert, sondern auch deren Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit, wie sie für die Figur des geschlagenen Propheten charakteristisch war und auch den modernen Dichter prägen wird.

V Heinrich Heines „Die Götter Griechenlands“ aus dem „Nordsee“-Zyklus der Reisebilder (1827) bezieht sich noch einmal anders und viel expliziter auf Schiller, wenn es die Götter in den Wolken am Meer erscheinen lässt: Vollblühender Mond! In deinem Licht, Wie fließendes Gold, erglänzt das Meer; Wie Tagesklarheit, doch dämmrig verzaubert, Liegts über der weiten Strandesfläche; Und am hellblaun, sternlosen Himmel Schweben die weißen Wolken, Wie kolossale Götterbilder Von leuchtendem Marmor.23

Klassisches Metrum und hoher Ton unterscheiden das Gedicht deutlich von der volksliedhaften Lyrik des frühen Heine, der Titel macht deutlich, dass es sich hier 21

Hölderlin, Wie wenn am Feiertage (Anm. 20), 240. Peter Szondi: Hölderlin-Studien. In: Ders.: Schriften. Bd. 1. Hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a.M. 1978, 261–412, hier 299, 313. 23 Heinrich Heine: Die Götter Griechenlands. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 1968–1976. Bd. II, 196–199, hier 196. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl im Fließtext zitiert. 22

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um eine Parodie des Klassizismus handelt, in der einzelne Worte wie „kolossal“ bereits eine ironische Distanz andeuten. Wie bei Schiller werden im weiteren Verlauf die heidnischen Götter von den christlichen vertrieben werden, wie bei Schiller erscheint die neue Religion in keinem guten Licht, ihre Götter (im Plural!) sind „feig und windig“ oder die „Schadenfrohen im Schafspelz der Demut“ (II, 198): Die spätere Unterscheidung von „hellenischem“ Sensualismus und „nazarenischem“ Spiritualismus zeichnet sich hier bereits ab. Allerdings haben die griechischen Götter bei Heine eine andere Wirklichkeit. Wo Schiller sich unmittelbar an die verschwundenen Götter wandte, zeichnet Heine ihr Erscheinen in den Wolken nach: Nein, nimmermehr, das sind keine Wolken! Das sind sie selber, die Götter von Hellas, Die einst so freudig die Welt beherrschten, Doch jetzt, verdrängt und verstorben, Als ungeheure Gespenster dahinziehn Am mitternächtlichen Himmel. (II, 196)

Aus den Wolken, die „wie Götterbilder“ aussahen, sind nun „sie selber, die Götter von Hellas“, geworden, die freilich nicht mehr als Herrscher der Welt erscheinen, sondern als „verdrängte“, „verstorbene“ und als „ungeheure Gespenster“. Die Götter stehen demnach weniger für eine reine, wenn auch verlorene Welt, sondern für so etwas wie einen Generationenkampf, denn „auch die Götter regieren nicht ewig, / Die jungen verdrängen die alten“, wie schon die hellenischen Götter die Titanen verdrängt hatten. Waren bei Schiller die paganen Götter menschlicher und die Menschen göttlicher, so werden die Götter bei Heine als Allzumenschliche gezeichnet, so dass sich der Mensch ihnen schließlich auch als überlegen erklärt: Denn, immerhin, ihr alten Götter, Habt ihrs auch ehmals, in Kämpfen der Menschen, Stets mit der Partei der Sieger gehalten, So ist doch der Mensch großmütger als ihr, Und in Götterkämpfen halt ich es jetzt Mit der Partei der besiegten Götter. (II, 198)

Die besiegten Götter als Gespenster, für die der Mensch Partei nimmt – diese Figur durchkreuzt das Verhältnis von Menschen und Göttern ebenso wie die Opposition von An- und Abwesenheit, die Schillers Gedicht orientierte. Stellt schon die Erscheinung in den Wolken die Grenze zwischen Kunst und „Leben“ in Frage, weil die Götter sich gerade im Leben zeigen, so problematisiert ihr Spukcharakter zugleich die Fähigkeit der Kunst, die Götter wirklich „leben“ zu lassen. Die Götter werden weder reine Ideen, noch werden sie wieder lebendig, sondern sie kehren als Revenants zurück: Zwischen Kunst und Leben, zwischen Unsterblichkeit und Untergang, zwischen Vergangenheit und Gegenwart stellt sich die Figur des Gespenstes als Figur einer abwesenden Gegenwart und anwesenden Abwesenheit ein.24 24

Vgl. Walter Erhart: Heinrich Heine. Das Ende der Geschichte und „verschiedenartige“ Theorien zur Literatur. In: Joseph A. Kruse/Bernd Witte/Karin Füllner (Hg.): Aufklärung und Skepsis. In-

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Die Geschichte der Verdrängung und Wiederkehr der Götter ist auch bei Heine Teil einer umfassenderen Geschichte, eines Mythos, den er in immer neuen Varianten erzählt – und zwar ganz bewusst erzählt, weil es ihm auch darum geht, gegenüber dem usurpatorischen Anspruch der Hegelschen Philosophie das literarische und politische Potential einer anderen Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland aufrechtzuerhalten. In dieser Geschichte sind die paganen Götter nicht einfach verschwunden oder verdrängt worden, sondern entstellt und „dämonisiert“, weil das Christentum behaupte, „alle diese Götter seien lauter Teufel und Teufelinnen gewesen, die durch den Sieg Christi ihre Macht über die Menschen verloren und sie jetzt durch Lust und List zur Sünde verlocken wollen. Der ganze Olymp wurde nun eine luftige Hölle“ (III, 522). So verdrängt und entstellt wurden nicht nur die griechischen, sondern auch die germanischen Götter, die umso leichter zu entstellen waren, als sie „schon vorher so mißmütig und trübe waren wie der Norden selbst.“ (III, 523)25 Denn die nordischen Götter und Geister waren niemals ideal und einfach, sondern immer auch zerstörerisch. „Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen“ (III, 639). Es sind diese kämpfenden Götter, die wir bei Weber wiederfinden und deren Wiederkehr weniger mit der frohen Sinnenwelt der Antike, mit dem sinnlichen Scheinen der Idee assoziiert ist als mit der bloßen Gewalt und „unsinniger Wut“: „Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome“ (III, 639). Die eigentlich deutsche Dämonie besteht nicht in der Wiederkehr einer griechischen Antike, sondern in einer viel wilderen Entfesselung der Gewalt. Die Wiederkehr der Götter ist dabei an das Moment der Revolution gebunden. Deutlich wird das etwa in den Helgoländer Briefen (1840). Gerade noch hatte Heine ein weiteres Mal erzählt, wie die Griechengötter, bespritzt vom Blut des einen Gottes, erkrankten und schließlich vergingen, gerade war ihm ein weiteres Mal am Strand ein „luftiger Zug von weißen Wolkenbildern“ erschienen, die „wie Mönche aussahen“ (IV, 50) und den Gott Pan zu Grab zu tragen schienen – da treffen die Nachrichten von der Pariser Julirevolution auf der Insel ein. Sie lassen nicht nur seine Melancholie verfliegen und machen ihn wieder lebendig – „Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß . . . Ich bin der Sohn der Revolution“ (IV, 53) –, sie wecken auch die Dämonen wieder auf:

ternationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Stuttgart/Weimar 1998, 489–506, sowie Esther Kilchman: Ort der Gespenster. Heines Entwurf einer Kulturgeschichte in De l’Allemagne. In: Sigrid Weigel (Hg.): Heine und Freud. Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft. Berlin 2010, 265–282. 25 Vgl. dazu Dolf Sternberger: Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde. Frankfurt a.M. 1976, 28 ff.

