Literatur als Spiel: Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte 9783110221442, 9783110221435

In his famous book "Homo Ludens" Johan Huizinga confirmed that "Animals play just like humans do" an

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Literatur als Spiel: Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte
 9783110221442, 9783110221435

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Vom Ursprung der Kultur im Spiel
Das Spiel der Einbildungskraft
Fiktion, Praxis, Spiel
Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren
Gibt es ein Drittes neben Faktizität und Fiktionalität?
Was ist die Kunst, was ist der Mensch?
Die Verselbständigung der Poesie als Spiel am Ende des 18. Jahrhunderts und der Spielbegriff bei Johan Huizinga und Jost Trier
Das Spiel der Bedeutungen im Prozess der Lektüre
Das ‚Spiel der Naturvölker‘ im Spiegel der deutschen Ethnologie
Die Passion Christi als tragisches Spiel
Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur im höfischen Roman
Spiel und Schrift
Auctor ludens
Sexus ludens
Fest und Spiel in der Klassischen Walpurgisnacht
Beherrschter Enthusiasmus
Asketisches Künstlertum und klösterliche Einsamkeit
„Magisches Denken“ im Kinderspiel
„Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln“
Maskenball
Zwischen Nachahmung und Kreativität
Das Spiel als das Dynamische
Das Subversive des Spiels
Formen und Funktionen von Spiel und Ritual in Igor Bauersimas futur de luxe
Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne
Optimistische ‚Endspiele‘ – vom Nutzen des Zufalls in Spiel und Komödie
Vom Spiel des Lebens
Spiel- und Erkenntnismittel im Aphorismus der Wiener Moderne
Ernst oder Spiel?
Lyrik-Parodien: Spielverderberei oder lyrisches Mit-Spiel?
Sprachspiel und Individualität
Zur Bedeutung von Ritualen und ritualisierten Abläufen in erfolgreicher Literatur
Text, Wettkampf, Spiel
A Willing Suspension of Misbelief
Die ludische Kultur des Computerspielens
Spielmethoden ohne Spieltheorie?
Spiele in ästhetischen Bildungsprozessen
Vom Spielen und Lernen
Mimetische Annäherung an lyrische Texte im Sprach-Spiel des literarischen Gesprächs
Spielerei oder ernstzunehmende Texterschließung?
Mein Text bin ich
Magische Buchwelten und phantastische Sprachspiele
Spontane Sprachspiele unter Vorschulkindern als Erwerbskontext für metasprachliche Fähigkeiten

Citation preview

Literatur als Spiel



spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature Komparatistische Studien / Comparative Studies

Herausgegeben von / Edited by Angelika Corbineau-Hoffmann · Werner Frick

Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn · Peter-Andre´ Alt · Aleida Assmann · Francis Claudon Marcus Deufert · Wolfgang Matzat · Fritz Paul · Terence James Reed Herta Schmid · Simone Winko · Bernhard Zimmermann Theodore Ziolkowski

22

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Literatur als Spiel Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte Herausgegeben von Thomas Anz und Heinrich Kaulen

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-022143-5 ISSN 1860-210X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Schwarz auf Weiß Textbüro, Marion Malinowski, Tübingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Inhalt Thomas Anz / Heinrich Kaulen Einleitung. Vom Nutzen und Nachteil des Spiel-Begriffs für die Wissenschaften......................................................................................... 1

Spielkonzepte in der Ästhetik und Literaturtheorie Karl Eibl Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Ein evolutionsbiologischer Zugang................................................................. 11 Gerhard Lauer Das Spiel der Einbildungskraft. Zur kognitiven Modellierung von Nachahmung, Spiel und Fiktion........... 27 Tilmann Köppe Fiktion, Praxis, Spiel. Was leistet der Spielbegriff bei der Klärung des Fiktionalitätsbegriffs?..... 39 Katja Mellmann Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren. Elemente einer verhaltensbasierten Fiktionalitätstheorie............................. 57 Ulrike Zeuch Gibt es ein Drittes neben Faktizität und Fiktionalität? Zum Wahrheitsanspruch der Literatur am Beispiel von Kafkas Erzählung Eine kleine Frau.................................................................... 79 Christian Kohlross Was ist die Kunst, was ist der Mensch? Zwei Fragen und der Versuch, sie mit dem Begriff des Spiels zu beantworten. Oder: Variationen zu einem Diktum Schillers.................. 89 Jürgen Brokoff Die Verselbständigung der Poesie als Spiel am Ende des 18. Jahrhunderts und der Spielbegriff bei Johan Huizinga und Jost Trier..................................................................101

VI

Inhalt

Peter Brandes Das Spiel der Bedeutungen im Prozess der Lektüre. Überlegungen zur Möglichkeit einer Literaturtheorie des Spiels............... 115 Mario Bührmann Das ‚Spiel der Naturvölker‘ im Spiegel der deutschen Ethnologie. Zur Ästhetik von Mythos, Kult und Spiel bei Adolf Ellegard Jensen...... 135

Literarische Spielformen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert Regina Toepfer Die Passion Christi als tragisches Spiel. Plädoyer für einen poetologischen Tragikbegriff in der Mediävistik........ 159 Friedrich Michael Dimpel Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur im höfischen Roman............................................................177 Klaus Ridder / Rebekka Nöcker / Martina Schuler Spiel und Schrift. Nürnberger Fastnachtspiele zwischen Aufführung und Überlieferung.....................................................195 Johannes Klaus Kipf Auctor ludens. Der Topos des spielerischen Schreibens in poetologischen Paratexten unterhaltender Literatur im RenaissanceHumanismus und in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit............ 209 Peter-André Alt Sexus ludens. Androgynie als Spiel der Rhetorik und des Theaters in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein.......................................... 231 Alexander Honold Fest und Spiel in der Klassischen Walpurgisnacht....................................... 255 Roman Luckscheiter Beherrschter Enthusiasmus. Pädagogik und Ästhetik des Rollentauschs in Achim von Arnims Erzählung Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott......... 267

Inhalt

VII

Literarische Spielformen zwischen Moderne und Postmoderne Barbara Thums Asketisches Künstlertum und klösterliche Einsamkeit. Inszenierungen der Einbildungskraft um 1900............................................ 279 Nicola Gess „Magisches Denken“ im Kinderspiel. Literatur und Entwicklungspsychologie im frühen 20. Jahrhundert......... 295 Oliver Ruf „Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln“. Ludische Literatur – Theorie und Thesen (von Friedrich Schiller zur Avantgarde).................... 315 Barbara Wildenhahn Maskenball. Spiel und Fiktion bei Alfred Döblin........................................ 329 Jörg Löffler Zwischen Nachahmung und Kreativität. Spielformen fingierter Autorschaft am Beispiel von Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote.................... 353 Renata Plaice Das Spiel als das Dynamische. Der Begriff des Spiels zwischen Moderne und Postmoderne................... 359 Stefan Neuhaus Das Subversive des Spiels. Überlegungen zur Literatur der Postmoderne.............................................. 371 Birte Giesler Formen und Funktionen von Spiel und Ritual in Igor Bauersimas futur de luxe.......................................................................391

VIII

Inhalt

Spielformen und Textsorten: Regeln, Normen, Rituale Anke Bosse Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne. Zum Spiel im Spiel............................................................................................417 Stephan Kraft Optimistische ‚Endspiele‘ – vom Nutzen des Zufalls in Spiel und Komödie........................................... 431 Christian Klein Vom Spiel des Lebens. Regelverstöße und Sanktionsmöglichkeiten im autobiografischen Diskurs.............................. 439 Eva Annabelle Blume Spiel- und Erkenntnismittel im Aphorismus der Wiener Moderne.......... 455 Joachim Jacob Ernst oder Spiel? Zur ethischen Dimension ästhetischer Spiele am Beispiel der Konkreten Poesie..................................................................465 Rüdiger Singer Lyrik-Parodien: Spielverderberei oder lyrisches Mit-Spiel? Beobachtungen anhand des Spiels mit der ‚Regel‘ Wiederholung............ 477 Andreas Schumann Sprachspiel und Individualität. Neue Tendenzen einer Literatur der Migration........................................... 499 Elisabeth Balß Zur Bedeutung von Ritualen und ritualisierten Abläufen in erfolgreicher Literatur..................................................................................509

Literatur und andere Spiele Pierre Mattern Text, Wettkampf, Spiel. Zur historischen Typologie des Verhältnisses Sport – Literatur................ 527

Inhalt

IX

Frank Degler A Willing Suspension of Misbelief. Fiktionsverträge in Computerspiel und Literatur........................................ 543 Sabrina Schrammel / Konstantin Mitgutsch Die ludische Kultur des Computerspielens. Eine spieltheoretischkulturanthropologische Analyse am (Bei-)Spiel Zoo Tycoon 2..................... 561

Spielkonzepte im Literatur- und Sprachunterricht Heinrich Kaulen Spielmethoden ohne Spieltheorie? Zur Geschichte und aktuellen Konjunktur des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik............... 579 Gundel Mattenklott Spiele in ästhetischen Bildungsprozessen......................................................601 Sabine Jentges Vom Spielen und Lernen.................................................................................617 Marcus Steinbrenner Mimetische Annäherung an lyrische Texte im Sprach-Spiel des literarischen Gesprächs................................................ 645 Bianca Schwindt Spielerei oder ernstzunehmende Texterschließung? Möglichkeiten und Probleme des ,Gestaltenden Interpretierens‘............. 669 Tillmann F. Kreuzer Mein Text bin ich. Szenische Darstellung und kreatives Schreiben.......... 683 Marie-Luise Wünsche Magische Buchwelten und phantastische Sprachspiele. Zur Ästhetik und Didaktik gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteratur.......................... 697 Juliane Stude Spontane Sprachspiele unter Vorschulkindern als Erwerbskontext für metasprachliche Fähigkeiten.................................. 715

Thomas Anz / Heinrich Kaulen

Einleitung Vom Nutzen und Nachteil des Spiel-Begriffs für die Wissenschaften Der Titel dieses Bandes, Literatur als Spiel, lässt sich unterschiedlich verstehen und entspricht damit den heterogenen Konzepten der hier präsentierten Beiträge. Ob literarische Texte und der Umgang mit ihnen selbst als ein Spiel begriffen oder nur mit einem Spiel verglichen werden, bleibt offen. Nach der einen Bedeutungsvariante ist Literatur ein Spiel innerhalb der Menge aller Spiele oder bestimmter Spielarten, nach der anderen ist Literatur kein Spiel, hat aber einige Ähnlichkeiten mit diversen Spielen. Im Sinne der zweiten Bedeutungsvariante können Spiele als Metaphern, Analoga oder Modelle bei Untersuchungen zu literarischen Kommunikationsprozessen dienen. Wissenschaftler tun dann so, als ob Literatur ein Spiel sei. Und sie verhalten sich damit ähnlich wie Spieler, für die Simulation konstitutiv ist. Oder sind Wissenschaftler selbst Spieler? Einer der bekanntesten Spieltheoretiker im Bereich der Kulturwissenschaften, Johan Huizinga, hat, was die Literatur angeht, vor gut siebzig Jahren eine Entscheidung getroffen. Was er über den Spielcharakter der Literatur in archaischen Kulturen ausführt, hat sich noch heute in Rudimenten erhalten: „Jede alte Dichtkunst ist gleichzeitig und in einem: Kult, Festbelustigung, Gesellschaftsspiel, Kunstfertigkeit, Probestück- oder Rätselaufgabe, weise Belehrung, Überredung, Bezauberung, Wahrsagen, Prophetie und Wettkampf.“ Ganz ohne historische und kulturelle Begrenzung plädiert Huizinga für eine generelle Übertragbarkeit des Spiel-Begriffs auf die Literatur: Es ist kaum zu verkennen, daß alle Aktivitäten der poetischen Formgebung: das symmetrische oder rhythmische Einteilen der gesprochenen oder gesungenen Rede, das Treffen mit Reim oder Assonanz, das Verhüllen des Sinns, der künstliche Aufbau der Phrase, in diese Sphäre des Spiels von Natur gehören. Wer Dichtung ein Spiel mit Worten und Sprache nennt, wie es in neuerer Zeit besonders Paul Valéry getan hat, bedient sich keiner Bedeutungsübertragung, sondern trifft den Wortsinn selbst.  

Huizinga: Homo Ludens, S. 134. Ebd., S. 146.



Thomas Anz / Heinrich Kaulen

Dieser Band verwendet den Spiel-Begriff offener. Und auch sonst folgt er den von Huizinga ausgehenden Anregungen und Konzepten zu einer kulturanthropologischen Spieltheorie nur zum Teil. Die Beiträge sind im Zusammenhang mit dem Deutschen Germanistentag 2007 in Marburg entstanden. Er konzentrierte sich auf Problemstellungen und Perspektiven, die Huizinga zwar im Blick hatte, von denen er sich jedoch nachdrücklich distanzierte. Das Thema der Tagung lautete: Natur – Kultur. Universalität und Vielfalt in Sprache, Literatur und Bildung. Der Germanistentag trug damit jüngeren Entwicklungen in den germanistischen Fächern Rechnung, die in der Ankündigung so skizziert wurden: Die Germanistik ist gegenwärtig mit einer Vielzahl von anthropologischen Fragen befasst, die Sprache und Literatur gezielt in Grenzbereichen zwischen menschlicher Natur und Kultur positionieren. Die Konkurrenzbeziehungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Natur-, Kultur- und Kunstwissenschaften in diesen Forschungsterrains sind dabei für die Germanistik eine Herausforderung, die sie auf unterschiedliche Weise aufgreift. Aneignungen neurophysiologischer, kognitionspsychologischer oder evolutionsbiologischer Konzepte, die sich tendenziell auf eine universale oder langfristige Konstanz der Natur berufen, stehen kulturalistische Positionen gegenüber, die auf differenzierte Vielfalt, prinzipielle Kontingenz und historischen Wandel kultureller Phänomene insistieren, oder Bemühungen, natur- und kulturwissenschaftliche Forschungen zu integrieren sowie die Dichotomie von Natur und Kultur zu unterlaufen.

Diese unterschiedlichen Forschungsansätze sind auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes vertreten. Spiele lassen sich im Grenzbereich zwischen menschlicher Natur und Kultur verorten. „Tiere spielen genau so wie Menschen“, konstatierte Hui­ zinga in der Einleitung zu Homo Ludens und legte damit zunächst durchaus nahe, das Spiel als naturwüchsige Basis menschlicher Kultur zu begreifen. Psychologischen und biologischen Spieltheorien stritt er jedoch die Kompetenz ab, Substantielles über das Spiel zu erfassen. Fragen nach dem biologischen oder pädagogischen Nutzen des Spiels wies er als sekundär zurück. Dass es beispielsweise, wie schon die Spielpädagogen der Aufklärung postulierten, der „Vorbereitung für Forderungen des Lebens“ diene, entspreche nicht seinem „Wesen“. Literatur gleicht anderen Spielen nicht zuletzt darin, dass die Theorien und Debatten über sie ganz ähnlichen Mustern unterliegen. Vor pathologischer Lesesucht wird gewarnt wie vor der Spielsucht. Umgekehrt werden sowohl dem Spiel als auch dem literarischen Schreiben oder Lesen therapeutische Potenziale zugeschrieben. Die Vorlieben für spezifische Lesestoffe wie Spielarten werden unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten untersucht. Spiel und Literatur werden pädagogisch ‚wertvollen‘  

Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53, 2006, H. 2-3, S. 352. Huizinga: Homo Ludens, S. 9.

Einleitung



Zwecken untergeordnet oder aber für autonom erklärt. Dass die Kunst ihren Zweck in sich selber habe, diese Position der klassischen Ästhetik findet sich in Huizingas Phänomenologie des Spiels ebenso wieder wie im jüngeren Begriff der „autotelischen“ Tätigkeiten. Mit ihm beschreibt der Kreativitäts- und Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi, im Rückgriff auch auf die Spielforschung, solche mit intensiver Freude verbundenen Aktivitäten, die ihr Ziel (telos) und ihre Belohnungsanreize nicht von außen gesetzt bekommen, sondern in sich selber haben. Es ist die Freude am Spiel, die Huizinga zum Hauptargument gegen die Unzulänglichkeiten anderer Spieltheorien machte. Konstitutives Merkmal des Spiels sei das „Vergnügen“, der „Spaß“, die „Lust“. Warum kräht das Baby vor Vergnügen? Warum verrennt sich der Spieler in seine Leidenschaft, warum bringt der Wettkampf eine tausendköpfige Menge zur Raserei? Die Intensität des Spiels wird durch keine biologische Analyse erklärt, und gerade in dieser Intensität, in diesem Vermögen, toll zu machen, liegt sein Wesen, steckt das, was ihm ureigen ist. Die Natur, so scheint der logische Verstand zu sagen, hätte doch alle die nützlichen Funktionen wie Entladung überschüssiger Energie, Entspannung nach Kraftanstrengung, Vorbereitung für Forderungen des Lebens und Ausgleich für Nichtverwirklichtes ihren Kindern auch in der Form rein mechanischer Übungen und Reaktionen mit auf den Weg geben können. Aber sie gab uns gerade eben das Spiel mit seiner Spannung, seiner Freude, seinem Spaß.

Diese Argumentation ist, worauf einige Beiträge in diesem Band hinweisen, längst obsolet geworden, wenn sie es nicht zu Huizingas Lebzeiten schon war. Evolutionsbiologische Spieltheorien haben die für das Spielen konstitutive Lust längst in ihr Konzept integriert. Lust am Spiel und biologische oder auch pädagogische Nützlichkeit des Spiels sind kein Widerspruch, sondern aufeinander angewiesen. Adaptionsvorteile oder pädagogisch gewollte Effekte werden dem Spiel gerade aufgrund seiner Lust verschaffenden Qualitäten zugeschrieben. Die ‚Natur‘ und die pädagogische Kultur bedienen sich gleichsam einer List, indem sie Tätigkeiten, die dem Überleben oder der Ausbildung kulturell erwünschter Fähigkeiten förderlich sind, mit Lust prämieren und dabei die auf diese Weise motivierten Spieler vergessen lassen können, dass sie mit ihrem Aufwand an Energie etwas für sich Vorteilhaftes tun. Das Spielen der Tiere wie der Menschen ist vielfach als Einübung von Fähigkeiten begriffen worden, die zum Lebenserhalt notwendig oder zumindest nützlich sind, als eine Art Vorschule körperlichen, intellektuellen und emotionalen Verhaltens für den Ernst der Lebenspraxis. Einer der bedeutendsten und einflussreichsten Spielforscher seit der Jahrhundertwende, Karl Groos, bekannte sich im Rahmen evolutionsbiologischer Perspektiven  

Csikszentmihalyi: Das flow-Erlebnis, S. 46 ff. Huizinga: Homo Ludens, S. 11.



Thomas Anz / Heinrich Kaulen

entschieden zu einer „Einübungs-Theorie“ des Spiels. Er klassifizierte daher die Fülle von Spielarten nach diversen Fähigkeiten, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung erwerben müsse. Um die „Herrschaft über seinen eigenen psychophysischen Organismus“ zu gewinnen, übe er sich durch spielerisch experimentierende Betätigung seiner Wahrnehmungs- und Bewegungsapparate sowie seiner „höheren seelischen Anlagen“: des Intellekts, der Phantasie, der Gefühle und des Willens. Der Einübung geregelter Formen zwischenmenschlicher Beziehungen dienen nach Groos darüber hinaus „Kampfspiele“, „Liebesspiele“, „Nachahmungsspiele“ und solche „Socialen Spiele“, die den Bedürfnissen nach gesellschaftlicher Integration entsprechen. Wer Argumente für die biologische Fundierung und soziale Nützlichkeit von Kunst und Literatur sucht, findet sie bei Groos in reichem Maße, zumal sich dieser der Spielforschung vermittelt über ästhetische Interessen zugewandt hat und auf Probleme der Ästhetik immer wieder zu sprechen kommt. Einige Beiträge in diesem Band können als Indikator dafür gelten, dass der über Jahrzehnte hinweg weitgehend vergessene Groos im Zeichen eines wiederbelebten Interesses an der Evolutionsbiologie neu entdeckt zu werden beginnt, wobei das Interesse an seinen Einsichten und die Dis­tanz zu naturalistischen Fehlschlüssen einander nicht ausschließen. Der vorliegende Band versteht sich nicht zuletzt als eine Einladung, vergessene Traditionen ästhetischer, literaturtheoretischer und literaturdidaktischer Spielkonzepte wiederzuentdecken und kritisch zu analysieren, um auf diese Weise aktuelle literaturwissenschaftliche Interessen an Spieltheorien historisch zu positionieren und zu reflektieren. Dabei zeigt sich in vielen Beiträgen, dass trotz der langen Geschichte, die Spielkonzepte haben, von einer linearen, kontinuierlichen oder gar teleologischen Entwicklung keine Rede sein kann. Die historische Semantik des Spielbegriffs ist vielmehr durch Zäsuren, Diskontinuitäten und Umcodierungen bestimmt, die herauszuarbeiten eine wichtige Aufgabe wissenschaftlicher Begriffsgeschichte ist. Zu entdecken gibt es da noch viel. Dass zum Beispiel der russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, dessen Resonanz in Deutschland mit der Hochzeit der strukturalen Textanalyse verbunden war, ein ausgeprägtes Interesse an den Affinitäten von Literatur und Spiel hatte, ist wenig bekannt und wurde auch in den 1970er Jahren kaum zur Kenntnis genommen. Unter Berufung auf Groos rechtfertigte er seine Vergleiche von Literatur und Spiel gegenüber der Befürchtung mancher (marxistischer) Ästhetiker, dass sie zur „Propagierung der ‚reinen Kunst‘ führten, zur Negation der Verbindung zwischen dem Schaffen und dem gesellschaftlichen Leben“. Wie   

Groos: Die Spiele der Menschen, Vorwort, S. V. Ebd., S. 6; Formulierung bei Groos hervorgehoben. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 103.

Einleitung



Literatur entwerfe das Spiel Modelle der Wirklichkeit und vermittle realitätsbezogene Erkenntnisse: Höhere Lebewesen lehren ihre Jungen alle Verhaltensweisen, die nicht automatisch im genetischen Programm angelegt sind, allein mit Hilfe des Spiels. Das Spiel hat eine gewaltige Bedeutung beim Erlernen von Verhaltenstypen, weil es Situatio­nen zu modellieren erlaubt, in die unvorbereitet hineinzugeraten für das Individuum den drohenden Untergang bedeutet.10

In einem geregelten Schonraum künstlich herabgesetzten Risikos verhelfe beispielsweise das wiederhol- und korrigierbare Durchspielen gefährlicher Situationen dazu, den Schrecken vor analogen Situationen in der Wirklichkeit zu überwinden, und vermittle so „die für die praktische Tätigkeit notwendige Struktur der Emotionen“.11 Die Geschichte der literaturtheoretischen Verwendung des Spiel-Begriffs ist so alt wie die Überlieferung der Literatur selbst. Die Poetik des Aristoteles legitimiert den Begriff der „Mimesis“ anthropologisch mit der Erinnerung an das Spiel der Kinder: „Das Nachahmen selbst ist dem Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an.“ Wenn Plato die Fiktionalität der Dichtung zur Lüge abwertet, rekurriert er ebenfalls auf den Begriff: Die „Nachbildung“ sei „eben nur ein Spiel“ und „kein Ernst“.12 In dieser Verwendung ist ‚Spiel‘ mit Unwahrheit, Leichtfertigkeit und Unvernunft assoziiert. Noch die jüngere Kritik an der ‚Unverbindlichkeit‘ der ‚Postmoderne‘, deren Selbstverständnis eng an den Spiel-Begriff gebunden ist, steht in dieser Traditionslinie. Dem stehen – in Anlehnung an ästhetische Theorien Schillers, Darwins oder Freuds – nach wie vor emphatische Bekenntnisse zum Spielcharakter von Literatur entgegen. Dabei sind an der Tauglichkeit des Spiel-Begriffs in diversen Wissenschaften und gerade auch für die Literaturwissenschaft durchaus Zweifel angebracht. Im etablierten Sprachgebrauch, wie ihn Konversationslexika dokumentieren, sind „Spieltheorien“ die Domäne mathematisierter Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Strategische Gesellschaftsspiele dienen hier als Modell zur formalisierten und an Verhaltensprognosen interessierten Analyse sozialer Konflikt- und Konkurrenzsituationen. Der metaphorische Gebrauch des Spiel-Begriffs und der fiktionale Status der Modellbildungen sind dabei so offensichtlich, dass sie kaum reflektiert werden. So versucht etwa eine kürzlich erschienene Einführung in die Spieltheorie aus der Hand eines Soziologen, Spielmodelle an einer Geschichte von Arthur Conan Doyle und seiner Figur des Sherlock Holmes oder an anderen literarischen Texten zu illustrieren.13 Gelegentlich fordert die Einführung – ähn10 11 12 13

Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Vgl. die Hinweise und Zitate in Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 11 und 13. Diekmann: Spieltheorie, S. 11 f.



Thomas Anz / Heinrich Kaulen

lich wie ein literarischer Text, nur expliziter – die Leser sogar dazu auf, sich erfundene Situationen vorzustellen.14 Wenn in diesem Kontext von einem „Koordinationsspiel“ gesprochen wird, bleibt aber völlig unklar, ob hier die imaginierten Figuren spielen sollen oder diejenigen, in deren Phantasie sie agieren. Das Operieren mit Metaphern, Fiktionen und einem ungenauen SpielBegriff hat der Reputation sozialwissenschaftlicher Spieltheorien bislang offensichtlich nicht geschadet. Eine Lizenz für vage Verwendungen des Spiel-Begriffs in der Literaturwissenschaft ist das freilich nicht. Mit Recht hat Stefan Matuschek in seiner 1998 erschienenen Habilitationsschrift Literarische Spieltheorie kritisch und mit vielen Belegen auf den diffusen Gebrauch des Spiel-Begriffs sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften hingewiesen und dafür u.a. sein „Überangebot an semantischen Merkmalen“15 verantwortlich gemacht. Skeptisch sichtet Matuschek das Grimmsche Wörterbuch, das unter 23 Bedeutungsvarianten des Wortes ‚Spiel‘ insgesamt 132 Verwendungsmöglichkeiten verzeichnet. Definitionen des Spiels, wie sie Huizinga oder Caillois gegeben haben,16 sind da durchaus hilfreich, wenn auch in eingeschränktem Maße. Ihre Grenzen finden sie, auch für eine plausible Gleichsetzung von Literatur und Spiel, in der Mannigfaltigkeit spielerischer Tätigkeiten. Ludwig Wittgenstein hat daher nachdrücklich vor Begriffsfestlegungen gewarnt, die vorschnell von der Vielfalt konkreter Spiele abstrahieren. Das Begehren nach einem eindeutigen Begriff des Spiels verfalle den Verführungen unserer Sprache. Allen Spielen gemeinsame Merkmale gebe es nicht, allenfalls Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Gruppen von Spielen. Zur Begriffsexplikation gelangt man nach Wittgensteins Vorschlag nur, indem man eine Vielzahl heterogener Spielpraktiken auf ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen untersucht. „Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!“17 Will man Literaturtheorien als Spieltheorien konzipieren, ergibt sich daraus ein anspruchsvolles und ergiebiges Forschungsprogramm. Systematische Fortführungen der bislang zumeist nur metaphorisch angedeuteten Vergleiche zwischen verschiedenen Arten von Literatur und verschiedenen Arten von (nicht-literarischen) Spielen führen rasch in die Zentren literaturtheoretischer Fragestellungen: zu den Regeln, Ritualen, Normen und Freiräumen sprachlichen und ästhetischen Verhaltens, zu Phänomenen 14 15 16 17

Ebd., S. 21 f. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 251. Vgl. Huizinga: Homo Ludens, S. 37; Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 16. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 239.

Einleitung



der Mimesis, Simulation und Imagination, zu den u.a. in Gattungstheorien vorgelegten Versuchen, die Vielfalt spielerischen Handelns zu typisieren, zu den agonalen Mustern des Dialogs und ästhetischer Inszenierung, den Reiz­quellen, Einübungs- und Explorationsfunktionen spielerischen Handelns. Und wenn man darüber hinaus bereit ist, die Spielforschungen anderer wissenschaftlicher Disziplinen zur Kenntnis zu nehmen und ihrerseits mit­einander zu vergleichen, dann wird man feststellen, dass die Probleme der Literaturtheorie mit denen anderer Spieltheorien vielfach übereinstimmen, dass andere Disziplinen diese Probleme zum Teil präziser und differenzierter bearbeitet haben − oder zum Teil auch unzulänglicher und daher ihrerseits von neuen literaturtheoretischen Einsichten profitieren könnten. Eine historisch einigermaßen umfassende und sprachanalytisch versierte Rekonstruktion literaturtheoretischer Verwendungen des Spiel-Begriffs oder eine in ihrer Präzision und Anwendbarkeit überzeugende Systematisierung seiner literaturrelevanten Bedeutungsmerkmale stehen noch aus. Daran können auch eine Tagung und ihre Dokumentation wenig ändern. Dieser Band bietet jedoch eine Vielzahl von Präzisierungen, Impulsen, neuen Theorieangeboten und interdisziplinären Anschlussmöglichkeiten, die auf ein begrenztes Feld spezifischer Problem- und Gegenstandsbereiche konzentriert sind. Der erste Teil widmet sich theoretischen Spielkonzepten – mit historischen Rekonstruktionen ästhetischer Theorien vor allem um 1800 oder, angeregt durch neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie und Kog­ nitionspsychologie, mit der Perspektive auf eine systematische Weiterentwicklung einer Literaturtheorie des Spiels. Die beiden nächsten Abschnitte enthalten Beiträge zu literarischen Spielformen vom Mittelalter bis zur Postmoderne am Beginn des 21. Jahrhunderts. Ein weiteres Kapitel bezieht den Spiel-Begriff auf diverse literarische Textsorten und die ihnen eigenen Regeln, Normen und ritualisierten Abläufe: auf das Theater und das Drama, speziell auch auf die Komödie, auf biographische und autobiographische Texte, Aphorismen, Parodien, Konkrete Poesie, ludische Elemente in der Migrantenliteratur sowie Rituale massenhaft verbreiteter Unterhaltungsliteratur. Drei Beiträge vergleichen Literatur mit anderen Spielen, vor allem mit Computerspielen aus dem Bereich der aktuellen digitalen Unterhaltungskultur. Der letzte Teil setzt sich in systematischer, historischer und methodischer Perspektive mit den seit einigen Jahrzehnten stark verbreiteten Spielpraktiken im Literatur- und Sprachunterricht auseinander. Die Herausgeber des Bandes danken allen Beiträgern dafür, dass sie ihre Vorträge für den Druck noch einmal überarbeitet haben. Informationen über sie, Abstracts ihrer Beiträge und weitere Hinweise zum Thema des Buches stehen im Internet unter der Adresse http://www.spiel.literaturwissenschaft.de zur Verfügung. Dem Verlag und den Herausgebern der



Thomas Anz / Heinrich Kaulen

Reihe spectrum Literaturwissenschaft danken wir für ihr Interesse an der Veröffentlichung und unseren Mitarbeiterinnen für ihre engagierte Hilfe bei der Bearbeitung der vielen Aufsätze zum Druck, namentlich Lara Binnenkade, Isabel Fischer, Sigrun Galter, Andrea Geier, Sonja Hauptmannl, Marion Malinowski und Giovanna Marasco.

Literatur Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982. Csikszentmihalyi, Mihaly: Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile. Stuttgart 1987. Diekmann, Andreas: Spieltheorie. Einführung, Beispiele, Experimente. Reinbek bei Hamburg 2009. Groos, Karl: Die Spiele der Menschen. Jena 1899. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Mit einem Nachwort von Andreas Flitner. Reinbek bei Hamburg 1987. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a.M. 1993. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe Band 1. Frank-­ furt a.M. 1984, S. 225-580.

Spielkonzepte in der Ästhetik und Literaturtheorie

Karl Eibl

Vom Ursprung der Kultur im Spiel Ein evolutionsbiologischer Zugang Dass das Ästhetische und das Spiel eng zusammenhängen, ist seit Kant und Schiller, ja seit Aristoteles fast ein Gemeinplatz der Ästhetik, jedenfalls in der anthropologisch orientierten Tradition des Nachdenkens über das Schöne. Genaueres Nachfragen allerdings führt schnell in ein Dickicht. Ich will kurz zwei Klassiker anleuchten. Johan Huizinga beklagt gleich zu Beginn seines Buches die „Unzulänglichkeit der bisherigen Definitionen des Spiels“ und versucht es mit den folgenden Formulierungen: Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.

Nach Roger Caillois’ Meinung hatte er damit wenig Glück. Caillios meint: „Eine solche Definition, in der zwar alle Worte ihren Wert und ihren Sinn haben, ist einerseits zu allgemein und andererseits zu begrenzt“. Er entwickelt selbst eine Definition, der gemäß Spiel „eine freie Betätigung […] eine abgetrennte Betätigung […] eine ungewisse Betätigung […] eine unproduktive Betätigung […] eine geregelte Betätigung und eine fiktive Betätigung“ sei. Auch das wird man als „einerseits zu allgemein und andererseits zu begrenzt“ einschätzen müssen, zumal wenn man bedenkt, dass Caillois’ SpielBegriff sich in der Argumentationspraxis bis hin zu Drogen-Gebrauch und Schamanen-Ekstatik erstreckt. Beide, Caillois wie Huizinga, haben bei ihren Untersuchungen einen ständigen Einschränkungs- und Erweiterungskampf zu führen. Eine der Ursachen dafür ist, dass sie letztlich von einem intuitiven Alltagsbegriff von ‚Spiel‘ ausgehen (müssen). Solche Alltagsbegriffe   

Huizinga: Homo Ludens, S. 9. Ebd., S. 22. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 10.

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Karl Eibl

für vermeintliche oder tatsächliche Universalien (dazu gehören auch Kunst, Schönheit/‚das Schöne‘, Lust usw.) verdanken ihre Brauchbarkeit nicht expliziten Definitionsakten, sondern dem jeweiligen Verwendungskontext, also der pragmatisch-referentiellen Einbettung. Mit entsprechenden referentiellen Zusätzen lässt sich problemlos kommunizieren, dass jemand die Mondscheinsonate genial gespielt hat, ein anderer ein miserabler Handballspieler ist oder ein Lenkrad zu viel Spiel hat. Soll so ein Begriff aber als eindeutiger Terminus ‚getauft‘ werden, so dass er in allen Kontexten dieselbe Bedeutung hat, dann wird er schnell zum Vexierbild. Es kommt erschwerend hinzu, dass Huizingas deutscher Untertitel Vom Ursprung der Kultur im Spiel eigentlich eine Irreführung ist. Wenn ‚Ursprung‘ mehr sein soll als ein Raun- und Eigentlichkeitswort deutscher Tradition, dann verspricht es eine Erklärung, bei der Kultur und Spiel als zwei verschiedene Entitäten kausalgenetisch aufeinander bezogen werden. Bei Huizinga aber sind Spiel und Kultur auf eine unentwirrbare Weise miteinander verwoben. Jedes Spiel offenbart bei genauerem Hinsehen ein mehr oder weniger gewichtiges Beiwerk durchaus ernsthafter Begleit- oder Hintergrundphänomene. Und umgekehrt wird man kaum ein kulturelles Phänomen finden können, dem nicht spielerisch-ästhetische Momente ein- oder angelagert sind. Huizingas ursprünglicher Untertitel Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur erfasst die Perspektive viel angemessener. Er ist übrigens in der englischen Übersetzung beibehalten worden (A Study of the Play-Element in Culture), und auch die frühen Auflagen der deutschen Übersetzung versprechen den „Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur“ (jedenfalls bis zur dritten Auflage 1949), nicht einen wie auch immer zu verstehenden Ursprung. 1. Huizingas Ausführungen beginnen mit dem Satz: „Spiel ist älter als Kultur […] die Tiere haben nicht auf die Menschen gewartet, dass diese sie erst das Spielen lehrten“. Das wäre ein biologischer Ansatz, der dem Begriff des ‚Ursprungs‘ einen empirisch-referentiellen Sinn geben könnte. Aber Huizinga verwirft diesen Ansatz sehr schnell wieder. Er hält es für einen Irrweg zu meinen, Spiel „diene irgendeiner biologischen Zweckmäßigkeit.“ – Der von Huizinga verworfene Erklärungsweg wird für Ästhetisches generell in den letzten Jahren von einigen biologisch-soziobiologisch orientierten Wissenschaftlern unter dem Namen einer ‚Evolutionären Ästhetik‘ beschritten.   

Wagenknecht: Das Taufen von Begriffen. Huizinga: Homo Ludens, S. 9. Ebd., S. 10.

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Gerade das Moment des Spiels allerdings wird dabei etwas spitzfingrig behandelt. Denn biologisch-ästhetische Erklärungen haben ja vor allem auf den Nutzen abzuheben: Nutzloses wird von der Evolution allenfalls geduldet, aber unter dem Gesichtpunkt der Überlebens- oder Fortpflanzungs­ selektion ist es eher kontraproduktiv. Evolutionstheoretiker sind deshalb zumeist Puritaner. So hat man eine ganze Reihe von ästhetischen Präferenzen herausgefunden, die in diesem Sinne nützlich sind, auch wenn das auf den ersten Blick nicht erkennbar und den handelnden Personen in der Regel nicht bewusst ist. Schönheit, so heißt die Formel, ist das Versprechen von Funktion, oder noch etwas genauer: von Fortpflanzungsfitness. Wenn wir z.B. bestimmte Formen der Landschaft mit einem ,Hier-lasst-uns-Hüttenbauen‘-Gefühl wahrnehmen, dann beruht das auf tief ins Genom eingeschriebenen Präferenzen für fruchtbare und sichere Habitate, die intuitiv, automatisch und ohne langes Nachdenken zu identifizieren für unsere Vorfahren sehr nützlich war. Ähnliches lässt sich für Präferenzen der sexuellen Partnerwahl vermuten, die sich als erfolgreich beim Verbreiten der Gene erwiesen haben und deshalb besonders stark verbreitet wurden, ebenso für die Beurteilung von Tages- und Jahreszeiten, Wetterwechseln, sozialem Status, sozialen Szenarios, Geschicklichkeit, Nahrung usw. Letztlich ist das alles nicht sehr aufregend: Es ist die Einteilung der Welt nach attraktiven und aversiven Reizen, die sich unter der Selektionswirkung von Nützlichem und Schädlichem entwickelt hat. Der Schönheitsbegriff der evolutionären Ästhetik gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für den Löwen, der die Witterung eines Beutetiers aufnimmt, oder den Schimpansen, der einen geeigneten Schlafplatz sucht – er bezieht sich auf jene Regungen, die in der Kantischen Ästhetik unter das Rubrum des sinnlichen Interesses am ,Angenehmen‘ fallen und strikt vom interesselosen Wohlgefallen am Schönen unterschieden werden. Man kann das Problem natürlich dadurch beseitigen, dass man das Kantische Schöne zum idealistischen Begriffsgespenst erklärt. Aber auch solche Begriffsgespenster haben meistens ein Erfahrungskorrelat, zu dessen Deutung sie einst hergestellt wurden. Auch für eine ‚naturalistische‘ Beobachterperspektive bleiben Problemreste. Ein Klassiker, mit dem schon Darwin sich auseinandersetzte, ist das Schwanzgefieder des männlichen Pfaus. Es ist zwar unnütz, sogar schädlich, aber trotzdem offenbar von großem Reiz für die Pfauenhennen. Darwin vermutete da eine Art von selbstverstärkendem Aus-dem-Ruder-Laufen der Entwicklung bei der geschlechtlichen



Thornhill: Darwinian Aesthetics inform Traditional Aesthetics. – Nicht immer sind die Vertreter der evolutionären Ästhetik zum Dialog mit Vertretern der traditionellen Ästhetik ausgerüstet. Eine Ausnahme ist Eibl-Eibesfeldt/Sütterlin: Weltsprache Kunst, wo auch der Versuch unternommen wird, Verbindungen zur traditionellen Ästhetik herzustellen.

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Zuchtwahl. Aber auch hier gibt es nun eine striktere Anbindung an die Nutzen-Ästhetik durch die Entdeckung des sogenannten Handicap-Prinzips: Gemeint ist damit, dass durch das Vorzeigen eines Handicaps die sonstige Leistungsfähigkeit unterstrichen wird. Wer sich das Handicap eines auffälligen Schweifes oder eines Riesengeweihs (oder absurd teurer Prachtbauten, Autos usw.) leisten kann, demonstriert damit seine sonstige Vitalität, so dass es für weibliche Pfauen oder Hirsche sehr sinnvoll ist, ihn als Zeugungspartner zu wählen. Mit diesem Argumentationszug ist die Attraktivität des Nutzlosen oder gar Schädlichen wenigstens teilweise wieder evolutionskonform gedeutet. Selbst die Neigung, auch aversive Reize aufzusuchen und sich dem ,angenehmen Grauen‘ der Tragödie oder des Horrorfilmes auszusetzen, hat hier vielleicht ihre evolutionäre Wurzel, nämlich in pleistozänen Mutproben, mit denen man gemäß dem Handicap-Prinzip den Weibchen imponierte und sich einen entsprechenden Fortpflanzungsvorteil verschaffte (wenn man das Verfahren überlebte). Noch heute lädt der kühne Knabe die Liebste in die Geisterbahn ein, um sie vor den dortigen Ungeheuern zu schützen (und seine Reproduktionschancen zu steigern). Nur: Beide wissen, dass es nur ein Spiel ist und dass sie sich im Rahmen der sehr viel verlässlicheren Sicherheitsgarantien von TÜV und Gewerbeaufsicht bewegen. Und trotzdem erleben sie Emotionsbäder, als wäre es Realität. Hier liegt ein ganz wichtiger Schnitt.10 Schon das Vergnügen an einem nur gemalten schönen Körper des anderen Geschlechts ist unter evolutionärem Aspekt eine grobe Irreführung (es sei denn, das Gemälde dient der Werbung für ein anrüchiges Etablissement). Es scheint mir nicht bloßer Zufall zu sein, dass im derzeit aktuellen Sammelband zur evolutionären Ästhetik weder das ,angenehme Grauen‘ noch Musik noch Literatur noch Theater eine Rolle spielen:11 Die evolutionäre Ästhetik kann zwar ästhetische Betätigungen und Wahrnehmungen erklären, die wir mit anderen Lebewesen gemeinsam haben, aber zur Erklärung artspezifisch menschlicher künstlerischer Hervorbringungen bedarf es einer zusätzlichen, artspezifischen Fähigkeit. Diese Fähigkeit besteht darin, dass Menschen in besonderem Maße in der Lage sind, Instinktmechanismen still zu stellen, einzelne Verlaufssequenzen zu entkoppeln, sie neu zu kombinieren. Darüber gibt es eine Art von bioanthropologischem Konsens. Über die Ursachen gibt es verschiedene Auffassungen, aber der Sachverhalt selbst wird, in unterschiedlichem Gewand, immer wieder festgestellt: Der Mechanismus von Auslöser und 

Ein Versuch, hier die Brücke zur traditionellen Interesselosigkeits-Ästhetik zu schlagen, ist Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit.  Vgl. Zahavi/Zahavi: Signale der Verständigung. 10 Dazu vor allem Mellmann: Literatur als emotionale Attrappe. 11 Voland/Grammer: Evolutionary Aesthetics.

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Handlung ist oft unterbrochen durch eine Orientierungsphase (Gehlen: Hiatus; Scherer: Latenzphase), in der zusätzliche Informationen verarbeitet werden können, etwa dass der Leinwandlöwe, der uns erschreckt, kein echter Löwe ist, oder welche Folgen unser Handeln hätte, wenn wir einem bestimmten Impuls folgten, oder ob nicht noch weitere Reiz-ReaktionsOptionen relevant sein könnten. Das bedeutet nicht etwa, dass die Instinkte nicht mehr in Geltung wären, aber sie sind dann nicht mehr als zwingende und alternativlose Handlungsprogramme wirksam, sondern als Gefühlsappelle, denen man nicht mechanisch folgen muss. Auslösemechanismus und Reaktion werden ‚entkoppelt‘ oder ‚ausgehängt‘. 2. Die entwicklungsgeschichtlich früheste Form des Entkoppelns ist das Spiel. Im Spiel werden die Verhaltensprogramme von vitalen Handlungszwecken abgelöst. Einzelne Verhaltensweisen können aus ihren Funktionskreisen herausgenommen werden und stehen für neue Kombinationen zur Verfügung. Vom Beutekampf-Spiel kann z.B. umgeschaltet werden auf Rivalenkampf-Spiel, von der Rolle des Verfolgers auf die des Verfolgten, ohne dass es zu irgendeiner Endhandlung käme. Es sind zwei schon von einem etwas älteren Klassiker der bio-anthropologischen Spieltheorie, Karl Groos, hervorgehobene Bestimmungsmomente, die das Spiel der Menschen und das Spiel der Tiere gemeinsam haben und deren Beachtung sich auch in neueren Überlegungen als besonders fruchtbar erwiesen hat:12 Die Bedeutung der (1) Einübungs-Funktion des Spiels und die Bedeutung der (2) Funktionslust. Ich glaube, diese beiden Momente in der Formulierung gegenwärtiger Überlegungen der Evolutionären Psychologie wieder zu erkennen. Das erste Moment, der „Einübungs- oder Selbstausbildungswert“13 des Spiels, wird von Leda Cosmides und John Tooby mit der Unterscheidung von Funktionsmodus und Organisationsmodus gefasst.14 Wenn die Adaptationen im ‚Ernst‘ betätigt werden, also zur Lösung jener Probleme, für die sie evolviert sind, dann ist das der Funktionsmodus. Der Hund schüttelt den Hasen tot, der Vogel fängt im Flug das Insekt oder entzieht sich dem Beutegreifer, und die Löwenmänner kämpfen um den Besitz des Rudels. Im Organisationsmodus vollführen sie ganz ähnliche Handlungen, aber der Hund schüttelt ‚wütend‘ den Pantoffel, der Vogel schwingt sich (für 12 Ich stütze mich vor allem auf die dritte, umgearbeitete Auflage der Spiele der Tiere von 1930, weil es sich gegenüber der Erstauflage von 1896 und auch gegenüber den Spielen der Menschen von 1899 um die theoretisch avancierteste Fassung handelt. 13 Groos: Spiele der Tiere, S. 49 ff. 14 Tooby/Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds?

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unseren Eindruck) ‚sinnlos jubelnd‘ durch die Lüfte und die Löwenjungen balgen sich, ohne irgendeinen Zweck zu verfolgen. Hier ‚üben‘ sie ihre angeborenen Fähigkeiten, ‚bilden sie aus‘, so dass sie sie im Ernstfall auch einsetzen können. Deshalb sind vor allem Kindheit und Jugend der Tiere die Zeit der spielerischen Betätigung. Jeder komplexe Organismus muss sich nach seiner Geburt überhaupt erst einmal fertig bauen, und dieses Fertigbauen geschieht im Organisationsmodus. Das gilt für die Gehirnfunktionen nicht weniger als für die Funktionen körperlicher Leistungsfähigkeit. Beim menschlichen Gehirn hält sich dieser Organisationsmodus offenbar bis ans Lebensende durch, weil er wegen der höchst komplexen und heterogenen Struktur des menschlichen Gehirns auch nach der Fertigstellung ständig zu Instandhaltungs- und Reparaturaufgaben benötigt wird – beim Skatspielen, Fernsehen, Romanlesen, im Theater oder im Museum … Die zweite Bestimmung des Spiels, die Groos nennt und die hier Bedeutung gewinnen kann, ist die Lust.15 Es ist ja etwas seltsam, dass weder Huizinga noch Caillois bei ihren expliziten Definitionsversuchen des Spiels diesen Faktor erwähnen, dessen Wichtigkeit eigentlich ganz offensichtlich ist. Anders Groos. Lust ist für ihn geradezu das Hauptdefiniens von Spiel, jedenfalls der Tiere. Er schreibt: Soweit die Tätigkeit eines Tieres als solche lustvoll ist, und mehr um dieser Lust willen als unter dem Druck des Instinkts und mancher im Ernstfall mit ihm verbundener Emotionen ausgeübt wird, kann sie als Spiel bezeichnet werden.16

Der Begriff der Lust als Erklärungsinstanz ist einerseits von hoher, auf Alltagserfahrung gestützter Plausibilität, aber er ist, ähnlich wie der Begriff des Spiels, von nur geringer terminologischer Festigkeit. Das macht ihn zur idealen Letzterklärungsinstanz. Was mit ‚Lust‘ erklärt wird, erscheint als hinreichend erklärt. Begnügt man sich nicht mit der Feststellung, dass die Lust von der Lust kommt oder auch vom Vergnügen oder vom Spaß, sucht man also nach einem definierenden Kontext, dann gerät man leicht in den Rachen ganzer Begriffssysteme der philosophischen Anthropologie, Kants oder Freuds. Belässt man es bei der intuitiven Plausibilität, dann können nicht nur die Erben der Behavioristen monieren, dass hier viel zu viel dem inneren Erleben, gar noch dem von Tieren zugeschrieben wird. Aber hier liegt zugleich der Gewinn dieser Auffassung. Er besteht gerade darin, dass der subjektive Faktor betont wird. Nicht ein bestimmtes Verhalten ‚ist‘ Spiel oder ‚ist‘ Ernst, sondern ein und dasselbe Verhalten kann, je nach Einstellung des Handelnden, als Spiel oder als Ernst betrieben werden. – Umso dringender ist es, diese Kategorie der Lust so zu referentialisieren, dass sie nicht zur bloßen Hypostasierung wird. 15 Zum Begriffsumkreis insgesamt Anz: Literatur und Lust. 16 Groos: Spiele der Tiere, S. 7.

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Das ist möglich, wenn man die biologisch-physiologische Perspektive anwendet. Schon seit einigen Jahrzehnten wird in diesem Zusammenhang der Begriff ‚Funktionslust‘ gebraucht, der einen Teil der Begründungs- und Definitionslast beseitigt, so dass man Lust nicht mehr unbedingt ins Weltganze oder ins Seelenganze einzuhängen braucht. Funktionslust ist dann eben die Lust am erfolgreichen Tätigsein. Aber auch hier gibt es inzwischen die Möglichkeit näherer referenzieller Bestimmung. Der Begriff der Lust kann mittlerweile nicht nur in der subjektiven Erfahrung oder in irgendwelchen spekulativen Kontexten untergebracht werden, sondern es bieten sich auch empirisch-referenzielle Kontexte zur Erklärung an. Der erste, der anzuführen wäre, ist der Bereich der Neurophysiologie. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ist bekannt, dass Lust ein physiologisches Korrelat hat.17 Die entsprechenden Forschungen sind seither beträchtlich verfeinert, allerdings noch kaum auf den Bereich der Kunst angewendet worden.18 Aber für unsere Zwecke ist ja schon viel gewonnen, wenn man überhaupt feststellen kann, dass Lust kein bloßer Notbegriff für die Letztbegründung von undurchschauten Motivationen ist, sondern eine empirisch feststellbare und untersuchbare körperbasierte Reaktion in ganz bestimmten, näher zu analysierenden Situationen. Einen zweiten empirisch-referentiellen Zugang zur Lust bieten die bereits genannten Evolutionären Psychologen Cosmides und Tooby. Es sind die eben schon angesprochenen Überlegungen zum Organisationsmodus, die auch die evolutionäre Notwendigkeit von Lust begründen können, und zwar jenes Typus von Funktionslust, der nicht an den Erfolg unserer Handlungen gebunden ist (begleitende Funktionslust), sondern jener Funktionslust, die gleichsam selbstreferentiell nur auf die Betätigung unserer Adaptationen selbst bezogen ist (selbständige Funktionslust). Die evolutionäre Notwendigkeit einer solchen Lust wird schnell einsichtig, wenn man bedenkt, dass die Organismen die Nützlichkeit des Organisationsmodus ja nicht selbst durchschauen können. Der Hinweis, dass gegenwärtige Mühe sich später im Leben einmal auszahlen wird, ist schon bei Menschenkindern nicht immer sehr wirkungsvoll, und bei Tieren wäre er vollends hoffnungslos. Deshalb brauchen Übung und Ausbildung der Adaptationen eine selb17 Olds/Milner: Positive Reinforcement Produced by Electrical Stimulation of Septal Area and other Regions of Rat Brain. 18 So wurden mit einem Positronen-Emissions-Tomographen Hirnaktivierungen beim Hören von Musik (90 Sekunden Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert bzw. Barbers Adagio für Streicher) aufgezeichnet. Es wurden Aktivierungen von Hirnregionen festgestellt, die in anderen Studien für „euphoria and/or pleasant emotion“ identifiziert wurden, namentlich für Essen, Sex und Drogengebrauch. Blood/Zatorre: Intensly Pleasurable Responses to Music Correlate with Activity in Brain Regions Implicated in Reward and Emotion. – Das Wohlgefallen an geometrischen Formen betreffend vgl. Jacobsen u.a.: Brain correlates of aesthetics judgement of beauty. – Zur Literatur sind mir keine entsprechenden Studien bekannt.

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ständige, intrinsische Belohnung, die unabhängig ist vom aktuellen äußeren Erfolg, und das ist die ,Lust‘: Eine intrinsische Belohnung unserer Handlungen, die als begleitende Funktionslust sich häufig auch bei ernsthaften Betätigungen einstellen mag,19 aber auch als selbständige Funktionslust, die den Organisationsmodus motiviert, ohne dass äußere Erfolge zu verzeichnen wären.20 3. Die bisher dargelegten Sachverhalte betreffen im Wesentlichen alle höheren Lebewesen und reichen auch hinein in das Mensch-Tier-Übergangsfeld, sind also sowohl bei nichtmenschlichen Lebewesen wirksam als auch bei Menschen. Es gibt aber eine Reihe von Merkmalen, in denen sich das Spiel der Menschen von dem der Tiere unterscheidet: Tiere spielen – mit Ausnahme einiger Haustiere und Elterntiere – nur in der Jugend, Menschen hingegen können/müssen bis ins hohe Alter spielen. ‚Müssen‘ deshalb, weil diese Fähigkeit vermutlich mit der sehr komplexen Gehirnstruktur zusammenhängt, die nicht irgendwann ‚fertig‘ ist, sondern bis ins Alter der ständigen Reparatur und Instandhaltung bedarf. Die positive Seite: Sie sind bis ins Alter lernfähig. – Menschen können beim Spielen zuschauen. Tiere wollen immer gleich selbst mitspielen. Menschen haben offenbar ein so hohes Maß an Empathiefähigkeit, dass sie das Spielgeschehen mit vollziehen können, ohne physisch involviert zu sein. – Die Nachahmungs- und Verwandlungsspiele beschränken sich bei Tieren auf eine Mimikry, die der beschränkten Verhaltensflexibilität entspricht, während Menschenkinder sich nicht nur in Räuber und Gendarm, d.h. Gejagte und Jäger, sondern auch in Autos und Flugzeuge verwandeln können. Im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen steht eine Besonderheit des menschlichen Spielverhaltens, die schon eingangs angedeutet wurde, nämlich die Vermischung von Spiel und Ernst oder, wie ich es nenne, die zweite Ernsthaftigkeit, in die das Spiel beim Menschen gerät. Beiseite lasse ich hier den Problemkomplex der Institutionalisierung des Spielens, der mit der Einführung willkürlicher Regeln sowie den Tendenzen der Professionalisierung den Ernst ins Spiel hineinregieren lässt. Mir geht es hier vielmehr umgekehrt um das Übergreifen der Uneigentlichkeits-Haltung des Spiels auf die Welt ernsthaften Handelns, das zum entscheidenden evolutionären Keimpunkt für die Diversität von Kulturen wurde. Die einfache Unterscheidung Spiel/Ernst (gilt/gilt nicht) wird ausgebaut zu einem höchst komple19 Der neuerdings häufiger herangezogene ‚flow‘ gehört wohl in diese Kategorie. 20 Tooby und Cosmides (Does Beauty Build Adapted Minds?) haben diesen Effekt unter dem Namen der ‚Aesthetics‘ oder der ‚ästhetischen Motivation‘ gefasst.

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xen Apparat der Geltungszuweisung. Die genauere Ansatzstelle ist der Modus von Informationen – Modus durchaus als grammatikalische Kategorie verstanden, durch die die Einstellung des Sprechers zur Information mitgeteilt wird. Die Spielaufforderung des Hundes oder des Papageis, das Spielgesicht des Schimpansen (eine Frühform unseres Lächelns) sind bekannte Beispiele dafür, wie ein Verhalten mit der Meta-Information versehen wird: „Dies ist Spiel“ (also nimm es nicht als ernsthafte Bedrohung, wenn ich knurre). Ich habe für diesen Modus der quasi ‚entpflichteten‘ Rede einmal (halb im Spiel) den Begriff des Emeritiv vorgeschlagen.21 Dieser Emeritiv also steht schon für die Kommunikation vieler Tiere zur Verfügung. Im menschlichen Umgang mit Informationen entwickelt sich hieraus ein sehr viel weiter greifender meta-informativer Apparat zur Verarbeitung nur bedingungsweise wirklicher oder möglicher Welten. Jede Proposition kann mit Hilfe dieses Apparats (Cosmides/Tooby sprechen von einer Scope syntax) mit Zusatzinformationen versehen werden, die Auskunft geben über ihre Qualitäten und Geltungsbedingungen.22 Nicht nur: „Dies ist Spiel“ kann gesagt werden, sondern auch: „Dies gilt nur bei Trockenheit“ oder „Dies hat mir ein notorischer Schwindler erzählt“ oder „Dies glaubten die Menschen im Mittelalter“. Tooby/Cosmides formulieren die Konsequenzen: These are the new worlds of the might-be-true, the true-over-there, the once-wastrue, the what-others-believe-is-true, the true-only-if-I-did-that, the not-true-here, the what-they-want-me-to-believe-is-true, the will-someday-be-true, the certainly-is-not-true, the what-he-told-me, the seems-to-be-true-on-the-basis-of-these claims, and on and on.23

Diese distanzierte und elastische Behandlung propositional verfasster Wahrheiten war es, die den Menschen zu dem Erfolgsmodell der Evolution gemacht hat. Und insofern kann man auch in einem biologischen Sinne vom Ursprung der Kultur im Spiel sprechen – vom Ursprung der Kultur in der Entkoppelungsleistung, wie sie prototypisch im Spiel erscheint und vom Menschen genutzt wird zur Konstruktion unterschiedlicher kontingenter Kulturen. 4. Eine Amöbe und eine Zecke haben ein sehr ‚festes‘ Weltbild. Wenn sie sich irren, können sie nicht dazulernen, sondern gehen zu Grunde. Aber so lange sie leben, werden sie von keinerlei Zweifeln geplagt. Beim Menschen ist das anders. Er lebt in selbstgebauten Zwischenwelten, kann sie an neue 21 Eibl: Animal Poeta, S. 344. 22 Vgl. besonders Tooby/Cosmides: Consider the Source. 23 Tooby/Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds?, S. 20.

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Problemsituationen anpassen, bezahlt dafür aber mit dem Bewusstsein, dass vieles, wenn nicht gar alles, auch ganz anders sein könnte (und dass nichts so ganz richtig ist). Ich habe bereits in meinem Eröffnungsvortrag auf die Bedeutung der symbolisch konstruierten Zwischenwelten hingewiesen,24 will das nicht in extenso wiederholen, sondern mich auf zwei weiterführende Beobachtungen beschränken, die die Leistung des Spiels in diesem Kontext betreffen. Das – oft nur diffuse – Wissen, dass wir in Zwischenwelten leben, macht unsere Umwelten in besonderem Maße prekär und verleiht grundsätzlich allen unseren Weltkonstruktionen (allen Sinnproduktionen im Luhmannschen Sinne) einen Hauch von Ironie. Denn diese Zwischenwelten sind ja keineswegs, wie manche radikalkonstruktivistischen Verlautbarungen anzunehmen scheinen, unentrinnbare Gefängnisse mit festen Mauern, die man für die Welt ‚an sich‘ halten könnte. Im Gegenteil: Sie brauchen ständig Halt und Erneuerung. Kultur ist keine feste Konstruktion wie ein Gebäude, eher schon etwas wie ein Geschäftsbetrieb: Sie muss ständig am Laufen gehalten werden, um überhaupt zu existieren. Wir müssen sozusagen schon beim Aufstehen (aber vielleicht schon in unseren Träumen) unsere relevanten Zwischenwelten repetieren. Sie sind in ständigen Umbau- und Anpassungsprozessen begriffen, die dafür sorgen, dass die Vermittlung zwischen Nervensystem und Welt einigermaßen funktioniert. Kehrseite der Flexibilität ist, dass sie mit dem Stigma der Kontingenz und der vorläufigen Improvisation fertig werden müssen. Die Betätigung der Adaptationen im Organisationsmodus bekommt in diesem Zusammenhang eine neue Funktion, nämlich die einer Bestätigung der prekären (Zwischen-)Weltkonstruktionen. Diese Bestätigung der Weltkonstruktion besteht zum einen darin, dass die inhaltlichen ZwischenweltElemente ständig wiederholt werden (Mimesis), zum anderen aber auch darin, dass unsere apriorischen Weltverarbeitungsmuster als ‚richtig‘, d.h. als mit der Welt korrespondierend, bestätigt werden. Und da die Welt sich diesem Ansinnen oft genug verweigert, tritt nun die Konstruktion ästhetischer Spiel-Welten besonders auf den Plan. Man könnte diese Bestätigungsfunktion entsprechend den Einteilungsgewohnheiten der ideologiekritischen Phase unserer Wissenschaft als ‚affirmativ‘ bezeichnen. Man muss aber hinzufügen, dass es sich dabei nicht nur um Affirmation bestimmter Inhalte handelt, sondern um Selbstbestätigung unserer angeborenen Kategorien der Weltverarbeitung. Und da die Welt diese Bestätigungen nie hundertprozentig bietet, greifen wir immer wieder zum Mittel ästhetischer Konstruktion von Welten. Nur ein paar punktuelle Hinweise, chaotisch aufgezählt, damit nicht der falsche Eindruck von Vollständigkeit und Systematik entsteht: Die kausale 24 Eibl: Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen.

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Verknüpfung von Geschichten betätigt unseren Kausalitätsinstinkt, ähnlich steht es um die teleologische Verknüpfung. Metaphern bestätigen unseren Abstraktions- und Induktionsinstinkt,25 regelmäßige Teppichmuster und Parkanlagen bestätigen unseren geometrischen Vermessungsapparat, nackte Venusdarstellungen bestätigen unsere Partnerwahl-Präferenzen, Geschichten mit gutem Ende bestätigen unsere Erwartungen eines GestaltAbschlusses ebenso wie das C-Dur-Blech am Ende einer Symphonie. Gerade Anlässe, die sich durch besonderen Ernst und besondere Lebensrelevanz auszeichnen, Hochzeiten, Staatsgründungen, Einweihungen jeder Art, lassen sich durch die Beiklänge des ästhetischen Spiels den Zufälligkeiten von Wind und Wetter und der Unzulänglichkeit der beteiligten Personen entheben. Gerade auch was Furcht und Abscheu erregt, bedarf der Rückversicherung in einem Notwendigen. So waren die Hinrichtungen früherer Zeiten oft bei aller Grausamkeit des Räderns und Vierteilens zugleich öffentliches ‚Theater des Schreckens‘, in dem man sich selbst als empfindungsfähiges Subjekt wahrnehmen konnte. In den Kriegen der absolutistischen Zeit konnte man als Schlachtenbummler die Manövrierkünste der Heere bewundern. Eine standesgemäße Beerdigung wird noch heute von völlig sinnlosen Kränzen begleitet, es werden die Dienste der Kirchen (oder zumindest der Bestattungsunternehmen) bemüht, zu gewiss meist ornamentalen Zwecken, die gleichwohl den Lebenden das Gefühl geben sollen, dass hier alles seine Richtigkeit hat. Ein so abscheulicher Text wie das Dies irae wird im Zuge eines Requiems humanisiert durch die Musik Mozarts. – Herausgehobenen Spiel- und Lustwert besitzen Wiederholungen jeder Art, ob in den Wiederholungsräuschen spielender Kinder (,noch mal, noch mal!‘) und den Wiederholungen der Metrik und den Wiederholungsfiguren der Rhetorik oder in den liturgischen Wiederholungen religiöser und weltlicher Rituale oder den tendenziell unendlichen Wiederholungen der Daily Soap und ähnlicher Medien-Ereignisse, nach denen man die Uhr stellen kann: Sie alle geben Zeugnis von der Berechenbarkeit der Welt – nein: affirmieren unser Grundbedürfnis nach Berechenbarkeit. Was sich wiederholt, kann abstrahiert und in Regeln gefasst werden. Man könnte hier eine mehrseitige Liste solcher Weltverarbeitungsmuster nebst ihren ästhetischen Begleitoder Abkoppelungsformen erstellen, die uns alle vorspiegeln, dass diese chaotische Welt eine Ordnung hat, und zwar eine, die unseren apriorischen Werkzeugen der Weltverarbeitung entspricht. Das gilt auch für den sozialen Bereich. Der Apparat unserer apriorischen Werkzeuge wurde ja nicht nur anhand unserer individuellen Weltverarbeitung evolviert, sondern auch nach Kriterien der erfolgreichen Kooperation. Entsprechend gibt es einen ganzen Bereich des spielerischen Verhaltens, 25 Dazu Eibl: Eine Kuh ist eine Ziege.

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der auf Konsens ‚an sich‘ zielt, also sozusagen Konsens-Spiele (mit ihrer Kehrseite, nämlich der Exklusion der Fremden). Wenn Offiziere oder Diplomaten sich mit ihren Orden schmücken (deren Bedeutung nur Ihresgleichen bekannt ist), wenn das höfische Zeremoniell Bewegungen und Verhaltensweisen vorschreibt (mit denen der gemeine Bürger rettungslos scheitert) oder wenn Großverleger Gala-Veranstaltungen bezahlen, bei denen sie sich durch Preisverleihungen Bewertungskompetenz zuschreiben, dann werden spielerische Momente zu sozialen Distinktionszwecken eingesetzt. Die Beifallsstürme am Ende des Konzerts zählen hierher, die sich mit jedem Hervortreten des Künstlers verstärken und in denen das Publikum sich an sich selbst berauscht, und überhaupt der ganze Kreis der kommunikativen Akte, mit denen man sich selbst zu den Guten und eine andere Menschengruppe zu den Schlechten zählt (ohne dass das irgendeine aktuelle Bedeutung hätte), nur um einen Werte-Konsens aufrecht zu erhalten. Und auch das, was als kritisches Element des Spiels gelten mag, basiert auf solchem Konsens und der Lust, ihn wahrzunehmen. Es setzt an beim Witze und der scherzhaften Rede, die gerade mit ihrem subversiven Element auf die Befestigung oder Bestätigung des Konsens der Besserwissenden zielt, und dehnt sich aus zum Konsens der Opposition, also derer, die sich als moralisch besser, klüger, weitsichtiger verstehen, bis hin zum Konsens der Zyniker, die den ganzen Zwischenwelt-Zirkus durchschaut haben. Und selbst wo ein großer Einzelner das Spiel betreibt, versichert er sich wenigstens der Zustimmung eines anonymen Kollektivs oder des Weltgeistes. 5. Zweieinhalb Jahrtausende lang wurde Kunst immer wieder mit Harmonie, Ebenmaß, Wohlklang usw. zusammengebracht. Irgendwie sollte sie Abbild oder Ausfluss der kosmischen Ordnung sein. Man kann diese Vorstellung naturalisieren, indem man an die Stelle der kosmischen Ordnung den Selektionsdruck der Umwelt im Zuge der Hominisierung setzt und an die Stelle der Harmonie die Bestätigung der so geschaffenen apriorischen Kategorien der Weltkonstruktion durch Erfahrung. Man muss freilich hinzufügen: Es gibt auch immer wieder Erfahrungen, die sich diesem Apparat nicht fügen wollen. Da liegt es nahe, einen ästhetischen Neben-Kosmos zu schaffen, dem sich diese Bestätigungen eher abgewinnen lassen. Keine der uns bekannten Kulturen kommt ohne Ornament aus, oder ohne das, was wir aus unserer kulturellen Perspektive als Ornament bezeichnen würden. Die gegenwärtige Welt ist vollgepfropft mit Unterhaltung und Design. Auch große Teile unserer religiösen Systeme sind vermutlich solche ästhetische Konstruktionen, Aggregate spielerisch kombinierter Adaptationen. Sie stil-

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len unseren Hunger nach sozusagen empirischer Affirmation unserer Adap­ tationen, weil wir sie und die Welt auf diese Weise als ‚richtig‘ erfahren. Aber ich will zur Verdeutlichung ein bescheideneres Beispiel anführen, das zeigen kann, wie die ästhetische Konstruktion die Harmonie mit den Adaptationen auch gegen die Realität durchsetzt, nämlich die Welt der Kriminalromane und -filme. Sie benutzen zur Weckung unserer Aufmerksamkeit das Plotmuster, dass ein Geheimnis von hoher Relevanz aufgedeckt wird. Ein solches Geheimnis ist seit alten Zeiten der überraschende Tod eines Familien- oder Stammesgenossen.26 Aber außer dem Relevanzschock braucht das Plotmuster auch die Auflösung, damit die Geschichte als ‚Gestalt‘ abgeschlossen ist, und diese Auflösung besteht in der Regel darin, dass die Ursache gefunden, d.h. der Täter überführt wird. (Manchmal geschieht das nicht, und dann grollen wir dem Autor wie einem Spielverderber.) Und oft wird dann auch noch betont, dass Verbrechen sich nicht lohnt und dass es den perfekten Mord nicht gibt. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Nicht nur deshalb, weil es selbst in Großstädten nicht so viele Morde gibt wie im Fernsehen. Sondern vor allem deshalb, weil die Kriminalisten in der Wirklichkeit keineswegs so erfolgreich sind wie im Roman oder im Fernsehen. Fachleute schätzen, dass in Deutschland jährlich etwa 1200-2400 Morde oder Totschläge unaufgeklärt bleiben – lauter perfekte Morde.27 Gerade deshalb aber braucht der Krimi den Gestaltabschluss der Aufklärung, weil anders unsere Weltdeutungsmuster nicht befriedigt würden. Es gibt in der Natur keine gerade Linie, keinen Kreis und keine vollkommene Symmetrie. Es handelt sich dabei vielmehr um geometrische Messinstrumente unserer kognitiven Ausstattung, die wir an die Welt anlegen, um sie aufgrund der Abweichungen messen zu können. Wenn wir sie im Design eines Teppichs oder in einem Schlossbau oder auch näherungsweise in der Natur wiedererkennen, kann uns ihr Passen mit Funktionslust erfüllen. Nicht viel anders ist es um die Gerechtigkeit bestellt, die uns als Maßnorm angeboren ist, mag sie auch in der Wirklichkeit nirgends rein auffindbar sein. Wenigstens als poetische Gerechtigkeit kann sie erfüllt werden. Es geht dann nicht darum, ob das entsprechende Weltbild ‚richtig‘ ist, sondern dass es als richtig empfunden wird, d.h. unseren apriorischen Erwartungen entspricht. Insofern ist nicht nur jeder Krimi eine kleine, erschwindelte Theodizee, sondern alle Lust, die aus dem freien, erfolgreichen Spiel unserer Adaptationen entsteht, sagt uns, dass wir uns mit der Welt im Einklang befinden. Aus welchem Grund auch immer.

26 Vgl. Schwender: Medien und Emotionen, S. 230 f. 27 So jedenfalls Otto: Lexikon der ungesühnten Morde.

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Gerhard Lauer

Das Spiel der Einbildungskraft Zur kognitiven Modellierung von Nachahmung, Spiel und Fiktion Philologie ist ihrer Tradition nach Hermeneutik, und das auch noch in ihren kulturphilosophischen Zuspitzungen poststrukturalistischer Theorien. Die hermeneutischen Konzepte und Verfahren sind erfolgreich, und das, obgleich sie mit ungenauen Begriffen operieren. Sie weisen ihre impliziten Annahmen über Lese- und Verstehensprozesse nicht aus und unterziehen sie auch keiner empirischen Überprüfung. Systematische Verfahren zur Überprüfung der Interpretationshypothesen fehlen. Das ist wissenschaftssystematisch vielleicht unbefriedigend. Dennoch gelingt der Umgang mit Texten, und das wohl einfach deshalb, weil in die hermeneutische Praxis des Textumgangs ein hohes Maß an implizitem Wissen darüber eingeht, warum Texte von Autoren so verfasst sind, dass sie ihren Lesern viel sagen können. Das gilt in dieser Allgemeinheit selbst noch für hochliterarische Textexperimente der Avantgarden. Ästhetische Erfahrungen können von hermeneutischen Umgangsweisen offensichtlich angemessen aufgegriffen werden, singuläre Textphänomene sind ebenso beschreibbar wie generische – in der Summe eine Erfolgsgeschichte. Ungeachtet dieses Erfolgs sind die Ansätze der Cognitive Poetics mit dem Anspruch angetreten, nicht nur systematische Defizite der Philologie auszugleichen, sondern mehr noch hermeneutische Konzepte und Verfahren im weitesten Sinne durch kognitionswissenschaftliche zu ergänzen, wenn nicht gar zu ersetzen. Der hochgesteckte Anspruch der Cognitive Poetics ist so vermutlich nicht einzulösen, denn er unterschätzt das in hermeneutischen Konzepten und Verfahren eingegangene Wissen über den Umgang mit Texten und die sie tragende Kultur, wie es durch subjektive Introspektion gewonnen ist. Mein Beitrag argumentiert, dass kognitive Zugänge hermeneutische Konzepte nicht ersetzen, sie aber präzisieren helfen. Das hat dann freilich Konsequenzen für die Arbeit der Philologie. Wie in der kognitiven Linguistik wird auch eine kognitive Literaturwissenschaft bestimmte Annahmen und Konzepte als plausibler, andere als weniger plausibel beurteilen müssen. Erkenntnisse der Humanwissenschaften gewinnen Einfluss auf die Literaturwissenschaft und können von dieser nicht ignoriert werden. Experimentelle Zugänge rücken in den Horizont des Möglichen,

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sogar des für die Grundlagenforschung Notwendigen. Kognitive Literaturwissenschaft ist daher ein Verwissenschaftlichungsschub und wird die literaturwissenschaftlichen Disziplinen in Richtung einer Humanwissenschaft verändern. Dabei stehen wir bestenfalls an einem Anfang. 1938 veröffentlichten die Verhaltensforscher und Neuroanatomen Heinrich Klüver und Paul Bucy ihre irritierenden Forschungsergebnisse zu den Folgen einer bilateralen Temporallappen- und Amygdala-Läsion. Ihre anatomischen Versuche an Rhesusaffen zeigen, dass sich mit der Entfernung dieser Hirnteile das Verhalten der Affen fundamental zu ändern beginnt. Nicht nur tritt ein übersteigerter, ungehemmter Sexualtrieb hervor. Vor allem fehlt den Tieren jede emotionale Empathie und praktisch jeder emotionale Ausdruck. Sie hören auf zu spielen. Diese später als Klüver-Bucy-Syndrom bezeichnete psychische Störung führt zu einem Verlust von Angstempfinden und zur sogenannten oralen Tendenz, d.h., der Betroffene erkennt Gegenstände nicht visuell, sondern durch Erkundung mit dem Mund. Die Versuche Klüvers und Bucys gehören zu den heute klassischen Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen Neuro­ anatomie und Verhalten, genauer noch über den Zusammenhang von Verstehen und Empathie, die lange Zeit ohne größere Beachtung geblieben sind. Dieser Forschung folgend gibt es angebbare neuronale Bedingungen, warum wir in der Lage sind, uns in Andere hineinzuversetzen, um deren Wahrnehmungen, Wünsche und Absichten zu verstehen. Heute wird diese Forschung auch unter Namen wie ‚Theory of Mind‘, ‚Theory Theory‘ oder ‚Simulation Theory‘ zusammengefasst, die bei allen Unterschieden im Detail plausibel zu machen versucht, dass der Mensch von Anfang an ein zugleich intentional und sozial handelndes und verstehendes Wesen sei. Das mag auf den ersten Blick nicht erstaunen, war aber bis in die 1980er Jahre hinein weder in der Psychologie so akzeptiert, noch ist es selbst gegenwärtig mit einer nicht geringen Zahl literaturwissenschaftlicher Theorien kompatibel, die im Gegenteil behaupten, mindestens für die Literatur gelte, dass dort kommunikative Intentionen keine Rolle für den angemessenen Umgang mit literarischen Texten spielen. Selbst Erklärungsmodelle, die auf eine stärkere Rolle soziokulturell vermittelter Narrative vom Tischgespräch bis zur Eltern-Kind-Alltagserzählung für die Herausbildung von sozialen Identitäten setzen, teilen die Auffassung von der neuronal basierten Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt als sozial relevant und als intentional    

Klüver/Bucy: An analysis of certain effects. Carruthers/Smith: Theories of theories of mind; Förstl: Theory of Mind; Keysers/Gazzola: Integrating simulation and theory of mind. Jannidis: Zur kommunikativen Intention. Fivush/Haden: Autobiographical memory and the construction of a narrative self; Hutto: Folk psychological narratives; Lucariello u.a.: The development of mediated mind.

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wechselseitig aufeinander ausgerichtet aufzufassen. Was heißt das alles für die Literaturwissenschaft? Was könnte das Fach genauer als bisher untersuchen, wenn es zur Bestimmung so fundamentaler Begriffe wie Nachahmung oder Einbildungskraft, Spiel und Fiktion die eigene Forschungsarbeit nicht abseits der neuro- und kognitionswissenschaftlichen Forschung halten würde? Die Fähigkeit des Menschen – und die Humanwissenschaften setzen gleich hinzu: nicht nur des Menschen – andere nachzuahmen, ob auf der Bühne oder beim Weinen um das Schicksal der Anna Karenina, ob beim Zuschauen, wie auf der Leinwand die Titanic und mit ihr die Liebenden versinken, sie steht in einem Kontinuum einer sehr viel fundamentaleren Fähigkeit des Menschen zur Nachahmung. Dabei ist zu unterscheiden: Auch Tiere können nachahmen, etwa Handlungen. Das ist Mimikry des Verhaltens eines Artgenossen. Dem Menschen nahe verwandte Primaten können darüber hinaus auch das Ziel einer Handlung nachahmen und derart modifizieren, dass das nachgeahmte Ziel erreicht wird – eine Emul­sion des Verhaltens anderer. Der Mensch aber verfügt über die besondere Fähigkeit, nicht nur eine Handlung nachzuahmen und nicht nur das Ziel, sondern mit beidem auch die damit verbundene Intention des anderen nachzuahmen. Und darüber hinaus scheint nur der Mensch über die Fähigkeit zu verfügen, den Wissensstand seiner Artgenossen verändern zu wollen. Selbst höhere Primaten können sich wahrscheinlich so etwas Unsichtbares wie den Bewusstseinszustand ihrer Artgenossen nicht als solchen vorstellen oder ihn nicht mit der Absicht verbinden, diesen verändern zu wollen. Bis auf den Menschen spielen daher auch höhere Primaten keine Rollenspiele und keine Regelspiele, denn Rollen- und Regelspiele setzen ein wechsel­seitiges Wissen um den mentalen Zustand des anderen voraus, das den nicht-menschlichen Primaten gerade fehlt. Eine solche im engeren Sinne Mimesis genannte soziale Nachahmungs-Fähigkeit ist zugleich angeboren wie kulturell geformt. Schon Neugeborene ahmen den Gesichtsausdruck ihrer Mutter nach. Das hat man lange für unmöglich gehalten, weil Säuglinge als sozial weltlose Monaden aufgefasst worden sind. Tatsächlich scheint aber schon der Säugling von Geburt an über die Fähigkeit zu verfügen, aus seiner Umwelt sozial Wesentliches wie den Gesichtsausdruck der Mutter als nachahmenswert identifizieren zu können und darüber hinaus auch noch eine wie auch immer unbewusste Vorstellung davon zu haben, wie das wahrgenommene Gesicht mit seinem eigenen Körperausdruck zusammenhängt. Er muss empathiefähig in einem vorbewussten Sinne sein. Das Kind versteht da  

Tomasello/Savage-Rumbaugh/Kruger: Cultural learning. Penn/Holyoak/Povinelli: Darwin’s mistake; Fischer: Transmission of Acquired Information in Nonhuman Primates. Meltzoff/Moore: Explaining facial imitation.

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her noch nicht die Intention. Zunächst lernt es erst die Zielrichtung von Handlungen anderer zu identifizieren und erreicht mit etwa 15 Monaten ein erstes Verständnis der Intentionen anderer. Mit 18 Monaten kann es Absichten anderer auch dann erkennen, wenn die Versuche, das Handlungsziel zu erreichen, fehlschlagen. Dazu braucht es nicht Sprache. Aber es lernt, mit Sprache Intentionen mit anderen Intentionen zusammenzuführen und Bereiche gemeinsamer Aufmerksamkeit herzustellen. In diesem Alter setzen dann erste Formen des Rollen- und Regelspiels ein. Es kann dann auch Rollen wechseln, die Handlungen des anderen übernehmen, weil ihm die Bedeutung dieser Handlung bewusst ist. Mit zwei Jahren versteht es, leitende Intentionen von untergeordneten zu unterscheiden und symbolische Intention als solche zu erkennen. Mit drei Jahren kann es die Ziele eines anderen wie die eigenen hierarchisieren. Damit ist die Entwicklung der Nachahmungsfähigkeit weitgehend abgeschlossen. Es gibt inzwischen eine Reihe experimenteller Evidenzen, dass die Nachahmung von Handlungen besser gelingt, wenn die Kinder um die Absicht des Gegenübers Bescheid wissen. Schon Kinder simulieren die Intention anderer mental und organisieren darum die motorische Mimikry wie die Emulsion des Ziels einer Handlung. Mit zwei Jahren vermögen sie Intentionen anderer auch zu teilen und symbolisch zu kommunizieren. Sie können von anderen, etwa Erwachsenen lernen, einen Stock als ein Pferd zu gebrauchen oder eine Zeichnung – mögen es auf den ersten Blick nur wilde Strichfolgen sein – als Bild zu lesen.10 An Autismus erkrankte Kinder können genau das nicht. Sie verstehen weder, was die Strichfolgen bedeuten, noch, wie es sich für einen anderen ‚anfühlt‘, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, noch haben sie eine Vorstellung davon, dass der andere ein ähnliches Bewusstsein und Fühlen hat, wie man selbst. Kein Wunder, dass sie dann auch nicht Rollen- und Regelspiele spielen können. Ihnen fehlt die innerlich geteilte Aufmerksamkeit, ohne die Spiel und Fiktion nicht funktionieren. Gelingt dagegen das Hineinversetzen in den anderen, dann wird diese innere Simulation abgesichert, indem eine gemeinsame Intention und Aufmerksamkeit sozial hergestellt wird. Dazu versuchen schon kleine Kinder durch Blickkontakt und rückversicherndes Lächeln sicher zu stellen, dass beide das Spiel mit der Regel – der Stock ist jetzt ein Pferd – teilen.11 Das deshalb, weil sich über die Intentionen anderer keine abschließende Gewissheit gewinnen lässt. Intentionen anderer werden erschlossen, inferiert, wie die Psychologie sagt. Geteilte, im Spiel des Rollenwechsels gewonnene   10 11

Carpenter/Call/Tomasello: Understanding „prior intentions“. Rakoczy/Tomasello/Striano: Young children know that trying is not pretending. Bloom: Descartes’ Baby, S. 78. Vgl. den Beitrag von Mellmann in diesem Band.

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gemeinsame Intentionen sind daher psychologisch enorm voraussetzungsreich, Nachahmungen der zweiten Ordnung, und zugleich das, was den Menschen von den Tieren unterscheidet. Wir wissen in solchen Spielsituationen, dass wir gemeinsam spielen und den Stock als Steckenpferd gelten lassen wollen. Das braucht Kommunikation und die verblüffende Fähigkeit des Menschen zum ‚Fast mapping‘. Das ist die Befähigung, eine nur einmal gesehene Handlung oder ein nur einmal gehörtes Wort sofort mit Bedeutung verknüpfen und selbstständig weiterentwickeln zu können. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Fähigkeit des Menschen, eine gemeinsame Sprache auszubilden, mit der Fähigkeit zur Herstellung geteilter Intentionen und Aufmerksamkeiten zusammenhängt,12 so dass Sprache nur eine Art der symbolischen Nachahmung ist, der die der Gesten vorausgeht.13 Eine wesentliche neuronale Voraussetzung für diese erstaunliche Fähigkeit zur intentionalen Nachahmung sind sehr wahrscheinlich die erst 1996 entdeckten so genannten ‚Spiegelneuronen‘.14 So werden jene Neuronen genannt, die bei Primaten feuern, gleich ob eine Handlung selbst ausgeführt wird oder diese nur bei einem anderen beobachtet wird.15 Damit verfügen die höheren Primaten und mit ihnen also auch der Mensch über eine angeborene Voraussetzung dafür, das Bewusstsein anderer zu lesen. ‚Mind reading‘, diese Fähigkeit das Handeln anderer in sich selbst zu simulieren, dabei zu wissen, wie es sich anfühlt, eine solche Handlung, wie die bei anderen wahrgenommene, auszuführen und diese mit vermuteten Zielen und einer vermuteten Bedeutung zu versehen, funktioniert nur, weil sich in der Evolution diese Spiegelneuronen herausgebildet haben. Neuere Studien zeigen, dass dieselben neuronalen Gruppen eine erhöhte Aktivität zeigen, gleich ob eine Handlung nur gehört wird (etwa das Öffnen eines Reißverschlusses) oder nur gesehen wird.16 Sie zeigen auch, dass die Beobachtung einer fremden Handlung die Wahrnehmung der eigenen Handlung zu unterdrücken scheint, ohne dass wir deshalb verwirrt werden, was unsere eigenen Handlungen und die des anderen sind. Blendet man in einem Experiment die optische Wahrnehmung der eigenen Handlung ab und blendet stattdessen die gleiche Handlung, ausgeführt durch einen Experimentator, ein, kann dennoch unterschieden werden, welches unsere eigene Handlung ist und was die des Anderen.17 Wir scheinen sehr genau zwischen eigenem und fremdem Handeln trennen zu können und doch das Handeln der anderen zugleich innerlich simulieren zu können. Anders gesagt scheint das 12 13 14 15 16

Tomasello/Carpenter: A new look at infant pointing. Pollick/de Waal: Ape gestures and language evolution. Gallese u.a.: Action recognition in the premotor cortex. Rizzolatti u.a.: From Mirror neurons to imitation. Gazzola/Aziz-Zadeh/Keysers: Empathy and the somatotopic auditory mirror system in humans. 17 Schütz-Bosbach u.a.: Self and other in the human motor system.