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Unter der Erde aber kracht es und klopft es, der Boden öffnet sich, die alten Götter strecken daraus ihre Köpfe hervor, und mit hastiger Verwunderung fragen sie: „was bedeutet der Jubel, der bis ins Mark der Erde drang? Was gibts Neues? dürfen wir wieder hinauf?“ Nein, Ihr bleibt unten in Nebelhein, wo bald ein neuer Todesgenosse zu Euch hinabsteigt . . . – „Wie heißt er?“ Ihr kennt ihn gut, ihn, der Euch einst hinabstieß in das Reich der ewigen Nacht . . . (IV, 53)

Die Revolution weckt nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten, wie ja auch die großen Toten – insbesondere Napoleon – von Heine immer wieder heraufbeschworen werden, um die Gegenwart durch eine „Vorvergangenheit“ zu beunruhigen, welche eine neue Zeitlichkeit entwirft, „denn der Rückgriff auf Bilder der Vorzeit entspringt der Absage an das unmittelbar Vergangene.“26 Die Revolution lässt die Geister erscheinen, und sie braucht diese Geister, um Freiheit ebenso zu versprechen wie Strafe – muss aber diese Geister zugleich auch wieder unter die Erde verbannen, weil der helle Tag der Revolution ihre neblige Existenz nicht duldet und weil das neue Leben nicht mit jenen anderen Erinnerungen beschwert werden soll, wie das Karl Marx später in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) formulieren sollte: Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.27

Heine selbst wird später vor allem Marx’ Rede vom Gespenst des Kapitalismus aufgreifen und nach der Niederlage der Revolution von 1830 und 1848 die Gefahr der Kommunisten heraufbeschwören, die er als „Dämonen“ beschreibt, „welche in den untern Schichten der Gesellschaft lauerten, und aus ihrer Dunkelheit heraufbrechen würden, wenn der rechte Tag gekommen“ (V, 238) sei. Ihn selbst erschrecke, so Heine, die Grobheit dieser Kommunisten, die nicht nur die christlichen Dome, sondern auch die heidnischen Statuen zerstören würden: „nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien, die dem Poeten so lieb waren“ (V, 232). Anders als in Zur Geschichte der Religion und Philosophie befindet sich diese neue und radikalere Revolution nicht mehr im Einklang mit der Poesie, sondern wird diese vielmehr vernichten. So ist auch die Prophetie, die Heine hier an die Wand malt, nicht mehr die einer befreiten, sensualistischen Menschheit, sondern ein Schreckensbild: „Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte, müßte ganz 26

Norbert Altenhofer: Die Bilder der Revolution. Literarische Totenbeschwörung 1789–1848. In: Ders.: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt a.M. 1993, 76–103, hier 82. 27 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, zit. nach: Ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 8. Berlin 1972, 115.

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neue Bestien erfinden [. . . ]. Die Götter verhüllen ihr Antlitz aus Mitleid mit den Menschenkindern, ihren langjährigen Pfleglingen, und vielleicht zugleich auch aus Besorgnis über das eigene Schicksal“ (V, 407). Auf die freudige Prophetie folgt die Apokalypse der Gewalt. Dabei ist die Religion, sind die Götter mehr als eine elegische Erinnerung. Sie stehen für eine Macht, die nur vertrieben ist, aber zurückkehrt, und die gerade in den Geschichten und Imaginationen zurückkehrt. In der ästhetischen Theologie der Kunst entdeckt Heine auch eine politische Theologie, und es ist genau dieses politische Moment, das auch in Webers Diagnose einer entzauberten Welt noch wichtig bleibt. Denn die Wiederkehr der Götter ist ja immer auch eine Wiederkehr des Kampfes und damit der Politik, und der Schluss mit dem Jesaja-Zitat war ja nicht nur eine Warnung vor falscher Prophetie, sondern auch eine Warnung vor dem Schicksal des israelischen Volkes, das über dem ewigen Warten auf die Propheten das Moment des Handelns und die „Forderung des Tages“ verpasst hat.

VI Heine hat den Topos der Verwandlung der Götter noch einmal in Die Götter im Exil (1854) aufgenommen, wo er berichtet, was aus jenen „armen Emigranten“ geworden ist, die nach ihrer Vertreibung „zu einem bürgerlichen Handwerke greifen [mußten], um wenigstens das liebe Brot zu erwerben“ (VI/1, 401): Mars ist nun Landsknecht, Bacchus feiert als Mönch verkleidet weiter seine Feste, Apoll hat Unterschlupf als Hirte gefunden, Jupiter verbirgt sich in der Arktis und handelt mit Kaninchenfellen. Als griechische Seeleute überrascht auf ihn stoßen, halten sie ihn zuerst für einen Geist, aber „dem hoch aufgeschürzten Munde entquollen in altertümlich griechischem Dialekt die wohllautenden und klangvollen Worte: ‚Ihr irrt Euch, junger Mensch, ich bin weder ein Gespenst noch ein böser Dämon; ich bin ein Unglücklicher, welcher einst bessere Tage gesehen‘“ (VI/1, 419).28 Die Götter erscheinen hier weniger als unheimliche Geister denn als komische Gestalten, gerade wenn sie noch in Hexametern sprechen. Die Geschichte von der Vertreibung wird radikal profanisiert und zugleich ganz wörtlich genommen: Die Götter wohnen nicht mehr in luftigen Höhen, sondern haben sich unter die Menschen gemischt, deren Schicksal sie nun teilen: „An jeder Größe auf dieser Erde nagen die heimlichen Ratten, und die Götter selbst müssen am Ende schmählich zugrunde gehen“ (VI/1, 422). Das traurige Schicksal des Exils ist aber auch das traurige Schicksal des Dichters selbst, der nicht nur seit Jahrzehnten im französischen Exil lebt, sondern sich durch die scheiternden Revolutionen von 1830 und 1854 zunehmend aus der Wirklichkeit vertrieben sieht, aber sein Anliegen fortführen will. Denn hier hat die Literatur nicht mehr den Auftrag, die Wirklichkeit zu

28

Vgl. dazu auch Renate Schlesier: Der große Maskenball. Heinrich Heines exilierte Götter. In: Klaus Briegleb/Itta Shedletzky (Hg.): Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hamburg 2001, 93–110.