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motorische System eine wichtige Rolle für die soziale Kognition zu haben. Wir sind – möglicherweise – intrinsisch sozial auf Nachahmung angelegt. Diese hier sehr gerafft zusammengetragenen Ergebnisse neuerer kognitiver Forschungen18 legen mehrere Schlussfolgerungen nahe. Zunächst ist die schon von Aristoteles der Poesie als Grundprinzip unterlegte Imitation sehr wahrscheinlich ein fundamentaler Vorgang aller menschlichen Welterschließung und also auch für die Literatur von Geltung. Auch wenn die Nachahmung keine exklusive Eigenheit der Literatur ist, ist sie doch in dem hier umrissenen Sinn der Grund dafür, warum Literatur funktioniert. Sehen wir auf der Bühne einen Helden leiden, wissen wir, wie sich das ‚anfühlt‘; wir können die Absichten von Bösewichtern in einem Film erschließen; wir haben, wie schon Aristoteles sagt, Freude an der Nachahmung, auch dann, wenn wir Abscheu über bestimmte Handlungen empfinden. Was wir als Leser oder Zuschauer tun, ist die Nachahmung der Bedeutung von Handlungen. Der Leser oder Zuschauer simuliert innerlich, wie sich eine Handlung motorisch ‚anfühlt‘. Zudem weiß er auch, dass der andere die Handlungen im Wissen um diese Nachahmungsfähigkeit des Lesers oder Zuschauers vorgemacht hat. Autor und Leser, Schauspieler und Zuschauer wissen wechselseitig von der Nachahmungsfähigkeit des jeweils anderen. Erst in diesem gegenseitigen Spiegeln haben Handlungen wechselseitig eine Bedeutung. Um diese ‚gefühlten‘ sozialen Bedeutungen geht es in Spiel und Literatur. An Autismus erkrankte Menschen können sich gerade nicht vorstellen, warum der Held hier nun gerade so leidet, wie er dargestellt ist oder auf der Bühne agiert. Ab dem Einschulungsalter können wir dabei auch zusehen, ohne etwa in ein Theaterstück eingreifen zu wollen. Das körperlich agierende Spiel kann ab diesem Alter ganz nach innen verlagert werden. Das mentale Spiel löst das körperliche ab. Das aber in dem Sinne, dass der Kopf den motorischen Nachvollzug spiegelt, so als würde der Körper immer noch agieren. Wenn man so will, spielt der Körper im Kopf. Diese Fähigkeit zum inneren Spiel können wir im wechselseitigen Wissen um unsere Nachahmungsfähigkeit kultivieren. Literatur ist eine solche Kultivierung des wechselseitigen Wissens um die spiegelnde Fähigkeit zur Nachahmung. Wir haben gelernt, dass Literatur Nahrung für unseren Nachahmungsinstinkt ist, hergestellt im Wissen um die Fähigkeit zur inneren Nachahmung bei den Zuschauern oder Lesern, eine Einladung zum Mind reading.19 Bevor wir uns der Bedeutung eines Ausdrucks, auch etwa nur eines einzelnen Wortes bewusst sind, haben die für die emotionale Informationsverarbeitung wichtigen Teile des Gehirns (die Mandelkerne im Wechselspiel mit dem Hippocampus) eine positive oder negative affektive 18 Hurley/Chater: Perspectives on imitation. 19 Lauer: Spiegelneuronen.

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Färbung markiert.20 Die Nachahmung ist selten neutral, wird vielmehr zu Mustern der Bewertung zusammengefasst und zu mentalen Skripts geordnet. Der Ausdruck von Gesichtern ist ein besonders eindrückliches Beispiel für dieses nachahmende Lesen. Zeigt man Probanden Bildern mit starken Emotionen in dem Gesichtsausdruck, etwa solche, die Abscheu ausdrücken, dann werden dieselben Zellgruppen der vorderen Insula aktiviert, die auch reagieren, wenn Abscheu selbst gefühlt wird.21 Dieser EmpathieMechanismus, die Fähigkeit, dieselben Gefühle wie ein anderer zu fühlen, macht sich fast jede Erzählung zu nutze. Wir erzählen uns Geschichten, in denen Artgenossen vorkommen, mögen sie auch als Fabeltiere auftreten. Dabei werden nicht so sehr deren äußere Merkmale beschrieben, sondern Handlungen, die die Figur charakterisieren, und auch das nicht abstrakt, sondern mit Empathie als dem Schlüssel zum Verstehen der Figuren.22 Literatur ist damit nur ein besonders gut die Sprache zur Simulation nutzender Ausschnitt aus den vielfältigen nachahmenden Verhaltensweisen des Menschen. Es spricht einiges dafür, dass die Literatur nur eine Variante des Spiels ist, gemeinsame ‚gefühlte‘ Aufmerksamkeit herzustellen. Das schließt dann auch ein, dass jede Literatur nie ganz unwirklich sein kann. Vielmehr lesen bzw. nehmen wir eine uns etwa erzählte Wirklichkeit nach dem Prinzip der minimalen Abweichung wahr. Wir simulieren eine Handlung in uns entlang der uns vertrauten Wirklichkeit so lange, bis wir gegenläufige Informationen erhalten.23 Wir nehmen etwa an, dass eine Figur nicht zwei sich ausschließende Gefühle zugleich haben kann, können aber durch den Text sehr wohl belehrt werden, dass die Figur an dieser Stelle gerade ‚vermischte Gefühle‘ von Liebe und Hass zugleich empfindet. Das Spiel der Einbildungskraft funktioniert freilich nur dann, wenn gemeinsame Aufmerksamkeiten und Intentionen hergestellt werden, etwa dass dieser Stock ab sofort eigentlich ein Pferd meint. Diese Art eines Vertrags, das so genannte ‚make believe‘,24 meint kognitionswissenschaftlich dann die gemeinsam über Nachahmung hergestellte Intention und Aufmerksamkeit, bestimmte Handlungen symbolisch zu verstehen, den Stock nicht als Stock, sondern als Pferd aufzufassen. Fiktion ist keine Eigenart der Literatur allein, sondern steht wie Literatur insgesamt im Feld der Nachahmung und kann von dort aus als gemeinsame Spiegelung der Intentionen des jeweils anderen erklärt werden. Nachahmung meint, im Unterschied zu Mimikry, Emulsion und Imitation, in ein Wechselspiel der Intentionen einzutreten, in 20 21 22 23 24

Kuchinke u.a.: Modulation of prefrontal cortex activation. Wicker u.a.: Both of us disgusted in my insula. Jannidis: Figur und Person. Ryan: Fiction Non-Factuals, and the Principal of Minimal Departure. Zipfel: Fiktion als literaturtheoretische Kategorie.

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dem es nicht nur darauf ankommt, Absichten und Gefühle anderer in sich zu simulieren, sondern mehr noch zu wissen, nach welchen sozialen Regeln diese Nachahmung erfolgen soll. Die Nachahmung muss eine sozial geteilte sein, damit sie funktioniert. Es genügt nicht ein guter Imitator zu sein, sondern es kommt darauf an, gemeinsam geteilte Intentionen, „a deep-sensed commitment to the web of social reciprocity“25 aufzubauen, in dem Nachahmungen erst bedeutsam werden.26 Jedes Spiel ist eine tief empfundene, wechselseitige Bindung. Intentionen zu lesen und nachzuahmen setzt die soziale Herstellung von gemeinsamer Intention und Aufmerksamkeit voraus, gleich ob es sich um ein Steckpferd oder das Leiden der Anna Karenina handelt. Wir nennen es auch Fiktion und lehnen gefälschte Kunst nicht zuletzt auch deshalb ab, weil sie uns über die geteilten Intentionen täuscht. Gefälschte Kunst ist wie eine nicht richtige übernommene Rolle im Spiel. Das alles können wir schon mit etwa drei Jahren. Ab diesem Alter wissen Kinder um den Unterschied, dass Superman keine reale Person darstellt, Bären dagegen sehr wohl existieren, auch wenn sie in der realen Welt der Kinder gar nicht direkt vorkommen. Noch genauer bilden sie schon Ontologien der erfundenen Welten. Sie wissen, dass die kleine Hexe nicht in die Welt von Batman gehört und verwechseln das auch nicht.27 Ontologien aber sind die Voraussetzungen für die Aufrichtigkeit im Spiel, ohne die es nicht funktionieren würde. Man muss kaum hinzufügen, dass gerade Nachahmung zugleich angeboren wie auch kulturell geprägt ist, eben weil sie im Lauf der Entwicklung zu einer sozialen Nachahmung wird. Evidenzen dafür finden sich schon bei der Beobachtung von Kulturtieren, etwa Hunden, die anders als Tiere in freier Wildbahn in der Lage sind, ein ‚Fast mapping‘ zu erbringen, das es ihnen erlaubt, eine nur einmal gesehene Handlung dem Ziel entsprechend nachzuahmen28 und sei es nur selektiv.29 Nicht nur angeborene Aufmerksamkeiten lenken uns, um zu entscheiden, was wir aus einer Handlung als nachahmungswert erachten, was der gemeinsamen Aufmerksamkeit lohnt, sondern auch kulturelle. Säuglinge können bis zum Lebensalter von ca. einem halben Jahr Affengesichter ebenso gut unterscheiden wie Gesichter von Menschen. Dann verlieren sie diese Fähigkeit. Ohne Übung tun wir uns schwer, Gesichter von Menschen anderer Kulturkreise ebenso sicher und schnell zu unterscheiden wie Gesichter aus dem uns vertrauten Kulturkreis. In einem Roman aus dem mittelalterlichen Japan können Europäer nur selten aus den Farben der Vorhänge einer Sänfte, in der der Held sitzt, 25 26 27 28 29

Bruner: Toward a Theory of Instruction, S. 115. Tomasello/Carpenter: Intention Reading and Imitative Learning. Harris: The work of the Imagination. Kaminski/Call/Fischer: Word learning in a domestic dog. Range/Viranyi/Huber: Selective Imitation in Domestic Dogs.

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auf dessen Gemütszustand schließen. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren. Alle diese Befunde, Einsichten und Modellierungen sagen noch wenig über die Literatur und den näheren Umgang mit ihr aus, sondern scheinen zunächst nur das implizite Wissen der Hermeneutik vielfach zu bestätigen. Für die Einzelinterpretationen gewinnt man noch gar nichts. Wem nutzt das dann, den Blick über die Mauer in andere Gärten zu werfen? Zunächst einmal plausibilisiert diese Modellierung der Einbildungskraft intentionalistische Verstehensmodelle. Die stehen im Widerspruch zu einer Menge derzeit kurrenter antiintentionalistischer Theorien der Literaturwissenschaft. Die müssten, wenn sie sich gegen diese Modelle und Befunde nicht immunisieren – was sie zumeist tun –, Argumente dafür finden, warum ihre theoretische Modellierung überzeugend sein soll. Aber nur ein kognitionswissenschaftliches Rasiermesser zu sein, das Konzepte auch der Literaturwissenschaft beurteilt, ist wenig. Entscheidender scheint mir ein ganz anderer Punkt zu sein: die Einladung zum Experiment. Wir wissen viel zu wenig darüber, wie die neuronalen und kognitiven Prozesse Aufmerksamkeit lenken, welche Handlungen und Geschichten, Worte und Gesten es sind, die vielleicht unsere Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen als andere und welches intuitive Wissen um unsere Nachahmungsfähigkeit Spielen in Rollen und Regeln, das Erfinden von Geschichten und das Schreiben von Literatur anleiten.30 Der Gang der Literaturwissenschaftler wird nicht mehr nur einer in die Bibliotheken, er wird auch einer in die Labore sein.

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30 Hsu: The secrets of storytelling.

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Fiktion, Praxis, Spiel Was leistet der Spielbegriff bei der Klärung des Fiktionalitätsbegriffs? Der Begriff des Spiels spielt in der philosophischen Ästhetik spätestens seit dem Deutschen Idealismus eine Rolle. In jüngerer Zeit ist verstärkt versucht worden, Aspekte der Kunst unter Rückgriff auf den Begriff des Spiels zu erklären. Der Auffassung, dass solche Erklärungen möglich sind, liegt zumeist die These einer partiellen strukturellen Analogie von Kunst einerseits und Spielen andererseits zugrunde: „[G]ames and play are intriguingly and closely related to art and ritual, and an analysis of games can throw considerable light on both of the latter.“ Ich möchte in diesem Beitrag untersuchen, inwiefern der Vergleich mit Spielen aufschlussreich ist, wenn es darum geht, den Begriff der Fiktionalität zu erklären. Die Idee ist, dass wir alle recht gut wissen, was es mit Spielen auf sich hat, und dass uns dieses Wissen dabei helfen kann, den Begriff der Fiktionalität besser zu verstehen. Ich gehe vor wie folgt: Im ersten Teil des Beitrags versuche ich zu zeigen, welche Rolle das Konzept der ‚regelgeleiteten sozialen Aktivität‘, das für viele Spiele zentral ist, in einer Erläuterung des Fiktionalitätsbegriffs spielen kann, und ich stelle eine darauf aufbauende Definition vor. Diese Definition des Fiktionalitätsbegriffs beruht im Wesentlichen auf einschlägigen Arbeiten von Kendall L. Walton, John Searle sowie Peter Lamarque und Stein H. Olsen. Im zweiten Teil weise ich auf Vorzüge dieser Definition sowie der Spiel-Analogie hin.   



Vgl. als Übersicht: Corbineau-Hoffmann: Spiel. Rowe: The Definition of ,Game‘, S. 467. Vgl. für diesen Ansatz insbesondere Walton: Mimesis, Kap. 1 u.ö. (vgl. u.a. die Einträge zu „Games of make-believe“ im Register, ebd., S. 444). Gegen Walton ist eingewandt worden, „that notions of play and make-believe simply seem too vague, too thin, or too amorphous to explain an activity as specific and robust as that involved in the fictional transaction. If anything, it seems that the order of explanation should run the other way, with play explained as an elementary form of fiction-making.“ (Gorman: Theories of Fiction, S. 165) Was Gorman hier zur Erklärungsrichtung („order of explanation“) sagt, scheint mir genau falsch zu sein: Der Begriff des Spiels ist gemeinsprachlich gut verankert und wird von den meisten Personen verstanden; ‚Fiktionalität‘ ist dagegen ein fachsprachlicher Term, über dessen Verwendungsbedingungen erhebliche Uneinigkeit besteht. Vor diesem Hintergrund wäre es sehr merkwürdig, wenn Gorman mit seiner These zur Erklärungsrichtung Recht hätte. Vgl. Searle: The Logical Status; Walton: Mimesis; Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, insbes. Kap. 2.

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I Die Ausdrücke ‚Fiktion‘, ‚fiktional‘, ‚fiktiv‘ und ‚Fiktionalität‘ werden in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht und können entsprechend Unterschiedliches bedeuten. Mir geht es hier ausschließlich darum, den Fiktionalitätsbegriff zu erläutern, der in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft und Kunstphilosophie eine wichtige Rolle spielt und auf literarische Werke angewendet werden kann. Weiterhin übernehme ich eine gängige terminologische Unterscheidung hinsichtlich des Anwendungsbereichs der literaturwissenschaftlichen Termini ‚fiktional‘ (‚Fiktionalität‘) und ‚fiktiv‘ (‚Fiktivität‘): ‚Fiktional‘ dient demnach zur Charakterisierung mehr oder minder umfangreicher sprachbezogener Einheiten (Äußerungen, Texte, Ausdrücke usw.), ‚fiktiv‘ dagegen zur Charakterisierung dessen, wovon sprachliche Einheiten handeln, bzw. dessen, was sie zum Ausdruck bringen. Thomas Manns Der Zauberberg ist demnach ein fiktionaler Roman, und Hans Castorp, der Protagonist, ist eine fiktive Person. Auf der Basis dieser terminologischen Festlegungen kann ich mich nunmehr einer Erläuterung des Fiktionalitätsbegriffs zuwenden. Ich gehe davon aus, dass es ein tertium comparationis zwischen (vielen) Spielen und literarischer Fiktionalität gibt: Ein zentrales Element beider wird durch den Begriff der ‚regelgeleiteten sozialen Aktivität‘ beschrieben. In welchem Sinne Regeln und deren sozialer Charakter für literarische Fiktionalität zentral sind, wird im Folgenden zu klären sein. Vorab ist wichtig: Zwischen Spielen und literarischer Fiktionalität lassen sich (über das genannte tertium comparationis) Analogiebeziehungen herstellen. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich anhand einer partiellen Merkmalsgleichheit beider Begriffe weitere Übereinstimmungen entdecken lassen. Was regelgeleitete soziale Aktivitäten sind, können wir besonders gut studieren, wenn wir uns Spiele vergegenwärtigen; und die Ergebnisse dieser Überlegungen können wir bei der Explikation des Fiktionalitätsbegriffs verwenden. Nicht viel   

Vgl. Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, S. 15 f., 175-191 u.ö.; Zipfel: Fiktion, S. 13-19. „Arguing by analogy is arguing that since things are alike in some respects, they will probably be alike in others.“ (Blackburn: Dictionary, S. 14) Für einige Probleme von Analogieschlüssen vgl. Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Kap. 2. Ich stütze mich dabei auf Ausführungen aus Köppe, Literatur und Erkenntnis, Kap. 2. An dieser Stelle mag es sinnvoll sein, einem möglichen Missverständnis zu begegnen, das die empirische Basis meiner Annahmen über Spiele angeht. Es geht mir nicht darum zu klären, in welchen Formen Spiele auftreten, wann, wo und wie gespielt wird, wer spielt usw. – Ich nehme schlicht an, dass viele Spiele regelgeleitete soziale Aktivitäten sind und hoffe, dass diese Annahme ein ‚heuristisches Potenzial‘ besitzt. Ein solches heuristisches Potenzial lässt sich für Explikationszwecke auch dann nutzen, wenn keine empirische Basis vorliegt oder die empirische Basis schwach ist, da sie auf geteiltem Allgemeinwissen (‚Intuitionen‘) über Spiele beruht. Begriffsexplikationen sind, ganz allgemein gesprochen, keine empiri-

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ist dagegen gewonnen, wenn man fiktionale literarische Texte pauschal zu Spielen erklärt; denn erstens ist die bloße Bezeichnung von etwas als etwas noch keine Erklärung, und zweitens steht zu vermuten, dass auf diese Weise offensichtliche Unterschiede zwischen Spielen und fiktionalen literarischen Texten verdeckt werden. Die Feststellung einer Analogiebeziehung ist deshalb etwas anderes als eine Prädikation (also ein Urteil der Form ‚Literarische Texte sind Spiele‘). Der Spiel-Analogie entsprechend gehe ich davon aus, dass eine Erläuterung des Fiktionalitätsbegriffs bei den regelgeleiteten Verhaltensweisen beginnen muss, die die Produktion von und den Umgang mit fiktionaler Literatur ausmachen. Entsprechende Verhaltensweisen gibt es auf Seiten der Autoren und Leser. Wenn man sich verständlich machen will, was es mit der Fiktionalitätsdimension literarischer Werke auf sich hat, so muss man vor allem klären, unter welchen Bedingungen diese Werke produziert und rezipiert werden. Die Kernidee eines solchen Ansatzes lautet: Fiktionale literarische Werke gibt es nur, insofern es eine soziale Praxis (oder Institution) gibt, innerhalb derer die Produktion und Rezeption solcher Werke geregelt ist. Die Elemente einer Bestimmung von ‚Fiktionalität‘, die auf diesen Begriffen aufbaut, lassen sich in folgender Formel zusammenziehen: Ein fiktionales literarisches Werk ist das Ergebnis sprachlicher Handlungen(i), denen die kategoriale Intention(ii) zugrunde liegt(iii), dass das Werk gemäß den Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution(iv) rezipiert werden soll. Dies ist noch nicht viel mehr als das Format (der grobe Umriss) einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs. Die Indizes der einzelnen Elemente der Bestimmung verweisen auf Punkte, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. (i) Fiktionale literarische Werke sind das Ergebnis sprachlicher Handlungen. Es handelt sich um eine Bestimmung, von der ich annehme, dass sie sich wohl kaum ernstlich in Zweifel ziehen lässt. Den hier einschlägigen Typ sprachlichen Handelns nenne ich ‚fiktionale Äußerung‘. (ii) Für sprachliche Handlungen (wie für andere Handlungen auch) ist konstitutiv, dass sie mit bestimmten Absichten vorgenommen werden. Der Schritt von der Annahme, dass Äußerungen Handlungen sind, zu der Annahme, dass Äußerungen Absichten zugrunde liegen, liegt nahe: Handeln ist ab-



schen Feststellungen, sondern Vorschläge zur Bestimmung von Begriffen. Sie zielen darauf verständlich zu machen, wie ein etablierter, aber unscharfer und in seinen Konturen nicht gut verstandener Begriff in vernünftiger Weise verwendet werden sollte (vgl. grundlegend Pawłowski: Begriffsbildung, Kap. V). Die Einsicht, dass Äußerungen Formen des Handeln sind, ist insbesondere der Sprechakttheorie zu verdanken (vgl. etwa Searle: Speech Acts); zum Handlungscharakter fiktionaler Äußerungen vgl. die Diskussion in Zipfel: Fiktion, Kap. 2.1.

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sichtsvolles Tätigsein, und viele Handlungen werden durch die ihnen zugrunde liegenden Absichten identifiziert. Für den vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, dass man in Bezug auf sprachliche Handlungen unterschiedliche Typen von Absichten unterscheiden kann. Der hier einschlägige Typ der ‚kategorialen Intention‘ („categorial intention“) wird von Jerrold Levinson folgendermaßen eingeführt (und von ‚semantischen Intentionen‘ abgegrenzt): An author’s intention to mean something by a text T (a semantic intention) is one thing, whereas an author’s intention that T be classified or taken in some specific or general way (a categorial intention) is quite another. Categorial intentions involve the maker’s framing and positioning of his product vis-à-vis his projected audience; they involve the maker’s conception of what he has produced and what it is for, on a rather basic level; they govern not what a work is to mean but how it is to be fundamentally conceived or approached.10

Mit der Absicht, ein Text solle einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden, geht die Wahl bestimmter normativer Annahmen einher, die die Produktion und Rezeption des Textes leiten: Der Text wird in der Absicht produziert, von seinen Lesern in einer bestimmten Weise behandelt zu werden. Genauer: Leser sollen das Vorliegen der Absicht als (hinreichenden) Grund nehmen, den Text in einer bestimmten Weise zu behandeln.11 Im hier vorliegenden Zusammenhang ist die kategoriale Absicht einschlägig, ein Text möge als fiktionales literarisches Werk, d.h. gemäß den Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution, rezipiert werden. Ich bezeichne diesen Typ kategorialer Intentionen nachstehend als ‚F-Intentionen‘. (iii) Dass die kategoriale Absicht, ein literarisches Werk möge gemäß den Regeln der Fiktionalitätsinstitution rezipiert werden, dessen Produktion zugrunde liegt, bedeutet, dass das Werk tatsächlich mit einer ‚F-Intention‘ hervorgebracht werden muss, um als fiktionales literarisches Werk zu gelten. Kategoriale Intentionen, wie sie hier in Rede stehen, sind die Intentionen, die einen Autor bei der Produktion seines Werkes geleitet haben und von denen er wollte, dass sich Leser von ihnen bei der Rezeption leiten 

Die Aussage, dass Absichten vielen Handlungen ‚zugrunde liegen‘, ist genau genommen mehrdeutig: Sie kann besagen, dass Absichten den Handlungen kausal (und zeitlich) vorhergehen und dass wir Handlungen über die Zuschreibung von Absichten identifizieren. Letzteres bedeutet, dass man eine Handlung nur dann als solche erkennt, wenn man dem Handelnden eine passende Absicht zuschreibt. Für alle Handlungen gilt per definitionem, dass es eine Beschreibung gibt, unter der sie als absichtsvolles Verhalten identifiziert werden (vgl. z.B. Beckermann: Handeln, S. 75 f.). Für eine Klärung des mehrdeutigen Absichtsbegriffs vgl. Meggle: Grundbegriffe der Kommunikation, S. 116. 10 Levinson: Intention, S. 188. 11 Die hier implizierte Normativität („soll sich vorstellen“) lässt sich also am besten im Sinne Grice’scher Rationalitätsannahmen ausbuchstabieren: „[T]he primary reason for an audience to adopt the fictive stance would be recognition of the story-teller’s intentions to speak (or write) fictively.“ (Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, S. 45; „fictive stance“ ist eine Bezeichnung für die fiktionalen literarischen Werken gegenüber angemessene Rezeptionshaltung, s.u.). Grundlegend ist etwa Grice: Meaning, S. 385.

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lassen. Das Vorliegen von ‚F-Intentionen‘ auf Seiten des Autors ist eine notwendige Bedingung für die Fiktionalität des Werkes.12 (iv) Das Herzstück der Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs ist der Begriff der Fiktionalitätsinstitution. Eine Institution im hier einschlägigen Sinne besteht wesentlich aus Konventionen oder Regeln, wie wir sie von Spielen kennen.13 Ein anderer Ausdruck für ‚Institution‘ ist daher ‚regelgeleitete Praxis‘. Die Kategorie des fiktionalen literarischen Werks entsteht nicht mit jedem Werk immer wieder neu. Autoren und Leser verfügen vielmehr über ein geteiltes Wissen über die Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution, und es ist dieses geteilte Wissen, das eine erfolgreiche Kommunikation von F-Intentionen ermöglicht.14 Die kategoriale Absicht, ein literarisches Werk möge gemäß den Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution rezipiert werden, setzt voraus, dass es diese Institution gibt und dass das intendierte Lesepublikum an ihr teilhat, d.h. bestimmte Kompetenzen teilt. Insofern liegt die Institution sowohl der F-Intention des Autors als auch (auf der Leserseite) deren Zuschreibung im Sinne einer Ermöglichungsbedingung zugrunde. Der Begriff der Regel oder Konvention lässt sich am besten durch seine funktionale Rolle verständlich machen. Regeln und Konventionen sind (manchmal unausgesprochene) Übereinkünfte zur Koordination von 12 Unbeschadet dessen kann man literarische Werke natürlich behandeln, als seien sie fiktional, obwohl man weiß, dass sie es nicht sind, oder obwohl man keine Ahnung hat, ob sie es sind. Letzteres kann etwa dann der Fall sein, wenn der Text aus einer Kultur stammt, von der man nicht weiß, ob sie über eine Fiktionalitätsinstitution verfügte oder verfügt, die der unsrigen hinreichend ähnlich war oder ist, oder wenn schlicht keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, den Text als fiktional oder nicht-fiktional zu klassifizieren. Die Annahme, dass für die Fiktionalität eines Textes die Intentionen des Autors (oder der Autoren) notwendig sind, trägt im Übrigen den Intuitionen Rechnung, dass über die Fiktionalität eines Textes ein sinnvoller, da prinzipiell entscheidbarer Streit ausbrechen kann, und dass man den Fiktionalitätsstatus eines Textes auch falsch einschätzen kann. Denn offensichtlich wird die Richtigkeit dieser Einschätzung nicht in das Belieben jedes einzelnen Lesers gestellt. Man kann sich dazu entscheiden, einen Text zu behandeln, als sei er fiktional (resp. nicht fiktional), aber diese Entscheidung beeinflusst nicht den tatsächlichen Status des Textes. Über den tatsächlichen Fiktionalitätsstatus eines Textes können sich einzelne Leser sowie auch ganze Lesergemeinschaften im Irrtum befinden. Beruhte die Fiktionalität eines Textes nicht auf den Handlungen des Textproduzenten, so wäre nicht zu sehen, wer entscheiden könnte, ob ein Text fiktional ist oder nicht. 13 Eine präzise Unterscheidung zwischen Regeln einerseits und Konventionen andererseits ist hier nicht erforderlich (der Sprachgebrauch ist uneinheitlich, vgl. Lewis: Convention, S. 100). Regeln und Konventionen, wie sie hier einschlägig sind, teilen die nachstehend spezifizierten Eigenschaften. 14 Oft müssen Leser nicht erst überlegen, ob einem Text ‚F-Intentionen‘ zugrunde liegen: Dass man es mit einem fiktionalen Text zu tun hat, begreift man angesichts des Textes dann ebenso schnell, wie man ein Wort seiner Muttersprache versteht. Nur in problematischen Fällen sind ausführliche Überlegungen erforderlich; solche Überlegungen lassen sich ihrer Struktur nach als ‚inference to the best explanation‘ begreifen, d.h. als Schluss auf die beste Erklärung für eine bestimmte Textgestalt, Präsentationsform usw.

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Handlungen.15 Das eigene Verhalten einer sozialen Regel oder Konvention zu unterstellen ist mit der Erwartung verbunden, dass sich andere Personen ebenfalls in entsprechender Weise verhalten. Ein Grund dafür ist, dass Regeln und Konventionen Strategien zur Umsetzung oder Beförderung gemeinsamer Interessen sind. Die durch Regeln oder Konventionen ermöglichte Handlungskoordination dient einem bestimmten Zweck, und man kann die Zweckmäßigkeit eines koordinierten Verhaltens einsehen und für einen hinreichenden Grund halten, sich regelkonform zu verhalten. Dass Regeln und Konventionen Handlungen anleiten (motivieren) können, verweist auf ihre Normativität: Eine wesentliche Eigenschaft von Regeln und Konventionen besteht darin, dass sie Standards (Normen) für die Bewertung von Handlungen etablieren. Der Zusammenhang zwischen der Bewertung anhand einer Norm und deren begründender und motivierender Kraft sieht so aus: Wenn ich eine Handlungsoption als richtig bewerte, so habe ich einen Grund, die Handlung auszuführen, und dieser Grund kann meine Handlung motivieren. Für kompetente (d.h. mit der Fiktionalitätsinstitution vertraute) Leser fiktionaler literarischer Werke ist das Zuschreiben von F-Intentionen ein hinreichender Grund, einem betreffenden Werk gegenüber fiktionalitätstypische Verhaltensweisen an den Tag zu legen.16 In einem nächsten Explikationsschritt muss nun geklärt werden, welche konventionellen Verhaltensweisen einem fiktionalen literarischen Werk gegenüber angemessen sind bzw. zu welchen Verhaltensweisen der Autor seine Leser einlädt. Eine entsprechende Rezeptionshaltung – ich spreche nachstehend der Kürze halber von der ‚F-Rezeptionshaltung‘ – zeichnet sich durch verschiedene Bestandteile aus. Rezipienten fiktionaler literarischer Werke stellen sich vor, dass es sich bei den Äußerungen, die dem Werk zugrunde liegen, um wirkliche Sprechakte (oder das Resultat wirklicher Sprechakte) handelt, obwohl sie wissen, dass bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind, die mit solchen Äußerungen normalerweise einhergehen. Ein Beispiel kann zeigen, was hiermit gemeint ist. Wer unter normalen Umständen den Satz „Gestern war Peter in der Stadt“ äußert, stellt eine Behauptung auf. Durch den Sprechakt des Behauptens legt sich ein Sprecher auf die Wahrheit des Behaupteten fest.17 15 Vgl. für das Folgende Lewis: Convention, insbes. Kap. I. 16 Vgl. erneut oben, Anm. 11. 17 Vgl. auch folgende Beschreibung des Zusammenhangs von Behauptungen und Überzeugungen: „Überzeugungen […] bilden die Aufrichtigkeitsbedingungen assertiver Sprechakte, also sprachlicher Handlungen, in denen sich der Sprecher auf das Bestehen eines bestimmten Sachverhalts (der zugehörigen Wahrheitsbedingung) festlegt. Wer z.B. behauptet, daß Erfurt eine Landeshauptstadt ist, präsentiert sich damit als jemand, der überzeugt ist, daß Erfurt eine Landeshauptstadt ist. Glaubt der Sprecher dies nicht wirklich, so ist seine Behauptung unaufrichtig; und wenn Erfurt gar keine Landeshauptstadt ist, dann kann man ihn dafür kritisieren, einer falschen Überzeugung Ausdruck verliehen zu haben.“ (Beyer: Subjektivität, S. 9)

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Eben dies ist im Falle fiktionaler Äußerungen nicht der Fall. Wer in einem fiktionalen literarischen Werk den Satz (p) „Gestern war Peter in der Stadt“ liest, soll sich vorstellen, es handele sich um eine Behauptung, dass p – wohl wissend, dass der Autor des fiktionalen literarischen Werks nicht auf die Wahrheit des Satzes festgelegt werden kann.18 Ein Schluss von der (auf der Wahrnehmung der F-Intention beruhenden) Vorstellung, es handele sich um eine Behauptung, dass p, auf bestimmte Überzeugungen oder Verpflichtungen des Urhebers der Äußerung ist in fiktionalen Äußerungskontexten nicht gerechtfertigt.19 Dasselbe gilt für alle Äußerungen bzw. Sprechakttypen, die den Text eines fiktionalen literarischen Werkes ausmachen. Wenn in einem fiktionalen literarischen Werk ein Fragesatz steht, der normalerweise eine Frage des Sprechers zum Ausdruck bringen würde, so muss man sich im Falle fiktionaler Äußerungen vorstellen, es handele sich um eine Frage, und man muss wissen, dass es ein Fehler wäre, aus dem Vorliegen der Frage zu schließen, dass der Autor etwas wissen will. – Allgemein gilt: Die Tatsache, dass man sich im Falle fiktionaler Äußerungen nur vorstellt, dass die Äußerungen Sprechakte eines bestimmten Typs sind, verbietet das Ziehen bestimmter Schlüsse über die tatsächlichen Überzeugungen, Wünsche (usw.) des Urhebers der Äußerungen.20 Zur F-Rezeptionshaltung gehört nicht nur die Vorstellung, bei fiktionalen Äußerungen handele es sich um wirkliche Sprechakte, sondern auch eine mehr oder minder intensive imaginative Auseinandersetzung mit dem semantischen Gehalt dieser Äußerungen. Wenn man ein fiktionales literarisches Werk liest, so soll man sich vorstellen, dass es von tatsächlichen Gegenständen, Personen, Handlungen, Situationen, Sachverhalten usw. handelt. Wenn in einem fiktionalen literarischen Werk der Satz „Peter geht in die Stadt“ steht, dann soll man sich vorstellen, dass Peter in die Stadt geht.21 – Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Erläuterung des hier einschlägigen Vorstellungsbegriffs. Ich gehe davon aus, dass wir alle verstehen, was im Alltag mit ‚sich etwas vorstellen‘ bzw. ‚sich vorstellen,

18 Das beinhaltet: Wenn der Autor einen Satz äußert, den er für falsch hält, so liegt weder ein moralischer Fehler vor (in dem Sinne, dass der Autor gegen ein moralisches Aufrichtigkeitsgebot verstoßen hätte), noch ein teleologischer Fehler (in dem Sinne, dass der Autor einem bestimmten Zweck oder Ziel nicht entsprochen hätte). 19 Dass ein Schluss von A nach B „nicht gerechtfertigt“ ist, bedeutet: Wer von A auf B schließt, kann A nicht als Grund für (die Richtigkeit von) B angeben. (B wäre dann also unbegründet.) 20 Vgl. Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, S. 43 f. 21 Natürlich enthalten fiktionale literarische Werke nicht nur Beschreibungen (deklarative Sätze), sondern z.B. auch Fragesätze, Imperative, Ausrufe usw. Auch solche Sätze tragen zur Charakterisierung eines vorzustellenden Sachverhalts bei, obwohl es sich nicht um Beschreibungen (im engeren Sinne) handelt. Der Kürze halber erwähne ich hier nur Beschreibungen.

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dass dies-und-das der Fall ist‘ gemeint ist,22 und beschränke mich darauf, folgende drei Aspekte herauszustellen: Erstens muss die Vorstellungsaktivität, in die wir anhand fiktionaler Äußerungen eintreten, als angeleitet beschrieben werden.23 Wenn in einem fiktionalen literarischen Werk „Peter zieht in die Hauptstadt“ steht, dann soll man sich nicht vorstellen, dass Siegmar in die Hauptstadt zieht oder dass Peter aufs Land geht. Die mit der F-Rezeptionshaltung verbundene Vorstellungsaktivität ist nicht völlig frei oder beliebig, sondern vielmehr in wesentlichen Punkten vom Gehalt der fiktionalen Äußerungen abhängig. Was in einer fiktiven Welt der Fall ist (ob Peter in die Hauptstadt zieht oder nicht), wird zu einem erheblichen Teil vom semantischen Gehalt fiktionaler Äußerungen bestimmt.24 Mit dem Anleitungsaspekt der F-Rezeptionshaltung hängt zusammen, dass wir unserer Vorstellungsaktivität nicht vollkommen passiv ausgeliefert sind, sondern steuernd auf sie einwirken können. Damit ist nicht gemeint, dass wir immer oder in jeder Hinsicht willentlich bestimmen könnten, was wir uns vorstellen und was nicht.25 Vielmehr ist es so, dass die Aufforderung, jemand möge sich etwas vorstellen, Sinn macht. Darin liegt wiederum ein Unterschied zwischen Vorstellungen und Überzeugungen, denn letztere kann man nicht (vernünftigerweise) durch bloße Aufforderungen gewinnen.26 Zweitens haben zur F-Rezeptionshaltung gehörende Vorstellungen bestimmte logische (bzw. epistemologische) Eigenschaften. Auch diese Eigenschaften lassen sich gut herausarbeiten, wenn man Vorstellungen mit Überzeugungen vergleicht. In bestimmten Hinsichten gleichen sich Vorstellungen und Überzeugungen, in anderen nicht. Zunächst einmal können beide denselben Gehalt haben. Man kann sich vorstellen, dass Siegmar in die Hauptstadt zieht, und man kann überzeugt sein, dass Siegmar in die Hauptstadt zieht. ‚Sich etwas vorstellen‘ und ‚von etwas überzeugt sein‘ können als zwei Weisen beschrieben werden, zu demselben Gehalt in eine 22 Vgl. Walton: Mimesis, S. 19-21 (Walton verwendet den Ausdruck ‚to make-believe‘, um den Vorstellungsaspekt der F-Rezeptionshaltung zu bezeichnen); vgl. aber die Unterscheidung verschiedener Vorstellungsbegriffe in Stevenson: Twelve Conceptions of Imagination. – Ich vertrete im Übrigen Stephen Yablos Ansicht, was das Definieren mentaler Begriffe angeht: „Almost never […] are we able to analyze an intentional notion outright, in genuinely independent terms: so that a novice could learn, say, what memory and perception were just by consulting their analyses. About all one can normally hope for is to locate the target phenomenon relative to salient alternatives, and to find the kind of internal structure in it that would explain some of its characteristic behavior.“ (Yablo: Conceivability, S. 25 f.) 23 Vgl. Walton: Mimesis, S. 38-43. 24 Vgl. erneut Walton: „[A] fictional truth consists in there being a prescription or mandate in some context to imagine something. Fictional propositions are propositions that are to be imagined – whether or not they are in fact imagined.“ (Ebd., S. 39) 25 Man beobachte einmal genau, was bei der Lektüre der folgenden Aufforderung passiert: „Stelle dir jetzt keinen Elefanten vor!“ 26 Vgl. Scruton: Art, S. 94 f.

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Beziehung zu treten.27 Zu den wichtigsten Unterschieden gehört, dass man sich mit Überzeugungen auf die Wahrheit des Gehalts der Überzeugung festlegen möchte. Findet man heraus, dass eine eigene Überzeugung falsch ist, so gibt man sie vernünftigerweise auf. Einen solchen Zusammenhang zwischen dem Gehalt, der Wahrheit und dem Haben der Einstellung gibt es im Falle von Vorstellungen nicht. Man kann sich sehr gut Sachverhalte vorstellen, von denen man weiß, dass sie nicht bestehen – oder anders (und präziser) gesagt: Man kann sich den Gehalt von Sätzen auch dann vernünftigerweise vorstellen, wenn man weiß, dass die Sätze falsch sind. Überzeugungen haben, im Gegensatz zu Vorstellungen, einen bestimmten normativen Status: Sie legen den Träger der Überzeugung auf bestimmte weitere Überzeugungen fest, schließen das gleichzeitige Haben bestimmter anderer Überzeugungen aus und berechtigen ihn zu bestimmten Schlüssen (und weiteren Überzeugungen) sowie zu bestimmten Verhaltensweisen (etwa zu Behauptungen). Dieser normative Status fehlt Vorstellungen. Drittens haben zur F-Rezeptionshaltung gehörende Vorstellungen bestimmte psychologische Eigenschaften. Sie können beispielsweise bildhaft sein (man hat ein bestimmtes Bild ‚vor dem geistigen Auge‘) oder auch auditive (man stellt sich z.B. einen Ton oder eine Melodie vor) oder olfaktorische (man stellt sich einen Geruch vor) Komponenten haben.28 Außerdem sind Vorstellungen im Unterschied zu Überzeugungen typischerweise vom ‚motivationalen Set‘ einer Person entkoppelt. Damit ist gemeint, dass die bloße Vorstellung von etwas in aller Regel nicht dieselben Konsequenzen für mein Handeln hat wie sie (unter sonst gleichen Umständen) eine Überzeugung hätte.29 Wer einen Science-Fiction Roman liest und sich im Zuge der ‚F-Rezeptionshaltung‘ vorstellt, dass Außerirdische die Erde bedrohen, wird nicht denselben Drang verspüren, den Katastrophenschutz zu alarmieren, wie jemand, der eine Überzeugung desselben Inhalts hat. (3) Neben der Vorstellung, dass fiktionale Äußerungen genuine Sprechakte konstituieren, und einer imaginativen Auseinandersetzung mit dem semantischen Gehalt der Äußerungen, gehört zur ‚F-Rezeptionshaltung‘ typischerweise auch eine emotionale Auseinandersetzung mit diesem Ge27 Vgl. ebd., S. 87-89 u.ö. 28 Vielleicht spielen auch Tast-, Geschmacks- oder kinästhetische Vorstellungsaspekte eine Rolle (vgl. Ryle: The Concept of Mind, Kap. 8). Um zu erklären, was es damit auf sich hat, muss man vermutlich eine Theorie phänomenaler Zustände des Bewusstseins haben (vgl. als Übersicht Beckermann: Philosophie des Geistes, Kap. 13). 29 Für eine elaborierte Theorie vgl. Currie/Ravenscroft: Recreative Minds, insbes. S. 66 f. – Bei der Formulierung dieses Punktes ist gleichwohl Vorsicht geboten: Leser können sehr wohl durch fiktionale Darstellungen zu Handlungen veranlasst werden, Wünsche entwickeln usw. Entscheidend könnte der Unterschied sein, dass Vorstellung zwar (wie Überzeugungen) Handlungen motivieren können, dass sie jedoch nicht in derselben Weise zur Rechtfertigung bzw. Begründung einer Handlung herangezogen werden können; zur Unterscheidung von Motiven und Gründen vgl. z.B. Steinfath: Orientierung am Guten, S. 83 f.

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halt. Leser nehmen Anteil am Schicksal fiktiver Personen, sie beschreiben ihr Verhältnis zu fiktiven Begebenheiten beispielsweise als durch Freude, Mitleid, Neugierde, Hoffnung oder Furcht geprägt.30 An dieser Stelle dürfte allerdings die Grenze zwischen konventionell geregelten und bloß regelmäßigen Verhaltensweisen unscharf werden.31 Auf der Basis dieser Bestimmung der F-Rezeptionshaltung lässt sich nun auch der Regelbegriff in nützlicher Weise präzisieren. John Searle unterscheidet zwei Typen von Regeln, nämlich ‚regulative‘ und ‚konstitutive‘. Erstere betreffen Aktivitäten, die es auch unabhängig von den Regeln gibt, letztere dagegen sind für die fraglichen Aktivitäten selbst konstitutiv: [R]egulative rules regulate antecedently or independently existing forms of behavior; for example, many rules of etiquette regulate inter-personal relationships which exist independently of the rules. But constitutive rules do not merely regulate, they create or define new forms of behavior. The rules of football or chess, for example, do not merely create the very possibility of playing such games. The activities of playing football or chess are constituted by acting in accordance with (at least a large subset of) the appropriate rules.32

Konstitutive Regeln konstituieren bestimmte Handlungsweisen und schaffen damit institutionelle Sachverhalte, d.h. Sachverhalte, die es nur insofern gibt, als es die entsprechenden Regeln gibt. Den Sachverhalt beispielsweise, dass Peter und Paul ins Schachspiel vertieft sind, kann es nur dann geben, wenn es die konstitutiven Regeln des Schachspiels gibt.33 Eine konstitutive Regel hat typischerweise die Form ‚X gilt als Y in K‘, wobei X für eine bestimmte Handlung (oder ein Handlungsset) steht, Y den neu geschaffenen institutionellen Sachverhalt und K den fraglichen Kontext benennt. So zählt zum Beispiel ein bestimmter Zug im Kontext des Schachspiels als ‚Mattsetzen‘ des Königs, eine bestimmte Spielkonfiguration beim Fußball als ‚Abseits‘, und die komplexe (regelgeleitete) Aktivität als ganze zählt als ‚Fußballspielen‘. Auch in der Fiktionalitätsinstitution gibt es konstitutive Regeln, von denen die Schaffung institutioneller Sachverhalte abhängt. Fiktive Welten sind in diesem Sinne institutionelle Sachverhalte; es gibt sie nur, insofern es fiktionale Äußerungen und F-Rezeptionshaltungen gibt, die als regelgeleitete Aktivitäten beschrieben werden müssen. Die entsprechenden Regeln können in unterschiedlichen Allgemeinheitsgraden formuliert werden. Es gibt einerseits Meta-Regeln, die allgemeine Charakteristika der Institution zum Ausdruck bringen.34 Eine solche Meta-Regel wäre ‚Fiktionale Äußerungen konstituie30 31 32 33

Vgl. etwa die Beiträge in Hjort/Laver: Emotion and the Arts. Zur Abgrenzung von „rules“ und „mere regularities“ vgl. Lewis: Convention, S. 108 u.ö. Searle: Speech Acts, S. 33 f. Zum Begriff des institutionellen Sachverhalts vgl. (ausführlich) Searle: The Construction of Social Reality. 34 Vgl. Walton: Mimesis, S. 52.

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ren fiktive Sachverhalte‘, oder präziser: ‚Die fiktionale Äußerung, dass p, zählt als Beschreibung eines fiktiven Sachverhalts in der fiktiven Welt W‘.35 Solche Meta-Regeln muss man schon kennen, bevor man sich an das Schreiben oder die Lektüre eines fiktionalen literarischen Werkes macht. In Bezug auf einzelne fiktionale Äußerungen, die Bestandteile konkreter Werke sind, gibt es dann eine Vielzahl weiterer konstitutiver Regeln. Wir können solche Regeln zum großen Teil als Spezifikationen der genannten Meta-Regel begreifen; so würde beispielsweise gelten: ‚Die fiktionale Äußerung, dass Hans Castorp in Davos den Zug verlässt, zählt als Beschreibung eines fiktiven Sachverhalts in der fiktiven Welt von Der Zauberberg.‘ Solche spezifischen Regeln werden erst im Umgang mit einzelnen Werken bzw. von diesen Werken generiert. Neben konstitutiven Regeln sind auch regulative Regeln im Bereich der F-Rezeptionshaltung wirksam. Dass man nicht berechtigt ist, die mit fiktionalen Äußerungen zum Ausdruck gebrachten Sprechakte als nicht-fiktionale Sprechakte des Autors anzusehen, ist ein Beispiel dafür. Diese Regel schafft nicht einen neuen institutionellen Sachverhalt im soeben erläuterten Sinne; sie schafft vielmehr die Grundlage für die Bewertung eines Verhaltens: Wer fiktionale Äußerungen als Behauptungen des Autors auffasst und dem Autor entsprechende Überzeugungen (usw.) zuschreibt, tut etwas, das als unvernünftig (leichtsinnig, epistemisch unverantwortlich) bezeichnet werden kann.36 35 Man kann den handlungsleitenden Charakter solcher Regeln herausstreichen, indem man ihnen die Form ‚hypothetischer Imperative‘ gibt. Etwa: ‚Wenn du den fiktiven Sachverhalt, dass p, generieren willst, musst du dir vorstellen, dass p.‘ – Wichtig ist, dass der Begriff der fiktionalen Äußerung nicht durch den des fiktiven Gegenstands oder Sachverhalts erläutert wird. Fiktive Sachverhalte sind vielmehr bestimmt als Sachverhalte, deren Konturen durch fiktionale Äußerungen festgelegt sind. (In diesem Sinne kann man auch sagen: „Autoren erschaffen fiktive Welten, indem sie fiktionale Äußerungen hervorbringen.“) Ein Beispiel: Dass Hans Castorp in Thomas Manns Roman Der Zauberberg ein Sanatorium in Graubünden (und nicht im Appenzell) aufsucht, hängt davon ab, dass in Der Zauberberg eben dies steht (bzw. nicht steht). – Allgemein gilt: Fiktionale Äußerungen sind wirkliche Äußerungen, also etwas, das wirkliche Personen tun. Fiktive Gegenstände dagegen sind offenbar keine wirklichen Gegenstände (‚Gegenstand‘ wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden und umfasst auch Personen, Sachverhalte usw.). Was es wirklich gibt, sind die Dinge, die ein Autor sagt oder aufschreibt, also gesprochene oder geschriebene Sätze, und die Vorstellungsaktivität, in die Leser anhand dieser Sätze eintreten. Wenn dagegen von ‚fiktiven Gegenständen‘ die Rede ist, so ist stets gemeint: Dinge, die man sich vorzustellen hat, wenn man ein fiktionales literarisches Werk liest. Der Ausdruck ‚fiktiv‘ kann also als Abkürzung für eine Aufforderung gelesen werden: ‚Stelle Dir vor, dass es sich bei dem, was als fiktiv charakterisiert wird, um einen wirklichen Gegenstand handelt!‘ Um die Rede von ‚fiktiven Gegenständen‘ zu verstehen, muss man keine komplizierten ontologischen Überlegungen anstellen; es genügt, wenn man mit bestimmten Regeln des Umgangs mit bestimmten sprachlichen Äußerungen vertraut ist. Wir alle wissen, was es heißt, sich vorzustellen, dass morgen die Sonne scheint, oder dass der Kühlschrank leer ist, oder dass ein junger Mann namens Hans Castorp in einem Bergdorf namens Davos den Zug verlässt. Und wir können uns diese Dinge auch aufgrund einer Aufforderung vorstellen – etwa der Aufforderung, die die Sätze eines fiktionalen literarischen Werkes implizieren. 36 Vgl. zum Problemzusammenhang z.B. Baumann: Erkenntnistheorie, Kap. V.

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Kurz zusammengefasst, nehmen sich die bisherigen Erklärungsschritte des Fiktionalitätsbegriffs aus wie folgt: Ein fiktionales literarisches Werk ist das Resultat fiktionaler Äußerungen, und für fiktionale Äußerungen sind F-Intentionen konstitutiv, die ihrerseits durch die konstitutiven und regulativen Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution ermöglicht werden. Auf der Basis dieser Erläuterungen können wir den Fiktionalitätsbegriff definieren wie folgt: Ein literarisches Werk W ist genau dann fiktional, wenn gilt: W wurde von seinem Verfasser mit der Absicht hervorgebracht, dass der Leser aufgrund dieser Absicht W dergestalt behandelt, dass er (i) sich vorstellt, dass die Äußerungen, deren Resultat W ist, wirkliche Sprechakte sind, obwohl er weiß, dass übliche Sprechaktbedingungen aufgehoben sind, und (ii) in eine intensive imaginative (und affektiv qualifizierte) Vorstellungsaktivität eintritt, die auf dem Gehalt dieser Sprechakte beruht. Diese Definition basiert wesentlich auf der Annahme, dass Fiktionalität als regelgeleitete soziale Praxis verstanden und analog zu Spielen erklärt werden kann. Ein Spiel erklärt man, indem man seine Regeln darlegt, und eben dies ist auch hier geschehen: Ich habe (zumindest in Umrissen) dargelegt, wie die Fiktionalitätsinstitution beschaffen ist, welche Rolle Regeln spielen, welche Typen von Regeln einschlägig sein können und welche Inhalte sie haben. Wo liegen die Grenzen der Spiel-Analogie? Als unbefriedigend mag beispielsweise erscheinen, dass dem literarischen Werk selbst in der Definition des Fiktionalitätsbegriffs augenscheinlich kein großes Gewicht zukommt. Für die Fiktionalität eines Werkes ist entscheidend, dass es im Rahmen einer bestimmten Institution produziert und rezipiert wird, nicht jedoch, welche textuelle Gestalt es hat.37 Eingewandt werden könnte hier, dass durch die weitgehende Absehung von textuellen Faktoren in der Definition die ‚Erfolgsschwelle‘ für das Erschaffen eines fiktionalen literarischen Werkes zu niedrig angesetzt werde. Das bloße Haben (oder Behaupten) einer Absicht allein mache einen Text (völlig unabhängig von dessen Gestalt und Inhalt) noch nicht fiktional.38 Um dem Einwand zu begegnen, muss erstens ein wichtiger Zug intentionalen Handelns hervorgehoben werden: Nicht alle Handlungen, zu 37 Zur textuellen Gestalt eines literarischen Werkes sollen hier sowohl inhaltliche und stilistische als auch semantische und epistemische Eigenschaften – also Antworten auf die Fragen ‚Worum geht es in dem Werk?‘, ‚Ist das Dargestellte wahr?‘, ‚Wie ist es dargestellt?‘ usw. – gezählt werden. 38 Wäre das Haben der Absicht für die Fiktionalität eines Textes hinreichend, so könnte der Einwand weiterhin lauten, so könnten Autoren die Fiktionalität ihres Textes stets erfolgreich als Schutzbehauptung geltend machen: Wird ein Autor einer falschen oder beleidigenden Aussage überführt, so könnte er stets anführen, der Text sei eben als fiktionaler intendiert gewesen und man könne den Autor deshalb nicht belangen.

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denen wir uns anschicken, gelingen. Äußerungen (zumal komplexe) bilden hier keine Ausnahme. Es kann passieren, dass die kategoriale Absicht, ein literarisches Werk möge im Rahmen der Fiktionalitätsinstitution rezipiert werden, nicht erfolgreich umgesetzt wird und eine fiktionale Äußerung deshalb nicht zustande kommt. Das bedeutet: F-Intentionen müssen sich auf die eine oder andere Weise manifestieren. Wenn es keinerlei Indizien dafür gibt, dass ein Text mit F-Intentionen hervorgebracht wurde, dann ist kaum verständlich, weshalb man überhaupt sagen sollte, der Autor habe die fragliche Intention gehabt.39 F-Intentionen geben Lesern einen (hinreichenden) Grund, einen Text auf eine bestimmte Weise zu behandeln, und zum Haben einer F-Intention gehört, dass man der Meinung ist, dass Leser tatsächlich einen entsprechenden Grund haben und dies auch herausfinden können.40 Dass sich F-Intentionen auf die eine oder andere Weise äußern müssen, deutet darauf hin, dass es sehr viele verschiedene Möglichkeiten gibt, auf die dies geschehen kann: Einschlägig ist hier eine offene Liste textinterner und textexterner Fiktionalitätssignale.41 Zweitens ist wichtig zu sehen, dass ein Autor nur dann eine F-Intention hat, wenn er, wie oben beschrieben, tatsächlich der Auffassung ist, mit seinen (fiktionalen) Äußerungen institutionelle (fiktive) Sachverhalte zu schaffen. Aus diesem Grund hat jemand, der (aus welchem Grund auch immer) behauptet, ein nicht-fiktionaler Text sei fiktional, damit noch lange nicht den Fiktionalitätsstatus des Textes geändert. Ein Text ist nur dann fiktional, wenn der Autor des Textes überzeugt ist, Lesern einen hinreichenden Grund zu geben, dem Text gegenüber eine fiktionstypische Rezeptionshaltung einzunehmen (und sich also vorzustellen, der Text handele von wirklichen Sachverhalten). Diese Absicht ist inkompatibel mit der Absicht, Leser über den Fiktionalitätsstatus des Textes zu täuschen – denn entweder ist man der Auffassung, dass im fraglichen Text von im Sinne der F-Rezeptionshaltung vorzustellenden (fiktiven) Sachverhalten die Rede ist, oder man ist es nicht. Anders gesagt: Das Haben von F-Intentionen setzt voraus, dass die konstitutive Meta-Regel ‚Fiktionale Äußerungen erschaffen fiktive Sachverhalte‘ zur Anwendung kommt. Man kann nicht zugleich der Auffassung sein, dass die beschriebenen Sachverhalte eigentlich nicht

39 Man vergleiche: Wenn jemand behauptet, er habe die Absicht, seinen Arm zu heben, und daraufhin einen Fuß hebt, so zweifeln wir daran, ob er die behauptete Absicht wirklich gehabt hat. (Wir zweifeln daran, welchen Sinn es haben sollte zu sagen, er habe die Absicht gehabt, seinen Arm zu heben.) 40 Im Umkehrschluss gilt: Wenn ein Autor nicht der Auffassung ist, dass seine Leser die Einladung zum Einnehmen der F-Rezeptionshaltung erkennen können, dann hat der Autor auch keine F-Intention. Es gehört, noch einmal, zum Inhalt einer ‚F-Intention‘, eine entsprechende Einladung (aufrichtig) aussprechen zu wollen. 41 Für eine Liste entsprechender Signale vgl. z.B. Zipfel: Fiktion, Kap. 6.1.

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im beschriebenen Sinne institutionell bzw. fiktiv sind.42 Diese Präzisierung trägt der Intuition Rechnung, dass die Begriffe der Fiktionalität und des ‚Erfindens‘ eng miteinander zusammenhängen, ohne problematische (etwa semantische, ontologische oder epistemologische) Elemente in die Definition einzuführen.43

II Die hier nur skizzierte Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs muss gewiss ausgebaut und präzisiert werden. Bereits in ihrer vorliegenden Form scheint sie mir auf eine Reihe von Vorteilen zu verweisen: Erstens dürften ‚klassische‘ definitorische Fehler vermieden werden, etwa Zirkularität und ein zu ‚weites‘ oder zu ‚enges‘ Definiens. Ob dies tatsächlich so ist, kann geprüft werden, indem die Definition mit Beispielfällen konfrontiert wird. Ein Gütezeichen der Definition wäre, wenn zum einen klare (paradigmatische) Fälle fiktionaler literarischer Werke (etwa Der Zauberberg) die im Definiens formulierten Bedingungen erfüllen, wenn zum anderen klare Fälle nicht-fiktionaler Texte (etwa A Theory of Justice von 42 Lamarque und Olsen bringen dies zum Ausdruck, indem sie eine bestimmte Bedingung für den Gehalt fiktionaler Äußerungen (d.h. für das, was fiktionale Äußerungen zum Ausdruck bringen oder wovon sie handeln) annehmen: Der Autor fiktionaler Äußerungen muss demnach der Auffassung sein, dass die Gegenstände seiner Äußerungen nicht unabhängig von fiktionalen Äußerungen bestehen bzw. dass, was in Hinblick auf fiktive Gegenstände wahr ist und was nicht, wesentlich von fiktionalen Äußerungen abhängt (vgl. Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, S. 51; vgl. auch Davies: Fictional Truth, S. 51 f.). – In der Forschungsliteratur sind eine Reihe alternativer notwendiger Bedingungen für fiktionale Äußerungen vorgeschlagen worden, die sich ebenfalls auf den Gehalt fiktionaler Äußerungen beziehen. Ich führe hier – kommentarlos – einige populäre Kandidaten auf. (Ich verwende für den Autor einer fiktionalen Äußerung das Kürzel A, für den Gehalt einer fiktionalen Äußerung das Kürzel p.) 1. A ist überzeugt, dass p falsch ist. 2. p ist falsch. 3. p ist allenfalls zufällig wahr. 4. p handelt vom ‚Nichtrealen‘, ‚Imaginären‘ usw. Die hier favorisierte Präzisierung scheint folgende Vorteile zu haben: Sie erlaubt, Überlegungen zur Wahrheit von p aus der Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs herauszuhalten und kommt mit der Berufung auf Regeln und Konventionen aus; zweitens ermöglicht sie eine positive Bestimmung fiktionaler Äußerungen, d.h. fiktionale Äußerungen werden nicht nur ex negativo (durch Negation von Elementen, die für andere Äußerungstypen konstitutiv sind) bestimmt; drittens scheint die Erfolgsbedingung gewisse Unsicherheiten unserer Entscheidung über die Fiktionalität mancher literarischer Texte zu spiegeln – was ein Beleg dafür wäre, dass die Begriffsbestimmung unserer Praxis entspricht (vgl. zu diesen Punkten den folgenden Abschnitt). 43 Der Duden (Das große Wörterbuch der deutschen Sprache) verzeichnet unter „Fiktion“ als eine der Kernbedeutungen „etwas, was nur in der Vorstellung existiert; etwas Vorgestelltes, Erdachtes“ (Duden, Bd. 3, S. 1087).

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John Rawls) diese Bedingungen nicht erfüllen, und wenn sich der Definition schließlich interessante Vorhersagen und Erläuterungen in Bezug auf Grenz- oder Mischfälle entnehmen lassen.44 Es ist wichtig zu sehen, dass insbesondere Grenzfälle kein Mangel der Definition sind, sondern vielmehr darauf hindeuten, dass die Definition Unschärfen bzw. Unsicherheiten unserer etablierten Praxis der Klassifikation von Texten als ‚fiktionale‘ und ‚nicht-fiktionale‘ abbildet. Es gibt ganze Gattungen bzw. Genres, von denen nicht von vornherein klar ist, welcher Status ihnen zuerkannt werden sollte (z.B. der so genannte Schlüsselroman). Auf der Basis der hier vorgestellten Definition kann dies erklärt werden, indem darauf hingewiesen wird, dass erstens unklar sein kann, ob ein Text mit einer F-Intention hervorgebracht wurde, und zweitens kann angenommen werden, dass es neben der konventionell geregelten F-Rezeptionshaltung weitere institutionell verankerte Rezeptionstypen gibt; so könnte beispielsweise angenommen werden, dass auf einen Schlüsselroman in angemessener Weise zu reagieren bedeutet, dass man den Fiktionalitätsstatus des Textes ‚in der Schwebe‘ hält. Zweitens lassen sich an die Definition Erklärungen zur Historizität der Institution anschließen. Institutionelle Praxen können sich mit der Zeit ändern,45 zumal die Regeln und Konventionen der Fiktionalitätsinstitution nirgends verbindlich aufgeschrieben sind. Man kann daher davon ausgehen, dass sie sich im Laufe der Zeit wandeln, und dass es zwischen den Teilnehmern an der Praxis zum Dissens über die korrekte Regelbefolgung kommen kann. Auch in dieser Hinsicht gleicht die Fiktionalitätsinstitution (manchen) Spielen. Einerseits wird vor diesem Hintergrund verständlich, dass es bestimmte Rudimente unserer heutigen Fiktionalitätsinstitution schon lange gegeben haben dürfte; dass Menschen sich Geschichten erzählen, ist kein modernes Phänomen, sondern geht vermutlich in prähistorische Zeiten zurück. Andererseits wäre zu klären, inwiefern die Ausbildung unserer heutigen, differenzierten Fiktionalitätsinstitution mit der Ausbildung eines modernen Literatursystems im 18. Jahrhundert zusammenhängt.46 Drittens ist die Definition ontologisch und begrifflich sparsam. Die ontologische Sparsamkeit bezieht sich darauf, dass zur Erklärung des Fiktionalitätsbegriffs beispielsweise nicht auf fiktive Gegenstände rekurriert werden muss. Um zu verstehen, was es mit der Fiktionalität literarischer Texte auf sich hat, muss man vielmehr vor allem verstehen, was es heißt, bestimmten Regeln des Umgangs mit bestimmten sprachlichen Äußerungen zu folgen. 44 Grenzfälle sind Gegenstände, von denen nicht klar ist, ob es sich um fiktionale literarische Werke handelt. Mischfälle sind Gegenstände, die nur zum Teil fiktional sind. 45 Vgl. Lamarque/Olsen: Truth, Fiction, and Literature, S. 38. 46 Vgl. Schmidt: Conventions. – Am Rande sei bemerkt, dass die ‚institutionelle’ Fiktionalitätsdefinition erklären kann, dass Kinder den Umgang mit fiktionalen Texten erst erlernen müssen – sie müssen schlicht bestimmte Regeln und Konventionen kennen lernen.

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Das zu verstehen ist leicht – wie ein Spiel.47 Die begriffliche Sparsamkeit meint, dass man sich bei der Definition des Fiktionalitätsbegriffs auf ein etabliertes Begriffsinventar stützen kann, das auch aus anderen Zusammenhängen (eben dem des Spiels) bekannt ist und unter Berufung auf diese Zusammenhänge expliziert werden kann. Es ist ein kurioses Merkmal (nicht nur) der deutschen fiktionalitätstheoretischen Forschungsdiskussion, dass unklare Begriffe durch die Einführung neuer (und daher auch unverstandener) Begriffe ‚erklärt‘ werden sollen. Problematisch daran ist, dass man nichts erklärt, wenn man die zu klärende Sache einfach neu benennt; im ungünstigsten Fall liegt schlicht ein definitorischer Fehler vor (obscurum per obscurum). Viertens kann die skizzierte Definition als ‚naturalistisch‘ bezeichnet werden, insofern sie auf „persistent […] patterns of behavior and discourse: the making, experiencing, and assessing of works of art“ – also Dingen, die man beobachten kann und die in ein naturalistisches Weltbild passen – beruht.48 Sowohl der dritte als auch der vierte Vorzug können durch die SpielAnalogie herausgestrichen werden. Es steht ferner zu vermuten, dass sich die Spiel-Analogie nicht nur im Bereich von Definitionen des Fiktionalitätsbegriffs, sondern beispielsweise auch in Bezug auf Erklärungen der Genese oder der Funktionen der Fiktionalitätsinstitution verwenden lässt.49 Darauf kann ich hier aber nicht mehr eingehen.

Literatur Baumann, Peter: Erkenntnistheorie. Stuttgart, Weimar 2002. Blackburn, Simon: The Oxford Dictionary of Philosophy. Oxford, New York 1994. Beckermann, Ansgar: Handeln und Handlungserklärungen. In: Ders. (Hg.): Analytische Handlungstheorie. Bd. 2: Handlungserklärungen. Frankfurt a.M. 1977, S. 7-84. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. Berlin, New York 22001. 47 Natürlich kann man auch nach der Ontologie von Regeln bzw. sozialen (institutionellen) Tatsachen fragen (vgl. dazu die Beiträge in Schönrich: Institutionen). Ontologie meint ganz allgemein die Lehre von den Existenzbehauptungen, auf die man sich mit einer Theorie festlegt. 48 Dutton: A Naturalist Definition of Art, S. 368. 49 Vgl. die sehr fruchtbaren Ansätze in Rowe: Criticism, insbes. Abschnitt III; vgl. auch Zipfel: Zeichen, insbes. S. 78-80. Frank Zipfels Beitrag ist die jüngste (mir bekannte) Abhandlung zum Vergleich von Spielen und literarischer Fiktionalität, in der eine Ähnlichkeit zwischen so genannten ‚Als-ob-Spielen‘ und literarischer Fiktionalität herausgestellt wird. Im Unterschied zu Zipfel glaube ich nicht, dass man Fiktionalität erläutern sollte, indem man auf die Kategorien des fiktiven Erzählers oder fiktiven Adressaten zurückgreifen sollte, und ich glaube nicht, dass die Kategorie des ‚Als-Ob-Handelns‘ und der ‚willing suspension of disbelieve‘ (vgl. ebd., insbes. S. 73-75) hilfreich sind (vgl. Carroll: Philosophy, S. 64-68, sowie oben, Anm. 40; vgl. auch Gertken/Köppe: Fiktionalität).

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Katja Mellmann

Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren Elemente einer verhaltensbasierten Fiktionalitätstheorie Der Gedanke, dass Kunstverhalten ein Ausdruck menschlichen Spielverhaltens sei, entspricht einem alten Konsens in Philosophie und Geisteswissenschaften. Er hat erneute Plausibilisierung erfahren von Seiten der Evolutionspsychologie, die nicht nur das Postulat vom menschlichen ‚Spieltrieb‘ als einer angeborenen Eigenschaft auf festere Füße gestellt, sondern überdies auch eine Erklärung für die offenkundige Lust am Spielen geliefert hat. Kernthema meines Beitrags wird indes nicht diese allgemeine Parallele von Kunst und Spiel sein, sondern die spezifische Ausprägung des Spielerischen in einem bestimmten Typus von Literatur. Denn wenn es korrekt ist, dass sich die Lust am Lesen der Aktivierung angeborener Verhaltens­ programme durch literarische ‚Attrappen‘ verdankt, dann stellt sich die Frage, welche Programme dies im Einzelnen sind. Bekannt ist, dass Literatur eine Reihe kognitiver und emotionaler, darunter insbesondere sozialer Dispositionen anspricht. Auch bei dem von mir ins Auge gefassten Scherzverhalten – einer Art ‚Humortrieb‘ – handelt es sich um eine eminent soziale Adaptation. Im Unterschied zu anderen parasozialen Prozessen der Kunstrezeption – etwa dem Verstehen literarischer Figuren, Sympathielenkungsprozessen oder dem ‚Hoffen und Bangen‘ für eine Figur – betrifft die literarische Inanspruchnahme unserer Humorfähigkeit allerdings nicht nur die im Kunstwerk dargestellten Inhalte, sondern        

Vgl. auch Anz: Literatur und Lust. Schwender: Medien; Mellmann: Emotionalisierung, S. 42-78; Mellmann: Attrappe; Voland: Virtuelle Welten. Vgl. die Überblicke bei Winko: Verstehen, und Crane/Richardson: Literary Studies; außerdem Tsur: Toward; Stockwell: Cognitive Poetics, und Huber/Winko: Literatur und Kognition, zum Großprojekt einer ‚kognitiven Literaturwissenschaft‘. Vgl. Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung, und Mellmann: Biologische Ansätze. Vgl. Jannidis: Analytische Hermeneutik, und Oatley/Mar: Pre-adaptation. Exemplarisch Jannidis: Figur; Zunshine: Why we read fiction; Mellmann: Objects of „empathy“. Exemplarisch Mellmann: Emotionalisierung, S. 134-143, und Mellmann: Biologische Ansätze, S. 370 f. Exemplarisch Mellmann: Emotionalisierung, S. 112-115, und Mellmann: Spannung, S. 263265.

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konstituiert es gewissermaßen überhaupt erst als solches, d.h., sie macht für den Rezipienten erkennbar, dass es ‚nur Spiel‘, ‚nur Fiktion‘, ‚nur Artefakt‘ ist, worauf er sich einlässt. Die im Einzelnen recht unterschiedlich gearteten textuellen Auslöser einer solchen Erkenntnis fasse ich im Folgenden unter der Metapher des ‚Spielgesichts‘ zusammen. Als Spielgesicht bezeichnet man in der Verhaltensforschung ein spezifisches Ausdrucksverhalten, das Sicherheit signalisiert und zum Spielen auffordert. In Anlehnung an einige Überlegungen Gregory Batesons werde ich dieses Ausdrucksverhalten funktional näher bestimmen als eine ambivalenzerzeugende ‚Rahmung‘ der Kommunikation, die insbesondere dann notwendig wird, wenn in der Kommunikation Inhalte thematisch werden, die die Kooperation der Kommunikationsteilnehmer gefährden könnten. Diese Überlegung wird dann an drei literarischen Texten exemplifiziert. Die Texteigenschaften, die in diesen Beispielanalysen spezifiziert werden, fallen in den weiten Bereich dessen, was unter dem Namen ‚Fiktionalitätssignale‘ bekannt ist, bilden jedoch eine eigene Klasse unter ihnen. Das heißt: Die unter der Kategorie des ‚Spielgesichts‘ zusammengefassten Fiktionssignale können einer einheitlichen biologischen Erklärung zugeführt werden. (Eine andere Klasse mögen z.B. Texteigenschaften bilden, die Widersprüche oder Aporien herstellen und auf diese Weise signalisieren, dass etwas nicht ganz oder nicht nur so zu verstehen ist, wie es auf dem Papier steht, sondern auf anderes verweist, ohne dabei speziell scherzhafte Kommunikationsformen zu bemühen. Eine weitere Klasse könnten Gattungskonventionen und das mit ihnen verbundene Vorauswissen darstellen.) Die vorliegende Untersuchung ist insofern auch als Teil eines möglichen größeren Projekts zu verstehen, welches darin bestünde, das Abstraktionskonzept der ‚Fiktionalität‘10 literaturpsychologisch zu reformulieren; das heißt: auf die verschiedenen psychischen Programme zurückzuführen, die das Verständnis, dass etwas ‚fiktional‘ sei, erst hervorbringen.11

I. „Adaptationen im Lustmodus“12 Vom biologischen Standpunkt aus erscheinen Spiel, Kunst und Literatur auf den ersten Blick als nutzlos und überflüssig, da sie keine direkte über

Vgl. van Lawick-Goodall: Schimpansen, S. 228, und die Referate bei Gervais/Wilson: Laughter, S. 398, 410 f., und Boyd: Laughter, S. 6, 8. 10 Vgl. auch die verschiedenen fiktionalitätstheoretischen Beiträge im vorliegenden Band. 11 Vgl. Mellmann: Emotionalisierung, S. 450 f., und Eibl: Fiktionalität. 12 Formulierung nach Eibl: Adaptationen im Lustmodus. – Ausführlicher zu dem in diesem Abschnitt dargestellten Sachverhalt s. auch Eibl im vorliegenden Band.

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lebens- oder reproduktionsfördernde Funktion erfüllen. Diese scheinbare „Anomalie der Kunst“13 lässt sich aber auflösen, wenn man in Betracht zieht, dass auch die ontogenetische Entwicklung phylogenetischer Programme ein Selektionsproblem darstellt, das im Laufe der Evolution gelöst werden musste.14 Dies gilt zumindest für die so genannten ‚höheren Säugetiere‘, die vergleichsweise unfertig auf die Welt kommen und die genetisch angelegten Funktionen erst entfalten, d.h. die zugehörigen neuronalen Schaltkreise durch wiederholte Ausführung aufbauen und fixieren müssen. Wie aber ist das möglich, ohne dass das Individuum Gefahr läuft, durch die dysfunktionale Ausführung eines noch unfertigen Mechanismus sich oder anderen zu schaden? Die Evolutionspsychologen John Tooby und Leda Cosmides nehmen an, dass dieses Problem durch die Entstehung eigener Entwicklungsmechanismen15 gelöst wurde, die für eine Programmauslösung speziell in Situationen der Sicherheit sorgen.16 Folglich können die angeborenen Verhaltensprogramme nicht nur im ‚funktionalen Modus‘ – d.h. wenn die Situation ein bestimmtes Verhalten tatsächlich erfordert –, sondern auch im funktionsfreien, entpragmatisierten Modus ausgeführt werden. Dieser zweite Modus hat allein den Zweck, die genetischen Dispositionen in Abstimmung mit der jeweiligen ontogenetischen Umwelt zu ‚organisieren‘, d.h. noch unfertige Programme fertig zu stellen und bereits ausgebildete zu bestätigen, zu erweitern oder zu modifizieren.17 Zu den dazu nötigen (und für Spielverhalten typischen) Wiederholungen, Intensivierungen und Neukombinationen der betreffenden Verhaltensprogramme wird der Organismus motiviert durch ‚Lust‘.18 Der Lustimpuls ersetzt gewissermaßen das pragmatische Erfordernis einer bestimmten Verhaltensweise in Situationen, in denen es gerade nicht gegeben sein soll und die eben deshalb für eine nur ‚übende‘ Programmausführung besonders geeignet sind. Spielverhalten erscheint daher nutzlos (es wird von der aktuellen Situation nicht erfordert) und zugleich ganz ‚natürlich‘ (intrinsisch motiviert). Um ein Beispiel zu geben: Es dürfte in der Zeit unserer Vorfahren überlebensförderlich gewesen sein auf Bäume klettern zu können, z.B. um sich vor einer bestimmten Sorte natürlicher Feinde in Sicherheit zu bringen oder an bestimmte Nahrungsquellen zu gelangen. Entsprechend zeigen Kinder (und nicht nur sie) noch heute eine Neigung zum Bäumeklettern, der sie auch dann nachkommen, wenn sie kein bestimmtes Ziel damit verfolgen. 13 14 15 16 17

Dazu Tooby/Cosmides: Schönheit, S. 217 ff. Vgl. ebd., S. 228. Ebd., S. 230. Vgl. auch Mellmann: Emotionalisierung, S. 69 f. Vgl. Tooby/Cosmides: Schönheit, S. 230, zur Unterscheidung von ‚Funktions-‘ und ‚Organisationsmodus‘. 18 Vgl. ebd., S. 220 f., 227-234; Eibl: Animal poeta, S. 281 f., 310-342; Mellmann: Emotionalisierung, S. 69-74.

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Sie tun es einfach aus Spaß an der Sache – und entwickeln und verbessern auf diese Weise die motorischen Fertigkeiten, die das Bäumesteigen erfordert (auch wenn diese Fähigkeit in der aktuellen Gesellschaft gar keine Funktion mehr hat). Ähnliches lässt sich über die Leselust sagen: Wenn sich jemand mehrere Stunden mit einem Roman oder Gedichtband zurückzieht, ohne dabei eine andere Absicht zu verfolgen als die, ein paar angenehme Stunden zu verbringen (also nicht z.B. ein germanistisches Seminar vorzubereiten), dann wird er dabei unweigerlich eine Menge angeborener Dispositionen trainieren, auch wenn ihm das selbst gar kein Anliegen ist. Denn Dichtung gibt in der Tat zahlreiche Anlässe zum ‚organisierenden‘ Ausüben angeborener psychischer Programme: Eine ausführliche Landschaftsschilderung z.B. mag unsere angeborenen Auslöseschemata für Programme der Habitatwahl, Wanderung und explorativen Umwelterkundung beschäftigen; Abenteuerromane bedienen eine Reihe emotionaler Dispositionen zur Einschätzung gefährlicher Situationen; Liebesgeschichten appellieren in starkem Maße an die Empathiefähigkeit des Lesers; das Motiv der ‚verfolgten Unschuld‘ oder die Frage nach dem Mörder involvieren kognitive Algorithmen für die Analyse sozialer Konfliktsituationen; ein happy ending, ein tragischer Schluss oder ein ‚offenes Ende‘ spielen mit unseren angeborenen Gestalt­ erwartungen usw. usf. Der Mensch ‚spielt‘ in diesem Sinne ein Leben lang; und auch z.B. der laufende Fernseher im Altersheim entspricht noch dieser Form zweckfreier Programmausübungen. Trotzdem verbinden wir Spielverhalten vor allem mit Kindheit und Jugend und man kann wohl sagen, dass die Spielfreude mit zunehmender Entwicklung des Organismus leicht abnimmt, oder wenigstens, dass spielerische Aktivitäten im Erwachsenenalter nicht mehr ganz den Raum und die Bedeutung einnehmen, die ihnen in Kindheit und Jugend zukommen. Dies liegt wohl nicht nur daran, dass die bio­ logische Notwendigkeit, Unfertiges fertig zu stellen, mit zunehmendem Lebensalter abnimmt, sondern auch daran, dass die biologische Funktion der Gehirnorganisation durch kulturelle Zwecke überlagert werden kann. So kann man z.B. lesen, um sich zu bilden, Sport treiben, um ‚fit‘ zu bleiben, oder nachdenken, um die Menschheit voranzubringen. Solche kulturellen Zweckbestimmungen setzen den Lustfaktor zwecklosen Verhaltens nicht automatisch außer Kraft, aber sie können zur Folge haben, dass ein solches Verhalten nicht mehr in allen Fällen freiwillig und nicht mehr ausschließlich in Situationen der Muße stattfindet. Man denke etwa an den Schulsport oder die allabendliche Vorstellung eines Zirkusartisten, an das Lesepensum eines Buchrezensenten oder an terminlich festgesetzte Rituale und Vereinsveranstaltungen. All diese Tätigkeiten sind aus biologischer Perspektive noch immer dem Organisationsmodus, d.h. einer vom ursprünglichen adaptiven Zweck der Verhaltensprogramme abgekoppelten

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Programmausführung zuzuordnen; aber Erziehungs- und Bildungsziele, Gesundheitspflege, Professionalisierung und Tradition können eine ‚sekundäre Ernsthaftigkeit‘19 mancher ursprünglich spielerischer Verhaltensweisen bewirken. Und schon ohne solche kulturell gesetzten ‚höheren Zwecke‘ ist dem Spiel ein gewisser Ernst zu eigen, der an der einfachen Entgegensetzung von ‚Spiel‘ und ‚Ernst‘ zweifeln lässt. Nicht nur, wer an eine – im emphatischen Sinne – ‚tiefere Wahrheit‘ glaubt, die sich im ‚wahren Kunstwerk‘ offenbart, also einen kulturell begründeten ‚Ernst‘ mit Literatur verbindet, sondern auch der Konsument eines trivialen Unterhaltungsromans muss, um in den vollen Genuss zu kommen, die dargestellten Sachverhalte in irgendeinem Sinne ‚ernst nehmen‘.

II. Illudierung Die Tatsache, dass ein Leser sich auf die Fiktion ‚einlassen‘ muss, um in den vollen Genuss des ‚Spielens‘ zu kommen, ist unter Begriffen wie „Illusion“,20 engl. „immersion“, „make-believe“ oder auch „willing suspension of disbelief“ vielfach erörtert worden. Um die irreführende Konnotation einer ‚(Selbst-)Täuschung‘ zu vermeiden, spreche ich im Folgenden nicht von „Illusion“, sondern leicht abwandelnd von „Illudierung“ und meine damit eben jenen Prozess des unwillkürlichen Hineingleitens in das ‚Als-Ob‘ einer fiktiven Wirklichkeit. Das anschauliche Bild des ‚Versinkens‘ („immersion“) umschreibt diesen Sachverhalt recht gut, sofern man hinzudenkt, dass es sich nicht um ein finales Versinken handelt, sondern ein ‚Auftauchen‘ jederzeit möglich ist.21 Grundsätzlichere Bedenken habe ich gegen die Formulierungsvorschläge der so genannten Make-Believe-Theorie.22 Denn der Begriff der ‚Überzeugung‘ („belief“) im Sinne einer für wahr gehaltenen Proposition bezeichnet einen tendenziell bewussten mentalen Inhalt, und die Rede von einem ‚Glaubenmachen‘ oder von einem ‚freiwilligen Aufgeben‘ der eigentlichen Überzeugung suggeriert einen bewussten kognitiven Akt, in dem etwas eigentlich schon als falsch Erkanntes trotzdem als eine Art Pseudowahrheit zugelassen wird. Ich glaube nicht, dass dieser Prozess wirklich so stattfindet, und vor allem nicht, dass er bewusst stattfindet. Meiner Ansicht nach stellt sich die Pseudowahrheit der fiktiven Scheinwelt mit all ihrer sinnlichen Evi19 Eibl: Zwei Kulturen, S. 38-47. 20 Zur Theorie der Illusion s. umfassend Wolf: Illusion. 21 Siehe auch Mellmann: E-motion, par. 19, mit einer Diskussion des engl. Begriffs „absorp­ tion“. 22 Vgl. auch meine Kritik in Mellmann: Attrappe.

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denz spontan und ganz von selbst ein, ohne einen bewussten Willensakt; und ohne schon zwingend einen expliziten Bewusstseinsinhalt der Art, dass diese Wahrheit eben nur eine scheinbare sei, zu erzeugen. Dieses Bewusstsein mag während des Lesens mitunter hinzutreten, erfolgt aber keineswegs immer, sondern nur unter bestimmten Bedingungen (z.B. bei starken Divergenzen oder gar Widersprüchen von Schein- und wirklicher Welt). Gregory Bateson war offenbar derselben Ansicht und hat in diesem Sinne zwischen ‚primären‘ (spontanen) und ‚sekundären‘ (bewussten) psychischen Prozessen beim Spielen unterschieden: Die Unterscheidung zwischen ‚Spiel‘ und ‚Nichtspiel‘ ist wie die Unterscheidung zwischen Phantasie und Nichtphantasie mit Sicherheit eine Funktion des Sekundärprozesses oder des ‚Ich‘. Im Traum ist sich der Träumer gewöhnlich nicht bewußt, daß er träumt, und innerhalb des Spiels muß er oft daran erinnert werden, daß dies ‚ein Spiel ist‘. Ähnlich operiert der Träumer innerhalb des Traums oder der Phantasie nicht mit dem Begriff ‚unwahr‘. Er operiert mit allen möglichen Behauptungen, ist dabei aber erstaunlich unfähig, zu Metabehauptungen zu gelangen. Er kann, solange er sich nicht kurz vor dem Erwachen befindet, keine Behauptung träumen, die sich auf seinen Traum bezieht (d.h. ihm einen Rahmen gibt).23

Der Spieler, solange er spielt, versinkt also gewissermaßen ganz und gar in der Scheinwelt des Spiels, so wie der Träumer, solange er träumt, keine andere Wirklichkeit als die des Traums kennt. Kennt er sie (und kann den Traum als Traum identifizieren), träumt er schon nicht mehr. Auch der Spieler, der sich daran erinnert, dass etwas nur Spiel sei, unterbricht seinen ‚illudierten‘ Zustand mutwillig, z.B. um einer unangenehmen Empfindung, die mit dem Spiel verknüpft ist, zu entkommen. Ähnlich mag ein Kinobesucher sich in einem Moment zugemuteter Rührung, offenkundiger Absurdität oder Ähnlichem daran erinnern, dass es ja nur ein Film sei, was er da sieht. Und auch Brechts „V-Effekt“ hatte – jedenfalls der Theorie nach – genau diesen Zweck einer Unterbrechung des Illudierungsprozesses. Von solchen Mitteln der „Illusionsstörung“, die den Illudierungsprozess momenthaft außer Kraft setzen, möchte ich im Folgenden eine andere Verfahrensweise unterscheiden, deren Wirkung sich im Unterschied dazu nicht als ‚sekundärer‘ Bewusstseinsakt, sondern als ebenfalls ‚primärer‘, mehr oder weniger unbewusster Prozess vollzieht und Schein und Wirklichkeit nicht alternativ, sondern in einer Art intuitiv verstandener Ambivalenz vergegenwärtigt.

23 Bateson: Theorie des Spiels, S. 250 f.

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III. Spielgesichter Bateson gibt ein sehr anschauliches Beispiel für einen Illudierungsprozess: Poker-Spieler erreichen einen eigentümlichen Realismus, indem sie die Chips, um die sie spielen, mit Dollars gleichsetzen. Sie bestehen jedoch auch noch darauf, daß der Verlierer seinen Verlust als Teil des Spiels anerkennt.24

Der „eigentümliche Realismus“ des illudierten Zustandes mag zunächst durchaus rational erscheinen, da die Chips nach dem Spiel in Geld zurückgetauscht werden und zuvor auch für Geld gekauft wurden. Allerdings gilt die psychische Einstellung im illudierten Zustand tatsächlich den Chips und nicht dem durch sie repräsentierten Geld. Einem Spieler, der während des Spielens nur ans Geld denkt, würde man eine ‚wahre‘ spielerische Einstellung wohl mit gutem Recht absprechen; er verhielte sich dann nicht anders als bei einem Börsengeschäft. (Während sich manche Börsenspekulanten eher wie Spieler als wie Geschäftsleute verhalten, zumal wenn es nicht ihr eigenes Geld ist, das sie dabei einsetzen.) Aber Batesons Beispiel weist auch noch auf einen anderen wichtigen Aspekt speziell des sozialen Spiels hin: Spiel im Sinne einer bestimmten Form sozialer Interaktion funktioniert nur unter der Bedingung, dass beide Spieler spielen wollen, dass sie als Spielpartner kooperieren. Manche Spiele aber können in ihrem Verlauf Ereignisse mit sich bringen, die negative Emotionen hervorrufen – wie etwa der Verlust von Geld/Chips – und dadurch die kooperative Basis des Spiels gefährden. Dies wirft notwendig die Frage nach dem Verhalten der Spieler auf: Welche Verhaltensweisen sind geeignet, die basale Kooperation aufrechtzuerhalten, und welche zerstören sie? Nehmen wir zwei Spieler G und V an, einen Gewinner und einen Verlierer. Beide lassen sich so weit illudieren, dass sie den Chips gegenüber dieselbe psychische Einstellung zeigen wie im wirklichen Leben dem Geld gegenüber: ein hoher Stapel weckt freudige, ein abnehmender Stapel schmerzvolle Gefühle. Sie können nun (1) ihren Emotionen freien Lauf lassen, riskieren damit aber, dass das Spiel schnell beendet ist, da mindestens V bald keine Freude mehr daran haben wird. Aber sie können ihren Emotionsausdruck auch (2) kontrollieren und etwas dämpfen oder gar (3) völlig neutralisieren, wie Poker-Spieler es zu tun gehalten sind. In beiden Fällen würden G und V also nicht ‚authentisch‘ reagieren, sondern ein künstliches, ‚gespieltes‘ (vorgetäuschtes) Verhalten an den Tag legen. In Fall 3 wäre das im Sinne der Spielregeln, würde also gewissermaßen zur Spielfiktion dazugehören und die Illudierung nicht stören. In Fall 2 hingegen entspräche der verfälschte Gefühlsausdruck einem Zugeständnis an die spielexterne Wirklichkeit, und bei einem beliebigen anderen Kartenspiel als dem Poker würde man 24 Bateson: Theorie des Spiels, S. 248.

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mir wohl zustimmen, wenn ich sage, dass das miserable Spieler wären! Sie würden sich (qua psychischem ‚Sekundärprozess‘) ständig bewusst halten, dass sie ‚nur spielen‘ und ihre Illudierung damit erheblich behindern. Ihr Spiel wäre keines mehr, jedenfalls nicht im Sinne einer entpragmatisierten Situation, sondern höchstens noch im Sinne einer von Spielregeln geleiteten Aktion. Aber es gibt noch eine vierte Möglichkeit:25 Denken wir uns, beide Spieler zeigten (4) wiederum ein ‚gespieltes‘, diesmal jedoch kein gedämpftes, sondern ein verstärktes Ausdrucksverhalten, z.B.: G reißt schon beim geringsten Anzeichen guter Spielchancen jubelnd die Arme in die Höhe, und V bricht schon bei kleinen Verlusten in lautes Wehklagen und verbale Attacken aus. Beide Spieler würden ein der Situation annähernd, aber nicht ganz adäquates Ausdrucksverhalten zeigen und dadurch die tatsächlich damit verbundenen Emotionen gewissermaßen parodieren. Bateson sieht in solchen Fällen eine dritte Gruppe von Zeichen am Werk: Neben ‚authentischen‘ und ‚gespielten‘ Emotionssignalen gebe es drittens Signale, die eine Unterscheidung zwischen diesen beiden ermöglichen. Die beschriebenen Intensivierungen und Übertreibungen können in diesem Sinne als (den gespielten Zeichen inhärente) Unterscheidungssignale verstanden werden, die über ihre Unangemessenheit auf eine Differenz von Spiel und Wirklichkeit verweisen. Sie machen aus der ‚fiktiven‘ Spielsituation erst eine besondere, von der äußeren Situation unterschiedene Kommunikationssituation. Bateson spricht in diesem Zusammenhang bildlich von einer ‚Rahmung‘ der Spielsituation im Sinne einer Abgrenzung von der äußeren.26 Man könnte nun in Rückbezug auf das Kooperationsgebot sagen, die Spieler zeigten mit ihren Übertreibungen, dass sie sich ‚nicht wirklich‘ freuen bzw. ärgern (sondern nur ihren jeweiligen Part innerhalb des Spiels erfüllen). Dies wäre jedoch eine etwas problematische Rekonstruktion der mentalen Vorgänge. Denn sollten die Spieler tatsächlich (qua ‚Sekundärprozess‘) darauf reflektieren, wie der andere ‚wirklich‘ fühlt, dann müssten sie wohl eher zu dem Ergebnis kommen, dass er sich wirklich freut/ärgert (und nicht vielmehr nicht), wenn auch vielleicht etwas weniger als vorgegeben. Auf der anderen Seite aber wird ihnen doch irgendwie nahegelegt, dass der andere sich ‚nicht wirklich‘ freut/ärgert, oder richtiger: dass das gezeigte Ausdrucksverhalten irgendwie ein ‚nicht wirkliches‘ ist. Auf diese Weise wird eine Art Ambivalenz von ‚Sein‘ und ‚Schein‘ hergestellt, die allerdings asymmetrisch ist insofern, als die Seite des ‚Seins‘ im illudierten Zustand implizit bleiben kann, während die Seite des ‚Scheins‘ Gegenstand der aktuellen (illudierten) Erfahrung ist. 25 Das sind freilich Schematisierungen. Eine empirische Untersuchung eines tatsächlichen Spielakts würde wohl Elemente von allen hier aufgezählten Möglichkeiten finden. 26 Bateson: Theorie des Spiels, S. 252-257.

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Dieses intuitive Wissen um eine Nichtwirklichkeit, ein bloßes ‚Als-ob‘, eine gelinde Unstimmigkeit, das sich nur äußerst schwer in Form mentaler Inhalte beschreiben lässt, weist m.E. auf das Wirken eines angeborenen Mechanismus hin, der eben nicht nach den Regeln der menschlichen Ratio, sondern der biologischen Selektion entstanden und einer mentalistischen Rekonstruktion daher kaum zugänglich ist. Es scheint sich eher um eine Art ‚sinnlicher‘ oder ‚Gefühlserkenntnis‘ zu handeln: Die beteiligten Spieler wissen einfach, wie das Verhalten des anderen zu verstehen ist, auch wenn sich dieses Verständnis nur schwer verbalisieren lässt. Ich vermute, dass dieses intuitive Verständnis das Resultat eines komplexen sozialen Verhaltensprogramms ist, das in Situationen von sozial bedingtem Stress27 so lange wie möglich ein Kooperationsangebot aufrechterhält. Denn wie das Beispiel gezeigt haben sollte, wird ein Spielsignal im Sinne von Batesons dritter Zeichengruppe nur dann nötig, wenn die Kooperation der Spielteilnehmer durch den Verlauf des Spiels gefährdet wird. In einem Spiel, in dem alle Teilnehmer gewinnen können, wäre ein Hinweis auf den Spielcharakter und die damit vorgenommene ‚Rahmung‘ einer besonderen Kommunikationssituation überflüssig. Ähnliches gilt für typische Fang-, Kitzel-, Jagd- und Kampfspiele, wie sie bei Jungtieren und Kindern stattfinden. Solche Spiele imitieren Verhaltensabläufe, die in der Wirklichkeit (d.h. im ‚funktionalen‘ Modus der Programmausführung) mit einer Gefährdung verbunden wären. Auf diese Spiele und die in ihnen erforderte ungeschützte Nähe kann man sich deshalb nur einlassen, wenn durch eine gewisse Verfremdung des Verhaltens von Anfang an signalisiert wird, dass der Angreifer nicht wirklich angreifen (zubeißen, schlagen, töten, fressen etc.) wird. Die aktuelle Feststellung, dass ein Zwicken eben kein Beißen und die beiden Akte damit ausreichend unterschieden sind, käme für das Tier/Kind, das den Part des Angegriffenen übernimmt, zu spät; es muss schon vorher wissen, ob ein Angriff ernst gemeint ist oder nicht, um sich gefahrlos darauf einlassen zu können.28 Dies lässt sich erreichen durch eine kontinuierliche Verfremdung des Verhaltens, oder auch durch eine initiale Spielaufforderung qua ‚Spielgesicht‘, das ‚Sicherheit‘ signalisiert. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass Spiel- und Scherzverhalten gemeinsame evolutionäre Wurzeln haben29 und die eminente Ähnlichkeit 27 Zu diesem Situationsschema s. Eitzen: Film comedy, darauf aufbauend Mellmann: Emotionalisierung, S. 332-337, und von biologischer Seite unter dem Namen „nonserious social incongruity“ Gervais/Wilson: Laughter, S. 399, 403, 408 f., 412-415, 418 f. Zur Inkongruenztheorie allgemein Kindt: Komik. 28 Vgl. Bateson: The message, S. 181, und Boyd: Laughter, S. 8. 29 Vgl. Gervais/Wilson: Laughter, S. 403, 407 f., 410-416; ferner Boyd: Laughter, S. 9 f. Boyd sieht die verbindende Gemeinsamkeit zwischen (sozialem) Spiel und Scherzverhalten im überraschungsintensiven ‚Spiel mit Erwartungen‘ (S. 10, 13) und entwickelt daraus ein Lachreizschema (S. 10-12, 16-18), das sich gut vermitteln lässt mit dem von mir als Auslöser

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zwischen Signalverhalten für pragmatisch entlastete Situationen und emotionalem Ausdrucksverhalten in unschwerwiegenden Stresssituationen keine zufällige ist.30 Sie erstreckt sich vielmehr über ein noch viel breiteres Verhaltensspektrum des Scherzens als hier exemplifiziert wurde: ‚Spielgesichter‘ spielen auch eine wichtige Rolle im zwischengeschlechtlichen Werbungsverhalten,31 in ganz entspannten geselligen Situationen wie z.B. einer Abendessenrunde, beim Klatsch32 mit den Kollegen – kurz: überall, wo viel gelacht wird. Denn die Lachreaktion ist gewissermaßen das natürliche Pendant zum aktiven Scherzverhalten, und ein lachendes (oder lächelndes)33 Gesicht zu zeigen erfüllt dieselbe Funktion des Aufrechterhaltens eines basalen Kooperationsangebots wie das Scherzverhalten in Stresssituationen; selbst dann noch, wenn der Gesichtsausdruck ‚bewusst‘ eingesetzt wird und nicht als ‚authentische‘ emotionale Reaktion erfolgt.34 Wenn zum Beispiel V einer Verbalattacke ein entschuldigendes Lächeln hinterherschickt, bedient er sich in einer Art Mimikry noch immer desselben Ähnlichkeitsprinzips, das den gesamten Verhaltenskomplex des Spielens, Scherzens und Lachens organisiert. Kommen wir zurück zur Literatur: Literatur ist ‚spielerisch‘ nicht nur in dem allgemeinen Sinne, dass sie eine scheinbar nutzlose, aber lustintensive Beschäftigung stimuliert, sondern auch in dem spezifischeren Sinne, dass das in ihr Dargestellte ‚nicht wahr‘ ist, d.h. irgendwie ‚mehr‘ oder ‚anderes‘ darstellt als die gewöhnliche Wirklichkeit, und dass der Leser dies stets irgendwie ‚weiß‘. Dieses intuitive Wissen in Form einer latenten Metainformation „Dies ist Fiktion/Kunst/unwahr/etc.“35 kann freilich jederzeit in explizites Wissen umgewandelt und zum Ausgangspunkt elaborierter Reflexionen über den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Dichtung gemacht werden. Ein solcher ‚sekundärer‘ Bewusstseinsprozess muss jedoch nicht stattfinden. Viele Leseprozesse, insbesondere im Bereich der Unterhaltungsliteratur, dürften ganz ohne solche Reflexionsprozesse auskommen, und der rein illudierte Leser ist zunächst als Standardfall belletristischer Lektüre anzusehen. Doch es gibt Texteigenschaften, die eine sekundäre Reflexion auf die Kunst/Wirklichkeits-Unterscheidung erzwingen oder zumindest wahrscheinlich machen können. Man denke z.B. an historische Romane oder

30 31 32 33 34 35

nach dem „nonserious social incongruity“-Schema (s. Anm. 27) vorgeschlagenen eines ‚unschwerwiegenden Fehlers‘ (Mellmann: Emotionalisierung, S. 272, 275 f., 336 f.). Vgl. ebd., S. 333 f. Vgl. den Überblick bei Tisljar/Bereczkei: Humor, S. 304-306. Vgl. Gervais/Wilson: Laughter, S. 419. Lachen und Lächeln sind unterschiedlichen evolutionären Ursprungs (vgl. Boyd: Laughter, S. 9), wurden aber offenbar beide in das komplexe System des Scherzens integriert (vgl. Gervais/Wilson: Laughter, S. 418). Die Unterscheidung von emotionalem und strategischem Lachen wurde erstmals systematisch ausgearbeitet von Gervais/Wilson: Laughter (bes. S. 400 f., 418 ff.). An dieser Stelle danke ich sehr herzlich Robert Vellusig für den Hinweis auf den Aufsatz. Vgl. Eibl: Fiktionalität.

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an Literatur mit einem stark moraldidaktischen Anliegen: Solche Literatur thematisiert Wissensbestände, Werthaltungen, soziale Situationen etc., die dem Leser auch unabhängig von der Lektüre dieses Werks geläufig sind, und fordert ihn förmlich dazu auf, einen Vergleich zwischen literarischer Darstellung und seiner eigenen Sicht auf die Dinge vorzunehmen. Auch dieser Herausforderung mag er noch widerstehen, solange es zu keiner Abweichung des einen vom anderen kommt. Erst Unstimmigkeiten gegenüber dem eigenen Wissen, Divergenzen in Werthaltungen u.Ä. machen es unvermeidlich, dass der Leser zumindest auf den Unterschied zwischen Ich und Autor/Figur reflektiert, wenn nicht – je nach künstlerischer Komplexität der Dichtung – gar auf die ‚tiefere Wahrheit‘ der abweichenden Darstellung. Mir geht es im Folgenden um einen ganz bestimmten Typus von Dichtung, der zwar solche ostentativen Abweichungen von werkexternen Normen aufweist, den damit provozierten Sekundärprozess jedoch zugleich zu unterbinden und den Leser im Zustand weitgehender Illudierung zu belassen versucht. Das Mittel zu diesem Zweck ist die poetische Strategie des ‚Spielgesichts‘, die sich auf die Fähigkeit des Lesers zum intuitiven Verständnis scherzhaften Verhaltens stützt.

IV. Literarische Sprecher mit Spielgesicht Scherzhafte Literatur kommt nicht ohne die Imagination eines persönlichen Sprechers aus. Jede Sorte Literatur freilich erzeugt allein schon durch den Umstand, ‚dass jemand zu uns spricht‘, das mentale Bild eines solchen ‚Jemand‘ im Leser. Dieses Bild bleibt jedoch in vielen Fällen recht blass, als Vorstellung einer anonymen ‚Stimme‘ und ohne differenziertere Imaginationen über die Person des Sprechers nach sich zu ziehen. Scherzhafte Dichtung hingegen muss, wenn die Technik des poetischen Spielgesichts funktionieren soll, erfolgreich eine bestimmte soziale Adaptation des Lesers abrufen, d.h. eine parasoziale Verbindung zum Leser herstellen, die zwangsläufig den psychopoetischen Effekt36 eines scherzenden Gegenübers mit sich bringt. Ich werde mich im Folgenden mit drei literarischen Sprechern befassen, die in diesem Sinne vom Leser zu vollgültigen ‚Persönlichkeiten‘ ausstaffiert werden. Das besondere an diesen scherzhaften Sprecher-Imagines ist, dass sie als eine Art ostentativ adaptierte ‚Rolle‘ des Autors erscheinen, d.h. die Instanz des Autors der figürlichen Sprechinstanz des ‚Ich‘ bereits inhärent ist. Die Unterscheidung von ‚Erzähler‘ und ‚Autor‘ ist bekanntermaßen eine künstliche Unterscheidung des analytischen Umgangs mit Literatur, die bei der privaten Genusslektüre weitgehend vernachlässigt werden kann. 36 Vgl. Mellmann: Emotionalisierung, S. 99-103, und Mellmann: Objects of „empathy“.

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Vernachlässigung heißt hier: ‚Erzähler‘ und ‚Autor‘ werden synthetisiert zu einer Person, die mit dem im Text abgreifbaren Erzähler/Sprecher identisch ist.37 Erst wenn sich z.B. Inkongruenzen zwischen den Perspektiven des Lesers und dieses Sprechers ergeben, ist der Leser gezwungen, darüber nachzudenken, was denn wohl der Autor denkt. Und eine solche Reflexion wäre wieder ein bewusster Sekundärprozess. Für die folgenden Beispiele scherzhafter Dichtung hingegen hoffe ich plausibel machen zu können, dass ein (im Sinne des illudierten Primärprozesses) ‚intuitives‘ Wissen um die Differenz von figürlichem Sprecher-Ich und Autor von Anfang an im Leser präsent ist. IV.1. Entpflichtung der Rede Ich beginne mit einem Problem, mit dem sich Friedrich Hagedorn 1729 konfrontiert sah: In seinem Bemühen, Oden nach dem Vorbild des Horaz zu dichten, hatte er zwangsläufig auch mit den zugehörigen Stoffen umzugehen und fürchtete, dass seine Gedichte in mancher Hinsicht „verwerfflich“38 scheinen und viele Lesern sich „vor diesen altheidnischen Ideen“,39 diesen „sonst unbrauchbare[n] Fabeln des Alterthums“,40 „eckeln“41 könnten; namentlich vor dem Auftritt des Bacchus in seiner Ode Der Wein. Er habe deshalb gezögert, schreibt er in seiner Vorrede, diese Ode in seine Sammlung Versuch einiger Gedichte aufzunehmen, habe sich aber schließlich doch entschlossen, sie „unzerstümmelt herzusetzen“ und darauf zu vertrauen, dass seine Leser „das Falsche von dem Erdichteten behutsam unterscheide[n]“ werden.42 Die Darstellung des nacktbäuchigen, mit einem Pantherfell bekleideten Bacchus war in der Tat geeignet, vom zeitgenössischen Publikum als Angriff auf den guten Geschmack, als Verletzung des Decorum empfunden zu werden. Aber im Unterschied zum horazischen Vorbild (Carmina III,25), das gerade einmal fünf Strophen zu je vier Versen umfasst, besteht Hagedorns Ode aus 33 Strophen zu je zehn Versen, von denen nur zehn von der Vision eines Bacchusfestes handeln (nur vier davon sind im ‚erhabenen‘ Stil gehalten, und nur zwei davon schildern die Epiphanie des Bacchus); der verbleibende Rest von 23 Strophen dient vor allem der Charakterisierung des Sprechers, dem diese Bacchus-Vision zustößt. Ich gebe einige Beispiele aus den ersten beiden Strophen.43 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. Dixon/Bortolussi: Communication, S. 407 f. Hagedorn: Versuch, S. xv. Ebd., S. xv. Ebd., S. xiv. Ebd., S. xv. Ebd., S. xv. Eine ausführliche Analyse der Ode bei Mellmann: Emotionalisierung (Anm. 18), S. 280-297;

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Die Ode beginnt als ein Lobgedicht auf den Wein und gestaltet eine konkrete Sprechsituation aus, wo bei Horaz nur zwei Wörter stehen („Quo me, Bacche, rapis tui | plenum?“). Hagedorns Sprecher ist allerdings noch nicht ‚voll‘ von den Segnungen des Bacchus, sondern spricht sein Lob noch vor dem Genuss, gewissermaßen als Trinkspruch im Moment des Glaserhebens aus: So brausender, als süsser Most! Du jährend Marck der schlancken Reben! Geschenck des Bacchus: Nectar-Kost! Laß dein Verdienst den Reim erheben. Du feuerreicher Götter-Safft! Auf! gib allhier den Worten Kraft: Auf! laß mir Wort und Reim gelingen. Und, weil dein Einfluß, Trieb und Geist So oft und manche singen heist, Auch hier die frohe Muse singen. Du liebst die Wahrheit und es soll Mein Reim sich bloß mit Wahrheit schmücken. Ist mein Gedicht nicht Anmuhts-voll, So darfs der Eckel nicht erblicken. Es muß, die Reben zu erhöhn, Nicht jedes Wort auf Steltzen gehn, Um Reim und Ausdruck aufzuschwellen. Des Einfalls Krafft, der Wahrheit Flug Ist dort schon starck, hier hoch genug Den Wein natürlich vorzustellen.44

Dass der Sprecher ‚süßen‘, ‚gährenden‘ Most trinkt, lässt vermuten, dass er nicht allein ist, denn der noch unfertige Mostwein wird für gewöhnlich dort, wo er hergestellt wird, d.h. im geselligen Rahmen eines regionalen Festes getrunken. (Die anderen Teilnehmer der Runde finden im Gedicht keine Erwähnung; umso mehr aber kann der Leser sich selbst an diese Stelle denken.) Die hymnisch-feierliche Apostrophe bezieht sich folglich nicht auf den Wein als Honoratiorengetränk, sondern auf den süßen Federweißen (dessen ‚brausender‘ und ‚feuerreicher‘ Charakter noch eigens hervorgehoben wird) und mag insofern schon leicht unangemessen oder wenigstens als stark ritualisierter Sprechakt wirken. Die launige Geste des Trinkspruchs wird unterstützt von einer Reihe ‚witziger Fehler‘45. So wird z.B. mit der Formulierung „feuerreicher Göttersaft“ ein poetologisches Stichwort aufgerufen: das „Feuer“ der Inspiration, das Hagedorn in seiner Vorrede als Metapher für den furor poeticus des hier nur einige Stichworte. 44 Hagedorn: Versuch, S. 13. 45 Vgl. Anm. 29 zur Technik des ‚unschwerwiegenden Fehlers‘.

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Odensängers eingeführt hatte.46 Analog dazu soll auch das ‚feurige‘ Getränk „den Worten Kraft“ geben – allerdings hat die ‚inspirierende‘ Wirkung des Alkohols bekanntlich nicht nur unbedenkliche Folgen. Es folgt eine grammatisch ambivalente Konstruktion in der Formulierung „dein Einfluß, Trieb und Geist“: Gemeint ist offenbar des Weines „Einfluß“ im Sinne von ‚Inspiration‘ und des Dichters „Trieb“ und „Geist“ im Sinne des ingenium. Die asyndetische Zusammenziehung der beiden unterschiedlich attribuierten Eigenschaften verleitet jedoch zu dem Verständnis, hier sei von des Weines „Einfluß, Trieb und Geist“ die Rede, und weckt die Assoziationen des ‚Wein-Einflusses‘ (im Sinne von ‚Einschenken‘), seiner ‚an-‘ oder ‚auftreibenden‘ Wirkung und seines alkoholischen ‚Geistes‘. Die Verdachtsmomente gegen die Honorität des Sprechers verdichten sich, wenn er – nun in eindeutig scherzhafter Absicht – argumentiert, dass der Wein „[s]o oft und manche singen heißt“. Das Wort „singen“ fächert hier gleich drei mögliche Bedeutungsvarianten auf: das ‚Singen‘ als Euphemismus für ‚Dichten‘ (das erhabene Dichten im Ton der Ode, des ‚Liedes‘), das Liedersingen in geselliger Runde (das Singen der ‚frohen Muse‘) und das ‚Singen‘ im Sinne des Grölens Betrunkener (worauf verstärkend die Formulierung „so oft und manche“ hinweist). – Die zweite Strophe gibt einen metapoetischen Kommentar zu dem hier angeschlagenen Ton: Das Gedicht sei zwar vielleicht rhetorisch nicht sehr erlesen („Anmuhts-voll“), doch auch nicht abscheuerregend („Eckel“) – wie Hagedorn in der Vorrede befürchtet hatte, dass es sein könnte. Der hohe Stil („auf Steltzen gehn“) sei für ein Loblied auf „die Reben“ unangemessen, aber „[d]es Einfalls Krafft“ und „der Wahrheit Flug“ fehlten auch seinem Gedicht nicht. Das angemessene Stilniveau, um „[d]en Wein natürlich vorzustellen“, ist folglich das genus medium, der unterhaltende, ‚witzige‘, scherzhafte Ton. Hagedorn entwickelt im Beginn seiner Ode also eine scherzhafte, ritualisierende bis parodierende Sprechhaltung, die zudem den imaginären Kontext einer geselligen Sprechsituation evoziert. Die gelehrten Argumentationen des Sprechers weisen gleich zu Beginn einige Inkonsistenzen und Präzisionsmängel auf, die alles Weitere, das er noch sagen mag, unter einen gewissen Vorbehalt stellen; d.h. es wird – ganz im Sinne von Batesons dritter Zeichengruppe – eine Differenz zu etwas ‚Eigentlichem‘, ‚Richtigen‘ signalisiert. Diese Technik eignet sich hervorragend, um die im Folgenden thematisierten Inhalte der Dichtung aus dem realistischen Kontext des „sonst“, in dem sie ‚unbrauchbar‘ wären,47 herauszulösen und als poetisches Spielmaterial zu kennzeichnen. Man kann hier mit gutem Grund von einer ‚Entpflichtung‘ der Rede, einer Art ‚Emeritiv‘,48 sprechen. Denn es wäre 46 Hagedorn: Versuch, S. xi f. 47 Wie Anm. 40. 48 Vgl. Eibl: Animal poeta, S. 340-346.

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äußerst schwierig zu sagen, was die Darstellung des Bacchus denn nun für die werkexterne (christlich-abendländische) Realität bedeuten soll, d.h. einen (expliziten) Rückbezug zur spielexternen Situation herzustellen. Aber dies ist auch vollkommen überflüssig; es genügt zu erkennen, dass diese Darstellung ‚nur Spiel‘ ist, um jedenfalls falsche Schlüsse49 zu verhindern; und damit ist der Weg frei für eine ungefährliche, ‚Harm-lose‘ Illudierung mit den dargestellten Inhalten. Illudierung heißt jedoch nicht, dass der launige Sprecher des Gedichts beim Wort genommen, d.h. als so ‚dumm‘, wie er sich gibt, verstanden wird. Die ritualisierte Sprechsituation eines geselligen Toasts impliziert vielmehr auch, dass der Sprecher in diesem Augenblick nicht ganz ‚mit sich identisch‘ ist, d.h. den Regeln eines Spiels gehorcht, in dem sein ‚wahres Wesen‘ nicht vollkommen aufgeht. Das damit implizierte ‚eigentliche‘ Ich entspricht dann wieder der auktorialen Grundposition des Sprechers/Erzählers, die im Sinne der synthetischen Sprecher-Imago50 mit dem Autor identisch ist. Auf diese Weise, kann man sagen, schimmert der Autor Hagedorn in diesem Sprechakt durch; nicht nur der anonyme Sprecher adaptiert anlässlich des Toasts eine Rolle, sondern auch Hagedorn anlässlich des Gedichts. IV.2. Mimikry (‚eigentliche‘ Ernsthaftigkeit) Der Sprecher der Heineschen Gedichtsammlung Deutschland – Ein Wintermärchen ist kein jovialer Redner, auch kein Witzemacher, Spaßvogel oder sonst eine Unterart des scherzhaften Sprechers, sondern ein Melancholiker. Ein Melancholiker allerdings, der zuweilen das Opfer unfreiwilliger Komik wird: Im traurigen Monath November war’s, Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub, Da reist’ ich nach Deutschland hinüber. Und als ich an die Grenze kam, Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen In meiner Brust, ich glaube sogar, Die Augen begunnen zu tropfen. Und als ich die deutsche Sprache vernahm, Da ward mir seltsam zu Muthe; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz Recht angenehm verblute.51 49 Vgl. Hagedorns Hoffnung, der Leser werde das ‚Falsche‘ vom ‚Erdichteten‘ schon zu unterscheiden wissen (wie Anm. 42). 50 Vgl. Anm. 37. 51 Heine: HKGA, Bd. 4, S. 91.

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Schon der Typus des Melancholikers, der vieles zwar nicht grundsätzlich falsch, aber wohl doch verzerrt sieht, erfüllt die Bedingung eines in mancher Hinsicht ‚unzuverlässigen‘ Sprechers. Dieser Eindruck wird verstärkt durch mehrere kleine Fauxpas, die ihm unterlaufen: Am auffälligsten sind wohl der Bruch mit dem Zeilenstil in dem Enjambement „ein stärkeres Klopfen | in meiner Brust“ (ausgerechnet an der Reimstelle) und die übertrieben ‚starke‘ (man möchte fast sagen: ‚starkdeutsche‘) Flexion „begunnen“. Hinzu kommen einige rhetorische Umständlichkeiten und Fehlgriffe. So ist die Rede vom „traurigen“ November wohl nicht nur eine Metapher für die im Folgenden erwähnten ‚trüben Tage‘ im Herbst, sondern zudem auch noch eine Enallage für ‚den Monat, in dem das Ich traurig war‘, und bildet auf diese Weise ein gedoppeltes, überfrachtetes Bild, das leicht ins Katachretische geht. Dass der Wind das Laub von den Bäumen ‚reißt‘ und die Augen ‚tropfen‘, sind zu aktions­betonte Formulierungen für so selbstläufige Vorgänge wie das ‚Fallen der Blätter‘ und schlicht ‚Weinen‘; im ersten Fall kommt es aus Rücksicht auf das Metrum außerdem zu einer Anastrophe („von den Bäumen das Laub“ statt „das Laub von den Bäumen“), womit poetischer Dilettantismus signalisiert wird. Ähnlich umständlich periphrastisch wie die genannten Fälle mutet die Formulierung vom ‚Klopfen in der Brust‘ für schlichtes ‚Herzklopfen‘ an. Kurz: Hier wird Unbeholfenheit signalisiert, Unvermögen, Tollpatschigkeit – Slapstick wenn man so will. Und das ist lustig! Auf diese Weise also wird sogar eine dysphorisch besetzte Sprechsituation ‚komödienfähig‘. Und – ebenso wichtig – eine politische Dichtung wird fähig, die Zensur zu passieren. Denn oberflächlich betrachtet stellt Heine seinem Publikum einfach nur eine unterhaltsame Clownerie zur Verfügung. Das Spielgesicht der Komik evoziert eine Sprecher-Imago, die aus der Differenz eines lächerlichen figürlichen Sprechers und eines diesen gewissermaßen vorführenden ‚eigentlichen‘ Sprechers zusammengesetzt ist. Wie Hagedorn, so setzt also auch Heine hier ein poetisches Spielgesicht ein, das seine dichterische Rede ‚entpflichtet‘, und sichert sich auf diese Weise dagegen ab, dass die Inhalte seiner Dichtung ihm persönlich zugeschrieben werden. In der Vorrede zu Deutschland – Ein Wintermärchen schreibt Heine entsprechend, er habe sein Skript aufgrund der „Bedenklichkeiten“ des Verlegers so weit umgearbeitet, dass nun allerdings „die ernsten Töne mehr als nöthig abgedämpft oder von den Schellen des Humors gar zu heiter überklingelt“ werden.52 Diese Äußerung formuliert auch ein Defizit des Spielgesicht-Verfahrens: Die Unterbindung des ‚Sekundärprozesses‘ durch eine scherzhafte Stabilisierung der Illudierung bedeutet auch, dass ein Leser die Gedichte lesen kann, ohne jemals auf Realreferenzen zu reflektieren. Der Melancholiker, der vieles zwar nicht falsch, aber wohl doch verzerrt 52 Heine: HKGA, Bd. 4, S. 300.

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sieht, ist nach Heines Absicht jedoch auch der, der wohl manches verzerrt, aber nicht grundsätzlich falsch sieht. Und zu Recht hat Heine Bedenken, ob jeder Leser auch „die ernsten Töne“ seiner Dichtung wahrnehmen wird. Mancher Leser aber vielleicht doch. Denn die zahlreichen Fauxpas des figürlichen Sprechers sind nicht nur lustig, sondern auch ungemein ‚witzig‘, d.h. so geistreich erfunden und pointiert zusammengestellt, dass der Verdacht erweckt wird, dieses Unvermögen sei vielleicht auch nur ‚gespielt‘, d.h. eine komödiantische Maske des Sprechers selbst. Eine solches Verständnis seitens eines Lesers würde die resultative Sprecher-Imago entscheidend verändern: An die Stelle des spöttisch vorführenden ‚eigentlichen‘ Sprechers in der auktorialen Grundposition träte dann ein ‚eigentliches Ich‘ des figürlichen Sprechers. Diese ‚eigentliche‘ Sprecherposition ist im Text durchaus greifbar, etwa wenn der Sprecher seine Empfindung, dass sein Herz „recht angenehm verblute“, beschreibt: Ein ‚echter‘ Melancholiker würde wohl nur das schmerzliche ‚Verbluten‘ thematisieren und den bekannten Umstand, dass Melancholiker ihre Stimmung in gewissem Umfang auch genießen, eher auslassen. Dass diese Zusatzinformation gegeben wird, lässt hingegen auf eine Außenperspektive schließen, die der melancholische Sprecher in einem Akt der Selbstironie einnimmt und die dann – qua synthetischer Sprecher-Imago – mit der Perspektive des Autors identisch wäre, also eher einen mit dem figürlichen Sprecher sympathisierenden als ihn vorführenden Autor implizieren würde. Gleich, wem diese ironische Perspektive in ‚sekundärem‘ Reflexionsprozess letztendlich zugeordnet wird, ob Autor oder Figur, sie macht deutlich, dass hier verhalten, künstlich gesprochen wird, nicht expressiv-emotional. Das Spielgesicht ist somit kein ‚natürliches Zeichen‘ mehr, sondern ein kultureller Akt. Heine bedient sich einer Art kultureller Mimikry, mit der natürliches Scherzverhalten künstlich nachgeahmt wird; etwa so, wie wenn der Verlierer im Kartenspiel seinen Ärger nur mit einem erzwungenen Augenzwinkern und gezwungenem Lächeln abdämpfen würde. Heine signalisiert auf diese Weise zumindest dem Intellektuellenpublikum, das sich der Zensurbedingungen bewusst und auf subtilere Textmerkmale aufmerksam ist, dass er es ‚eigentlich‘ ernst meint. IV.3. Zweite Ernsthaftigkeit Ein Meister – ja geradezu Fanatiker – des Rollensprechens war Arno Holz. Seine Kunst des Parodierens reicht vom ‚Klapphorn-‘ und ‚Mirliton-Dichten‘53 über das historische Zitat der Schäfermaske (Dafnis) bis hin zu den 53 Das ist: dem halb unvermögenden, halb absichtlich fehlerhaften Zitieren altehrwürdiger Positionen und dem Sprechen mit lächerlich verzerrter Stimme (vgl. Sprengel: Klapphornisten).

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monistischen Blödeleien im Phantasus (dem Sprechen als ‚Zwerg Turlitipu‘, als Wiedergeburt einer Schwertlilie, eines Schuppenlurchs etc.). Auf der anderen Seite steht das ‚ernsthafte‘ Werk Holz’: seine gewaltsam-naturalistischen Kontrafakturen der idyllischen Entwürfe Johannes Schlafs und der Freiheitsdramen Oskar Jerschkes,54 seine dramatischen Selbstthematisierungen als Maler Hollrieder (Sonnenfinsternis) und Wissenschaftler Georg Dorninger (Ignorabimus) – und nicht zuletzt seine apodiktisch-megalomanen theoretischen Schriften. Diese Seite seines Schaffens ist ebenfalls reich an Zitathaftem (imitiert wird z.B. das Muster des ‚großen Mannes‘),55 doch geschieht dieses Zitieren ohne Spielgesicht; die Sprecher-Imagines dieser Schriften evozieren eher Situationen von höchster Not, (schwerwiegendem) Stress,56 ja Aggressivität. Im Phantasus jedoch scheinen mir beide Tendenzen seines Werks präsent zu sein. Denn nach Holz’ Willen sollte die Publikation der Gedichtsammlung nicht weniger als eine umfassende „Revolution der Lyrik“ einleiten, stand also ganz im Dienst seiner programmatischen Ambitionen. Auf der anderen Seite hat, wie treffend bemerkt wurde, „das Wort Phantasus kaum revolutionären Beigeschmack.“57 Bei Holz ist das Phantasus-Motiv zunächst klar dysphorisch besetzt. In früheren Gedichten repräsentiert es den armen Träumer und kümmerlichen Dachstubenpoeten.58 Das Eingangsgedicht des Phantasus von 1898/99 knüpft noch bei diesem ursprünglichen Motiv an, nimmt dann allerdings eine wichtige Umdeutung vor: Der nächtliche Besuch der geschundenen Muse beim Dachstubenpoeten endet überraschend mit seiner Einladung an sie, sich ‚zu ihm zu setzen‘, „bis der Morgen | graut, | bis die Sonne | scheint,“ und schließlich mit der Aufforderung: „Horch! | Der Ahorn vor meinem Fenster rauscht, | der Thau tropft, | und mein Herz | schlägt.“59 Das Horchen auf das Rauschen des Ahorns erschien zu Beginn des Gedichts noch als einsame Meditation des traurigen Poeten, nun wird es zur Geste der sinnlichen Weltzuwendung, mit der auch die freundlich eingeladene Poesie aus der ‚dunklen Nacht‘ in den ‚hellen Tag‘ geführt wird. Entsprechend dazu zeigen die Gedichte der Sammlung eine veränderte Sprecher-Imago: „Aus der leidenschaftlichen Anklage gegen die Brutalitäten des Maschinenzeitalters im Werk des jungen Arno Holz ist milder Spott über die Abgötter des Bürgertums geworden“ und Holz geriert sich „eher als Bürgerschreck

54 Vgl. Sprengel: Holz & Co. 55 Vgl. die „semantische Form der Personenzurechnung“ im 19. Jahrhundert (Luhmann: Wissenschaft, S. 561). 56 Vgl. konträr dazu das Situationsschema der „nonserious social incongruity“ (s. Anm. 27 und S. 7). 57 Schulz: Nachwort, S. 129. 58 Vgl. ebd., S. 130-134. 59 Holz: Phantasus, S. 6.

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denn als Ankläger“.60 Diese optimistisch-scherzhafte Tendenz wird in den späteren Fassungen noch verstärkt dadurch, dass ein (ursprünglich erst den zweiten Teil einleitendes) Gedicht mit ‚Spielgesicht‘ an den Anfang der gesamten Sammlung rückt. Auch dieses Gedicht knüpft noch einmal bei dem Motiv der Nacht an, doch ist aus der ‚dunklen Nacht‘ des einsamen Poeten nun ein „letzte[r], tiefe[r] [...] | Nachtschlaf“ geworden, aus dem das Ich mit der kuriosen „Gewißheit“ erwacht: „Sieben Billionen ... Jahre ... vor meiner Geburt | war ich | eine Schwertlilie.“61 Auf Bildebene wird die Nacht hier außerdem zur ‚kosmischen Nacht‘ des Tohuwabohu, aus dem sich nun ‚das Leben‘ in seinen vielfältigen Formen erhebt. Diese Fiktion folgt dem „biogenetischen Grundgesetz“ Ernst Haeckels, das besagt, dass sich die Phylogenese in der Ontogenese wiederholt, und damit den monistischen Gedanken eines biologischen AllZusammenhangs hervorgebracht hat. Diese ‚wissenschaftliche Grundlage‘ seines Werkes versuchte Holz „in den späteren Fassungen immer stärker herauszuarbeiten.“62 Die euphorische Weltzuwendung dient offenbar nicht nur dem Zweck, Material für allerlei Blödeleien zu sammeln, vielmehr unternimmt Holz den großangelegten Versuch einer poetischen Welterschließung – getreu dem wissenschaftlichen Epochenstil der Arbeit am ‚Ganzen‘ und der ‚großen Entwürfe‘: Er konzipiert den Phantasus als ein „Weltgedicht“, das in immer stärkerer Systematik und Vollständigkeit – bis hin zu einer formbildenden Zahlenmystik – ‚die ganze Welt‘ einfangen und menschlicher Erfahrung zugänglich machen soll.63 Die „Basisfiktion“64 des biogenetischen Grundgesetzes ermöglicht es ihm, diese ‚ganze Welt‘ (alle Zeitalter, Erdteile und Lebensformen) in der Erfahrung eines einzigen lyrischen Ich zu spiegeln und dadurch zu einer darstellbaren Einheit zu machen. Nun bedient sich Holz aber der Form des Kunstwerks, nicht des wissenschaftlichen Traktats. Man muss also nicht voraussetzen, dass er an die Gültigkeit des biogenetischen Grundgesetzes wirklich ‚glaubt‘. Und selbst dem Sprecher, der mit seinen bunten Phantasmen, mutwilligen Übertreibungen und großsprecherischen Exzessen ein beständiges Spielgesicht aufweist, mag man diesen Glauben nicht ohne weiteres unterstellen. Jedoch dürften auch dem humorvollsten Leser, der hinter der Idee der Palingenesie auf der ersten Seite noch nichts weiter als einen poetischen Scherz vermutet, mit Holz’ unermüdlicher (und mit jeder Fassung noch erhöhten) Ausführlichkeit der Ausgestaltung dieser Idee doch irgendwann Zweifel an 60 61 62 63 64

Schulz: Nachwort, S. 134 f. Holz: Werke, Bd. 1, S. 7. Schulz: Nachwort, S. 140. Vgl. ebd., S. 146, 149 f., 154 f. Vgl. Eibl: Sprachskepsis, S. 114 f.

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der bloß scherzhaften Absicht des Sprechers kommen. Wenn es da etwa heißt: [...] wie | von einem | infernalischst, dämonischst, konvulsivischst | wilden | unbändigst, unersättlichst, unwiderstehlichst | spasmodischen | Kitzel, Rausch, Taumel, | Wahnsinn und Fieberkrampf | gepackt, getrieben, gewirbelt, gepeitscht, | gegeißelt, gefoltert, | gestochen, | gestoßen und gespornt [...]65

Ist das noch lustig? Sicher, redundante Häufung, Elative und Hyperbeln können sehr wirksame Mittel der Komik sein – aber nicht über die Dauer von weit über tausend Seiten hinweg. Die Monomanie der Beschreibung, die Holz’ letzte Fassungen kennzeichnet, zerstört den Effekt des Spielgesichts. Stattdessen stellt sich der Eindruck reiner Pflichterfüllung, eines mit welt- und ichvergessener Besessenheit voranarbeitenden Wahnsinnigen ein – eine Sprecher-Imago, die eher unangenehme Gefühle weckt. Die Sprecher-Imago des Phantasus zeigt in der kurzen Fassung von 1898/99 noch ein deutliches Spielgesicht, das wie bei Hagedorn oder Heine eine Differenz zwischen ‚gespieltem‘ Sprechakt und ‚eigentlichem‘ Ich/Autor signalisiert. Mit zunehmender Ausarbeitung der Holz’schen Grundidee muss sich der Leser jedoch mit fortschreitender Lektüre fragen, ob der Sprechakt vielleicht gar nicht so ‚gespielt‘ ist, wie er anfangs wirkte, d.h. ob Autorintention und literarischer Sprechakt nicht doch eins sind. Damit provoziert Holz einen ‚sekundären‘ Reflexionsakt beim Leser, der ihn zur gelegentlichen Unterbrechung seiner Illudierung zwingt und eine ‚zweite Ernsthaftigkeit‘ des poetischen Spiels erzeugt. In den letzten Fassungen schließlich nimmt dieser Ernst überhand. Der Phantasus wird zu einem tatsächlichen Konkurrenzprojekt zur zeitgenössischen Wissenschaftskultur und die Illudierung geht verloren. Die drei hier behandelten Beispielautoren Hagedorn, Heine und Holz sollen weder eine notwendig so und nicht anders verlaufende historische Entwicklung noch eine vollständige Typologie des Scherzhaften in der Dichtung repräsentieren, sie dienen lediglich der Illustrierung, wie ein und dieselbe biologische Disposition in verschiedenen historischen Situationen zur Lösung je unterschiedlicher Probleme eingesetzt werden kann. Bei Hagedorn dient das Spielgesicht einer Erweiterung der poetischen Lizenzen (die binnen Kurzem überflüssig wurde, und Hagedorn dichtete seine Weinode später zu einer Ode im erhabenen Stil um). Heine instrumentalisiert die Scherzrede für eine eigentlich ernsthafte Mitteilung von realweltlicher Relevanz. Je nachdem, ob das poetische Spielgesicht als ‚natürliches‘ oder willkürlich nachgeahmtes Signalverhalten verstanden wird, kann seine Dichtung als harmlose Clownerie vor der Zensur passieren oder als verschlüsselte Botschaft verstanden werden. In Holz’ Phantasus schließlich erschöpft 65 Holz: Werke, Bd. 1, S. 150.

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sich das poetische Spiel weder in sich selbst, noch ist es in eine eigentliche Mitteilung übersetzbar; hier verweisen die spielerisch thesaurierten Inhalte über den ‚Rahmen‘ hinaus und fordern einen Reflexionsprozess auf eine zweite, eine ernsthaftere Dimension seiner Dichtung ein.

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Gibt es ein Drittes neben Faktizität und Fiktionalität? Zum Wahrheitsanspruch der Literatur am Beispiel von Kafkas Erzählung Eine kleine Frau In der neueren Literaturwissenschaft hat sich die Aufmerksamkeit von den ‚Was‘- zu den ‚Wie‘-Fragen verlagert. Dabei ist diese Verlagerung nicht erst eine Entwicklung der Literaturwissenschaft in jüngerer Zeit. Wenn Friedrich Schlegel in seiner Rede Über die Unverständlichkeit schreibt, „einen andern neuen Leser nach meinem Sinne zu konstruieren, ja, wenn ich es nötig finden sollte, denselben sogar zu deduzieren“, und zwar einen Leser, der liest, ohne verstehen zu wollen, ja dessen Tugend eben darin besteht, keinen verstehbaren Sinn aus dem Gelesenen entnehmen, d.h. abstrahieren zu wollen, dann gibt Schlegel eine antihermeneutische Devise aus, die in der Postmoderne, bei François Lytord und Jacques Derrida beispielsweise, wieder aufgegriffen worden ist. Die Verlagerung von ‚Was‘- zu ‚Wie‘-Fragen ist aber auch keine für die Literaturwissenschaft spezifische Entwicklung. Das zeigt die breite Diskussion um das Problem der Repräsentation. Mit dem Begriff ‚crise de la représentation‘ wird ein Phänomen benannt, das in der seit den 1960er Jahren einsetzenden Gegenwartsdiskussion eine zentrale Rolle spielt. Sie ist Teil einer ‚imagery debate‘, die ebenfalls in den 1960ern einsetzt. Bei dieser Debatte geht es um die Frage, wie die kognitiven Prozesse zu begreifen sind, durch welche etwas Wahrgenommenes zur dem Menschen eigenen Erinnerungsgestalt wird, um es dann verfügbar zu haben. Voraussetzung dieser Umformung ist die Einsicht, dass wir „niemals unmittelbar mit dem Gegenstand der Wahrnehmung verbunden sind – auch dann nicht, wenn die Quelle der Wahrnehmung die einer Selbstwahrnehmung ist.“ Die Indirektheit der Wahrnehmung oder genauer die Vermitteltheit des Wahrgenommenen hat entscheidende Konsequenzen für den Status des Wahrgenommenen. Es ist kein Abbild ‚der‘ Wirklichkeit, sondern es ist bereits transformiert. Dasselbe gilt, so Flores weiter, auch für

  

Schlegel: Unverständlichkeit, S. 362. Vgl. hierzu Flores: Bedeutungsrepräsentationen und Bildvorstellungen, S. 17. Ebd., S. 9.

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das Erfassen von nicht Wahrnehmbarem, beispielsweise von Bedeutungen oder, wie Flores sagt, von Gehalten, etwa von Texten. Mit der Transformation ist die alte Problematik der menschlichen Subjektivität präsent, nämlich dass der Mensch sich die Welt nach seinem Bilde, nach seiner Vorstellung schaffe. Problematisch ist diese insofern, als sich unter dieser Voraussetzung sofort die Fragen nach der Wahrheit der Vorstellung und nach intersubjektiver Gültigkeit stellen. Allerdings erörtert Flores diese Problematik nicht. Das hängt mit seinem Anspruch zusammen, das Zustandekommen von Repräsentationen und ihre Funktion, also das ‚wie‘ und das ‚wozu‘, auf der Grundlage empirischer, experimenteller Untersuchungen erklären, nicht aber sie deuten zu wollen. Indem Flores sich darauf beschränkt, mentale Prozesse zu ‚erklären‘, ihren Verlauf ‚nachzuvollziehen‘, klammert er die für die Debatte um die Krise der Repräsentation entscheidende Ursache aus. Was da in die Krise geraten ist, sei „das ‚abbildungstheoretische‘ Verständnis von Repräsentation, das in einer realistischen Metaphysik der Substanz, in einer entsprechenden Epistemologie und in einer Korrespondenztheorie der Wahrheit beruht“, so die Herausgeber des Bandes Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel, Silja Freudenberger und Hans Jörg Sandkühler. Mit ‚metaphysisch‘ ist hier in deren Anlehnung an Hilary Putnam – so zumindest das Selbstverständnis der beiden Herausgeber – eine „‚common-sense-realistische‘ [...] Repräsentationskonzeption“ gemeint. Zwar ist damit das von Flores ausgesparte Wahrheitsproblem direkt angesprochen, aber für die Herausgeber dieses Bandes steht – ebenso wie für Flores – fest, dass Repräsentation „keine strukturerhaltende Abbildung von Wirklichkeit“, sondern vielmehr Konstruktion von Wirklichkeit sei. Dies sei gegen alle „hart-realistische[n] Auffassungen“ etwa in „materialistischen bzw. naturalistischen Philosophien des Geistes und in Neurowissenschaften“ festzuhalten. Die Möglichkeit, dass es neben Repräsentation als (objektivem) Abbild von Wirklichkeit und Repräsentation als (subjektiver) Konstruktion von Wirklichkeit noch ein Drittes geben könnte: Nämlich Repräsentation eines tatsächlich Seienden, in seinem objektiven Sein durch menschliche Erkenntnis Erkennbaren, ist durch die Gleichsetzung von ‚Denken‘ mit ‚Bewusstsein‘ und durch die Annahme, dass alles, was Gegenstand des Be    

Ebd. Freudenberger/Sandkühler: Repräsentation, S. 9. Ebd., S. 73. Freudenberger spricht von „metaphysische[m] Realismus“. Eigentlich plädiert Putnam aber für Bescheidenheit hinsichtlich des Wahrheitsanspruches, ja für Abstand vom Wahrheitsanspruch. Ebd., S. 51. Ebd., S. 9.

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wusstseins sein kann, zunächst in den Sinnen, d.h. wahrgenommen worden sein müsse, ausgeschlossen. Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass die Verlagerung von ,Was‘- zu ,Wie‘-Fragen mit einer Erkenntnisproblematik zusammenhängt, die sich zuallererst als Wahrnehmungsproblematik zu erkennen gibt, und die historisch weit in die Vormoderne zurückreicht; in jedem Fall haben die Rezeption der pyrrhonischen Skepsis seit der frühen Neuzeit und der cartesische Zweifel das ihrige dazu beigetragen, die Gewissheit, mit menschlichen Vermögen etwas Wahres erkennen zu können, schrittweise zu destabilisieren.10 Eine Konsequenz aus der Verlagerung von ‚Was‘- zu ‚Wie‘-Fragen ist die Herausbildung des Konstruktivismus.11 Dem Konstruktivismus verdankt die Literaturwissenschaft neue Einsichten, wie Wirklichkeit durch ein beobachtendes Subjekt zunächst etabliert wird, das seinen Beobachterstandpunkt reflektiert. Der Konstruktivismus lenkt die Aufmerksamkeit auf die Machart des literarischen Textes. Kritisiert wird der Konstruktivismus aber für seine These von der allumfassenden Fiktionalität, derzufolge es ein empirisches, objektives Sein als Bezugspunkt nicht gibt; denn wenn alles konstruiert, alles Text und nur Text ist, sei theoretische Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit in der Praxis die Folge. Auch gebe es kein Kriterium, die Wahrheit von Aussagen zu überprüfen.12 Als Ausweg aus der Paralyse in theoretischer wie praktischer Hinsicht schlägt Freudenberger neben der Faktizität, die der Imagination (zu) enge Grenzen ziehe, vor, in Anlehnung an Charles Sanders Peirce Repräsentation als „Repräsentation-als“ zu verstehen. Allerdings löst auch diese Alternative nicht das Problem; denn die von Konstruktivisten, Dekonstruktivisten wie Realisten geteilte Voraussetzung bleibt unangefochten, dass ein nicht empirisches, objektives Sein als Referenzpunkt der Literatur nicht existiere. Die Literatur selbst zeigt aber eine weitere Möglichkeit der Repräsentation. Worin diese besteht, möchte ich im Folgenden am Beispiel von Kafkas Erzählung Eine kleine Frau erläutern. Meine These ist folgende: Bei aller Detailgenauigkeit der Beschreibung geht es nicht um die Wiedergabe dessen, was faktisch ist. Aber auch bloße „Fiktivität“, wie Jost Schillemeit meint, ist nicht beabsichtigt.13 Vielmehr stehen faktuales Erzählen wie Fiktion im  10 11 12 13

Ebd., S. 72: „Einen anderen als den abbildtheoretischen Repräsentationsbegriff zu entwerfen erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil die Aufgabe jeglicher Vorstellung von Weltrepräsentation im Erkenntnisprozess als Alternative nur den Gedanken der Konstruktion erlaubt.“ Vgl. Sextus Empiricus: Grundriß; Heidemann: Skeptizismus-Begriffe; Schlüter: Historischer Pyrrhonismus; Flückiger: Die Herausforderung. Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit; Beutinger-Menzen: Fiktionen des Wirklichen. „Eine Welt, die nicht mehr als ‚wirklich‘ begriffen werden kann, ist keine Welt, um die zu streiten sich lohnt“ (vgl. Freudenberger: Repräsentation, S. 73). Schillemeit: Wirklichkeitsproblem, S. 37.

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Dienst einer dritten Möglichkeit, Wahres in der Literatur darzustellen. Und diese dritte Möglichkeit ist, so meine These, zugleich eine sinnvolle Möglichkeit für das, was Literatur (auch) leisten kann. Nun zum Text selbst: Kafkas Eine kleine Frau setzt ein mit einer wahrnehmbare Momente reproduzierenden Perspektive des Erzähler-Ichs. Doch ist jedes dieser auf den ersten Blick Wahrnehmbares rein reproduzierenden Ist-Aussagen Resultat subjektiver (Vor-)Urteilsbildung. Das Erzähler-Ich konstruiert sich eine Frau als Projektionsfläche seiner Vorstellung existentiellen Bedrohtseins; die Konstruktion der Frau ist in sich widersprüchlich, lässt sich sachlich nicht auf einen Nenner bringen. Der Ich-Erzähler konstruiert sich eine Frau als Kontrahentin, kreiert eine Beziehung zwischen sich und der Frau nach dem Opfer-Täter-Schema und unterstellt, dass von der Frau die Bedrohung ausgehe. Ebenso wenig wie die Frage, wer diese Frau in Wirklichkeit ist, lässt sich die Frage beantworten, wer in dieser Beziehung Opfer und wer Täter ist. Der Ich-Erzähler nimmt zunächst an, dass er die kleine Frau durch sein bloßes Dasein quäle, geht dann zu der Vermutung über, dass sie diese Qual lediglich simuliere, um ihn als Aggressor bloßzustellen, er aber eigentlich das unschuldige Opfer sei. Nicht minder widersprüchlich ist seine Behauptung, es bestehe kein Verhältnis zwischen ihm und der kleinen Frau, schon gar kein intimes, und wenn überhaupt ein Verhältnis bestünde, dann nur von seiner Seite aus; er wäre immerhin dazu fähig, sie wertzuschätzen, wohingegen sie nicht einmal dazu imstande sei. Denn er sei nun einmal Ziel ihres Zorns, was auch immer er unternehme, wie auch immer er sich verhalte. Trotz seiner Beteuerung aber, dass er sehr wohl dazu imstande sei, sie wertzuschätzen, schließt er jegliches Mitgefühl ihr gegenüber aus; auch hält er es für durchaus möglich, dass jemand anders als er selbst sie wie Ungeziefer – die aus der Verwandlung bekannte Tiermetapher – unter seinen Stiefeln zertreten würde.14 Die kleine Frau selbst kommt nicht zu Wort.15 Die dargestellte Welt ist, folgt man der Intention des Erzähler-Ichs, in sich abgeschlossen und monoperspektivisch; sie hat ihre interne, autopoetische Logik. Und doch weist das auf den ersten Blick so schlüssige Bild Risse auf, die erzählimmanent eine andere Perspektive offenbaren, und zwar dadurch, dass das konstruierte Bild selbst Widersprüche aufweist: Das sich selbst als Opfer darstellende Erzähler-Ich ist auch Täter; es baut ein seine Existenz bedrohendes Szenario auf, das in seiner Bedrohlichkeit eine Entscheidung – Fliehen oder der Bedrohung entgegentreten – zu erzwingen scheint, um dann eine Reihe von Argumenten anzuführen, die es rechtfertigen sollen, die Lebenssituation 14 Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe, S. 332. 15 Das gilt auch für andere weibliche Figuren in Kafkas Erzählungen bzw. Romanen (vgl. Delianidou: Frauen, S. 23).

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nicht zu ändern. Diese Rechtfertigungen werden zu Lebens- und Handlungsmaximen, das ‚ich‘ zum ‚man‘ verallgemeinert; die Rechtfertigungen lassen den Impuls, etwas zu ändern, in eine generelle, unabsehbar lang währende Handlungsagonie, in eine durch Reflexion hergestellte Paralyse und damit in die Verdrängung des eigentlichen Problems, der Existenzangst, münden. In der Sekundärliteratur zu der Erzählung Eine kleine Frau von Kafka,16 zu seinen weiblichen Figuren17 wie zu seinen Figuren allgemein18 wird immer wieder auf deren Konstruiertheit hingewiesen, wobei dieses Konstruieren als unabgeschlossener Prozess, ja als niemals abschließbarer Prozess der Auslegung charakterisiert wird. Die Unabschließbarkeit der Exegese legt nahe, die Wahrheitsfrage zu suspendieren, was gemeinhin in der Forschung auch getan wird, und darauf zu verweisen, dass das Erzählte eine Spannung zwischen figürlich-rhetorischer und grammatikalischer Bedeutung aufweise, die unauflösbar sei19 und durch die ständige Relektüre und Zurücknahme des bereits Affimierten der „Raum für das [schrumpfe], was endlich als Kritik des Ungültigen Gültigkeit beanspruchen könnte“.20 Zirkularität und Rekursivität sind weitere Beschreibungsversuche von Kafkas Erzählverfahren.21 Angesichts der durchgängigen subjektiven Perspektivierung ist evident, dass weder der Hinweis auf biografische Übereinstimmungen zwischen dem Ich-Erzähler der Erzählung und Kafka noch deskriptive Wahrnehmungsmomente – üblicherweise Kriterien der Authentizität, Objektivität bzw. Faktizität – zur Wahrheit des Textes beitragen würden. Aber auch der Hinweis auf die Fiktionalität des Erzählten führt nicht weiter, da die immanente Argumentation inkonsistent ist, d.h. keine logisch kohärente Übereinstimmung von Aussagen aufweist, die widerspruchsfrei mit anderen Sachverhalten zusammenpassen würden. Die Argumentation läuft auf Aporie hinaus. Wenn aber weder Faktizität, d.h. Korrespondenz mit der Wirklichkeit, noch Fiktionalität, d.h. textimmanente Konsistenz bzw. Kohärenz, zur Wahrheit des Textes beitragen, welche Wahrheit, wenn überhaupt eine, kann dann gemeint sein? Der Text geht, indem der Autor einen Ich-Erzähler konstruiert, von Prämissen aus, aus denen – scheinbar logisch und 16 Kaus: „Eine kleine Frau“. 17 Hochreiter: Kafka; Boa: Kafka; Stach: Kafkas erotischer Mythos. 18 Vogl: Ort der Gewalt, S. 152: „Der Weg der Figuren entspricht einem Fortschreiten von Auslegung zu Auslegung, und in all diesen Fällen werden die Deutungsversuche von weiteren Deutungen oder durch den Fortgang des Geschehens widerlegt, korrigiert oder zurückgenommen, ohne sich je in einer schlüssigen Widerlegung zu erschöpfen oder an einer authentischen Interpretation zu sättigen.“ 19 Ebd., S. 153. 20 Guntermann: Vom Fremdwerden, S. 136. 21 Vogl: Ort der Gewalt, S. 154.

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damit rational nachvollziehbar – Schlüsse gezogen werden, die zusammen genommen allerdings kein kohärentes Bild ergeben, wie oben schon ausgeführt. Die erste Prämisse des Textes ist: „Es ist eine kleine Frau“. Ob der IchErzähler diese Frau bloß imaginiert oder ob sie tatsächlich existiert, lässt sich nicht entscheiden. Ihr wird Dasein zugesprochen durch den Akt des Erzählens. Und als solchermaßen Vorhandene hat sie ihre Wahrheit, insofern sie für den Ich-Erzähler nicht nur da ist, sondern zum Gegenstand der Reflexion wird. Im Gang der fortschreitenden Reflexionen erweist sich der Ich-Erzähler als ein Individuum, das von der Prämisse ausgeht, für diese kleine Frau qua seiner Existenz ein Grundärgernis darzustellen. Weder die erste Prämisse, dass es diese Frau gibt, noch die zweite Prämisse, dass er für diese Frau ein Ärgernis darstellt, das so grundsätzlich ist, dass es selbst bei Auslöschung seiner Existenz weiter bestünde, wird an irgendeiner Stelle vom Erzähler-Ich in Frage gestellt. Wahr sind diese Prämissen für denjenigen, der sie voraussetzt, allerdings auch nur für diesen. Dass bei aller behaupteten Existentialität der Bedrohung, die für den Ich-Erzähler von der kleinen Frau ausgeht, sie selbst lediglich ein Gedankenexperiment sein könnte, diesen Schluss legt der Text am Ende selbst nahe.22 Wenn also sowohl die erste wie die zweite Prämisse bloß hypothetisch ist, was kann dann als wahr in diesem Text gelten? – in einem Text, der von einer Prämisse ausgeht, die ebenfalls rein hypothetisch ist: der des fiktiven Ich-Erzählers, der einen fiktiven Text generiert? Wahr ist, so meine Antwort, der Text durch die Darstellung dessen, was sich als Konsequenzen aus den Prämissen ergibt. Mit ‚wahr‘ ist weder logische Wahrheit gemeint, denn der Ich-Erzähler argumentiert zwar rational, aber seine Überlegungen folgen nicht logischer Schlüssigkeit, sondern sind diktiert von einem unbestimmten Gefühl existentieller Bedrohtheit, deren Verursacherin – der Selbstwahrnehmung des Ich-Erzählers zufolge – ein ebenso unbestimmter Name korrespondiert: eine kleine Frau. Noch ist mit ‚wahr‘ wahrscheinlich gemeint: Denn dass es eine derartige Person wie den Ich-Erzähler tatsächlich gibt und er von daher der allgemeinen Erfahrung widerspruchsfrei entspricht, ist eher unwahrscheinlich. Welches aber sind die Konsequenzen, die sich aus den oben genannten Prämissen ergeben? Kafka führt mit dem Text Eine kleine Frau ein Experiment durch: Ein Mann fühlt sich existentiell bedroht. Der Text fragt nicht, ob das Gefühl berechtigt ist oder nicht. Der Text geht der Frage nach, wie mögliche Reaktionen auf dieses Gefühl aussehen können. Eine mögliche Reaktion ist, diesem Gefühl einen Namen zu geben, es zu personifizieren, um sich zu dieser Person verhalten zu können und dabei verschiedene 22 Zu den Parallelen im Romanfragment Der Prozeß vgl. Delianodou: Frauen, S. 85.

Gibt es ein Drittes neben Faktizität und Fiktionalität?

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Varianten durchzuspielen, um die Bedrohung zu bewältigen. Diese vollzieht sich in mehreren Schritten: Personifizierung der Bedrohung nach bestimmten Schemata (Mann-Frau, Macht-Ohnmacht, Täter-Opfer, QuälenLeiden), Analyse der Ursache, Vorschläge, die Situation zu klären, indem sie ihr Verhalten ändert, Vorschläge, die Situation zu klären, indem er sein Verhalten ändert, Argumente für die Vergeblichkeit beider Versuche sowie der Schluss, das Problem auszusitzen und darauf zu achten, dass der Vorwurf, der seitens der kleinen Frau an ihn gerichtet ist, nicht öffentlich wird, was der Ich–Erzähler durch den Akt des Erzählens bereits getan hat. Durch den Akt des Erzählens ist die auf so kompliziertem und mühseligem Weg entwickelte Strategie des Verschweigens und Ignorierens von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn damit ist das Problem öffentlich, ja nicht nur das Problem, sondern der Ich-Erzähler selbst liegt offen für die von ihm so gefürchtete Beurteilung, möglicherweise Verurteilung seitens des Lesers als Instanz der Öffentlichkeit. Ohne aber zu erzählen erfährt der Ich-Erzähler nichts über sich selbst; so bleibt nur die Entscheidung zwischen zwei Alternativen, die beide ihren Preis haben, entweder sprachliche Entäußerung (Jedes Schreiben offenbart ‚eine‘ Wahrheit über sich selbst) und Preisgabe an denjenigen, der das Geschriebene liest, oder Unkenntnis seiner selbst und (vermeintlicher) Schutz vor möglichen Verurteilungen. Ich komme zum Schluss und zur Beantwortung meiner Ausgangsfrage, ob es ein Drittes neben Faktizität und Fiktionalität in der Literatur gebe, das dem Anspruch genüge, wahr zu sein. An Kafkas Erzählung Eine kleine Frau lässt sich zeigen, dass es ein solches Drittes geben kann. Dieses Dritte ist weder wahr durch eine wie auch immer zu leistende Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit noch durch logische Kohärenz. Wahr ist es dadurch, dass es zeigt, wie jemand mit dem Gefühl existentieller Bedrohtheit umgeht, welche Projektionen der Ich-Erzähler durchspielt, um über dieses Gefühl Herr zu werden. Wahr ist es dadurch, dass es zeigt, wie jemand Strategien entwickelt, um sich der Verantwortung der Entscheidung für eine oder andere Handlungsvariante zu entziehen. Wahr ist es dadurch, dass es zeigt, auf welche Weise Projektionen Aufschluss über den geben, der sie entwirft. Was der Ich-Erzähler der kleinen Frau unterstellt, ihn zu bekämpfen und ihm Leid zufügen zu wollen, tut er selbst. Aber auch der Ich-Erzähler ist Projektion: die des Autors Kafka. Mithilfe des Ich-Erzählers spielt Kafka als Autor Möglichkeiten durch, (s)einer existenziellen Angst Herr zu werden. Kurz: Wahr ist der Text durch die Darstellung einer bestimmten psychischen Realität. Inwiefern das in Bezug auf Kafkas Text Gesagte für weitere Literatur zutrifft oder gar für Literatur allgemein, wäre zu prüfen. Kafkas Text zeigt aber auch, dass die seit den 1960ern so viel diskutierte Krise der Repräsentation nicht eigentlich das Kernproblem der Literatur ist.

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Zusammenfassung In der neueren Literaturwissenschaft hat sich die Aufmerksamkeit von ‚Was‘- zu ‚Wie‘-Fragen verlagert. Diese Verlagerung hängt mit einer Erkenntnisproblematik zusammen, die historisch weit in die Vormoderne zurückreicht und zu zwei inkompatiblen Wahrheitstheorien führt. Der Korrespondenztheorie zufolge ist Literatur wahr, wenn das Dargestellte mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Konsistenztheorie zufolge gibt es keine solche Übereinstimmung. Wahr ist ein literarischer Text durch textimmanente widerspruchsfreie, logische Kohärenz. Dass die Literatur neben den genannten weitere Möglichkeiten hat, Wahres darzustellen, erläutere ich am Beispiel von Kafkas Erzählung Eine kleine Frau.

Literatur Beutinger-Menzen, Beatrix: Fiktionen des Wirklichen. Eine soziologische Auseinandersetzung mit den Positionen des Radikalen Konstruktivismus. Hamburg 2006. Boa, Elizabeth: Kafka. Gender, Class, and Race in the Letters and Fictions. Oxford 1996. Delianidou, Simela: Frauen, Bilder und Projektionen von Weiblichkeit und das männliche Ich des Protagonisten in Franz Kafkas Romanfragmenten. Unter besonderer Berücksichtigung der Schuldfrage im Process. Frankfurt a.M., New York 2002. Flores, Christoph: Bedeutungsrepräsentationen und Bildvorstellungen. Ein Kommentar zur imagery debate aus semiotischer Perspektive. München 2005. Flückiger, Hansueli: Die Herausforderung der philosophischen Skepsis. Untersuchungen zur Aktualität des Pyrrhonismus. Wien 2003. Freudenberger, Silja; Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Ein Forschungsprogramm in Philosophie und Wissenschaften. Frankfurt a.M. u.a. 2003. Freudenberger, Silja: Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise. In: Dies.; Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation. Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 71-100. Guntermann, Georg: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors. Tübingen 1991. Heidemann, Dietmar: Skeptizismus-Begriffe. Eine Typologie des Zweifelns, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung. Berlin 2006. Hochreiter, Susanne: Franz Kafka. Raum und Geschlecht. Würzburg 2007. Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 7/1: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolfgang Kittler u.a.. Frankfurt a.M. 1994. Kaus, Rainer J.: „Eine kleine Frau“. Kafkas Erzählung in literaturpsychologischer Sicht. Mit einem Vorw. von Walter Schönau und einem Nachw. von Léon Wurmser. Heidelberg 2002. Schillemeit, Jost: Zum Wirklichkeitsproblem der Kafka-Interpretation. In: Rosemarie Schillemeit (Hg.): Kafka-Studien. Göttingen 2004, S. 35-57. Schlegel, Friedrich: Über die Unverständlichkeit. In: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hg. u. eingel. von Hans Eichner. Paderborn u.a. 1967, S. 363-372. Schlüter, Gisela (Hg.): Historischer Pyrrhonismus. Göttingen 2007 [Das achtzehnte Jahrhundert 13/2]. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Einl. u. Übers. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a.M. 1968.

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Was ist die Kunst, was ist der Mensch? Zwei Fragen und der Versuch, sie mit dem Begriff des Spiels zu beantworten. Oder: Variationen zu einem Diktum Schillers 1. „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 1.1 Wer beginnt, über die Ästhetik des Spiels nachzudenken, den schlägt, ganz gleich, ob er darum weiß oder nicht, dieser Satz in seinen Bann. Denn es ist einer dieser ungeheuren, wie in Marmor geschlagenen Sätze, die Schiller bisweilen geäußert hat und die, nachdem er sie einmal geäußert hat, fortan wie ein Alp auf den Gehirnen der Nachgeborenen lasten. 1.2 Doch handelt es sich, im Grunde genommen, um einen einfachen, auch einfach zu verstehenden und daher leichten, geradezu, hört man auf den Klang seiner ersten Worte, mit Leichtigkeit heraus gesagten, fast ein wenig zu salopp klingenden Satz. 2. Doch trotz der Leichtigkeit, mit der er geäußert wird, doch trotz der Schwere, die ihm seine Wirkungsgeschichte verleiht: Es handelt sich ganz offensichtlich nicht um einen wahren Satz. 2.1 Denn weshalb sollte der Mensch nur da ganz Mensch sein, wo er spielt – und nicht da, wo es ihm Ernst ist, nicht da, wo er vollkommen in  

Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 618, Hervorhebung i. Orig. Dieser Alp lastet auch, wie sollte es auch anders sein, auf der Schiller-Forschung. Helmut Koopmann kam deshalb schon vor einiger Zeit zu dem Schluss, dass alles Wesentliche über Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen bereits gesagt sei (vgl. ders.: Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant, S. 922); und bereits der Forschungsüberblick von Sharpe scheint diesen Eindruck zu bestätigen (vgl. ders.: Schiller’s Aesthetic Essays). Doch seitdem klar ist, dass die Ästhetischen Briefe Schillers den „eigentlichen Kulminationspunkt der anthropologischen Ästhetik in Deutschland“ ausmachen (so Bornscheuer, in ders.: Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont, S. 432) und nach wie vor die Bedeutung der Ästhetischen Briefe für die Moderne unbestritten ist (vgl. Pott: Die Ästhetik Schillers mit Bezug auf Hegel, sowie schon ders.: Schillers spekulative Gattungspoetik und Eichendorffs Poesie), mehren sich die Stimmen, die den Akut, sei es im Horizont der Wirkungs-, sei es in dem der Begriffsgeschichte, auf eine Aktualisierung des Gehalts der Ästhetischen Briefe legen (vgl. Nethersole: „…die Triebe zu leben, zu schaffen, zu spielen“; sowie: Wetzel: Spiel, S. 587-589).

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der Wirklichkeit ist, sei es, weil er sich zur Gänze ihrem Prinzip verschreibt und sich darum bemüht, ganz und gar Realist zu sein, sei es, weil er sich in der Wirklichkeit gegen diese Wirklichkeit behaupten muss und daher, wie man sagen kann, gezwungen ist, als Mensch (um einen alten Imperativ noch einmal zu bemühen) wesentlich zu werden? 2.2 Und auch dies, dass der Mensch nur spielt, wo er ganz Mensch ist, gar, dass er nur spielt, wo er ganz bei sich selbst, ganz Gattungswesen ist, kann, um das Mindeste zu sagen, nicht einmal entfernt als zustimmungspflichtig gelten. Denn warum sollte der Mensch nicht gerade dann spielen, wenn er nicht bei sich ist, ja, vielfach genau deshalb spielen, weil er selbstvergessen sein, sich, und sei es nur für den Augenblick, abhanden kommen möchte – als Gattungswesen? Er würde dann genau deshalb spielen, um sein Menschsein im Spiel zu überwinden oder: um im Spiel mehr als nur Mensch zu sein! 3. Was aber ist der Mensch? 3.1 Das ist, keine Frage, nicht irgendeine Frage, ganz generell nicht und schon gar nicht im besonderen Horizont der Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Schiller’schen Satzes. Hier ist es die schlechthin entscheidende Frage. Denn es kommt eben, um mit Schiller zu sprechen, auf die „volle […] Bedeutung des Worts Mensch“ an. Das aber heißt: Es ist eine Frage der Semantik! Sie entscheidet über den Wahrheitsgehalt des Satzes, schließlich aber auch über die wechselseitige Abhängigkeit, über den Zusammenhang der Begriffe Mensch, Spiel und, nicht zu vergessen, Kunst – einen Zusammenhang, den Schiller dann wenig später in einem anderen Satz anklingen lässt, und zwar wiederum in einem Satz, der so seltsam unbekümmert daherkommt, dann aber das Gewicht der Welt auf sich lädt: „Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“ 3.2 Was aber ist der Mensch? Oder, mit Schiller gefragt: Was ist die „volle[ ] Bedeutung des Worts Mensch“? 4. Die aristotelische und bis heute maßgebende Definition des Menschen besagt bekanntlich, er sei ein animal rationale. 4.1 Doch offenbar ist diese Definition alles andere als eine hinreichende Antwort auf die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Zwar unterscheidet sie durch das Kriterium der Rationalität den Menschen vom Tier, aber sie sagt nichts darüber aus, wie am Menschen das Verhältnis von Rationalem und Animalischem beschaffen ist – oder von Geist und Körper, Seele und Leib, Denken und Gehirn. Sie sagt nur aus, dass ein sol

Ebd., S. 641.

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ches Verhältnis besteht, nicht wie es besteht. Doch genau das müsste sie, um anzugeben, was den Menschen zum Menschen macht. 4.2 Das Ergebnis der aristotelischen Bestimmung, die im Grunde nicht mehr als eine Klassifikationsregel ist, kann man daher als Inhaltslosigkeit oder Leere auffassen. 4.3 Darin besteht das Nichtssagende, dessen jeder mehr oder weniger, aber eben doch gewahr wird, der sie gebraucht – wenn er sich zum Beispiel dabei beobachtet, dass er Sätze äußert wie: ‚Der Mensch ist immer beides, Körper und Geist, Leib und Seele, er vereint in sich Tierhaftes und Vernünftiges‘, damit aber verschweigt, was man eigentlich wissen möchte, dies nämlich: worin das Und besteht. 4.4 Man kann dieses Nichtssagende aber auch als ein bedeutendes Nichtssagendes, etwa als Gegenstand einer Frage auffassen. Dann hätte Aristoteles in seiner Definition des Menschen dem Begriff des Menschen die Gestalt einer Frage verliehen. Sie lautete: Wie sind Animalisches und Rationales, weiter gesprochen: Somatisches und Semantisches aufeinander zu beziehen, so dass aus dieser Beziehung das spezifisch Menschliche, das, was den Menschen zum Menschen macht, hervorgeht? 4.5 Auf diese Frage, die Frage nach dem Gattungswesen Mensch, gibt jeder einzelne Mensch seine je und je individuelle Antwort – einfach durch die Art, in der an ihm Somatisches und Semantisches aufeinander bezogen sind, einfach durch die Weise, wie er in seinem Handeln Körper und Geist aufeinander bezieht, vor allem aber: sich zu der Notwendigkeit, dass er sie aufeinander beziehen muss, verhält. 4.5.1 Was den Menschen als Menschen (als ein Wesen, das darum weiß, dass es ein Mensch ist) ausmacht, ist die Weise, wie er sich zu dieser Frage verhält, welche Haltung er zu ihr einnimmt. 4.5.2 Oder auch: Menschen sind Naturwesen, die sich im Horizont einer bestimmten Frage auf sich selbst beziehen, sich zu sich selbst verhalten – eben der Frage nach der eigentümlichen Beziehung von Körper und Geist. 4.5.3 Unsere Intuition, dass der Gattungsbegriff des Menschen nicht allein eine Sache des Denkens sei, ja, sich allein mit den Mitteln der Vernunft gar nicht zur Gänze erschließen lässt – eine Intuition, die Schillers Votum für das Spiel als Medium der Selbstbestimmung des Menschen so eingängig macht – hat genau hierin, in dieser je und je individuellen Gestalt, die jedes menschliche Leben diesem Allgemein-Begrifflichen gibt und geben muss, ihren Grund. Denn die von der Natur (nicht der Kultur 

Weshalb, so lange es menschliches Leben auf diesem Planeten gibt, jedes einzelne menschliche Leben an der Bestimmung des allgemeinen Begriffs vom Menschen Anteil hat. Das freilich ist keine theo-logische, sondern eine utopische, das heißt eine auf den U-Topos hin ausgerichtete, nüchterner ausgedrückt, eine pragmatistisch expressivistische Bestimmung des Menschen – oder, um es gerade heraus zu sagen: Der Mensch ist als Mensch überhaupt nichts Gegebenes: wir müssen erst herausfinden, was er ist.

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übrigens) vorgegebene Schnittstelle von Soma und Sema ist eben das Gefühl, mit einem Wort: die angeborene Fähigkeit unserer Körper, Wahrnehmungen ihrer selbst verstehen und deuten zu können. Was Gefühle sind oder ausmacht, erst recht das Wie-es-sich-anfühlt-ein-menschliches-Wesen-zu-sein erschließt sich zur Gänze nur von innen, nur aus der Perspektive der ersten Person. 5. Obwohl der Gattungsbegriff daher nichts ist, was uns äußerlich wäre, nicht lediglich ein abstraktes Allgemeines, sondern vielmehr jeder ihm durch die Art seines Selbstverhältnisses eine besondere, je und je einmalige Gestalt gibt und wir deshalb am einzelnen Menschen stets etwas über das Gattungswesen Mensch in Erfahrung bringen – obwohl das so ist, bemühen sich Wissenschaftler, namentlich Anthropologen – unter ihnen auch der ästhetische Anthropologe Schiller – darum, auf die Gattungsfrage keine individuelle, sondern eine diskursiv-allgemeine, vor allem aber explizite Antwort zu geben, und zwar, indem sie sich eines begrifflichen Vokabulars bedienen. 5.1 Schiller versucht dies, indem er die aristotelische Frage nach dem Verhältnis von Animalischem und Rationalem umformuliert, das heißt, indem er zunächst das Animalische durch den auf die Veränderung des Realen zielenden Stofftrieb, die Ratio hingegen durch den auf die Produktion von Formen und Bildern (des Realen) zielenden Formtrieb ersetzt und sodann beide Triebe zu allgemeinen, jeden einzelnen Menschen als Gattungswesen bestimmenden Kräften erklärt. 5.2 Daraus resultiert dann die bekannte Schiller’sche Antwort auf die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Sie lautet, es sei eben der Spieltrieb, der am Menschen Stoff- und Formtrieb miteinander vermittelt und so die Einheit des Menschen bestimmt – damit aber eben auch: die spezifische Form, in der am Menschen Sinnliches und Geistiges aufeinander bezogen sind. Der Spieltrieb ist dabei zugleich dafür verantwortlich, dass der Mensch am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch einmal als ganzer Mensch, und damit nicht immer schon als durch die Erfahrung der Selbst-Entfremdung gezeichneter Mensch begriffen werden kann. Noch sind Vita activa und Vita contemplativa vereinbar, zumindest in der theoretischen Kontemplation. 5.3 Doch ein Trieb drängt nach Äußerung und Ausdruck. Auch für einen Triebe vermittelnden Trieb wie den Spieltrieb gilt das. Ohne seinen Ausdruck wüssten wir nicht, dass es ihn gibt. Ohne seine Äußerung könnte in der Konzeption Schillers der Mensch niemals ganzer Mensch sein – er käme nie zu sich selbst, bliebe sich selbst immerzu fremd. 5.4 Wo aber äußert sich der Spieltrieb? Schiller behauptet: im ästhetischen Spiel, in der Kunst als ästhetischem Spiel. Gewiss äußert er sich

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auch im reinen Spiel oder im reinen ästhetischen Verhalten, doch wenn irgendwo, dann, das ist die These Schillers, äußert er sich im ästhetischen Spiel der Kunst. 5.5 Das aber heißt: Wer keine individuelle, sondern eine allgemeine Antwort darauf haben möchte, was den Menschen zum Menschen macht, der muss auf die Kunst schauen – auf die Kunst als ästhetisches Spiel. Hier, wenn überhaupt, ist das Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem ein spezifisch menschliches. 6. Ist das wahr? Oder nur schön gedacht? – Eine Utopie des achtzehnten Jahrhunderts? 7. Das hängt davon ab, was man unter Kunst versteht, also von der Bedeutung des Wortes ‚Kunst‘. Was also ist die Kunst? Ist sie ein ästhetisches Spiel, gar ein heiteres, zweckfreies, nur um sich selbst bekümmertes? 8. Dagegen spricht, dass der Ursprung der Kunst gerade kein heiterer gewesen sein dürfte. Während die Erzielung eines Lustgewinns aus dem freien Umgang mit dem, was an der Wirklichkeit als deren Erscheinen oder Schein hervortritt, bereits Tieren zu eigen ist, wird an den ersten Höhlenzeichnungen, die Menschen an die Wände ihrer Behausungen gemalt haben, etwas anderes deutlich. Dies nämlich, dass sie darum gewusst haben, dass es Bilder sind, die sie schaffen – und nicht einfach Wirkliches; gemalte Gestalten also und nicht wirkliche Menschen, Tiere, Dinge. 8.1 Dies aber setzt voraus, dass sie in der Lage waren, zwischen Darstellungen und Dargestelltem, zwischen Repräsentation und Repräsentiertem zu unterscheiden. 8.2 Damit sie aber eine solche Unterscheidung treffen konnten, mussten sie auch in der Lage gewesen sein, einen noch einfacheren, wenngleich ungemein folgenreichen Gedanken zu denken, nämlich den, dass das Wahrnehmen und Denken und das im Wahrnehmen und Denken Erfahrene nicht schon das Wirkliche ist – mit anderen Worten: dass es für sie, für jeden von ihnen keinen unmittelbaren Zugang zur Welt gibt, sie also in eine Welt eingeschlossen sind, die sie zugleich ausschließt, sie verbannt, in das Reich ihrer inneren und äußeren Bilder und Darstellungen. Und, wer weiß, vielleicht waren schon die ersten Menschen im Pleistozän durch eine Melancholie gekennzeichnet, die jener Ahnung um die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit entsprungen war, vielleicht. Schon früh jedenfalls muss in der Gattungsgeschichte des Menschen eine Ahnung aufgeblitzt sein, die seiner ursprünglichen Weltfremdheit. – Mit Schrecken, wie man vermuten darf. Denn von nun an waren Menschen gezwungen, in sinnlicher Ungewissheit zu leben. Die Sinne waren nichts mehr, auf das man sich verlassen konnte (wie zu den Zeiten, als der Mensch noch Tier war), denn von nun an pro-

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duzierten sie Darstellungen, Repräsentationen des Wirklichen – nicht mehr schlechthin Wirkliches. 8.3 Der zweite Schritt auf dem Weg zur Kunst besteht in einer Reaktion auf diese fundamentale Irritation über die mittelbare Art des eigenen Inder-Welt-Seins. Im Verlaufe dieser Reaktion wird auf die Mittelbarkeit des eigenen Weltzugangs reflektiert, und zwar so, dass die vielfältigen Erscheinungsweisen des Wirklichen sowie die (visuellen, akustischen, pikturalen, sprachlichen) Mittel seiner Repräsentationen in den Vordergrund treten. Geschieht diese Reflexion vornehmlich im Medium des Denkens und zum Zwecke einer Überwindung jener ursprünglichen Mittelbarkeit im Medium des begrifflichen Verstehens, so hat man es mit Philosophie zu tun. Denn das philosophische Denken ist ein Verfahren mit nicht-empirischen Mitteln die Bedingungen der Möglichkeiten unseres an Repräsentationen und Darstellungen gebundenen Weltzugangs zu erforschen. Dass die regulative Idee dieses Denkens von Beginn an auf den Namen Wahrheit hört, hat nicht nur damit zu tun, dass es spätestens mit Platon bemüht war, sich vom Mythos zu unterscheiden, sondern eben auch damit, dass sein Ziel von Beginn an die Überwindung der ursprünglichen Weltfremdheit des Menschen war. Die freilich uneinlösbare Utopie liegt nunmehr, mit den kritischen Worten Kleists gesprochen, darin: „wieder von dem Baum der Erkenntnis [zu] essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.“ Was aber das abstrakte Denken nicht vermag, das ist der verheißungsvolle Gedanke, den Schiller und Kleist dann haben, könnte eben der Dichtung gelingen. 8.4 Geschieht die Reflexion auf die Irritation über die ursprüngliche Mittelbarkeit des Weltzugangs jedoch in einem handelnden, erprobenden und eben: spielerischen Umgang mit äußeren Objekten, so hat man es mit ästhetischem Verhalten zu tun. Dieses spielerisch-ästhetische Verhalten sucht die ursprüngliche Weltfremdheit des Menschen nicht im Denken zu überwinden, sondern auszuagieren und in einem (Sinnliches und Geistiges vermittelnden) Handeln zu bewältigen. Wenn sie schon nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, so kann man doch lernen, mit ihr umzugehen, kurzum: der Mensch lernt, indem er sich ästhetisch handelnd auf den Schein des Wirklichen bezieht, mit diesem Schein als Schein umzugehen, ihn zu ertragen und handhabbar zu machen – wenn er ihn schon nicht zum Verschwinden bringen kann.   