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idealisieren, sondern an dem festzuhalten und das auszusprechen, was von einer anderen Wirklichkeit zeugt. Heines „Poetik der Besiegten“29 zieht dabei auch eine weitere Verschiebung von Paganem und Christlichen nach sich, die er im Zuge seiner sogenannten „Bekehrung“ vornimmt, also der in den 1850er Jahren proklamierten Rückkehr zum biblischen Gott. Im „Nachwort“ zum Romanzero (1851) behauptet Heine, er sei „zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet“ (VI/1, 182). In den Geständnissen (1854) wird dementsprechend der theoretisch-politische Zusammenhang aus Zur Geschichte der Religion und Theologie in Deutschland neu erzählt: nicht mehr als Geschichte der Nation, sondern als Geschichte des Subjekts. In betonter Naivität, in aufrechtem Büßerton schildert Heine seinen Irrtum: „es tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei“ (VI/1, 473 f.). Die Religionskritik ist immer auch implizite Anthropologie; dementsprechend behauptet Heine nun, die Philosophie und der philosophische Pantheismus des Hellenentums seien eigentlich eine Selbstvergottung gewesen. Diese aber könne er sich nach den verschiedenen Niederlagen nicht mehr leisten – „die Repräsentationskosten eines Gottes [. . . ] sind ungeheuer“ (VI/1, 474) –, und so habe er seine Meinung über Religion wie über Philosophie geändert und bekenne, „daß ich nur ein armseliges Menschengeschöpf bin, eine seufzende Kreatur, die mit der Weltregierung nichts mehr zu schaffen hat [. . . ]. Diese spinnwebige Berliner Dialektik kann keinen Hund aus dem Ofenloch locken, sie kann keine Katze töten, wieviel weniger einen Gott“ (VI/1, 476, 478). So wenig wie die antiken Götter vom Christentum zum vollkommenen Verschwinden gebracht werden, so wenig schafft die philosophische Kritik den biblischen Gott ab. Nicht die Götter oder Gott werden aus ihrer Göttlichkeit vertrieben, sondern die Menschen: „Gleich vielen anderen heruntergekommenen Göttern jener Umsturzperiode, mußte auch ich kümmerlich abdanken und in den menschlichen Privatstand wieder zurücktreten“ (VI/1, 475). Heine reagiert also auf die Enttäuschung der politischen Hoffnungen, indem er sich selbst unter das Personal jener verdrängten Götter mischt. Immer noch hält er zur Sache der Götter, aber nur noch als „armer Exgott“ (VI/1, 476), der nun selbst zum Gespenst wird, etwa in „Zum Lazarus“ (1853/54): Vielleicht bin ich gestorben längst; Es sind vielleicht nur Spukgestalten Die Phantasien, die des Nachts Im Hirn den bunten Umzug halten. Es mögen wohl Gespenster sein, Altheidnisch göttlichen Gelichters; Sie wählen gern zum Tummelplatz Den Schädel eines toten Dichters. –

29

Klaus Briegleb: Opfer Heine? Versuch über Schriftzüge der Revolution. Frankfurt a.M. 1986, 127.

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Die schaurig süßen Orgia, Das nächtlich tolle Geistertreiben, Sucht des Poeten Leichenhand Manchmal am Morgen aufzuschreiben. (VI/1, 203 f.)

Das dichterisch-politische Subjekt, das mit seiner Göttlichkeit auch seine Handlungsmacht verloren zu haben scheint, zieht sich jetzt auf seine eigene Sphäre zurück, auf seine Kreatürlichkeit, Körperlichkeit und Krankheit, die nun als Martyrium stilisiert wird. Aus dem philosophischen Dichter, der die Götter erinnert, und dem Dichter-Propheten, der ihre Präsenz heraufbeschwört, ist nun selbst ein Wiedergänger geworden, der gerade durch die „Methode sich selbst exhibitionistisch mit feilzubieten“30 die moderne Autorrolle nachhaltig prägt. Wenn das Gedicht den Stillstand der Zeit beschreibt, die Leere der ewigen Wiederkehr des Gleichen und der politischen Hoffnungslosigkeit nach der gescheiterten Revolution von 1848, so versucht es auch, sich selbst in diese leere Zeit einzuschreiben und sich gewissermaßen zu verewigen. Dichtung wird Gespensterrede, die an den Hoffnungen, Wünschen, Träumen der Vergangenheit festhält. Die Nähe zu einer weiteren Moderne, etwa zu Charles Baudelaire und dessen Radikalisierung des Elegischen zur ästhetischen Präsenz des in Permanenz gestellten Verlustes, ist offensichtlich.31

VII Was eigentlich die „entzauberte Welt“ ist, in der wir zu leben glauben, wissen wir nicht so genau. Natürlich gibt es alle Arten von Theorien über die Welt. Aber das sind doch immer nur bestimmte Ansichten, Quer- oder Längsschnitte, Modelle, die etwas in der Welt sichtbar machen, aber gerade nicht das, was die Welt zur Welt macht: ihre unbefragbare, immer schon vorausgesetzte und uns allseitig umgebende Horizonthaftigkeit. Von dieser Welt kann man eben nicht direkt und exakt etwas wissen, sondern eher über Umwege, und einer dieser Umwege war die Geschichte von der Entzauberung der Welt: eine mythische Geschichte von Göttern, Gott und den Menschen, mit ihrer eigenen Dramatik und auch ihren eigenen Unbestimmtheiten. Die Figur der Entzauberung erwies sich dabei als einigermaßen komplex. Sie hat eine literarische Vorgeschichte, ja sie wird eigentlich erst in der Literatur ausgebildet. Sie ist aber auch ein Topos für Literatur, für Dichtung und für Erzählung. Es ist wie im Märchen: In ihm wird der Prinz entzaubert, aber auch durch das Märchen wird der Prinz entzaubert, weil sich im Erzählen der Geschichte der mythische Bann zu lösen beginnt. Im und durch das Märchen verschwindet der Zauber freilich nicht einfach, sondern es wird auch von einer Welt erzählt, in der der Zauber immerhin einmal möglich war und, wer weiß, vielleicht auch immer noch möglich ist. Der 30

Dolf Oehler: Ein Höllensturz der alten Welt. Zur Selbsterforschung der Moderne nach dem Juni 1848. Frankfurt a.M. 1988, 241. 31 Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt a.M. 1996.