Selbstverständlich benötigten sie dazu nicht die sprachlichen Begriffe der Repräsentation oder Darstellung. Sie benötigt erst die Reflexion auf den Unterscheidungsgebrauch (etwa zwischen Repräsentation und Wirklichkeit), nicht der Gebrauch selbst. Das Lachen der thrakischen Magd über den in den Brunnen gestürzten Thales zeigt freilich, wie sehr schon die erste Philosophie in der Gefahr war, in ihrem Nachdenken über die ursprüngliche Weltfremdheit des Menschen selbst als weltfremd zu gelten. Kleist: Über das Marionettentheater, S. 807.

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8.4.1 Dass es sich hierbei um ein ästhetisches Verhalten handelt, liegt dann in dem Umstand begründet, dass es sich im Medium des durchaus nicht nur sinnlichen, sondern durchaus auch des imaginativen Scheins vollzieht und sich dabei auf Gegenstände bezieht, die ebenfalls diesem Reich des sinnlichen oder imaginativen Scheins entstammen und für das ästhetische Verhalten nur in Beziehung auf die Seite ihres Erscheinens interessieren. – Daher der Eindruck der Interesselosigkeit und Zweckfreiheit, den ästhetisches Verhalten vermittelt. 8.4.2 Die Tatsache, dass es sich dabei zugleich um ein spielerisches Verhalten handelt, zeigt jedoch, dass dieser (kantische) Eindruck täuscht. Denn das ästhetische Verhalten als ein spielerisches Verhalten ist zunächst einmal ein experimentierendes, Welt also im handelnden oder wahrnehmenden Umgang mit ihr lustvoll erschließendes Verhalten. Der erprobende Umgang mit ihrem Erscheinen gleicht dabei dem Durchspielen von Handlungsalternativen im Denken. Das ästhetische Spiel ist, so gesehen, ein nach außen gewendetes, konkretes Denken. Es experimentiert, indem es immer wieder neue Konstellationen von Erscheinungen, Darstellungsweisen, Repräsentationen und, nicht zu vergessen, Haltungen dem Wirklichen gegenüber hervorbringt und so etwas über diese Haltungen, Darstellungs- und Repräsentationsweisen des Wirklichen zutage fördert. 8.4.3 Der Zweck ästhetischen Verhaltens liegt deshalb in der Erschließung der Reichweite der Darstellungen oder der Gesetzmäßigkeiten von Formen. Dieser aufs Ganze gehende, Welt erschließende Charakter wird dann in der Kunst zu einer Norm: Kunst darf sich nicht wiederholen, sie muss Neues schaffen. – Das aber ist die Logik des Experiments. 8.4.4 Das Spielerische des ästhetischen Verhaltens liegt dabei zu einem Gutteil darin begründet, dass es sich die Regeln des Spiels selbst gibt – sich also nicht, wie etwa die Philosophie, geben lässt, von dem, was der Fall ist, vom Sein, von der Wirklichkeit. In dieser Freiheit des Sich-selbst-die-Regeln-Gebens manifestiert sich aber ein viel größerer Freiheitsgewinn, nämlich der einer Freiheit von der bestimmenden Gewalt, um nicht zu sagen: Tyrannei des Wirklichen. Diese determinative Kraft übt die Wirklichkeit einfach dadurch aus, dass sie so ist, wie sie ist. Es ist ihr So-und-nichtanders-Sein, das den Menschen nötigt, sich ihm zu unterwerfen. Wer es nicht tut, wer etwa die Schlucht ignoriert, die sich vor ihm auftut, oder wer soziale Konstruktionen des Wirklichen hartnäckig leugnet, begeht Suizid, sei es in der physischen, sei es, weil sie ihn psychiatrisiert, in der sozialen Welt. 8.4.5 Die Heiterkeit des ästhetischen Spiels hat ihren Grund in der Freiheit von dieser bestimmenden Kraft des Wirklichen. Das Lächeln auf dem Angesicht eines Kindes, das zu spielen beginnt, lässt daran nicht den geringsten Zweifel. Es macht aber auch deutlich, wie früh schon die bestimmende Kraft des Wirklichen als Last erfahren wird, wenn man so will:

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als Gewicht der Welt. Von ihm befreit sich, wer im ästhetischen Spiel mit Erscheinungen – an Erscheinungen, an den farbigen Abglanz des Lebens sich verliert. 8.4.6 Ist die regulative Idee der Philosophie die Überwindung der ursprünglichen Mittelbarkeit oder Weltfremdheit, so erfährt das ästhetische Spiel diese ursprüngliche Erfahrung als Freiheitsgewinn. Die freilich uneinlösbare Utopie der Kunst als ästhetisches Spiel ist daher, die Romantiker haben es gewusst, die Verabsolutierung der Mittelbarkeit, ein Reich reiner Formen und Darstellungen, eben die Welt – als Spiel. 9. Doch nicht bei jedem ästhetischen Spiel, weder beim Kinderspiel noch bei dem, was für gewöhnlich Gesellschaftsspiel heißt, handelt es sich um Kunst. Was also macht aus ästhetischen Spielen, die stets im spezifisch menschlichen Medium von Sinn und Sinnlichkeit, Semantischem und Somatischem sich vollziehen, Spiele der Kunst? 9.1 Zunächst dies, dass Objekte geschaffen werden, die eigens dazu bestimmt sind (und denen man es ansieht, dass sie dazu bestimmt sind), einem ganz eigenen Zweck zu dienen, nämlich dem, die Aufmerksamkeit dessen, der mit ihnen umgeht, auf die Art ihres Erscheinens und Repräsentierens zu richten. Und damit sie diesen Zweck erfüllen können, muss man sie von anderen, sog. praktischen Zwecken befreien. Das geschieht, indem sich die Kunst als ein Gesellschaftsspiel etabliert, das mit diesen Objekten nach ganz bestimmten Regeln verfährt. 9.1.1 Die erste dieser Regeln besagt, dass diese Objekte gemäß dem Zweck, zu dem sie produziert worden sind, auch zu gebrauchen seien, ihre Rezeption daher selbst wiederum eine ästhetische zu sein habe, eine, die ganz auf die Weise des Repräsentierens achtet – und selbst noch das, was da repräsentiert wird, die Inhalte und Gegenstände, im Lichte der Tatsache sieht, dass sie repräsentierte Inhalte oder Gegenstände sind. (Dass diese erste Regel noch kein hinreichender Bestimmungsgrund der Kunst ist, sieht man daran, dass sie etwa auch von Kulturwissenschaftlern befolgt wird, z.B. dann, wenn sie Symbolgehalte oder Riten erforschen.) 9.1.2 Die Befolgung der zweiten Regel jedoch verleiht der Kunst dann ihre aufs Ganze gehende, allenfalls mit Mythos und Metaphysik vergleichbare Attitüde – und unterscheidet die Kunst darin sowohl vom reinen ästhetischen Spiel (das sich ganz und gar im Detail verlieren kann) als auch von Kitsch und Kunsthandwerk. Diese zweite Regel besagt, dass die Erscheinungs- und Darstellungsweise der Kunstobjekte, die Tatsache, dass sie dieses oder jenes repräsentieren, als Reaktion auf jene ursprüngliche Darstellungs- und Repräsentationsbedürftigkeit des Menschen genommen werden muss. Kunstobjekte erscheinen, wird diese Regel bei ihrer Produktion oder Rezeption befolgt, als ein Versuch, mit dieser Weltfremdheit darstellend oder repräsentierend zurechtzukommen oder sich zu ihr zu verhalten.

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Die existenzialistische Note, die aller Kunst, selbst noch – denkt man an Mozart – in ihren heitersten und verspieltesten Momenten zukommt, hat hierin ihren Grund. 9.2 Zu diesen beiden, den Umgang mit ästhetischen Objekten als Kunstobjekten bestimmenden Regeln treten nun im Spiel der Kunst zwei Normen hinzu, an deren Erfüllung die Objekte der Kunst gemessen werden. 9.2.1 Die erste Norm fordert von ihnen, dass die Art ihres Erscheinens oder Repräsentierens der Darstellung der Welt zu dienen habe, ihr Präsentieren von Repräsentationsweisen, ihr Erscheinenlassen von Hinsichten, in denen etwas als etwas genommen werden kann, also zuletzt einem Zweck zu dienen habe: dem der Darstellung von Welt und Wirklichkeit. Die klassischen Namen für diese Norm heißen Mimesis oder Nachahmung. 9.2.1.1 Diese Norm entspringt keiner willkürlichen Setzung, sondern dem, mit Benjamin gesprochen, mimetischen Vermögen des Menschen, das aber wahrscheinlich mehr ist als ein Vermögen, nämlich ein Bedürfnis. Als solches ist es Teil dessen, was Schiller Spieltrieb nannte. Leicht zu erkennen ist das am Kinderspiel: es sucht sich, aus welchem Material auch immer, die Welt noch einmal zu erschaffen, sie in einer eigenen, zweiten Welt nachzuahmen. Oder es versucht, darin liegt sein mimetischer Impuls, die Distanz zwischen eigener und anderer Welt zum Verschwinden zu bringen; spielende Kinder werden dann im Spiel das Andere oder ein Anderer, sie werden, was sie spielen. 9.2.1.2 Diese Verpflichtung der Kunst auf Nachahmung oder Mimesis gleicht die Kunst philosophischen und religiösen Weisen der Welterschließung an. Sie fordert von der aus der Erfahrung der Weltfremdheit hervorgegangenen Kunst, dass sie selbst nicht weltfremd bleiben dürfe, sondern – zuletzt Welt verstehbar machen und selbst verstehbar sein müsse. Wo sie sich dieser Norm verweigert, wird ihr das als Makel vorgerechnet oder sie wird gar überhaupt nicht erst als Kunst anerkannt. 9.2.2 Doch ist, dass Kunst allein auf Realismus abziele, ein Irrtum, der sich der Missachtung einer zweiten Norm verdankt. Sie besagt das genaue Gegenteil der ersten und ist daher der Grund für die dialektische Spannung, in der alle Kunst begriffen – und natürlich für viele Missverständnisse, denen sie ausgesetzt ist. Dieser Norm zufolge hat Kunst sich nicht um anderes und schon gar nicht um die Welt, sondern allein um sich selbst zu bekümmern. Die Darstellungs- und Repräsentationsweisen, die die Kunstobjekte präsentieren und mit denen sie experimentieren, hätten sich eben gar nicht auf irgendwelche verstehbaren Gehalte zu beziehen, sondern nur auf sich selbst. Worauf es ankommt, ist, dieser Norm zufolge, allein der Akt der Darstellung, die Weise, in der etwas gezeigt oder als etwas genommen wird, das reine Erscheinen – sowie die Art, in der sich dieses Erscheinen zu sich selbst verhält. Das aber ist das Gesetz des Ornaments!

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9.2.2.1 Hier wird, was das ästhetische Spiel ausmacht, in der Kunst zur Norm. Die Kunst als soziales Spiel wiederholt das ästhetische Spiel, sie integriert es, macht es zum Spiel im Spiel. Wo diese Norm erfüllt wird, entstehen reine Formen der sinnlichen und intellektuellen Anschauung. – Daher kann auch das spezifisch menschliche Selbstverhältnis in der Kunst die Gestalt reiner selbstbezüglicher Formen annehmen. 9.2.2.2 Was dann entsteht, zeigt nicht erst die abstrakte Malerei, sondern eben bereits das Ornament, das Formen sich auf Formen beziehen lässt – oder die Aleatorik – oder die Arabeske – oder eben die Idee einer progressiven Universalpoesie, zu der es bei Novalis heißt: „Die Sprache ist ein musicalisches Ideen Instrument. Der Dichter, Rhetor und Philosoph spielen und componieren grammatisch.“ 9.2.2.3 Der aller ornamentalen Kunst zugrunde liegende Gedanke ist dabei freilich ein einfacher. Er lautet, dass von Gehalten deshalb zu abstrahieren sei, weil Gehalte gerade von dem ablenken, was Kunst als ästhetisches Spiel ausmacht. 9.3 Da Kunst jedoch eine dialektische Unternehmung bleibt, ist auch das nur die halbe Wahrheit. Denn so wie das allein um sich selbst bekümmerte, reine ästhetische Spiel nicht das ganze ästhetische Spiel ist (es gibt daneben auch eines, das auf Mimesis und Nachahmung zielt), ist auch das ganze ästhetische Spiel nur die andere, gewissermaßen unbekümmerte, heitere Seite der gewichtigen und durchaus ernsthaften Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. 9.4 Das ästhetische Spiel, auch das der Kunst, scheint daher nur eine unter vielen (wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen) Möglichkeiten, die Frage nach dem Menschen immer wieder neu zu stellen und im Hinblick auf allgemeine Geltungsansprüche zu beantworten – durch den Umgang mit Objekten, die an sich selbst das Verhältnis von Somatischem und Semantischem, Körperlichem und Geistigem immer wieder neu zur Darstellung bringen. 9.5 Da sie aber den Gegenstand der Frage nach dem Menschen, das Verhältnis von Körperlichem und Geistigem, weder allein im Reich des Geistigen, auf dem Wege des Nachdenkens also, zu erschließen sucht, noch allein auf der Seite des Körperlichen in einem Akt des Positivismus zum Verschwinden bringt, sondern eben als ein Verhältnisspiel immer wieder aufs Neue zum Leben erweckt, ist wohl kaum ein Verhalten zu dem, wonach die Frage nach dem Menschen fragt, angemessener als das der Kunst. Denn diese lässt im Rahmen ihres Gesellschaftsspiels und daher eben auf eine spielerische Weise Menschen aushandeln, was sie als Menschen ausmacht. 

Novalis: Das Allgemeine Brouillon, S. 555.

Was ist die Kunst, was ist der Mensch?

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9.6 „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Literatur Bornscheuer, Lothar: Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont. In: Georg Stötzel (Hg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Teil 2: Ältere Deutsche Literatur – Neuere Deutsche Literatur. Berlin, New York 1985, S. 420-438. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Werke in einem Band. Hg. v. Helmut Sembdner. München 21978, S. 802-807. Koopmann, Helmut: Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant. In: Ders. (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 575-586. Nethersole, Reingard: „…die Triebe zu leben, zu schaffen, zu spielen.“ Schillers Spielkonzeption aus heutiger Sicht. In: Hans-Jörg Knoblauch; Helmut Koopmann (Hg.): Schiller heute. Tübingen 1996, S. 167-188. Novalis: Das Allgemeine Brouillon. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. II. Hg. v. Hans-Joachim Mähl; Richard Samuel. München 1978. Pott, Hans Georg: Die Ästhetik Schillers mit Bezug auf Hegel. In: Ders.: Schiller und Hölderlin. Studien zur Ästhetik und Poetik. Frankfurt a.M. 2002, S. 29-47. Pott, Hans Georg: Schillers spekulative Gattungspoetik und Eichendorffs Poesie. In: Aurora 50, 1990, S. 87-101. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Bd. V. Hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004, S. 570-669. Sharpe, Lesley: Schiller’s Aesthetic Essays. Two Centuries of Criticism. Columbia SC 1995. Wetzel, Tanja: Spiel. In: Karlheinz Barck; Martin Fontius u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. V. Stuttgart, Weimar 2003, S. 577-618.



Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 618, Hervorheb. im Orig.

Jürgen Brokoff

Die Verselbständigung der Poesie als Spiel am Ende des 18. Jahrhunderts und der Spielbegriff bei Johan Huizinga und Jost Trier Poesie und Spiel scheinen von jeher eng miteinander zusammenzuhängen. Ihr Zusammenhang hat auch dann noch Bestand, wenn sich die Verbindung des Spiels zu den Tätigkeiten des Menschen auf anderen Gebieten bereits verflüchtigt und aufgelöst hat. Von einem „unauflösbaren“ Zusammenhang zwischen Poesie und Spiel geht jedenfalls der niederländische Kultur- und Religionshistoriker Johan Huizinga aus, dessen 1938 erschienene Abhandlung Homo Ludens ohne Zweifel einer der wichtigsten Beiträge zur Kulturtheorie des Spiels im 20. Jahrhundert ist. Huizinga schreibt zum besonderen Verhältnis von „Spiel und Dichtung“ (H 133): Denn während Religion, Wissenschaft, Recht, Krieg und Politik in höher organisierten Formen der Gesellschaft die Berührungen mit dem Spiel, die sie in frühen Stadien der Kultur offenbar in so reichlichem Maße hatten, nach und nach zu verlieren scheinen, bleibt das Dichten, das in der Spielsphäre geboren ist, immerfort in dieser zu Haus. (H 133)

Die Poesie, die in der Sphäre des Spiels geboren wird und in der Sphäre des Spiels verbleibt, besitzt als eine Sonderform der Sprache ebenso einen autonomen Status wie das Spiel im Allgemeinen. Poesie und Spiel geben sich selbst ihre Gesetze und ihre Regeln. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Poesie und Spiel deckungsgleich wären. Die Poesie ist vielmehr ein Teilbereich des umfassenderen Kulturphänomens Spiel. Dieses Kulturphänomen Spiel wurzelt seinerseits im Naturphänomen Spiel, dessen Geltungsbereich sich bis zum Tierreich, bis zum spielenden Tier erstreckt. So ist nicht jedes Spiel Poesie, jede Poesie aber immer auch Spiel. Die Autonomie des Spiels thematisiert Huizinga bereits am Beginn seiner Abhandlung, wenn er die in den Wissenschaften häufig diskutierte Frage nach der äußeren Zweckmäßigkeit des Spiels – sei es das Spiel von Tieren, Kindern oder erwachsenen Menschen – mit dem Hinweis darauf zurückweist, dass die Frage falsch gestellt sei. Huizinga nennt die Frage nach dem „Warum“ und „Wozu“ (H 30) des Spiels „irreführend“ (H 30). Das Spiel 

Vgl. Huizinga: Homo Ludens, S. 173. – Zitatnachweise im Folgenden unter Angabe der Sigle H und der Seitenzahl im Text.

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erfüllt keinen äußeren Zweck. Der Zweck liegt vielmehr im Spiel selbst. Das Fehlen einer äußeren Zweckmäßigkeit und das Vorhandensein einer inneren sind ein erster Beleg für den engen Zusammenhang, der zwischen der autonomen Poesie und dem autonomen Spiel besteht. So thematisiert und problematisiert Karl Philipp Moritz in seinem 1785 erschienenen Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten, einem der Gründungstexte der Autonomieästhetik, exakt dieselbe Frage wie Huizinga. Moritz führt aus, dass das Kunstwerk erst dann in sich selbst vollendet und frei von jeder äußeren Zweckmäßigkeit ist, wenn sich die Frage: „wozu das Ganze?“ dem Schöpfer und dem Betrachter eines Kunstwerks gar nicht erst stellt. Diese Frage muss von beiden vergessen werden, weil sie den Schwerpunkt auf das hervorbringende und betrachtende Individuum, nicht aber auf das Kunstwerk selbst legen würde, das ganz allein das Gravitationszentrum des künstlerischen Prozesses zu bilden hat. Die Selbstvergessenheit der an Poesie und Spiel beteiligten Individuen veranschaulicht die von Huizinga angeführte Ernsthaftigkeit und Inbrunst der Spielenden. Sie ist aber nicht das einzige Element, das den Zusammen­ hang von Poesie und Spiel im Hinblick auf deren Autonomie deutlich macht. Huizinga nennt drei weitere „formale Kennzeichen des Spiels“ (H 15), die ebenfalls auf die Poesie zutreffen und für deren Bestimmung als autonome Größe relevant sind. Das Spiel wird von Huizinga erstens als ein freies Handeln verstanden. Zweitens werden im Spiel die Grenzen des gewöhnlichen Lebens überschritten. Und drittens findet das Spiel in einem zeitlich und räumlich abgegrenzten Bezirk statt. Nachfolgend soll skizziert werden, dass im Hinblick auf den Zusammenhang von Poesie und Spiel nicht nur das erste Kennzeichen, das freie Handeln, sondern auch das zweite und das dritte Kennzeichen ein besonderes Interesse beanspruchen dürfen. Die Erörterung der beiden zuletzt genannten Kennzeichen ermöglicht eine genauere Bestimmung des Prozesses, der die Verselbständigung der Poesie als Spiel genannt werden kann. Dabei wird sich zeigen, dass unter Verselbständigung mehr als nur Autonomie zu verstehen ist. Huizingas Auffassung, dass das Spiel freies Handeln ist, legt zunächst eine Verbindung zu Friedrich Schillers Begriffen des Spiels und des Spieltriebs nahe. Diese Verbindung soll hier nur angedeutet werden. Nach Schiller, dessen 1795 veröffentlichte Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen die Begriffe Spiel und Spieltrieb in die philosophische und ästhetische Diskussion einführen, entsteht die Freiheit des Menschen durch den Ausgleich der im Menschen entgegensetzten Kräfte des Stoff- und  

Moritz: Versuch einer Vereinigung, S. 6. Vgl. dazu Brokoff: Die Unvereinbarkeit von Erziehung und ästhetischer Erziehung.

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des Formtriebs. Ein solcher Ausgleich, der von Schiller nicht als Regel-, sondern als Ausnahmefall betrachtet wird, ist nur in der eigenständigen Sphäre des Spiels und des Scheins möglich, weil nur hier der „doppelte Ernst“ (NA 20, 359) von Stoff- und Formtrieb aufgehoben ist und beide Triebe harmonisch zusammenwirken können. Für dieses harmonische Zusammenwirken ist der „Spieltrieb“ (NA 20, 353) zuständig, der kein eigenständiger Trieb ist, sondern aus der ausgleichenden Bewegung der beiden anderen Triebe entsteht. Die Sphäre des Spiels und des Scheins, in der sich der Spieltrieb zu entfalten vermag und in der die Härten der Wirklichkeit aufgehoben werden, ist die Sphäre der schönen Kunst. Nur in dieser Sphäre ist der Mensch von allen Nötigungen und Zwängen entlastet, die ihm sonst durch die Naturgesetze und die Gesetze der Vernunft auferlegt werden. Und es ist die ausschließlich in dieser Sphäre gelingende Zusammenwirkung seiner beiden Triebe, die den Menschen „in Freyheit setz[t]“ (NA 20, 354). Auf der Grundlage dieser Freiheit, die von Schiller rein ästhetisch verstanden wird, ist dann im weiteren Horizont die Möglichkeit einer moralisch-politischen Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen gegeben, wobei diese Möglichkeit noch nichts über deren Verwirklichung aussagt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl Schiller als auch Huizinga die Beeinträchtigung der Freiheit des spielerischen Handelns durch die Ausübung von Zwang reflektieren. Die Ausübung von Zwang würde den freiheitlichen Charakter des spielerischen Handelns zerstören. Ein „befohlenes Spiel“ (H 16) ist nach Huizinga ebenso ein Unding wie nach Schiller eine Einwirkung auf den Zustand ästhetischer Freiheit, in dem der Mensch allein mit seinen Neigungen und Pflichten zu „spielen“ (NA 20, 354) vermag. Der Mensch muss, mit anderen Worten, von selbst in den Freiheitsbereich des spielerischen Handelns gelangen. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Pädagogik des Spiels und eine Erziehung zur Kunst höchst problematisch sind. Sie sind es zumindest dann, wenn man die seit Kant bestehende Einsicht berücksichtigt, dass die Paradoxie von Freiheit und Zwang im pädagogischen und erzieherischen Geschehen nicht aufzulösen ist, sondern bloß entschärft werden kann.    

Vgl. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen (11. bis 19. Brief). – Zitatnachweise unter Angabe der Sigle NA und der Band- und Seitenzahl. Vgl. Brokoff: Die Unvereinbarkeit von Erziehung und ästhetischer Erziehung, S. 140 ff. Vgl. etwa den Beginn des zwanzigsten Briefes von Schiller: „Daß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff.“ (NA 20, 373) Vgl. Brokoff: Die Unvereinbarkeit von Erziehung und ästhetischer Erziehung, S. 134-136, 148 f. – Die Paradoxie von Freiheit und Zwang, die Kant mit der ihm eigenen Strenge in seiner Vorlesung Über Pädagogik thematisiert, hat die Pädagogik und Erziehungswissenschaft nicht davon abgehalten, den für sie außerordentlich reizvollen Begriff des Spiels zur Grundlage einer eigenen Unterdisziplin zu machen: der Spielpädagogik. Vgl. dazu etwa die spielpädagogischen Arbeiten Friedrich Fröbels aus dem 19. Jahrhundert. Zur spielpädagogischen Forschung vgl. Kreuzer: Handbuch der Spielpädagogik.

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Von Huizingas Auffassung, dass das Spiel freies Handeln ist, lässt sich aber nicht nur eine Verbindung zu Schillers Konzept, sondern auch zu der bereits angesprochenen Ästhetik von Moritz herstellen. Huizingas Theorie des Spiels und Moritz’ Ästhetik des in sich selbst Vollendeten betonen gleichermaßen die Nicht-Natürlichkeit des Spiels und des poetischen Kunstwerks. Der spielende Mensch und der das Kunstwerk hervorbringende Künstler nehmen sich die Freiheit, über die Natur hinauszugehen. Sie tun etwas, das über die unmittelbare Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten hinausreicht. Die Freiheit des spielenden Menschen hebt das Spiel ebenso „aus dem Lauf eines Naturprozesses heraus“ (H 16) wie die Freiheit des Künstlers darin besteht, etwas zu schaffen, das nicht unmittelbar in den „grossen Plan“ der Natur gehört. Daneben meint Freiheit des spielerischen Handelns bei Huizinga aber auch, dass das Spiel unabhängig vom Prozess der Vergeistigung, den es „in seinen höheren Formen“ (H 18), d.h. in der Kultur und in der Kunst des Menschen durchläuft, vor allem Vergnügen bereitet. Das Spiel bereitet Vergnügen, ohne dabei nützlich zu sein. Die von Huizinga angeführte Überflüssigkeit des Spiels, das der Mensch „ebensogut lassen könnte“ (H 16), korrespondiert aufs engste mit Moritz’ Bestimmung des Schönen und des in sich selbst vollendeten Kunstwerks. In der Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen von 1788, die in vielerlei Hinsicht das Kernstück von Moritz’ Ästhetik bildet, ist das Nicht-Nützliche und Überflüssige das entscheidende Definitionskriterium des Schönen. Die Positionen von Huizinga und Moritz stimmen aber auch jenseits abstrakter Theoriebildung überein. Die von Huizinga mehrfach angeführte Tatsache, dass vor allem deshalb viel und gerne gespielt wird, weil das Spiel Vergnügen und Freude bereitet, ist auch bei Moritz präsent. Die Anerkennung dieser Tatsache findet sich bei Moritz allerdings nicht in den einschlägigen kunsttheoretischen Schriften, sondern an relativ entlegener Stelle: in seiner Verslehre. Im 1786 erschienenen Versuch einer deutschen Prosodie grenzt Moritz die Verssprache, die für ihn gleichbedeutend mit der Sprache der Poesie ist, scharf von der Sprache der Prosa ab. Den Hauptunterschied zwischen beiden Formen der Sprache sieht Moritz darin, dass die Sprache der Prosa ihren Zweck „ausser sich“ (M 25), die Verssprache der Poesie dagegen ihren Zweck „in sich selbst“ (M 26) hat. Die Verssprache ist um ihrer selbst willen da. Hinter diesem Dasein der Verssprache um ihrer selbst willen steckt mehr als nur die Anwendung von Moritz’ Theorie des Selbstzweckhaften und des in sich selbst Vollendeten auf die verssprachliche Praxis. Moritz bringt die Verssprache in eine Analogie zum Tanz. Die Gemein 

Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, S. 73. Moritz: Versuch einer deutschen Prosodie. – Zitatnachweise im Folgenden unter Angabe der Sigle M und der Seitenzahl im Text.

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samkeit von Verssprache und Tanz liegt in deren Bewegung. Die Bewegung des Tanzes findet dabei ebenso „um ihrer selbst willen“ (M 31) statt wie die sanfte und harmonische Bewegung der Verssprache „um ihrer selbst willen“ (M 32) stattfindet. Moritz veranschaulicht die Analogie der Bewegung des Tanzes und der Bewegung der Verssprache an einem Beispiel, das höchst aufschlussreich ist. Es ist die „hüpfende Freude“ (M 30), die den Körper und die Sprache des Menschen gleichermaßen in Bewegung setzt. Dabei verwandelt sich der zunächst spontane Ausdruck der „hüpfenden Freude“ nach und nach in die Regelmäßigkeit einer geordneten Bewegung. Aus den „unabgemeßnen wilden Sprüngen der ausbrechenden Freude“ (M 33) wird der „regelmäßige künstliche Tanz“ (M 32), und aus dem „kunst- und regellosen Gesang“ (M 33) der freudigen Empfindung wird der „künstliche, regelmäßige Versbau“ (M 33). Mit der Regelmäßigkeit der geordneten Bewegung erfasst Moritz zum einen die gemeinsame Grundlage von Vers und Tanz. Diese gemeinsame Grundlage ist der Rhythmus.10 Der Rhythmus ist dabei, wie Moritz’ Formulierungen zeigen, keine naturwüchsige Eigenschaft, sondern Kennzeichen einer intendierten, künstlichen Bewegung. Dieses klare Bekenntnis zur Künstlichkeit unterscheidet Moritz’ Verslehre deutlich von früheren und zeitgenössischen Konzeptionen der Verssprache, etwa von der Konzeption Johann Gottfried Herders.11 Zum anderen gibt die von Moritz angeführte Empfindung der „hüpfenden Freude“ einen Hinweis auf das, was Huizinga als das zweite „formale Kennzeichen des Spiels“ thematisiert: die Überschreitung des gewöhnlichen Lebens. Moritz’ Deutung der Verssprache als „tanzhafte Rede“12 weist auf eine Theorie der Feier und des Festes hin, die ebenso im Mittelpunkt von Huizingas kulturanthropologischer Betrachtung des Spiels steht. Hier deutet sich in einem tieferen Sinne der Spielcharakter der Poesie an. Dieser Spielcharakter der Poesie ist nicht nur sprachgeschichtlich belegbar, sondern nimmt auch eine konkrete, anschauliche Gestalt an. Moritz’ Analogie von Vers und Tanz verweist einerseits wort- und bedeutungsgeschichtlich auf den Zusammenhang von Poesie und Spiel und öffnet andererseits den Blick für deren soziale Dimension. Um die Tragweite von Moritz’ Konzeption der Verssprache als einer „tanzhaften Rede“ vollständig ermessen zu können, ist es notwendig, auch das dritte von Huizinga angeführte „formale Kennzeichen“ des Spiels – die zeitliche und räumliche Abgegrenztheit 10 Vgl. dazu Trier: Rhythmus, S. 135-141. 11 Herder hatte in seinen Entwürfen und Fragmenten Von der Ode kritisiert: „Unser Wohlstand hat nicht den Zeichen der Empfindung bloß Ketten angelegt, da das Gehüpf[,] ein Tanz, die Töne der Natur, Musik, die Akzente und Geberden, Deklamationen im Air geworden sind, sondern auch wirklich unsre Empfindung der Natur phantastisch eingeschränkt, daß wir sie nie zu ihrer vorigen Lebhaftigkeit zurückführen können.“ (Herder: Von der Ode, S. 72 f.) 12 So die Titelformulierung in Schrimpf: Vers ist tanzhafte Rede.

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des Spiels – in die Überlegung mit einzubeziehen und mit Inhalt zu füllen. Eine solche inhaltliche Füllung hat, nur wenige Jahre nach Huizinga und in expliziter Auseinandersetzung mit ihm, ein Forscher vorzunehmen versucht, dessen Arbeiten zum Spielbegriff in der gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskussion über das Spiel ein wenig unterrepräsentiert sind.13 Gemeint sind die sprach- und kulturgeschichtlichen Arbeiten des Germanisten Jost Trier, der als Begründer der Wortfeldtheorie international Beachtung gefunden hat. Trier hat 1947 unter Verwendung eigener, bereits publizierter Vorarbeiten eine wegweisende Studie zur Bedeutungsgeschichte des Wortes Spiel und seines sprachlichen Umfeldes vorgelegt.14 Ein wichtiges Ergebnis dieser Studie ist in dem Nachweis zu sehen, dass das sprachliche Umfeld des Wortes ‚Spiel‘ aus „Tanzwörtern und Theaterwörtern“ besteht.15 Dazu gehören unter anderem „Chor“ (gr. choros) und „Schar“, „pfluog“ und „play“ sowie „rym“ (mhd. rîm, nhd. Reim). Nach Trier ist die musische und künstlerische Bedeutung des Wortes ‚Spiel‘ sprachgeschichtlich reich bezeugt. Darüber hinaus geht aber Trier in seiner Studie noch hinter die Bedeutung ‚Tanz‘ und ‚tanzen‘ zurück und versucht das Wort ‚Spiel‘ als ein Wort nachzuweisen, das die „Hegung, Ausgrenzung, Zaunsetzung“,16 d.h. die räumliche Abgrenzung eines vom übrigen Leben abgeschiedenen „Spielraums“17 zum Inhalt hat. Trier kommt zu folgendem Ergebnis: „Nicht ‚Tanz‘ und ‚tanzen‘, sondern ‚Hegung‘ und letztlich wahrscheinlich *‚Zaun‘, ‚zäunen‘ ist die Grundbedeutung von spil, spilon.“18 Das ästhetische Bewusstsein für diesen räumlichen Charakter des Spiels hat kein Geringerer als Schiller bewahrt. In seiner Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, die der Buchausgabe des Trauerspiels Die Braut von Messina von 1804 vorgeschaltet ist, fordert Schiller die (Wieder-)Einführung des Chors in die „poetische Tragödie“19. Diese Einführung des Chors, der interessanterweise als erster Schritt die „Einführung einer metrischen Sprache“20, das Hauptkennzeichen der Poesie, voranzugehen hat, soll „eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.“21 Die Begriffe Hegung, Zaun und Zaunsetzung, die von Trier auf sprachgeschichtlichem Wege ermittelt werden, erhalten durch die Schillersche Vor13 14 15 16 17 18 19 20 21

Eine Ausnahme hiervon bildet die genannte Arbeit von Schrimpf. Vgl. Trier: Spiel; vgl. auch ders.: Zaun und Mannring, und ders.: First, S. 55-137. Trier: Spiel, S. 427. Ebd., S. 424. Ebd., S. 423. Ebd., S. 451. Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, S. 285. Ebd. Ebd.

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stellung des Chors als „lebendige Mauer“ eine Bestätigung von poetischer Seite. Sie zeigen zugleich an, dass sich Trier dem Kulturphänomen Spiel von einer anderen Seite nähert als Huizinga. Trier fragt nicht wie Huizinga aus einer allgemeinen kulturphilosophischen und kulturtheoretischen Perspektive nach dem „Wesen des Spiels“ (H 11). Er geht vielmehr vom gegebenen bzw. geschichtlich rekonstruierbaren Sprachmaterial aus und versucht von dort aus, die ästhetische und die soziale Dimension des Wortes ‚Spiel‘ zu bestimmen. Das Zaun- und Hegewort ‚Spiel‘ weist auch für Trier auf die Autonomie des Spiels hin. Bei ihm ist von der Autonomie des Spiels in einem ganz wörtlichen Sinn die Rede: Hegung gehört zum Wesen des Spiels. Ob Spielbrett oder Spielplatz – Rand und Hegung sind es in jedem Falle, die den Raum bestimmen, in welchem das Gesetz des Spiels herrscht, aus welchem ausgeschlossen sein soll, was in Gedanken, Formen, Taten spielfremd wäre, während ihm sein Recht im Draußen nicht bestritten wird. Ludus und Spiel sind Hegewörter, weil die Sonderwelt des Spiels eine Welt mit eigenem Nomos ist. Jeder Nomos ist, was er ist, innerhalb seines Zauns. Das Wort nomos selbst ist etymologisch ein Zaunwort.22

Dass sich von dieser Bedeutung des Wortes ‚Spiel‘ eine Verbindungslinie nicht nur zu Schillers Tragödienkonzeption, sondern auch zu Moritz’ Theorie der Verssprache ziehen lässt, macht ein von Trier angeführtes literarisches Beispiel aus dem Alsfelder Passionsspiel deutlich, in dem vom „spiel“ als einem „kreyß“ die Rede ist. Den im spätmittelalterlichen Passionsspiel proklamierten „kreyß“ darf nur betreten, wer zum Spielen befugt und zum Spielen bereit ist. Trier kommentiert das literarische Beispiel wie folgt: Sehr zu beachten ist die begriffliche Nähe zwischen kreyß und spiel. Das Spiel, das sind die Spielenden, ihre Gesamtheit und Gesellschaft, [...]. Wir dürfen spiel wohl als „hegenden Kreis der Spielenden“ auffassen.23

Der Kreis ist gleichzeitig auch die Figur, die von Moritz zur räumlichen Veranschaulichung seiner ästhetischen Überlegungen herangezogen wird. Er kann als die zentrale Figur der Moritzschen Ästhetik angesehen werden. Das in sich selbst vollendete Kunstwerk ist kreisförmig, rund. Kreisfigur und Rundung bestimmen dabei nicht nur die theoretischen Schriften über Die metaphysische Schönheitslinie und Über die bildende Nachahmung des Schönen, sondern auch Moritz’ Verslehre, die stärker praktisch ausgerichtet ist.24 Hier ist es die zu Versen gebundene Sprache der „hüpfenden Freude“, die selbst die Gestalt des Kreises annimmt. Moritz macht in seiner Verslehre darauf aufmerksam, dass die Verssprache der Poesie auch deshalb von der Sprache der Prosa scharf unterschieden werden muss, weil die Bewegung, die erstere unternimmt, nicht geradlinig auf die Erreichung eines äußeren Ziels 22 Trier: Zaun und Mannring, S. 232. 23 Trier: Spiel, S. 453. 24 Vgl. dazu das dritte Kapitel von Brokoff: Geschichte der reinen Poesie.

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gerichtet ist, sondern in sich selbst „zurückgewälzt“ (M 24, 30) wird. Durch die Zurückwälzung der Verssprache in sich selbst wird die geradlinige Bewegung der Sprache in eine Kreisbewegung umgebogen. Moritz fasst die kreisförmig bewegte Verssprache als ein in sich gekehrtes Spiel auf. Er stellt damit, ohne dies bewusst zu thematisieren, eine Beziehung zur Etymologie des Wortes ‚Vers‘ her. Dieses Wort lässt sich auf das lateinische Substantiv ‚versus‘ zurückführen, das als ‚terminus technicus‘ des Landbaus ‚das Umwenden des Pfluges‘ bedeutet. Setzt man dies mit dem Argument von Trier in Beziehung, dass es ein „ausgesprochen musisch-theaterhaftes pfluog, ein Wort pfluog im Sinne von ‚rym‘, ‚Spielkreis‘, ‚Spielhegung‘“25 gibt, wofür Trier als Beleg eine Textstelle aus einem spätmittelalterlichen Fastnachtsspiel anführt, so verdichten sich sowohl auf wort- und bedeutungsgeschichtlicher als auch auf sachlicher Ebene die Hinweise, dass zwischen Verssprache, Kreis und Spiel ein innerer Zusammenhang besteht. Was bedeutet es aber, wenn man – wie Moritz – die kreisende Bewegung der Verssprache als ein in sich gekehrtes Spiel versteht? Diese Frage, deren Beantwortung schwieriger ist, als es den Anschein hat, impliziert eine andere Frage: Wer spielt in diesem Fall? Darauf wird man zunächst vielleicht folgendes antworten wollen: Es spielen diejenigen, die Verse sprechen oder singen. Diese Antwort haben zumindest Huizinga und Trier gegeben und dabei den gemeinschaftlich-kollektiven Charakter des Spiels hervorgehoben, der ihrer Ansicht nach auch die Verssprache kennzeichnet. Für beide ist Spiel ein soziales Geschehen. Huizinga schränkt das Untersuchungsgebiet seiner Arbeit explizit auf „Spiele sozialer Art“ (H 15) ein. Ihn beschäftigt vor allem das „Leben der Gemeinschaft“ (H 141), das im Spiel eine Erhöhung und Steigerung erfährt. In ähnlicher Weise geht es auch Trier nicht nur um den gehegten und umzäunten Spielkreis im musisch-künstlerischen Sinn, sondern darüber hinaus um den gehegten und umzäunten Kreis als „politisch-rechtlich-wirtschaftliche Gemeinschaft“26 und um die Verbindung beider Aspekte: in sachlicher Hinsicht um die „Verschränkung des Politischen mit dem Musischen“27 und auf wortgeschichtlicher Ebene um die „politisch-musische Hegung in Spiel und spielen“.28 Die von Huizinga ins Auge gefasste Erhöhung und Steigerung des Gemeinschaftslebens und Triers politisch-musische Gemeinschaft finden ihren Höhepunkt in ein- und demselben Ereignis: im Fest, in der Feier. Während des Festes, während der Feier werden die Grenzen des alltäglichen und gewöhnlichen Lebens überschritten. Während dieser Zeit schließen sich die sonst Vereinzelten auch räumlich zur Gemeinschaft 25 26 27 28

Ebd., S. 448. Ebd., S. 461. Ebd. Ebd., S. 456.

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zusammen.29 Spiel ist also Fest, Feier. Dementsprechend wäre die Sprache des Spiels eine Sprache des Festes und der Feier, die in Gemeinschaft vorgetragen wird. Diese Sprache des Festes und der Feier ist die gebundene Sprache, die Verssprache: Was heilig und feierlich ist, sagt man in einem Gedicht. (H 141) Das metrische Wort entsteht allein im Spiel der Gemeinschaft; dort hat es seine Funktion, seinen Sinn und seinen Wert, und es verliert diese in dem Maße, wie das Gemeinschaftsspiel seinen kultischen und feierlichen oder festlichen Charakter einbüßt. (H 156, meine Hervorhebung, J.B.)

In ähnlicher Weise lässt auch Trier die gebundene Rede, die Verssprache, aus der Gemeinschaft bzw. aus dem „Erleben der Gemeinschaft“30 hervorgehen. Im Kontext seiner Erforschung des Wortes „rîm“ sucht Trier nach einem sprachgeschichtlichen Beleg, der „anschaulich zeigte, wie das rhythmische Sagen, die gebundene Rede aus dem versammelten und bewegten Ring hervorginge“,31 und er findet diesen Beleg in einem Braunschweiger Urkundenbuch. Noch deutlicher betont Trier die „Gemeinschaftsgebundenheit“32 und die „Gemeindegebundenheit“33 der Verssprache in seiner 1949 veröffentlichten Abhandlung Rhythmus, deren Thesen nicht ohne Einfluss auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Verstheorien geblieben sind. In dieser Abhandlung versteht Trier den gesprochenen bzw. gesungenen Vers als besondere Ausdrucksweise, die allein dem in Gemeinschaft „Feiernden“34 zukommt: Der Verse sprechende Mensch ist ein feiernder Mensch und als solcher befindet er sich (im nicht abgeleiteten, ursprünglichen Falle) im Kreise einer mit ihm feiernden Gemeinde. Den Kreis der feiernden Gemeinde muß man sich nun ganz anschaulich und ganz im Wortsinne vorstellen. Die Versammlungsform der feiernden Gemeinde war wirklich ein Kreis, ein Ring.35

Aufschlussreich ist der in Klammern gesetzte Fall, den Trier als einen abgeleiteten und vom Ursprünglichen entfernten Fall aus seiner Betrachtung der Verssprache ausschließen will. Es ist der Fall desjenigen, der „für sich allein“,36 d.h. „einsam“ feiert. Die „einsame Feier“ ist für Trier die „Schwund29 Huizinga und Trier wandeln in dieser Frage auf den Spuren Friedrich Nietzsches und stehen unverkennbar unter dem Einfluss von dessen Frühwerk Die Geburt der Tragödie (1872). Darüber hinaus lässt sich eine Verbindung zum russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin herstellen, dessen Theorie des Karnevals in den 1930er Jahren entwickelt wird. Vgl. dazu Bachtins (später erschienenes) Buch Rabelais und seine Welt. 30 Trier: Zaun und Mannring, S. 262. 31 Ebd., S. 260. 32 Trier: Rhythmus, S. 135. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., dort auch die drei folgenden Zitate.

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form der Gemeindefeier“. Sie ist das Produkt einer verfallsgeschichtlichen Entwicklung: Feiernde Ringe sind selten geworden. Wir haben sie verloren, ohne recht zu wissen wie, und ganz langsam erst wird uns klar, was wir an ihnen verloren haben. Ein letzter ferner Abglanz leuchtet im Kinderspiel: Wir wolln den Zaun binden ...37

Was Trier an dieser Stelle und auch andernorts wortreich beklagt, den Verlust der Gemeindefeier und ihre Ersetzung durch die einsame Feier, das ist nun genau der Fall, von dem Moritz in seiner Verslehre ausgeht. In seiner Verslehre ist die kreisförmig bewegte Verssprache jeder gemeinschaftlichen, jeder sozialen Dimension entkleidet. Der Kreis, der durch die Verse beschrieben wird, ist kein sozialer Kreis. Er hört aber deswegen nicht auf, Spiel zu sein. Die Kreisbewegung der Verssprache ist aus zwei Gründen Spiel. Zum einen wird man mit Blick auf Moritz’ Verslehre sagen können, dass der Verse sprechende bzw. singende Mensch auch dann spielt, wenn er allein ist. Moritz führt aus, dass der Verse sprechende bzw. singende Mensch an seiner eigenen Sprache Gefallen findet. Er vergnügt und erfreut sich an ihr. Das Vergnügen und die Freude bestehen nicht so sehr darin, dass Freude die für die Verssprache notwendige Gefühls- und Empfindungsgrundlage ist, die nach (sprachlichem) Ausdruck verlangt. Dies wäre zu psychologisch gedacht. Vielmehr bereitet die Bewegung der Verssprache als solche Vergnügen und Freude, ohne dass nach den Gründen gefragt würde, warum und wozu diese Verssprache da ist, oder danach, warum und wozu sie sich bewegt. Der Verse sprechende bzw. singende Mensch hört seiner eigenen Sprache gerne zu, weil sie im Gegensatz zur Sprache der Prosa sanft und harmonisch ist. Gefallen findet die Verssprache aufgrund ihrer metrisch-rhythmischen Bewegung: Die Silbe ge in Geliebter ist mir nun nicht mehr bloß wichtig, in so fern sie die Person, die ich anrede, als den Gegenstand meiner Liebe, bezeichnet, und also meinen Gedanken ausdrückt; sondern auch in so fern sie, als eine kurze auf eine lange Silbe folgt, mit welcher sie nun zusammengenommen einen sanften Fortschritt meiner Rede ausmacht, der dem unmittelbar darauf folgenden gleich ist [...]. (M 44)

Noch einen Schritt weiter geht Moritz an einer anderen Stelle seiner Verslehre, wenn er die Wörter und Silben der Verssprache auf das „Aufeinanderfolgende“ (M 38) der Bewegung reduziert. In dieser Perspektive ist die Verssprache nichts weiter als eine sich hebende oder senkende Bewegung, die langsam oder schnell ist: Wenn nun die Worte und Silben oder die artikulierten Laute zum Gesange werden, so dienen sie eigentlich bloß den Höhen und Tiefen, und den langsamern und schnellern Fortrückungen [...]; sie werden alsdann eigentlich nicht mehr als artikulierte Laute, sondern bloß als Höhen und Tiefen, und als langsamere oder schnellere Fortrückungen betrachtet. (M 39) 37 Ebd.

Die Verselbständigung der Poesie als Spiel

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Dies ist aber noch nicht alles. Das Gefallen an der Bewegung der Verssprache zeichnet nicht nur den Verse sprechenden bzw. singenden Menschen aus. Moritz sieht in der Verssprache, ebenso wie im Tanz, eine Eigendynamik am Werk, so dass man sagen kann, dass er der Verssprache ein Gefallen an sich selbst bescheinigt. Es ist die Poesie selbst, die als gleichmäßige und sanfte Sprache „gern“ (M 27, 28) auf jeder einzelnen ihrer Silben verweilt. Und auch an der Wiederholung ihrer selbst findet die Verssprache Gefallen: „Sie hört sich gern, so oft wie möglich, wieder tönen“ (M 38). Es ist also nicht nur der Verse sprechende bzw. singende Mensch, der spielt. Vor dem Hintergrund des zuletzt zitierten Satzes lässt sich sagen, dass die Verssprache mit sich selbst spielt. Einer solchen Steigerung der Selbstbezüglichkeit, die eine radikale Verselbständigung der Poesie als Spiel in sozialer Hinsicht bedeutet, haben Huizinga und Trier ihre Zustimmung in bemerkenswerter Eintracht auf das vehementeste verweigert. Beide sind sehr darauf bedacht, die Verbindung, die zwischen der Poesie als Spiel auf der einen Seite und der sozialen, rituellen und kultischen Funktion des Spiels auf der anderen besteht, zu keinem Zeitpunkt abreißen zu lassen.38 So ist Huizingas Argumentation in auffälliger Weise darum bemüht, die Reduktion des Zusammenhangs von Poesie und Spiel auf ein „rein Ästhetisches“ (H 145), auf eine Befriedigung bloß literarischer und ästhetischer Bedürfnisse (vgl. H 134, 141, 145, 148) abzustreiten und demgegenüber die „vitale“ (H 134), auf das „Leben der Gemeinschaft“ bezogene Funktion der Poesie ins Feld zu führen. Huizingas deutliche Abwertung des Ästhetischen manifestiert sich unter anderem in einem negativ gefärbten Schönheitsbegriff (vgl. H 135, 138, 156), in dessen Verabsolutierung Huizinga die skizzierte Verselbständigung der Poesie als Spiel auszumachen scheint. Ähnliches gilt für Trier. Dieser kommt am Ende seiner Abhandlung über das ‚Spiel‘ unter Bezugnahme auf Schiller auf den Freiheitsaspekt des Spiels zu sprechen. Dort findet sich nicht nur die Definition des Spiels als „Zone der Freiheit“,39 die noch einmal die autonome und die (sozial-)räumliche Komponente des Spiels betont, sondern auch eine aufschlussreiche Bemerkung über den Wirklichkeitsbezug, den Trier zufolge jedes Spiel hat – oder doch haben sollte:

38 Zur rituellen und kultischen Dimension des Spiels und zur Abgrenzung des Spiels vom Heiligen vgl. Caillois: Das Spiel und das Heilige. – Auch Caillois’ Konzeption des Spiels, die der von Huizinga ambivalent bis kritisch gegenübersteht, lässt sich bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen. 1937, ein Jahr vor dem Erscheinen von Huizingas Buch, gründet Caillois zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris das ‚Collège de Sociologie‘, das sich mit der Erforschung des Heiligen, des Krieges, des Spiels und anderer Phänomene des „Kollektivdaseins“ (Caillois: Der Mensch und das Heilige, S. 7) beschäftigt. 1939 erscheint dann die erste Ausgabe von Caillois’ Buch Der Mensch und das Heilige (L’homme et le sacré). 39 Trier: Spiel, S. 462.

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Aus der Sehnsucht nach Freiheit erwächst das Spiel. Trotzdem ist es keine Flucht aus der Wirklichkeit. Geheimnisvoll strahlt aus dem Spiel eine richtende und lenkende Macht, eine das gesunde und eigentliche Sein immer wiederherstellende Kraft in das Leben der Gruppe ein.40

Die politischen und ideologischen Implikationen der von Trier mehr eingeforderten als tatsächlich vorhandenen Rückbindung des Spiels an das „Leben der Gruppe“ sind das eine. Sie erforderten eine eigene Darstellung.41 Ein anderes sind die ästhetischen Konnotationen der „Flucht vor der Wirklichkeit“, die Trier ausgeschlossen sehen will. Der Eskapismusvorwurf gegenüber einer ästhetizistischen Poesie, die ihr „Spiel mit Worten und Sprache“ (H 146) radikal verselbständigt hat, ist bei Trier nicht zu überhören. Huizingas Polemik gegen die Schönheit und das rein Ästhetische sowie Triers anachronistische Vorstellung einer für die politische Gemeinschaft „lebenswichtig[en]“42 Poesie verdeutlichen, unabhängig von allen Verdiensten, die begrenzte Reichweite ihrer Abhandlungen für die literaturwissenschaftliche Betrachtung der Poesie als Spiel. Huizinga und Trier halten, sei es willentlich oder unbewusst, an einem vormodernen Poesiebegriff fest. Sie können – oder wollen – deshalb die Verselbständigung der Poesie als Spiel, die spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts stattfindet und die an Moritz’ verstheoretischen Überlegungen exemplarisch skizziert wurde, nicht in den Blick nehmen. Die Blindheit gegenüber dieser Verselbständigung kommt am deutlichsten dort zum Ausdruck, wo auf die moderne Entwicklung der Poesie Bezug genommen wird. In Huizingas Abhandlung gibt es einen Absatz, der explizit auf „moderne lyrische Entwicklungen“ (H 150) eingeht. Dort bringt Huizinga die Hermetik und Verrätselungsstrategie moderner Lyrik in einen Zusammenhang mit der in jeder Kultur­ epoche bestehenden – und daher als zeitlos angesehenen – Andersheit der poetischen Sprache, die „sich absichtlich in besonderen Bildern ausdrückt, die nicht jedermann versteht“ (H 148). Diese Andersheit der poetischen Sprache führt Huizinga zu der These, dass auch die Leser moderner Lyrik, die deren Zeichenstruktur zu entschlüsseln vermögen, „eine geschlossene Kulturgruppe von sehr altem Typus“ (H 150) bilden. Genau diese Geschlossenheit eines festen Leserkreises löst sich aber unter den Bedingungen einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auf. Einer, der dies erkannt und zur Grundlage einer differenzierten Sichtweise auf die lyrische (und die dramatische) Verssprache gemacht hat, ist Huizingas und Triers Zeitgenosse Max Kommerell.43 In seinen Gedanken über Gedichte, die erstmals 1943, also genau zwischen Huizingas Buch und 40 41 42 43

Ebd. Vgl. dazu Volmert: Die Krone der Gelehrtenrepublik. Trier: Spiel, S. 462. Zur Verssprache des Dramas vgl. Kommerell: Vers im Drama, S. 147-158.

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Triers Abhandlung erschienen sind, beschreibt Kommerell die Auflösung des stabilen und geschlossenen Wirkungskreises der Poesie, dessen ungebrochene Kontinuität Huizinga fälschlicherweise noch annimmt. Zugleich belässt es Kommerell, und darin unterscheidet er sich grundlegend von Trier, nicht bei der Diagnose eines Verlustes, der darin zu sehen ist, dass die Poesie ihren Ort im festlich „erhöhten Leben“44 verloren hat.45 Der geschwundenen Bedeutung der Poesie für das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben steht bei Kommerell ein „Gewinn“46 gegenüber, der hier nicht darzustellen ist. Dieser Gewinn ist insofern jenseits des Sozialen zu situieren, als er dem einzelnen Gedicht und dem Gedicht des Einzelnen zukommt. Von Kommerells Position aus lässt sich die „einsame Feier“ und das der Gemeinschaft entzogene Spiel der Poesie, das ganz um seiner selbst willen da ist, schwerlich als eine „Schwundform“ disqualifizieren. Dass das Band zwischen der Poesie und dem Sozialen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gelockert wird und sich ganz zu lösen droht, bedeutet nicht, dass die Poesie damit aufhört, Spiel zu sein. Sie ist aber, jedenfalls zu einem großen Teil, nicht mehr länger als ein „soziales Spiel“ (H 138) im gemeinschaftlich-kollektiven Sinne anzusehen.

Literatur Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1987. Brokoff, Jürgen: Die Unvereinbarkeit von Erziehung und ästhetischer Erziehung. Friedrich Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50, 2006, S. 134-149. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie 1780-1920. Untersuchung zu einer poetischen Entwicklung in der deutschen Literatur zwischen Weimarer Klassik und historischer Avantgarde. Göttingen 2009. Caillois, Roger: Das Spiel und das Heilige. In: Ders.: Der Mensch und das Heilige. München, Wien 1988, S. 202-216. Herder, Johann Gottfried: Von der Ode [Dispositionen, Entwürfe, Fragmente]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Band 1: Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 57-99. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987. Kommerell, Max: Der Vers im Drama. In: Ders.: Dichterische Welterfahrung. Essays. Frankfurt a.M. 1952, S. 147-158. Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte. Frankfurt a.M. 1985. Kreuzer, Karl Josef (Hg.): Handbuch der Spielpädagogik. 4 Bde. Düsseldorf 1983. 44 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 11. 45 Bekanntlich hat sich Kommerell Ende der 1920er Jahre aus dem Einflussbereich des George-Kreises gelöst, dem er zuvor als junger Dichter und Wissenschaftler unterworfen war. Diese Erfahrung wird nicht unmaßgeblich zur Skepsis gegenüber rituellen Aufführungspraktiken und kollektiven Rezeptionsformen der Poesie beigetragen haben. 46 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 13.

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Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans. J. Schrimpf. Tübingen 1962, S. 63-93. Moritz, Karl Philipp: Versuch einer deutschen Prosodie. Dem Könige von Preussen gewidmet. Berlin 1786 [ND Darmstadt 1975]. Moritz, Karl Philipp: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans J. Schrimpf. Tübingen 1962, S. 3-9. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. Hg. v. Giorgio Colli; Mazzino Montinari. München 1988, S. 9-156. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften, Erster Teil. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 309-412. Schiller, Friedrich: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 5: Dramen IV. Hg. v. Matthias Luserke. Frankfurt a.M. 1996, S. 281-291. Schrimpf, Hans Joachim: Vers ist tanzhafte Rede. Ein Beitrag zur deutschen Prosodie aus dem achtzehnten Jahrhundert. In: William Foerste; Karl Heinz Borck (Hg.): Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Köln, Graz 1964, S. 386-410. Trier, Jost: First. Über die Stellung des Zauns im Denken der Vorzeit. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 1940, S. 55-137. Trier, Jost: Rhythmus. In: Studium generale 2, 1949, S. 135-141. Trier, Jost: Spiel. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 69, 1947, S. 419-462. Trier, Jost: Zaun und Mannring. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 66, 1942, S. 232-264. Volmert, Johannes: „Die Krone der Gelehrtenrepublik“ – jenseits von Politik und Geschichte. Vergleich zweier Universitätsreden von Jost Trier aus den Jahren 1938 und 1947. In: Holger Dainat; Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003, S. 321-344.

Peter Brandes

Das Spiel der Bedeutungen im Prozess der Lektüre Überlegungen zur Möglichkeit einer Literaturtheorie des Spiels Der Begriff des Spiels hat im Diskurs der Wissenschaften zwei unterschiedliche Konzeptionen von Spieltheorie hervorgebracht. In der Mathematik und Ökonomik hat sich ausgehend von John von Neumanns und Oskar Morgensterns Studie Theory of Games and Economic Behavior die Spieltheorie als Methode der Analyse wirtschaftlichen Verhaltens etabliert. In den Kulturwissenschaften sind es vor allem die anthropologisch orientierten Arbeiten von Johan Huizinga und Roger Caillois, auf die sich Beiträge zur Spieltheorie beziehen. Geht es in dem einen Konzept um eine Modellierung von interdependenten Situationen, um daraus systematische Folgerungen abzuleiten, so zielt die andere Konzeption auf eine Phänomenologie des menschlichen Spiels. Der Grund für diese sehr unterschiedlichen Auffassungen von Spieltheorie liegt in der Ambivalenz des Begriffs, in der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit und Metaphorizität des Wortes Spiel. Der folgende Beitrag widmet sich diesem rhetorischen Moment im Wort Spiel, insofern Spieltheorie im Konnex von Literatur und (wissenschaftlicher) Lektüre betrachtet wird.

 



Vgl. von Neumann/Morgenstern: Theory of Games. Vgl. hierzu u.a. Brandes/Recke/Berger: Produktions- und Umweltökonomik, S. 116-136. Im literarischen Diskurs ist diese Form der Spieltheorie jüngst von Juli Zeh in ihrem Roman Spieltrieb rezipiert worden (vgl. Zeh: Spieltrieb). Als expliziter Intertext fungiert hier The Evolution of Cooporation (vgl. Axelrod: Evolution of Cooperation). Zehs Erzählung gibt sich als eine literarische Figuration des Gefangendilemmas. Dieses spieltheoretische Modell bleibt aber der Handlung äußerlich. Als Spiel erscheint in dem Roman vor allem das durch Erpressung bewirkte Abhängigkeitsverhältnis des Lehrers Smutek gegenüber seinen Schülern Alev und Ada. Die für das Gefangendilemma relevante Gerichtsszene, bei der Smutek und Alev die Wahl haben zu defektieren oder zu kooperieren, zeigt vor allem, dass das Gefangendilemma für das erzählte Geschehen letztlich nicht relevant ist. Es bleibt, wie vieles in diesem Roman, ein leerer Verweis auf die Akkumulation von Wissen in den Protagonisten Ada und Alev. Das theoretische Konstrukt von ‚Spieltrieb‘ beruht wesentlich auf einem produktiven Missverstehen ökonomischer Spieltheorie, denn das Gefangendilemma ist keineswegs ein Spiel mit menschlichen Schicksalen, sondern ein Narrativ, das der Modellierung und Analyse wirtschaftlicher Verhaltensweisen in interdependenten Situationen dient (vgl. hierzu auch den Beitrag von Stefan Neuhaus in diesem Band). Vgl. Huizinga: Homo Ludens; Caillois: Die Spiele und die Menschen.

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Literatur(-wissenschaft) als Spiel Dass Literatur als Spiel aufgefasst werden kann, mag man als Allgemeinplatz ansehen. Die Konditionen von Spiel und Literatur scheinen jeweils von einem virtuellen Rahmen abgesteckt und durch bestimmte Regelsysteme geleitet zu sein. Insofern lässt sich leicht von einer Analogie dieser kulturellen Praktiken sprechen. Das Spielen geht wie das Lesen auf einen freiwilligen Entschluss zurück. „Spiel gibt es nur, wenn die Spieler Lust haben zu spielen“. Literatur kann also als Spiel angenommen werden, insofern die Praxis des Lesens wie die des Spielens wesentlich durch das Gefühl der Lust bestimmt wird. Eine weitere Analogie ergibt sich aus dem oft angeführten Gegensatz von Spiel und Ernst. Als Spiel wird eine gesellschaftliche Praxis angesehen, die keinen allgemein-gesellschaftlichen Nutzen erbringt. Sowohl das Spiel als auch die Literatur erscheinen auf diese Weise von dem Ernst des Lebens, insbesondere von der politischen Ökonomie, ausgeschlossen. Eine ästhetisch-theoretische Verknüpfung dieser Literatur-Spiel-Analogie vollzieht bekanntlich Schiller, indem er dem  





Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 12. Thomas Anz zufolge ist der „Antrieb zum Spielen wie zur literarischen Phantasietätigkeit […] die Belohnung durch Lust“ (Anz: Literatur und Lust, S. 34). Vgl. hierzu auch Freuds Ausführungen in Der Dichter und das Phantasieren: „Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert“ (Freud: Der Dichter und das Phantasieren, S. 214). Diese Opposition ist, wie Huizinga geltend macht, keineswegs eindeutig: „Spiel steht in unserem Bewußtsein dem Ernst gegenüber. Der Gegensatz bleibt vorläufig so unableitbar wie der Begriff Spiel selbst. Wenn wir aber näher zusehen, erscheint uns der Gegensatz Spiel – Ernst weder eindeutig noch fest. Wir können sagen: Spiel ist Nichternst. Abgesehen davon aber, daß dieser Satz nichts über die positiven Eigenschaften des Spiels aussagt, ist er außerordentlich leicht umzustoßen. Sobald wir an Stelle von ‚Spiel ist Nichternst‘ sagen: ‚Spiel ist nicht ernsthaft‘, läßt uns der Gegensatz schon im Stich; denn Spiel kann sehr wohl ernsthaft sein“ (Huizinga: Homo Ludens, S. 14). Spiel ist für Huizinga ein freies Handeln, das nicht den Notwendigkeiten des so genannten ‚Ernst des Lebens‘ unterliegt: „Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche‘ oder das ‚eigentliche‘ Leben“ (ebd., S. 16). Gleichwohl bleibt der Begriff des Ernstes ein wichtiger Bezugspunkt für Huizingas Denken des Spiels. Freud weist dagegen die Opposition von Spiel und Ernst gänzlich zurück: „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit“ (Freud: Der Dichter und das Phantasieren, S. 214). Eine sehr differenzierte Darstellung der Relation von Spiel und Ernst findet sich in Hans-Jost Freys Betrachtungen Über das Spiel. Frey beschreibt das Spielen als Repräsentation von Ernst, wohingegen der „Ernst das Spiel [wäre], das sich selber ernst nimmt und damit aufhört, Spiel zu sein.“ (Hans-Jost Frey: Der unendliche Text, S. 267 f.) Es besteht demnach „zwischen Ernst und Spiel eine Reziprozität der Repräsentation“ (ebd., S. 268), die sich allerdings in keine symmetrische Ordnung bringen lässt. Huizinga betont in seiner Definition des Spiels das anökonomische Moment: „Zählen wir noch einmal auf, was uns die eigentlichen Merkmale des Spiels zu sein scheinen. Es ist eine Handlung, die innerhalb gewisser Grenzen von Zeit, Raum und Sinn verläuft, in einer sichtbaren Ordnung, nach freiwillig angenommenen Regeln, außerhalb der Sphäre materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit“ (Huizinga: Homo Ludens, S. 146).

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Begriff des Spiels in seiner Konzeption der ästhetischen Erziehung eine tragende Rolle zuspricht. Der Begriff des Spiels nimmt hierbei in der Gestalt des Spieltriebs eine Vermittlerposition ein, die den Antagonismus von Stoff- und Formtrieb zu regulieren weiß. Der Spieltrieb übernimmt dabei die Funktion der Freiheit, die die Gesetze der Natur und der Vernunft in Einklang zu bringen sucht. Spiel ist die ästhetische Qualität der Minderung des Zwangs. Im weiteren Verlauf der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen wird jedoch der Begriff des Spieltriebs dem des ästhetischen Zustands untergeordnet. So wertvoll also Schillers Überlegungen in diesem Kontext sind, eine ästhetische Theorie des Spiels legen sie nicht vor. Neuere Forschungsarbeiten zur ästhetischen bzw. literarischen Spieltheorie haben sich daher stärker auf die Schriften von Friedrich Schlegel bezogen. Denn Schlegel praktiziert das Spiel, indem er es theoretisch zu explizieren sucht. Schlegels Schriften zur romantischen Poetik erweisen sich in dieser Hinsicht als Performanz des Spiels. Sie oszillieren zwischen wissenschaftlichphilosophischer Darstellung und Literatur. Die Figur des Spiels wird hier zur Dominanten eines Wissenschaftsverständnisses, das den Spielbegriff in seiner ambivalenten Polyphonie integriert. Schlegels Spiel-Konzeption inauguriert somit nicht nur eine literarische Spieltheorie, sondern zugleich eine spielerische Wissenschaftstheorie. Bei Schlegel ist das Spiel eng mit seinem ironischen Schreibverfahren verbunden. Zwar ist die Ironie hierbei nicht mit dem Begriff des Spiels zu identifizieren, doch sie erweist sich als der wesentliche Darstellungsmodus des poetischen Spiels. Dies wird insbesondere in einem Text deutlich, der Literatur als Spiel praktiziert. Der 1800 im Athenäum erschienene Essay Über die Unverständlichkeit handelt von dem Verstehen der Unverständlichkeit und der Unmöglichkeit verständlicher Ironie.10 In besonderer Weise wird hier das Spiel mit dem Wort ‚verstehen‘ und mit der hermeneutischen Problematik des Textverstehens theoretisch verhandelt und zugleich prak

Es ist dies freilich ein gänzlich anderer Freiheitsbegriff als Huizingas. Während Huizinga auch den Krieg als Wettkampf in seine Überlegungen miteinbezieht, sondert Schiller den gewaltsamen und blutigen Wettkampf aus der ästhetischen Sphäre des Spieltriebs aus: „Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns aus diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen“ (Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 617). Das Spiel wird bei Schiller in der Form des Ideals gedacht und von der pejorativen Bedeutung freigehalten.  Vgl. Matuschek: Literarische Spieltheorie; Ruth Sonderegger: Ästhetik des Spiels. 10 Zum Konnex von Ironie und Unverständlichkeit bei Schlegel vgl. Schumacher: Unverständlichkeit der Ironie.

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tiziert.11 Ironie öffnet in ihrer Unverständlichkeit zugleich das Spiel der Bedeutungen, die Möglichkeit des Nicht- und Falsch-Verstehens wie die Unmöglichkeit von Verstehen überhaupt. Die Ironie setzt eine Oszillation von Spiel und Ernst in Gang, die den Leser im Unklaren darüber lässt, ob das Wort ‚ernst‘ im Kontext von Schlegels Text noch Ernst zu nehmen ist. „Ich meinte es ernstlich genug […]“12, behauptet Schlegel dort und setzt damit den semantischen Wert des Wortes ‚ernst‘ aufs Spiel. Der ausgesagte, argumentativ entfaltete Sinngehalt des Textes sucht dem Vorwurf der Unverständlichkeit des Athenäums zu begegnen. Nach einer Begriffskritik werden Beispiele zitiert und für den Leser ausgelegt, um sich abschließend der Ironie als Hauptgrund der Unverständlichkeit zuzuwenden. Um die Ironie verständlich zu machen, wird diese in ein Begriffs- und Bedeutungssystem aufgefächert und analysiert.13 Der Text trägt so mitunter die formale Struktur einer philosophischen Abhandlung. Dabei kongruieren aber die Ausführungen über die Ironie mit der ironischen Darstellungsform. Die Rede über die Ironie erweist sich zugleich als Rede der Ironie, wenn nämlich Schlegel in seinem Essay „wider Willen Ironie machen muß“ oder „wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt.“14 Es deutet sich in diesem Text das Paradox der Ironie an, das darin besteht, dass sie Regeln der Bedeutung bzw. des Bedeutens installiert, um diese nach ihren eigenen Gesetzen regelmäßig wieder außer Kraft zu setzen. Dabei erscheint das Spiel der Bedeutungen als Paradigma einer poetischen Hermeneutik des Spiels. Schlegels Konzeptionen der Ironie und des Spiels sind in der neueren Forschung zur literarischen bzw. ästhetischen Spieltheorie vermehrt rezi11 Vgl. hierzu auch Werner Hamachers Ausführungen zu Schlegels hermeneutischem Imperativ: Hamacher: Prämissen, S. 20-23. 12 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 363. 13 Schlegel differenziert zwischen 1) der groben Ironie, 2) der feinen bzw. delikaten Ironie, 3) der extrafeinen Ironie, 4) der redlichen Ironie, 5) der dramatischen Ironie, 6) der doppelten Ironie, 7) der Ironie der Ironie. Diese Klassifizierungen der Ironie erleichtern entgegen Schlegels Behauptung keineswegs die Übersicht über das „ganz[e] System der Ironie“ (Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 369). Sie geben vielmehr Anlass zu der Annahme, dass der Text selbst nur ironisch und insofern als eine Demonstration der Ironie zu verstehen sei. Eine numerische Auflistung der von Schlegel angeführten Ironien, wie sie hier unternommen wurde, unterstellt dem Text ein ernsthaftes Anliegen und mag demzufolge selbst als unfreiwillige Ironie erscheinen. Doch auch die Identifizierung von Schlegels Rede mit Ironie im Sinne einer uneigentlichen, nichternsthaften Aussage wird diesem Spiel des Textes nicht gerecht. Hans-Jost Frey hat die Ironie als „die rhetorische Manifestation des Spiels“ beschrieben (Frey: Der unendliche Text, S. 272). In diesem Sinn kann die sich jeglicher Identifizierung entziehende Ironie durchaus als eine grundsätzliche „Verunsicherung der Referentialität“ (ebd.) verstanden werden. Denn das philosophisch-ernsthafte Systemdenken der Ironie kollabiert bei Schlegel schließlich in der Deduktion der Ironie der Ironie, die sich nicht mehr beherrschen lässt. Zu Schlegels Begriff der Ironie der Ironie vgl. auch de Man: Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 118-121. 14 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 369.

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piert worden. So berufen sich sowohl Stefan Matuschek als auch Ruth Sonderegger auf Schlegels Spielbegriff, schenken aber Schlegels Darstellungsmodus wenig Beachtung. Ruth Sonderegger plädiert in ihrer Arbeit für eine Ästhetik des Spiels, die sich von dem Primat der Wahrheit zugunsten des Spiels verabschiedet. Ihr Ziel ist es, eine „Konzeption des Ästhetischen als Spiel“ vorzuschlagen, die „es möglich macht, die ästhetische Erfahrung von Kunst tatsächlich als eine eigenlogisch autonome zu erläutern.“15 Sonderegger schlägt keinen kulturanthropologischen Weg ein, sondern verortet sich in der Tradition der philosophischen Hermeneutik, um sich dann mit einem affirmativen Rückgriff auf Friedrich Schlegel von ihr abzugrenzen. Dabei stellt sie das Konzept Gadamers dem dekonstruktiven Verfahren Derridas gegenüber. Beide Ansätze eignen sich für Sondereggers Vorhaben, da sie zum einen dem Spiel jeweils eine wichtige Funktion in ihren Theorie-Gebäuden zuerkennen. Zum anderen ist der Begriff der Wahrheit für beide Ansätze konstitutiv. Bei Gadamer geht es um das Offenbarwerden der Wahrheit der Kunst; bei Derrida dagegen gerade um die Dekonstruktion der Wahrheit im Spiel der Bedeutungen. Während bei Gadamer das Spiel zum Leitfaden für den Prozess des Verstehens wird, erscheint bei Derrida das Spiel als Subversion des semantischen Systems. Sondereggers Bezugnahme auf diese beiden Positionen erklärt sich aus dem Umstand, dass sie eine Ästhetik des Spiels, die sich auf den Begriff des Verstehens zurückbeziehen lässt, begründen und zugleich den Wahrheitsbegriff aus der Ästhetik herauslösen will. Als Vorlage für ihr ästhetisches Konzept erweisen sich beide Modelle als ungeeignet. Denn als Gemeinsamkeit dieser Ansätze macht Sonderegger das aus, was sie als Anti-Ästhetik kennzeichnet: „Beide richten sich gleichermaßen gegen eine Eigenlogik des Ästhetischen, indem sie es zum Ort einer besonderen Erkenntniserfahrung machen.“16 Einen philosophisch legitimierbaren Ausweg aus dem sich daraus ergebenden Dilemma stellt für Sonderegger die romantische Poetik Friedrich Schlegels dar. In Anschluss an Schlegel kommt sie zu einem Begriff des Spiels, der sich vor allem als Modus der Oszillation verstehen lässt. Die Kipp-Figur des Hin und Her wird für Sonderegger zum wesentlichen Kennzeichen einer Ästhetik des Spiels. Dieses Moment des Wechselverhältnisses ermöglicht es ihr, sowohl Gadamers als auch Derridas Spielverständnis gelten zu lassen, insofern sich nämlich beide Ansätze in Schlegels Konzept wiederfinden. Denn das Hin und Her der Ästhetik des Spiels hat seinen Grund in dem Schlegelschen Konzept eines unendlichen Prozesses der Kunst. „Damit bekommt die hermeneutische These, wonach das Kunstwerk zusammenlesbarer Sinn ist, ebenso recht wie die dekonstruktive, der zufolge das Kunstwerk nicht 15 Sonderegger: Ästhetik des Spiels, S. 12. 16 Ebd., S. 13.

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Sinn, sondern materialer und formaler Nichtsinn ist.“17 Zugleich seien aber auch beide Thesen falsch, „weil sie das Kunstwerk jeweils als ein bestimmtes Produkt hypostasieren, während Schlegel eine ästhetische Erfahrung auszeichnet, die bei keinem Produkt stehen bleibt.“18 Die von Sonderegger hier vorgetragenen Thesen verbleiben in dem argumentativen Widerspruch, dass zwei Aussagen als zugleich wahr und falsch ausgewiesen werden. Die Problematik ergibt sich aus einer Verschiebung und Vermischung von Denkund Argumentationsformen. Schlegels spielerische Poetik arbeitet selbst mit solchen Widersprüchen, insofern die Theorie ironisch und ernst ist. Sonder­ egger nimmt Schlegels Ansatz als Theoriemodell für ihre Konzeption von Ästhetik auf, argumentiert aber im Sinne philosophischer Aussagenlogik. Folgt sie nun den Regeln dieser philosophischen Darstellungsform, so sind die von ihr getroffenen Aussagen nicht haltbar. Will sie jedoch Schlegels Ansatz nicht nur als theoretisches Konstrukt in ihre Ästhetik aufnehmen, sondern als Modus der Darstellung, dann ist ihre Argumentationsweise verfehlt. Sondereggers Projekt einer Ästhetik des Spiels bringt somit die Aporie der wissenschaftlichen Darstellung selbst zur Sprache. In seiner Arbeit zur literarischen Spieltheorie hat Stefan Matuschek dem Wortspiel eine herausgehobene Bedeutung zuerkannt: „Im Gedankenaustausch zwischen den Brüdern Schlegel und Novalis fügt sich das WortspielKonzept in die umfassende Intention auf das Wort Spiel ein.“19 August Wilhelm Schlegel hatte das Wortspiel in seinem Aufsatz Über Shakespeares Romeo und Julia wie folgt bestimmt: Ein Wortspiel ist ein Gegensatz oder eine Vergleichung zwischen dem Sinne der Wörter und ihrem Klange; und wie in der Liebe überhaupt das Geistige und das Sinnliche sich innigst zu verschmelzen strebt, wie sie die zartesten Anspielungen des einen auf das andere wahrnimmt und sich daran weidet, so kann sie auch mit den Ähnlichkeiten der Töne ahnungsvoll spielen.20

Das Wechselverhältnis von pejorativem und kritisch-ernstem Sprachgebrauch im Wortspiel erklärt Matuschek zum Kennzeichen frühromantischer Spieltheorie. Sie ist zugleich Spiel und Theorie des Spiels. „Die Bedeutung von Spiel erklärt sich im frühromantischen Denken als literarische Praxis des Theoretisierens.“21 Auf diese Weise wird die romantische Poetik „zur praktisch literarischen Aneignung philosophisch-wissenschaftlicher Theorie“22. Inwiefern diese Einsicht aber Rückwirkungen auf das Verständnis von Wissenschaft – insbesondere von Literaturwissenschaft – hat, wird hier 17 18 19 20 21 22

Ebd. Ebd. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 230. A.W. Schlegel: Über Shakespeares Romeo und Julia, S. 138. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 246. Ebd., S. 249.

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nicht weiter erörtert, obschon Matuschek sehr genau an den Texten von Schlegel und Novalis arbeitet. Doch gerade das, was er bei diesen Autoren aufzeigt, bleibt seiner Arbeit äußerlich: die theoretische Aneignung der Spieltheorie durch die poetische Praxis des Spiels. Matuschek nimmt Schlegels Ausführungen zum Spielbegriff als philosophische Theoreme ernst und streicht damit den beunruhigenden Aspekt des Spiels im theoretischen und wissenschaftlichen Diskurs durch.23 Es zeigt sich an Sondereggers und Matuscheks Arbeiten eine grundsätzliche Schwierigkeit der Schlegel-Rezeption. Wann immer Schlegels Schriften als Bezugsgröße für eine wissenschaftliche Argumentation herangezogen werden, so geht damit eine – mehr oder minder bewusste – Verkennung von Schlegels Darstellungsform einher. Nimmt man Schlegel ernst, dann wird man zumindest erkennen, dass seine Theorie immer auch die Praxis der Darstellung betrifft und damit eine Revolutionierung nicht nur der poetischen, sondern auch der wissenschaftlichen Sprache intendiert. Wird Schlegel also in der Philosophie oder Literaturwissenschaft als Wissenschaftler anerkannt, sofern man nämlich seine Theoreme als philosophische Aussagen oder Beiträge zur Literaturtheorie anerkennt, dann erkennt man zwangsläufig auch die ironische und spielerische Darstellungsform als eine mögliche Form der Wissensgenerierung und -vermittlung und mithin als Wissenschaft an. Die leicht anzunehmende These einer Wissenspoetik im Gefüge der romantischen Theorie erweitert sich damit zu einer Wissenschaft, die man nicht leicht als Universalwissenschaft wird bezeichnen wollen, die aber genau dies in Anspruch zu nehmen scheint. Das Erkennen und Anerkennen von Schlegels wissenschaftlicher Leistung erweist sich also immer auch als ein Verkennen derselben. Wird er 23 Matuschek nimmt eine grundsätzlich distanzierte Position zur Rhetorik des Spiels ein. Das Spiel mit dem Wort Spiel scheint ihm gleich zu Beginn seiner Arbeit suspekt, denn: „Spiele verlocken“ (Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 1). Ganz offensichtlich sucht Matuschek dieser Verlockung, der Autoren wie Huizinga nachgegeben haben, zu widerstehen. So steht den Ausführungen zum Wortspiel eine in dieser Hinsicht auffällig rhetorische Abstinenz gegenüber. Dagegen wird die ironische Polemik durchaus als argumentatives Mittel angewendet. Aktualisierungen frühromantischer Spieltheorie, wie sie etwa bei Menninghaus zu finden seien (vgl. Menninghaus: Unendliche Verdoppelung), werden deutlich zurückgewiesen. Dabei bleibt allerdings der polemische Gehalt hinter dem sprachspielerischen Bemühen zurück: „All diese Interpretationen haben trotz ihrer inhaltlichen Differenz eine strukturelle Gemeinsamkeit. Sie zielen auf ein bestimmtes Spiel-Verständnis – die Negation des Lebensernstes, den substanzlosen Witz, die künstlerische Opposition gegen den Zweckrationalismus, den poststrukturalistischen Differenz-Begriff –, mit dem sie in einem einzelnen Theorem ihres Gegenstandes insgesamt dessen problematische oder divinatorische Modernität aufzeigen. Das ist freilich beste Interpreten-Tugend. Hier obendrein mit der Befriedigung, einer sich vorsätzlich jeder begrifflichen Klarheit entziehenden Theorie immmerhin [sic.; P.B.] mit einem Wort noch kritisch Herr zu werden. Indem es die Unsicherheit selbst vieldeutig denken läßt, dient Spiel so als das letzte sichere Wort für die unsicher vieldeutige Moderne“ (ebd., S. 248).

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als der Wissenschaftler gelesen, so verkennt man seine Schreibweise und zugleich streicht man die eigene wissenschaftliche Darstellungsform in der Anerkenntnis der anderen Form durch. Wissenschaft und Literatur erweisen sich hierbei als tendenziell ununterscheidbare Darstellungsformen. Auf dieses Moment der Durchdringung von Literatur und Wissen zielt letztlich auch das Projekt der Wissenspoetik.

Wissen, Spiel, Erkenntnis Die unter dem Namen der Wissenspoetik sich formierende Forschungsrichtung intendiert keine Theorie des Spiels. Ihr vornehmliches Erkenntnisziel sind die Korrespondenzverhältnisse von Literatur und Wissen. Sie macht das Wissen wissenschaftlicher Diskurse ebenso wie das Wissen der Literatur zum Gegenstand ihres Interesses.24 Der Begriff des Spiels erlangt dabei nur im Sinne eines Darstellungs-Spiels, der Inszenierung von Wissen Bedeutung. In seiner programmatischen Einleitung zum Sammelband Poetologien des Wissens bestimmt Joseph Vogl den Begriff der Wissenspoetik als ein Verfahren, das „das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift“.25 Poetologie wird hier also wesentlich als Inszenierungspraxis angesehen. Aus der Perspektive der Wissenspoetik werden somit literarische Texte und wissenschaftliche Experimente auf analoge Weise generiert. Sie sind gleichermaßen poetologisch verfasste Wissenspraktiken. Mit Rekurs auf Foucaults Konzeption einer Geschichte des Wissens, die nicht mit einer Geschichte der Wissenschaften zu verwechseln ist, verweist Vogl auf eine Behauptung Foucaults, „er habe es vor allem auf die Inszenierungsweisen, auf den theatralischen Kern des Wissens abgesehen und die ‚Wahrheitsspiele‘, das ‚Theater der Wahrheit‘ vorgeführt“.26 Inszenierung und Theatralität erscheinen in diesem Kontext als Definiens der Poetologie. Poetik wäre im Rahmen einer Geschichte des Wissens also weder ein Lehrgebäude der poetischen Darstellungsweisen noch eine genuin literarische, textsemiotische Theorie poetischer Formen. Das Wort Poetologie steht hier vor allem für eine andere Sicht auf das Wissen ein, die von den rationalistischen Erkenntnis- und Wahrheitsmodellen der Neuzeit Abstand nimmt und vor allem die Transformationsprozesse im Feld des Wissens fokussiert. Wissenspoetik wird somit zu einem Gegenbegriff des traditionellen Wissenschaftsverständnisses. 24 Wissen ist in diesem Kontext nicht positivistisch als Formation wahrer Aussagen aufzufassen, wie dies Tilmann Köppe in seiner Kritik an der Konzeption des Wissenspoetik tut (vgl. Köppe: Vom Wissen in Literatur). 25 Vogl: Poetologien, S. 7-16, hier: S. 13. 26 Ebd., S. 14.

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Das Lektüreverfahren der Wissenspoetik arbeitet dabei mit der Doppel- und Mehrdeutigkeit von Begriffen, die sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im literarischen Diskurs Anwendung findet. So verdeutlicht Vogl seine Theorie der Wissenspoetik anhand der Steuerungs-Metaphorik in Goethes Wahlverwandtschaften, die sich als literarische Inszenierungen der unterschiedlichsten Wissensdiskurse erweisen.27 Vogl öffnet auf diese Weise den Blick für die poetische Potenz naturwissenschaftlichen und insbesondere ökonomischen Wissens, wie es sich u.a. im Begriff der Steuerung ausdrückt. Rüdiger Campe setzt hingegen den Fokus auf das Spiel der Wahrscheinlichkeit28 im Konnex von Literatur und Mathematik. Dabei ist Campe nicht vordergründig an einer literarischen Spieltheorie oder einer Literaturtheorie des Spiels interessiert. Campe geht es um die Genese mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie aus dem Geist des Glücksspiels und deren Transformation in Ästhetik und Roman des 19. Jahrhunderts. Campe situiert die Spieltheorie in der Geschichte des Wissens. Auf diese Weise wird der Begriff des Spiels vom rein ästhetisch gefärbten Bedeutungsgehalt, wie er etwa in Rekurs auf Schiller und Kant geltend gemacht wird, abgelöst und in der Wechselwirkung der Diskurse betrachtet und analysiert. Der Spielbegriff wird somit zu einem zentralen Moment der Wissenspoetik. Am Spiel erweist sich die Evidenz der Episteme und so wird es selbst zu einer Wissen generierenden Institution. Beide Lektüren sind zwar nicht eigentlich spielerisch zu nennen, aber sie suchen jeweils einen Ausweg aus der rationalistischen Erkenntnis- und Darstellungsform.29 Dieses Moment teilen sie mit dem theoretischen Ansatz der Dekonstruktion.

27 Dabei agiert Vogl mitunter selbst (sprach-)spielerisch, wenn er die Rhetorik der Steuerung abschließend in die Praxis des Wortspiels übersetzt. Er schließt seine Überlegung mit einem verfremdeten Zitat, das die Rhetorik der Steuerung selbst zu unterminieren droht: „Denn – so könnte man mit Goethe und einer neueren Soziologie […] sagen –‚wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern‘“ (Vogl: Poetologien, S. 145-161, hier S. 160). 28 Vgl. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. 29 Allerdings bleibt bei aller Berechtigung der Wissenspoetik als Lektüre-Verfahren der Zugriff auf naturwissenschaftliche Erkenntnismodelle nicht unproblematisch, sofern nicht entschieden zwischen philologischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis unterschieden wird. In seinem Traktat Über philologische Erkenntnis von 1962 hatte Peter Szondi bereits auf die problematische Applikation natur- und geschichtswissenschaftlichen Wissens auf die literarische Erkenntnis hingewiesen. Während es in den Geschichts- und Naturwissenschaften darum gehe, „den erkannten Gegenstand für das Wissen abzubilden“ (Szondi: Über philologische Erkenntnis, S. 265), mithin eine wissenschaftliche Mimesis des Erkenntnisobjekts herzustellen, ist das philologische Wissen durch ein „dynamisches Moment“ gekennzeichnet, es besteht in einer „ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf Erkenntnis, auf das Verstehen des dichterischen Wortes“ (ebd.). Das philologische Wissen differiert bei Szondi vom allgemeinen Begriff des Wissens, es ist „perpetuierte Erkenntnis“(ebd.). Philologische Erkenntnis erweist sich somit als eine Tätigkeit, die sich eben nicht in der Kenntnis von Wissensformationen erschöpft. Szondi konzipiert die philologische Erkenntnis als kritische

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Dekonstruktion und Spiel Der Begriff des Spiels nimmt dem Anschein nach in der Dekonstruktion einen zentralen Platz ein. Derrida bedient sich mehrfach des Wortes Spiel, um die Dekonstruktion des Ursprungs und der Präsenz zu demonstrieren. So heißt es etwa in dem Aufsatz Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen: Der Begriff der zentrierten Struktur ist in der Tat der Begriff eines begründeten Spiels, das von einer begründenden Unbeweglichkeit und einer versichernden Gewißheit, die selber dem Spiel entzogen sind, ausgeht. Von dieser Gewißheit her kann die Angst gemeistert werden, die stets aus einer gewissen Art, ins Spiel verwickelt zu sein, vom Spiel gefesselt zu sein, mit Beginn des Spiels immer schon in der Weise des Im-Spiele-Seins zu sein, entsteht.30

Das Wort Spiel erscheint hier – wie etwa auch in der Grammatologie31 – als Begriff und als rhetorische Figur. Die Ambivalenz des Wortes Spiel zeigt sich in dieser Oszillation zwischen begrifflicher und figuraler Bedeutungsebene. Diese Verwendungsweise des Wortes Spiel hat einige Interpreten zu der Annahme verleitet, Derrida und de Man hätten „mit der Spielmetapher

Philologie. So dekonstruiert er am Beispiel eines Kommentars aus der Stuttgarter HölderlinAusgabe das Verfahren der Belegstellen-Argumentation. Denn weder der quantitative Nachweis von x Belegstellen noch die Falsifikation einer These durch Nachweis fehlender Belegstellen können für sich genommen als philologische Erkenntnis gelten. Erst der verstehende und zugleich lehrende hermeneutische Prozess vermag eine Erkenntnis zu generieren, die Anspruch auf Gültigkeit haben kann. Literaturwissenschaft ist keine exakte Wissenschaft, die sich im Aufzeigen des Faktischen erschöpft, sondern eine kritische Wissenschaft, die sich aus dem Gang des Verstehens stets neu generiert. Mit Blick auf die Poetologien des Wissens gilt es also zu unterscheiden zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die sich quantifizieren lässt, und den Lektüren von naturwissenschaftlichen und medizinischen Schriften. Denn die Rhetorik der Naturwissenschaften ist keineswegs identisch mit der Wissensgenerierung, wie sie sich etwa in Medizin oder Physik vollzieht. Nicht jede Wissensformation lässt sich mithin unter dem Begriff der Wissenspoetik subsumieren. Der Begriff des Wissens konturiert in diesem Zusammenhang – und das ist hier von Interesse – die Darstellungsweise von Wissen. Geschichte des Wissens meint Geschichte der Wissenrepräsentationen. Dass also auch die Naturwissenschaften ihren Gegenstand in einer Darstellung inszenieren und insofern poetisch agieren, dafür bleibt Szondi freilich blind. Auch wenn sich Szondis kritische Philologie folglich nur schwer mit den Prämissen der Wissenspoetik in Einklang bringen lässt, so mögen die unterschiedlichen Ansätze zu einer wechselseitigen Erhellung eines wissenschaftsund theoriegeschichtlichen Problems beitragen und auf diese Weise doch eine Annäherung möglich machen. 30 Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 423. 31 „Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährende Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten.“ (Derrida: Grammatologie, S. 17 f.)

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die Auflösung sprachlicher Bedeutung gelehrt.“32 Doch diese – von Stefan Matuschek geäußerte – Kritik am dekonstruktiven Spiel-Begriff greift insofern zu kurz, als sie verkennt, dass sowohl Derrida als auch de Man den Begriff des Spiels auf seine Doppeldeutigkeit hin auslegen. Das Wort ‚Spiel‘ wird als Trope im Text inszeniert, gerade weil sich darin die grundsätzliche Aporie des sprachlichen Zeichens zeigt. So ergibt sich das Konzept der ‚différance‘ aus einem Spiel mit Buchstaben, das selbst in seiner Inszenierungsweise Wissen zur Darstellung bringt. Insofern kann Derridas différance-Aufsatz als eine Form der Wissenspoetik gelten, die das aufgezeigte Wissen zugleich inszeniert und performt.33 Dieses Moment einer Performanz der wissenschaftlichen Darstellung ist für den Umgang Derridas mit dem Begriff und dem Wort Spiel geradezu charakteristisch. In ähnlicher Weise arbeiten auch Paul de Mans Lektüren mit dem Begriff des Spiels. Deren literaturtheoretische Ausrichtung erschöpft sich aber keineswegs in der Bemerkung aus dem Rilke-Aufsatz, dass die Struktur literarischer Texte ein „Spiel der Sprache“34 sei. Mehr noch als in dem Beitrag zu Rilke zeigt sich de Mans Verständnis von Spiel in seinem Aufsatz zu Kleists Über das Marionettentheater. In seiner Lektüre von Kleists Text Über das Marionettentheater spricht Paul de Man von einer „Unentscheidbarkeit zwischen Ernst und Spiel“.35 Diese Bemerkung bezieht sich auf jenen Kleistschen Bären, der im Fechten unbesiegbar ist. Auf Finten reagiert er nicht, aber er weiß jeden ernsthaften Stoß akkurat zu parieren. Indem de Man in diesem Kontext die Formalisierung – und damit in einem gewissen Sinn die Mathematisierung – der Ästhetik zur Geltung bringt, weist sein Verfahren nicht nur in Richtung Wissenspoetik; er gibt darüber hinaus die Möglichkeit einer Literaturtheorie des Spiels zu denken. Was sich de Man zufolge in dem fechtenden Bären manifestiert, ist das Lesen selbst. Für de Man ist die Geschichte vom Bären „von der Figur eines Über-Lesers beherrscht, der den Autor nahezu auf Nichts reduziert.“36 Es ist die Figur des lesenden Bären, die de Man hier fokussiert. Er wird von dem Tänzer C., der sich an ihm müde gekämpft hat, als der „erste Fechter der Welt“ bezeichnet: „Aug’ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht“.37 Während der Bär in de Mans Lektüre für das Lesen einsteht, repräsentiert die als Erzähler fungierende Figur des Herrn C. das Schreiben: „Die Überlegen32 33 34 35 36 37

Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 17. Vgl. Derrida: Die différance. de Man: Tropen (Rilke), S. 86. de Man: Ästhetische Formalisierung, S. 229. Ebd., S. 223. Kleist: Über das Marionettentheater, S. 562.

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heit des Lesens über das Schreiben, dargestellt durch die Überlegenheit des lesenden Bären über den fechtenden Autor, reflektiert die Veränderung im Begriff des Textes von einem Nachahmungs- zu einem hermeneutischen Modell.“38 Der Bär als Über-Leser ist solchermaßen als idealer Hermeneut aufzufassen, der jede unverständliche Stelle, jede Finte des Textes zu verstehen imstande ist. Diese Figur des Über-Lesers treibt den hermeneutischen Imperativ des Verstehens in eine paradoxe Konstellation: Das ganze hermeneutische Ballett ist ein Schauspiel der Verausgabung: entweder wir beherrschen den Text, dann können, aber brauchen wir nicht zu täuschen; oder wir beherrschen den Text nicht und können dann auch nicht wissen, ob wir täuschen oder nicht. Im ersten Fall ist die Interpretation überflüssig und trivial, im zweiten ist sie notwendig, aber unmöglich. Warum sich dann überhaupt aufs Lesen (oder Schreiben) einlassen, wenn wir am Ende doch wie der Fechter in der Geschichte als die Dummen dastehen oder alles Vergnügen und Spiel zerstören wie der Bär am Ende der Geschichte, nachdem er jede Möglichkeit zu spielen dadurch zunichte gemacht hat, daß er mit jedem Hieb, zu dem er sich herabließ, siegte – und zwar nur zu seiner Verteidigung. Niemand ist verletzt, denn der Bär greift niemals an und agiert nur im Spiel, für immer geschlagen im ungleichen Kampf zwischen Ernstfall und Spiel.39

Der Bär als Allegorie des Lesens erweist sich hier als eine Spielform, die ihren Spielcharakter selbst durchstreicht. Der Bär markiert einerseits den Prototyp des idealen Spielers, der jede Geste, jede Finte sofort versteht und sein Handeln bzw. Nicht-Handeln danach ausrichtet. Andererseits repräsentiert er zugleich das Ende des Spiels und der Literatur. Denn wenn der Leser die Literatur in ihrer Literarizität immer schon im Voraus versteht, ist das Spiel der Literatur an sein Ende gekommen. Als Leser, der alles versteht, macht der Bär das Spiel der Literatur zunichte. Das besteht nämlich darin, den hermeneutischen Prozess in Gang zu setzen, den Leser als Verstehenden zum Teil des Spiels zu machen. De Man reflektiert auf diese Struktur des Lesens und der Auslegung in seiner Kleist-Lektüre; zugleich praktiziert er die Rhetorik des Spiels in seinen polemischen Bemerkungen zu den bisherigen Auslegern von Kleists Text. In diesem Kontext spielt de Man selbst das Spiel des Textes, indem er das Fecht-Thema zur Allegorie der philologischen Exegese erklärt und die im Text verhandelte Anmut gegen die Interpreten Kleists wendet. Über die Arbeit der Kleist-Exegeten heißt es: Das Ergebnis ist, aus der Perspektive der Literaturwissenschaft, alles andere als anmutig. Die Körperschaft der Interpreten gleicht eher dem gequälten Fechter der letzten Geschichte als dem selbstsicheren Lehrer der vorletzten. C und sein Gesprächspartner wahren noch ein gewisses Maß an Haltung, aber der Tanz der Kommentatoren bietet nur ein Schaupsiel [sic; P.B.] des Chaos.40 38 de Man: Ästhetische Formalisierung, S. 223. 39 Ebd., S. 224 f. 40 Ebd., S. 213.

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Man wird hier mit Recht Ironie vermuten. Doch in welchem Maß sind dann diese Sätze und Wortspiele ernst zu nehmen? Dass das Ergebnis der Kleist-Exegeten nicht anmutig sei, kann als eine Metapher für misslungene Argumentation gelesen werden. Schließlich zeichnet sich ein philologischer Kommentar in der Regel nicht durch die Darstellung von „Schönheit in Bewegung“ aus. Desgleichen wird man den Vergleich mit dem drangsalierten Fechter als rhetorische Figur identifizieren. Doch welchen Wert hat dann diese Rhetorik der Anmut? Es ist für den Leser zunächst der ästhetische Wert, der möglicherweise in einem lusthaften Mehrwert besteht. Dieser eröffnet sich über die von de Man evozierte Anschaulichkeit seines Textes, durch die Literarizität desselben, die sich aus dem Spiel mit dem Text und seinen Elementen ergibt. Das zentrale Thema der Erzählung wird in einer Negation auf die Auslegungspraxis projiziert. Anmut ist in Kleists Text wesentlich mit dem Tanz verknüpft. Eine gewisse Grazie wird man auch dem Fechten zugestehen können. Dem sich im Kampf gegen den Bären verausgabende C wird dagegen dieses Prädikat nicht mehr zukommen, er erscheint als erschöpft. Wie nun der Diskurs der Anmut, den de Man in seiner Lektüre zugleich dekonstruiert, zur Allegorie des Kommentierens wird, so erheischt de Mans Rhetorik durch den Topos des Tanzes zumindest den Anschein graziöser Kritik. Das Spiel mit dem Thema des Textes, das sich bei de Man gerade nicht als Thema erweisen wird, ermöglicht nicht nur die Argumentation für eine auf Formalisierung abzielende Ästhetik, sondern auch ein ästhetisches Argumentieren. De Mans Literaturkritik ist – wie dies de Man etwa auch für Derrida geltend macht41 – in diesem Sinn selbst Literatur. Sie ist literarische Kritik der Literatur. Dabei schöpft sie nicht nur das Potential des Spiel-Begriffs aus, sie praktiziert die Darstellungsform, die sie zu lesen gibt. De Man setzt sich damit den Verlockungen des Wortes Spiels insofern aus, als er sich der Rhetorik des Spiels bedient. Ob er damit – wissenschaftlich – der Verlockung unterliegt, lässt sich nicht mit Gewissheit feststellen. Seine Darstellung demonstriert aber, dass ein solcher Umgang, den man spielerisch nennen könnte, durchaus produktiv sein kann, dass sich im Spiel der Bedeutungen und in der Rhetorik des Spiels Perspektiven literarischer Erkenntnis eröffnen.

Literaturtheorie des Spiels Gleichwohl ist der Literaturwissenschaft der Imperativ des Verstehens eingeschrieben: sie sollte mithin anderes oder mehr als nur Literatur sein; es 41 Vgl. de Man: Rhetorik der Blindheit.

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sollte entscheidbar sein, ob ein Text allein literarisch oder ob er literarisch und literaturkritisch bzw. -wissenschaftlich sei. Wie hat also die Literaturwissenschaft mit dem Begriff und dem Phänomen des Spiels umzugehen? Eine Literaturtheorie des Spiels wäre von einer stoff- oder motivgeschichtlichen Behandlung des Spiels zu unterscheiden. Eine Literaturtheorie des Spiels begreift vielmehr die Praxis der Lektüre im Sinn eines hermeneutischen Prozesses als Bestandteil einer Spielanordnung, deren Ziel das wie auch immer geartete Verstehen ist. Die Literaturtheorie des Spiels ist daher keine Spieltheorie im herkömmlichen Sinn. Sie exemplifiziert nicht am Beispiel des Spiels Möglichkeitsbedingungen von Handlungsoptionen in interdependenten Situationen. Es geht also nicht um die Modellierung von Wirklichkeit. Angestrebt ist ein eher deskriptives Verfahren der theoretischen Lektüre. Wenn das, was wir als Lektüre begreifen, der Prozess eines theoriegeleiteten Lesens, dem Modus des Verstehens entspricht, dann organisiert sich das Spiel der Literatur nach der Struktur des Rätselspiels. Grund und Ziel des Spiels ist aber nicht das Offenbarwerden von Wahrheit. Das Spiel der Literatur ist vielmehr durch die Generierung von Bedeutungen im und durch den Text gekennzeichnet. Indem der Interpret spielt, setzt er sich zunächst zu dem Text in Beziehung. Er sucht Regelhaftigkeiten bzw. Unregelmäßigkeiten zu erfassen und in ein System der Bedeutungsgenerierung einzufügen. Die Regeln des Spiels – Fiktionalität, Diegesis, Mimesis, Fokalisierung etc. – setzt der Text als Medium selbst, die Benennung und Beschreibungen ergeben sich aus dem diskursiven Wissenshorizont des Lesers.42 Wie bei jedem Spiel sind Regelverstöße bzw. Störungen möglich, ja wesentlicher Bestandteil des spielerischen Textes, desjenigen Textes nämlich, „der den Spielraum auf irgendeine Weise thematisiert.“43 Anders als bei Gesellschaftsspielen entwickelt sich im Spiel der Lektüre ein besonderer Reiz aus der Mehrdeutigkeit der Texte. Sie erlaubt auch die metaphorische Rede vom Spiel der Bedeutungen. Dass bei der Lektüre Bedeutungen eines Wortes durchgespielt werden, um über das Verfahren der Falsifikation zur eigentlichen Bedeutung zu gelangen, ist eine anerkannte Lektüre-Methode. Das Verdienst dekonstruktiver Lektüren besteht demgegenüber nicht etwa in der Auflösung der Bedeutung, sondern darin, dass sie bereits dieses Spiel der Bedeutungen selbst als Resultat der Lektüre gelten lassen. Dass der Text den Leser dazu verleitet, sich in das Labyrinth der Bedeutungen zu begeben, ist selbst Teil des Spiels, das die Lektüre zu reflektieren hat. Das Spiel der Literatur kennt keinen Sieger im klassischen Sinn. Ein Gewinn lässt sich aber sehr wohl artikulieren, es ist der gleichsam epistemologische wie ästhetische Mehrwert, den die durch eine Publikation ins Offene gebrachte Lektüre mit sich bringt. Der 42 Vgl. hierzu vor allem Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 426-480. 43 Frey: Der unendliche Text, S. 283.

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individuelle Lustgewinn dieser Lektüre lässt sich allenfalls vermuten, nicht aber ermessen. Dass dieser eine außerordentliche Rolle bei der Produktion wissenschaftlicher Texte hat, kann als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Trifft nun die solchermaßen verfertigte Lektüre im Diskurs auf konkurrierende Lesarten, so tritt das Spiel in eine neue Phase, die u.U. mit dem von de Man beschriebenen Tanz der Philologen kongruieren mag.

Das Spiel der Literatur Um die Möglichkeiten und Grenzen einer Literaturtheorie des Spiels anschaulich zu machen, werde ich abschließend anhand eines Beispieltextes den hier angedeuteten Lektüremodus zu verdeutlichen suchen. In E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1815/16) lernt der Protagonist Medardus während eines Aufenthalts an einem Fürstenhof ein Gesellschaftsspiel kennen, das in besonderer Weise sein eigenes Schicksal zu reflektieren scheint. Das Kartenspiel, das von dem Fürsten besonders geliebt wird, heißt Faro und Medardus wird von dem Fürsten dazu bewegt, an dem Spiel teilzunehmen. Medardus ist ein Mönch, der von dem Vorsteher seines Klosters mit einem Auftrag nach Rom geschickt worden ist. Medardus versteht diese Weisung jedoch als eine Entlassung in das weltliche Leben, nach dem er sich aufgrund seines erotischen Begehrens sehnt. Doch statt die Erfüllung seiner Wünsche findet er sich selbst als Mörder wieder, der stets auf der Flucht ist und immer wieder dem Bild der begehrten Frau und seinem eigenen Doppelgänger begegnet. Medardus, der sehr redebegabt ist, lernt den Fürsten bei einem Spaziergang durch dessen Park kennen. In einem Gespräch über Kunst und Musik vermag Medardus den Fürsten für sich zu gewinnen, so dass dieser ihn schließlich zu sich einlädt, um das Faro-Spiel kennen zu lernen: „Das ist ein herrliches Spiel, fuhr er fort: in seiner hohen Einfachheit das wahre Spiel für geistreiche Männer. […] Das Spiel müssen Sie lernen, ich will selbst Ihr Lehrmeister sein.“44 Beim Spiel meint Medardus im Bild der Herz-Dame die von ihm begehrte Aurelie zu erkennen: Wohl mag es lächerlich zu sagen sein, daß ich in diesem blassen leblosen Kartengesicht Aureliens Züge zu entdecken glaubte. Ich starrte das Blatt an, kaum konnte ich meine innere Bewegung verbergen; der Zuruf des Banquier’s, ob das Spiel gemacht sei, riß mich aus der Betäubung. Ohne mich zu besinnen, zog ich die letzten fünf Louisd’ors, die ich noch bei mir trug, aus der Tasche, und setzte sie auf die Dame. Die gewann, nun setzte ich immer fort und fort auf die Dame, und immer höher, so wie der Gewinn stieg.45 44 Hoffmann: Elixiere des Teufels, S. 152. 45 Ebd., S. 157.

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Dass ihm diese Karte immer wieder Glück bringt, erscheint Medardus als schicksalhaftes Zeichen. Das Spiel resigniert den Protagonisten, da es ihm das Glück einbringt, das ihm die reale Frauenfigur bisher nicht gewährt hat – und in der Fiktion des Romans nie gewähren wird. So wird das Glücksspiel für Medardus als Verrat am Realen, als Trugbild des Imaginären lesbar. Das Glücksspiel ermöglicht ihm schließlich die Erkenntnis einer Schicksalsmächtigkeit inmitten des auf Kontingenz ausgelegten Glückspiels: „Es wurde mir klar, daß nicht ich, sondern die fremde Macht, die in mein Wesen getreten, alles das Ungewöhnliche bewirke, und ich nur das willenlose Werkzeug sei, dessen sich jene Macht bediene, zu mir unbekannten Zwecken.“46 Der Fürst macht dagegen eine auf Kalkül und Wahrscheinlichkeitsrechnung zielende Lesart stark, die die Koningenzerfahrung als wahrscheinlich miteinbezieht: Nun, […] rief er: wie finden Sie mein Faro-Spiel? – was sagen Sie von der Laune des Zufalls, der Ihnen alles tolle Beginnen verzieh, und das Gold zuwarf. Sie hatten glücklicherweise die Carte Favorite getroffen, aber so blindlings dürfen Sie selbst der Carte Favorite nicht immer vertrauen.47

Wie aber Medardus seine eigene Geschichte in dem Kartenspiel zu lesen meint, so wird das Kartenspiel als Allegorie des Hoffmannschen Lektüreverfahrens lesbar. Der Leser ist ständig in dem Spiel der Ununterscheidbarkeit zwischen Providenz und Kontingenz gefangen. Selbst die Szene, die Medardus vor Augen führt, dass das Wagnis des Glücksspiels – der radikale Verlust –, durch die Macht des Fürsten aufgefangen wird, reflektiert den Modus der Lektüre, deren Gefahr eben selbst nur in dem Lesen des Spiels und im Spiel des Lesens besteht. Bereits der Anfang des Romans ist durch ein Spiel mit dem Leser und dessen Rezeptionshaltung geprägt. Dem Titel Die Elixiere des Teufels ist noch ein Untertitel hinzugefügt, auf den der Leser zu Beginn seiner Lektüre stößt: Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners. Herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. Der Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier ist E.T.A. Hoffmann. Er tritt nun in einer Vorrede als fiktiver Herausgeber in Erscheinung, um das eigentliche Dokument, die Handschrift des Medardus zu authentifizieren. Durch die Fiktion einer Handschrift wird die literarische Illusion einer Evidenz der Erzählung hergestellt. Doch die vermeintliche Autorität des Autors ist selbst nur eine scheinbare, ist doch gerade der Verfasser der Fantasiestücke eben für phantastische Erzählungen bekannt. Das fingierte Projekt, eine authentische Lebensgeschichte zu überliefern, wird bereits mit dem Hinweis auf den Herausgeber gleichsam durchkreuzt. Das Vorwort des Herausgebers unterstreicht noch diesen Eindruck eines inszenatorischen Spiels der Autorschaft. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 158.

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Dem Leser werden hier innere Bilder vor Augen geführt, er wird als Leser sogleich zum Bestandteil der Lektüre, wenn der Herausgeber ihn „unter jene dunkle Platanen führen [möchte], wo ich die seltsame Geschichte des Bruders Medardus zum erstenmale las.“48 Der Herausgeber inszeniert also für den Leser ein Theater der inneren Bilder, in das er den Leser als tätigen Betrachter einbezieht, um schließlich damit die letztlich unwahrscheinliche Evidenz dieses imaginären Spiels zu behaupten: „In dieser Stimmung liesest du die Geschichte des Medardus, und wohl magst du auch dann die sonderbaren Visionen des Mönchs für mehr halten, als für das regellose Spiel der erhitzten Einbildungskraft.“49 Deutlich vernehmbar ist hier der ironische Verweis auf den philosophisch-ästhetischen Diskurs über den Begriff der Einbildungskraft. Bei Kant ist freilich nicht von einem regellosen, sondern von einem „freie[n] Spiel der Einbildungskraft“50 die Rede. Und auch Schillers Konzeption des ästhetischen Spiels setzt die Regelhaftigkeit nicht außer Kraft. Die Einbildungskraft hat jedoch im Menschen „ihre freie Bewegung und ihr materielles Spiel, in welchem sie, ohne alle Beziehung auf Gestalt, bloß ihrer Eigenmacht und Fessellosigkeit sich freut“51. Der fiktive Herausgeber stellt dieses Spiel der Einbildungskraft auf den Kopf, wie eine Camera obscura Bilder auf den Kopf gestellt erscheinen lässt. Nicht umsonst bedient sich der Herausgeber in seinem Vorwort der Bildlichkeit der Camera obscura, um die Lektüreerfahrung medientechnisch zu dechiffrieren: Entschließest du dich aber, mit dem Medardus, als seist du sein treuer Gefährte, durch finstre Kreuzgänge und Zellen – und durch die bunte – bunteste Welt zu ziehen, und mit ihm das Schauerliche, Entsetzliche, Tolle, Possenhafte seines Lebens zu ertragen, so wirst du dich vielleicht an den mannigfachen Bildern der Camera obscura, die sich dir aufgetan, ergötzen.52

Die Lesehinweise des Vorworts werden somit zu Lektüreanweisungen, die den Leser auf das neuzeitliche Spiel der Medienwahrnehmung und Medienreflexion verpflichten.53 Das Buch, das eigentlich nur aus Handschriften be48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 11. Ebd. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 258. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 663. Hoffmann: Elixiere des Teufels, S. 12. Die Camera obscura wäre somit als Rezeptionsmodell des Textes zu verstehen. Friedrich Kittler hat allerdings darauf hingewiesen, dass der Verweis auf die Mediengeschichte der Camera obscura allein nicht ausreiche, um sie als „Metapher einer Lektüre“ auszuweisen: „Modell für romantische Wirkungspoetiken stand also weniger die Camera obscura als vielmehr ihre technische Umkehrung: die Laterna magica.“ (Kittler: Laterna magica der Literatur, S. 221) Das, was der fiktive Autor dem Leser als Camera obscura verkaufen will, sei also eigentlich eine Laterna magica. So sind es ja gerade bewegte Bilder, die durch die Camera obscura des literarischen Textes erzeugt werden sollen. Dies entspricht allerdings dem Medium der Laterna magica. Gleichwohl ist hier anderes angezeigt als die wirkungsästhetische Fiktion, „Romane wie innere Filme“ (ebd., S. 221) aussehen zu lassen. Die Camera obscura ist im Wortsinn eben auch die dunkle Kammer, ein Innenraum, in dem innere Bilder produziert werden.

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steht, wird in eine mediale Apparatur transformiert, die den Leser als Wahrnehmenden und Teilnehmenden zum Spielball der auf den Kopf gestellten Einbildungskraft macht. So erscheint der Leser gleichsam als Mitspieler in dem Faro-Spiel des Erzählens, das gleichermaßen von Kontingenzgeschehen und Providenzverheißung gekennzeichnet ist. Die Lektüre des Romans wird somit nicht nur von dem Versuch geleitet, die Familiengeschichte und den Schuldkomplex des Medardus zu verstehen; sie erweist sich zugleich als ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers, der Medardus’ Erzählungen abwechselnd als Trugbilder und wahre Ereignisse wahrnimmt. Auch hier lädt das Wort Spiel zu hermeneutischen Spekulationen über das Verhältnis von Spiel und Literatur ein. Wie Medardus in den Karten liest und das Spiel mithin Wissen produziert, so wird der Leser in der Struktur des Spiels als Kontingenzgeschehen die Schicksalsmacht des Literarischen, des Erzählers herauslesen. Das erzählte Wissen wird zum Wissen des Erzählers. Im Dunkeln bleiben dabei die Regeln des Spiels. Der Fürst lässt sich zwar weitläufig über die Spielstrategie aus – ohne dass dessen Aussagen referiert werden –, der Leser aber erfährt nichts über den Ablauf und die Regeln des Spiels. Als Konstante des Spiels wie des Romans erscheint vielmehr das Geheime, die, wie der Fürst sagt, „geheime Macht, welche wir Zufall nennen“.54 Das Spiel, das zwischen den unterschiedlichen Lesarten des Fürsten und Medardus’ oszilliert – als intelligentes Spiel und als sündige Versuchung –, wird auf diese Weise als Allegorie der Literatur und ihrer Lektüre lesbar. Sie oszilliert zwischen dem intellektuellen Spiel der Erkenntnis, das sich aus der Potentialität des Spiels bzw. der Rhetorik des literarischen Spiels ergibt, und dem Moment der Lust, das seinen Mehrwert nicht in literarischer Erkenntnis erheischt, sondern im funktionslosen Genuss. Die hier angedeutete Literaturtheorie des Spiels ist keine Meta-Theorie der Literatur. Sie kann aber Perspektiven aufzeigen, um Literatur und das Verstehen von Literatur in ein produktives Verhältnis zu setzen: d.h. literarische Erkenntnis bzw. Wissenspoetik und ihre Genese in der Rhetorik des Spiels lesbar machen. Der Begriff des Spiels erweist sich dabei zugleich als wissenschaftskritische Kategorie und als subversive Metapher. Das Wort Spiel von der Doppeldeutigkeit seines Gehaltes lösen zu wollen, erscheint im Kontext dieser Überlegungen weder plausibel noch bringt es einen hermeneutischen Mehrwert. Vielmehr setzt man damit das Potential dieses ambivalenten Begriffs aufs Spiel.

54 Hoffmann: Elixiere des Teufels, S. 152.

Das Spiel der Bedeutungen im Prozess der Lektüre

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Das ‚Spiel der Naturvölker‘ im Spiegel der deutschen Ethnologie Zur Ästhetik von Mythos, Kult und Spiel bei Adolf Ellegard Jensen I. Ein deutscher Ethnologe im Abseits „Heute findet man Jensen in der deutschsprachigen ethnologischen Literatur nur noch selten zitiert.“ Dieser bereits vor 17 Jahren von Karl-Heinz Kohl geäußerte (aber weiterhin gültige) Befund der marginalen Berücksichtigung Jensens lässt sich um eine weitere Feststellung ergänzen: Auch in den vor allem seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sowohl kulturanthropologisch als auch performanztheoretisch akzentuierten Debatten zur Beziehung von Spiel und Ritual finden die einschlägigen ethnologischen Beiträge Adolf Ellegard Jensens (1899-1965) keine Beachtung – im Unterschied zu Studien wie etwa die der amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz und Victor Turner, die in diesen Auseinandersetzungen unvermindert ihren stimulierenden Einfluss geltend machen. Auch im Hinblick auf die diversen Versuche, mit Hilfe des (durchaus kontrovers diskutierten) Konzepts des „Spiels“ nicht nur vereinzelte kulturelle Phänomene, sondern die Eigenheit von Kultur schlechthin zu entschlüsseln, spielen die diesbezüglichen Überlegungen Jensens keine Rolle – hingegen umso mehr      

Kohl: ‚Vom Mythos ergriffen…‘, S. 110. Die letzte umfangreichere Studie zu Jensen stammt von Fuchs: Die Religions- und Kulturtheorie Ad. E. Jensens. Vgl. z.B. Schechner: Between Theater and Anthropology; Schechner: Playing; Köpping: The Games of Gods and Man; Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste; Howe: Risk, ritual and performance; Hentschel/Hofmann: Spiel – Ritual – Darstellung. Geertz: Deep play. Turner: From Ritual to Theatre. Zur Kritik an der „inflationäre[n] Verwendung des Spielbegriffs“ vgl. jüngst Neuenfeld: Alles ist Spiel, S. 10 f. Hier seien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nur beispielhaft genannt: Baatz/MüllerFunk: Vom Ernst des Spiels; Rötzer: Schöne neue Welten?; Lang: Heiliges Spiel; Matuschek: Literarische Spieltheorie; Fischer-Lichte/Lehnert: [(v)er]SPIEL[en]; Poser: Homo faber ludens; Adamowsky: ‚Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet‘; Raulff/Kampmeyer-Käding: Spielen.

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die Thesen des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga, dessen Schrift Homo Ludens seit seinem Erscheinen im Jahr 1938 als fortgesetzter Bezugs- und Orientierungspunkt für spiel- und kulturtheoretische Abhandlungen fungiert. Doch dieser Befund – dass Jensens Ouevre (im Gegensatz zu dem von Huizinga, Geertz oder Turner) offenbar aus dem Blickfeld jener Forscher verschwunden ist, die sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte aus religionswissenschaftlicher oder kulturtheoretischer Perspektive vermehrt dem Phänomen ‚Spiel‘ zuwandten – scheint alles andere als selbstverständlich: erprobt Jensen doch z.B. in seiner Studie Mythos und Kult bei Naturvölkern (zuerst 1951 publiziert) eine Forschungsperspektive, die sie für spiel- und kulturtheoretische Erörterungen durchaus attraktiv macht. Mit Mythos und Kult bei Naturvölkern hatte er bereits einige Jahrzehnte, bevor Turner und Geertz zu entscheidenden Stichwortgebern des ‚performative turn‘ bzw. des ‚interpretative turn‘ in den Humanwissenschaften10 avancieren konnten (dies nicht zuletzt aufgrund ihrer Untersuchungen der Zusammenhänge von Spiel und Ritual), eine material- und deutungsreiche Studie zu den spezifischen Verflechtungen, Analogien und signifikanten Differenzen von Spiel, Kult11 und Mythos und ihren Konsequenzen für ein Verständnis von Kultur vorgelegt. Des weiteren gehörte er mit dieser Schrift zu den ersten Gelehrten, die auf das fruchtbare heuristische Potential des von Huizinga in Homo Ludens formulierten Spielbegriffs für die kulturwissenschaftliche Forschung hinwiesen – ohne freilich darauf zu verzichten, auch die von ihm registrierten Unzulänglichkeiten von Huizingas Studie zu benennen. Mythos und Kult bei Naturvölkern zeigt Jensens Bemühungen, von Huizinga aus- und über ihn hinausgehend die Tragweite des Konzepts ‚Spiel‘ für kulturwissenschaftliche Analysen im Allgemeinen und für die eigenen religionsethnologischen Fragestellungen im Besonderen auszuloten. Daher sollen im Folgenden die von Jensen in Mythos und Kult hergestellten Bezüge zu Huizinga mit der hier gebotenen Kürze genauer betrachtet 

So bei Heine: Der Potlatch als Spiel; Fleckenstein: Johan Huizinga als Kulturhistoriker; Strupp: Johan Huizinga und zuletzt bei Pfaller: Die Illusion der anderen (bes. Kap. 3 und 4).  Jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern. In folgenden Zitatnachweisen mit der Sigle ‚MuK‘ ausgewiesen.  Berücksichtigung hatten Jensens Schriften in Bezug auf sein Konzept von ‚Spiel‘ neben ihrer knappen Behandlung in Fuchs (vgl. Anm. 1) zuletzt in der Dissertation von Harms gefunden (Der Terminus ‚Spiel‘ in der Ethnologie, S. 54 ff., vgl. a. Anm. 44). 10 Vgl. hierzu Bachmann-Medick: ‚Cultural Turns‘. 11 In der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen und ethnologischen Forschungsliteratur werden die von Jensen (und auch von Huizinga) ‚Kulte‘ genannten religiösen Handlungskomplexe eher als ‚Rituale‘ bezeichnet (zur Abgrenzung der Termini ‚Kult‘ und ‚Ritual‘ vgl. beispielsweise jüngst Lang: Kult). Um Einheitlichkeit in der Darstellung anzustreben, verwende ich im Folgenden sowohl bei der Darlegung als auch bei der Analyse der Positionen Jensens und Huizingas die Bezeichnung ‚Kult‘.

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werden – dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Aufmerksamkeit Jensens für Huizinga keinesfalls einseitig war, sondern darauf antwortete, dass sich Huizinga seinerseits im Homo Ludens auf eine frühere Arbeit Jensens, Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern aus dem Jahr 1933, berief.12 Daher sollen im Folgenden die von Jensen problematisierten Zusammenhänge von ‚Mythos‘ und ‚Kult‘ zur vom Menschen ästhetisch erfahrenen und gestalteten ‚Wirklichkeit‘, zum ‚Ergriffensein‘, zum ‚Ausdruck‘, zum ‚schöpferischen Vorgang‘ und nicht zuletzt auch zu den ‚Künsten‘ exemplarisch nachgezeichnet werden, um anschließend seine Reflexionen zu ‚Kult‘ und ‚Spiel‘ mit Blick auf den Homo Ludens Huizingas zu beleuchten. Dabei wird zu fragen sein, ob und welche Konsequenzen sich dabei für Jensens (explizit an Dilthey anschließende) Auffassung vom ‚Verstehen‘ des sich in Texten, Handlungen und Produkten manifestierenden menschlichen Ausdrucks ergeben, wenn er den von Huizinga vertretenen Spielbegriff religionsethnologisch-mythentheoretisch transformiert. In diesem Zusammenhang sollen auch die mutmaßlichen Gründe zur Sprache kommen, die für die heutige Randständigkeit der Thesen Jensens verantwortlich sein könnten.

II. Jensen und das Problem des ‚Verstehens‘ religiöser Phänomene Mythos und Kult bei Naturvölkern gilt als der letzte (und von angloamerikanischen Fachkollegen heftig attackierte)13 Versuch, mit Hilfe des konzeptionellen Gerüsts der von Leo Frobenius14 entwickelten Kulturmorphologie und umfangreichen ethnographischen Materials eine Erklärung der Entstehung und Entwicklung sowohl religiöser als auch künstlerischer Anschauungs- und Darstellungsformen zu geben, oder, in Jensens eigenen Worten, als Versuch, „zu einer neuen, nämlich kulturmorphologischen Religionswis-

12 Huizinga: Homo Ludens, S. 32 ff. In folgenden Zitatnachweisen mit der Sigle ‚HL‘ ausgewiesen. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Homo Ludens vgl. Köster: Johan Hui­zinga, S. 60 ff.; Gombrich: Huizinga’s Homo ludens, S. 133-154; Anchor: History and Play, S. 63-93; Liu: A Critical Comparative Study; von Arnauld: Recht – Spiel – Magie, S. 101-117. 13 Vgl. die Rezensionen in CA Book Review of ‚Myth and Cult Among Primitive Peoples‘, S. 199215, die besonders die methodologischen Voraussetzungen Jensens attackieren (vgl. dazu a. Anm. 44). Die von Jensen am Konzept Huizingas reflektierten Beziehungen von Kult und Spiel finden hingegen bei seinen Fachkollegen keine spürbare Resonanz: Seine Auseinandersetzung mit Huizinga wird allein von einem der achtzehn in dieser Rezension zu Worte kommenden Kritiker (Francis Lee Utley) mit einem Satz gewürdigt: „Enthusiasm for and critique of Huizinga’s theory of cult as play are valid (p. 57).“ (S. 212) 14 Zu Frobenius vgl. Straube: Leo Frobenius (1873-1938), S. 151-170, 338-340. Zur Rolle von Frobenius als „geistige[m] Wegbereiter des Nationalsozialismus“ vgl. Fischer: Völkerkunde im Nationalsozialismus, S. 90.

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senschaft zu gelangen.“ (MuK, 450)15 Nachdem Jensen, der zuvor Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie studiert hatte, im Jahre 1922 in Kiel mit einer Dissertation über die erkenntnistheoretischen Positionen Max Plancks und Ernst Machs promoviert worden war, trat er 1923 mit Frobenius und dessen bis 1925 zunächst in München, dann in Frankfurt a.M. ansässigen ‚Forschungsinstituts für Kulturmorphologie‘16 in Kontakt und war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.17 Ethnologische Forschungsreisen führten ihn ab 1928 nach Südafrika, Libyen, Äthiopien und auf die Molukkeninsel Ceram. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde ihm 1946 das Ordinariat für Kultur- und Völkerkunde an der Universität Frankfurt übertragen, womit er zugleich Leiter des ‚Frobenius-Instituts‘, also des ehemaligen ‚Instituts für Kulturmorphologie‘ wurde, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1965 leitete. Jensen verfolgt mit Mythos und Kult bei Naturvölkern das erklärte Ziel, „die religiösen Phänomene der nicht-abendländischen Welt besser zu ‚verstehen‘, als uns dies bisher gelungen ist.“ (MuK, 23) Dazu widerspricht er zunächst den u. a. von Forschern wie Konrad Theodor Preuss oder Lucien Lévy-Bruhl vertretenen Auffassungen, die Unverständlichkeit der religiösen Überzeugungen18 der prähistorischen Menschen bzw. der gegenwärtigen ‚Naturvölker‘ beruhe auf deren geistiger Struktur, die von der europäischer Menschen verschieden sei. Jensens Einwand gegen Preuss (der Ordinarius für Ethnologie und ab 1920 Direktor des Völkerkundemuseums in Berlin war) richtet sich gegen dessen Formulierung von der ‚Urdummheit‘; LévyBruhl (der 1925 das ‚Institut d’Ethnologie‘ an der Sorbonne gründete) gerät wegen seines Konzepts vom ‚prälogischen Denken‘ der ‚Primitiven‘ ins Kreuzfeuer der Kritik Jensens: „Wir gehen hingegen von einem entgegengesetzten Standort aus und leugnen solche grundsätzlichen Unterschiede.“ (MuK, 38) Auch die z.B. von Edward Burnett Tylor, dem ersten Professor für Anthropologie in Oxford, oder von dem Psychologen Willy Hellpach geäußerte Überzeugung, der frühe Mensch (und auch sein heutiges Pen15 Kohl bezeichnet das Buch in diesem Zusammenhang als „Grabmonument“ der Kulturmorphologie (Kohl: Adolf Ellegard Jensen, S. 171). 16 Zur intellektuellen und institutionellen Verortung des ‚Instituts für Kulturmorphologie‘ und seiner Mitarbeiter vgl. Schivelbusch: Intellektuellendämmerung, S. 19-32; Kramer: Die Aktualität des Exotischen, S. 27-43; Streck: Kultur als Mysterium, S. 89-115; Ehl: Ein Afrikaner erobert die Mainmetropole, S. 121-140; Petermann: Die Geschichte der Ethnologie, S. 611638; Kohl/Platte: Gestalter und Gestalten (zu Jensen v. a. der Beitrag von Streck: Zur wissenschaftlichen Zielsetzung der ehemaligen Direktoren, S. 227 ff.). 17 Zum wissenschaftlichen Werdegang Jensens vgl. Lebensdaten und Schriftenverzeichnis in Haberland/Schuster/Straube: Festschrift für A. E. Jensen, S. IX-XVI, Fuchs: Die Religionsund Kulturtheorie Ad. E. Jensens, S. 5-17, und Streck: Jensen. 18 Zur Problematik der für die Religionsphänomenologie zentralen Kategorie des ‚Verstehens‘ vgl. Kollmar-Paulenz: Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens fremder Religionen, S. 217-237.

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dant, der ‚Primitive‘) werde durch mangelhafte intellektuelle Fähigkeiten zu falschen Denkprozessen, mithin zu unverständlichen religiösen Anschauungen und Praktiken verleitet, weist Jensen als unhaltbar zurück: Hinter dieser Ansicht verberge sich ein Bild vom Menschen, das diesen ausschließlich als ein auf praktische Zwecke gerichtetes und stets rational verfahrendes Wesen begreife. Eine solche Auffassung vom Menschen aber, so Jensen weiter, führe die humanwissenschaftliche Forschung in die Irre, weil sie nicht nur das Verstehen fremder kultureller Phänomene, sondern auch das der Erscheinungen der eigenen Kultur erschwere: Die geistigen Gestaltungen in unserer abendländischen Kultur – die religiösen Kulte, die Werke der hohen Kunst und der Geisteswissenschaften zum Beispiel – kennen solche praktischen Zwecke nicht. Es gibt keinen vernünftigen Grund für die Behauptung, daß das in frühen Kulturen anders gewesen sein sollte. (MuK, 45)

Für das Verständnis religiöser Auffassungen oder Praktiken sei es somit wenig hilfreich, davon auszugehen, dass der Mensch mit ihnen bestimmte Absichten verfolge.19 Das Studium der Mythen und Kulte der ‚Naturvölker‘ lege vielmehr den Schluss nahe, dass sie ihren Ursprung einem zweckfreien Schöpfungsakt verdankten. Das bedeute jedoch nicht, dass sie deshalb weniger sinnvoll seien.20 Man müsse vielmehr „den kulturschöpferischen Vorgang als einen ernsthaften und wesentlichen, das heißt eben als schöpferischen Prozeß […] verstehen, dessen Ergebnisse ebenfalls vernünftige und auch logisch sinnvolle Gestaltungen sind.“ (MuK, 274)21 19 Jensen warnt an anderer Stelle davor, aus dem (vermeintlichen) Zweck kultureller Gestaltungen, wie er beispielsweise von Angehörigen der untersuchten Bevölkerungsgruppe angegeben werde, auf das Motiv ihrer Entstehung zu schließen: das Nützliche sei keinesfalls immer das Primäre (Bemerkungen zur kulturmorphologischen Betrachtungsweise, S. 146). 20 Zu einer vergleichbaren Auffassung mit Blick auf die vermeintliche ‚Irrationalität‘ von symbolischen Vorstellungen in Ritualen ‚primitiver Religionen‘ gelangte auch der Oxforder Anthropologe J. H. M. Beattie. Diese Vorstellungen seien „keinesfalls irrational in dem Sinn […], daß ihnen eine kohärente Organisation oder eine logische Grundlage [fehlt]. Ihre Assoziationen und Klassifikationen können, wenn man sie versteht, wie diejenigen der Musik, des Dramas und der anderen Künste völlig sinnvoll sein, wenn auch nicht in einer ‚wissenschaftlichen‘ Bedeutung.“ (Über das Verstehen von Ritualen, S. 197) 21 „Sinnvoll ist eine solche Kulturerscheinung dann, wenn die darin enthaltene Aussage wahr ist. Für diesen Gedankengang bedeutet das […], daß die schöpferischen Träger der kulturellen Gemeinschaft Wirklichkeitserlebnisse kannten oder kennen, die ein entsprechendes Verhalten der Menschen rechtfertigen. […] Die widerspruchsfreie Einordnung einer Kulturerscheinung in dieses, eine Kultur kennzeichnende System von Aussagen ist das zweite hauptsächliche Merkmal dafür, daß sie uns sinnvoll erscheint. Das Fehlen dieses zweiten Merkmals ist das Kennzeichen der Survivals, denn sie reichen mit ihren Wurzeln meist in frühere Kulturschichten, deren geistige Welt und damit die in ihr gültigen Aussagen über die Wirklichkeit nicht mehr als wahr erlebt werden.“ (MuK, 69) Zwar greift Jensen hier auf das von Edward Burnett Tylor entwickelte Konzept des ‚survivals‘ zurück, mit dem dieser in der 1871 publizierten Studie Primitive Culture operierte, lehnt jedoch das bei Tylor hiermit verbundene Fortschrittsverständnis sowie die Überzeugung von der mentalen Minderwertigkeit der ‚Primitiven‘ ab: „Völlig unabhängig von allem sogenannten Fortschritt ist der Mensch

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Dieser schöpferische Vorgang ist nach Jensen als Ursprung jeder kulturellen Gestaltung anzusehen – nicht nur als der religiöser Überzeugungen oder Handlungen: Jede Kulturerscheinung, die einmal durch einen schöpferischen Akt hervorgebracht wurde, wird lehrend weitergegeben. Sie wird stets ein um so lebendigerer Bestandteil einer Kultur sein, je mehr sowohl in den Lehrenden wie in den Empfangenden noch etwas von den ursprünglichen schöpferischen Akten lebendig ist. Und umgekehrt gilt das gleiche: Wenn der Glanz des schöpferischen Vorgangs erloschen ist, begegnen uns die Gestaltungen meist nur noch als erstarrte und sinnentleerte Bestandteile eines kulturellen Gefüges. Ausnahmslos jede Kulturerscheinung unterliegt diesem Wandel vom ‚Ausdruck‘ zur ‚Anwendung‘. Gerade diese Situation macht das Verständnis der religiösen Äußerungen der Naturvölker schwierig, aber nicht hoffnungslos. Die wichtigste Aufgabe dieses Buches sehe ich in dem Versuch, an einer Reihe von Beispielen zu zeigen, daß es unter bestimmten Umständen doch möglich ist, etwas über den ursprünglichen schöpferischen Akt, der zu einer bestimmten Erscheinung geführt hat, auszusagen und damit ihren echten Sinn zu begreifen. Eine Erscheinung verstehen heißt nämlich, den schöpferischen Kräften, die zu ihrer Entstehung geführt haben, nachzuspüren. (MuK, 24)

Im Rahmen des von Jensen behaupteten Entwicklungsgangs kultureller Erscheinungen, die dem „Degenerationsgesetz“ (MuK, 18) unterliegen und sich daher von ihrem ‚Ausdruck‘ hin zu ihrer ‚Anwendung‘, d.h. zur sachlichen Betrachtung und zweckgerichteten Verwendung entwickeln,22 geht dem schöpferischen Akt noch ein entscheidendes Ereignis voraus, ohne das offenbar vom Anfang seiner Geschichte an […] zu jenen ganz besonderen qualitatitiven Erkenntnissen der Wirklichkeit befähigt gewesen, in denen sich das eigentliche Wesen einer Kultur offenbart. Die Unterschiede zwischen den frühen Kulturen und der unseren sind in dieser Hinsicht weder mit einem Fortschrittsmaßstab zu messen, noch lassen sie sich auf völlig verschiedenartige geistige Grundlagen (zum Beispiel prälogischer und logischer Art) zurückführen. Sie sind vielmehr lediglich von den Inhalten der kulturellen Gestaltungen her gegeben.“ (MuK, 69) 22 Jensen gesteht freilich zu, dass es keine objektiven Kriterien gebe, „wie der jeweilige Zustand des Ausdrucks oder der Anwendung bei einer Kulturerscheinung festgestellt werden“ (MuK, 26) könne. In einer 1963 publizierten Replik verwahrt er sich gegen den Vorwurf Wilhelm E. Mühlmanns, seine „Degenerations-Hypothese“ lasse schöpferische Phasen nur in der „Urzeit“ zu: „Bei dem von mir dargelegten Ablauf der Kultur handelt es sich weder um ‚die‘ Zeit ‚des‘ Menschen noch um alles ‚Spätere‘, sondern um einen Ablauf, der sich in allen Bereichen der Kultur und zu allen Zeiten beobachten läßt. […] Daß schöpferische Prozesse ‚immer wieder und auch heute noch‘ vorkommen, gehört zu den Grundvoraussetzungen meines Buches, und sie werden auch gerade für die heutige Zeit hervorgehoben.“ (Jensen: Mythos und Erkenntnis, S. 64 f.) Jensens Reflexionen zur „religiösen Gesittung“ zeigen deutlich, dass er keinesfalls der Gefahr der schematischen Vereinfachung nach dem Modell ‚Moderne = Stadium der Anwendung‘ und ‚Naturvölker = schöpferisches Stadium der Ergriffenheit‘ erliegt: „Die heutigen Naturvölker leben in völlig erstarrten Kulturverhältnissen, und das heißt nichts anderes, als daß sich bei ihnen keine nennenswerte Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft mehr findet, die ein selbstschöpferisches oder nachschöpferisches Verhältnis zu den geistigen Grundlagen ihrer eigenen Kultur haben. Gerade deshalb sind wir darauf angewiesen, den wahren sittlichen Gehalt ihrer Religionen indirekt aus den überlieferten Sitten zu erschließen.“ (MuK, 278)

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dieser gar nicht in Erscheinung treten könnte. Unter Rückgriff auf das (wie auch im Falle von ‚Ausdruck‘ und ‚Anwendung‘) auf Leo Frobenius zurückgehende Konzept der ‚Ergriffenheit‘ versteht Jensen unter diesem Ereignis „das Aufleuchten einer Erkenntnis“: der schöpferische Akt stamme, so Jensen, „aus unkontrollierbaren seelischen Vorgängen […], in denen keine Begründungen und keine vorgestellten Zwecke enthalten sind.“ (MuK, 23) Bereits in seinem 1941 publizierten Aufsatz „Spiel und Ergriffenheit“23 (den er später, leicht modifiziert, als Kapitel II, 3 in Mythos und Kult bei Naturvölkern integrierte) hatte Jensen ‚Ergriffenheit‘ wie folgt definiert: ‚Ergriffensein‘ ist (auch nach dem üblichen Sprachgebrauch) ein seelischer Zustand, der den Menschen aus dem gewöhnlichen Leben heraushebt, ein Festgefühl, das in besonderem Maße auch das Kennzeichen schöpferischer Zeiten im Leben des Menschen ist. ‚Von etwas ergriffen sein‘ deutet auf eine Wirklichkeit, auf die der Mensch gerichtet ist. Der Mensch wurde vom Wesen der Dinge ergriffen, sagte Frobenius. Man könnte auch sagen, in begnadeten Zeiten gewann der Mensch eine tiefere Erkenntnis der Welt, ihm offenbarte24 sich die Ordnung der Wirklichkeit oder – das Göttliche in den Dingen.25

Die Verschiedenheit der Kulturen26 sei nun darauf zurückzuführen, so Jensen, dass jede Zeit und jede Gemeinschaft, ob nun ‚naturvölkisch‘ oder ‚modern‘, stets nur partiell von bestimmten Aspekten der Wirklichkeit ergriffen werde und dies dann in unterschiedlichen religiösen sowie künstlerischen Erzeugungen oder Praktiken zum Ausdruck bringe: Es wird von anderen Wirklichkeiten abstrahiert; sie gelangen innerhalb jener Sphäre nicht zur Verwirklichung. Das ist durchaus nicht nur ein Kennzeichen sogenannter primitiver Geistigkeit. […] Die Abstraktion von anderen Wirklichkeiten ist sogar ein Wesensmerkmal aller Erkenntnis, und auch die archaischen, aus Ergriffenheit entstandenen Gestaltungen und Handlungen sind Erkenntnisse. (MuK, 91)

Durch diesen Abstraktionsvorgang (der laut Jensen nicht allein im religiösen oder künstlerischen, sondern auch im wissenschaftlichen Erkennt23 Jensen: Spiel und Ergriffenheit, S. 124-139. 24 Der Inhalt der ‚Offenbarung‘ sei hier nicht als übernatürliche „Mitteilung durch göttliche Hilfe“ zu verstehen, sondern zeige, so Fuchs, „das Wesen der lebendigen Wirklichkeit‘ […], eine ‚mythische Wahrheit‘, die ihrem Charakter nach irrational ist.“ (Fuchs: Die Religionsund Kulturtheorie Ad. E. Jensens, S. 130) 25 Jensen: Spiel und Ergriffenheit, S. 130. Identisch mit MuK, 89. 26 Jensen hält es für falsch, diese Verschiedenheit mit der Kategorie des ‚Fortschritts‘ erklären zu wollen. Mit dieser für kulturgeschichtliche Analysen letztlich unbrauchbaren Kategorie seien allenfalls quantifizierbare Fakten zu erfassen, nicht jedoch der (für Jensen entscheidende) qualitative Gehalt: „Der durch nichts aufzuhebende Eigenwert einer Kultur, der keinerlei wertenden Vergleich mit einer anderen Kultur zuläßt, ist […] nicht wesentlich, jedenfalls nicht allein, durch die Summe und die Eigenart der intellektuellen Erkenntnisse bestimmt, sondern durch die echten schöpferischen Gestaltungen, die niemals deshalb wahrer, schöner oder besser sind als andere, weil sie einer fortgeschrittenen Zeit angehören; sie verdanken vielmehr ihre Wahrheit, Schönheit und Güte allein dem schöpferischen Quell, der sie hervorgebracht hat.“ (MuK, 65)

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nisbereich zu finden ist) werden ‚Aufmerksamkeitshierarchien‘ geschaffen, anhand derer Kulturen wiederum identifizierbar sind: „Jede Kultur bildet eine Wertskala aus, mit der die verschiedenen Erlebnisinhalte nach ihrer Vorrangstellung gemessen werden.“ (MuK, 54) Aus diesen Differenzen der Erkenntnisweisen (die nach Jensen auch unterschiedliche Erlebnisweisen spiegeln) ergeben sich Hindernisse sowohl für das inter- als auch für das innerkulturelle Verstehen, da es sich bei ihnen ja um (im wahrsten Sinne) ‚wesentliche‘ Einsichten handelt, die sich diskursiv kaum angemessen vermitteln lassen: Wer die Größe eines Shakespearschen Dramas nacherlebt, kann sich über dieses Erlebnis nicht mit jemandem verständigen, der die gleiche Erlebnisfähigkeit nicht besitzt. Das Gleiche gilt für alle Gebiete der Kunst, für die Musik, für die bildende Kunst, aber es gilt gerade auch für die religiösen Ausdrucksformen. Es war eine der größten Leistungen der frühen Menschheit, mit den damals viel stärker im Vordergrund stehenden Kulthandlungen ein Verständigungsmittel gefunden zu haben, das die Verständigung zwischen den Mitgliedern der gleichen Kulturgemeinschaft über bestimmte Formen der Wirklichkeitserkenntnis viel besser herzustellen vermochte als etwa die Sprache. (MuK, 27)

Wie auch an anderen Stellen von Mythos und Kult treten in dieser Passage die Ansichten Jensens zur Verwandtschaft von Religion und Kunst deutlich zutage. Seiner Auffassung nach sind künstlerische sowie religiöse Artefakte und Praktiken in mancherlei Hinsicht vergleichbar, beispielsweise mit Blick auf Aspekte ihrer Entstehung und sozialen Funktion. Da auch sie, so Jensen, wie andere kulturelle Gestaltungen dem „Degenerationsprozeß“ vom „Ausdruck“ zur „sinnentleerten Anwendung“ (MuK, 104) unterliegen, richtet sich sein Interesse vornehmlich auf die „schöpferische[n] Zeiten“ ihrer Entstehung, deren Untersuchung er in anthropologischer Hinsicht für besonders aufschlussreich hält. Die künstlerischen sowie religiösen Erzeugnisse und Darbietungen dieser schöpferischen Phasen begreift Jensen als kulturell je spezifisch geprägte Ausdrucksformen von „Wirklichkeitserkenntnis“, in denen jeweils partielle Aspekte der Realität hervorgehoben sind: Ihr Ursprung ist das „Erlebnis“, das „Ergriffensein“ von Wirklichkeit. Der Kunst räumt Jensen im vielfältigen Ensemble kultureller Gestaltungen einen Sonderstatus ein, da sie, „solange es dem Menschen wichtig war, den göttlichen Aspekt der Wirklichkeit zu erfahren und darzustellen“, ein konkurrenzloses „Darstellungsmittel gesteigerter Welterfahrung“ geblieben sei – und das über historische und kulturelle Veränderungen hinaus. „Die Kunst“, so Jensen, „ist einer der wenigen Lebensbereiche, die auch unsere Kulturepoche noch durch die gleichen Ausdrucksmittel mit der frühen Menschheit verbindet.“ (MuK, 104) Gleichwohl seien auch künstlerische Schöpfungen, wie er im gleichen Atemzug bemerkt, nicht generell vor den Folgen des Degenerationsprozesses gefeit. In den Augen Jensens trägt Kunst in ihrer ‚reinsten‘ (sprich: ursprünglichen) Form offenbar immer auch religiöse Züge.

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Schaut man sich nun die oben angeführte Passage, in der Jensen Kulthandlungen und die Aufführung27 eines Dramas von Shakespeare aufeinander bezieht, genauer an, so fällt auf, dass er die aus der ‚Ergriffenheit‘ resultierenden künstlerischen und religiösen Artefakte bzw. Praktiken keinesfalls nur unter dem Gesichtspunkt des „Ausdrucks“ dieses Erlebnisses analysiert, sondern dass er zugleich ihren ‚pragmatischen‘ Stellenwert berücksichtigt. Daher sollte Jensens an anderer Stelle formulierte These, dass eine in ‚schöpferischen Zeiten‘ vollzogene Kulthandlung (die er als menschliches „Spielen“ der kosmischen Ordnung begreift) „an sich ein ebenso zweckfreies Tun [ist] wie die Aufführung eines Dramas in unserer Zeit“ (MuK, 92),28 den Interpreten keinesfalls zu der (falschen) Schlussfolgerung verleiten, dass er sich aufgrund der behaupteten Zweckfreiheit von Kulthandlungen bloß mit deren innerem Aufbau beschäftigt – und die über das engere Kultgeschehen hinausweisenden sozialen Auswirkungen vernachlässigt. Denn die hier zur Diskussion stehende Passage zeigt deutlich, dass Jensen sehr wohl auch die soziale Dimension dieser religiösen Praktiken (nämlich ihre Rolle als „Verständigungsmittel“) ins Kalkül zieht. Mehr noch: Indem er den ursprünglichen Kulthandlungen attestiert, dass sie „die Verständigung zwischen den Mitgliedern der gleichen Kulturgemeinschaft über bestimmte Formen der Wirklichkeitserkenntnis viel besser ‚herzustellen‘ vermochte[n] als etwa die ‚Sprache‘“ (Hervorhebung von mir, M. B.), betrachtet er diese kultischen Aufführungen offenbar weniger als Akte, die ein bereits existierendes Gemeinschaftsleben ‚strukturieren‘, sondern – noch grundsätzlicher – als Handlungsformen, die dieses Gemeinschaftsleben überhaupt erst ‚konstituieren‘. Zudem lässt sich eine weitere Beobachtung anfügen, die Licht auf Jensens Überzeugung von der Wirkmächtigkeit kultischer Handlungen wirft; sie muss sowohl vor dem Hintergrund seiner grundsätzlichen Auffassung zum Verhältnis von Mythos und Kult29 als auch mit Blick auf seine Ansicht bezüglich der Bedingungen ihres ‚Verstehens‘ betrachtet werden. 27 An dieser Stelle, so meine Vermutung, geht Jensen mit seiner Formulierung vom ‚Nacherleben der Größe eines Shakespear’schen Dramas‘ nicht von der Lektüre des Dramentextes aus, sondern von der Wahrnehmung seiner Aufführung, denn auch die im Folgenden angesprochenen kulturellen Gestaltungen wie „Musik“, „bildende Kunst“ und „religiöse Ausdrucksformen“ sind auf Aufführung, Ausstellung und Präsentation angewiesen, um ihre Wirkung auf den Betrachter oder Zuhörer zu entfalten. 28 Zur These der ursprünglichen Zweckfreiheit von Kulthandlungen vgl. auch MuK, 17 und 71. Zur Überlagerung des „ursprünglichen Sinns“ einer Kulthandlung durch „Pseudozwecke“ im „Anwendungsstadium“ einer Kultur vgl. MuK, 24. 29 Jensens Position ist vor dem Hintergrund der in der Altertums- und Religionswissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts geführten Debatten über das Verhältnis von Riten und Mythen zu betrachten. Zu den in dieser Zeit tonangebenden Forschern wie William Robertson Smith, James George Frazer und Jane Ellen Harrison, die gegen die behauptete Priorität des Mythos ihren ritualistischen Standpunkt durchzusetzen versuchten, vgl. Schlesier: Kulte, Mythen und Gelehrte (bes. Kap. V), sowie Segal: Myth and Ritual.

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Jensens Auffassung zufolge waren in den „naturvölkischen Religionen“ die mythischen Erzählungen und die kultischen Handlungen ursprünglich eng miteinander verbunden. Sowohl die Erzählungen als auch die Handlungen bezeichnet er als zweckfreie Ergebnisse „mythische[r] Welterkenntnis“ bzw. „mythische[r] Wirklichkeitserfahrung“ (MuK, 71). Wenn er sich in seinen Ausführungen auch stets darum bemüht, ‚Mythen‘ und ‚Kulte‘ als distinkte religiöse Ausdrucksformen zu behandeln, so ist ihm doch durchaus bewusst, dass in manchen Fällen eine präzise Scheidelinie zwischen beiden kaum auszumachen ist: so sei beispielsweise beim festlichen Ballspiel der Uitoto in Südamerika, wie Jensen den ethnographischen Aufzeichnungen von Konrad Theodor Preuß entnimmt, auch das Erzählen der Mythen als Kulthandlung anzusehen (vgl. MuK, 72). In der Mehrzahl der von Jensen in Mythos und Kult genannten Beispiele jedoch unterscheidet er zwischen ‚Sprechen‘/‚Erzählen‘ und ‚Handeln‘, womit er zugleich den Unterschied zwischen Mythos und Kult markiert: Kulte sind in erster Linie Handlungen. Da sich das Vortragen der Mythen,30 so Jensen, eher mit der aus dem Christentum bekannten Lesung aus dem Evangelium an hohen Feiertagen als mit dem Erzählen von Märchen vergleichen lasse, offenbarten sich auch mythische Wahrheiten nur in einer entsprechend festlichen Atmosphäre. Wenn daher ein Ethnologe den Wahrheitsgehalt der echten Mythe verstehen wolle, so vermöge er dies nur über das Mittel der Einfühlung, etwa, „wenn wir in uns selber jene festliche Situation der Naturvölker anklingen lassen können, die ihnen die mythischen Antworten als vernünftige Aussagen erscheinen lässt.“ (MuK, 74)31 Wo Jensen die Mythen als ‚narrative Erkenntnisinstrumente‘ begreift, mit denen sich eine Gemeinschaft über ihre elementaren Lebensbedingungen verständigt, da fasst er Kulte als gesteigerte Formen dieser Verständigung auf, in denen die erkannte Ordnung in „religiös-sittliche[r] Haltung“, die für die Kultausübung charakteristisch sei, ausgedrückt und dargestellt werde: „In ihnen wird sich die Gemeinschaft dieser Ordnung in erhöhtem Maße bewußt“ (MuK, 74); „in ungemein erregenden Zeremonien und gemeinschaftlichen Aufführungen“ werden die Erkenntnisse nicht nur vermittelt, sondern „erlebt“ (MuK, 250).32 30 Zum Mythosbegriff Jensens vgl. auch Fuchs: Die Religions- und Kulturtheorie Ad. E. Jensens, Kap. 4. 31 Zur Kritik an dem in der Ethnologie vor allem von Frobenius propagierten Erkenntnisinstrument der ‚Einfühlung‘ vgl. Kramer: Einfühlung, S. 22 ff. Zur unscharfen Verwendung des Konzepts der ‚Einfühlung‘ in der Ästhetik und seiner (deutschen) Karriere in der Völkerpsychologie nach dem ersten Weltkrieg vgl. Fontius: Einfühlung/Empathie/Identifikation, S. 135 f. Zum (überholten) „Sonderweg“ eines intuitionistischen Verstehensbegriffs bei Jensen (im Anschluss an Frobenius) vgl. auch Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens, S. 99 f. 32 Schamanistische Praktiken betrachtet Jensen, dem ‚Degenerationsgesetz‘ entsprechend, im Unterschied zu den darstellenden Kulten als „Anwendung“ (MuK, 316).

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Diese hier in aller Kürze skizzierten Überlegungen Jensens zeigen, dass seine Urteile über die Beziehung von Mythos und Kult in einem erkennbaren Spannungsverhältnis stehen. Denn einerseits führen ihn seine Untersuchungen zu dem (bereits oben erwähnten) Befund, dass in „den naturvölkischen Religionen […] [eine] enge Zusammengehörigkeit der beiden Ausdrucksmöglichkeiten“ (MuK, 72) Mythos und Kult existiert (eine Position, die er mit Bezug auf die religionshistorischen Forschungserträge von Walter F. Otto, Karl Kerényi und Mircea Eliade zu untermauern versucht). Die Auffassung, dass Mythen und Kulte eng miteinander verbunden sind, kann freilich zu der (differenziertere Analysen von Kulten nicht eben stimulierenden) Schlussfolgerung führen, dass sich die Funktion der Kulte darin erschöpft, ein in den Mythen dargelegtes Geschehen augenfällig zu machen: der Kult bringt dieser Auffassung zufolge den Mythos gewissermaßen ‚auf die Bühne‘. Und tatsächlich meint Jensen, diese Annahme in vereinzelten Belegen seines ethnographischen Materials bestätigt zu finden: „Manchmal sind die Kulthandlungen nur dramatische Aufführungen der in den entsprechenden Mythen beschriebenen Vorgänge.“ (MuK, 72) Andererseits aber führen seine Analysen von Kulten Jensen auch zu der Einsicht (und seine Bewertung von Kulthandlungen als ‚bessere Verständigungsmittel‘ zeigt dies unübersehbar an), dass ihnen eine Qualität innewohnt, die sie den Mythen überlegen macht: Es ist die gesteigerte Eindringlichkeit und gleichsam intuitive Evidenz des in ihnen Dargestellten, die dem Betrachter das ergreifende „Nacherleben“ nicht zuletzt auch solcher „Wirklichkeitserkenntnisse“ ermöglicht, die ihm sprachlich, also z.B. über die mythische Erzählung, unmöglich zu vermitteln wären. Gleichwohl zieht Jensen im Zuge seines Hinweises auf diese spezifische Überlegenheit nicht den Schluss, dass sich aus ihr eine ‚Emanzipation‘ der Kulte ableiten ließe – in dem Sinne, dass eine Untersuchung kultischer Praktiken von ihrer Verbindung zu den Mythen vollständig absehen könnte. Obwohl also weit von einer jüngst von dem Anthropologen Don Handelman erhobenen Forderung entfernt, den Kult „in its own right“ zu analysieren,33 hat Jensens Überzeugung, dass kultische Handlungen eine durch keine diskursive Darbietung ersetzbare bedeutungsgenerierende Kraft besitzen, auf jeden Fall seine Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit geschärft, in den Untersuchungen „religiöser 33 Handelman: Why Ritual in Its Own Right? Für eine differenziertere Analyse von Ritualen, so Handelman, sei stärker als bisher geschehen an ihren Anfang die Selbst-Integrität und Selbstreferentialität von Ritualen zu berücksichtigen: „To begin the analysis of ritual as phenomenon in its own right, no assumptions need be made immediately about how sociocultural order and ritual are related, neither about the meaning of signs and symbols that appear within a ritual, nor about the functional relationships between a ritual and a social order. It is the phenomenal of the ritual itself that is the problematic at issue […].“ (S. 3) Für Jensen hingegen ist die unmittelbare Rückbindung der in der Analyse aufscheinenden Aspekte eines Kults an den mythologischen oder soziokulturellen ‚Nährboden‘ zentral.

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Ausdrucksformen“ dieses Potential nicht zu unterschätzen: Kulte sind keinesfalls den Mythen bloß nachgeordnete Erscheinungen. Mit dem Hinweis auf diese beeindruckende Qualität kultischer Praktiken (die darin besteht, ein eminent ausdrucksvolles, auf Darstellung basierendes Mittel für die „Verständigung zwischen den Mitgliedern der gleichen Kulturgemeinschaft über bestimmte Formen der Wirklichkeitserkenntnis“ [MuK, 27] zu sein) versucht Jensen den Brückenschlag zum (ebenfalls durch den Modus der Aufführung charakterisierten) „Shakespeare’schen Drama“, und darüber hinaus auch zur bildenden Kunst und Musik – vorausgesetzt, es handelt sich nicht um „erstarrte und sinnentleerte“ (MuK, 24) Erzeugungen. Die Wahrnehmung dieser spezifischen Qualität, durch die sich bestimmte kultische und künstlerische Gestaltungen auszeichnen, resultiert nach Jensens Auffassung aus dem „Nacherleben“ des einst ihnen zugrundeliegenden „schöpferischen Akt[es]“ (MuK, 24). Als notwendige Bedingung dieser den schöpferischen Akt gleichsam nachvollziehenden Rezeption sieht Jensen eine Erlebnisfähigkeit an, die er prinzipiell bei jedem Menschen als vorhanden voraussetzt.34 Jensen stellt sich in Mythos und Kult bei Naturvölkern mit Blick auf seine Auffassung vom ‚Erleben‘ und ‚Verstehen‘ fremder religiöser Ausdrucksformen in die Tradition Wilhelm Diltheys.35 Damit knüpft seine Position zugleich (ohne das er dies explizit erwähnt) an die von Dilthey beeinflusste „verstehende Religionswissenschaft“ des frühen 20. Jahrhunderts an, deren Hauptvertreter Gelehrte wie Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Joachim Wach

34 Jensens Vorstellung von einer das ‚Wesen der Wirklichkeit‘ erfassenden Erlebnisfähigkeit des Menschen als anthropologischer Konstante, die in ihrer Ausprägung allenfalls durch kulturelle Differenzen modifiziert wird, stellt die notwendige Grundlage seines Konzepts des Verstehens dar, die unter keinen Umständen preisgegeben werden darf. Ein „wirkliche[s] historische[s] Verstehen“ fremder schöpferischer Gestaltungen setze voraus, so Jensen, „daß die früheste Menschheit ebenso wie die heute noch lebenden Naturvölker im wesentlichen die gleichen Erlebnisfähigkeiten besaßen und besitzen wie wir. Erst wenn wir uns darauf besinnen, daß auch für uns etwa der Baum nicht nur ein Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung ist, sondern als eine lebendige Wesenheit eine Wirkung auf uns auszuüben vermag, die zu intellektuell nicht faßbaren, kulturellen Gestaltungen führen kann – erst dann haben wir in uns selbst jene Erlebnisgrundlage freigelegt, die uns zum ‚Verstehen‘ der entsprechenden naturvölkischen Erscheinungen befähigt. […] Nur wenn wir dem modernen Menschen die Fähigkeit absprechen wollen, solche qualitativen Aspekte der Wirklichkeit erleben und ihnen in kulturellen Gestaltungen Ausdruck verleihen zu können, dürften wir die Behauptung von der völlig andersartigen Mentalität der Primitiven aufrecht erhalten. Daß die Primitiven diese Fähigkeit besitzen, können wir schwerlich leugnen, da ein großer Teil ihrer kulturellen Gestaltungen nur als Ausdrucksform besonderer Qualitäten der Wirklichkeit und als Verständigungsmittel darüber verstehbar wird. Wer aber wollte im Ernst glauben, daß der Abendländer unfähig sei, solche Erlebnisse zu haben und ihnen Gestalt zu geben?“ (MuK, 66 f.) 35 Zur Bedeutung Diltheys für Frobenius und Jensen vgl. Fuchs: Die Religions- und Kulturtheorie Ad. E. Jensens, S. 315-321.

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und Gerhardus von der Leeuw waren.36 Um die geistige Verwandtschaft der Positionen Diltheys und Jensens zu verdeutlichen, müssen an dieser Stelle zwei kurze Beispiele genügen. Jensen selbst hat sich nur sparsam zu der Affinität beider Standpunkte geäußert. So wird auf Dilthey in Mythos und Kult nur ein einziges Mal explizit Bezug genommen: Er, der wie kein anderer Philosoph die Bedeutung des Verstehens für die Humanwissenschaften habe aufzeigen wollen, habe eine seltsame Zurückhaltung an den Tag gelegt, als es darum gegangen sei, objektive Kriterien für die Grundlagen des Verstehens aufzustellen (vgl. MuK, 27).37 In der Studie Das Erlebnis und die Dichtung, die Dilthey 1906 publizierte, bemüht sich dieser um eine Charakterisierung künstlerischer Produktivität. Das Kapitel, in dem sich Dilthey mit Goethe auseinandersetzt, enthält eine Passage, die Licht auf die von Jensen diskutierten Aspekte von ‚abstrahierender Ergriffenheit‘ und ‚schöpferischem Akt‘ wirft – und deren Botschaft Jensen vermutlich nicht widersprochen hätte, auch wenn er auf diese Schrift in Mythos und Kult keinen Bezug nimmt. Dilthey schreibt: Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, eine Eigenschaft des Lebens heraus, die so vorher nicht gesehen worden ist. Indem es eine ursächliche Verkettung von Vorgängen oder Handlungen sichtbar macht, läßt es zugleich die Werte nacherleben, die im Zusammenhang des Lebens einem Geschehnis und dessen einzelnen Teilen zukommen. Das Geschehnis wird so zu einer Bedeutsamkeit erhoben. […] So erschließt uns die Poesie das Verständnis des Lebens. Mit den Augen des großen Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. […] Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer die Lebenserfahrung, als persönliches Erlebnis oder als Verstehen anderer Menschen, gegenwärtiger wie vergangener, und der Geschehnisse, in denen sie zusammenwirkten. Jeder der unzähligen Lebenszustände, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: eine tiefer greifende Beziehung zu seiner Dichtung kommt nur

36 Vgl. hierzu Flasche: Religionsmodelle und Erkenntnisprinzipien, S. 262. Zur Bedeutung Diltheys für die Religionswissenschaft vgl. auch Kippenberg: Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 190 ff. Dass sich Diltheys Einfluss auf die Anthropologie keinesfalls auf Deutschland und das frühe 20. Jahrhundert beschränkte, zeigt das Spätwerk von Victor Turner. So spielt für Turner der Erlebnis-Begriff Diltheys eine wichtige Rolle bei der Ausrichtung seines Konzepts der ‚anthropology of performance‘: „I gradually gravitated, with temporary pauses to study symbolic processes, theories of symbolic interaction […] towards the basic stance delineated by the great German social thinker, whose photographs remind one of a grizzled old peasant, Wilhelm Dilthey (1833-1911). This stance depends upon the concept of experience (in German, Erlebnis, literally ‚what has been lived trough‘). […] For me, anthropology of performance is an essential part of the anthropology of experience.“ (Turner: From Ritual to Theatre, S. 12 f.) Zum Einfluss Diltheys auf zeitgenössische Anthropologen vgl. Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens, S. 36-70. 37 Zur Skepsis Jensens diesbezüglich vgl. auch Anm. 22. Zum Konzept des Verstehens bei Dilthey und seiner Kritik durch Gadamer vgl. jüngst Krüger: Verstehen als Geschehen.

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denjenigen unter den Momenten seines Daseins zu, welche ihm einen Zug des Lebens aufschließen.38

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheinen die bisher analysierten Aussagen Jensens als eine Erweiterung der Dilthey’schen Perspektive. Wo Dilthey die bedeutungskonstituierende Abstraktionsleistung „jedes echte[n] poetische[n] Werk[s]“ ins Visier nimmt (und sich in diesem Fall auf literarische Erzeugnisse beschränkt), erheben Jensens Thesen Anspruch auf Gültigkeit für „[j]ede Kulturerscheinung, die einmal durch einen schöpferischen Akt hervorgebracht wurde“ (MuK, 24): Literatur, Kunst, Musik, aber eben auch Mythen und Kulte. Dafür aber ist Jensens Ausrichtung am (anthropologisch bedeutsamen, wenngleich historisch zumeist längst vergangenen) „kulturschöpferischen Vorgang“ (MuK, 274) auch der Grund dafür, dass seine Aufzeichnungen nur noch die schwachen Spuren der anonymen Urheber von religiösen Praktiken fixieren können, Dilthey hingegen noch das heroische Dichtersubjekt feiern kann. Das zweite Beispiel möge die Verwandtschaft des Konzepts des ‚Nacherlebens‘ bei Dilthey und Jensen im Hinblick auf religiöse Phänomene andeuten. Den Stellenwert des Nacherlebens bei der Rezeption eines literarischen Kunstwerks hatte Dilthey ja bereits in Das Erlebnis und die Dichtung mit der Formulierung aufgezeigt, dass ein „echte[s] poetische[s] Werk […] zugleich die Werte nacherleben [lässt], die im Zusammenhang des Lebens einem Geschehnis und dessen einzelnen Teilen zukommen.“39 In dem Fragment gebliebenen, im Spätsommer 1911 entstandenen Text Das Problem der Religion, den er während der Überarbeitung seiner Schleiermacher-Biographie verfasste, stellte Dilthey die Bedeutung des Nacherlebens auch für das Verstehen von Religion heraus: Religion ist ein seelischer Zusammenhang, der […] im religiösen Erlebnis und den Objektivationen desselben auf doppelte Weise gegeben [ist]. Das Erlebnis bleibt immer subjektiv: erst das im Nacherleben begründete Verstehen der religiösen Schöpfungen ermöglicht ein objektives Wissen von der Religion.40

Für Jensen ist das Nacherleben die notwendige Bedingung sowohl für ‚emisches‘ als auch für ‚etisches‘ Verstehen. So setzt „die Verständigung zwischen den Mitgliedern der gleichen Kulturgemeinschaft über bestimmte Formen der Wirklichkeitserkenntnis“ (MuK, 27) das zuvor erfolgte Nacherleben der in künstlerischen oder religiösen „Ausdrucksmittel[n]“ aufgespeicherten „gesteigerte[n] Welterfahrung“ (MuK, 104) voraus. Aber auch ein 38 Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, S. 165. Zur Geschichte des Erlebnisbegiffs und seines spezifischen Gebrauchs bei Dilthey vgl. Sauerland: Diltheys Erlebnisbegriff. Zur Differenz von ‚Verstehen‘ und ‚Erleben‘ bei Dilthey vgl. Makkreel: Dilthey, S. 297. 39 Zum bedeutsamen Unterschied von ‚Einfühlung‘ und ‚Nacherleben‘ bei Dilthey vgl. Makkreel: Dilthey, S. 297. 40 Dilthey: Das Problem der Religion, S. 304.