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Zauber ist gebannt – aber er kann auch immer wiederkehren. Die Figur der Entzauberung war daher immer auch mit einer – erwünschten, befürchteten, imaginierten – Wiederkehr der Götter verbunden. Die moderne Geschichte der Entzauberung scheint dabei dem Modell der Elegie zu folgen, die um das Verlorene trauert, indem sie es erinnert, erinnernd sich in ein Verhältnis zum Verlorenen setzt und sich an diesem Verhältnis dann stabilisiert: sei es als fortgesetztes Betrauern, sei es auch als Ablösung und Zuwendung zur Zukunft oder auch schlicht zum Weiterleben, zu den „Forderungen des Tages“. Freilich ist die schließlich gewonnene Stabilität immer nur relativ, denn es gehört zu den genuinen Möglichkeiten der Elegie, dass sie die Position des Subjekts auch in Frage stellt: sei es momenthaft, als vorübergehender Zusammenbruch der Ordnung, als Durchbruch der betrauerten Götter in die Gegenwart, sei es als grundsätzliche Kritik dieser Gegenwart aus der Perspektive des Verlorenen oder Verdrängten. Entzauberung ist wesentlich ein dynamisches Verhältnis, und das elegische Modell erlaubt die Formung und Transformation der Energien, die hier am Werk sind. Sie erschöpft sich daher auch nicht in der ästhetisierenden Neutralisierung, in der Verwandlung der Götter in Ideale, wie das vielleicht noch bei Schiller gedacht war. Sondern diese Ideale werden selbst wieder zu Kräften und nehmen auch ganz handfeste, menschliche Formen an – und beginnen wieder ihren ewigen Kampf.

Personenregister

A ,Abd al-Malik, 111 Abs, Carina, 101 Achathaler, Lisa, 76 Achilleus Tatios, 48, 50, 52 Ackermann, Andrea, 6f. Adelung, Johann Christoph, 232 Adorno, Theodor W., 11 Älian, 50 Aischylos, 31 Aland, Kurt, 167 Alberus, Erasmus, 163 Alexander der Große, 133 Alexiou, Margaret, 37–40, 44 Alkaios von Lesbos, 41 Alkman, 50 Allen, Woody, 187 Altenhofer, Norbert, 289 Altmann, Andreas, 228, 248f. Ambrosius von Mailand, 259–262, 271 Anagarika Dharmapala, 238 Anakreon, 50 Andronikashvili, Zaal, 40 Antonello, Pierpaolo, 198, 201 Apel, Friedmar, 16 Apelt, Otto, 251 Appel, Kurt, 62, 73 Aristophanes, 31, 50 Aristoteles, X, 143, 145 Arnheim, Rudolf, 25 Arnold, Edwin, 237, 240 Äsop, 163f., 167 Assmann, Aleida, 150, 263 Assmann, Hugo, 199 Assmann, Jan, 150, 152, 281 Athenaios, 53

Atzert, K., 257 Auffarth, Christoph, 226 Augustinus, Aurelius, 25f., 202, 210, 262, 265, 270 Aurelius, Erik, 129 Austin, John L., 145 Avenatti de Palumbo, Cecilia I., 105 Avicenna, 233

B Baader, Franz von, 181 Bachmann, Ingeborg, IX Backhaus, Knut, 151–154, 254 Bacon, Francis, 266 Baden, Hans Jürgen, 96 Baer, Harald, 226 Bahr, Hans-Dieter, 83 Baier, Karl, 233 Balfour, Ian, 285 Ball, Hugo, 242 Balthasar, Hans Urs von, IX, 8, 91–95, 97, 267–270, 272 Balz, Horst Robert, 231 Bangen, Jan Ole, 244 Bär, Silvio, 37 Bareis, J. Alexander, 145 Bargatzky, Thomas, 8 Barth, Karl, 20 Barthes, Roland, 198 Baudelaire, Charles, 14, 292 Bauer, Thomas, 116 Baumbach, Manuel, 37 Bayly, Christopher A., 224 Bechert, Heinz, 223 Beck, Adolf, 57

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Braungart, J. Jacob, J.-H. Tück (Hrsg.), Literatur / Religion, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 1, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04694-9

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296 Bednarz, Dieter, 221–223, 225f., 230, 238, 240f., 245–249 Bedorf, Thomas, 200 Beecher Stowe, Harriet, 146 Begemann, Christian, 181 Beierwaltes, Werner, 231 Beißner, Friedrich, 57 Bell, Julian, 11 Benelli, Luca, 42, 48, 53f. Benn, Gottfried, 182, 186f. Berger, Peter L., 242 Bergsträsser, Gotthelf, 113 Berman, Morris, 280 Bernanos, Georges, 91f., 269 Bertram, Ernst, 182 Betz, Hans Dieter, 233 Beyer, Uwe, 76 Bialik, Chaim Nachman, X, 133–138, 141 Bieringer, Andreas, 183 Bierl, Anton, VIII, 29, 31–37, 39f., 42, 46f., 49f., 52f., 56, 254 Bill, Max, 16 Bin Gorion, Micha Josef, 134, 138 Blanchot, Maurice, 268 Blanke, Heinz, 162 Blavatsky, Helena P., 238 Bloch, Ernst, 265 Bloy, Léon, 269f. Blumenberg, Hans, 252, 264– 267, 270, 275f. Bochinger, Christoph, 226, 241, 243 Bode, Christoph, 4 Bodenheimer, Alfred, X, 133 Bohn, Volker, 289 Bohrer, Karl Heinz, 19f., 292 Böhtlingk, Otto, 235 Bollack, Jean, 286 Bollschweiler, Patricia, 3 Bond, George D., 238 Bone, Heinrich, 6 Böschenstein, Bernhard, 169 Boyarin, Daniel, 109, 112 Boyd, Stephen, 148 Braun, Erik, 223 Braun, Michael, 85 Braungart, Wolfgang, VII, 3, 5, 7, 9f., 15, 18, 20, 22, 30, 38–41, 85, 101, 169, 182 Brecht, Bertolt, 27, 92, 186, 266f. Bremer, Jan Maarten, 42, 48 Brentano, Clemens, 87 Bretfeld, Sven, 238 Briegleb, Klaus, 286, 290f. Browning, Don S., 233 Brox, Norbert, 121

Personenregister Buber, Martin, 134 Buber, Salomon, 117 Buddha Amitabha, 230 Bühler, Pierre, 100 Bultmann, Rudolf, 20 Burke, Kenneth, 12 Burkert, Walter, 36, 39, 45f. Burnett, Anne Pippin, 42, 44–48, 51 Burnouf, Eugène, 236 Burzacchini, Gabriele, 45, 51 Busse, Heribert, 109 Butzer, Günter, 18, 25 Buxton, Richard, 35, 252

C Caciagli, Stefano, 42, 44, 47f., 50 Calame, Claude, 37, 42, 46, 50 Campbell, David A., 50 Cancik, Hubert, 34 Canfor-Dumas, Edward, 229 Cappelørn, Niels Jørgen, 172 Caravaggio, 187 Carus, Paul, 235, 240 Cavallo, Guglielmo, 33 Cazzato, Vanessa, 42 Celan, Paul, IX Cervantes, Miguel de, 200 Chödrön, Pema, 244 Cicero, 253, 257 Clarke, J. J., 235 Claudel, Paul, XIII, 91f., 251, 266–269, 272 Clemens von Alexandrien, 253f., 256–258, 260, 262, 269 Cohen, Andrew, 245 Cohen, Richard S., 236 Cohn, Leopold, 117 Colli, Giorgio, 182 Conrad, Sebastian, 224, 235 Conterno, Chiara, 100 Corrywright, Dominic, 226 Crocker, Jon Christopher, 38 Csúri, Károly, 180 Cushman, Anne, 227

D Dahnke, Hans-Dietrich, 281 Daniélou, Jean, 255 Dante, Alighieri, XIII, 88, 192, 199, 251, 263–267, 269, 272 Dasen Véronique, 47 Deibl, Jakob Helmut, VIIIf., 57, 69, 81

Personenregister Deida, David, 245 Delitzsch, Franz, 134 Demmerling, Christoph, 146 Derrida, Jacques, 77, 198 Derville, André, 231 Descartes, René, 64 Detering, Heinrich, 5, 11 Detweiler, Robert, 96 Deuser, Hermann, VI, 168, 175 Deussen, Paul, 234 Diels, Hermann, 252 Dithmar, Reinhard, 163–165 Doderer, Klaus, 161, 166 Doderer, Otto, 241 Donovan, Anne, 248 Dörrie, Doris, 231 Dostojewski, Fjodor, 88f., 91, 93, 200, 202 Drendorf, Heinrich, 175 Droste-Hülshoff, Annette von, 10, 87 DuBois, Page, 42 Dupuy, Jean-Pierre, 198 Dutton, Dennis, 148

E Ebert, Juliane, 8 Ebert-Schifferer, Sybille, 15 Eckhart, Meister, 168 Eichendorff, Joseph von, 16, 87, 187 Eichner, Hans, 21 Elgin, Catherine Z., 146 Elsas, Christoph, 233f. Elsner, Ja´s, 10 Emde, Friedrich, 94 Engel, Manfred, 101 Engels, Friedrich, 289 Engelbrecht, Martin, 241, 243 Ensberg, Peter, 4, 17 Ephrem von Nisibis, 116 Erhart, Walter, 287 Essmann, Karl R., 226 Eulogio de la Virgen del Carmen, 231 Euripides, 31, 50, 52 Evagrius, 269

F Faber, Richard, V, 8, 10, 85 Faulkner, Andrew, 37 Faust, Shmuel, X, 133, 137–141 Fernandez, James W., 38 Ferran, Íngrid Vendrell, 145f. Ferrari, Franco, 42, 44, 52, 55

297 Ferrari, Gloria, 38 Feuerbach, Ludwig, 24, 266 Fioretos, Aris, 285 Fischer, Norbert, 101 Fischer, Saskia, 21 Fish, Stanley, 188 Fisher, Walter, 149 Flasch, Kurt, 25 Flaubert, Gustave, 200 Foley, John Miles, 32 Fontane, Theodor, 186 Frank, Manfred, 266 Franz, Ansgar, 6 Franz, Michael, 61, 69 Franziskus (Papst), 244 Freiberger, Oliver, 236 Frenkel, Jonah, 138f. Freud, Sigmund, 284 Frühwald, Wolfgang, 91, 176 Fuchs, Gotthard, 169, 263, 271 Fuhrmann, Manfred, 8 Füllner, Karin, 287 Furley, William D., 42, 48

G Gabriel, Karl, 225, 242 Gabriel, Markus, 150 Garhammer, Erich, 105 Gasper, Hans, 226 Gebhardt, Winfried, 241, 243 Géczi, János, 48 Geerlings, Wilhelm, 254 Gehrke, Hans-Joachim, 152 Gellner, Christoph, 100, 104, 242 Gentili, Bruno, 32, 42, 44 George, Stefan, 13f., 16–18, 20f., 23 Georges, Tobias, 253 Gilbert, Elizabeth, 227 Gillespie, Michael Patrick, 196 Ginsberg, Ascher, 135 Ginzberg, Louis, 134, 136, 138 Girard, René, XII, 197–216 Giuriato, Davide, 181 Glasbrenner, Eva-Maria, 234 Glei, Reinhold, 111 Gnilka, Christian, 263 Gödde, Susanne, 34, 36, 40 Goethe, Johann Wolfgang von, 3, 8f., 88, 91, 93, 134, 182, 233, 279 Gogarten, Friedrich, 24 Goldmann, Lucien, 198 Gombrich, Richard F., 223, 238

298 Göpfert, Herbert G., 280 Gorgias, 195 Görner, Rüdiger, 180 Greenblatt, Stephen, 39 Greene, Ellen, 44, 53 Gregor von Nazianz, 269 Gregor von Nyssa, 269 Gregorius von Korinth, 50 Greipl, Fanny, 171 Grimm, Jacob, 166, 231f. Grimm, Wilhelm, 166, 231f. Grizelj, Mario, V Groddeck, Wolfram, 68, 76–79 Groß, Martina, 33 Grünewald, Matthias, 187 Grünschloß, Andreas, 224 Gryphius, Andreas, 187 Guardini, Romano, IX, 20, 88–91, 93–95, 97 Guggenbühl, Allan, 138 Guillaume, Alfred, 111 Gunkel, Hermann, 233 Gutsfeld, Lukas, 3

H Haas, Alois M., 268f. Hackbarth-Johnson, Christian, 234 Haehling, Raban von, 254, 258 Häfner, Gerd, 151–153 Hahn, Friedrich, 96 Halbfas, Hubertus, 105 Hallensleben, Barbara, 92 Hamlin, Cyrus, 285 Handke, Peter, 183 Hanegraaff, Wouter J. 226 Hannerz, Ulf, 224 Harms, Wolfgang, 163 Harris, Elizabeth J., 238 Hartwig, Dirk, 125 Hass, Andrew W., 105 Haupt, Sabine, 92 Haven, Cynthia L., 197 Haverkamp, Anselm, 265, 276 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 9, 144, 155, 288 Heidegger, Martin, 66, 68 Heidenreich, Felix, 252 Heidler, Christina, 104 Heikkilä, Kai, 42, 45 Heine, Heinrich, XIV, 276, 286–291 Heinemann, Isaac, 137 Heinrich, Klaus, 65 Helbig, Jens, 245

Personenregister Henderson, Jeffrey, 48, 50f. Henrich, Dieter, 146 Henrich, Franz, 91 Heraklit, 31 Herder, Johann Gottfried, 31, 134 Hermogenes, 48 Herodot, 31, 35f. Hertz, Wilhelm G., 264 Herzl, Theodor, 142 Heselhaus, Clemens, 181 Hesiod, 36, 46, 52 Hesse, Hermann, 240–243 Hettche, Walter, 176 Heydasch-Lehmann, Susanne, 253 Hieke, Thomas, 109, 121 Hieronymus, 253 Hikkaduve Sumangala Thera, 238 Hillebrand, Bruno, 182 Hippolyt von Rom, 258 Hipponax, 50 Hirsch, Emanuel, 172 Hock, Klaus, 224 Hoff, Gregor Maria, 104 Hofmann, Michael, 104 Hofmannsthal, Hugo von, XI, 169, 186 Hölderlin, Friedrich, VI, VIIIf., XI, XIV, 20, 22, 57–69, 74f., 77–80, 82–84, 88–90, 169, 284–286 Hölscher, Uvo, 29, 31 Hömberg, Walter, 85 Homer, XIII, 30–32, 35f., 41, 46, 48–51, 251–257, 259f., 265–267, 271f. Homolka, Walter, 125 Hopkins, Gerard Manley, 91 Hörisch, Jochen, 18 Horn, Eva, 283 Horváth, Géza, 3 Hösle, Vittorio, 186 Hsia, Adrian, 242 Hübner, Kurt, 26 Humboldt, Alexander von, 10 Hummelt, Norbert, 14 Hyppolite, Jean, 198

I Ibn Hisham, 111 Ibn Ishaq, 111f. Ibsen, Henrik, 92 Ibykos, 48 Immer, Nikolas, 18 Ionesco, Eugène, 92 Irenäus von Lyon, 121, 210

Personenregister Iser, Wolfgang, 26, 145f.