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‚professionelles‘ Verstehen des Religionsethnologen, so Jensen, kann nicht auf das Nacherleben verzichten, etwa, wie im Falle der Mythen, „wenn wir in uns selber jene festliche Situation der Naturvölker anklingen lassen können, die ihnen die mythischen Antworten als vernünftige Aussagen erscheinen lässt.“ (MuK, 74)

III. „Die Kulte sind Spiele“ Nachdem Jensen die zentralen anthropologischen Bedingungen für die Entstehung und weitere Entfaltung religiöser (und zugleich auch künstlerischer) Anschauungs- und Darstellungsformen freigelegt und den Kult als festlich-herausgehobenes Erlebnis der „Teilhaftigkeit am Göttlichen“ (MuK, 74) bestimmt hat, geht er im dritten Teil des zweiten Kapitels von Mythos und Kult bei Naturvölkern auf ein entscheidendes Merkmal der Kulte ein, das ihn zur Auseinandersetzung mit Johan Huizinga führt: „Die Kulte sind Spiele.“ (MuK, 80) Den Darlegungen im Homo Ludens attestiert Jensen, dass sie zwar „in unübertrefflicher Weise Wesentliches“ (MuK, 80) über den Spielcharakter der Kulte aussagen, doch, so sein Einwand, in ihrer Konzentration auf die formalen Elemente von Spiel und Kult einen wichtigen Aspekt unterschlagen. Gleichwohl kann Jensen einen Großteil der von Hui­ zinga angebotenen formalen Kriterien akzeptieren, da sie in seinen Augen für Spiele und Kulte in gleicher Weise gelten. So sei die im ersten Kapitel des Homo Ludens notierte Beobachtung der Zweckfreiheit des Spiels („[Es] steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß.“) (HL, 17) als „das eigentliche Kernstück der Gedanken von Huizinga“ (MuK, 81) anzusehen; an diesem Kriterium lasse sich besonders deutlich die Verbindung zu den (von Jensen ja ebenfalls als ‚zweckfrei‘ charakterisierten) Mythen und Kulten aufzeigen. Auch die räumliche Begrenzung eines „geweihte[n] Boden[s]“ (HL, 18) sei ein Kennzeichen, das Spiele und Kulte miteinander teilten. An einem entscheidenden Punkt seiner Analysen, so Jensen, bleibe Hui­ zinga seinen Lesern jedoch eine wichtige Aufklärung schuldig. Ausgangspunkt der Kritik Jensens ist Huizingas Feststellung (der er noch beipflichtet), dass alle Kulthandlungen Spiele seien: „Wie steht es aber nun mit der Umkehrung dieses Satzes? Sind auch alle Spiele Kulthandlungen? Zweifellos nicht. […] Wenn aber die Umkehrung nicht gilt, welches ist dann der Unterschied zwischen Spielen schlechthin und heiligen Spielen?“ (MuK, 84) Und genau auf diese „für die Kulturwissenschaft eigentlich entscheidende Frage“ (MuK, 85), so Jensens Vorwurf, gebe der folgende Hinweis Huizingas keine befriedigende Antwort: „Geht man vom Kinderspiel zu geweihten Schaustellungen im Kult archaischer Kulturen über, dann findet man, daß im Vergleich zum Kinderspiel ein geistiges Element mehr ‚im

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Spiel‘ ist, das sich nur sehr schwer genau beschreiben läßt.“ (HL, 23). Huizinga sei vorzuwerfen, so Jensen, dass er auch in den weiteren Kapiteln von Homo Ludens diesem ‚geistigen Element mehr‘ keine vertiefenden Analysen gewidmet habe, obwohl auch für ihn erkennbar gewesen sei, dass genau dieses ‚Element mehr‘ als das „eigentliche Merkmal der kultischen Handlung“ betrachtet werden müsse, da es „etwas über das Wesen dieser Handlung“ aussage und daher „von größter Bedeutung für die Kulturwissenschaft“ (MuK, 85) sei. Noch bedenklicher als die Vernachlässigung dieses ‚geistigen Elements‘ sei jedoch Huizingas irrige Ansicht zu der Frage, ob dem Spiel oder dem Kult das Primat zukomme. Huizinga hatte sich dazu wie folgt geäußert: Erst in einer späteren Phase der Gesellschaft verbindet sich mit dem Spiel die Vorstellung, daß in ihm etwas ausgedrückt wird: eine Vorstellung vom Leben. Was einmal wortloses Spiel war, nimmt nun dichterische Form an. In der Form und in der Funktion des Spiels, das eine selbständige Qualität ist, findet das Gefühl des Eingebettetseins des Menschen im Kosmos seinen ersten, höchsten und heiligsten Ausdruck. Nach und nach dringt die Bedeutung einer heiligen Handlung in das Spiel ein. Der Kult pfropft sich auf das Spiel auf, das Spielen an sich aber war das Primäre. (HL, 27)

Für Jensen ist dies „die entscheidende Aussage, gegen die sich ernste Einwände erheben, und die uns daher im folgenden länger beschäftigen wird.“ (MuK, 86) Die zwischen Huizinga und Jensen bestehende Differenz in der Auffassung von Kult und Spiel beruht in einem nicht unbedeutenden Maße (wie Jensen selbst bemerkt) auf ihrem unterschiedlichen Bild vom Menschen. Bei Huizinga finde sich, so Jensen, „wieder jenes Zerrbild von der Geistesart der frühen Menschen“ (MuK, 97), das Jensen bereits an früherer Stelle seiner Studie (vgl. MuK, 34 ff.) als irreführend gebrandmarkt hatte. Huizinga hatte starke Vorbehalte gegen die von Frobenius vertretene These von der grundlegenden Bedeutung der ‚Ergriffenheit‘ für die „poetische Konzeption“ (HL, 26) heiliger Kultspiele geäussert und war stattdessen davon ausgegangen, dass sich die von den Ethnologen untersuchten Kultaufführungen prinzipiell nicht von Kinderspielen unterscheiden: Dieses Spiel ist seinem Wesen nach nichts anderes als eine höhere Form des im Grunde ganz gleichwertigen Kinderspiels oder gar des Tierspiels. Bei diesen beiden Formen des Spiels kann man nun den Ursprung schwerlich in einer kosmischen Ergriffenheit, einem Gewahrwerden der Weltordnung, suchen, die nach Ausdruck ringt. Eine solche Erklärung würde jeweils kaum viel vernünftigen Sinn haben. Das Kinderspiel besitzt die Spielform aus seiner Wesenart heraus und in ihrer reinsten Gestalt. […] Die archaische Gemeinschaft spielt so, wie das Kind spielt und wie die Tiere spielen. (HL, 26)

Aus der Verbindung der beiden soeben zitierten längeren Passagen des Homo Ludens geht hervor, dass Huizinga nicht allein den Ursprung der Kultspiele sogenannter ‚archaischer‘ Gesellschaften mit dem Ursprung von Kinderspielen auf die gleiche Stufe stellt, sondern zugleich davon ausgeht, dass der

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geistige Entwicklungsstand von Angehörigen ‚archaischer‘ Gesellschaften mit dem von Kindern vergleichbar ist. Einen gleichsam ‚künstlerisch-metaphysischen Ausdruck‘ sucht man daher, so lautet Huizingas implizites Fazit, in den Kultspielen dieser Menschen vergeblich, denn „[e]rst in einer späteren Phase der Gesellschaft verbindet sich mit dem Spiel die Vorstellung, daß in ihm etwas ausgedrückt wird: eine Vorstellung vom Leben. […] Nach und nach dringt die Bedeutung einer heiligen Handlung in das Spiel ein.“ (HL, 27) Jensen lehnt ein solches Entwicklungsmodell ab und besteht darauf, dass man gerade in dem schöpferischen Moment der ‚Ergriffenheit‘ das von Huizinga übersehene ‚geistige Element mehr‘ identifizieren könne, das die heiligen Handlungen von Kinderspielen unterscheide: Seinen heiligen Charakter erhält das Kultspiel aber gerade dadurch, daß es Erinnerung an einen elementaren Vorgang in der Urzeit und eine Wiedererweckung jener Ergriffenheit ist. In jener schöpferischen Urzeit aber (ebenso wie in jeder anderen schöpferischen Periode der Geschichte) muß sich dem Menschen die wirkliche Welt selbst oder jener Teil von ihr offenbart haben, dessen Wesen er in heiligen Handlungen darstellte, und nicht eine von Menschen bereits gestaltete Ordnung. Solange das daraus gewonnene Weltbild Gültigkeit hat, wird auch in der späteren Wiederholung noch ein Rest jenes Schöpferischen mitklingen, und gerade dieser Rest ist das Hauptmerkmal des heiligen Spiels, das ‚geistige Element mehr‘, das es von den ‚Nur-Spielen‘ unterscheidet. (MuK, 95)

An dieser Stelle also wird nochmals deutlich, welche Bedeutung Jensen dem ‚Nacherleben‘ des „elementaren Vorgang[s] in der Urzeit“ für die Verständigung einer (hier religiösen) Gemeinschaft zuspricht. Dabei ist für ihn die Prämisse entscheidend, dass die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch die „gleichen Erlebnisfähigkeiten“ (MuK, 66) der Menschen geschlossen werden kann, so dass ihm eine „Wiedererweckung jener Ergriffenheit“ prinzipiell möglich erscheint. Neben der unterschiedlichen Auffassung vom Menschen trennt Jensen und Huizinga auch ihre ungleiche Auffassung von Kultur, gemeinsam sind sie für ihre verschiedenartigen Einschätzungen von ‚Kult‘ und ‚Spiel‘ konstitutiv. Für Huizinga steht fest, dass „menschliche Kultur im Spiel – als Spiel – aufkommt und sich entfaltet.“ (HL, 7) Dabei beschreiten der einzelne Mensch, ganze Gesellschaften sowie ihre kulturellen Errungenschaften den Weg stetiger Verbesserung und Verfeinerung,41 wodurch sich aber auch die zu Beginn enge Verbindung von Spiel und Kultur auflöst und kulturelle Phänomene sukzessive ihren Spielcharakter verlieren, während Spiele sich in einen für sie reservierten Bereich zurückziehen. In seiner kulturkritischen 41 Zur Frage, inwieweit Huizingas Geschichtsmodell im Homo Ludens dem von Edward Burnett Tylor in Primitive Culture (1871) formulierten Gedanken kultureller Entwicklung (innerhalb dessen Spiele als ‚survivals‘ ehemaliger Rituale und Glaubensvorstellungen verstanden werden) verpflichtet ist, vgl. Gombrich: Huizinga’s Homo ludens, S. 140.

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Abhandlung Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit42 vertritt Huizinga die Auffassung, dass das Problem der westlichen modernen Kultur gerade darin bestehe, dass diese Fortschrittsbewegung einer ‚sauberen Trennung‘ durch eine zunehmende Oberflächlichkeit der Lebensführung gefährdet sei: sie äußere sich in der Omnipräsenz des Spielerischen und seiner mangelnden ‚Zähmung‘ durch das Ernste, Nicht-Spielerische. Diese Verweigerung des Mündig-Werdens ist ein Phänomen, das Huizinga „Puerilismus“ nennt: Das wesentlichste Kennzeichen, das für jedes echte Spiel, für Kult, Aufführung, Wettkampf, Fest, gilt, besteht darin, dass es zu einem gegebenen Augenblick aus ist. Die Zuschauer gehen nach Hause, die Spieler legen ihre Masken ab, die Vorstellung ist aus. Und hier zeigt sich das Übel unserer Zeit. Ihr Spiel ist in vielen Fällen nie aus, ist darum kein echtes Spiel. Es hat eine weitgehende Contamination von Spiel und Ernst Platz gegriffen. Die beiden Sphären geraten in Verwirrung. In den Verhaltungen, die als ernst gelten wollen, steckt verhohlen und verborgen ein Spielelement. Das anerkannte Spiel hingegen kann durch seine übermässige technische Organisation und allgemeines Ernstnehmen seinen unverfälschten Spielcharakter nicht mehr aufrechterhalten. Es verliert die unentbehrlichen Qualitäten der Entrücktheit, Unbefangenheit und Freudigkeit. […] [E]s ist das zweifelhafte Vorrecht der heutigen westlichen Kultur, diese Vermengung der Lebenssphären bis zum höchsten Grad kultiviert zu haben. Bei zahllosen Menschen, gebildeten sowohl als ungebildeten, bleibt dem Leben gegenüber die Spielhaltung des Knaben permanent. Schon früher sprachen wir beiläufig von einem allgemein verbreiteten Geisteszustand, den man eine permanente Pubertät nennen könnte. Er kennzeichnet sich durch einen Mangel an Gefühl für das Schickliche und Menschliche, einen Mangel an persönlicher Würde, an Ehrerbietung gegen andere Menschen oder Meinungen, durch eine übermässige Konzentration auf die eigene Persönlichkeit.43

Diesem von Huizinga mit moralistischem Zungenschlag vorgetragenen Fortschrittsmodell von Kultur fügt sich nun seine soeben bereits skizzierte Auffassung ein, dass die Qualität und Dichte von künstlerischen Erzeugungen und von auf das Wesen der Natur bezogenen Erkenntnissen am Anfang der Entwicklung der Menschheit – und somit auch bei den gegenwärtigen ‚Naturvölkern‘ – notwendig geringer gewesen sein muss als in darauffolgenden Epochen. Somit besteht für ihn auch kein Anlass, die von Ethnologen untersuchten frühen Kulte oder Mythen als ernstzunehmende ‚Speicher von Erkenntnissen‘ zu betrachten. Alle Kulthandlungen sind Spiele: Doch eine „Ergriffenheit“, gar eine Erkenntnis kosmischer Ordnung vermag Huizinga in ihnen nicht zu sehen.

42 Dieses 1935 in Leiden veröffentlichte Buch basiert auf einem im gleichen Jahr in Brüssel gehaltenen Vortrag und wurde – in überarbeiteter Form – 1936 auch auf deutsch publiziert. Obwohl seine Veröffentlichung also der des Homo Ludens vorausgeht, kennzeichnet es aufgrund der zahlreichen Bezüge die ‚Inkubationszeit‘ des Letzteren. 43 Huizinga: Im Schatten von Morgen, S. 146 f.

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Jensen vertritt eine andere Position: Seine Forschungen führen ihn zu der Einsicht, dass die menschliche Befähigung zur ‚Ergriffenheit‘ schöpferische Akte (die zugleich Erkenntnisakte sind) nicht nur in der Religion, sondern auch in Kunst oder Wissenschaft zu jeder Zeit und in jeder Kultur möglich macht. Da deren „Ergebnisse ebenfalls vernünftige und auch logisch sinnvolle Gestaltungen sind“ (MuK, 274), sind sie dem Verstehen zugänglich. Damit erkennt Jensen an, dass die Kultspiele der ‚Naturvölker‘ also keinesfalls unvernünftige, gleichsam ‚puerile‘ Kulturerscheinungen sind, sondern als bedeutsame Untersuchungsobjekte betrachtet werden müssen. Diese aufmerksame Haltung gegenüber Kultspielen wäre ein wichtiger Grund, Jensens Arbeiten im Rahmen der anthropologischen Debatten zum Verhältnis von Spiel und Ritual erneut zur Hand zu nehmen. Doch gerade das von ihm für das ‚Verstehen‘ der ethnographischen Daten hartnäckig eingeforderte Verfahren des ‚Nacherlebens‘ der die Kulte und Mythen begleitenden religiössittlichen Haltung („[…] wenn wir in uns selber jene festliche Situation der Naturvölker anklingen lassen können, die ihnen die mythischen Antworten als vernünftige Aussagen erscheinen lässt“ [MuK, 74]) stellt die Achillesferse seiner Schriften dar und dürfte der Grund dafür sein, dass Jensen heute weder in nationaler noch in internationaler Hinsicht in den einschlägigen Diskursen eine Rolle spielt. So fällte der in Wien lehrende Anthropologe Andre Gingrich mit Blick auf Jensens Schriften Das religiöse Weltbild einer frühen Kultur (1948) und Mythos und Kult bei Naturvölkern jüngst das Urteil: These works remained relevant as far as they went – the ethnography was rich, but the interpretation was restricted by these very specific theoretical interests. One may conclude that Jensen’s impact was a valid one ethnographically, but to my mind, it remained a mysticist and particularist theoretical influence.44 44 Gingrich: The German-Speaking Countries, S. 140. Ähnliche Kritik äußerten bereits 1965 zahlreiche Autoren des CA Book Review of ‚Myth and Cult Among Primitive Peoples‘. So prognostiziert beispielsweise Åke Hultkrantz: „Despite its merits, it is probably too speculative, too intuitively worked-out, to be accepted by most American anthropologists.“ (CA Book Review, S. 201) Lord Raglan wirft Jensen methodologische Uneinheitlichkeit vor: „This book seems to have been written by an ethnologist and a mystic, who took charge alternately.“ (CA Book Review, S. 209) Kiichi Numazawa sieht Jensen in einer methodologischen Sackgasse: „Jensen considers the ‚subjective capacity to experience‘, to relive the original situations, as enough to determine what led to the manifestation. Thus he feels one cannot really explain a Shakespearean drama, but merely intuitively relive it (p. 8). But this leads from the very beginning to subjectivism and a certain relativism. Can we be sure these phenomenological forms and world-outlooks correspond to the original meaning?“ (CA Book Review, S. 208) In seiner Untersuchung zum Spiel-Begriff in der Ethnologie äußert auch Harms Bedenken: Da die von Jensen bei Kultspielen unterstellten ‚Erlebnisse‘ dem Kriterium der Überprüfbarkeit nicht standhielten, seien seine Beiträge wenig hilfreich: „Da wir festgestellt haben, daß die interpersonale Überprüfbarkeit von Aussagen, die mit den Stimmungen und subjektiven Einstellungen der an den jeweiligen Handlungen Beteiligten begründet werden, uns nur sehr bedingt möglich scheint, halten wir ein weiteres Eingehen auf die Arbeiten von Ad. E. Jensen (1942) und P.W. Schmidt (1950) nicht für sinnvoll.“ (Harms: Der Terminus ‚Spiel‘ in der Ethnologie, S. 97)

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Huizinga hatte in der Vorrede zum Homo Ludens vorwurfsvoll formuliert: „Die Ethnologie und die ihr verwandten Wissenschaften legen zu wenig Gewicht auf den Spielbegriff.“ (HL, 8) Jensen hat diesen Fehdehandschuh aufgehoben – und im Homo Ludens schließlich seinen wichtigsten Gegner gefunden.

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Literarische Spielformen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert

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Die Passion Christi als tragisches Spiel Plädoyer für einen poetologischen Tragikbegriff in der Mediävistik I. Theoretische Reflexion: Das Vorurteil vom untragischen Mittelalter Ein spätmittelalterliches Passionsspiel, in dem das Leiden und Sterben Jesu Christi von Laienschauspielern auf die Bühne gebracht wird, als tragisches Spiel zu bezeichnen, widerspricht nicht nur den Konventionen der Fachliteratur, sondern wirkt geradezu anachronistisch. Tragik im Mittelalter könne es nicht geben, lautet die communis opinio, da das mittelalterlichchristliche Weltbild keinen Raum dafür lasse. Für einen gläubigen Christen bringe der Tod entweder das ewige Leben als verdienten Lohn für ein gottgefälliges Verhalten oder die ewige Verdammnis als Strafe für begangene Sünden. Als tragisch könne ein solches Schicksal nicht gelten, weil es in der Verantwortung Gottes liege, dessen Gerechtigkeit über allen Zweifel erhaben sei. Das vollständige Fehlen der Gattung der Tragödie scheint die These vom untragischen Mittelalter zu bestätigen. Vom 5. bis zum 12. Jahrhundert werden Tragödien weder produziert noch rezipiert, auch die grundlegende antike Tragödientheorie, die Poetik des Aristoteles, ist unbekannt. Zu Recht wird diese Epoche daher selbst in einschlägigen Publikationen, die Spuren einer Auseinandersetzung mit dieser Gattung im Mittelalter nachzuweisen suchen, als „Dark Ages“ bezeichnet, die „wie ein unüberbrückbarer Abgrund“ die antiken Tragödien von ihren ersten humanistischen Imitationen trennt. Nur Relikte von tragödiengeschichtlichen und -theoretischen Kenntnissen sind in Glossen, Kommentaren und Etymologien nachweisbar. So    

Vgl. z.B. Gelfert: Die Tragödie, S. 44-48; Schröder: Über die Scheu vor der Tragik. Erst im 13. Jahrhundert wird sie, vermittelt über eine arabische Zwischenstufe, ins Lateinische übertragen (vgl. Kelly: Aristotle; ders.: Ideas and Forms of Tragedy, S. 111-125; Kemal: The Philosophical Poetics). Kelly: Ideas and Forms of Tragedy, S. 67. Cloetta: Komödie und Tragödie, S. 1.

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informiert etwa Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae über den Begriff der Tragödie, deren Bedeutung er seinem übergeordneten Erkenntnisinteresse entsprechend zunächst durch ihre Herkunft erklärt. Die Bezeichnung sei durch den für eine Aufführung ausgesetzten Preis, einen im Griechischen ‚Tragos‘ genannten Bock, entstanden: „Tragoedi dicti quod initio canentibus praemium erat hircus, quem Graeci Τράγος vocant.“ Anschließend grenzt Isidor die Dichtung der Tragiker und Komiker inhaltlich voneinander ab und beschreibt Tragödien als Erzählungen von Staatsaktionen und Geschichten von Königen, die traurige Ereignisse beinhalteten: „Sed comici privatorum hominum praedicant acta; tragici vero res publicas et regum historias. Item tragicorum argumenta ex rebus luctuosis sunt […].“ Auch andere Autoren reduzieren das Charakteristische der Tragödie auf den hohen Stand der auftretenden Figuren, den erhabenen Stil und das traurige Ende. Als Ursache für dieses Unglück werden die Wankelmütigkeit Fortunas oder aber die schlechten Taten verbrecherischer Könige angeführt. „Quid tragoediarum clamor aliud deflet nisi indiscreto ictu fortunam felicia regna vertentem?” (Was beweint der Jammer der Tragödien anderes als die Tatsache, dass Fortuna mit unterschiedslosen Schlägen glückliche Königreiche zerstört?), fragt Boethius in seiner philosophischen Trostschrift De consolatione philosophiae. Vinzenz von Beauvais definiert die Tragödie statt dessen als „carmen luctuosum, quo antiqua facinora, et gesta sceleratorum regum, spectanti populo tragaedi concinnebant“ (ein trauriges Gedicht, in dem Tragiker einem zuschauenden Volke von den (Misse)taten der Vergangenheit und den Handlungen verbrecherischer Könige sangen). Ein übergeordnetes mittelalterliches Tragödienverständnis ist aus den singulären Aussagen, die teils aufgrund einer gemeinsamen Informationsquelle übereinstimmen, teils Widersprüche aufweisen, nicht zu rekonstruieren. Wie diffus die Vorstellungen hinsichtlich der dramatischen Gattungen sind, dokumentiert das Beispiel De casu Cesena. Der in Dialogform abgefasste

 

  

Isidorus: Etymologiae, 8.7.6. Vgl. z.B. Johannes Balbi: Catholicon: „Et differunt tragedia et comedia. quia comedia privatorum hominum continet facta. Tragedia regum et magnatum. Item comedia humili stilo describitur. tragedia alto. Item comedia a tristibus incipit sed cum letis desinet. tragedia e contrario.“ (Tragödie und Komödie unterscheiden sich darin, dass die Komödie die Taten von Privatpersonen enthält, die Tragödie aber jene von Königen und großen Herren. Dann wird die Komödie im niedrigen, die Tragödie im hohen Stil verfasst. Ferner beginnt die Komödie mit Traurigem und endet mit Heiterem, bei der Tragödie aber ist es umgekehrt.) – (Zitiert in: George: Deutsche Tragödientheorien, S. 28 f.) Boethius: De consolatione philosophiae 2.2.38. – Zitiert in: George: Deutsche Tragödientheorien, S. 19. Vinzenz von Beauvais: Bibliotheca mundi seu speculi maioris 1.64. – Zitiert in: George: Deutsche Tragödientheorien, S. 27 f. Vgl. auch Kelly: Ideas and Forms of Tragedy, S. 218.

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lateinische Prosatext behandelt das Leiden der Bewohner der Stadt Cesena, die 1377 einem Blutbad zum Opfer gefallen sind. Selbst Ende des 14. Jahrhunderts ist der Gattungsbegriff noch so unklar, dass der Text in einer Handschrift Coluccio Salutati zugeschrieben und – dem traurigen Inhalt gemäß – als Tragödie bezeichnet wird, in einer anderen Handschrift hingegen Petrarca zugewiesen und – dem niedrigen Figurenpersonal entsprechend – Komödie genannt wird.10 Ein tieferes Verständnis von Tragik, das über eine rein formale Zuordnung hinausgeht, ist nicht nachweisbar. Während man folglich in theater- oder dramengeschichtlichen Abhandlungen vergeblich Eintragungen zur Tragödie im Mittelalter sucht, erobern andere Stücke die Bühnen: In den (spät-)mittelalterlichen Städten werden Passions-, Legenden- und Mysterienspiele aufgeführt.11 Inwiefern diese ebenso wie die antiken Tragödien ihren Ursprung im Kult haben, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden,12 die Differenzen zwischen beiden Spielarten werden jedoch betont.13 Vor dem skizzierten Hintergrund muss die Klassifikation eines Passionsspiels als ‚tragisch‘ besonders provokant erscheinen. Im Unterschied zu anderen literarischen Gattungen des Mittelalters ist das Geistliche Spiel nicht nur von dem christlichen Weltbild geprägt, sondern das christliche Heilsgeschehen wird hier inszeniert. Die Unmöglichkeit tragischen Erzählens im Mittelalter wird durch die vermeintliche Unvereinbarkeit von Tragik und Christentum potenziert. Der Grund, weshalb ich dennoch den Versuch unternehme, eine Darstellung der Passion Christi als ein tragisches Spiel zu deuten, ist meine Skepsis gegenüber der Ausgangsthese vom untragischen Mittelalter, an deren Richtigkeit mich vor allem folgende Beobachtungen haben zweifeln lassen: Ungeachtet ihres hohen Alters einer 2400jährigen Rezeptionsgeschichte wohnt der Tragödie eine ungebrochene Faszination inne, sie erfreut sich als Forschungsgegenstand, in der Aufführungspraxis und als Deutungsmodell lebensweltlicher Erfahrungen ungebrochener Beliebtheit. Antike wie moderne Tragödien gehören zum Standardprogramm der Schauspielhäuser und werden in Forschung und Lehre analysiert. Philosophiegeschichtliche und literaturwissenschaftliche Untersuchungen widmen sich dem 10 Vgl. Cloetta: Komödie und Tragödie, S. 54-67; Kelly: Ideas and Forms of Tragedy, S. 194196. 11 Vgl. z.B. Borcherdt: Das europäische Theater, S. 5-52; Kindermann: Theatergeschichte Europas, S. 207-392; Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, Bd. 1, S. 61-92. 12 Während für die Osterspiele ein liturgischer Ursprung angenommen wird, ist diese Annahme für die Passionsspiele abgelehnt worden (vgl. Schulze: Formen der Repraesentatio, S. 331; vgl. auch Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, Bd. 1, S. 13-19, 61-66; Müller: Mimesis und Ritual, S. 543; ders.: Realpräsenz und Repräsentation; Petersen: Ritual und Theater, bes. S. 229-231). 13 Vgl. Linke: Das volkssprachige Drama, S. 734; Schulze: Geistliches Spiel, S. 687.

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Tragischen, dessen Begriff im journalistischen und umgangssprachlichen Bereich geradezu inflationär gebraucht wird. Ein Ministerpräsident, der auf seinen Posten nicht verzichten will, wird ebenso zum tragischen Fall erklärt wie ein Fußballspieler der Deutschen Nationalmannschaft, der keine Tore erzielt.14 Aus dieser Popularität und aus der Vielzahl der Verwendungen resultieren Unstimmigkeiten im Verständnis des Begriffs.15 Während in der Alltagssprache jedes plötzliche Unglück als Tragödie bezeichnet werden kann, werden in der Forschungsliteratur vereinzelt so strenge Auflagen gemacht, dass der Begriff für eine kleine Anzahl griechischer Tragödien reserviert bleibt. Selbst die Autoren, die für eine Mittelposition eintreten, differieren in der Frage, ob eine unvermeidliche Katastrophe oder aber das Vermeidbare als besonders tragisch zu gelten habe.16 Schon in den 1960er Jahren ist das Thema Tragik für unüberschaubar gehalten worden,17 da ebenso viele Definitionen wie literarische Werke existierten.18 Diese Vielfalt, die einer Begriffskonfusion gleichkommt, steht in seltsamer Diskrepanz zu der Einmütigkeit, mit der die These vom untragischen Mittelalter vertreten wird. Wenn es nicht gelingt, sich auch nur annähernd auf eine Tragödiendefinition zu einigen, wie kann dies dann für die Negation des Tragischen möglich sein? Zudem erweist sich das untragische Mittelalter in dem Vergleich mit der internationalen Forschungsliteratur als eine deutsche Besonderheit, wohingegen in der anglo-amerikanischen Wissenschaft eine völlig andere Einschätzung herrscht. Obwohl in ganz Europa in dieser Zeit keine Tragödien verfasst worden sind, stellen zahlreiche mediävistische Arbeiten Bezüge zum Tragischen her, sei es durch die Analyse theoretischer oder literarischer Werke. Mehrere Studien widmen sich dem Thema „Medieval Tragedy“19 und untersuchen unter anderem „The Condemnation of Heroism in the Tragedy of Beowulf“20 oder „Structure and Destruction in Arthurian Tragedy“.21 Aus komparatistischer Perspektive ist es wenig plausibel, dass zwischen der englischen, der französischen und der deutschen Literatur des Mittelalters substantielle Unterschiede im Umgang mit tragischen Erzählungen existieren. Es scheint vielmehr, als bestehe „die

14 Vgl. Fahrenholz/Stroh: Stoiber lehnt Zeitplan für Rückzug ab; Selldorf: Vorteil für das Gemeinwesen. 15 Vgl. Palmer: Tragedy and Tragic Theorie; Profitlich: Tragödientheorie. 16 Vgl. auch Kaufmann: Tragödie und Philosophie, S. 339. 17 Vgl. Brereton: Principles of Tragedy, S. vii. 18 Vgl. Krook: Elements of Tragedy, S. 1. 19 Vgl. z.B. Benson: The Alliterative ‚Morte Arthure‘; Dickman: Late Medieval Tragedy. 20 Vgl. Fajardo-Acosta: The Condemnation of Heroism. 21 Vgl. Guerin: The Fall of Kings and Princes.

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Scheu vor der Tragik“22 weniger in der mittelalterlichen Dichtung als in der germanistischen Mediävistik. Ursache für das unterschiedliche Vorgehen der anglo-amerikanischen Forschung ist ein anders geartetes Tragikkonzept, das nicht metaphysisch definiert wird, sondern der antiken Poetik der Tragödie verpflichtet ist. Diese Differenzen erklären sich durch die Entwicklung der deutschen Theoriegeschichte, die Peter Szondi in seinem Essay Versuch über das Tragische auf die pointierte Formel gebracht hat: „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“23 Dieser Diskurs über das Wesen des Tragischen, der sich seit 1800 mehr und mehr verselbstständigt und in Hegel seinen berühmtesten Vertreter gefunden hat, ist aber vor allem ein deutsches Phänomen geblieben.24 Der Einfluss der Philosophie des Tragischen reicht bis in die Gegenwart und ist meines Erachtens auch dafür verantwortlich, dass sich die germanistische Mediävistik bisher nicht mit Tragik auseinandergesetzt hat. Wird der Blick hingegen von dem Wesen des Tragischen wieder auf die Poetik der Texte gerichtet, können tragische Handlungsstrukturen in der deutschen Literatur des Mittelalters sichtbar werden. Voraussetzung ist ein textgebundener Tragikbegriff, der über eine umgangssprachliche Applikation hinausgeht, aber weder auf ontologischen Prämissen beruhen noch die aristotelische Poetik zur alleingültigen Regel erklären darf. Die Tragfähigkeit dieses Ansatzes, der auf einer strukturellen statt einer philosophischsubstantiellen Tragikdefinition beruht, soll am Beispiel des Frankfurter Passionsspiels überprüft werden.

II. Literarische Analyse: Tragische Spielzüge des Frankfurter Passionsspiels Das Frankfurter Passionsspiel wurde 1493 von dem Gerichtsschreiber Johannes Kremer aufgezeichnet und gibt vermutlich die Textfassung wieder, in der es Pfingsten des vorangegangenen Jahres über zwei Tage verteilt auf dem Römerberg und in den angrenzenden Straßen der Stadt aufgeführt worden ist.25 Das Spiel wird durch die Auftritte der Propheten, die Leben und Leiden Christi ankündigen, eröffnet und durch die vermittelnde Instanz des Kirchenvaters Augustinus kommentiert. Die eigentliche Handlung beginnt mit der Berufung der Jünger, sie zeigt, zeitlich stark gerafft und auf die 22 23 24 25

Vgl. Schröder: Über die Scheu vor der Tragik. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 7. Vgl. Fischer-Lichte: Tragödie, S. 440 f. Vgl. Freise: Geistliche Spiele, S. 147, 150; Janota: Einleitung, S. 55; Linke: ‚Frankfurter Passionsspiel’; Wolf: Kommentar, S. 298-300.

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Wundertaten fokussiert, das Wirken Jesu in Galiläa bis hin zu seinem, in der Darstellung der tatsächlichen Dauer sich annähernden, Leidensweg in Jerusalem und endet fragmentarisch, mit seiner Grablegung. Als Leitmotiv fungiert die Auseinandersetzung mit den Juden, die sich über das gesamte Spiel erstreckt.26 Ihr Unglaube wird mit den Prophezeiungen der Propheten, der in mehrere Szenen aufgeteilten Bekehrung der Maria Magdalena und vor allem den sich stets steigernden Wundertaten Jesu, die seine Göttlichkeit offenbaren, Heilungen, Auferweckung und (der nicht überlieferten) Auferstehung, kontrastiert.27 Aus den zuvor dargelegten Gründen unterscheidet sich der hier gewählte tragödientheoretische Zugang zu einem Spieltext von den bisherigen Untersuchungen, die den Fokus auf performative, rituelle, frömmigkeits-, mentalitäts-, sozial- und stadtgeschichtliche Aspekte richten.28 Im vorgegebenen Rahmen ist es nicht möglich, ein übergreifendes Tragikkonzept zu entwickeln, das als Instrumentarium für die literaturwissenschaftliche Analyse dient.29 Stattdessen werden grundlegende Elemente antiker und moderner Tragödientheorien übertragen, um diese für die Interpretation des Textes fruchtbar zu machen. Indem der Akzent einerseits auf die Rezeptionsästhetik, andererseits auf die Handlungskonstellation und auf die Figurenkonzeption gelegt wird, sollen drei mögliche Deutungsperspektiven eines tragischen Spiels aufgezeigt werden. 1. Compassio und Schrecken der Zuschauer Die rezeptionsästhetische Argumentation ist ein entscheidendes Kennzeichen vormoderner Tragödientheorien. Schon Aristoteles erklärt es zur Aufgabe der Tragödie, eine bestimmte Wirkung zu erzielen, nämlich φόβος und 26 Dies erklärt, warum antijudaistische Tendenzen im Frankfurter Passionsspiel besonders ausgeprägt sind. Durch die ständige Gegenüberstellung von Glauben und Unglauben wird das in anderen Spielen ebenfalls vorherrschende negative Judenbild stärker akzentuiert (vgl. auch Bremer: Das Bild der Juden, bes. S. 132-138; Frey: Passionsspiel und geistliche Malerei; ders.: Der vergiftete Gottesdienst; Rommel: Judenfeindliche Vorstellungen; Wenzel: Rolle und Funktion der Juden, bes. S. 98-116). 27 Vgl. auch Dauven-van Knippenberg: Maria Magdalena. 28 Vgl. Eming: Gewalt im Geistlichen Spiel; Freise: Geistliche Spiele; dies.: Die Frankfurter Passionsspiele; Kasten: Ritual und Emotionalität; Kasten/Fischer-Lichte: Transformationen des Religiösen; Müller: Das Gedächtnis des gemarterten Körpers; ders.: Mimesis und Ritual; ders.: Realpräsenz und Repräsentation; Schulze: Emotionalität im Geistlichen Spiel; dies.: Formen der Repraesentatio; dies.: Schmerz und Heiligkeit; Warning: Funktion und Struktur; ders.: Hermeneutische Fallen; Wolf: Kommentar. 29 Der vorliegende Beitrag steht im Kontext meines Habilitationsprojektes, in dem ich eine Narratologie des Tragischen entwerfe und auf dieser Grundlage die höfische Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts untersuche.

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ἔλεος, und ordnet dem seine inhaltlichen Vorgaben unter.30 Bis zu Friedrich Schiller bleibt die Orientierung der Tragödiendefinition an der Rezeptionsästhetik vorherrschend, wenngleich die konkrete Bestimmung der gewünschten Reaktion unterschiedlich ausfallen kann und in der Vormoderne zwischen Belehrung und Bekehrung, über Abschreckung und Bewunderung bis hin zu Furcht und Mitleid variiert.31 Diese Rezeptionshaltungen bieten einen Anknüpfungspunkt für die Interpretation der Passion Christi als tragisches Spiel. Wenn Dorothea Freise in ihrer 2002 erschienenen Dissertation aus historischer Sicht argumentiert, die Intention des Frankfurter Passionsspiels sei, Gott zu ehren und die Gläubigen zu belehren, so unterscheidet es sich ungeachtet der Kritik der Refor­ matoren zumindest in seiner selbstgesetzten Wirkungsabsicht wenig von den humanistisch-reformatorischen Tragediae, die ebenfalls auf biblischen Stoffen basieren.32 Bemerkenswerterweise findet diese Verbindung auch eine zeitgenössische Bestätigung. Als Johannes Latomus Ende des 16. Jahrhunderts eine Chronik über die Stadt Frankfurt verfasst, verzeichnet er die Aufführung eines Passionsspiels, das er mit eben diesem, durch den Humanismus populär gewordenen, Begriff bezeichnet: „Anno 1467 tragoedia passionis Christi exhibetur.“ (Im Jahr 1467 wurde die Tragödie des Leidens Christi aufgeführt.)33 Noch augenfälliger werden Gemeinsamkeiten, berücksichtigt man die frömmigkeitsgeschichtlichen und kulturanthropologischen Untersuchungen zu Emotionalität und Gewalt im Geistlichen Spiel.34 Verschiedentlich wird darauf hingewiesen, dass das Passionsspiel die veränderte religiöse Haltung des Mit-Leidens spiegele und eine ‚compassio‘ mit Christus und Maria ermöglichen solle.35 Auch im Frankfurter Passionsspiel wird diese Haltung mehrfach eingefordert, wenn sich Maria im Angesicht des Gekreuzigten direkt an ihr Publikum wendet (V. 4020-4030):36 30 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 6, S. 18 f.; Kap. 13, S. 38 f. 31 Vgl. Fischer-Lichte: Tragödie, S. 439 f.; George: Deutsche Tragödientheorien, S. 11 f.; Profitlich: Tragödientheorie, S. 25 f., 45-47. 32 Zur humanistischen und reformatorischen Kritik vgl. Freise: Geistliche Spiele, S. 64-69. Zum didaktischen Verwendungszweck vgl. ebd., S. 514; dies.: Die Frankfurter Passionsspiele; Linke: Das volkssprachige Drama, S. 737. Zu den Tragödien des 16. Jahrhunderts vgl. George: Deutsche Tragödientheorien, S. 42-46. Vgl. auch Schulze: Formen der Repraesentatio, S. 345-353. 33 Neumann: Geistliches Schauspiel, Nr. 1496, S. 311. Vgl. auch Freise: Geistliche Spiele, S. 124. 34 Vgl. Eming: Gewalt im Geistlichen Spiel; Kasten: Ritual und Emotionalität; Schulze: Emotionalität im Geistlichen Spiel; dies.: Schmerz und Heiligkeit. 35 Vgl. Schulze: Formen der Repraesentatio, S. 340-345; dies.: Schmerz und Heiligkeit, S. 219, 230 f. 36 Neben Maria appellieren Johannes und Maria Magdalena an die Zuschauer: „ich bit uch alle, frauwen vnd man, / lasset uch zu hertzen gan. / helfet Mariam hude zu tage / Ihesum, ir liebes kinde, beclagen“ (Ich bitte euch alle, Frauen und Männer, / nehmt es euch zu Herzen!

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ach, du werde Cristenheit, bedencke hude myn hertzeleit. ich mag wol betrubet syn vmb den sussen anblick myn. ist das nit ein iamer gros, myn kint hanget nack vnd blos. das leit musz ich sehen an. das lat uch zu hertzen gan vnd helffet mir clagen myn leyt, das myn betrubet hertze dreit.

Ach, du geschätzte Christenheit, denke heute an mein Herzensleid. Ich kann mit Recht wegen meines süßen Anblicks betrübt sein. Verursacht das etwa keinen großen Schmerz, dass mein Kind nackt und bloß dort hängt? Dieses Leid muss ich ansehen. Das lasst euch zu Herzen gehen und helft mir, mein Leid zu beklagen, das mein betrübtes Herz trägt.

Die aristotelische Forderung nach ἔλεος taucht in der Marienklage in ähnlicher Form wieder auf, wenn sich die Rezipienten den Schmerz der Mutter zu Herzen nehmen, ihn nachempfinden und gemeinsam mit ihr das Schicksal ihres Sohnes beweinen sollen. Während das Mitleiden aus einer Identifikation mit den Protagonisten, hier Jesus und Maria, erwächst, resultiert die zweite Wirkintention aus der Erkenntnis, selbst betroffen sein zu können, und ist auf den Rezipienten bezogen.37 Folgt man dem Forschungsansatz, der das Passionsspiel auf ein archaisches Sündenbockritual zurückführt, so böte auch die Verstrickung der Rezipienten in das Geschehen Gelegenheit, eine derartige Wirkung zu evozieren. Nach Rainer Warning ist die Erlösung am Kreuz Deckmantel und Ventil für die Aggression gegen das Lamm Gottes, dessen Opferung die christliche Gemeinde ganz konkret in Gestalt der jüdischen Folterknechte vollzieht.38 Ein Zuschauer, der diesen Zusammenhang durchschaute, könnte über sich selbst erschrecken. Voraussetzung wäre, er müsste seine Komplizenschaft mit den Peinigern Jesu erkennen und seine eigene Freude an der Quälerei enttarnen. Auch ohne diese Verbindung, die ein hohes Maß an Selbstreflexivität erforderte, herzustellen, wird die Beteiligung jedes einzelnen Gemeindemitglieds am Kreuzestod Jesu in der christlichen Theologie offengelegt: Er muss sterben, um die Menschen nach dem Sündenfall Adams wieder mit Gott zu versöhnen, wie der Christus des Frankfurter Passionsspiels selbst in Erinnerung ruft (V. 3633-3640):

/ Helft Maria heute, an diesem Tag, / Jesus, ihren lieben Sohn zu beklagen. V. 4092-4095). (Vgl. auch V. 3994-4001, V. 4006-4015, V. 4297-4304) Die Versangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf den Druck in Janota: Die Hessische Passionsspielgruppe. 37 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 13, S. 38 f. 38 Vgl. Warning: Hermeneutische Fallen, S. 36 f.; ders.: Funktion und Struktur, S. 162-243. – Müller (Mimesis und Ritual, S. 542 f., 570) hat Warnings Thesen zu neuer Aufmerksamkeit verholfen, indem er sie vom französischen auf das deutsche Passionsspiel überträgt und die ästhetische Dimension der Spiele herausstellt.

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da das gebot gebrachen wart, des han ich myn selber nit gespart vnd han gebeden den vatter myn, das er sin zorn nu liese sin vnd gebe das holtz der barmhertzikeit, das hude zu tag mir wirt uf geleit, vnd liden sal dar an den dot vor des armen sunders not.

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Weil das Gebot gebrochen wurde, deswegen habe ich mich selbst nicht geschont und habe meinen Vater gebeten, dass er seinen Zorn nun aufgebe und das Holz der Barmherzigkeit schenke, das mir heute, an diesem Tag, auferlegt wird und an dem ich den Tod für die Qual des armen Sünders erleiden muss.

Schrecken und Schuldbewusstsein sind eine wahrscheinliche Reaktion der Rezipienten angesichts der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit, die den grausamen Tod Jesu notwendig gemacht haben. Selbst wenn sich der Schrecken nicht wie bei Aristoteles aufgrund der Ähnlichkeit des Zuschauers mit dem Protagonisten, sondern – in Analogie zu der Verantwortlichkeit für seinen Tod – mit dessen Gegnern einstellt, wird eine mit der antiken Tragödie vergleichbare Wirkung erzielt.39 Indem das Frankfurter Passionsspiel Mitleid und Schrecken hervorruft, wird ein zentrales Kriterium vormoderner Tragödiendefinition erfüllt. 2. Die Hamartia des Judas Um die der Tragödie gemäße Wirkung zu erreichen, bedarf es nach Aristoteles eines Helden, der weder trotz seiner Vorbildlichkeit noch aufgrund seiner Schlechtigkeit vom Glück ins Unglück gerät, sondern wegen eines großen Fehlers.40 Judas, der als Prototyp des Verräters gilt, als einen mittleren Helden zu betrachten, scheint zunächst wenig überzeugend. Dennoch gibt es im Text klare Signale, die es erlauben, bei dem Handeln des Judas von einem klassischen Fall eines tragischen Fehlers zu sprechen:41 Sein Verrat, der über mehrere Szenen verteilt ist,42 erfolgt auf das Geheiß des Teufels, wie der Regieanweisung zufolge unmissverständlich vor Augen geführt wird: „Diabulus vadit ad Iudam sibulando sibi in aurem, ut tradat Cristum.“ (Der Teufel geht zu Judas und flüstert ihm in sein Ohr, dass er Jesus verraten soll, vor V. 1876) Durch die noch ein weiteres Mal in Szene gesetzte Verführung des Teufels wird der Verrat des Judas einerseits als besonders boshaft, als teuflisch, gebrandmarkt,43 andererseits entlastet. 39 Auf die Gleichartigkeit der Wirkung von Tragödie und Passionsspiel weist auch Müller (Realpräsenz und Repräsentation, S. 132) hin, der die vermittelte Repräsentation im Spiel hinsichtlich der körperlichen Erfahrung von der Realpräsenz im liturgischen Akt unterscheidet. 40 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 13, S. 38-41. 41 Ansätze, die Judasfigur gegen die traditionell-christliche Sicht zu deuten, finden sich auch bei Dieckmann (Judas als Sündenbock) und Eming (Judas als Held). 42 Vgl. V. 1649-1660, V. 1862-1903, V. 2129-2167, V. 2253-2296. 43 Bei der zweiten Verführungsszene übernimmt Judas durch die Analogie seines Verhaltens anschließend selbst die Rolle des Teufels, vgl. vor V. 2112: „Diabolus venit et sibulat Iude in

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Kein anderer Jünger hat einer solchen Anfechtung zu widerstehen. Das Motiv für seine Tat ist, wie Judas den sich verschwörenden Juden erklärt, Verschwendung (V. 1876-1883): Ir Iudden, nu mircket die ridde furbas, war umb ich si Cristum worden gehas. es quam gegangen ein frawe, das mircket vnd horet genawe, die bracht ein kosperlichen salbenn, da mit sie allenthalben Ihesum sin heubt begos, das die salbe uff die erde flos.

Ihr Juden, nun hört der Rede weiter zu, warum mir Christus verhaßt geworden ist: Es kam eine Frau daher, das merkt euch und hört genau zu, die brachte eine kostbare Salbe, mit der sie das Haupt Jesu auf allen Seiten übergoss, so dass die Salbe auf die Erde floss.

Statt das Geld, das die wertvolle Salbe gekostet hat, den Armen zu schenken, toleriert Jesus seine Salbung durch Maria Magdalena und verteidigt sie sogar.44 Judas’ Kritik an diesem Verhalten ist zugleich persönlich motiviert, wird er doch um den zehnten Teil des Geldwerts, den er für sich beanspruchen kann, gebracht. Auf diese Aspekte der Verschwendung und des Gewinnverlusts konzentriert sich Judas vollständig, weshalb es kein Zufall ist, dass er denselben Geldbetrag für seine Auslieferung Jesu verlangt, der ihm durch den Ehrerweis Maria Magdalenas entgangen ist (V. 1884-1890): het man sie verkaufft, als man sulde, sie het dru hundert pennig gulde. der tzehen were gewesen myn, also sullen der phennig XXX sin. wult ir mir die geben zu myede, ob ich uch diesen man verride, der sich gottes sone hat genant?

Hätte man sie verkauft, wie man sollte, hätte sie dreihundert goldene Pfennig eingebracht. Der zehnte Teil davon hätte mir gehört. Deswegen müssen es dreißig Pfennig sein. Wollt ihr mir die als Lohn geben, wenn ich euch diesen Mann verrate, der sich Gottes Sohn genannt hat?

Seine wiederholte Forderung nach dem Geld stellt einerseits einen Zusammenhang zu den schon im Vorspiel als geldgierig charakterisierten Juden her,45 weist aber andererseits zu der Schlüsselsituation zurück, die sein Fehlverhalten einleitete.46 Zeichen für die Verblendung und keine vollständige aurem. Surgit et vadit ad Iudeos, quibus Iudas sibulat in aures tacendo.“ (Der Teufel kommt und flüstert Judas in sein Ohr. Er erhebt sich und geht zu den Juden, denen Judas leise ins Ohr flüstert.) 44 Vgl. V. 1288-1368. 45 Vgl. V. 2132-2138, V. 2275 f. – Die Geldgier der Juden wird publikumswirksam inszeniert. Während die Propheten das Kommen des Erlösers offenbaren, verwahren sich ihre mit zeitgenössischen Attributen ausgestatteten Gegenspieler gegen das unnütze Gerede und jede Gottesverehrung, die keinen finanziellen Gewinn verspricht. z.B. erwidert Ioseph rabi auf die Verheißung Daniels: „lijhe phennig vff phant als ich. / das mag rich machen dich. / so mag dir basze gelingen, / dan ob du soltest singen / allen diesen langen mey / ,baruch otta adoney‘.“ (Verleihe Pfennige gegen Pfand wie ich. / Das kann dich reich machen. / So wird es dir besser gehen, / als wenn du / den lieben langen Tag singen solltest: / ‚Gesegnet sei der, der da kommt im Namen des Herren.‘ V. 155-160) (Vgl. auch V. 197-206, V. 295-312) 46 Vgl. V. 1346-1351: „Secht, was daug die verlust?/ het uch der dinge also gelust, / man hette

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Bösartigkeit des Judas ist seine Erkenntnis, die sich einstellt, nachdem er Jesus ausgeliefert hat, und die auffallender Weise in direkter Nachbarschaft zu der dritten Verleugnung des Petrus steht. Beide haben gegenüber ihrem Meister schwer gefehlt und reagieren mit größtem Bedauern und inständigem Wehklagen,47 wobei der Verrat des Judas in zweifacher Hinsicht tödliche Konsequenzen hat (V. 2650-2657): Vwe, ach vnd we, vwe mir hude vnd vmmer me! ach, das ich ye wart geborn. wie han ich so ubel gefarn an mynem herren Ihesu Crist, der himels und erden geweltig ist, den ich han geben in den vnschuldigen dot. vwe der iemerlichen noit!

Weh, ach und weh, oh weh mir, heute und immerdar! Ach, dass ich je geboren wurde. Wie habe ich so übel an meinem Herrn Jesus Christus gehandelt, der über Himmel und Erde herrscht, den habe ich unschuldig in den Tod ausgeliefert. Weh dieser jämmerlichen Qual!

In seiner schmerzlich empfundenen Reue wiederholt und überbietet Judas seinen vorherigen Fehler und konzentriert sich wiederum einseitig auf einen Aspekt, den seiner Schuld. Er verflucht sich selbst und beschließt in tiefster Verzweiflung, Selbstmord zu begehen: „von groszem leide wil ich nit wencken, / ich wil gen vnd mich selber hencken / vnd gottes nummer me gedencken.“ (Wegen des großen Leids will ich nicht wanken, / ich will fortgehen und mich selber erhängen / und niemals mehr an Gott denken. V. 2668-2670) Erst diese Tat, nicht aber sein Verrat an Jesus ist, wie Augustinus in seinem einzigen Kommentar des zweiten Spieltags deutlich macht, dafür verantwortlich, dass seine Seele vom Teufel ergriffen wird:48 „het sich Iudas nit in der stunde / vor groszem leide erhangen, / got het ine gerne entphangen.“ (Hätte sich Judas in dieser Stunde nicht / wegen seines großen Schmerzes erhängt, / hätte ihn Gott gerne empfangen. V. 2678-2680) Die Tragik des Judas besteht darin, dass seine Verdammnis zur Hölle ungeachtet alles Geschehenen vermeidbar gewesen wäre und er sie selbst zu verantworten hat, weil er nicht an die Vergebung Gottes glaubte. 3. Der Antagonismus zwischen göttlicher und menschlicher Natur Jesu In den modernen Tragödientheorien ist nicht mehr der vermeidbare Fehler mit schrecklichen Handlungsfolgen charakteristisches Kennzeichen des diesze salbenn / verkaufft wol anderthalben. / man het gelt mit ir gelost / vnd armer lude vil gedrost.“ (Seht, was nützt diese Verschwendung? / Hättet ihr Gefallen daran gefunden, / hätte man diese Salbe / gut anderswo verkaufen können. / Man hätte mit ihr Geld eingenommen / und viele der armen Leute trösten können.) 47 Vgl. V. 2614-2629, V. 2634-2643. 48 Vgl. die Regieanweisung nach V. 2670: „Iudas recedit suspendens eius ymaginem. Dyabulus ex uentre eius capit animam.“ (Judas tritt zurück und hängt seine Figur auf. Der Teufel reißt die Seele aus seinem Leib.)

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Tragischen, sondern ein innerer Gegensatz, ein unlösbarer Konflikt oder ein Antagonismus verschiedener Werte. Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist der Konflikt tragisch, der zwischen zwei sittlichen Mächten entsteht, die in sich berechtigt sind, sich aber nur in der Negation der anderen, gleichberechtigten sittlichen Macht durchsetzen können. Dadurch führen sie unausweichlich eine Kollision herbei, die nur tragisch, durch den Untergang ihrer Individualität, gelöst werden kann.49 Diese Definition ist besonders geeignet, die Figurenkonzeption des Jesus im Frankfurter Passionsspiel zu beschreiben. Die in den Evangelien angelegte nachösterliche Perspektive und heilsgeschichtliche Interpretation des Lebens und Leidens Jesu ist hier deutlich verstärkt. Schon ans Kreuz geschlagen und seinen Tod vor Augen, stellt sich Christus in einer innertrinitarischen Gleichsetzung als allmächtiger Gott dar, der das Volk Israel erwählt und erlöst hat (V. 3645-3650): ich han dich durch Egipten landt gefurt, das du icht wordest geschant. ich erloste dich also schone vnd erdrengte konig Pharion vnd mit eme alle sin here. ich furte dich durch wilde mere.

Ich habe dich aus Ägypten geführt, damit du nicht entehrt wurdest. Ich erlöste dich auf so wunderbare Weise und ertränkte den König, den Pharao, und mit ihm sein ganzes Heer. Ich führte dich durch das wilde Meer.

Zeitgleich ist er jedoch der erbarmungswürdigste Mensch, dem „bludige bueln“ (V. 3417) geschlagen, dessen Glieder mit einem „stumpen nagel“ (V. 3699) durchbohrt und über Gebühr gestreckt werden, „das sin odern krachen mit einander“ (V. 3710), und er so einen äußerst qualvollen Tod erleidet. Dieser Gegensatz zwischen Allmacht und Ohnmacht, Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf kulminiert in dem klagenden Ausruf: „du hast mir ein krutz grosze vnd swer / bereidet, dinem scheppere.“ (Du hast mir ein großes und schweres Kreuz auferlegt, deinem Schöpfer. V. 3661 f.) Der Antagonismus zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur Christi durchzieht die gesamte Handlung und steht im Mittelpunkt des Spiels. Einerseits erweist sich Jesus durch Wort und Tat als Gottessohn und Heiland, wie die Jünger, der geheilte Aussätzige, Maria Magdalena, der genesene Sohn des königlichen Beamten, Marta und schließlich Longinus bekennen.50 Andererseits sind sein Aussehen und Verhalten die eines Menschen, wie die als Gegenspieler gezeichneten Juden stets betonen und für 49 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 521-524. 50 Vgl. z.B. Petrus, V. 341-346: „Wir fulgen, herre, gerne dir. / was du gebudest, das dun wir, / wan du wist der ware heilant, / der vns zu droste ist gesant, / ia der ware gottes sone, / der vns mag gudes vil gethun.“ (Wir folgen dir gerne, Herr. / Was du gebietest, das tun wir. / Denn du bist der wahre Heiland, / der uns zum Trost gesandt wurde, / ja, der wahre Gottessohn, / der uns viel Gutes zu tun vermag.) (Vgl. auch V. 353-360, V. 367-377, V. 1122-1127, V. 1365-1368, V. 1401-1406, V. 1521-1526, V. 4204-4217)

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seine Wundertaten eine innerweltliche Erklärung suchen: „der zeuberer, / Ihesus der gauckeler“ (V. 2393 f.).51 Trotz immer neuer Offenbarungszeichen lassen sie sich nicht von ihrer Auffassung abbringen und beschuldigen ihn der falschen Lehre, des Betrugs und des Gesetzesbruchs.52 Als Christus nach zahlreichen Heilungen und Bekehrungen Lazarus gar vom Tode erweckt, befürchten die Juden Volksverhetzung und Verführung der Massen: „Die lude eme alle folgent noch.“ (Die Leute folgen ihm noch alle. V. 1591) Bei ihrer Beratung greifen sie die Behauptung Jesu, Gottes Sohn zu sein, auf, und versuchen, den von ihm beanspruchten metaphysischen Bezug durch die Zerstörung seiner physischen Existenz ad absurdum zu führen (V. 1603-1612): Ia, der selbe Ihesus widder vns ist in vnsern wercken zu aller frist vnd hat sich gottes sone gnant. wir sullen eme machen bekant smacheit, phine vnd grosze not vnd ein lesterlichenn dot. ob he gottes son dan ist, so mag er ine in kurtzerer frist von vnser handen machen fry. so sehen wir, wie ware die ridde sy.

Ja, dieser Jesus ist zu jeder Zeit gegen uns und unsere Werke, außerdem hat er sich Sohn Gottes genannt. Wir sollen ihm Schmach, Pein und große Qual und einen schmählichen Tod bereiten. Wenn er Gottes Sohn ist, dann kann er ihn sogleich aus unseren Händen befreien. Auf diese Weise sehen wir ja, ob seine Rede wahr ist.

Dieser Plan nimmt durch das Angebot, das Judas ihnen unterbreitet, konkrete Gestalt an. Während am ersten Tag des Passionsspiels die Bestätigung des göttlichen Wesens Christi anhand seiner Wundertaten im Vordergrund steht, dienen die Geschehnisse am zweiten Tag seiner Demontage. Durch das Leiden wird die Menschlichkeit Jesu inszeniert. In der Situation äußerster menschlicher Schwäche, als er am Kreuz hängt und sein Tod naht, lässt seine Wehrlosigkeit alle Gegner triumphieren: „bistu gottes sone ver war, / so kome her abe; so wollen wir gar / gleuben an dich in dieser stunt, / machstu dich vor vns gesunt.“ (Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, / dann komm herab, dann wollen wir / von dieser Stunde an an dich glauben, wenn du dich vor uns rettest. V. 3851-3854). Erst nachdem Jesus gestor51 Von der menschlichen Gestalt Christi lässt sich auch Lucifer täuschen, der seinen Irrtum erst bemerkt, als er seine Seele vergeblich in Empfang zu nehmen sucht, vgl. V. 4151-4155: „Ich sehen her vnd sehen dar / vnd werden der selen nirn gewar / vnd erkennen doch, daz du ein mensch bist. / ich enweis nit, wie den dingen ist. / werliche, ich forchte, er sy gottes son, / […].“ (Ich sehe hin und her / und nehme die Seele nirgends wahr / und erkenne doch, / dass du ein Mensch bist. / Ich weiß nicht, wie dies zu erklären ist. / Wahrlich, ich fürchte, er ist Gottes Sohn.) 52 Vgl. z.B. V. 2416-2421: „Swig, du boser drogner, / du wolde mit diner falschen lere / die wert han betragen / by vns in der synagogen. / doch ist von diner bosen art / leyder manig mensch verkart./“ (Schweig, du schlimmer Betrüger! / Du wolltest die Welt mit deiner falschen Lehre / bei uns in der Synagoge / betrogen haben. / Auch wurden durch dein böses Verhalten / leider viele Menschen verführt.)

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ben ist, wird seine doppelte Natur im Nachhinein auch von unabhängigen Beobachtern bestätigt: Der Centurio bezeugt, „das er ein gewarer got vnd mensch ist.“ (V. 4344) Auch wenn der heilige Körper Gottes unzerstörbar ist,53 kann der menschliche Körper Jesu sehr wohl vernichtet werden und muss es aus der Perspektive moderner Tragödientheorie sogar. Die Vereinigung der beiden gegensätzlichen Naturen, Gottheit und Menschheit, macht sein außergewöhnliches Wesen aus, das sowohl Liebe und Verehrung als auch Hass und Aggression auf sich zieht.54 Durch die stete Konfrontation mit den Gegenspielern Jesu ist das Frankfurter Passionsspiel strukturell eindeutig so konzipiert, dass es auf die Eliminierung des Protagonisten hinauslaufen muss. Auslöser dafür ist letztlich der Antagonismus zwischen göttlicher und menschlicher Natur, die unvereinbar sind und dauerhaft nur getrennt voneinander existieren können. Die Unvermeidbarkeit der Auflösung ihrer Einheit, die zwangsläufig zum Tod ihres Trägers führt, macht – dem hegelianischen Verständnis zufolge – die Tragik Jesu aus. Die drei vorgestellten Deutungsansätze zeigen, dass und wie die Passion Christi als ein tragisches Spiel verstanden werden kann. Unabhängig davon, ob eine antike, eine vormoderne oder eine moderne Tragödiendefinition zugrunde gelegt und die Wirkung, eine Hamartia oder ein Antagonismus in den Blick genommen werden, lassen sich tragische Handlungsstrukturen erkennen. Somit widerlegt das Beispiel des Frankfurter Passionsspiels von 1493 die eingangs referierte These, im Mittelalter könne es keine Tragik geben. Möglich wird diese veränderte Perspektive, sofern die philosophische Suche nach der Substanz des Tragischen in eine literaturwissenschaftliche Methode verwandelt wird. Deshalb plädiere ich für die Anwendung eines poetologischen Tragikbegriffs in der germanistischen Mediävistik, der helfen kann, Sinndimensionen mittelalterlicher Literatur zu erschließen.

53 Müller (Das Gedächtnis des gemarterten Körpers, S. 83-87) stellt heraus, dass die Zerstückelung scheitert und die Profanierung des heiligen Körpers misslingt. Diese Beobachtung entspricht der nachösterlichen, christlichen Perspektive, die dem Tod Jesu am Kreuz eine sinnvolle und heilsgeschichtlich relevante Deutung gibt. Dennoch wird das innerweltliche Scheitern des Menschen Jesu in keiner Weise aufgehoben. Im Frankfurter Passionsspiel zeigt sich dies durch den fragmentarischen Schluss noch deutlicher als in anderen Spielen. Zwar wird die künftige Auferstehung durch Prolepsen angekündigt (vgl. V. 399-412, V. 1767-1784), doch findet sie im Text selbst nicht mehr statt. Die Passionsgeschichte endet mit dem Tod des Helden (V. 4398-4408); die glorreiche Auferstehung ist nicht überliefert. 54 Nach Eming (Gewalt im Geistlichen Spiel, S. 8-11) erweist sich die Gewalt als Modus der Auseinandersetzung mit der charismatischen Autorität und liegt ihre Funktion darin, der Macht Christi zu begegnen.

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Regina Toepfer

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Friedrich Michael Dimpel

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur im höfischen Roman Wird eine Figur in einen Text neu eingeführt, so wird durch die Bezeichnung der Figur, etwa als ‚Zofe‘, ein Erwartungshorizont konstituiert hinsichtlich sozialer Verortung und prototypischer Verhaltensweisen, der rezeptionsseitig auf analogen Modellierungen in literarischen und außerliterarischen Erfahrungswelten basiert. Die im weiteren Erzählverlauf linear gebotenen Informationen zu Aktionen und Kontext vervollständigen sukzessive das Bild der Figur und geben Einblicke in ihren Status und ihre Funktion im Geschehen. Auch in Rollenspielen wie Das schwarze Auge wird durch die Wahl einer Figur durch den Spieler (Magier, Zwerg etc.) die Erwartungshaltung bezüglich typischer Verhaltensmuster präfiguriert. Die Figuren verfügen über Fähigkeiten wie ‚Gewandtheit‘ oder ‚Körperkraft‘. Numerische Werte zu diesen Fähigkeiten werden zunächst durch Los festgelegt und in der Folge verlaufsabhängig modifiziert; sie sind von Bedeutung für das Bestehen von Gewandtheitsproben oder Kämpfen, und sie bilden im Spielverlauf Voraussetzungen für mögliche Aktionen einer Figur. Nach bestandenen Abenteuern erhöhen sich die ‚Abenteuerpunkte‘ einer Figur. Die diachrone Entwicklung dieser Werte kann dokumentieren, wie erfolgreich sich eine Figur entwickelt. Die Entwicklung der Fähigkeiten einer Figur wird als Beschreibungsmodell auf höfische Romane des Mittelalters übertragen. Demonstriert eine Figur in einem Romansegment erfolgreich eine Fähigkeit wie ‚hel



Die Spielregeln sehen zudem explizit Figureneigenschaften vor, die vom gewählten Figurentypus abhängen: So kann etwa ein ‚Magier‘ keine schweren Waffen tragen, während etwa ‚Zweihänder‘ und Ritterrüstung ausschließlich dem ‚Krieger‘ vorbehalten sind (Kiesow: Die Helden des Schwarzen Auges – Regelbuch, S. 17). Man kann somit von einer graduellen Vorformung der Figurentypen durch das Regelwerk sprechen. Ich beziehe mich auf den Figurenbegriff von Fotis Jannidis, der eine Figur definiert als „mentales Modell einer Entität in einer fiktionalen Welt, das von einem Modell-Leser inkrementell aufgrund der Vergabe von Figureninformationen und Charakterisierung im Laufe seiner Lektüre gebildet wird.“ (Jannidis: Figur und Person, S. 177-185, hier S. 252) Die Definition der Figur als mentale Repräsentation einer Entität in einer fiktionalen Welt scheint mir auch auf das Rollenspiel anwendbar zu sein, da Rollenspiele ebenfalls fiktionale Welten generieren. Auch im Rollenspiel kann man davon sprechen, dass an Figurenmodelle (zum Begriff ebd., S. 214 f.) wie Magier oder Krieger weitere Figureninformationen gebunden

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Friedrich Michael Dimpel

fen können‘, wird in einer Wertetabelle ein erhöhter Wert notiert, verliert eine Figur eine Fähigkeit, erfolgt ein Punktabzug. An Fixpunkten nach je einem ‚Spielzug‘ werden die Fähigkeiten mehrerer Figuren erfasst, um einen synchronen Vergleich der Figuren möglich zu machen. Eine Reihe solcher Screenshots (Momentaufnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt) in Folge erlaubt eine diachrone Darstellung dieser Entwicklungen, die sich in Diagrammform visualisieren lässt.

Die Konzeption des Modells Im Rollenspiel – hier exemplarisch Das schwarze Auge – wird ein Set an variablen Fähigkeiten verwendet: Mut, Klugheit, Charisma, Gewandtheit, Körperkraft, Attacke sowie Parade. Dieses Set ist durch das Spieldesign vorgegeben. Dass es diese und nicht andere Fähigkeiten sind, liegt im subjektiven Ermessen des Spielerfinders, der eine gute Operationalisierbarkeit in der Spielpraxis als Ziel anstreben dürfte. Das Set der Fähigkeiten, das ich für die Beschreibung von Romanfiguren verwende, basiert notwendigerweise ebenfalls auf einer subjektiven Setzung, die operational von meinem Frage­ interesse geleitet ist: Ich interessiere mich für Figurenkonfigurationen von weiblicher und männlicher Hauptfigur sowie einer Nebenfigur vom Typus der Confidente. Daher wird eine Fähigkeit wie ‚beraten können‘ berücksichtigt, die bei einem anderen Frageinteresse nicht unbedingt das Krite­ rium der Relevanz erfüllen würde. Ich verwende das folgende Set von Fähigkeiten: andere bewerten/ beurteilen können, argumentieren können, beeinflussen können, beraten können, täuschen können, veranlassen können, eine störungsfreie Minnebeziehung führen können, helfen können, Durchsetzungsvermögen in Konflikten, klug sein, Mut haben, selbstbestimmt entscheiden können. Während die Fähigkeiten in Rollenspielen zunächst ausgewürfelt werden und danach Voraussetzungen für mögliche Aktionen einer Figur bilden, wenn es also hier von den Fähigkeiten einer Figur abhängt, welchen Schritt der Spieler als nächstes in Betracht ziehen kann, so erfahren wir



werden (vgl. zur Bindung von Figureninformationen Jannidis: Figur und Person, S. 198207), die zu einer Charakterisierung der Figur beitragen. Inwieweit eine Rollenspielfigur über „stabile Figureneigenschaften“ (ebd., S. 206 ff.) verfügt, dürfte von der Spielstrategie des jeweiligen Spielers abhängen. In der Regel sind zumindest erfahrene Rollenspieler bemüht, ihrer Figur kohärente Handlungsmuster einzuschreiben, sie generieren somit konsistente Charaktere. Modellierungsversuchen ist grundsätzlich ein Verkürzungsmerkmal inhärent: „Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen Modellerschaffern und/oder Modellbenutzern relevant scheinen.“ (Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie, S. 132)

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

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im höfischen Roman vielfach erst, dass eine Figur über eine Fähigkeit verfügt, wenn sie sie anwendet. Das initiale Auswürfeln der Fähigkeitswerte im Rollenspiel führt zwar für den konkreten Spieler zu einem individuellen Startprofil. Gemäß der Wahrscheinlichkeitsverteilung bei regelmäßigen Würfeln startet jedoch ein hypothetischer Durchschnittsspieler mit durchschnittlichen Werten. Analog dazu gebe ich Figuren, die neu in einen Text eingeführt werden, einen neutralen Startwert (mit einer Ausnahme, s.u.), da hier noch keine Informationen vorliegen, die Abweichungen davon begründen würden. Im Rollenspiel können die Fähigkeitswerte zwischen 7 und 20 schwanken, hier ist also ein großes Maß an Differenziertheit gegeben. Bei der Beurteilung einer Romanfigur stellt sich die Metrisierungsfrage. Unter heuristischen Gesichtspunkten ist es geboten, ein nur wenig differenziertes System einzusetzen: Es ist kaum möglich, etwa mittels einer prozentualen Skala zu entscheiden, in welchem Maß die Figur über eine Fähigkeit verfügt. Ich beschränke mich daher auf eine dreiwertige Skala: Eine Figur hat einen neutralen Wert (numerisch 2), einen erniedrigten (1) oder erhöhten Wert (3). Der Fähigkeitsgrad 2 findet Anwendung, wenn im Text keine Aussagen zu diesem Fähigkeitstyp zu finden sind, oder wenn der geschilderte Gebrauch im Bereich des Normalen liegt. Eine Abwertung auf 1 gebe ich, wenn eine Fähigkeit offensichtlich verloren geht oder eingeschränkt wird. So gebe ich Iwein nach der Verfluchung durch Lunete eine Abwertung bei allen erfassten Fähigkeiten. Umgekehrt führt die Demonstration einer Fähigkeit zu einer Aufwertung auf 3. Weiter ist festzulegen, ob eine erhöhte Wertung beibehalten werden soll, wenn die Fähigkeit längere Zeit nicht verwendet wird, oder ob sie in diesem Fall mit der Zeit verblasst. Ich entscheide mich dagegen, ein Verblassen anzunehmen, da eine einmal demonstrierte Fähigkeit die Erwartung evoziert, sie könne jederzeit wieder aktualisiert werden. So geht etwa die Fähigkeit 



Diese Aussage kann keine pauschale Gültigkeit beanspruchen, im Parzival wird etwa vorgeführt, wie der Titelheld den Umgang mit Waffen lernt, bevor es zur ersten Tjost kommt. Aber wenn es auch im höfischen Roman die überwiegenden Fälle sind, in denen der Rezipient von einer Fähigkeit einer Figur dann erfährt, wenn die Figur sie zum ersten Mal verwendet, moduliert diese erste Verwendung den Erwartungshorizont, von dem aus der Rezipient das weitere Agieren dieser Figur betrachtet. Wenn etwa Tristan bei seinem ersten Aufenthalt in Irland die Fähigkeit ‚täuschen können‘ zeigt, so ist es bereits narrativ angelegt, wenn er bei der Brautwerbungsfahrt als Tantris wiederum nach dem entsprechenden Muster agiert. Zwar kann man gegen diese Entscheidung einwenden, man könne Lunete auch zu Beginn bereits bei ‚klug sein‘ eine 3 geben, da man annehmen kann, die Fähigkeit sei auch zuvor schon vorhanden. Dennoch scheint es mir weniger spekulativ und näher am Text orientiert zu sein, die Aufwertung erst zu dem Zeitpunkt zu geben, in der der Text von dieser Fähigkeit berichtet, wenn sich sonst keine dezidierten Signale finden, dass eine erhöhte Fähigkeit schon länger besteht. Ein solches Signal kann etwa sein, wenn in einer Rückblende vom Gebrauch der Fähigkeit vor der erzählten Zeit berichtet wird.

180

Friedrich Michael Dimpel

‚argumentieren können‘ nicht verloren, wenn es eine Weile keinen Anlass zum Diskutieren gibt, oder wenn eine Figur eine Weile nicht im Fokus des Erzählers steht. Ein solcher Grund kann neben einer expliziten Figureninformation im Text auch in den äußeren Umständen liegen. Wenn etwa Lunete einen erhöhten Wert für ,beeinflussen können‘ erworben hat, da sie Iwein zum Gewinn von Laudine verholfen hat, büßt sie diesen erhöhten Wert nach Iweins Fristversäumnis wieder ein, da sich die Umstände im Quellenreich derart geändert haben, dass ihre Chancen, Laudine zu beeinflussen, erheblich gesunken sind. Zu einigen einzelnen Fähigkeiten: ‚Andere bewerten/beurteilen können‘: Hier werte ich nicht, ob die Beur­teilung zutreffend oder klug war, sondern lediglich, ob sich eine Figur zutraut (und dies zeigt), das Verhalten einer anderen Figur zu bewerten. ‚Beeinflussen können‘: Ich werte das aktive Beeinflussen einer anderen Figur, nicht jedoch, wenn eine Figur eine andere in einen Minnebann schlägt. Wird jemand selbst erheblich beeinflusst, erfolgt Punktabzug. ‚Eine störungsfreie Minnebeziehung führen können‘: Eine Figur behält stets den Wert 2, wenn das Thema Minne für sie nicht relevant wird. Voraus­setzung für einen erhöhten Wert ist eine etablierte Liaison, wenn keine gestörte Beziehung signalisiert ist, gebe ich eine 3. Bei ‚Durchsetzungsvermögen in Konflikten‘ lasse ich neben ritterlicher Bewährung im Kampf auch nichtkörperliches Engagement gelten im Sinne von „für eine Sache kämpfen“, um die Fähigkeiten von männlichen und weiblichen Figuren besser vergleichen zu können. Bei ‚selbstbestimmt entscheiden können‘ setzte ich voraus, dass die – hier adeligen – Hauptfiguren über diese Fähigkeit in erhöhtem Maß verfügen, solange keine Einschränkung ersichtlich ist. Für die Hauptfiguren ist der Defaultwert 3, bei Nebenfiguren wie Lunete gehe ich weiterhin von einem neutralen Startwert 2 aus. Ich erfasse die Fähigkeiten in Screenshots jeweils nach einem Erzählintervall, die Texte werden also segmentiert. Die Segmentbildung nehme ich nach inhaltlichen Kriterien vor. Da die Nebenfigur im Zentrum meines Interesses steht, segmentiere ich dort, wo sich für die Nebenfigur eine neue Lage ergibt. Partien, die die Nebenfigur kaum tangieren, werden dabei zu einem großen Segment zusammengefasst. So bilde ich im Iwein nur ein Segment für die Handlung zwischen dem Abschluss der Scheiterhaufenszene und der Schlussszene des Romans. In der Regel tritt die Nebenfigur nur eine begrenzte Erzählzeit in Erscheinung, so etwa Anna im Eneas. Die Ereignisse nach dem letzten Auftreten der Nebenfigur bleiben unberücksichtigt. 

Vgl. zur Konstanz von Figurenmerkmalen Titzmann: Strukturale Textanalyse, S. 242 f.

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

181

Die Entscheidung, wo jeweils Segmentgrenzen gezogen werden, ist subjektiv. Eine Alternative dazu sehe ich nicht: Wenn man etwa alle 500 Zeilen ein neues Segment ansetzen würde, würde dabei nicht erfasst, wie sehr durch reflektierende Exkurse, ausführliche Beschreibungen etc. ein Handeln der Figuren ausbleibt. Zudem würden auf diesem Weg zusammenhängende Szenen auseinandergerissen.

Die Subjektivitätsproblematik Bei der Auswahl des Sets der Fähigkeiten, bei der Segmentbildung und bei der Vergabe der Bewertungen besteht eine gewisse Subjektivitätsproblematik. Zwar gibt es in vielen Fällen relativ klare Voraussetzungen, um Bewertungen zu erstellen, etwa durch dezidierte Informationsvergabe im Text. Liegen keine Figureninformationen vor, soll der Wert des vorausgehenden Screenshots, bspw. der neutrale Startwert, nicht verändert werden. In anderen Fällen aber müssen die Werte aufgrund von indirekten Figureninformationen und aus dem Weltwissen vom Interpreten erschlossen werden. In diesen Fällen können Bewertungen teilweise von Subjektivität geprägt sein. Die Ergebnisse bilden nicht nur den Romanverlauf für die einzelnen Figuren ab, sondern es fließt zugleich auch die Interpretationsperspektive 



Die Zulässigkeit der Heranziehung von Weltwissen begründet Jannidis mit der Relevanz des Wissens des Lesers um die Eigenheiten fiktionaler Welten: „Solange nichts Gegenteiliges in einem Text explizit geäußert wird, kann sich der Leser zum Verständnis des Textes auf das Wissen über Genres, über einen Typus fiktionaler Welten oder über eine spezifische fiktionale Welt beziehen und außerdem auf das Weltwissen, das dem auktorialen Publikum zu unterstellen ist.“ (Jannidis: Figur und Person, S. 72; ähnlich Titzmann: Strukturale Text­ analyse, S. 263-273) Bei der Rezeption von Figurenverhalten kann, so Jannidis, nach den Ergebnissen der kognitionswissenschaftlichen und empirischen entwicklungspsychologischen Forschung (ebd., S. 185-195) zudem „lebensweltliche Erfahrung, wie sie in der ,folk psychology‘ zusammengefaßt ist“ (ebd., S. 202), mit einbezogen werden. „Weil für Figuren der Erklärungsrahmen der folk psychology gültig ist, können aufgrund von gegebenen Figuren­ informationen weitere Informationen ergänzt werden.“ (ebd., S. 194) Auch „indirekte Zuschreibungen von Figureninformationen“ (wie „an den Wänden hingen melancholische Fotos“; ebd., S. 199) sind demnach relevant: Während direkte Zuschreibungen zu Tatsachen in der erzählten Welt werden, lassen sich bei indirekten Zuschreibungen Schlussfolgerungen über die Figur ziehen, deren Grad an Offensichtlichkeit auf einer Skala angesiedelt ist, „die von ,ganz offensichtlich‘ bis ,nicht offensichtlich‘ reicht“ (ebd., S. 206). Exemplarisch ein Problemfall: Nach dem Terminversäumnis sind Iweins Werte für ‚Durchsetzungsvermögen‘, ‚Mut haben‘ und ‚veranlassen können‘ auf 1 gefallen. ‚Durchsetzungsvermögen‘ und ‚Mut‘ steigen nach Aliers- und Drachenkampf auf 3, beide Eigenschaften werden explizit demonstriert. Ist nun aber bei ‚veranlassen können‘ 2 oder 3 anzunehmen? Iwein gelingt es, den Frieden im Land der Dame von Narison zu sichern (3782-84), doch in eigenen Belangen kann er kaum etwas erreichen. Da bei der Modellierung eine Entscheidung getroffen werden muß, werte ich neutral mit 2, da Iwein im Vergleich zum Status nach seiner Hochzeit nach meinem Lektüreeindruck sein früheres Niveau noch nicht wieder ganz erreicht hat.

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Friedrich Michael Dimpel

des Modellbenutzers ein, vor allem dort, wo nur indirekte Figureninformationen vorliegen. Wenn die Ergebnisse in Diagrammen visualisiert werden, kann die scharfe Linienführung im Diagramm den Anschein von Objektivität erwecken, als handle es sich um Messungen. Bei der Beurteilung der Diagramme ist stets der Subjektivitätsgrad mitzubedenken, der ihnen inhärent ist, da bei der Vergabe von Fähigkeitswerten zu erwarten steht, dass in manchen Fällen nur so wenige Figureninformationen vorliegen, dass auch mit nur wenig offensichtlichen Eindrücken zu kalkulieren ist. Doch scheint mir diese Problemlage nicht derart virulent zu sein, dass der Modellierungsversuch beliebige Ergebnisse hervorbringen könnte, wenn eine vorsichtige Bewertungspolitik verfolgt wird: In den Zweifelsfällen, in denen der Grad an Offensichtlichkeit von indirekten Figureninformationen nicht ausreichend erscheint, wird eher keine Änderung von Figurenmerkmalen angenommen und der vorausgehende Wert nicht verändert. Zwar ist denkbar, dass verschiedene Modellbenutzer zu abweichenden Bewertungen in einzelnen Details kommen würden, doch bei grundsätzlichen Tendenzen sollte sich weitgehend Einigkeit erzielen lassen. Dass Iweins Fähigkeiten mit dem erfolgreichen Alierskampf zunehmen, wird intersubjektiv nachvollziehbar sein. Bei der Berechnung der Kennwerte wie dem Oszillationsgrad (s.u.) dürften die wenigen Zweifelsfälle, in denen andere Modellbenutzer zu abweichenden Wertungen kommen würden, kaum zu signifikanten Abweichungen in der Relation der Kennwerte untereinander führen.

Ziele des Projekts Der Modellierungsversuch soll helfen, Figurenkonfigurationen mit einer weiblichen und einer männlicher Hauptfigur sowie einer Nebenfigur vom Typus der Confidente zu analysieren. Dabei erhoffe ich mir Erkenntnisse darüber, ob sich aus dem Verhältnis der Figuren in mehreren Texten vergleichbare Ergebnisse ergeben, die Tendenzen dieser spezifischen Figurenkonfiguration beschreiben und zu einer Typologie der Confidente beitragen können. Es geht also nicht darum, ein erzähltheoretisches Modell mit dem Anspruch einer allgemeinen Gültigkeit für eine bestimmte Textsorte zu begründen, wie es etwa Vladimir Propp mit seinen Untersuchungen zur Struktur des russischen Zaubermärchens unternommen hat, noch darum,



Volker Mertens stellt eine Verlaufsskizze zum Protagonisten im ‚Iwein‘ vor, die sich weitgehend mit der Linie deckt, die sich hier im Diagramm ergeben hat (vgl. Mertens: Iwein und Gwigalois, S. 20).

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

183

Aussagen über die Tiefenstruktur von Texten à la Greimas zu treffen.10 Propp untersucht zunächst Ereignisse im Textverlauf, die sich im zweiten Schritt bestimmten Funktionen zuordnen lassen. Während Propp sich bei der Textanalyse auf der ‚histoire‘-Ebene bewegt, ist bei der Bewertung der Fähigkeiten auch die ‚discours‘-Ebene, auf der zahlreiche Figureninformationen vergeben werden, relevant, wenn auch nicht ausschließlich, da manche Veränderungen durch die Entwicklung der ‚histoire‘ determiniert sind. So ist etwa eine Verbesserung der Fähigkeiten nach einem Sieg des Protagonisten über den Antagonisten erwartbar. Auch bei meinem Modellierungsvorschlag gilt: Zahlreiche sprachliche und literarische Aspekte wie Metaphorik, Ironie, Perspektivierung etc. können nicht erfasst werden, das wird auch nicht angestrebt. Angesichts der Subjektivitätsproblematik stellt sich die Frage, welchen Nutzen man von diesem Projekt erwarten kann, der nicht auch mit einem close reading erzielt werden könnte. Unter heuristischem Aspekt kann bereits die Methode der Datenerhebung zu Einsichten in die Textstruktur führen: Man muss bei der Segmentierung des Textes Überlegungen zur diachronen Struktur anstellen, sodann zwingt der Umstand, dass bei jedem Screenshot zu jeder Figur Werte vergeben werden müssen, dazu, zu reflektieren, in welchem Status sich die Figuren jeweils befinden, man ist somit gezwungen, die verfügbaren Figureninformationen zu betrachten und im Fall von Mehrdeutigkeiten abzuwägen. Mit der Erfassung von Zahlenwerten und der Berechnung von Kennwerten werden die Modelldaten sortiert, strukturiert, angeordnet und in Diagrammen visualisiert. Zu erwarten ist, dass hierbei Textphänomene ins Auge fallen, die bei einem konventionellen interpretativen Zugriff nicht unbedingt auffallen müssen. Zu fragen ist, ob das Modell darüber hinaus einen Informationsgewinn bieten kann, etwa eine gewisse Objektivierung von Textphänomenen durch numerische Werte, die geeignet sein können, konventionelle Interpretations­ beobachtungen zu verifizieren. Dies dürfte von der Art des betrachteten Textes abhängen. In Texten, in denen viele Fähigkeiten nur erschlossen werden können oder in denen aufgrund von Mehrschichtigkeiten verschiedene Interpretationen häufig zu abweichenden Ergebnissen kommen würden, ist ein solcher Mehrwert in geringerem Maße oder überhaupt nicht vorhanden. Bei Texten, die reichlich explizite Figureninformationen oder indirekte Figureninformationen mit einem hohen Grad an „Offensichtlichkeit“11 zu den untersuchten Fähigkeitskategorien bieten, ist es denkbar, hier von einer Objektivierung zu sprechen, auch wenn Kategorienbildung und Segmentierung mit Blick auf die untersuchte Fragestellung von der Subjektivität des Forschers beeinflusst bleiben – eine generelle Problematik bei Model10 Propp: Morphologie des Märchens; Greimas: Strukturale Semantik. 11 Vgl. Anm. 7 zu Jannidis: Figur und Person.