J Jacob, Joachim, XI, 3, 12, 18, 159, 168, 180 Jacobs, Angelika, 175 James, William, 13, 22 Jamme, Christoph, 8 Janka, Markus, 252 Janowski, Bernd, 233 Jasper, David, 96, 105 Jay, Elisabeth, 105 Joas, Hans, VII, XI, 11f., 20–24, 159–162, 169, 277 Joffé, Roland, 187 Johannes von Damaskus, 111–113 Josephus, Flavius, 121 Joyce, James, 266 Jung, C. G., 214, 242 Jung, Matthias, 10 Jüngel, Eberhard, 233 Justin der Märtyrer, 253, 255

K Kafka, Franz, 186, 266f. Kaiser, Gerhard, 216 Kallikles, 195 Kanael, Baruch, 126 Kandinsky, Wassily, 16 Kant, Immanuel, VIII, 3f., 8, 12, 24, 26, 35, 59–63, 66, 74, 144, 147 Kantor, Maxim, 187 Kehl, Medard, 226 Keller, Ulrich, 144 Kellner, Viktor, 135 Kemp, Daren, 226 Kemper, Hans-Georg, 5 Kempter, Martin, 58 Kennedy, Gordon, 243 Kepler, Johannes, XIV Kern, Friedrich, 76 Khoury, Adel Theodor, 111 Kierkegaard, Sören, XI, 171f., 175, 179–181, 183 Kiesel, Helmuth, 183 Kilchman, Esther, 288 King, Richard, 233, 235 Kingsley, Peter, 35 Kippenberg, Hans G., 226 Kirsten, Wulf, 14 Klauk, Tobias, 144f., 147f. Klein, Christopher, 245

299 Kleine, Christoph, 236 Kleinert, Markus, VI, XI, 168, 171, 175 Klopstock, Friedrich Gottlieb, VI, XI, 169 Knaupp, Michael, 57 Knechtges, Martin, 23 Knepper, Claudia, 244 Knoblauch, Hubert, 243 Koch, Manfred, 169 Koczisky, Éva, 76 Kolbe, Uwe, 14, 26 Kolumbus, Christoph, 265 Konrad, Eva-Maria, 146 Koop-Marx, Michaela, 198, 214–216 Kopernikus, Nikolaus, XIV, 280 Köppe, Tilmann, 144f., 147f. Korsch, Dietrich, 19 Koschorke, Albrecht, 149f. Koselleck, Reinhart, VII Kosgoda Siri Sudhamma Thera, 221 Kosman, Admiel, 138 Kott, Jan, 198 Kranz, Gisbert, 87 Kranz, Walther, 252 Kratz, Reinhard Gregor, 114, 118, 128f. Kraus, Manfred, 29 Krause, Gerhard, 231 Krech, Volkhard, 243 Kreuzer, Johann, 58f., 68 Kruse, Joseph A., 287 Kucharz, Thomas, 96 Kühlmann, Wilhelm, 88 Kühnhold, Christa, 171 Kunstler, Barton, 48 Kurz, Gerhard, 4, 15, 169 Kurz, Margrit, 24 Kurzke, Hermann, 6, 10 Kuschel, Karl-Josef, VI, IX, 93, 96, 98–100, 104, 214, 273

L Lacan, Jacques, 198 Laclau, Ernesto, 243 Ladianou, Katerina, 42 Lämmle, Rebecca, 29 Lamping, Dieter, 5 Lanata, Giuliana, 51 Landfester, Manfred, 34 Landmann, Georg Peter, 14, 16, 21, 23 Langenhorst, Georg, VI, IX, 85f., 88, 94, 100, 104, 106, 198, 214–216, 273 Laplace, Marcelle M. J., 50 Lardinois, André, 42, 44, 49

300 Larson, Jennifer, 47 Lasker-Schüler, Else, 186 Lasserre, François, 42, 44 Latacz, Joachim, 29–32 Latour, Bruno, 180 Lauster, Jörg, X, 143 Lawitschka, Valérie, 169 Leistner, Bernd, 281 Lenk, Stefanie, 10 Lenzen, Manuela, 4 Lesch, Walter, 271 Lessing, Gotthold Ephraim, 27, 187 Leukippe, 50 Lévinas, Emmanuel, 271 Lévi-Strauss, Claude, 206 Lewis, James R., 226 Lewitscharoff, Sibylle, 263 Lieb, Ludger, 163 Liebmann, Maximilian, 232 Liebrucks, Bruno, 63, 68 Lincoln, Abraham, 146 Littlewood, Antony Robert, 47 Löffler, Jörg, 5 Lohfink, Norbert, 209 Lopez, Donald S., 223, 239 Lord, Albert, 31 Lörke, Tim, 85 Löwe, Matthias, 21 Lubac, Henri de, 254, 269 Luckmann, Thomas, 242 Luckscheiter, Roman, 88 Lugowski, Clemens, 20 Luther, Martin, XI, 3, 9, 19, 23, 81, 159, 161–169, 232 Luther, Susanne, 153

M MacLachlan, Bonnie, 46 Mailänder, Richard, 6 Maimonides, Moses, X, 133 Mainberger-Ruh, Elisabeth, 199, 204, 207 Mallarmé, Stéphane, 14 Mann, Thomas, 15 Mannheim, Karl, 160 Mar Samuel, 140 Marciano, Laura Gemelli, 35 Markion, 209 Markschies, Christoph, 257f. Marquardt, Manfred, 233 Martens, Gunter, 69 Marx, Karl, 266, 289 Marx, Michael, 110, 115f., 125

Personenregister Maslow, Abraham, 228 Matthiessen, Kjeld, 42 Matuschek, Stefan, 8 Mauz, Andreas, 100 Maximus Confessor, 269 Maximus von Turin, 261 Mayer, Sigrid, 243 Mayer, Tobias, 86, 105 Mayrhofer, Manfred, 235 McEvilley, Thomas, 42, 44 McMahan, David L., 223, 239 Melanchthon, Philipp, 167 Mellon, Andrew W., 188 Menninghaus, Winfried, 169 Merkelbach, Reinhold, 47 Merz, Annette, 154 Metz, Johann Baptist, 155 Meyer, Arnold, 233 Meyer-Sickendiek, Burkhard, 282 Michaels, Axel, 226 Michels, Volker, 241f. Mieth, Dietmar, IX, 96, 98f. Mignogna, Elisa, 48, 50 Mikoteit, Matthias, 166 Millis, Benjamin W., 32 Möbius, Thomas, 164 Mohn, Jürgen, 234f. Mohr, Hubert, 232 Mojsisch, Burkhard, 25 Monta, Susannah, 188 Montinari, Mazzino, 182 Moosbrugger, Mathias, 208–211 Morais, Richard C., 248f. Morales, Helen, 48 Morgan, Kathryn A., 35 Mörike, Eduard, 20, 88 Moritz, Karl Philipp, 12 Morrison, Suzanne, 227, 245 Mosebach, Martin, 11, 19 Most, Glenn W., 35, 41 Muellner, Leonard, 35 Muhammad, 109–112, 122f., 128, 130, 132 Mühling-Schlapkohl, Markus, 233 Müller, Friedrich Max, 235f. Müller, Gerhard, 231 Müller, Joachim, 226 Mürmel, Heinz, 233f. Murray, Oswyn, 34 Musil, Robert, 103

N Nagel, Tilman, 114, 118, 128f.

Personenregister Nagy, Gregory, 32, 34, 47, 53 Napoleon, 289 Naschert, Guido, 18 Nestle, Wilhelm, 41, 252 Nestroy, Johann, 172 Neumann, Gerhard, 39f. Neumann, Karl Eugen, 234 Neumann, Karl Friedrich, 236 Neuwirth, Angelika, IXf., 109f., 112f., 115f., 118f., 121–126, 128 Newton, Isaac, 280 Nicholls, Angus, 252 Niederhuber, Johann Ev., 259 Niese, Benedikt, 121 Niethammer, Immanuel, 58, 60, 62–64 Nietzsche, Friedrich, 18, 30f., 182, 207, 216, 266f. Niewiadomski, Józef, XII, 197, 200, 210, 212f. Nöldeke, Theodor, 113 Norsa, Medea, 42, 55 Nünlist, René, 52 Nussbaum, Martha, 146

O Obbink, Dirk, 49 Obeyesekere, Gananath, 223, 238 Ochsenknecht, Uwe, 231 Oehler, Dolf, 292 Oelmann, Ute, 14, 16, 21, 23, 57 Olcott, Henry Steel, 237f., 240 Oldenberg, Hermann, 239f. Olsen, Regine, 171 Olson, S. Douglas, 32 Origenes, 113, 269 Osten, Franz, 237 Osterhammel, Jürgen, 146, 224 Ovid, 257

P Page, Denys Lionel, 42, 50f., 55 Palaver, Wolfgang, 200 Papadopoulou, Ioanna, 35 Paret, Rudi, 109 Parks, Tim, 230 Parry, Milman, 31 Paulinus von Nola, 260f. Paulsen, Wolfgang, 21 Péguy, Charles, 91, 269 Pelikan, Jaroslav, 188 Peter, Karin, 197, 209 Petersdorff, Dirk von, 14

301 Petrovic, Ivana, 37 Pfeiffer, Rudolf, 46 Philo von Alexandrien, 117–119 Pickel, Gert, 225, 243 Pindar, 31, 52, 257 Pinsker, Arthur, 142 Pirandello, Luigi, 92 Pittrof, Thomas, 85 Pius XII. (Papst), 262 Platon, X, 31, 143, 145, 185, 194f., 200, 231, 251–253, 271 Plotin, 231 Polcik, Thassilo, 24 Pollack, Detlev, 225, 243 Pollock, Sheldon, 235 Potthast, Barbara, 20 Poulet, Georges, 198 Pretzl, Otto, 113 Price, Simon, 34 Primavesi, Patrick, 33 Proust, Marcel, 200–204 Przywara, Erich, 69 Ps.-Epiphanias, 269

R Raabe, Wilhelm, 88 Rabbi Adin Steinsaltz, 138 Rabbi Akiba, 133 Rabbi Josef Karo, 136 Rabbi Shlomo ben Jizchak, 133 Rabuse, Georg, 265 Raby, Julian, 112 Rademacher, Stefan, 243 Rahner, Hugo, 253, 255–257, 261 Rahner, Karl, 96 Rai, Himansu, 237 Ramana Maharshi, 244 Rammelt, Claudia, 224 Randeria, Shalini, 224, 235 Raschel, Heinz, 18 Ratzinger, Joseph, 268 Raue, Paul-Josef, 225 Rawnitzky, Jehoshua Hana, 135 Rayez, André, 231 Reents, Friederike, 17 Reicher, Maria E., 144 Rein, Ingrid, 186 Reinmuth, Eckart, 214f. Reitani, Luigi, 57, 69 Renger, Almut-Barbara, V, XIII, 10, 85, 116, 221, 227, 233, 239f., 243, 254, 256, 267 Renhart, Erich, 232

302 Reni, Guido, 15 Reuß, Roland, 69 Reynolds, Gabriel, 115, 122 Reynolds, Leighton D., 33 Rheinwald, Kristin, 20 Rhys Davids, Thomas William, 234 Richard, Ursula, 239 Riemenschneider, Tilman, 5 Riesebrodt, Martin, 11 Rilke, Rainer Maria, VI, 88, 90f., 93, 147f. Rimbaud, Arthur, 14 Ritter, Joachim, 16, 231 Robertson, Ritchie, 101 Roche, Mark W., XII, 185 Röder, Jörg, 153 Roeder, Hubert, 254 Rogers, Ali, 224 Roilos, Panagiotis, 42 Römhild, Regina, 224, 235 Rooks, Conrad, 243 Rosa, Hartmut, 159–161 Rosenberg, Alfons, 253 Rotenstreich, Nathan, 135 Roth, Patrick, XII, 214–217 Roth, Rudolph, 235 Röttgers, Kurt, 200 Rüpke, Jörg, 22 Russer, Achim, 180

S Saager, Adolf, 241 Sabel, Johannes, 134, 137f. Safa, Hugo R., 105 Safier, David, 230 Said, Edward, 235 Sapir, J. David, 38 Sappho, VIII, 29, 31, 41–49, 51–53, 55f. Sartre, Jean-Paul, 268 Sattler, Dietrich Eberhard, 58 Satya Narayan Goenka, 228 Schäfer, Christian, 252 Schäfer, Christiane, 6 Schäfer, Peter, 109 Schaumann, Ruth, 7 Scheel, Otto, 233 Scheier, Claus-Artur, 24 Scheler, Max, 199 Schenuit, Jörg, 23 Schiele, Friedrich Michael, 233 Schiller, Friedrich, XIV, 3, 12, 58, 276, 279f., 282–284, 286f., 293 Schilling, Heinz, 164