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Friedrich Michael Dimpel

lierungsversuchen, da Modelle nicht nur abbilden, sondern selektiv verkürzen und ihren Originalen nicht eindeutig, sondern auch in pragmatischer Hinsicht subjekt- und zeitbezogen sowie u.a. unter Einschränkung „auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen“ zugeordnet sind.12 Anwendungsbeispiel: Iwein Exemplarisch werden hier die drei letzten Screenshots zum Iwein vorgestellt. In den mittleren Spalten stehen die Bewertungen zu den Figuren (LUN: Lunete, IW: Iwein, LAU: Laudine) zum Zeitpunkt der Momentaufnahme. Die letzte Zeile (Durchschnitt) gibt den Mittelwert aller Fähigkeiten wieder. Im rechten Block (Mittelwerte) sind die durchschnittlichen Fähigkeitswerte je Kategorie für den Gesamttext notiert, hier gehen also auch die Screenshots ein, die in der erzählten Zeit früher liegen und die hier aus Raumgründen nicht abgedruckt sind. Fett gesetzt ist jeweils der höchste Wert. Kategorie / Figur andere bewerten/ beurteilen argumentieren beeinflussen beraten täuschen veranlassen störungsfreie Minnebeziehung führen helfen Durchsetzungsvermögen in Konflikten klug sein Mut haben selbstbestimmt entscheiden können Durchschnitt

Lunete in der Kapelle gefangen (4079)

Nach Scheiterhaufenszene (5562)

LUN

IW

LAU

LUN

IW

LAU

LUN

IW

LAU

LUN

2

2

3

2

2

3

3

2

3

2,5

2,0

2,8

2

2

2

3

2

2

3

2

3

2,6

1,9

2,3

1

2

2

3

2

2

3

2

1

2,3

1,8

1,8

1

2

2

3

2

2

3

2

2

2,3

1,8

2,0

2

2

2

2

2

2

3

3

2

2,4

1,9

2,0

1

2

2

2

2

2

3

3

2

2,3

2,0

2,1

2

1

1

2

1

1

2

3

3

2,0

1,8

1,9

1

3

2

3

3

2

3

3

3

2,3

2,4

2,0

1

3

2

3

3

2

3

3

2

2,4

2,5

1,9

1

2

2

3

2

2

3

3

2

2,6

2,0

2,0

1

1

2

3

2

2

3

3

2

2,5

2,4

1,9

1

2

1

2

2

1

3

3

2

2,3

2,1

1,6

1,3

2

1,9

2,6

2,1

1,9

2,9

2,7

2,3

2,4

2,0

2,0

Romanende

Mittelwerte

IW

LAU

Nach der Scheiterhaufenszene hat Lunete die Huld ihrer Herrin wiedererlangt, ihr Widersacher am Hof ist beseitigt, sie erhält nun in vielen Kategorien positivere Bewertungen. Durchgehend positiv werden ihre Werte am Romanende, hier ist es ihrer List zu verdanken, dass Iwein wieder als Landesherr eingesetzt wird. Für die Fähigkeiten von Iwein und Laudine hat die Scheiterhaufenszene keine Konsequenzen außer bei ‚Mut haben‘: Iwein hat zuvor einen Selbstmordversuch unternommen, Lunete verspricht ihm nach ihrer Rettung, sich um seine Angelegenheit zu kümmern. Seine übrigen Qualitäten hat Iwein bereits im Aliers-Kampf demonstrieren können; 12 Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie, S. 131-133; zur Subjektbezogenheit der poetischen Modellierung vgl. S. 235-238.

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

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im letzten Screenshot korrespondieren die Zahlen für Iwein mit dem Happy-end. Die überrumpelte Laudine kann sich nur in drei Kategorien etwas verbessern, in ‚beeinflussen können‘ erhält sie Punktabzug, da sie selbst von Lunete maßgeblich beeinflusst wurde.13 Oszillationsgrad: LUN: 0,6

IW: 0,7 LAU: 0,3

Der Wert ‚Oszillationsgrad‘ gibt darüber Auskunft, wie sehr die durchschnittlichen Fähigkeiten (letzte Zeile der Screenshot-Tabelle) einer Figur von Momentaufnahme zu Momentaufnahme schwanken. Er ergibt sich aus der durchschnittlichen Differenz von jeweils zwei aufeinander folgenden durchschnittlichen Gesamtfähigkeitswerten.14 Der Oszillationsgrad ist ein Indikator dafür, ob die Fähigkeiten einer Figur eher auf stabilem Niveau verharren, oder ob sie häufig Fähigkeiten dazugewinnt und verliert, somit also ein Indikator dafür, wie narrativ interessant der Weg einer Figur ist. Iwein durchschreitet einige Höhen und Tiefen, sein hoher Oszillationsgrad bildet ab, dass er mit den Wechselfällen des Romangeschehens mehr Bergund Talfahrten „erlebt“ als Laudine. Auf den durchschnittlichen Gesamtfähigkeitswerten der Figuren (letzte Zeile der Screenshot-Tabelle) basiert auch das Verlaufsdiagramm, das visualisiert, wie sich die Fähigkeiten der drei Figuren im Romanverlauf entwickeln:

13 Vgl. Dimpel: Der zweite Mann, S. 35-55. 14 Oszillationsgrad = ( |GW(T1) - GW(T2)| + |(GW(T2) - GW(T3)| + … + |GW(Tn-1) - GW(Tn)| ) : (n-1) GW: Gesamtfähigkeitswert. Tn = Zeitpunkt des Screenshots; T1 „Nach Kalogrenants Bericht“,... Tn „Romanende“.

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Laudine hat zu Beginn den höchsten Wert der drei Figuren, am Roman­ ende den niedrigsten. Der Linienverlauf spiegelt Lektürebeobachtungen: Anfangs war Laudine das unerreichbar erscheinende Objekt von Iweins Begehren, zuletzt muss sie widerwillig Iwein rehabilitieren, während Iwein und Lunete ihre Ziele erreichen können.15 Zwar gelingt auch Iwein eine deutliche Steigerung zum Ende hin, aber die strahlende Siegerin heißt Lunete. In einigen Teilen des Diagramms zeigen sich gegenläufige Bewegungen: Während Iwein und Laudine zunächst fallen, beginnt Lunetes Stern zu strahlen, hier wird visualisiert, dass die Krisen von Lunete und Iwein zeitversetzt stattfinden. Während Lunete danach noch im Abstieg begriffen ist, erholt sich Iweins Linie allmählich. Bei Laudine sind die Ausschläge nach oben und unten weniger groß, dies unterstreicht auch der niedrige Oszillationsgrad. Bei den Gesamtsummen zu den einzelnen Kategorien (Mittelwerte) fällt auf, dass Lunete bei den meisten Fähigkeiten die höchsten Werte erreicht, Iwein erreicht ein ähnliches Niveau wie Laudine. Bei der Betrachtung der Gesamtsumme ist jedoch zu beachten, dass sich die Krisen von Lunete und Iwein bei den Durch­schnittswerten deutlich auswirken, während die Krise Laudines kürzer andauert und sich daher nicht so deutlich im Mittelwert niederschlägt.

Überblick über Ergebnisse zu anderen Texten Nach dem gleichen Schema habe ich Fähigkeitendiagramme für weitere Texte erstellt: zu Anna im Eneas, Brangäne im Tristan, der Zofe im Moritz von Craun, Irekel im Partonopier und Meliur sowie jeweils der männlichen und weiblichen Hauptfigur. Hier sei nur ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ergebnisse skizziert.

15 Ob man dabei die Handschriften, die Laudines Fußfall enthalten (Hss. Bad), oder die Gruppe, in der der Fußfall fehlt (Hss. ADEbc), zugrunde legt, ist für Laudines Fähigkeiten am Romanende unerheblich; Konsequenzen hat diese Differenz eher für die Frage der psychologischen Kohärenz der Figurendarstellung. Allenfalls könnte man, folgt man der zweiten Gruppe, am Romanende dem Titelhelden bei ‚eine störungsfreie Minnebeziehung führen können‘ nur einen neutralen statt einen erhöhten Wert geben, wodurch sich Iweins steiler Aufstieg zum letzten Segment hin minimal flacher darstellen würde (vgl. zum Iwein-Schluss Schröder: Laudines Kniefall, S. 3-31; Hausmann: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe, S. 72-95).

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

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Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

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Im Eneas zeichnet sich mit Ausnahme des Niedergangs am Ende der DidoHandlung wenig Bewegung ab: Anna fungiert lediglich als Didos Beraterin, sie gewinnt nur in beschränktem Umfang eigene Konturen. Weit mehr Varianz dagegen im Tristan: Brangäne ist mit ihrem Versäumnis bei der Aufsicht auf den Minnetrank und bei Isoldes Mordanschlag auf ihr Leben weit mehr ins Geschehen involviert. Isolde erleidet bei dem Mordanschlag auf Brangäne keinen Einbruch,16 obwohl Isolde bei diesem Verrat nicht integer agiert. Dieser Befund zeigt: Aus der Verfügbarkeit einer Fähigkeit kann noch nicht darauf geschlossen werden, wofür sie eingesetzt wird; ethisches Handeln wird in diesem Modell nicht abgebildet. Im Moritz von Craun schlägt sich das engagierte Eintreten der Zofe für Moritz in einer positiven Entwicklung nieder. Das Schlaf-Vergehen von Moritz bringt einen Einbruch mit sich, die Gräfin steht am Ende mit leeren Händen da. Im Partonopier zieht Irekel analog zur Zofe im Moritz von Craun Vorteile aus ihrem Engagement für Partonopier, sie bleibt in weiten Teilen auf konstantem Niveau, Partonopier kann sich nur langsam vom Bruch des Sehtabus erholen. Endwerte: Betrachtet man jeweils den letzten Screenshot, fällt auf, dass die Nebenfigur im Partonopier ebenso wie im Iwein am Ende den höchsten Wert erreicht, im Moritz von Craun liegt die Nebenfigur nahezu mit Moritz auf gleicher Höhe. Mit Ausnahme des Eneas erreichen die Nebenfiguren die besten oder nahezu besten Fähigkeitswerte. Im Eneas und im Tristan zieht das katastrophische Erzählziel des untersuchten Textabschnittes die Figuren 16 Hier verkürzend formuliert für: Es ist kein Absinken der Diagrammlinie, die Isoldes Fähigkeitswerte repräsentiert, gegeben. Ich verwende hier und im Folgenden entsprechende Verkürzungen sowie Sprachkonventionen, die aus der Beschreibung von Spielständen etwa in sportlichen Wettkämpfen entliehen sind, wie „X führt vor Y“ in Bezug auf höhere Werte im Diagramm. Die Beschreibungssprache referiert also im weiteren Sinn auf den Bereich des Modellspenders, auf das Spiel. Nebenbemerkung zu spieltheoretischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft aus modelltheoretischer Sicht: Bei Analogiemodellen wird in der Regel ein einfaches bzw. bekanntes Modell gewählt, um die Struktur eines komplexen oder nicht vollständig erklärten Originals – also eine offene Struktur – partiell zu repräsentieren (vgl. zu Analogiemodellen Stegmüller: Probleme und Resultate, S. 169-175). Bei der Applikation des Spielbegriffs auf Literatur findet jedoch auch auf der Abbildungsebene ein Bereich Verwendung, dessen Struktur offen ist (vgl. zur Problematik der Definition des Begriffs ‚Spiel‘ Anz: Literatur und Lust, S. 37 ff.). Konsequenz dieses Umstands ist, dass die Anwendung des Modells metaphorische Aussagen generieren kann, teilweise auf Kosten der Konkretisierbarkeit der Relation von modellierter und modellierender Entität; hierin dürfte auch der Grund für die enorme Produktivität des Spielbegriffs zu finden sein. Wenn sowohl der repräsentierten als auch der repräsentierenden Ebene das Offenheitsmerkmal inhärent ist und zudem auch der Analogierelation zwischen beiden Ebenen Offenheit eingeschrieben sein kann, scheint es sehr konsequent, wenn darauf aufbauende Überlegungen etwa für Offenheit in der Theorienbildung, für Theorienvielfalt (vgl. Anz, ebd.) plädieren: Diese Folgerung reflektiert implizit die doppelte Offenheit der gewählten Modellierung.

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mit Ausnahme von Eneas in die Tiefe, Brangäne fällt nicht so tief wie die Hauptfiguren. Mittelwerte der Fähigkeiten über den gesamten Textabschnitt Nebenfigur Männl. Hauptfigur

Eneas Iwein Tristan Moritz von Craun Partonopier Mittelwert alle Texte

2,1 2,0 2,6 2,4 1,7 2,16

2,0 2,4 2,3 2,5 2,6 2,37

Weibl. Hauptfigur

1,9 2,0 2,4 2,1 2,2 2,13

Der positive Trend für die Nebenfiguren, der sich bei den Endwerten gezeigt hat, lässt sich auch bei den Mittelwerten aller Fähigkeiten zeigen. In zwei von fünf Texten hat die Nebenfigur die höchsten Durchschnittswerte, in keinem Fall entwickelt eine weibliche Hauptfigur die höchsten Fähigkeitswerte. Auch in den Durchschnittswerten für alle Texte liegt die Nebenfigur vorn, die weibliche Hauptfigur bleibt auf dem letzten Platz. Oszillationsgrad alle Fähigkeiten Eneas Iwein Tristan Moritz von Craun Partonopier Mittelwert alle Texte

Oszillationsgrad Nebenfigur Männl. Hauptfig.

0,25 0,58 0,29 0,10 0,15 0,28

0,13 0,69 0,13 0,19 0,29 0,33

Weibl. Hauptfig.

0,30 0,32 0,17 0,07 0,08 0,16

Mittelwert

0,23 0,53 0,20 0,12 0,18 0,26

Hohe Werte lassen sich für Eneas, Iwein und Tristan ermitteln. Bei den männlichen Hauptfiguren gibt es die größten Schwankungen, die zweitgrößten bei den Nebenfiguren – eine Ausnahme stellt wiederum der Eneas dar. Im Mittelwert für alle Texte liegen die Nebenfiguren recht nahe bei den männlichen Hauptfiguren, die weiblichen Hauptfiguren haben mit großem Abstand den niedrigsten Oszillationsgrad. Die einzelnen Fähigkeiten: Durchschnittswerte in allen Texten Abkürzungen: AN: Anna, EN: Eneas, DI: Dido, LUN: Lunete, IW: Iwein, LAU: Laudine, BRA: Brangäne, TRI: Tristan, ISO: Isolde, MO: Moritz, GR: Gräfin, IR: Irekel, PA: Partonopier, ME: Meliur, M NF: Mittelwert Nebenfigur, M mHF: Mittelwert männliche Hauptfigur, M wHF: Mittelwert weibliche Hauptfigur.

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Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

Eneas Mittelwerte aller Fähigkeiten: bewerten/beurteilen argumentieren beeinflussen beraten täuschen veranlassen störungsfreie Minnebeziehung helfen Durchsetzungsvermögen klug sein Mut haben selbstbestimmt entscheiden

Iwein

AN EN 2,7 2,0 2,0 2,3 2,3 2,0 2,3 2,0 2,0 2,5 2,0 2,3 2,0 2,3 1,8 1,2 1,8 1,8

2,0 1,8 2,0 2,0 2,0 2,3

DI LUN 2,0 2,5 2,0 2,6 1,7 2,3 1,8 2,3 1,8 2,4 1,8 2,3

IW LAU BRA TRI ISO 2,0 2,8 2,8 2,5 2,9 1,9 2,3 2,8 3,0 2,8 1,8 1,8 2,3 2,5 1,9 1,8 2,0 2,3 2,2 1,9 1,9 2,0 2,5 2,8 2,4 2,0 2,1 2,1 2,5 2,3

2,0 1,8 2,2 2,0 1,8 2,3

1,8 2,4 2,5 2,0 2,4 2,1

Moritz v. Craun Mittelwerte aller Fähigkeiten: bewerten/beurteilen argumentieren beeinflussen beraten täuschen veranlassen störungsfreie Minnebeziehung helfen Durchsetzungsvermögen klug sein Mut haben selbstbestimmt entscheiden

Zofe MO GR 2,8 2,8 2,8 2,8 2,8 2,8 2,0 2,4 1,6 2,9 2,0 2,0 2,0 2,5 2,0 2,0 2,0 2,5 2,0 2,9 2,8 2,8 2,8 2,4

1,6 2,0 2,9 2,5 2,4 2,9

Tristan

1,5 2,0 2,0 1,8 2,0 2,8

2,0 2,3 2,4 2,6 2,5 2,3

1,9 2,0 1,9 2,0 1,9 1,6

Partonopier IR 2,8 2,8 2,6 2,8 2,6 2,5

PA ME 2,3 3,0 2,0 3,0 1,5 1,9 1,3 2,0 1,9 2,1 1,4 2,8

2,0 2,8 2,7 2,7 2,5 2,7

1,3 1,3 1,8 1,5 1,8 1,7

1,3 2,0 2,0 2,1 2,0 2,2

2,0 2,8 2,0 2,5 2,2 1,9

2,5 2,8 2,8 2,8 2,8 2,2

2,5 1,9 2,9 2,4 2,3 2,3

Durchschnitt alle Texte M M M NF mHF wHF 2,7 2,3 2,7 2,6 2,4 2,6 2,3 2,0 1,8 2,5 1,8 2,0 2,3 2,3 2,1 2,2 2,1 2,3 2,0 2,6 2,3 2,3 2,4 2,2

1,8 2,1 2,4 2,2 2,3 2,2

1,8 2,0 2,2 2,0 2,0 2,2

Der letzte Block weist die Mittelwerte aus – jeweils für die Nebenfiguren und die männlichen sowie weiblichen Hauptfiguren. Diese Durchschnittswerte für die einzelnen Fähigkeiten bestätigen die bisherige Tendenz: Die Nebenfiguren liegen mit zwei Ausnahmen (‚veranlassen‘, ‚Durchsetzungsvermögen in Konflikten‘) vorn oder gleichauf. Mit großem Abstand führen sie bei ‚beraten‘ und ‚helfen‘. Bei diesen Fähigkeiten sind die Abstände zwischen dem ersten und zweiten Platz größer als bei allen anderen Fähig-

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keiten, sie sind nach Ausweis von hier verwendetem Modell und Textkorpus signifikant für Nebenfiguren vom Typus der Confidente. Weiterhin fallen die hohen Werte bei ‚beeinflussen‘, ‚klug sein‘ und ‚Mut haben‘ auf.17

Zusammenfassung, Grenzen und Ausblick Bei den zusammenfassenden Werten zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab: Teils liegen die Nebenfiguren in Führung, teils die männlichen Hauptfiguren. Die weiblichen Hauptfiguren haben eher schwächere Werte. Besonders ausgeprägt ist die Tendenz, dass die Nebenfiguren vor den weiblichen Haupt­ figuren liegen, beim Oszillationsgrad: Hier liegen die Nebenfiguren näher an den führenden männlichen Hauptfiguren, die weiblichen Hauptfiguren sind deutlich abgeschlagen. Insgesamt bescheinigt das Modell den weiblichen Hauptfiguren eher Passivität und den Nebenfiguren ein großes Aktivitätspotential. Die Zahlenwerte deuten darauf hin, dass eine weibliche Haupt­ figur, die durch eine ihr zugeordnete Nebenfigur vom Typus der Confidente ergänzt wird, zu einem ruhenden Pol wird, der Freiräume für das Agieren der Nebenfigur schafft – ähnlich wie König Artus meist nicht selbst handelt, sondern seine Ritter handeln lässt. Im Fall von Laudine lässt sich dieser Befund auch gut mit Lotmans Raummodell beschreiben: Während Lunete als ‚dynamische Figur‘ Grenzen zwischen den Erzählräumen überschreitet, bleibt Laudine als ‚statische Figur‘ an ihren Raum gebunden.18 Bei einigen Texten wie dem Iwein bringt die Modellierung interessante Diagramme hervor, dagegen verlaufen die Linien von Tristan und Isolde eher statisch. Ein analoger Befund hat sich beim Wigalois ergeben – hier wurde nur der gemeinsame Ritt von Nereja mit Wigalois erfasst; Larie steht erst später im Fokus der Erzählung. Während man den wenig spektakulären Verlauf im Wigalois mit dem Konzept des idealen Helden in Zusammenhang bringen kann, stellt sich die Frage, warum sich beim vielfach reizvolleren Tristan keine lebhaftere, stärker oszillierende Grafik für die beiden Hauptfiguren ergibt. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass die Reichweite des Modells hier auf Grenzen stößt. Dass beim Iwein der Erzählverlauf mittels Fähigkeitendiagramm relativ gut abgebildet wird, könnte damit zusammenhängen, dass die Entwicklung der Fähigkeiten der Figuren hier in beträchtlichem Umfang auch von der ‚histoire‘-Ebene determiniert wird. Die betrachtete Tristan-Passage bezieht ihre narrativen Reize jedoch 17 Dass die weiblichen Hauptfiguren in den Durchschnittswerten für alle Texte in einigen Kategorien höhere Werte als die männlichen Hauptfiguren erreichen, erklärt sich im wesentlichen durch den ‚Partonopier‘: Hier hat der Held bei den meisten Fähigkeiten ganz erheblich niedrigere Werte als Meliur. 18 Lotman: Kunst als Sprache, S. 183.

Das Rollenspiel als Modell für eine Formalisierung der Figurenstruktur

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eher durch die Art der Darstellung; der Facettenreichtum der ‚discours‘Ebene – in Verbindung mit den zahlreichen Erzählerkommentaren und ihrem spannungsreichen Verhältnis zur Handlungsebene – scheint sich weit weniger für eine Abbildung in numerischen Werten zu eignen. Dieser Fall zeigt: Inwieweit das Modell ein Hilfsmittel bei der Textanalyse sein kann, hängt – neben der Fragestellung – von der Art des Textes ab. Während das Modell etwa beim antiken Drama wohl gute Dienste leisten könnte, wäre eine Anwendung bei Texten, die stark diskursiv-reflektierend erzählt sind, oder die mit zahlreichen Mehrdeutigkeiten und Leerstellen operieren, kaum sinnvoll. Gut vorstellbar ist, dass das Modell mit einigem Gewinn auch im schulischen Literaturunterricht eingesetzt werden kann: Neben dem analytischen Potential ist hervorzuheben, dass die Schüler bei der Vergabe von Bewertungen zu genauer Lektüre und Reflexion gezwungen sind; aus abweichenden Voten dürften sich Anstöße für weitere Diskussionen ergeben. Zudem sind zahlreiche Schüler mit Rollenspielen als Gesellschafts- oder Computerspiel vertraut, so dass durch die Brücke über das Vergnügen am Spiel auch Motivationsenergien freigesetzt werden können.

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Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Dimpel, Friedrich Michael: Der zweite Mann, die zweite Frau. Halbierungen und Doppelungen im ,Iwein‘ Hartmanns von Aue. In: Sonja Glauch (Hg.): Große Texte des Mittelalters. Erlanger Ringvorlesung 2003. Erlangen 2005, S. 35-55 [= Erlanger Studien 131]. Greimas, Algirdas J.: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Übers. v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971 [=Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 4; zuerst 1966]. Hausmann, Albrecht: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. „Laudines Kniefall“ und das Problem des „ganzen Textes“. In: Ursula Peters (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Stuttgart, Weimar 2001, S. 72-95. Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004 [=Narratologia 3]. Kiesow, Ulrich: Die Helden des Schwarzen Auges. Regelbuch I zum Basis-Spiel ‚Das Schwarze Auge‘. Eching 1992 [Schmidt Spiel & Freizeit GmbH]. Lotman, Jurij M.: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Hg. von Klaus Städtke. Leipzig 1981. Mertens, Volker: Iwein und Gwigalois – der Weg zur Landesherrschaft. In: GRM 62, NF 31, 1981, S. 14-31. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher. München 1982 [zuerst 1928]. Schröder, Werner: Laudines Kniefall und der Schluss von Hartmanns Iwein. Stuttgart 1997 [=Akademie der Wissenschaften und der Literatur]. Stachowiak, Herbert: Allgemeine Modelltheorie. Wien 1973. Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1: Erklärung, Begründung, Kausalität. Berlin u.a. 21983. Titzmann, Michael: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 1977.

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Spiel und Schrift Nürnberger Fastnachtspiele zwischen Aufführung und Überlieferung 1. Die Aufführung als soziales Ereignis Seit den neunziger Jahren treten in der Wissenschaft „die bisher weitgehend übersehenen performativen Züge von Kultur in den Blick, die eine eigenständige Weise der (praktischen) Bezugnahme auf bereits existierende oder für möglich gehaltene Wirklichkeiten begründen und den erzeugten kulturellen Handlungen und Ereignissen einen spezifischen, vom traditionellen Text-Modell nicht erfaßten Wirklichkeitscharakter verleihen“. Inzwischen ist ein fest etablierter, Disziplinen- und Epochengrenzen überschreitender Forschungszweig entstanden, der sich den performativen Prozessen in Kunst und Kultur widmet und dabei textwissenschaftliche und performativitätsbezogene Fragestellungen und Analysemethoden zu vermitteln versucht. Wählt man einen solchen Zugang bei der Beschäftigung mit mittelalterlichen weltlichen Schauspielen, gilt es, erst in einem zweiten Schritt den soziologischen Spielbegriff, der die Beziehung von Normen, Regeln, Ritualen zu menschlichem Handeln in den Blick nimmt, zugrunde zu legen. Zunächst geben semantisches Spektrum und zeitgenössischer Gebrauch des mittelalterlichen ‚spil‘-Begriffs vielmehr Anlass, die Schauspiele nicht isoliert vom Kontext städtischer Theatralitätskultur insgesamt zu betrachten. Im Rahmen der Nürnberger Fastnacht – Ratsverlässe geben darüber Auskunft – ist ‚spil‘ bzw. ‚vasnacht spil‘ auf so verschiedene fastnächtliche Aktivitäten wie Läufe, Umzüge, Schautänze, -spiele, Possen und Strei  

Besondere Impulse hat die Forschung vom Berliner Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte erfahren. Das Zitat aus: FischerLichte: Ästhetik des Performativen, S. 36. Das semantische Spektrum des mittelalterlichen ‚spil‘-Begriffs umfasst Zeitvertreib, Scherz, Unterhaltung, Vergnügen sowie das Kampfspiel wie etwa das Turnier, das musikalische Spiel und das Schauspiel (vgl. Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 1091). Mit dem Begriff Theatralität, der die Gesamtheit städtischer schaustellerischer Aktivitäten umfasst, folgen wir Simon: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530, S. 296.

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che bezogen. Insbesondere implizieren beide Begriffe sowohl die verbale schaustellerische als auch die textliche, immer jedoch für die Aufführung bestimmte Dimension des Fastnachtspiels als volkssprachiges Theater. Fastnachtsvergnügungen, als deren eine ‚Spielform‘ sich das Fastnachtspiel etabliert hat, bieten der städtischen Gesellschaft die Gelegenheit zum Vollzug oder Nacherleben des inszenierten Rollenwechsels. Über die performative Strategie des Rollenwechsels in der Aufführung tritt insbesondere die enge Verknüpfung von Ästhetischem und Sozialem hervor. Oder genauer, wie Erika Fischer-Lichte formuliert: „Der Rollenwechsel […] bringt die scheinbare Dichotomie von Ästhetischem und Politischem zum Kollabieren. […] [E]r legt so offen und macht erfahrbar, dass in Aufführungen das Ästhetische immer zugleich politisch ist, dass eine Trennung der Bereiche nicht funktioniert.“ Eine weitere Möglichkeit, die enge Verbindung von Ästhetischem und Sozialem bewusst vor Augen zu stellen, besteht darin, „Überschreitungen der Grenzen von Moral und Logik, die als Tabubruch erlebt werden müssen“, auf der Bühne darzustellen. Man weiß aus der Theatergeschichte und aus den Auseinandersetzungen um das Gegenwartstheater, dass Tabuverletzungen auf der Bühne besonders heftige emotionale Wirkungen hervorrufen. Worin besteht der spezifische Zusammenhang zwischen Theatersituation und Tabubruch? Die soziale Dimension der Aufführung ist das verbindende Element. Spieler und Zuschauer handeln: Nicht nur der Spieler übernimmt im Augenblick die schmutzige Parole des Autors, […] das Perverse und die schlimmen Wünsche und stellt sie vor das Publikum hin. Auch der Zuschauer hat sich eingelassen. Die theatrale Situation ist eine der Verführung […]. Ein erotischer Tabubruch verführt, weil er das unanständige Versprechen darstellt, das gerade deswegen auf Ablehnung stößt, weil es ein unterdrücktes Begehren aktiviert.  

 



Vgl. Lenk: Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, S. 8-11, und vor allem Simon: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530, S. 295-302 (mit zahlreichen Belegen). Zu ‚vasnacht‘ als (in den Spielüberschriften gewählter) Gattungsterminus s. Simon: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530, S. 301. Den Terminus ‚vasnachtspil‘ bietet lediglich das Spiel KF 46 (die Zählung bezieht sich auf die Textausgabe: Keller: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, und gibt die jeweilige Spielnummer an): neben den Spielüberschriften aller vier Textzeugen überliefert ihn der Spieltext selbst (S. 351,10). Weitere Synonyme für die Art der Fastnachtbelustigung (kurczweyl, narrenweis etc.) bei Simon: Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 84. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 68. Lehmann: Ästhetik des Risikos, S. 95. Bis zu einem gewissen Grad ist auch das Theater der Gegenwart noch ein „sozialer Kunstort“ (ebd., S. 97), eine Form der „Selbstdarstellung der Gesellschaft“, eine Kunstform, die der Gesellschaft spielerisch den Spiegel vorhält: „Aus dem Verhältnis wechselseitiger Spiegelung resultiert die ambivalente Position des Theaters zwischen Bestätigungsritual und Gefährdung der sozialen Normen“ (ebd., S. 96 f.). Ebd., S. 98.

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Unsere These ist, dass diese vor allem im Blick auf die performative Ästhetik des modernen Theaters getroffenen Feststellungen – die direkte Interaktion von Spielern und Zuschauern, die Verschränkung zwischen Ästhetischem und Sozialem, die Inszenierung von Tabubruch und Obszönität – gerade die Anfänge des volkssprachigen Theaters im Spätmittelalter, insbesondere die frühen Nürnberger Fastnachtspiele, kennzeichnen. Was in unserem Jahrhundert erst ‚wiederentdeckt‘ werden muss (weil es von der Schriftkultur überlagert worden war), ist am Beginn der weltlichen deutschsprachigen Theatertradition im 15. Jahrhundert selbstverständlich gegeben. Die zentrale Schwierigkeit der Beschäftigung mit den Anfängen des weltlichen mittelalterlichen Theaters im deutschen Sprachraum besteht darin, dass wir zwar einige Texte haben, aus ihnen aber keine genauen Vorstellungen über die Spezifik der Aufführung gewinnen können. Dies gilt in besonderer Weise für die Fastnachtspiele, die uns in der frühen Zeit ausnahmslos in Lesehandschriften überliefert sind. Dennoch lassen sich begründete Aussagen auch über die Aufführung treffen. Wir gehen dabei von folgenden Prämissen aus: a) Die Fastnachtspiele thematisieren auf eine eigene Weise insbesondere solche Themen, die in der Auseinandersetzung über die städtisch-soziale Ordnung von Bedeutung waren. b) Das Spielgeschehen steht in enger Verbindung zum Kontext der Aufführung, d.h. es geht von fastnächtlicher Geselligkeit aus und führt dorthin auch wieder zurück. c) In den überlieferten (Lese-)Texten finden sich wenige, aber durchaus interpretierbare Hinweise auf die Aufführung. d) Sekundäre Zeugnisse über die Aufführungen sind uns nur sehr spärlich erhalten; sie dokumentieren überwiegend repressive Maßnahmen des Nürnberger Stadtregiments, aus denen die soziale Bedeutung der Spiele ersichtlich ist. Wir möchten im Folgenden zunächst wenige einführende Bemerkungen zum Fastnachtspiel, insbesondere zu dem in Nürnberg entwickelten Typus, vorausschicken (2), um anschließend die enge Verbindung von Aufführungskontext und Spielgeschehen beispielhaft darzustellen (3). Insbesondere an den Themenfeldern Ehe, städtischer Markt und Judenfeindlichkeit sollen dann einige Formen der fastnächtlichen Auseinandersetzung mit Prinzipien des sozialen Ordnungsdiskurses aufgezeigt werden (4). Diese Auseinandersetzung lässt sich im Kontext der Fastnachtspielaufführung als Inszenierung von Tabubrüchen verstehen (5). Abschließend versuchen wir exemplarisch herauszuarbeiten, welche Erkenntnisse uns die erhaltenen Texte über die Aufführung der Stücke vermitteln können (6).

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2. Der Texttypus ‚Nürnberger Fastnachtspiel‘ An den Tagen vor dem Beginn der österlichen Fastenzeit hat man an vielen Orten Spiele mit ganz unterschiedlicher Thematik aufgeführt, die wir heute unter dem Begriff der ‚Fastnachtspiele‘ fassen. Feste Spieltraditionen sind zuerst in Lübeck, Nürnberg und Eger, später dann in Tirol und in einigen alemannischen Städten bezeugt. Texte haben sich aus der Frühzeit nur ausnahmsweise erhalten. Anders ist das in Nürnberg. Aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind hier in etwa einem Dutzend Handschriften ca. 110-11510 Fastnachtspiele überliefert. Die Anfänge der Nürnberger Tradition dürften in die ersten beiden Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Die Überlieferung setzt aber erst gegen 1455 ein und endet noch vor der Jahrhundertwende. Im 16. Jahrhundert folgt dann nach einer deutlichen Zäsur eine in vielen Aspekten abweichende zweite Nürnberger Fastnachtspieltradition mit Hans Sachs als ihrem bedeutendsten Autor. Fast ausnahmslos sind die Spiele anonym überliefert. Die Nürnberger Stücke lassen sich jedoch in der Regel mit zwei namhaften Handwerkerdichtern in Verbindung bringen: mit Hans Rosenplüt und mit Hans Folz. Das Verzeichnis der Spiele in der ältesten Fastnachtspiel-Handschrift, der Münchener Handschrift M (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 714), trägt die Überschrift Vasnacht Spil Schnepers. Da die Handschrift zwischen 1455 und 1458, also noch zu Lebzeiten Rosenplüts, in Nürnberg geschrieben wurde, darf man daraus folgern, dass man ihm diese Spiele (es handelt sich um 49) damals zugerechnet hat.11 In jedem Falle bleiben bei diesen Zuweisungen von Spielen an Autoren Unsicherheiten. Ob man einer solchen Zuordnung jedoch nun im Einzelfalle folgt oder nicht: Man kann mit Sicherheit zwei Spielkomplexe unterscheiden, die man einerseits um Rosenplüt, andererseits um Folz gruppiert. Wie sieht ein Nürnberger Fastnachtspiel aus? Es umfasst in der frühen Zeit selten mehr als 250 Verse. Es beginnt mit einem Einschreier (auch Precursor genannt), der um Aufmerksamkeit für die folgende Darbietung bittet. Dann leitet er schon zu dem eigentlichen Spiel über. Ein Fastnachtspiel endet mit den Schlussworten des Ausschreiers; diese schließen das Spiel ab, laden zu Umtrunk und Tanz ein und kündigen den Aufbruch der Spielrotte, also der Darstellertruppe, an. 

Das Folgende nach: Ridder/Steinhoff: Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, S. 9-14 (Einleitung). 10 Die variierende Anzahl erklärt sich durch die unterschiedlich gehandhabte Bewertung einiger Spiele als selbständige oder parallel überlieferte ‚Fassung‘. 11 Wahrscheinlich ist dieses Corpus sogar noch um rund zwanzig Spiele zu erweitern, die außerhalb von M überliefert sind. Diese Spiele hat man Rosenplüt aufgrund von sprachlichen und metrischen Kriterien zugeschrieben.

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Die Spiele lassen sich zwei Grundtypen zuordnen: dem Reihenspiel, in dem die Spieler einer nach dem anderen ihren Text zu einem angekündigten Thema vortragen, ohne aufeinander Bezug zu nehmen, und dem Handlungsspiel, das eine zusammenhängende Geschichte zur Aufführung bringt, einen Schwank bietet oder eine kurze pointierte Begebenheit darstellt. Zwischen diese beiden Typen gibt es eine Fülle von Mischformen und Überschneidungen. Welche Figuren treten auf ? Die Bauern haben den Hauptanteil der Komik zu tragen. Ihre plumpe sexuelle Gier, ihr unflätiges Gebaren und ihre groteske Selbstüberschätzung werden demonstrativ zu Schau gestellt. Aber auch Vertreter des städtischen Bürgertums, vor allem Gelehrte, Juristen und Ärzte, bisweilen aber auch Ritter, werden verspottet. Frauen sind als bevorzugtes Sujet der männlichen Rede präsent. Sie werden mit Vorliebe als hemmungslos mannstoll denunziert oder wegen mangelnder Heiratserfolge mit Häme übergossen. Es kann aber auch der Typus der listig-überlegenen oder der betrogenen Ehefrau dargestellt werden. Eine besondere Gruppe bilden die Spiele, in denen Juden auftreten und aggressiv verlacht werden. Deutlich ist das Bestreben von Hans Folz, das Fastnachtspiel zu literarisieren und damit vielleicht aufzuwerten; sicher nicht zufällig sind mehrere teils kritische, teils herablassende Äußerungen von Folz über die Gattung Fastnachtspiel überliefert. Er erweitert den Umfang der Spiele, er vergrößert den theatralischen Aufwand (Aufführungshinweise, Requisiten etc.), er richtet die Stücke stärker didaktisch aus und er bezieht stärker religiöse Themen ein.

3. Aufführungskontext und Spielgeschehen Fastnachtspiele sind Einkehr- und Stubenspiele. D.h., es existiert kein fester Aufführungsort oder eine Bühne. Man spielt an den Abenden der Fastnachtszeit in den Gasthäusern oder in den Sälen von Nürnberger Bürgerhäusern. Man spielt also vor dem etablierten stadtbürgerlichen Publikum aus Handwerkern und Kaufleuten, vielleicht auch vor Patriziern. Geleitet von einem Spielführer fällt eine Spielrotte in die feiernde Fastnachtsgesellschaft ein und schafft sich eine kleine Spielfläche. Der Einschreier begrüßt den Hausherrn („wirt“) und seine Gäste. Er stellt das Thema und die einzelnen Rollen vor. Damit hat das Spiel schon begonnen. Kulissen gibt es keine, allenfalls bei den späteren Stücken. Die Gruppe verschwindet, wie sie gekommen ist. Man tritt rasch an einem weiteren Spielort auf. Ein Beispiel – der Beginn der Disputation von Hans Folz (KF 1) – soll illustrieren, wie die Spieltruppe des sogenannten Einkehrspiels unter intensiver Bezugnahme auf das Publikum einen Rahmen für die Aufführung schafft. Insbesondere gibt sie konkrete Anweisungen, „wie die Stube in ein

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Kammertheater zu verwandeln sei“12 und wie die Zuschauer sich verhalten sollen: Der erste Sprecher („Der erst pawr“) in der Funktion des Einschreiers fordert dazu auf, Raum zu schaffen sowie Polster und Kissen von den Bänken zu nehmen und Stühle und Bänke zusammenzurücken, damit die Zuschauer sich darauf stellen können.13 Weiterhin mahnt er – keineswegs nur formelhaft – zur Ruhe: Wer durch Geschwätz stört, soll den Raum verlassen.14 Außerdem kündigt er das Spielthema an, nämlich eine Disputation über das alte und das neue Testament („die alt vnd die new ee“).15 Die Gegenüberstellung des christlichen und des jüdischen Glaubens zielt darauf ab, die ‚verstockten‘ Juden zu verhöhnen. In der Rede des folgenden Sprechers („Ein ander redner“) wird ungebetenen Gästen der Platzverweis angedroht,16 was man bereits als Moment der Abgrenzung gegenüber unerwünschten Personen auffassen kann. Außerdem wird wiederum Geschwätz untersagt und dazu aufgefordert, bissige und bellende Hunde hinauszujagen.17 Dieser Abgrenzungsgestus wird weitergeführt, indem der Sprecher 12 13 14 15 16 17

Simon: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530, S. 312. „Weycht ab, tret vmbe vnd raumet auff, Ee man euch blupffling vberlauff, Vnd alles, das durch einander rutt, Vnd nicht darzu den wein außschut. Hebt von den pencken polßter vnd kussen, Das jr geschant werd mit den fussen. Tragt kind vnd wiegen als vom weg, Das nit jr ains ein plossen leg. Ruck stül vnd penk als auff ein ort Vnd, das dest pas werd zugehort, So stet darauff vnd spitzt die oren“ (Z. 3-13). Der Text wird zitiert nach der Transkription (mit eingeführter Zeilenzählung) der Handschrift G (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 18.12. Aug. 4o , Bl. 1r-2r). „Vnd seyt still hinden, neben vnd foren. Dann wer sein mawl alltzu vil wer peren, Must man den wegk zu der tur auß leren.“ (Z. 14-16) „Des reg sich keins von seiner stat, Dann wo man nit recht ordnung hat, Do wirt kunst vnd vernufft gespart, Des braucht weißheit vnd rechte art, Des leßt die alt vnd die new ee Euch kunden gar mit grosser fle.“ (Z. 17-22) „Jr herren, noch eins ist hie zu kunden: Ob etlich bey dem schimpff hie stunden, Die her weren kumen vngebeten Vnd vns zu nahend würden treten, Dieselben wurd ich dannen weysen, Das sie der kurtzweil nit vast breÿsen. Darumb ge keiner zu nahet bej, Der nit zum spil gewidemt sej,“ (Z. 24-31) „Vnd hab niemant kein geschwetz da hindten, Vorauß wo zweÿ einander finden,

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dazu aufruft, die Türen zu schließen und keinen mehr hereinzulassen, wenn fremde Gäste und Ortsansässige beisammen seien.18 Der nun auftretende Hofmeister exponiert das Thema und die Struktur des Stücks, während die nächste Redepartie (überschrieben mit „Der juden clag“) das Wort an den Hausherrn und die anwesenden „weisen Herren“ richtet und so aus dem Rahmen in die ‚Spielrealität‘ überleitet. Das Beispiel verdeutlicht, dass die Aufführung Teil des allgemeinen Fastnachtsvergnügens ist. Ihre spezifische Form ist im Zusammenhang mit ihrer Einbindung in die Festpraxis zu sehen. Was dargeboten wird, fügt sich in das Fastnachtstreiben ein und soll zu ihm beitragen: durch Verlachen und Belachen, in der frühen Phase durchaus lustvoll-anarchisch und bisweilen auch kritisch, erst im Zuge der verschärften Reglementierung durch den Rat allmählich durch didaktische Absichten gezähmt und eben damit zugleich auch aggressiver gegenüber den verspotteten Minderheiten.

4. Soziale Ordnung und fastnächtliche Verkehrung Über welche Gegenstände handeln die Spiele? Die Spiele beschränken sich auf wenige stetig wiederkehrende Themen. Fast immer geht es um die Bereiche des Sexuellen, Obszönen und Fäkalen, jedoch auch religiöse (Antichrist etc.) oder literarische (Artusstoff und heldenepische Stoffkreise: Dietrichepik) Themen werden abgehandelt. In fastnächtlicher Verkehrung kommen jedoch fast immer Dinge zur Sprache, die für das städtische Zusammenleben und die soziale Ordnung bedeutsam waren: Sexualität und Körperlichkeit, Geschlechterverhältnis und Ehe, ständische Ordnung und Konflikte, soziale und religiöse Ausgrenzung, regionaler Markt und (Fern-)Handel, Stadt- und Reichspolitik. Drei Themenfelder seien im Folgenden knapp umrissen. Am häufigsten wird das Thema Ehe verhandelt. Zum einen geben Geschlechterbeziehungen in nahe liegender Weise Anlass für fastnächtliches 18

Die etlich zeit weren vmb geschloffen, Piß sie einander haben troffen. Vnd das man auch die hund auß jag, Das kainer an keim pein nit nag Oder mit pellen so vngestum sej, Das keiner seins worts nit hor dabej.“ (Z. 32-39) „Wann fremd vnd kund gesamelt sein, So sperrt zu vnd laßt niemant herein. Ob yemantz pulschalffthalb herein kem, Der hab dabej ein kleine schem Vnd nem jm nit zu gach der sach, Das er kein sunder auffrür mach. Seit still, was ewr sej jm hauffen, Ee wir an ends daruon selbs lauffen.“ (Z. 40-47)

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Sprechen über Sexuelles und Obszönes. Zum anderen war in Nürnberg nur Meistern, nicht aber Handwerksgesellen, erlaubt zu heiraten. Doch das verstärkte Auftreten der Ehethematik in ganz unterschiedlichen Spieltypen (z.B. die Heirat im bäuerlichen Milieu; die Gerichtsverhandlung mit ehelichen Verfehlungen; die Beratungssituation, die Bedingungen der Ehe diskutiert; die Rügesituation, die nicht erfolgte Eheschließungen anprangert) kann man damit noch nicht hinreichend erklären. Ehe wird im Fastnachtspiel wohl vor allem deshalb zu einem Leitthema, weil sich hier ein breites Spektrum für die Anwendung des Prinzips der fastnächtlichen Verkehrung bietet: Ehe als Institution und normatives Modell des Rollenverhältnisses von Mann und Frau wird Gegenstand des inszenierten Normbruchs.19 Lokalpolitische Themen bilden etwa den Hintergrund für Handwerker- und Marktschreier-Spiele: Auf einem städtischen Jahrmarkt bieten Bauern und Handwerker Ware zum Verkauf an, deren Qualität zweifelhaft erscheint. Die Waren werden von den Produzenten übermäßig angepriesen und im Gegenzug durch die interessierten Käufer bzw. konkurrierenden Marktschreier im gleichen Maße verunglimpft. Im Fastnachtspiel ermöglichen die feilgebotenen Erzeugnisse in erster Linie skatologische und sexuelle Konnotationen. Durch die Einbindung in bäuerlich-städtische Handelsstrukturen geraten diese Spiele aber auch zum Demonstrationsfeld unlauteren Konkurrenzverhaltens. Dabei evozieren die Mechanismen von List, Betrug und Gegenlist komische Effekte. Mit der Markt- und Handelsszenerie greifen die Fastnachtspiele ein terminlich wiederkehrendes Ereignis (im Jahreslauf) auf, das die mittelalterliche Lebensform wesentlich bestimmt: Der regelmäßige Markttag trug erheblich zur Existenzsicherung der Bauern bei, und auch die Stadtbürger waren auf die landwirtschaftliche Produktion angewiesen. Diese seltenen Zusammentreffen der Bauern, Handwerker, Patrizier und Kaufleute aus Stadt und Region besaßen zudem hohe soziale Bedeutung.20 Darüber hinaus gewinnt dieser Spieltyp seinen besonderen performativen Charakter durch eine Reihe lokaler Bezüge (Nürnberger Wirtshäuser, Gassen u.a.), die, für den modernen Rezipienten nur mehr schwer zu entschlüsseln, für das spätmittelalterliche Publikum ein ganzes Kaleidoskop engerer und weiterer Bezugsfelder zu seinem alltäglichen Lebenshintergrund entworfen haben. Antijüdische Traditionen werden in nur relativ wenigen Nürnberger Fastnachtspielen verhandelt (zwei im Rosenplüt-Corpus; drei bei Hans Folz). Die Vehemenz der überaus drastisch verbalisierten Judenfeindlichkeit – von Judenverhöhnung bis hin zur (Auf-)Forderung ihrer Vertreibung – spiegelt jedoch den hohen Grad der Judenfeindlichkeit im spätmittelalterlichen Nürnberg wider. Insbesondere die oben genannte Disputation (KF 1) 19 Vgl. dazu Ragotzky: pulschaft und nachthunger, S. 443. 20 Vgl. Holtorf: Markttag – Gerichtstag – Zinstermin.

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und die Spiele Der Juden Messias (KF 20) sowie Kaiser Constantin (KF 106) sind wohl damit in Zusammenhang zu sehen, dass Hans Folz seit 1474 durch die Inszenierung judenfeindlicher Stereotypen und Hassreden den in der eigenen Offizin gedruckten Spielen zu größerem Absatz verhelfen wollte. Damit trifft Folz genau die politischen Anliegen des Rates der Reichsstadt Nürnberg, dem 1498 Kaiser Maximilian I. die erbetene Ausweisung der in Nürnberg lebenden Juden aus der Stadt gewährte.

5. Aufführung und Tabubruch Das demonstrative Verletzen bestehender Tabus ist nicht erst seit der Moderne eine Form, mit der man die Normalität des Alltags zu transgredieren versucht. Auch die Fastnacht ist tendenziell ein Fest der Entgrenzung. Für eine beschränkte Zeit ist eine Vielzahl von bestehenden Tabus in der Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Die Spiele bringen den sexuellen Tabubruch mit aller Selbstverständlichkeit auf die Bühne, indem in immer neuer Variation Sexuell-Obszönes in immer neuen Metaphern thematisiert wird. Nur indirekt kommt das Bewusstsein zum Ausdruck, etwas Unschickliches und Obszönes zu präsentieren. Die Ein- und Ausschreier der Stücke fordern das Publikum auf, die Schauspiel-Perspektive (sich vollständig triebhaft-körperlichen Dingen zu überlassen) auf die lebensweltliche Feier der Fastnacht zu übertragen. Die auf der Wirtshausbühne ohnehin fließenden Grenzen zwischen Spielgeschehen und Zuschauerrealität werden kalkuliert übersprungen. Auf diese Weise konstituiert sich in der Aufführungssituation eine Spannung zwischen der inszenierten Welt des legitimiert-selbstverständlichen Tabubruchs und der Welt des realen Fastnachtsgeschehens. Die Spiele arbeiten an der Institutionalisierung des Tabubruchs, indem sie Tabuverletzungen performativ als Recht der Fastnacht ausdeuten und zugleich institutionelle Zensurmaßnahmen des Nürnberger Stadtregiments21 in ästhetische Strategien transformieren. Der Tabubruch wird zum Symbol für die verkehrte Welt der Fastnacht, macht jedoch zugleich elementare Grenzen des sozialen Zusammenlebens bewusst. Tabu und Tabubruch der Sexualität erweisen sich als zwei Seiten eines ordnungspolitischen Diskurses, der in den Spielen mit erkennbarer Lust an Gewalt, Denunziation und Ausgrenzung geführt wird.

21 Die Auffassung der Texte von der Fastnacht als einem permanenten Tabubruch

(und wohl auch die Aufführungspraxis der Stücke) hat entsprechende Gegenreaktionen ausgelöst (zu den durch den Rat der Stadt Nürnberg erlassenen Zensurmaßnahmen s.u.).

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6. Text und Aufführung Die frühen Nürnberger Spiele sind nur handschriftlich überliefert, hauptsächlich in Sammelhandschriften. Die meisten Spiele sind nur einmal bezeugt, wenige mehrmals, eines in insgesamt sieben Handschriften. Die Stücke von Hans Folz und Hans Sachs sind auch druckschriftlich, und zwar in Einzeldrucken mit jeweils einem Titelholzschnitt, überliefert. Die Handschriften, die Spiele enthalten, wurden nach ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten angelegt: nach dem Autorgesichtspunkt oder auch unter dem Gattungsaspekt. Außerdem finden sich Einzeleinträge in thematisch anders ausgerichteten Sammelhandschriften. In einigen Fällen ist es sogar vermutlich so, dass Drucke wiederum handschriftlich abgeschrieben wurden. Dass diese Handschriften auch als Textgrundlage einer Aufführung gedient haben, ist eher unwahrscheinlich. Es handelt sich vielmehr um Lesehandschriften. Für die Aufführung hat man sich wohl eine Abschrift genommen und das Stück für die konkrete Aufführung dann zugeschnitten.22 Einige Überschriften lassen erkennen, dass die Texte zur Lektüre bestimmt waren. Dort heißt es dann beispielsweise „gut zu lesen“. In der Spaunschen Handschrift legt dagegen die z.T. von ihm selbst vorgenommene Hervorhebung von Regieanweisungen und Schlagversen nahe, dass seine Sammlung auch als Textfundus für Aufführungen gedacht war. Was wissen wir über die Aufführungspraxis der frühen Nürnberger Spiele? Insgesamt sehr wenig. Wie man sich die Aufführungen zu denken hat, darüber finden sich ab 1474 einige Nachrichten in den Ratsverlässen der Stadt Nürnberg. Man versucht, das Über-die-Stränge-Schlagen durch Verbote von Masken für die Spieler zu unterbinden. Ausdrücklich wird ebenfalls verboten, für Geld zu spielen. Freiwillige Trinkgelder waren dagegen erlaubt. Das Meiste aber ergibt sich aus den Spielen selbst, vor allem aus den Einschreier- und Ausschreier-Strophen sowie aus Regiebemerkungen, die aber nur selten über die bloße Nennung der Sprecher hinausgehen. Ins22 Systematisch hat der Augsburger Kaufmann Claus Spaun Fastnachtspiele gesammelt. Der von ihm angelegte Kodex, der heute in Wolfenbüttel aufbewahrt wird (Herzog-August Bibliothek, Cod. Guelf. 18.12 Aug. 4o), enthält 66 Nürnberger und drei Tiroler Fastnachtspiele, das sogenannte Große Neidhartspiel sowie einige Reimpaarsprüche. Bei dieser Hs. handelt es sich somit um die umfassendste Sammlung von Fastnachtspielen überhaupt. Spaun hat die Hs. jedoch nicht allein geschrieben, sondern insgesamt sind fünf Schreiber beteiligt. Einen Teil der Spiele hat Spaun jedoch eigenhändig korrigiert und rubriziert. Außerdem hat er Spielanweisungen eingefügt und ein Register erstellt. Als Besitzer von Fastnachtspiel-Handschriften haben sich neben Spaun und Folz einige Angehörige des wohlhabenden Nürnberger Stadtbürgertums ermitteln lassen. Durchweg handelt es sich um nicht sehr aufwendig gestaltete Gebrauchshandschriften im gängigen Quartformat.

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gesamt lassen sich den Texten Informationen bezüglich Ort und Art der Bühne, Anzahl und Bezeichnung der Sprechrollen, Regieanweisungen, Requisiten, Kostümen, ‚Selbstaussagen‘ der Spieltruppe und Formen der Aktualisierung des Sprechtextes (abhängig vom konkreten Spielanlass, -ort etc.) entnehmen, die Hinweise auf die Aufführung geben können. Einige Beispiele sollen dies illustrieren. Ungewöhnlich reich an (zum Teil recht detaillierten) Regieanweisungen ist das erwähnte, besonders judenfeindliche Stück Der Juden Messias von Hans Folz (KF 20). Es wird z.B. genau angegeben, wann Requisiten – hier ein Glücksrad – auf die Bühne gebracht und wann wieder entfernt werden sollen („Hie get ein das gluckßrat vnd des fursten figur stet oben vnd des messias vnden“ [Z. 224], „Sie nemen das gelucksrad mit in“ [Z. 633]). Auffällig erscheint auch die Anweisung, dass die Figur des Messias nach dem Trunk anzuschwellen und umzufallen hat („Hie enpheht messias das trincken vnd dicit“ [Z. 290], „Messias trinckt, laufft auff vnd geschwilt vnd fellt hin“ [Z. 303)]. Wie das Anschwellen bewerkstelligt werden sollte, ist nur schwer nachvollziehbar. Andere Requisiten sind, je nach Spielthema, beispielsweise Harngläser und Salbengefäße im so genannten Arztspiel, ein großer Dreckhaufen in einem skatologischen Spiel oder Krone und Mantel für die Tugendproben in Spielen (KF 80 und KF 81), in denen das Anlegen dieser Gegenstände eheliche Treue erweisen soll. In diesen Stücken dienen die Requisiten nicht nur, wie in den meisten anderen Spielen, zur Ausschmückung der Handlung, sondern hier lösen sie den komischen Konflikt aus bzw. bringen ihn sichtbar zum Ausdruck. Insgesamt sind die Requisiten sehr einfach gehalten, was sich aus der Aufführungssituation der Einkehrspiele erklärt. Ebenso schlicht muss man sich wohl auch die Kostümierung vorstellen, über die wir aus den überlieferten Texten nur wenig erfahren. Belegt sind beispielsweise Büßergewänder zur Kennzeichnung bestimmter Rollen. Was die Formen der Aktualisierung betrifft, sind insbesondere Einund Ausleitung der Spieltexte von Interesse, das heißt die Ein- und Ausschreierreden jeweils zu Beginn und zum Schluss der Stücke. Hier wird ein Bezug zum Publikum (vgl. oben auch das Beispiel Die Disputation) dadurch aufgebaut, dass die Ankunft der Spielrotte angekündigt, das Publikum um Ruhe gebeten und so die (tatsächliche) Einkehrsituation zugleich zur (fingierten) Spielsituation wird, oder aber das Spielgeschehen abschließend in die Fastnachtsrealität zurückgeführt wird. Diese Funktion übernehmen häufig Anspielungen auf Nürnberger Gegebenheiten, entweder Lokalitäten, wie z.B. Wirtshäuser und Gassen, oder sogar bestimmte Personen. Dies zeigt beispielsweise das Stück Das Chorgericht I (KF 42): Hört ÿr yemantz, der nach vns frag, Den weist zum Hanns Witzig ein. (247 f. nach Hs. M)

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In zwei Handschriften (Kb, Ga) findet sich die Lesart N (= nomen) für Hanns Witzig. Dies lässt auf eine Ausrichtung des Spieltextes auf die Verwendung in der konkreten Aufführungssituation schließen, in der ein aktuell gewählter Personenname eingesetzt werden sollte. Über die Herstellung eines Bezugs zum Publikum mittels einer lokalen Bezugsgröße hinaus wird durch ein solches Realitätsmoment ein komischer Effekt erzeugt und mithin verdeutlicht, dass die fastnächtlich verkehrte Welt in der realen Welt fest verankert ist. Zugleich stellt das Beispiel ein für das Genre typisches Versatzstück dar. Im Rahmen der Aktualisierung der Texte im jeweiligen Aufführungszusammenhang konnten bestimmte Textteile – vorzugsweise ganze Redepartien, aber auch einzelne Verse (wie im genannten Beispiel) –, begünstigt durch thematische Überschneidungen der Stücke, relativ flexibel in das aktuelle Spiel eingebaut oder aber auch weggelassen werden.23

7. Resümee „In den frühen sechziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] setzte in den Künsten der westlichen Kultur generell und unübersehbar eine performative Wende ein“. Dies trifft nicht nur das Theater, auch in bildender Kunst, Musik, und Literatur ist die Tendenz erkennbar, sich in Aufführungen zu realisieren. Hier kommt wieder etwas in Bewegung, was sich seit dem 17./18. Jahrhundert zu einer „separierenden Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetik“24 ausdifferenziert und verfestigt hatte. Die Einheit von Publikum, Bühne und Darstellern ist dem Fastnachtspiel des Spätmittelalters selbstverständlich. Die Aufführung vollzieht sich in engstem Kontakt zu den Zuschauern. Die Spieler sprechen die Zuschauer an, gehen (vermutlich) unter sie, werben um Wohlwollen (und indirekt wohl auch um Entlohnung), fordern am Schluss der Stücke zu Musik und Tanz auf. Der enge Nexus von Spielern und Publikum zeigt sich ebenso in der Art der Bühne (Wirts-, Privathaus), in den Formen der Aktualisierung der Stücke (Nürnberger Ortsspezifika) und vor allem in der Einbindung des Spielgeschehens in das fastnächtliche Treiben. Mit der engen Interaktion von Spielern und Zuschauern korrespondieren die Themen des Fastnachtspiels. Es sind überwiegend lebensweltlich-sozial bedeutsame Themen, die zur Sprache kommen. Die inszenierte Aktualität des Fastnachtspiels ließ sich daher auch politisch instrumentali-

23 Auch dieser Befund ist der Überlieferung zu entnehmen: In den Hss. finden sich ein und dieselben Versatzstücke in verschiedenen Spielen. 24 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 22.

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sieren, „das Fastnachtspiel als publizistisches Medium einsetzen“.25 Hans Rosenplüt steht mit Des Türken Fastnachtspiel (KF 39) am Beginn der Tradition des politischen Fastnachtspiels, Hans Folz hat sie mit antijüdischen Dramen fortgesetzt, in der Reformationszeit sind Fastnachtspiele Artikulationsform in Glaubenskämpfen. Aus der Einbindung der Aufführung in die Feier der Fastnacht, aus der engen Interaktion zwischen Zuschauern und Spielern, aus der Art der Spielorte (Wirts-, Privathäuser) und der Form der Aufführung (Einkehr- bzw. Stubenspiel) erklärt sich daher zum einen der bevorzugte Darstellungsmodus der verhandelten Themen (Tabubruch), zum anderen die Einfachheit der theatralen Inszenierung (Regieanweisungen, Requisiten etc.).26 Zu bedenken ist allerdings, dass die Handschriften die Spiele als Lesetexte aufzeichnen; unter Umständen verzichtet man hier auf aufführungsrelevante Informationen, die in einer für die Aufführung bestimmten Handschrift ihren Platz gefunden hätten. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Aufführung (und nicht die stille Lektüre) noch für eine lange Zeit der ästhetisch-soziale Ereignisrahmen der Bedeutungserfahrung volkssprachiger Literatur bleibt.

Literatur Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Holtorf, Arne: Markttag – Gerichtstag – Zinstermin. Formen von Realität im frühen Nürnberger Fastnachtsspiel. In: Klaus Grubmüller u.a. (Hg.): Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Tübingen 1979, S. 428-450. Keller, Adelbert von: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 3 Teile und Nachlese. Darmstadt 1965-1966 [zuerst Stuttgart 1853-1858]. Lehmann, Hans-Thies: Ästhetik des Risikos. Notizen über Theater und Tabu. In: Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, S. 93-101. Lenk, Werner: Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Theorie und zur Interpretation des Fastnachtspiels als Dichtung. Berlin 1966 [Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur: Reihe C, Beiträge zur Literaturwissenschaft 33]. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig 1872-1878.

25 Simon: ‚De scheve klot‘, S. 202. 26 Was hier nur beispielhaft dargestellt werden konnte, ist in systematischer Weise auf der Grundlage aller überlieferten Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts zu leisten. Dieses Corpus wird in dem von Klaus Ridder und Martin Przybilski geleiteten DFG-Projekt Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele (an den Universitäten Tübingen und Trier) nach modernen editionsphilologischen Standards neu ediert und erstmals umfassend wissenschaftlich kommentiert, so dass die Analyse aufführungsbezogener Elemente auf einer verlässlichen Textgrundlage durchgeführt werden kann.

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Ragotzky, Hedda: pulschaft und nachthunger: Zur Funktion von Liebe und Ehe im frühen Nürnberger Fastnachtspiel. In: Hans-Jürgen Bachorski (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Trier 1991, S. 427-446. Ridder, Klaus; Steinhoff, Hans-Hugo (Hg.): Frühe Nürnberger Fastnachtspiele. Paderborn u.a. 1998 [Schöninghs Mediävistische Editionen 4]. Simon, Eckehard: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530. Untersuchung und Dokumentation. Tübingen 2003 [MTU 124]. Simon, Eckehard: ‚De scheve klot‘ (Hildesheim 1520). Ein politisches Fastnachtspiel in multimedialer Inszenierung. In: Jürgen Jaehrling u.a. (Hg.): Röllwagenbüchlein. Festschrift für Walter Röll zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 187-203. Simon, Gerd: Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronik der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik). Lübeck, Hamburg 1970 [Germanische Studien 240].

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Auctor ludens Der Topos des spielerischen Schreibens in poetologischen Paratexten unterhaltender Literatur im Renaissance-Humanismus und in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit 1. Einleitung „[…] neque accurata diligentia, sed leuiter ludendo conscripte“, ‚nicht mit penibler Sorgfalt, sondern leichthin spielerisch verfasst‘ seien seine beiden Comoedie utilissime, behauptet Joseph Grünpeck 1497 im Widmungsbrief zum Druck der beiden Stücke. Heinrich Bebel verteidigt seine freizügige Witzsammlung Facetiarum libri tres (1508-1512) im Widmungsbrief zum zweiten Buch mit einer ausdrücklich im Menschsein verankerten Berufung auf das Spielerische: „Ich bin ein Mensch, ich lache zuweilen, ich scherze, spiele und kümmere mich nicht darum, welches Urteil amusische und bäurische Menschen sich über meinen Lebenswandel bilden mögen“. Im Widmungsbrief zum dritten Buch fordert er für die „Spielereien und Scherze“ seines Buches eine Schreibweise, die der „Heiterkeit und Eleganz, nicht dem Ernst oder der Schwierigkeit“ dient. Als „ingenii nostri lusum“ (‚Spielerei unseres Geistes‘) bezeichnet auch Erasmus von Rotterdam im Widmungsbrief an Thomas Morus sein Morias encomion sive laus stultitiae (1508): Dieses habe er im Sattel verfertigt, zu einer Zeit, die „für eine ernste Beschäftigung  

  

Grünpeck: Comoedie utilissime, Bl. a ijv. Sofern nicht anders angeführt, stammen Übersetzungen aus dem Lateinischen von mir. Dietls Verständnis dieser Passage, die in ihrer grundlegenden Studie gestützt auf die zitierte Stelle ausführt, Grünpecks Komödien seien „nicht als Studien-, sondern als Aufführungstexte gedacht“ (Dietl: Dramen, S. 181), wird durch die Gegenüberstellung ‚accurate diligentia‘ – ‚leviter ludendo conscribere‘ widerlegt. Meine Übersetzung von Bebel: Facetien, S. 46, Z. 35-38: „homo sum, rideo aliquando, iocor, ludo nec curo, qualem de moribus meis existimationem faciant amusoteri et rusticani homines“. Vgl. ebd., S. 104, Z. 52-55: „fastidiosum esse imprimis dure difficulterque scribere lusus et iocos, cum omnia ibi hilaritati et urbanitati, non serio aut difficultati servire debeant.“ Ver­ glichen ist die Übersetzung Manfred Fuhrmanns in: Bebel: Fazetien, S. 205. Erasmus: Morias encomion, S. 2.

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ungeeignet schien“, und daher „erschien“ es „angemessen, scherzweise eine Lobrede auf die Narrheit zu verfertigen“ („Moriae encomium ludere“). Zu berücksichtigen ist bei diesen und anderen lateinischen Zeugnissen einer spielerischen Schreibweise, die Grünpecks Ausdruck „leuiter ludendo conscri[bere]“ idealtypisch repräsentiert, dass das Verb ‚ludere‘ schon im klassischen Latein übertragen u.a. sowohl „schäkern, scherzen, Possen treiben“ als auch „spielend oder zum Zeitvertreib etwas verfertigen, etwas treiben, sich in etwas üben“ heißen kann. Die transitive Verwendung des Verbs ‚ludere‘ kann sich im Lateinischen (im Gegensatz zum deutschen ‚spielen‘) daher auch auf das Verfassen literarischer Werke erstrecken. Ebenso ist auch das Substantiv ‚ludus‘, ähnlich wie das mittelhochdeutsche ‚spil‘, von dem die Germanistik die Bezeichnungen ‚Weltliches‘ und ‚Geistliches Spiel‘ für das Drama des Mittelalters ableitet, bereits in klassischer Zeit in der Bedeutung „Scherzspiel“ und „Satire“, mithin bezogen auf literarische Texte, belegt. Mir geht es im Folgenden um Belege eines Bewusstseins einer spielerischen Schreibweise in lateinischen und deutschen Texten des späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (etwa 1400-1600) besonders von Autoren mit humanistischem Selbstverständnis, um explizite poetologische Aussagen von Dichtern über ihr Werk, die das Verständnis von Literatur, zumal unterhaltender, als eine Form des Spiels bezeugen. ‚Spiel‘ soll hierbei allgemein als „[z]weckfreies, aber regelgeleitetes Tun“ verstanden werden, das „begleitet wird von […] einem Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘“.10 Das Adjektiv ‚spielerisch‘ wird demgemäß in der Bedeutung ‚zweckfrei, aber regelgebunden‘ verstanden und bezeichnet eine andernorts als ‚ludisch‘11 oder ‚lusorisch‘ bezeichnete Qualität von Literatur. Herkunft und zentrale Stationen der Tradition des Arguments einer „literaturtheoretische[n] Verwendung des Spielbegriffs“ hat Matuschek in seiner wegweisenden Untersuchung zur „literarische[n] Spieltheorie“ skizziert,12 ohne angesichts der Vogelperspektive, die seine Studie aufgrund des untersuchten Zeitraums notwendigerweise einnehmen muss, nach Literatursprachen, Regionen oder Gattungen differenzieren zu können. Die vor

Ebd., S. 2. Im Kontext: „Ergo quoniam omnino aliquid agendum duxi, et id tempus ad seriam commentationes parum videbatur accomodatum, visum est Moriae Encomion ludere.“  Alle Zitate Georges: Handwörterbuch, 2. Bd., Sp. 720 s.v. ‚ludo‘. Die transitive Bedeutung ‚etwas zum Zeitvertreib hervorbringen‘ liegt Erasmus’ Begriffsverwendung „Moriae Encomion ludere“ (Erasmus: Morias encomion, S. 2) zugrunde.  Ebd., S. 721.  Anz: Spiel, S. 469. 10 Huizinga: Homo ludens, S. 37. 11 Müller: Literarische und andere Spiele, S. 311. 12 Matuschek: Spieltheorie, Zitat S. 11. Zu den dort herangezogenen Autoren des Humanismus und der frühen Neuzeit gehören Petrarca, Salutati, Rabelais, Speroni (der erste Theoretiker des literarischen Spiels), Tesauro, Tasso, Bargagli, Sorel und Harsdörffer.

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liegende Skizze versteht sich als Ergänzung zu dieser Untersuchung, die die Vorstellung von Literatur als Spiel im oben bestimmten Sinn, genauer: das Argument einer spielerischen Schreibart differenziert nach Gattungen untersucht und besonders Zeugnisse aus der zweiten und dritten Reihe der Literatur im deutschsprachigen Raum zwischen 1400 und 1600 vorstellen will. Sie ist Matuscheks Programm einer „historische[n] Semantik des Spiels“ verpflichtet und stellt einige weitere Mosaiksteine des Weges vor, auf dem „die Literatur dieses Wort zur Selbstreflexion ausbildet“.13 Zugleich wird ein Seitenstück zu einer Geschichte der Vorstellung einer rekreativen, dem allgemeinen (geistigen wie körperlichen) Wohlbefinden dienenden, gleichsam bekömmlichen Wirkung von Literatur vorgestellt,14 die ihrerseits Teil einer umfassenden Ideengeschichte der Erholung (‚recreatio‘) ist.15 Für eine solche können auch in nicht-humanistischen volkssprachigen Texten unseres Untersuchungszeitraums wortgeschichtlich relevante Belege angeführt werden. So empfiehlt Hans Folz in seinem Pestregimen (1482) neben anderem Zeitvertreib „Spil, singen und sünst eugelweyd // von künsten, ystorien sagen // Seytenspyl, vogeln, peyssen, und jagen“ als indirekt gesundheitsfördernde Mittel gegen „unmut“.16 Diese Aussage hat zwar in ihrer Information über die Unmut und Krankheit vertreibende Wirkung des Geschichtenerzählens („ystorien sagen“) poetologische Relevanz,17 doch betrifft diese gerade nicht das ‚spil‘, dessen konkrete Bedeutung (Kartenspiel?) im Kontext unklar bleibt.

2. ‚Spiel‘ als Argument einer apologetischen Paratext-Poetik Das Postulat einer dem Spiel verpflichteten Schreibart, das eine Berufung auf den Ursprung des Bedürfnisses nach Spiel und Scherz in der menschlichen Natur einschließen kann, gehört seit der Rezeption des RenaissanceHumanismus im deutschen Sprachbereich, d.h. seit etwa 1450, zum Arsenal einer apologetischen Poetik, die in reflexiven Paratexten (Vorreden, Widmungsbriefen und -gedichten) zu verschiedenen Gattungen der niederen, unterhaltenden oder ernst-heiteren Schreibart das eigene Schreiben rechtfertigt. Der lateinischen Literatur kommt dabei (im deutschen Sprachbereich wie vermutlich in anderen europäischen Literaturen) die Priorität vor der volkssprachigen zu. Zu berücksichtigen ist, dass die durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Typen (um 1450) begünstigte Entstehung 13 14 15 16 17

Beide Zitate ebd., S. 23. Vgl. dazu v.a. Olson: Literature as Recreation; Wachinger: Erzählen für die Gesundheit. Vgl. Arcangeli: Recreation in the Renaissance. Fischer: Reimpaarsprüche, Nr. 44, V. 132-135. Vgl. dazu Wachinger: Erzählen für die Gesundheit, S. 6 f.

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des Paratexttyps des Widmungsbriefs18 im italienischen Humanismus eine neue Intensität und Qualität der werkbezogenen Produktionsästhetik gegenüber der zumindest im deutschen Sprachraum zumeist in Prologen und Exkursen entfalteten expliziten Poetik der volkssprachigen Literatur des Mittelalters ermöglicht.19 Für zwei Gattungen der niederen, unterhaltenden Literatur, für die Fazetie und die Komödie, soll die Rezeption dieses Arguments exemplarisch illustriert werden.

3. Topizität dieses Arguments Vorausschickend ist zu konzedieren, dass sich die Poetik der Widmungsbriefe und anderer reflexiver Paratexte kaum je in gänzlich origineller Argumentation entfaltet, vielmehr zumeist oder gar stets auf Argumente zurückgreift, die aufgrund ihrer Verbreitung als Gemeinplätze (‚loci communes‘, ‚koinoì tópoi‘) gelten können. Solche produktionsästhetischen Topoi – das sind im Verständnis der klassischen Rhetorik „Such-Formeln, die zum Finden eines passenden Gedankens führen können“,20 bzw. ein „Gedanken-Reservoir“,21 nicht aber sprachliche Klischees schlechthin, motivische oder gar stoffliche Traditionen22 – sind zwar in ihrem Wahrheitsanspruch nicht unbesehen zu akzeptieren (etwa in ihrem Quellenwert für die Entstehungsgeschichte des Werks oder die Biographie des Autors), doch sind sie deswegen nicht wert- oder bedeutungslos. Der Autor – oder der vom Autor unterschiedene Verfasser des Paratexts23 – nimmt vielmehr eine Zuordnung des Werks zu einem bestimmten literarischen Register vor, stellt sich durch die Verwendung eines topischen Arguments in eine literarische Reihe bzw. Tradition, disponiert erwünschte Rezeptionsweisen des Werks oder versucht, unerwünschte abzuwehren. So verstanden ist die topische Schreibweise der poetologischen Paratexte zwar nicht originell oder ein18 Vgl. zur Entwicklung des erstmals 1468 belegten Widmungsbriefs in der Inkunabel- und Frühdruckzeit Wagner: An der Wiege; Schwitzgebel: Vorrede, S. 1-8; Schottenloher: Widmungsvorrede. 19 Ich beziehe mich mit den Begriffen ‚Produktionsästhetik‘ und ‚Poetik‘ allein auf explizite poetologische Reflexionen, nicht auf die implizite Poetik historischer Texte. Eine allererst durch die Interpretation rekonstruierte ‚Theorie‘ ist in diesem Verständnis weder Theorie noch Poetik, sondern eine literarischer Praxis vorausliegende Struktur. 20 Vgl. Lausberg: Handbuch, § 260, S. 146. 21 Ebd., § 373, S. 201. Vgl. generell ebd., § 373-399. 22 Vgl. zusammenfassend Kühlmann/Schmidt-Biggemann: Topik; Hess: Topos. Fernzuhalten ist in diesem Zusammenhang die Ausweitung der Begriffsextension durch Curtius: Europäische Literatur, S. 89-115 und die ihm folgende Toposforschung. 23 In Genettes Terminologie wären dies auktoriale und allographe Widmungsbriefe (vgl. Genette: Paratexte, S. 190-263). Seine v.a. an Vorreden zu Büchern des 19. und 20. Jahrhunderts gewonnenen Beobachtungen sind nur mutatis mutandis auf das Paratextwesen der Frühen Neuzeit anwendbar (vgl. dazu Schwitzgebel: Vorrede, S. 1-10).

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malig, leistet aber gerade in ihrer Traditionsgebundenheit einen Beitrag zur Einordnung des eingeleiteten Werks in das literarische Feld durch den Autor oder ihm verbundene Personen.

4. Erasmus’ Morias encomion sive laus stultitiae Als Inbegriff des traditionsbewussten und reflektierten spielerischen Schreibens kann der eingangs zitierte Widmungsbrief des Erasmus an Thomas Morus zum Morias encomion sive laus stultitiae (1508) gelten.24 Gegen mögliche Kritiker, die ‚Leichtfertigkeit und Komik‘ („leuitas et ludicrum“) der Schrift bemängeln könnten, führt Eramus ‚bedeutende Autoren‘ („magni auctores“) ins Feld: u.a. den Homer der Batrachomyomachia, den Vergil des Culex, den Ovid der Nux,25 weitere ironische Lobredner wie Seneca (Apocolocyntosis), aber auch Lukian und Apuleius wegen ihrer Eselsromane. Erasmus bezeichnet seine Schrift als ‚Scherz‘ („iocus“), von dem er hofft, dass er weder ‚ungelehrt‘ noch ‚witzlos‘ sei.26 Mögen die fiktiven ‚Verleumder‘ („vitilitigatores“) seiner Schrift, die zum festen Bestand eines humanistischen Widmungsbriefs gehören,27 die ‚Possen‘ („nugas“), aus denen die Schrift bestehe, auch einerseits als ‚zu leichtfertig‘ („leuiores“), andererseits als ‚zu bissig‘ („mordaciores“) kritisieren,28 so hält Erasmus dem entgegen: Wenn jedem Bereich des menschlichen Lebens („omni vite instituto“) eine spielerische Erholung („lusus“) gegönnt werde, müsse dies auch für die Gelehrsamkeit („studia“) gelten, besonders, wenn die Scherze („nuge“) Ernsthaftes behandelten und dem Leser reichen Gewinn eintrügen.29 Er verbindet hier den Topos der Literatur als Spiel mit dem letztlich auf Aristoteles30 zurückgehenden Gedanken der berechtigten Erholung nach anstrengender ernster Tätigkeit.31 Noch in der werkbiographischen Rückschau im Brief an den Freund Johannes Botzheim (1523) bezeichnet Erasmus die Schrift als literarisches Spiel: „Die Torheit schrieben wir spielerisch an Thomas Morus, 24 Als solchen interpretiert ihn auch Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 53-68. 25 Diese drei zuerst genannten Schriften gelten der Altphilologie heute als pseudepigraph. 26 Vgl. ebd., S. 2: „propterea quod soleas huius generis iocis, hoc est nec indoctis, ni fallor, nec vsquequaque insulsis, impendio delectari […]“. 27 Vgl. auch Matuschek: Spieltheorie, S. 57: „Sie [die Poetologie der Laus stultitiae] ist wie alle Dichtungstheorie des Humanismus apologetisch.“ 28 Alle Zitate Erasmus: Morias encomion, S. 4. 29 Vgl. ebd.: „Nam que tandem est iniquitas, cum omni vite instituto suos lusus concedamus, studiis nullum omnino lusum permittere, maxime si nuge seria ducant, atque ita tractentur ludicra vt ex his aliquanto plus frugis referat lector non omnino naris obesse, quam ex quorundam tetricis ac splendidis argumentis.“ 30 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1128b14 f., 1176b33-35. 31 Vgl. Matuschek: Spieltheorie, S. 30-32; ferner Kipf: Cluoge geschichten, S. 50-72: „Recreatio und hilaritas. Theorie und Legitimierung komischer Literatur“.

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als wir aus Italien zurückkehrten.“32 Eine ähnliche, wenngleich nicht ebenso prominente Rolle der Begriffe ‚ludus‘, ‚lusus‘ und ‚ludere‘ ist für den Widmungsbrief und die implizite Poetik von Erasmus’ Colloquia familiaria aufgezeigt worden.33

5. Spielerisches Schreiben in Vorreden humanistischer Fazetiensammlungen Eine prominente Rolle spielt der Topos des spielerischen Schreibens in den poetologischen Paratexten der humanistischen Fazetiensammlungen, Sammlungen komischer, oft in einem pointierten, in direkter Rede wiedergegebenen Ausspruch endenden Kurzerzählungen, die zumeist ohne erkennbares Ordnungskriterium zusammengestellt werden.34 Da die Fazetie, wie der Witz generell, schwerlich Anspruch auf moralische Exemplarizität erheben kann, ist ihre zeitgenössische Poetik stets apologetisch auf die Abwehr des Vorwufs der Nutzlosigkeit und der moralischen Anstößigkeit, insbesondere der Obszönität, gerichtet.35 Regelmäßig seit den Anfängen der Gattung bei Francesco Petrarca und Poggio Bracciolini begegnet die Berufung auf die Notwendigkeit von Erholung nach der Anstrengung ernsthafter Tätigkeit. Poggio nennt als beabsichtigte Funktion seines Liber facetiarum ausdrücklich die Erholung sowie Entspannung des Geistes, aber auch dessen Übung,36 ohne den Begriff des Spiels zu bemühen. Erst sein deutscher Imitator Heinrich Bebel tut dies in der eingangs zitierten Passage mit anthropologischer Begründung. Auch andernorts verwendet Bebel in den umfangreichen poetologischen Paratexten (drei Widmungsbriefe, eine Vorrede „ad lectorem“, diverse Begleitepigramme) seiner Fazetien den Begriff ‚lusus‘,37 doch kommt er nur als Homoionym für die zentralen Gattungsbezeichnungen ‚ioci‘, ‚facetiae‘, ‚facete dicta‘, ‚sales‘ u.ä. 32 Vgl. Erasmus: Opus epistolarum, Bd. 1, S. 19: „Moriam lusimus apud Thomam Morum, tum ex Italia reuersi.“ Wieder liegt transitiver Gebrauch von ‚ludere’ im Sinne von ‚etwas zum Zeitvertreib verfertigen‘ vor. 33 Vgl. Matuschek: Spieltheorie, S. 69-73; ferner, für den poetologisch ergiebigsten Dialog, Wachinger: Convivium fabulosum. 34 Zur Definition der Fazetie vgl. Kipf: Cluoge geschichten, S. 17-44. 35 Vgl. Barner, Legitimierung des Anstößigen. 36 Vgl. Bracciolini: Facezie, S. 2: „Honestum est et ferme necessarium, […] mentem nostram variis cogitationibus ac molestiis oppressam recreari quandoque a continuis curis, et eam aliquo iocandi genere ad hilaritatem remissionemque converti.“ Die Fazetien seien ‚zur Entspannung des Geistes und als Denkübung‘ („ad levationem animi et ad ingenii exercitium“) geschrieben (ebd., S. 4). 37 Vgl. etwa Bebel: Facetien, S. 103, Z. 52 f.: „[…] fastidiosum esse imprimis dure difficulterque scribere lusus et iocos, cum omnia ibi hilaritati et urbanitati, non serio aut difficultati servire debeant.“

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vor. Dagegen spielt er in der Rechtfertigung des Scherzes, anders als die Begriffe ‚remittere‘ und ‚recreare‘, nur mittelbar eine Rolle. ‚Spiel‘ ist wie die verwandten Begriffe ‚Scherz‘, ‚Witz‘ u.ä. ein Mittel, dem Geist nach vorangegangenen ernsten Beschäftigungen Erholung und Entspannung zu gewähren, nicht eine aufgrund ihrer Eigenschaften reflektierte Beschäftigung eigenen Rechts.

6. Die Rechtfertigung des ‚ludus‘ in der Mensa philosophica und späteren Fazetiensammlungen Bereits vor Bebel erscheint der ‚ludus‘ jedoch als Untergattung der unterhaltenden Kurzerzählung. Von ehrbaren Spielen und Witzen (De honestis ludis ac iocis) ist das vierte Buch der um 1480 entstandenen anonymen Kompilation Mensa philosophica benannt.38 Der Innentitel präzisiert diese Überschrift noch: „Von ehrbaren Spielen und angenehmen Entspannungen durch Worte, mit denen wir uns bei Tisch erholen“ („De honestis ludis et iocundis solaciis verborum quibus in mensa recreamur“).39 Im ersten Kapitel sind philosophische Autoritäten zur Rechtfertigung des Scherzes und des Spiels kompiliert. So habe Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gelehrt, dass „Ruhe sowohl im Leben als auch in dieser Unterhaltung, die dem Spiel zugehört,“ („requie[s] et in uita et in hac conuersatione que est cum ludo“)40 notwendig sei, und Albertus Magnus’ Kommentar zur Stelle wird zitiert: „Jedem Lernenden ist das Spiel notwendig, wenn sein Geist sich ihm nicht als unnütz erweisen soll“ („Omni studioso ludus necessarius est ne sibi mens efficiatur inutilis“).41 Albertus habe ferner darauf hingewiesen, dass Geist und Seele ebenso wie der Körper ermüden könnten und daher der Ruhe und der Erholung bedürften; die „geistige und seelische Ermüdung“ („fatigatio mentalis et anime“) werde aber gerade „durch die Unterhaltung im Spiel, die gleichsam eine Art Ruhe der Seele ist“ („per delectationem in ludo quid est quasi quedam quies anime“), beseitigt.42 Die Rechtfertigung des ‚ludus‘ als Gegenmittel zu geistiger Ermüdung findet sich auch in späteren Fazetiensammlungen. Die originellste theoretische Leistung ist dabei Otmar Luscinius (Nachtgall), einem elsässischen Humanisten, Musiker und Gräzisten, gelungen. Er stellt seiner erstmals 1524 erschienen Sammlung Ioci ac sales mire festivi ein ‚Vorwort‘ voran, „in dem bestimmt wird, was der Scherz sei, weshalb er sich vom Witzwort, 38 39 40 41 42

Mensa philosophica. Ebd., Z. 10 f. Ebd., S. 106, Z. 14 f. Ebd., Z. 19 f. Für Quellennachweise vgl. den Stellenkommentar ebd., S. 266 f. Ebd., S. 107, Z. 6-10.