Personenregister Schlaffer, Heinz, 5 Schlarb, Cornelia, 224 Schlarb, Egbert, 224 Schlegel, August Wilhelm, 87, 234 Schlegel, Friedrich, 27 Schleiermacher, Friedrich, 22 Schlesier, Renate, 33, 290 Schlette, Magnus, VI, 168 Schlüter, Stephan, 24 Schmid, Nora Katharina, 109 Schmidt, Eckart D., 153 Schmidt, Jochen, 58, 284 Schmidt, Nora, 109 Schmitt, Pascal, 101 Schmitz, Christine, 253 Schneider, Helmuth, 34 Schneider, Reinhold, 91f., 94 Schocken, Salman, 134 Schoeps, Julius H., 135 Scholem, Gershom, 125, 131, 136 Scholz, Susanne, 13 Schreiner, Klaus, 24 Schroeder, Leopold von, 240 Schröer, Henning, 96 Schuster, Ralf, 94 Schwager, Raymund, XII, 197, 208–213 Schwally, Friedrich, 113 Scott, Nathan, 96 Seaford, Richard, 40 Searle, John, 145 Seiler, Lutz, 14 Sellin, Gerhard, 253 Shakespeare, William, 88, 92, 177, 200 Sh¯akir, Ah.mad Muh.ammad, 111 Shedletzky, Itta, 290 Siddhartha Gautama (Buddha Shakyamuni), 222, 229, 235–237, 239, 241, 246, 248 Siebenmorgen, Harald, 13 Siebenrock, Roman, 210 Siekmann, Henning, 164, 166 Simmel, Georg, 16, 18 Sinabell, Johannes, 226 Sinai, Nicolai, 110f., 115f., 128 Skeb, Matthias, 260 Skinner, Marilyn B., 53 Sloterdijk, Peter, 210 Smith, Shoham, 139 Smith II, Philip E., 196 Solignac, Aimé, 231 Sölle, Dorothee, IX, 10, 26, 96f. Somaratna, G. P. V., 238 Sommadossi, Tomas, 105 Sophokles, 31, 187, 205

Personenregister Sourvinou-Inwood, Christiane, 34 Spee, Friedrich, 6f. Speyer, Heinrich, 118, 121 Spieckermann, Hermann, 114 Stadler, Arnold, 26 St Aubyn, Edward, 227f. Steinherr, Ludwig, 186 Steinhöwel, Heinrich, 164 Stendhal, 200 Stenzel, Jürgen, 24 Sternberger, Dolf, 288 Stifter, Adalbert, XI, 16, 149, 171, 175–183 Stosch, Klaus von, 104 Stottmeister, Jan, 22 Strack, Sara, 32 Strasser, Peter, 65 Strauss, Leo, 278 Striet, Magnus, 270 Stroumsa, Guy, 109, 114, 122 Strunk, Reiner, 10 Suzuki, Daisetz T., 244 Svenbro, Jesper, 37 Szondi, Peter, 286

T Tambiah, Stanley J., 55 Taylor, Charles, XI, 161f. Tegtmeyer, Henning, 145 Tenbruck, Friedrich, 277 Tenzin Gyatso (Dalai Lama), 245 Tertullian, 253, 258 Theander, Carl, 42, 52 Theißen, Gerd, 154 Theodor Abu Qurra, 111 Thich Nhat Hanh, 246 Thukydides, 31, 35 Thumann, Jan, 24 Till, Dietmar, 20 Tillich, Paul, IX, 95–97, 99, 103 Timmermann, Jens, 61 Titzmann, Michael, 181 Todorov, Tzvetan, 198 Tolle, Eckhart, 244 Tolstoi, Leo, 145 Tonneau, Raymond M., 116 Toral-Niehoff, Isabel, 117 Townsend, Robert B., 188 Trungba, Chögyam, 244 Tsantsanoglou, Kyriakos, 42, 44, 47 Tsomis, Georgis P., 42 Tück, Jan-Heiner, XIII, 3, 20, 86, 101, 105, 183, 251, 269f., 273

303 Turner, Eric Gardner, 33 Turyn, Alexander, 42, 44, 51, 55 Tutu, Desmond, 245 Tweed, Thomas A., 224, 240 Tzamali, Ekaterini, 42

U Uffhausen, Dietrich, 69 ,Uthm¯an ibn ,Aff¯an, 111 Utsch, Michael, 244

V Valk, Thorsten, 18 Vasco da Gama, 265 Vattimo, Gianni, 58, 67 Vedder, Ulrike, 13 Vegetti, Mario, 33 Vergauwen, Guido, 92 Verlaine, Paul, 14 Vernant, Jean-Pierre, 22, 198 Veuthey, Léon, 231 Veyne, Paul, 150 Vickers, Adrian, 227 Vischer, Melchior, 241 Voderholzer, Rudolf, 254 Vögel, Herfried, 163 Voigt, Eva-Maria, 29, 41f., 50 Vollhardt, Friedrich, 169 Volz, Hans, 162 Vorgrimler, Herbert, 96

W Wachter, Rudolf, 34 Wacker, Bernd, 155 Wagner, Falk, 231 Wagner, Frank D., 267 Wall, Jeff, 187 Walter-Jochum, Robert, 85 Walton, Heather, 105 Walton, Kendall L., 145 Walzel, Oskar, VIII, 10 Wandinger, Nikolaus, 197, 210 Webb, Heather, 198, 201 Weber, Frank, 18 Weber, Max, XIV, 113, 159f., 246f., 275–280, 288, 290 Wedner, Daniel, V, XIV, 3, 20, 30, 34, 40, 85, 214, 216, 275 Wedner, Sabina, 255, 261 Weidacher, Georg, 144

304 Weigand, Friedrich Ludwig Karl, 233 Weigel, Sigrid, 39, 288 Weinrich, Harald, 155 Weischedel, Wilhelm, 62 Weisman, Karen, 282 Weissenberger, Klaus, 282–284 Wertheimer, Jürgen, 169 Wesselmann, Katharina, 29, 35 West, Martin L., 44 White, Hayden, 153 Wiesmann, Peter, 48 Wilber, Ken, 244 Wild, Michael, 181 Wilde, Oscar, XII, 185f., 189–196 Wilder, Amos Niven, 96 Wilke, Annette, 225f. Willebrand, Eva, 101, 104 Willer, Stefan, 5 Wilson, Horace H., 234 Wilson, Nigel G., 33 Winkler, Jack, 44, 47 Winkler, Ulrich, 104 Wirz, Christian, 257, 259, 261, 265, 267 Witte, Bernd, 287 Wittgenstein, Ludwig, 17, 185 Witztum, Joseph, 126, 129 Wodianka, Stephanie, 8 Wöhler, Gustav-Peter, 231

Personenregister Wolf, Friedrich August, 31 Wolfskehl, Karl, 15 Wollschläger, Hans, 266 Woschitz, Karl Matthäus, 232 Wright, Terry, 96

X Xenophanes, 52, 252

Y Yatromanolakis, Dimitros, 42, 44, 46, 51 Young, Richard Fox, 238

Z Zanella, Francesco, 253 Zarek, Otto, 241 Zedler, Johann Heinrich, 232 Ziegler, Leopold, 182 Zilling, Henrike Maria, 254, 258 Zogg, Fabian, 33 Zscharnack, Leopold, 233 Zuberbühler, Rolf, 68 Zweig, Stefan, 242 Zymner, Rüdiger, 148