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der Stichelrede, der Spöttelei, dem Bonmot und ähnlichem unterscheide; woher der Scherz stamme und was seine Funktion sei“ („Prooemium in quo definitur quid sit iocus et qua ratione differat ab urbanitate, scommate, cauillo, dicterio, et similibus. Vnde iocus proueniat, et quis illius sit fructus“). Unter dieser anspruchsvollen Überschrift verbirgt sich eine bündige Zusammenstellung antiker Theorien über den Witz, beginnend mit Aristoteles’ Lob der ‚eutrapelia‘ aus dem vierten Buch der Nikomachischen Ethik über die rhetorischen Definitionen der ‚facetia‘ und des ‚iocus‘ (bei Cicero und Quintilian) bis hin zu Beispielen antiken Witzes aus Macrobius (Saturnalien) und anderen Autoren. Originell ist der Verweis auf den gottgewollten Ruhetag („sabbatum“) in der Schöpfungsordnung, der die Notwendigkeit der Ruhe, damit der Erholung und letztlich des Scherzes unterstreiche. Freilich kommt Luscinius’ „Prooemium“ ohne die Vokabel ‚ludus‘ aus.43 Einen vergleichbaren theoretischen Anspruch hat Otho Melander. Er gibt seiner erstmals 1602 gedruckten Sammlung Iocorum atque seriorum centuria (kurz Ioco-seria) einen ‚Katalog derjenigen Schriftsteller, die vor uns Witze und Schwänke geschrieben haben‘ (‚Catalogus eorum auctorum qui Sales atque Facetias ante nos scripserunt‘) und eine Sammlung von „Urteilen einiger gelehrter Männer über Witze und Scherzreden“ („De iocis atque salibus festiuis doctorum quorundam virorum iudicia“) bei.44 Im Katalog der Urteile über den Witz finden sich zwei Bezugnahmen auf den ‚ludus‘ bzw. ‚lusus‘, die beide der (humanistischen bzw. antiken) epigrammatischen Tradition entstammen. Melander zitiert zwei Distichen des Johannes Posthius,45 in denen er angenehme Spiele („dulces lusus“) und gelehrte Scherze („docti ioci“) als legitime Unterbrechungen fortgesetzten Studiums (der Medizin und des Rechts) empfiehlt,46 sowie anderthalb Verse Martials, in denen die Erlaubtheit ‚harmloser Scherze‘ und damit des ‚Spielens‘ postuliert wird.47 Wie bei Bebel oder in der Mensa philosophica erscheinen Ableitungen von lateinisch ‚ludere‘ als Bestandteil des Wortfelds ‚Scherz‘, das dem Ernst der Alltagspflicht gegenübsteht und einen Geltungsbereich von Literatur umreißt, der in ihrer Funktion als rekreative Nebenstundenbeschäftigung gründet. Dies bestätigt noch der späteste Ausläufer der humanistischen Fazetiensammlungen, der Studiosus jovialis (1749!) des benediktinischen Erfolgsschriftstellers Odilo Schreger, der in der Vorrede Ad lectorem darauf 43 44 45 46

Luscinius: Ioci Ac Sales, Bl. A iiijv–A Vv. Melander: Ioci atque serii. Zum Erstdruck der Verse (1563) vgl. Karrer: Johannes Posthius, S. 55-59, 124 f. Vgl. Melander: Ioci atque serii, Bl. A 5r: „Nec iuuat aßidue libros tractare seueros, // Bartole siue tuos, siue Galene tuos: // Sed libet ad dulces etiam descendere lusus, // Atque animum doctis exhilarare iocis.“ 47 Vgl. ebd.: „Innocuos permitte sales, cur ludere nobis // Non liceat?“ Es handelt sich um Martials Epigramm 3.99.3 f.

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hinweist, dass sich Heilige wie der Evangelist Johannes oder der Mönchsvater Antonius bei „ehrlichen Schwänken, Witzen und Spielen“ („honestae facetiae, joci ac ludi“)48 erholt hätten. Die Vielfalt der innerhalb der Paratexte zu den humanistischen Fazetiensammlungen verwendeten Argumente und der herangezogenen Autoritäten zur Rechtfertigung des Spiels und des Scherzes zeigt zum Einen die Geläufigkeit des Arguments notwendiger Erholung in Spätmittelalter und früher Neuzeit, zum Andern belegen insbesondere die Zitate aus Albertus Magnus und anderen Autoren der mittelalterlichen Schulphilosophie und -theologie (Scholastik), dass eine rudimentäre Theorie des Spiels – allerdings noch keine literarische Spieltheorie – bereits vor dem Aufkommen des Humanismus zu finden ist und dass diese unter dem Einfluss des Humanismus (etwa durch den anonymen Kompilator der Mensa philosophica) für die Legitimierung unterhaltender Literatur eingesetzt wird.

7. Die humanistische Komödie Nur vereinzelt begegnet der Topos des spielerischen Schreibens in der humanistischen Komödie. Neben der eingangs zitierten Wendung aus Grünpecks Widmungsbrief zu seinen Comoedie utilissime sind hier besonders die beiden Komödien des Hebraisten und Gräzisten Johannes Reuchlin ergiebig. In den Scaenica progymnasmata sive Ludicra praeexercitamenta (1497; später auch unter dem zuerst von Hans Sachs für seine deutsche Übersetzung gewählten Titel Henno verbreitet) begegnet ein Derivat von ‚ludus‘ bereits im Untertitel des Erstdrucks (1498);49 im Prolog wird dann ausgeführt, dass der Autor, der als „neuer Dichter“ („Novus poeta“) bezeichnet wird, eine ‚Komödie über ein Altweiberspiel,50 das man Vorübungen nennt‘ („comoediam // in ludum anilem, quem vocat progymnasmata“),51 verfasst habe, und dass er dann mit der Wirkung seines Werks zufrieden sei, „wenn wegen des Autors an einer deutschen Schule griechische oder lateinische Dramen aufgeführt werden“ („Si auctore se Germaniae scholae luserit // Graecanicis et Romuleis lusibus“).52 Mit ‚ludere‘ und ‚lusus‘ ist hier die Aufführung

48 Schreger: Studiosus jovialis, Bl. )( 2v. 49 Vgl. die Ausgabe bei Holstein: Reuchlins Komödien, S. 11. Zur Komödie zuletzt Dietl: Dramen, S. 167-174. 50 Zu „ludus anilis“ (‚Altweiberspiel‘) vgl. ursprünglich „fabula anilis“ (‚Altweibermärchen‘, ‚Ammenmärchen‘). 51 Ebd., S. 13, V. 3 f. Reuchlin erklärt ‚ludus anilis‘ in seinem eigenen Kommentar als „Komödie alten Stils, ungelehrt, scherzhaft und mit sehr kurzen Akten“ (zitiert nach der Übersetzung Schnurs in: Reuchlin: Henno, S. 54). 52 Holstein: Reuchlins Komödien, S. 3, V. 14 f.

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antiker bzw. an der Antike orientierter Komödien gemeint,53 so dass die Bedeutungsvielfalt von ‚ludere‘ bereits in diesem frühen Zeugnis die Grenzen zwischen Schreibart und dramatischer Gattung überspielt. Im Sergius vel Capitis caput (entstanden 1496, gedruckt 1504)54 erbittet der Prologsprecher die Aufmerksamkeit des Publikums für eine „kurzweilige Sache“ („res ludicra“)55 und der Protagonist Buttubatta beschließt die Komödie mit den an die „besten Gefährten“ („sodales optumi“), das ursprünglich avisierte Publikum eines Heidelberger Gelehrtenkreises, gerichteten Worten: „Leichte Spiele habe ich euch Zuschauenden in meiner Neckerei klug vorgesetzt. Das ist mir erlaubt gewesen.“ („Ludos leves meo cavillo callide // Vobis videntibus attuli. Id licuit mihi“).56 Hier stehen die Vokabeln ‚ludus‘ und ‚ludicrus‘ auf der Grenze zwischen einem Gattungsbegriff für die Komödie und einer Bezeichnung der Stilhöhe. Die Widmungsbriefe zu den Drucken der Komödie zu Reuchlins Lebzeiten dagegen enthalten keine Bezugnahme auf den Topos des Spiels. Ganz als Gattungsreferenz zu verstehen ist schließlich die Titelwahl des Konrad Celtis für den Ludus Dianae (1501), ein mythologisches Huldigungsspiel, das dem Titel des Erstdrucks zufolge vor König Maximilian I. „nach Art einer Komödie“ („in modum Comoediae“) aufgeführt wurde.57 „Ludus“ bedeutet hier – wie im mittelalterlichen geistlichen und weltlichen Spiel58 – schlicht ‚Drama‘ bzw. ‚aufführbares Stück‘. Das ohne Widmungsbrief überlieferte Stück nimmt den Gedanken des Spiels im Prolog nicht auf und bietet daher keinen Anknüpfungspunkt für eine Geschichte der spielerischen Schreibart.59 Auch Heinrich Bebel, der in der Vorrede zum dritten Buch seiner Facetiae das Spiel als Anthropologicum zur Rechtfertigung des Lachens angeführt hatte (s.o. 1.), greift weder im Widmungsbrief noch im Prolog zu seiner Comoedia de optimo studio iuvenum (1501/04) darauf zurück, sondern empfiehlt die Komödie dem Widmungsempfänger lediglich zur Entspannung „von überaus großen Sorgen und Anstrengungen des Geistes“.60 Festzuhalten ist jedoch, dass der allenfalls 53 Vgl. Schnurs Übersetzung in: Reuchlin: Henno, S. 7: „Bewirkt er, daß auf einer Schule Deutschlands man // Auf Griechisch und Lateinisch Spiele aufgeführt“ und den Kommentar, S. 54: „Reuchlin erklärt ‚schola‘: Theater.“ 54 Vgl. Dietl: Dramen, S. 162-167. Zuletzt ausführlich zum Selbstverständnis, Dall’Asta: Scherze. 55 Vgl. Holstein: Reuchlins Komödien, S. 109, V. 1 f.: „Si unquam tulistis ad iocum vestros pedes // Aut si rei aures praebuistis ludicrae.“ 56 Ebd., S. 125, V. 485-487. 57 Celtis: Ludi scaenici, S. IX (Titelseite des Erstdrucks). 58 Dies gilt für den lateinischen wie den volkssprachigen Bereich, vgl. geläufige Titel wie Ludus de Antichristo oder Ludus Danielis. 59 Vgl. zur Programmatik des Stücks zuletzt Dietl: Dramen, S. 190–195 (mit der älteren Literatur). 60 Vgl. Bebel: Comoedia, S. 10: „[…] quem [dialogum] cum per otium licuerit, et a maximis laboribus et curis animum relaxaveris legas et pellegas obsecro.“

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rudimentäre Erschließungs- und Editionsstand zur humanistischen Komödie weitere einschlägige Funde erwarten lässt.

8. Desiderate Der Topos des spielerischen Schreibens im Epigramm, dem Apophthegma und weiteren literarischen Kleinformen. Neben den in wenigen Beispielen beleuchteten Gattungen der Komödie, Fazetie und ironischer Lobrede wären – jeweils ausgehend von der lateinischen Tradition – das ‚spitze‘ Epigramm61 und das Apophthegma in seiner von Verweyen so genannten ‚schertzhafften‘ Ausprägung62 zu betrachten und die Frage zu stellen, inwieweit in der expliziten Poetologie dieser Gattungen der Gedanke des spielerischen Schreibens eine Rolle spielt. Die Topik des Widmungsbriefs des Erasmus zu seinem Apophthegmatum opus (1532) jedenfalls weist große terminologische Nähe zur apologetischen Poetik der Fazetie auf, auch wenn die Wortfamilie ‚ludere‘ nicht bemüht wird.63 Mangels tragfähiger Vorarbeiten kann diese Fragestellung vorläufig nur als Desiderat benannt werden. Ferner ist die Beziehung zur Poetik der erotischen Elegie, für die ebenfalls die Berufung auf Scherz und Spiel und deren Legitimation als Beschäftigung in Nebenstunden zentral sind,64 evident, aber im Einzelnen nicht untersucht. Dagegen sind Bezugnahmen in den zweisprachigen akademischen Scherzreden der Zeit um 1500 zu finden. In dieser Gruppe von Texten, die direkt aus der universitären Instititution der Quodlibet-Disputation erwachsen sind,65 ist – ähnlich wie in den Fazetiensammlungen – der einleitende Bezug auf die Erlaubtheit von Scherz und Lachen zur Erholung nach anstrengender ernsthafter Tätigkeit geradezu gattungskonstitutiv. Dies mag mit ihrem Sitz im Leben zusammenhängen, der Beantwortung scherzhafter Fragen („quaestiones minus principales“) am Ende der oft mehrtägigen Quodlibet-Disputationen, die schon in den Statuten verschiedener Universitäten im Reich (zuerst Wien 1389) mit ihrer auflockernden Wirkung begründet werden. Dieser Entstehungskontext wird in den Titeln und einleitenden Passagen der Scherzreden aufgenommen. Jakob Hartlieb stellt eingangs seiner Rede De fide meretricum in suos amatores (Erstdruck 1501) fest, dass es die Gewohnheit der jährlichen Quodlibet-Disputation verlange, 61 Vgl. zur Poetologie des Epigramms Laurens: L’abeille dans l’ambre; Hess: Epigramm, S. 82111. 62 Vgl. Verweyen: Apophthegma und Scherzrede, S. 41-48 u.ö. 63 Vgl. ebd., S. 96-102. 64 Vgl. Schlaffer: Musa iocosa, S. 124-142, bes. S. 136 f.; für die neulateinische Tradition Robert: Konrad Celtis, S. 261-264, 301-303 u.ö. 65 Vgl. zusammenfassend Kipf: Ludus philosophicus (dort auch Nachweise für die folgenden Angaben).

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„am Ende des philosophischen Krieges Spielereien, Erdichtetes, harmlos Lachenerregendes, Rätsel, Scherzworte, lustige Bonmots, Schwänke und Sticheleien“ vorzutragen.66 Und der anonyme Verfasser der im Erfurter Poetenkreis um Helius Eobanus Hessus entstandenen Rede De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda (1515) nennt das Quodlibet geradezu ein „philosophisches Spiel“ („ludus philosophicus“),67 in dem es nötig sei, die durch tagelange ernstere Studien der Philosophie ermatteten Geister zu erquicken und wieder zu Kräften zu bringen.68

9. Deutschsprachige Literatur Zu erwarten wäre nun, dass auch die Schwanksammlungen und Komödien deutscher Sprache des 16. Jahrhunderts, die sich stofflich und formal nachweislich an den lateinischen Vorläufern orientieren, sich in den poetologisch relevanten Passagen auf ein spielerisches Schreiben berufen. Das ist aber – jedenfalls in den gesichteten Quellengruppen – nicht der Fall. Die Schwanksammlungen aktualisieren das (aristotelische) Argument der notwendigen Erholung nach ernsthafter Arbeit und konkretisieren es medizinisch als Therapie gegen Melancholie und andere Arten der Schwermut.69 So preist Jörg Wickram die „schwenck vnd Historien“ seines Rollwagenbüchlein (1555) bereits auf der Titelseite des Erstdrucks als geeignet an, „die schweren Melancolischen gemter damit zů ermünderen“,70 Jakob Frey nennt im Widmungsbrief zu seiner Gartengesellschaft (1556) die „gesellschafften“, die „underweilen bey einander melancolisch und vertrossen sind“71 als Zielgruppe der Schwanksammlung und für Martin Montanus sind gar die Studenten, die aufgrund übermäßigen Studiums Gefahr laufen, krank und „toll“ zu werden, das Zielpublikum seines Wegkürtzers (1557).72 Keiner der Schwanksammler, auch diejenigen, die – wie Frey oder Valentin Schumann im Nachtbüchlein (1559) – in ihren einleitenden Paratexten eine ideale Rezeptionssituation aufwändig entwerfen, beruft sich jedoch auf das Spiel zur Rechtfertigung der Herausgabe der augenscheinlich apologiebedürftigen Schwänke. Allenfalls zur Abgrenzung werden Repräsentanten der 66 Vgl. Hartlieb: De fide meretricum, S. 69, Z. 20-22. 67 De generibus ebriosorum, S. 119, Z. 10. 68 Vgl. ebd., Z. 9-14: „Consuevit enim [...] tum in quandam festivam et ioci plenam facetiam desinere, quo animi, dies iam aliquot severioribus philosophiae studiis occupati et quasi defessi, reficiantur et in semet ipsis revirescant.“ 69 Vgl. Schwitzgebel: Vorrede, S. 118-142; näherhin Rieche: Literatur im Melancholiediskurs. 70 Wickram: Rollwagenbüchlein, S. (3). 71 Frey: Gartengesellschaft, S. (3). 72 Vgl. Montanus: Schwankbücher, S. 4: „dieweyl aber auch mancher ist, der sich des studierens gar zůvil übernimpt, also das er darvon etwan inn kranckheyt falt und sich toll studieret [...], habe ich dises bchlein [...] in truck geben lassen [...]“.

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Wortfamilie verwendet. So behauptet Montanus, man finde in seinem Andern theyl der Gartengesellschaft (1566) „nicht Narrenwerck und kinderspiel“, sondern allein „freud und kurtzweil“.73 In derselben Kompilation verwendet er ‚spil‘ sowohl als Oberbegriff als auch als spezifisches Laster der Gegenwart (in der Bedeutung ‚Kartenspiel‘): „Man Fbt jetzt alle b=se spil // Mit spilen, fressen und mit sauffen“.74 Somit verbleibt die Rechtfertigung der deutschsprachigen Schwanksammlungen im Argumentbereich der Erholung und stellt sich damit zur „musica“ und verwandten „frölicheiten“, die „unlustige[n] gemüter[n]“ „recreation“ zu geben vermögen.75 In analoger Weise berufen sich auch die Schwankromane des 15. und 16. Jahrhunderts darauf, nur dem Zweck der Unterhaltung zu dienen. Nach Auskunft der Vorrede ist das anonyme Eulenspiegelbuch (1515) verfasst „allein umb ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten“.76 Auch das – gleichfalls anonyme – Lalebuch (1597) führt eingangs aus, die Urform der Schildbürger-Streiche sei „zu ehrlicher Kurtzweil vnd Zeitvertreibung“77 zusammengestellt worden. Dass im Zusammenhang der Rahmenhandlung unter „allerley Kurtzweil vnd Ritterspiel“78 während der Reichsversammlung des Königreichs „Vtopien“79 nicht nur von Turnieren, Vogeljagd und Fechten, sondern auch von „spilen[] vnd zechen[]“ (als Beschäftigung des „gr=ste[n] Hauff[en]“)80 die Rede ist, darf hier ebenso wenig poetologisch verstanden werden, wie die Rede vom „Spiel[] der edlen Lieb mit sch=nen Frawen“:81 Karten- und Liebesspiel sind hier lediglich Formen der „Ergetz­ lichkeit“82 einer fiktiven Hofgesellschaft, die der Rahmung einer Ätiologie der Narrheit in Gestalt einer Geschichte eines freiwillig närrischen Gemeinwesens dient.83 Die protestantischen wie katholischen Verfasser deutscher Schulkomödien argumentieren gewöhnlich mit der satirischen Bloßstellung der Laster auf der Bühne und rechnen ihre Werke damit der belehrenden Literatur zu.84 Zwar erscheinen Repräsentanten der Wortfamilie ‚Spiel‘ regelmäßig in Werktiteln, Prologen und Widmungsbriefen von Geistlichen wie Weltlichen Spielen des 15. und 16. Jahrhunderts. Doch sämtliche Beispiele referieren 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Beide Zitate ebd., S. 255. Ebd., S. 256, Z. 24 f. Alle Zitate Frey: Gartengesellschaft, S. 6. Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, S. 5. Lalebuch, S. 8. Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd. Vgl. (mit weiteren Belegen aus Vorreden von Schwankromanen) Schwitzgebel: Vorrede, S. 161-173. 84 Vgl. exemplarisch etwa Seidel: Joachim Greff, S. 18-33, 54-61.

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mit der Wortfamilie ‚spil‘ exklusiv auf die literarische Gattung und insbesondere auf die Aufführung bzw. Aufführbarkeit der Stücke.85 So fordert der „Precursor“ im Prolog zu Hans Folz’ (gest. 1513) Fastnachtspiel Die Liebesnarren das Publikum zur Aufmerksamkeit für „ein spil hie von uns narrn“86 auf, Paul Rebhun spricht im Widmungsbrief zur zweiten Ausgabe seines „Geistlich spil“87 Susanna (1544) von seinem „geistlich schawspil reymweis verfasset“,88 von „=ffentlicher darstellung obgedachts spils“89 und davon, dass „gedachts spil […] agieret / vnd gespielet worden“;90 auch kündigt er in der „Vorrede dieses Spiels“ den Zuhörern an, „euch was lieblichs hie zu spilen“.91 In keinem mir bekannten Stück aber ist die Bedeutung ‚spielerische Schreibart‘ und damit eine poetologische Verwendung des Begriffs ‚spil‘ o.ä. erkennbar. Damit bietet das Drama der Übergangszeit von Mittelalter und früher Neuzeit eine Fülle von Belegen für die Begriffsgeschichte von ‚Spiel‘, aber keine einschlägigen Zeugnisse für unsere Fragestellung. Vereinzelt ist die Vokabel ‚Spiel‘ bereits vor Erasmus auch im deutschsprachigen Humanismus zu finden. So kündigt Sebastian Brant in der „vorred“ seines erstmals zur Fastnacht 1494 gedruckten Narrenschiffs an: „Zů schympff vnd ernst vnd allem spil // Findt man hie narren wie man wil“.92 Doch zeigt der Kontext, dass Brant, der seine Moralsatire, die die Tradition der Narrenliteratur begründete, vor allem in der Nachfolge der mittelalterlichen didaktischen Spiegelliteratur versteht,93 dass ‚spil‘ trotz des Vorkommens am prominenten Ort kaum poetologische Relevanz besitzt, da Brant, der ‚spil‘ und seine Derivate im Narrenschiff häufig pejorativ verwendet,94 das Wort hier gemeinsam mit der Opposition „schympff vnd ernst“ in der Funktion der polaren Periphrase einer Totalität verwendet.95 Dennoch findet die Vokabel ‚Spiel‘ bereits im 16. Jahrhundert Verwendung in poetologischer Absicht. Johann Fischart nimmt sie in allen drei Paratexten zu seinem Eulenspiegel reimenweis (1572) auf. Im Versprolog („Der Eulenspiegel / zum Leser“) stellt er seine Umarbeitung des Prosa-Schwank­ 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Vgl. systematisch (mit weiteren Beispielen) Schulz: Eigenbezeichnungen. Folz: Die Liebesnarren, S. 82, Z. 2. Rebhun: Susanna, S. 329 (Titel). Ebd., S. 330, Z. 20 f. Ebd., S. 331, Z. 2 f. Ebd., Z. 14-16. Ebd., S. 335, Z. 12. Brant: Narrenschiff, S. 4, V. 55 ff. Vgl. „vorred“, V. 31: „Den narren spiegel ich diß nenn // In dem ein yeder narr sich kenn“ u.ö. 94 Vgl. das Resümee des gegen das Glücksspiel gerichtete 77. Kapitels „Von Spylern“: „Eyn spyeler ist nit gottes fründt // Die spyeler sint des tüfels kynd“ (V. 94 f.), oder in Kap. 110b (von der Fastnacht): „Der tüfel hat das spiel erdacht“ (V. 40). 95 Vgl. ebd., V. 53 f.: „Hie findt man der welt gantzen louff // Diß büchlin wurt gůt zů dem kouff“.

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romans in ein komisches Versepos noch in einen Gegensatz zur hohen Dichtkunst, indem er den Eulenspiegel an die Musen gewendet feststellen lässt: Es muß nicht allezeit allein Der sch=ne Phoebus bey euch sein Der euch mit gsang vnd spiel erquick/ Welchs warlich sind deß hertzen strick/ Daß es wird sicher stoltz vnd flFck Vnd vberhebt sich von seim glFck:96

Auch die Musen bedürfen „zuzeiten“ eines Korrektivs, durch das sie an ihre „gebr(chligkeit vnd fehl“97 erinnert werden: dazu will Eulenspiegel dienen. Fungiert das „spiel“ (wohl im Sinne von ‚Saitenspiel‘ bzw. ‚Instrumentalmusik‘) hier gemeinsam mit dem „gsang“ noch als Untergattung konventioneller hoher Kunst, denen der Eulenspiegel sich als Korrektiv an die Seite stellt, so beruft sich der Autor in der folgenden „abred“ an mögliche Kritiker („Eulenspiegler vnnd SchalcksklFgler / Auch an die Eulenspigler vnd Eselszeigler“) mit der (sprichwörtlichen oder an ein Sprichwort angelehnten?) Wendung „Schimpfflich spil / schimpfflich Gelt“98 auf die Bindung des Bearbeiters an die Vorlage.99 Die paargereimte „Vorrede auff den Eulenspiegel“ setzt dann die begonnene Dichtung in ein bildliches Verhältnis zum „Spiel“: Wir w=lln von eins Narren wegen Das Spiel darumb nicht niderlegen. Es ist on vrsach nicht geschehen/ Dann wir haben hievor gesehen/ Wie daß den Leuten solches Spiel Sehr auß der massen wol gefiel/100

Doch die Gleichsetzung der eigenen Dichtung mit dem ‚Spiel‘ ist metaphorisch und daher nur indirekt poetologisch: Der Verstext wird mit der Metapher des (Karten-)Spiels benannt, insofern das eben begonnene Unternehmen nicht sogleich wieder beendet werden soll, wie ein Spieler die Karten nicht gleich nach Beginn eines Spiels wieder ablegt. (Grund dafür ist übrigens der Publikumserfolg der Schwankromane: Als Beispiel für ein erfolgreiches „Spiel“ wird „das sch=n buch vnd Werck // Von dem Pfaffen von Kalenberg“101 genannt.)

96 97 98 99 100 101

Fischart: Eulenspiegel reimenweis, S. 11 f., Z. 39-44. Ebd., S. 12, Z. 46 f. Ebd., S. 23, Z. 5. Vgl. auch ebd., Z. 4 f.: „das schreiben muß bey der Matery bleiben“. Ebd., S. 29, Z. 402-407. Ebd., Z. 408 f.

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Eine direkte Berufung auf eine spielerische Schreibart liegt in allen drei Belegen aus dem Eulenspiegel reimenweis nicht vor, doch dürfte es kein Zufall sein, dass gerade Fischart, dessen Werk wie kein zweites deutscher Sprache im 16. Jahrhundert „als eine Variante des hybriden europäischen Späthumanismus“ zu verstehen ist,102 in seiner Versbearbeitung eines Schwankromans103 dreimal das ‚Spiel‘ in poetologischem Kontext aufruft, ohne doch bereits eine ‚spielerische‘ Einstellung des eigenen Schreibens zu postulieren. Das Nachdenken über die „spielende Schreibart“ (Johann Christoph Gottsched)104 verbleibt im 16. Jahrhundert – so legen es die angeführten Belege nahe – vorwiegend im Geltungsbereich des Lateinischen und greift allenfalls indirekt bei humanistisch formierten Autoren wie Fischart auf die verwandten volkssprachigen Gattungen über. Eine breite Rezeption des Spielbegriffs in poetologischer Funktion bleibt – mit der erwähnten literaturgeschichtlichen Prolepse bei Fischart – anscheinend der Barockliteratur vorbehalten,105 die sich auch in dieser Hinsicht als eine Fortsetzung des Humanismus in die Volkssprache verstehen lässt.

10. Exkurs: Verbindungslinien zu Huizingas Kulturtheorie des Spiels Verlockend ist die Frage nach Spuren des Topos eines spielerischen Schreibens in der Kulturgeschichte bis hin zu Johan Huizingas umfassender Kulturanthropologie des Spiels, Homo ludens (1938), dessen Verfasser auch eine Erasmus-Biographie (1924) vorgelegt hat.106 Ihr kann hier nicht umfassend nachgegangen werden.107 Allein die Frage einer direkten Berufung Huizingas auf Erasmus und das Morias encomion sei hier gestellt. Huizinga nennt

102 Müller: Fischarts Gegenkanon, S. 285. 103 Übrigens führt Fischart in der „Vorrede“ auch das Bedürfnis nach komischer Unterhaltung auf die exklusiv dem Menschen eignende Fähigkeit zum Lachen, also auf ein Anthropologicum, zurück (vgl. ebd., Z. 385-389): Der Mensch ist aber so gesitt/ Daß jn Gott freundtlich hat gemacht/ Daß er allein ist der da lacht Vnder all andern Creaturn/ Jst nicht geschaffen nur zu murn. 104 Vgl. Matuschek: Spieltheorie, S. 159-161 (auch zur Anlehnung an Francois Vavasseurs De ludicra dictione). 105 Vgl. die Belege aus Harsdörffers Schriften und Matuschek: Spieltheorie, S. 139-157. 106 Vgl. zur Biographie und zur Entstehung der beiden genannten Werke Van der Lem: Johan Huizinga, S. 158-170, 235-238. 107 Vgl. jedoch Matuschek: Spieltheorie; ferner Anz: Literatur und Lust, S. 33-76; Anz: Spiel.

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in Homo ludens Erasmus dreimal;108 die dritte Erwähnung ist für uns von Belang. Denn den Ausruf „Erasmus, wie strahlt aus seinem ganzen Wesen die Stimmung des Spiels!“109 begründet Huizinga mit dem Verweis auf das Gesamtwerk des Rotterdamers, angeführt vom Morias encomion und den Colloquia familiaria.110 In der Besprechung des Lobs der Torheit in der Erasmus-Biographie ist dagegen vom lusorischen Charakter der Schrift nicht ausdrücklich die Rede.111 Der spielerisch-ironische Grundzug der Schrift ist gleichwohl behandelt, allerdings ist die Rede etwa vom „Meisterstück von Humor und weiser Ironie“112 und vom „leichten, komischen Ton“.113 Allein im Referat von Erasmus’ später Einschätzung des Werks fällt das Wort „Spielerei“.114 Sowohl in der Erasmusforschung wie in der Literatur zu Huizinga herrscht Einigkeit, dass der Briefwechsel die gegenüber den Schriften wichtigere Quelle für die Erasmusbiographie ist;115 doch das Morias encomion gehört neben den Colloquia zu denjenigen Werken des Rotterdamers, die Huizinga zu den um ihrer literarisch-ästhetischen Qualität willen noch lesbaren rechnet.116 Somit kann das Lob der Torheit gemeinsam mit Erasmus’ Gesamtwerk als eine der wichtigeren Quellen von Huizingas Grundlagenwerk über den „Ursprung der Kultur im Spiel“ gelten, ohne dass der für uns belangvolle Widmungsbrief an Thomas Morus und die dortige Verwendung des Gedankens vom spielerischen Schreiben im Homo ludens zur Sprache käme und ohne dass der Topos einer spielerischen Autorschaft überhaupt in Huizingas Ausführungen über „Spiel und Dichtung“ eine Rolle spielte.

108 Vgl. Huizinga: Homo ludens [ndl.], S. 133, 225, 262; ders.: Homo ludens [dt.], S. 105, 172, 197. Der erste Druck von Nachods Übersetzung erschien (ohne Nennung des jüdischen Übersetzers) Basel 1939. Vgl. Van der Lem: Johan Huizinga, S. 254 f.; zu Entstehung und Quellen ferner Strupp: Johan Huizinga, S. 183-189. 109 Huizinga: Homo ludens [dt.], S. 197. Vgl. Huizinga: Homo ludens [ndl.], S. 62: „Hoe straalt de stemming van het spel uit zijn gansche wezen uit!“ 110 Vgl. ebd.: „Niet uit den Lofder zotheid en den Samenspraken alleen, maar uit de Adagia, uit het behagelijk spelend vernuft van zijn briefen, ja soms tot uit zijn ernstigste werken toe.“ 111 Vgl. Huizinga: Erasmus, S. 89-101. Das Buch, das von einem amerikanischen Verleger angeregt wurde und für ein breiteres Publikum gedacht war, erschien zuerst in englischer Übersetzung, danach erst im niederländischen Original (jeweils 1924), Kaegis deutsche Übersetzung erstmals Basel 1928. 112 Ebd., S. 89. 113 Ebd., S. 98. 114 Ebd., S. 99. 115 Vgl. Van der Lem: Johan Huizinga, S. 158-170; Heinz Holeczek: Nachwort. In: Huizinga: Erasmus, S. 258 f. 116 Ebd., S. 100. Vgl. auch das spätere Urteil (von 1936?) über das Lob der Torheit, in dem Huizinga nun den „grondschlag einer wetenschapelijke sociologie en economische geschiedenis“ sah, bei Van der Lem: Johan Huizinga, S. 169.

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11. Ausblick: Ergebnisse und offene Fragen Anders als in Huizingas umfassender Kulturtheorie ist jedoch nicht die Ableitung der gesamten Dichtung und Literatur aus dem für die Kultur grundlegenden Phänomen des Spiels unser Thema,117 sondern die Berufung auf die zum Menschsein gehörige Tätigkeit des Spiels als Argument für die Legitimität bestimmter Arten der Literatur. Einige Stationen der Geschichte dieses Arguments in der lateinischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind nunmehr benannt. Neben dem frühen ‚locus classicus‘ der literarischen Spieltheorie, Erasmus’ Widmungsbrief zum Morias encomion, verwenden auch weniger bekannte deutsche Humanisten wie Joseph Grünpeck, Heinrich Bebel oder der anonyme Kompilator der Mensa philosophica die Berufung auf eine spielerische Schreibart als Apologie unterhaltender Literatur. Neben den herangezogenen Gattungen wie der Fazetiensammlung, der humanistischen Komödie oder der akademischen Scherzrede dürften verwandte Texttypen wie das spitze Epigramm oder das scherzhafte Apophthegma beträchtliches Potential an weiteren Belegen enthalten. Wann und in welchen Gattungstraditionen dieses poetologisch-anthropologische Argument erstmals auch in deutscher Sprache verwendet wurde, scheint eine offene Frage zu sein. Sieht man die herangezogenen Stellen aus Fischafts Eulenspiegel reimenweis nur als metaphorisch poetologische Verwendungen des Spielbegriffs, so dürften die frühesten Belege für eine literarische Spieltheorie im 17. Jahrhundert, etwa bei Harsdörffers Frawenzimmer Gesprächspielen, zu suchen sein. Dieser Frage nachzugehen, dürfte eine für die Geschichte der Ästhetik des Spiels lohnende Beschäftigung sein. Ihr Ergebnis könnte die erneuerte Feststellung sein, dass die Literatur deutscher Sprache im Abstand einiger Jahrzehnte Entwicklungen nachvollzieht, die die literarische Avantgarde in lateinischer Sprache bereits um 1500 durchläuft.118

117 Vgl. Huizinga: Homo ludens [ndl.], bes. S. 170-209 („Spel en poëzie“, „De functie der verbeelding“); Homo ludens [dt.], S. 133-173. 118 Wiewohl nicht in diesem Kontext entstanden, berühren Fragestellung und Resümee dieses Versuchs sich in Manchem mit dem von Jan-Dirk Müller initiierten Versuch einer Revision der deutschen Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts nach Maßgabe der Auseinandersetzung mit antikem Erbe in der Volkssprache (vgl. Müller: Gegenkanon, S. 283 mit Anm. 7). – Nachdem das diesem Aufsatz zugrunde liegende Exposé für den Deutschen Germanistentag akzeptiert worden war, ist mir bekannt geworden, dass die lateinische Junktur meines Titels bereits andernorts als Titel gedient hat; vgl. Guinness/Hurley: Auctor ludens. Die Huizinga verpflichteten, vorwiegend anglistischen Beiträge dieses Bandes verwenden einen weiten Spielbegriff und weisen keine Überschneidung mit der hier verfolgten Fragestellung auf.

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Peter-André Alt

Sexus ludens Androgynie als Spiel der Rhetorik und des Theaters in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein 1. Einleitung Das 17. Jahrhundert liebt Geschlechter-Spiele im Zeichen von Übergängen und Grenzverwischungen. Hermaphroditen und Kastraten betreten als Akteure die Bühnen Europas, das Hoftheater wie die Oper. Die neuplatonischhermetische Tradition der Renaissance, die in Deutschland und England noch bis zum Seicento fortwirkt, beschwört im aristophanisch-platonischen Mythos der Eingeschlechtlichkeit die Vorstellung eines unbedingten Anfangs und der vollkommenen Kohärenz des Menschen. Unter dem Stichwort ‚L’Androgyne de Platon‘ zeigt die Malerei der Epoche, angeregt durch die Schule von Florenz, hermaphroditische Gestalten als Ausdruck einer geheimnisvollen Ganzheit der Schöpfung. Ärzte und Naturforscher befassen sich zur selben Zeit ausführlich mit monströsen Zwitterwesen zwischen Mann und Frau, die sie in anatomischen Sälen und Lehrbüchern als Objekte der gelehrten Neugierde vorführen. Die politische Welt entwirft in Elisabeth I. eine androgyne Regentin als ideale Herrscherin, welche die Macht der Selbstfortzeugung und damit eine unbedingte Identität repräsentiert, die als Sinnbild der Souveränität gelten soll. Derartige Geschlechter-Spiele finden ihren Ursprung in den Sexualtheorien der Epoche, bilden aber gleichzeitig das Produkt eines kulturellen Settings, an dem die Literatur direkt beteiligt ist. Die folgenden Überlegungen skizzieren zunächst einige zentrale Aspekte des medizinischen Androgynie-Diskurses, die für das 17. Jahrhundert – in Anlehnung an seit der Spätantike kurrente Deutungsmuster – gültig sind; anschließend soll am Beispiel zweier Dramen Daniel Caspers von Lohenstein gezeigt werden, wie die Literatur mit den Mitteln des Spiels die hier gegebene Ordnung des Wissens reorganisiert und Androgynie als kulturelles Produkt – der Sprache bzw. des Theaters – ausweist. Die frühneuzeitliche Medizin geht, anders als die aristotelisch-thomistische Schule, von homologen Merkmalen des männlichen und weiblichen Sexualsystems aus. Sie stützt sich dabei auf die Lehre des Claudius Gale

Vgl. hier das medizinhistorische Material bei Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare,

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nus (129-199 n. Ch.), nach der beide Geschlechter über Samen als Medien der Zeugungskraft verfügen. In seiner Abhandlung De usu partium corporis humani empfiehlt Galen als Gedankenexperiment, man solle anhand eines imaginierten Modells die weiblichen Genitalien nach außen, die männlichen nach innen kehren, um zu erkennen, dass sie analog gebaut seien. Dem galenischen Beschreibungsmuster, das ohne empirische Sektionsbefunde entwickelt wurde, folgt die Gynäkologie der Frühen Neuzeit mit erstaunlicher Konsequenz. Paracelsus’ Buch von der Gebärung (1520) charakterisiert den Körper der beiden Geschlechter als nahezu identisches Ordnungsgefüge, wobei jedoch die Frau aufgrund der Hypothese, dass ihre Sexualorgane kleiner als die des Mannes seien, für anatomisch nachrangig gehalten wird. Die hormonale Funktionsdifferenz von Hoden und Eierstock ist Paracelsus, wie der gesamten Medizin der Frühen Neuzeit, noch unbekannt. Mann und Frau tragen, so erklärt er abweichend von Galen, anders als die übrigen Wesen der Natur a priori keine Samen in sich, sondern zunächst das Prinzip der Wollust, das in ihren Körpern das Spermium reifen lässt. Im Fall des Sexualverkehrs kommt es zur Vermengung der Spermien, in bestimmten Konstellationen auch zur Vermischung von darin angelegten Samen, wobei die Geschlechter wiederum homolog ausgestattet sind: „Zuerst merke, daß der Mann einen halben Samen hat und die Frau einen halben; die zween machen also einen ganzen Samen.“ Zwar schafft die Kombination der Samen ein neues Lebewesen, jedoch bildet dessen künftiges Äußeres das Produkt eines Wettstreits der im Mann und in der Frau zunächst gleich starken Zeugungskräfte. Kommt es hier zu einem Gleichgewicht, so entsteht laut Paracelsus ein Zwitter mit doppelter Geschlechtsidentität: „Aber was selten geschieht, daß sich die Geburt hermaphroditorum, die Frau und Mann sind, begibt.“ Der französische Chirurg Ambroise Paré vermutet Ende des 16. Jahrhunderts in Übereinstimmung mit Paracelsus einen, wie Foucault es nennt, „Isomorphismus“ der menschlichen Genitalien. Die weiblichen Geschlechtsorgane entsprechen nach diesem Modell den männlichen in ihrer anatomischen Bauform und Funktion, sind jedoch durch eine geringere Größe und ihre im Körperinneren verborgene Lage gekennzeichnet („les femmes ont autant de chaché dedans le corps que les hommes descouvrent

    

S. 77 ff. – Die nachfolgenden Überlegungen führen Gedanken aus dem letzten Kapitel meines Buchs Von der Schönheit zerbrechender Ordnungen (S. 91 ff.) fort. Galen: On Semen, bes. I, 15, S. 44-50. Galen: De usu partium corporis humani, XIV, 6. Paracelsus: Werke. Bd. I, S. 42. Ebd., S. 47. – Zur Geschichte der Hermaphroditen, die im Mittelalter verfolgt wurden, im 17. Jahrhundert jedoch von strafrechtlichen Restriktionen verschont blieben, siehe Foucault: Die Anormalen, S. 99 ff. Foucault: Die Sorge um sich, S. 142.

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dehors“). In einer umfassenden Studie über Monstren und Wunderwesen, die sich auch mit dem Hermaphroditismus befasst, führt Paré 1573 aus, dass Frauen sich leicht in Männer verwandeln könnten, sofern es ihnen gegeben wäre, ihren Leib zu öffnen und ihre Sexualorgane umzustülpen. Die Position Parés übernimmt der Mediziner Jacques Duval im Traité des hermaphrodites (1612), indem er die theoretische Möglichkeit des Geschlechtswechsels für Frauen hervorhebt, die sich aus der homologen Beschaffenheit ihrer Genitalien ableite, jedoch durch deren versteckte Lage erschwert werde.10 Noch Francis Bacon behauptet in seiner Natural history, die 1627 postum erschien, dass die Fortpflanzungsorgane von Mann und Frau nicht durch ihre Bauform, sondern einzig durch das Milieu der in ihnen zirkulierenden Säfte unterschieden seien.11 Wenn die anatomische Homologie aufgrund der verborgenen Position der weiblichen Geschlechtsteile unsichtbar bleibt, so führen das die Gynäkologen des 17. Jahrhunderts in misogyner Einmütigkeit darauf zurück, dass Frauen nicht das Vermögen besitzen, die erforderliche ‚Umstülpung‘ zu vollziehen. Paré erklärt mit einer bildhaften Formulierung, es fehle ihnen die Energie, das nach außen zu stoßen, was durch die Kälte ihrer Körpertemperatur wie gefesselt in ihrem Innern liege („seulement qu’elles n’ont pas tout de chaleur ny suffisance pour pousser dehors ce que par la froidure de leur temperature est tenu comme lié aus dedans.“12). Die bis tief ins 17. Jahrhundert einflussreiche paracelsische Medizin kennzeichnet die Ordnung der Geschlechter durch Gleichheit – das Prinzip der geteilten Samen – und durch Differenz – das Prinzip des Wettstreits –, ohne dass das Verhältnis der beiden Interpretationsmuster näher geklärt wird. Paracelsus, der sich in seiner Studie De occulta philosophia (1531) intensiv mit der Naturphilosophie des Poimandres befasst hat, führt dabei erkennbar Gedanken der neuplatonisch-hermetischen Tradition fort.13 Natur 

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Paré: Des monstres et prodiges, S. 30. Genauer heißt es: „La raison pourquoy les femmes se peuvent degenerer en hommes, c’est que les femmes ont autant de chaché dedans le corps que les hommes descouvrent dehors, reste seulement qu’elles n’ont pas tout de chaleur ny suffisance pour pousser dehors ce que par la froidure de leur temperature est tenu comme lié aus dedans.“ Der Begriff hier nicht im Sinne eines des Ursprungsmythos der Gleichgeschlechtlichkeit, sondern als Bezeichnung einer Abweichung von der als naturgegeben betrachteten Eingeschlechtlichkeit (vgl. Bock: Androgynie und Feminismus, S. 143 ff.). Paré: Des monstres et prodiges, S. 29 f. Zur Tradition der frühneuzeitlichen Monstrenliteratur Aurnhammer: Androgynie, S. 128 ff. Vgl. dazu Beriot-Salvadore: Der medizinische und andere wissenschaftliche Diskurse, S. 377. Bacon: Natural history, S. 556 f. Dem Mann wird ein trockenes, der Frau ein feuchtes Milieu zugeordnet. Paré: Des monstres et prodiges, S. 30. Von Fällen, in denen Männer zu Frauen werden möchten, weiß Paré nicht zu berichten. Vgl. hier Kühlmann: Der ‚Hermetismus‘ als literarische Formation, S. 149.

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erscheint als Raum, in dem eine Koinzidenz von Gegensätzen als ständig produktive Spannung herrscht, die sich selbst im Sinne einer durch Gott geschaffenen dynamischen Einheit verschiedener Kräfte darstellt. Solche Ansichten, die gnostische und christliche Offenbarungslehren in einem hermetischen Naturkonzept bündeln, sind auch in den literarischen Geschlechterbildern des späten 17.Jahrhunderts folgerichtig präsent, so bei Daniel Casper von Lohenstein, der die paracelsische Medizin durch den Jesuiten Athanasius Kircher und dessen Arte Magnetica (1641) kennen lernt. Die Form, in der Lohenstein den Zusammenhang von Natur, Rolle und Geschlecht reflektiert, ist jedoch nicht die des gelehrten Diskurses, sondern jene des rhetorischen und theatralischen Spiels.14

2. Zur Kategorie des Spiels in der barocken Gesprächskultur Harsdörffers Poetischer Trichter (1648-53) unterscheidet in seinem Anhang zwischen Spielen, die den Verstand belustigen, und Spielen, die den Leib üben.15 Die 18 Eintragungen zu ‚Spiel‘ und ‚Spielen‘, mit denen die Ars Apophthegmatica aufwarten, beschränken sich ausschließlich auf das Gebiet des Glücksspiels. Eine avanciertere Theorie und Praxis des Spiels, die eng mit der Technik der metaphorischen Imagination verbunden ist, bieten dagegen die acht Bände der einschlägigen Frauenzimmer Gesprächspiele (16431649). Ihr Vorbild ist die Hofliteratur der Renaissance, vor allem Baldassare Castigliones Il libro del Cortegiano (1528), Giovanni Della Casas Il Galateo (1558) und Stefano Guazzos La Civil Conversatione (1574).16 Die Gesprächspiele, deren Gattung in Deutschland durch Philipp von Zesens Rosen=mand (1651) und Johann Rists Gartendiskurse (1657-68) fortgeführt wird, präsentieren eine aus Adligen und Bürgern bestehende Runde von sechs Personen beiderlei Geschlechts, die sich mit Debatten über sämtliche Felder des Wissens die Zeit vertreiben. Zu ihren Gegenständen gehören Fragen der Philosophie, Naturkunde, Mathematik, Medizin und Geografie, Überlegungen zu Literatur, Musik, Malerei, aber auch Probleme esoterischer Gebiete wie 14 Vgl. zu verschiedenen Kategorien des Spiels als Wettstreit, Nachahmung, Zufall und Lustform Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 19 ff.; zur Beziehung zwischen Spiel und Fiktion Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 455 ff.; unter ästhetikgeschichtlichem Blickwinkel Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels, S. 130 ff.; zum Verhältnis von Tragödie und Spiel Menke: Die Gegenwart der Tragödie, bes. S. 123 ff (zum ‚Hamlet‘). Im Folgenden geht es um die spezifischen Zusammenhänge von rhetorischem bzw. theatralischem Spiel und Geschlechterkonstruktionen, wie sie vor allem an der Literatur des 17. Jahrhunderts studiert werden können. 15 Harsdörffer: Poetischer Trichter. Dritter Theil, S. 432. – Die nachfolgenden Beobachtungen werden ausführlicher in meinem Beitrag zu einem Sammelband aus Anlass von Harsdörffers 400. Geburtstag (November 2007) entwickelt. 16 Dazu Zeller: Spiel und Konversation im Barock, S. 81 ff.

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Chiromanie, Traumdeutung, Astrologie oder praktischer Arbeitsfelder wie Epistologie, Numismatik und Gärtnerei. Harsdörffers Diskurs ist nicht auf ein strenges Erkenntnisziel verpflichtet, sondern dient einer gelehrten Unterhaltung, in der sich Freiheit und Regelorientierung zwanglos verbinden sollen. In einer ersten Runde definieren Angelica, Julia und Cassandra gemeinsam mit Degenwert, Reymund und Vespasian die Kategorie des Gesprächsspiels. Dieses solle, so heißt es, in „kurtzweiligen als nuetzlichen“ Diskussionen über Streitfragen der Wissenschaften und die Reize der Künste bestehen.17 Auf Julias Einwurf: „So koennen unter den Gesprechspielen allerley Fragen begriffen werden?“ antwortet Vespasian, dass jede Form der Neugierde willkommen sei, sofern sie „auf sonderliche weise“ zutage trete und „etwas Kurtzweiliges in sich“ begreife.18 Das Spiel von Frage und Antwort soll nicht den Duktus trockener Belehrung, sondern den Charakter einer die Zeit vertreibenden Unterhaltung tragen. Aus diesem Grund hat es seinen festen Einsatz mit klaren Aussichten auf Erfolg und Scheitern, Gewinn und Verlust. Für Fehler müssen unter der Aufsicht eines Schiedsrichters ‚Pfänder‘ hinterlegt werden, umgekehrt darf der, der richtig antwortet, das Lob der jungen Frauen erwarten – eine Regel, die an die Abstammung der Harsdörfferschen Gesprächsspiele aus den Dialog­fiktionen der Renaissance und das ihnen eingeschriebene erotische Programm erinnert.19 Die Verknüpfung von Streit und Belohnung, Belehrung und Vergnügen zeigt, dass das Spiel der Gesprächsspiele den Prozess der Wissensvermittlung an die Kunst und deren imaginäre Welten bindet. Das Spiel, so wird sich zeigen, schafft wie die Einbildungskraft eine eigene Welt, in der die Gesetze der Unterhaltung, des Zeitvertreibs und der Selbstreferenz regieren.20 Die Spielrede im vierten Band der Gesprächspiele, mit der sich Harsdörffer 1651 nach seiner Aufnahme durch Ludwig I. von Anhalt-Köthen vor der Fruchtbringenden Gesellschaft präsentiert, bemerkt ausdrücklich, dass das Spiel „in der Natur befindlich“ sei.21 Gott habe die Natur wie ein Spielwerk geschaffen, das er selbst bediene und dessen Wirksamkeit ihm Vergnügen bereite. Insofern spiegelt sich in der Freude am Spiel die Freude des Schöpfers über sein Produkt. Daraus leitet sich für Harsdörffer auch die Legitimation des Unterhaltungscharakters ab, den das Spiel beansprucht: 17 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Erster Theil, S. 25 (jeweils nach neuer Paginierung). 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Zeller: Spiel und Konversation im Barock, S. 126 f. Sie nennt als die vier leitenden Bezugsfelder des Spielbegriffs ‚Regelhaftigkeit‘, ‚Mannigfaltigkeit‘, ‚Freude‘ und ‚Gesellschaft‘. 21 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Vierter Theil, S. 511.

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Das letzte Meisterwerk dieser Spielenden Natur ist der Mensch: Er ist zwar zu der Arbeit geboren wie der Vogel zum fliegen: jedoch solchergestalt / daß er die Sorgenstille Nacht wiederum ausruhen / am Tage wieder an seine Arbeit gehen; von dem Laste seines Berufes zu weilen absetzen / den beschäfftigten Geist belustigen und die lasse Hand ausrasten solle.22

Im Gegensatz zum Glücksspiel, das dem Menschen schadet, weil es ihn betrügt, stiften die Gesprächsspiele, die Harsdörffer annonciert, den ,Nutzen‘ eines unterhaltsam vermittelten Wissens.23 Ihre besondere Qualität liegt darin, dass sie ihr Vorbild in der Kreativität Gottes finden. So wie die Kunst als produktive Kraft die Wirksamkeit des Schöpfers fortsetzt, wiederholt das dialogische Spiel die Aktivitäten des deus ludens. Wenn Gott spielt, stiftet sein Tun auf ungezwungene Weise den Effekt der Weisheit und Güte; Gottes Spiel steht nicht im Zeichen der Kontingenz, sondern unter der Regie einer den Dingen der Natur angemessenen Leichtigkeit, die das Spiel der Gesprächsspiele nachzuahmen sucht.24 In seiner versifizierten Widmungsvorrede zur Sophonisbe (1680) hat Lohenstein ein dunkleres Gegenbild zu dieser von Harsdörffer vertretenen Position geliefert und die Spiele der Natur als Produkte der willkürlichen Dynamik von Zeit und Glück beschrieben.25 Im achten und letzten Band, der 1649 erscheint, erklärt Harsdörffer, zurückblickend auf die dreihundert ,Kunstgespraech‘ der Sammlung: Hoer / Leser / wer verspielt? | Hast du nun in dem Spiel / was dir beliebt / gewonnen / (dahin auch meine Müh’ in diesem Spiel gezielt) | acht’ ich fuer Spielgewinn / wann mir die Zeit zerronnen: | Weil ich in diesem Spiel nie hab Verdruß gefühlt.26

Das Spiel impliziert die Konsumtion von Zeit in der Unterhaltung; sein Nutzen ist dann erfüllt, wenn der Gewinn im Vergessen liegt: Nicht der Agon als Triebfeder des antiken Wettspiels steht hier im Vordergrund, sondern das Vergnügen am leichten Vergehen der Zeit. Hier wird der soziale Hintergrund des von Harsdörffer vertretenen Spielkonzepts sichtbar. Spiel bedeutet bei ihm Dialog und Geselligkeit, Lust am Erproben von Rollen und Maskeraden, nicht zuletzt Vergnügen an Epigramm und Apophthegma.27 Sein Vorbild ist die Dialogkultur des 16. Jahrhunderts, wie sie von Castiglione, Della Casa und Guazzo exemplarisch entwickelt wurde. Zu ih22 Ebd., S. 513. 23 Ebd., S. 519. Zum Glücksspiel auch: Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Bd. I, S. 332 (Nr. 1568). 24 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang, inwiefern die Spielpraxis ihrerseits auf ein mit der Magie verwandtes Wissensverständnis deutet; dazu knapp Cersowsky: Magie und Dichtung, S. 266. 25 Lohenstein: Sophonisbe, S. 6 ff., bes. S. 8 (v. 73 ff.). 26 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Achter Theil, Vorrede, S. 27. 27 Zu den Sinnsprüchen, die auch die Runde der ‚Gesprächspiele‘ kultiviert, vgl. auch Till: Transformationen der Rhetorik, S. 226 ff.

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rer Tradition gehören nicht nur die Spiele der Sprache, sondern auch das Brettspiel, das Verkleidungs- und das Ratespiel (das aber wiederum auf das Wortspiel im weiteren Sinne zurückverweist). Bereits in Castigliones Cortegiano ist das Gesellschaftsspiel eingebunden in eine soziale Ordnung, in der alles darauf ankommt, den Fürsten oder seine Gemahlin – hier die gastgebende Herzogin von Urbino – nicht zu langweilen.28 Das jeweilige Spiel muss unbekannt sein, damit es hinreichend unterhält; die „Wertschätzung des Spiels als Spiel“ gehört zu den wesentlichen Elementen einer von Illusionen verzauberten Adelskultur, die Schein und Täuschung einem exakten Sinn vorzieht.29 Wie Castigliones Runde versucht daher auch Harsdörffers Zirkel durch die Einführung neuer Spiele die Spannung zu erhalten, die in der eigentümlichen Mischung aus erotischer Anziehung und höfischer Politesse entsteht, wie sie für die Dialogkunst der Renaissance typisch ist. Die Erklärung der Regeln, die das fremde Spiel im Kreis der Gesprächspartner introduziert, ist dabei schon ein wesentlicher Bestandteil des Reizes, der vom Neuen ausgeht. Das Spiel beginnt in dem Moment, da es Aufmerksamkeit erregt, unabhängig davon, ob es tatsächlich stattfindet. Nach einer Beobachtung Luhmanns beruht die wahre Kunst der höfischen Kommunikation darin, Fixierungen zu vermeiden und schwebende Zustände des Übergangs zu schaffen, in denen man als Person nicht festgelegt ist.30 Genau diese spezifisch höfische Dimension der Balance wird durch das Spiel im Zwischenzustand von Regel und Freiheit herbeigeführt. Entscheidend ist hier, dass die Norm, die das Spielgeschehen antreibt und konditioniert, unsichtbar bleibt, so dass die Illusion einer gänzlich ungebundenen sozialen Aktivität entsteht. Im Spiel inszeniert sich die adlige Gesellschaft unter dem täuschenden Schein der freien Natürlichkeit. Das Spiel bildet, wie Klaus Hempfer im Hinblick auf den Cortegiano bemerkt hat, eine Instanz, die ‚Wahrheitsansprüche‘ aufhebt.31 Im Spiel wird die Überzeugungsarbeit der rhetorischen Argumentation zugunsten des Wettstreits, der Unterhaltung oder des Versteckens von Intentionalität zurückgestellt. Der Spielende ist gehalten, die strenge Teleologie sachlicher Argumentation in einem selbstreferenziellen Verfahren aufzulösen. Das Spiel verweist nur auf die eigenen Formen und Regeln; seine innere Einheit empfängt es durch seine isomorphe Struktur, die jedes zu ihm gehörende Regelelement und Verhaltensprinzip in eine homogene Ordnung integriert. Zwar ist das Spiel einer Vielzahl offener Ablaufvarianten unterworfen und damit im Detail kontingent, doch gehorcht es durch diese Isomorphie einer 28 29 30 31

Castiglione: Der Hofmann, S. 20 ff. Luhmann: Liebe als Passion, S. 93. Luhmann: Interaktion in Oberschichten, S. 98. Hempfer: Rhetorik als Gesellschaftstheorie, S. 141.

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formalen Normierung. Selbstreferenz und Isomorphie verbinden das Spiel mit der literarischen Fiktion, die ihre Als-ob-Struktur nach außen abdichtet, indem sie die von ihr dargestellte Welt als ein jenseits jeglichen Zweifels geltendes, geschlossenen Regeln unterworfenes Gefüge ausgibt.32 Der Zusammenhang zwischen dem Spiel und dem auf fiktionalen Strukturen aufgebauten literarischen Text soll anhand eines kurzen Exkurses verdeutlicht werden. Wolfgang Iser hat in seiner Studie über Das Fiktive und das Imaginäre das Spiel als anthropologische Basiskategorie des literarischen Textes auszuweisen gesucht. Die Leistung des Textes besteht laut Iser bekanntlich darin, dass er die ungeformten Strukturen des Imaginären in eine Form überführt. Diese Operation vollzieht der Text durch die Fiktion, die ihrerseits nach den Prinzipien des Spiels arbeitet. Die Aufgabe von Spiel und Fiktion zielt darauf, das Bedürfnis des Menschen nach Wettstreit, Lust und Illusion zu befriedigen. Unter Rekurs auf ein Schema von Roger Caillois unterscheidet Iser vier Typen des Spiels, die er jeweils zentralen literarischen Funktionen zuschreibt: dem ‚agon‘ (Wettstreit) entspricht die Ausrichtung an einer teleologischen Ordnung, ‚alea‘, dem Würfelspiel, das Verlangen nach willkürlicher Freiheit, ,mimikry‘ (Nachahmung) das Interesse an der Illusion, ,ilinx‘ (dem Taumelspiel) die Sehnsucht nach Lust und Rausch.33 Sämtliche der hier genannten Bereiche bilden für Iser Grundformen der literarischen Fiktion. Mit dem Spiel teilt die Fiktion aber nicht nur die anthropologische Ebene, auf der grundlegende affektive, kognitive und imaginative Bedürfnisse befriedigt werden, sondern auch die in sich widersprüchliche Tendenz zur Regelhaftigkeit und Unbeendbarkeit. „Die Begrenzung“, so schreibt Iser, ist notwendig, um den einzelnen Spielen ihre je eigene Form zu geben; die Entgrenzung ist ebenfalls notwendig, weil Spiel nicht mit dem identisch sein kann, wozu es führt. Deshalb ist das Textspiel ein solches, in dem Begrenzung und Endlosigkeit gleichermaßen gespielt werden können.34

Bilden die Regeln das Konstituens von Spiel und Fiktion, so ist die Vielfalt der Kombinationen ihrer Elemente eine Ursache für die Unabschließbarkeit der sie tragenden Struktur. Zwar wird der Text durch den Akt der Lektüre scheinbar zu Ende gebracht, jedoch erschöpft dieser Umstand das Reservoir seiner Sinn- und Deutungsmöglichkeiten nicht. Wie das Spiel, das stets neu einsetzen darf, kann auch die Lektüre immer wieder von vorn beginnen. „Der Text als Spiel“, resümiert Iser, „ist die Transformation seiner Positionen.“35 32 Vgl. Hempfer: Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie, S. 124 f. 33 Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 19 ff.; Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 455 ff. 34 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 455. 35 Ebd., S. 466.

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Der fünfte Band der Gesprächspiele enthält ein allegorisches Drama mit dem Titel Die Redkunst, das die rhetorische Systematik der Gattungen, Tropen und Figuren im allegorischen Bild des Hofes mit entsprechenden Hierarchien, Personen, Gruppen und Ämtern vorführt.36 Diese Erfindung ist charakteristisch für Harsdörffers Spielkonzept, das keine direkte epistemische Zielsetzung verfolgt, sondern primär vom Anspruch bestimmt wird, die internen Beziehungen einer Ordnung über ihre möglichst anschauliche Darstellung vorzuführen. Entscheidend bleibt die Formung durch äußere Vorgaben der Gattung des Dramas, das die rhetorische Systematik in Szene setzt. Das Spiel Harsdörffers überträgt diese Systematik auf die Prinzipien der Fiktion und transportiert damit die epistemische in eine ästhetische Modellstruktur. Das Spiel gleicht der Fiktion, wie sie Iser beschrieben hat, insofern es sich selbst als Gegenstand genug ist; es bildet das Resultat von Erfindungen mit spezifischen Gesetzen und Weltmodellen, die keine Repräsentation von etwas anderem bedeuten, sondern autopoietisch funktio­ nieren. Der Konnex von Literatur und Spiel wird durch die Tatsache bestätigt, dass zahlreiche der Spiele, die Harsdörffers Zirkel erprobt, genuin literarischen bzw. – im weiteren Sinn – sprachlichen Charakter tragen. Zu den verschiedenen Typen, mit denen die Runde experimentiert, gehören das Buchstabenspiel, das Silbenspiel, das Reimspiel, das Rätsel, das Anagramm, das Apophthegma und das Akrostichon; Novellen und Echogedichte werden ebenso vorgetragen wie Gleichnisse und Fabeln. Dichtung ist Spiel, umgekehrt das Spiel nicht selten Dichtung, und zwar als Zeitvertreib, der Unterhaltung gewährt.37 Die Funktionsbasis der Poesie liegt darin, dass sie den geistigen Sinn der Erscheinungen abbildet, indem sie eine eigenständige Welt konstituiert.38 Die Selbstreferenz gehört wesentlich zu den Bestimmungen des literarischen Textes; an den Platz einer mimetischen Bindung der Dichtung tritt, vermittelt über die ars combinatoria, eine auto­ poietische Qualität, die durch die Arbeit der Fiktion gewährleistet wird.39 Als Spiel ist die Poesie zwar nicht autonom, weil sie der höfischen Tradition der Unterhaltung dient, jedoch erfüllt sie weitaus komplexere Aufgaben als 36 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Fünfter Theil, S. 329 ff. 37 Vgl. Zeller: Spiel und Konversation im Barock, S. 128 ff. 38 Die einzige externe Bezugsebene, die Harsdörffers Spiel konditioniert, bleibt die der höfischen Gesellschaft. Zwar sind Statuszugehörigkeit und Rang in den Dialogen außer Kraft gesetzt, so dass bürgerliche Gesprächsteilnehmer dieselbe Anerkennung genießen wie die Vertreter des Adels. Strukturell und funktional aber verbinden sich die Gesprächsspiele mit der Hofkultur der Renaissance, unterliegen sie doch der Freude am Schein – der ‚sprezzatura‘ – und dem Vergnügen an der Verstellung im Rollenhandeln. Unter dem Gesetz dieser kulturellen Determination verwandelt sich der Wissenseifer, der die Dialoge antreibt, zu einem selbstreferenziellen Zeichen, das im Dienst der nützlichen Ablenkung steht. 39 Zur Qualität des Autopoietischen vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 84 ff.

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die, in gefälliger Weise Wissen zu vermitteln.40 Der Mechanismus des Spiels reflektiert die Vielfalt der literarischen Formen, Gattungen und Textkonzepte. Das Spiel ist das Medium, in dem literarische Strukturen prozessiert werden und rhetorische Figuren, Genres und Stile wie in einer Leistungsschau hervortreten. 41 Dass Fiktion und Spielkonzept eng verknüpft sind, demonstriert der achte Teil der Gesprächspiele, der nochmals die verschiedenen Typen von Erzählungen resümiert, mit denen die übrigen Bände aufwarteten. Vespasian unterscheidet Geschichten, die Sprichwörter und Rätsel erklären, zergliederte Erzählungen, die zu spezifischen Lemmata erfunden werden, Ketten­ erzählungen, die man im Zirkel reihum fortsetzt, Beispielerzählungen allegorischen Zuschnitts, Tapetenerzählungen, die den Szenen eines Gobelins folgen, Geschichten zu Sinnbildern und zu Redensarten.42 Hier wird sehr deutlich sichtbar, dass das Spiel durch Fiktion gegründet und vice versa als Auslöser fiktionaler Ordnungen zu betrachten ist. Das Spiel stößt ein Erzählen an, das die horazische Formel von Nutzen und Erbauung umzusetzen sucht, aber zugleich den Selbstzweckcharakter der autopoietischen Konstruktion erfüllt. Mit dieser Doppelung gleicht das Erzählen dem Spiel, das es veranlasst; die Opposition zwischen Unterhaltung und Erkenntnis ist hier ebenso aufgehoben wie jene zwischen Schein und Realität. Spiel und Erzählen bilden eine eigenständige, regelgeleitete Struktur aus, die durch Isomorphie, Selbstreferenz und autopoietische Beschaffenheit gekennzeichnet ist. In seiner Spielrede betont Harsdörffer, dass Gott die Welt nicht nur wie im Spiel geschaffen, sondern anschließend an ihr auch Gefallen gefunden habe wie ein Vater an seinem Kind.43 Dieser Vergleich verdeutlicht nochmals die Analogie von Spiel und Fiktion, die sich in der Fähigkeit zur Erzeugung einer Wirklichkeit mit eigenen Gesetzen und selbstreferenziellem Charakter entsprechen. Wie Gottes Schöpfung kein Anderes außerhalb ihrer Geltung kennt, sind Spiel und Fiktion geschlossene Systeme, deren Elemente zwar eine schier unendliche Möglichkeit der Kombination zulassen, dabei aber in die Ordnung fester Regeln eingebunden bleiben. 40 Schon Krebs (Georg Philipp Harsdörffer, S. 211 f.) verweist darauf, dass Harsdörffers Literatur sich nicht auf die ‚imitatio‘ beschränke, sondern der Fiktion als Finde- und Erfindekunst große Bedeutung verleihe. 41 Vgl. Tarot: „Fiktion“ bei Harsdörffer, S. 105-126. Tarot begnügt sich mit knappen Hinweisen auf die Differenz zwischen ‚modernem‘ und ‚barockem‘ Fiktionsbegriff; zwar ist es angemessen, auf die rhetorische Konditionierung der Fiktion durch die ,inventio‘ zu verweisen, jedoch fehlen bei Tarot Überlegungen zur kombinatorischen Dimension der poetischen Erfindung, die in Harsdörffers System die strenge rhetorische Bestimmung supplementiert. 42 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Achter Theil, S. 261 ff.; vgl. dazu Breuer: Einübung ins allegorische Verstehen, bes. S. 133 f. 43 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Vierter Theil, S. 511.

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3. Androgynie und rhetorisches Inzest-Spiel in Lohensteins Agrippina (1665) Im Anschluss an Isers (auch auf Harsdörffer übertragbaren) Versuch, das Textspiel als Analogon anthropologischer Strukturen zu fassen, soll nachfolgend die Darstellung der Androgynie in Lohensteins Dramen analysiert werden. Das Spiel, so steht zu zeigen, versieht hier die Funktion eines Konstruktions- und Reflexionsmodus, der die androgyne Grundstruktur des Geschlechts im Medium der literarischen Fiktion ans Licht bringt. Die Wirklichkeit der Geschlechtermodelle, die Lohensteins Theatertexte vorführen, vermittelt sich dabei über die Ebene der spielerischen Erzeugung imaginärer Rollenbilder, die ihrerseits eine metapoetische Funktion aufweist. Im Spiel der Geschlechterinszenierungen spiegeln sich die Leistung der Literatur und deren Lizenz zur inventio. Das Spiel ist nicht nur ein generierendes Prinzip, sondern zugleich ein Reflexionsmodus für die Arbeit der Fiktion. Die Aufgabe des rhetorischen Spiels als Medium ambivalenter Geschlechteridentität zeigt besonders deutlich Lohensteins Agrippina (1665), und zwar am Musterfall des Inzests, den die Mutter des Kaisers mit ihrem Sohn Nero zu praktizieren trachtet. Pointierter als seine Quellenautoren Tacitus (in den Annalen) und Sueton (in Vitae Caesarum) präsentiert Lohenstein Agrippina in der Rolle der Verführerin, die Nero umgarnt, indem sie ihr sexuelles Verlangen als Zeichen der Übereinstimmung mit den Gesetzen der Schöpfung zu rechtfertigen sucht.44 Wie die Bewegungslinien der Natur der Form des Kreises folgten, so argumentiert sie, bahne sich das erotische Begehren einen Weg zu seinem Beginn. Angesichts dieser zirkulären Logik sei es nur konsequent, wenn der Sohn der Mutter beiwohne: „Wir muessen die Natur der Dinge Zirckel nennen. | Denn wuerde nicht ihr Lauff zu seinem Uhrsprung rennen / | So wuerd’ ihr Uhrwerck bald verwirr’t und stille steh’n.“45 Das sexuelle Verlangen bedeutet in dieser Auslegung einen Spiegel für die Sehnsucht nach dem Anfang, der vom Schoß der Mutter repräsentiert wird; der Inzest legitimiert sich durch den Hinweis auf die Mechanik der Natur, die in sich zirkuliert und damit das Sinnbild eines ewigen Selbstbezugs darstellt: „Der Fruehling muß zum Lentz / der Fluß zum Kwaelle kommen.“46 Der Inzest offenbart sich als Widerruf der Geburt, als Rückkehr des Sohns zum Ausgangspunkt seiner Existenz. In letzter Konsequenz bedeutet er ein radikales Spiel mit dem Ich, das durch die inzestuöse Annäherung aller Formen der äußeren Beschränkung enthoben scheint. Im Schoß 44 Tacitus: Annales, 14, 2; Sueton: De vita Caesarum: Nero 28, 2. 45 Lohenstein: Agrippina. Bd. II. 2.1, S. 90 (III, v. 181 ff.). 46 Ebd., S. 90 (III, v. 186).

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der Mutter ist die Differenz – der Rollen und Geschlechter – aufgehoben, weil hier, wie Agrippina behauptet, das Prinzip der Selbstübereinstimmung, also absolute Identität herrscht. Im Beischlaf mit der Mutter würde Nero nicht als Sohn, sondern als Double seines Ursprungs handeln, folglich die Identität Agrippinas annehmen, in deren Leib er wieder eintritt.47 Die Sirenenstimme der Verführerin verweist auf die Ordnung einer Natur, bei der Geburt und Tod so wenig wie Mann und Frau trennbar sind, weil die zirkuläre Bewegung der in ihr ablaufenden Prozesse mit der Differenz von Anfang und Ende zugleich die der Geschlechter löscht: „Die Sonne rennet stets der Morgen=roethe nach / | Und ihrer Mutter Schoos ist auch ihr Schlaf=Gemach.“48 Im Inzest spiegelt sich die Idee des Ursprungs, von der Aristophanes in Platons Symposion erzählt, aber ebenso jener Punkt der anatomischen Homologie, durch den Mann und Frau gemäß der paracelsischen Medizin eins sind. Agrippinas tropische Rede vollzieht damit im Wortsinn eine radikale Perversion des hermetischen Naturbegriffs, indem sie dessen Idee eines göttlichen Erzeugungsakts von geistiger, logosgestützter Qualität in die Rechtfertigung der Unzucht – als „Erneuerung des matten Lebens“ und Rückkehr zum „Brunnen der Geburth“ – verwandelt.49 Der Inzest ist legitimiert, da er im Namen einer Schöpfung erfolgt, welche die Geschlechter über ihrem gemeinsamen Ursprung eint. Agrippinas Werbung steht bei Lohenstein in einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang, der ihre Funktion als frivoles Spiel der Rhetorik erläutern kann. Im vierten Buch der Metamorphosen, das Liebestragödien archetypischen Charakters schildert, beschreibt Ovid die Zweigeschlechtlichkeit als Resultat mythischer Sanktionsgewalt (IV v.285-388). Der ebenso narzisstische wie schöne Hermaphroditus, Sohn des Mercurius (Hermes) und der Venus (Aphrodite), verweigert sich dem Liebesbegehren der lasziven Nymphe Salmacis, die ihn daher zur Strafe, als er lustvoll-selbstverliebt in dem von ihr bewohnten Teich spielt, umarmt, so dass ihre Leiber verschmelzen und zu einem gemischten Geschlecht werden. Der im Doppelkörper gefesselte Hermaphroditus bewegt darauf seine Eltern, das Wasser des Teichs zu verfluchen und ihm einen Verwandlungszauber zu verleihen, der fortan jeden hier badenden Mann mit weiblichen Eigenschaften ausstattet. Ovids Erzählung liefert die Kontrafaktur zum platonisch-aristophanischen Androgynie-Modell, insofern sie Zweigeschlechtlichkeit nicht als Mythos der Einheit, sondern als Produkt schuldhafter Verstrickung in die eigene Eitelkeit auslegt. Agrippina und Nero sind bei Lohenstein deutlich 47 Über den ursprungsmythischen Zusammenhang von Geburt und Schoß vgl. Andreas Gryphius im „Brunnen=Discurs“: der Mensch komme „aus der natuerlichen Hoelen Muetterlichen Leibes“ (Gryphius: Dissertationes funebres, S. 10). 48 Lohenstein: Agrippina. Bd. II. 2.1, S. 90 (III, v. 187 f.). 49 Ebd., S. 91 (III, v. 191 f.).

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der ovidschen Vorlage nachgebildet, repräsentieren sie doch als inzestuöses Paar die verwerfliche, nicht die verheißungsvolle Unität der Geschlechter, von der die Episode der Metamorphosen Zeugnis ablegt – gleichsam die gegenplatonische Spielart einer Androgynie, in der sich Wollust und Narzissmus manifestieren.50 Libido effoeminans – verweichlichende Liebeslust – lautet bezeichnenderweise das Motto, unter dem ein Emblem des Barptolomäus Anulus 1552 die ovidsche Fabel darstellt. Anulus erläutert die Geschichte des Hermaphroditus als Allegorie des sexuellen Begehrens, das den Mann zu dem Punkt zurückführt, dem er einst entstieg. Die Quelle, in der die Nymphe Salmacis haust, bezeichne, so heißt es in schwüler Metaphorik, den weiblichen Schoß als „süßen Ort der Erfrischung für brennende Liebe“: „At revera hic fons nihil est aliud, nisi cunnus. | Ardentis veneris suave rerigerium“.51 Die Para­llele zu Lohenstein liegt offen zutage, denn auch bei Anulus ist der Begriff der Quelle die Chiffre für die Verwandlung ins Androgyne, die im Namen einer zirkulär spielenden Natur geschieht. Ein Emblem Nicolas Reusners, das aus dem Jahr 1581 stammt, deutet das Motiv mit derselben Tendenz als Sinnbild der erotischen Anziehung, die schwächend und effeminierend wirke.52 In beiden Fällen bleibt die Androgynie an die Ursprungskraft des Wassers und die zyklische Logik einer Schöpfung gebunden, die den Mann zu seinem Anfang und damit zur Gleichgeschlechtlichkeit zurücktreibt. Die von Anulus und Reusner gebotenen Deutungen der ovidschen Fabel galten nicht zuletzt jenen Vertretern der sexuellen Libertinage, die sich in der französischen Renaissance unter Bezug auf den Topos der Androgynie zu rechtfertigen suchten. Antoine Héroët hatte in seinem Traktat L’Androgyne de Platon, der 1542 erstmals erschien, eine auf Ficino gestützte versifizierte Kom­mentierung der einschlägigen Passagen des Symposion vorgelegt, die den Eros-Mythos nutzte, um aus ihm eine Verteidigung höfischer Liebespraxis als ,passion gentille‘ abzuleiten.53 Mit Ovids Hermaphroditen-Episode ließ sich gegen die promiskuöse Seite der aristokratischen Liebe, die Héroët als Ausdruck ewigen Verlangens deutete, im Interesse der männlichen Selbstbewahrung argumentieren. Das eindeutige Bild sollte die frivolen Androgynie-Spiele der höfischen Kultur kritisch infrage stellen und durch seine Zeichensprache den Appell zur Triebdisziplinierung vermitteln. Lohensteins Agrippina plädiert, so zeigt dieser Rückblick, gerade mit der spielerisch-bildverliebten Rhetorik des höfischen Diskurses für die 50 Diese wertende Sicht bleibt bei Lohenstein durchgehend in Kraft – Agrippina verkörpert die abschreckend-dekadente Seite des römischen Imperiums in seiner Spätphase. 51 Anulus: Picta Poesis, S. 32; vgl. Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 1628. Zu Anulus auch Aurnhammer: Androgynie, S. 60. 52 Reusner: Emblemata, Pars III, Nr. 25; vgl. Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 1629. 53 Vgl. Aurnhammer: Androgynie, S. 98 ff.

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Wiederholung des hermaphroditischen Erosexperiments.54 Der Inzest ist jedoch bei Lohenstein nicht auf der Ebene des Handelns angesiedelt, sondern bleibt ein Sprachereignis, das die Annäherung der Geschlechter im Spiel tropischer Bilder beschwört. Agrippinas lockende Rede hebt die Sexualität in einer Metaphorik auf, welche die Geschlechterverhältnisse neu organisiert, indem sie die strengen Vorschriften von Moral und Konvention unterläuft. Dass die Rhetorik sich als spielerisches Medium erweist, mit dessen Hilfe Tabus und Regeln durchbrochen werden, erkennt auch Nero, wenn er lakonisch über die erhitzten Naturmetaphern Agrippinas bemerkt: „Es läß’t hierinnen sich aus Gleichnuessen nicht schluessen.“55 Bezeichnenderweise bringt gerade die Magie dieser Gleichnisse den Sohn am Ende so in Wallung, dass er bereit ist, sich der Mutter hinzugeben („Wer hier nicht naschen will / muß ein entseelter Stein | Nicht Agrippinens Kind / nicht ihr Gebluette seyn.“56). Im entscheidenden Moment der Grenzüberschreitung bleibt es jedoch beim rhetorischen Spiel, weil die freigelassene Sklavin Acte den Kaiser vom Inzest abhält, indem sie in sein Privatgemach eindringt und von einer bedrohlichen Revolte der Leibwache berichtet.57 Nicht sexuelle Handlungen, sondern ‚Gleichnisse‘ schaffen den Raum jener Zweideutigkeit, in dem Sohn und Mutter, Mann und Frau zur unterschiedslosen Einheit verschmelzen.58 Die Androgynie der Natur bleibt das Produkt einer kulturellen Zuschreibung, die sich des Logos bedient, um, einer neuen Schöpfung gleich, in die Ordnung der Dinge einzugreifen. Was die Grenzen der Geschlechter aufhebt, ist nicht die Interaktion der Körper, wie Foucault in Le corps utopique behauptet, vielmehr die Arbeit der Sprachspiele.59 Dass erotische Lust und rhetorisches 54 Was sie über die geschlechterverbindenden Kräfte der Natur sagt, gehorcht nun freilich einer taktischen Strategie jenseits bloßer Wollust. Die Verführung des Sohnes ist von der Angst motiviert, sie könne ihren politischen Einfluss am Kaiserhof verlieren und kaltgestellt werden – eine Erwartung, die das Trauerspiel, gestützt auf die Schilderung in Cassius Dios Historia Romana und deren Auszug bei Joannes Xiphilinus (entstanden im 11. Jh., publiziert 1592), durch seinen Verlauf bestätigt (vgl. Cassius Dio: Historia Romana 61, 11, 2-4; Joannes Xiphilinus: E Dione excerptae historiae, S. 162 C/D; vgl. Lohenstein: Agrippina. Bd. II. 2.1, S. 208 f). 55 Lohenstein: Agrippina. Bd. II. 2.1, S. 91 (III, v. 193). 56 Ebd., S. 93 (III, v. 255 f.). 57 Ebd., S. 94 (III, v. 264 ff.). 58 Die inzestuöse Annäherung von Mutter und Sohn hat auch in ihrer Metaphorik eine poli­ tische Dimension. In ihr definiert sich, wie Christopher Wild gezeigt hat, der Tyrann als voraussetzungsloser Herrscher, der Anfang und Ende zugleich verkörpert (vgl. Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 111-149). – Generell ist das Spiel mit der Wiederholung des Geschlechts bei Lohenstein mit der Reflexion politischer Souveränität verbunden, wie sie sich nach der aus dem Spätmittelalter stammenden Lehre von den zwei Körpern des Königs im doppelten Leib des Herrschers manifestiert (vgl. dazu Alt: Der Tod der Königin, S. 94 ff.). 59 Foucault: Die Heterotopien, S. 31; zur Kritik an Foucault vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 192 ff.

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Spiel, Androgynie und Redewendung unmittelbar zusammenhängen, weiß schon der Narr Feste aus Shakespeares A Twelfth Night: „A sentence is | but a cheu’rill gloue to a good witte, how quickely the | wrong side may be turn’d outward.“ (III, v. 1224 ff.)60 Die Redewendung ist für einen witzigen Kopf wie ein lederner Handschuh, bei dem man rasch die verkehrte Seite herausziehen kann. Das Spiel mit der Sprache bedeutet zugleich ein Spiel mit den geschlechtlichen Identitäten, deren Zweideutigkeit durch die Ambiguität der Rede zutage tritt.61 Dass die spielerischen ‚Wendungen‘ der Sprache lüstern machen können, weiß auch Viola, wenn sie erklärt: „Nay that’s certaine: they that dally nicely with | words, may quickely make them wanton.“ (III, v. 1227 f.) Agrippinas verführerische ‚Gleichnis-Rede‘ bildet bei Lohenstein den eigentlichen Höhepunkt eines erotischen Annäherungsvorgangs, der sich im Medium der Rhetorik und ihrer gleitenden Zuschreibungen vollzieht. Die Bilder des Brunnens und der Quelle, die Schmuck- und Speisemetaphern, nicht zuletzt die Allegorien des Sonnenlaufs und der zyklischen Bewegung erzeugen die Vorstellung einer kreisförmigen Natur, in der nicht die Zweiheit, sondern die Einheit der Geschlechter herrscht. Die metaphorischen Spiele der Sprache reflektieren den Inzest als Vollendung einer Gemeinschaft, deren Partner jenseits ihrer konventionellen Differenz eine scheinbar naturhafte Identität vereint. So wie die Metapher die innere Ähnlichkeit des äußerlich Unähnlichen sichtbar macht, führt der Inzest die heimliche Verwandtschaft der durch kulturelle Normen geschiedenen Geschlechter vor. In Harsdörffers Poetischem Trichter erscheint das Gleichnis als „Königin“62 der tropischen Stilmittel; der Aristoteles-Kommentar des Francesco Robortello formuliert bereits 100 Jahre zuvor: „metaphora est, seu analogia REGINA“.63 Zur Herrscherin der Tropen wird das Gleichnis, weil es die Gegensätze übergreift und das Unterschiedene im tertium comparationis vereint. Die Gleichnisrede repräsentiert folglich das angemessene Medium für ein rhetorisches Spiel mit den Geschlechtergrenzen und die sprachliche Auflösung der Differenz im Phantasma der absoluten Identität, die der Inzest herstellt. „Der Text als Spiel“, so hatte Iser formuliert, „ist die Transformation seiner Positionen.“64 Nimmt man diese Diagnose zum Maßstab, so liegt die Transformationsleistung des Lohensteinschen Dramas gerade darin, dass es das Changieren der Geschlechteridentität in der tropischen Rede aufzeigt. Die Sprache ist der Raum, der die Dynamik 60 Zit. n. Mr. William Shakespeares Comedies. Vgl. zum Wortspiel Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 88. 61 Der Narr bestätigt das, wenn er über Olivia sagt: „her names a word, and to dallie with | that word, might make my sister wanton“ (III, v. 1231 f.). 62 Harsdörffer: Poetischer Trichter. Dritter Theil, S. 57. 63 Robortello: In Librum Aristotelis de arte poetca explicationis, S. 259. 64 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 466.

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der Identität und den Konstruktionscharakter der Differenz im Textspiel vorführt.

4. Kleidertausch als Geschlechter-Spiel in Lohensteins Sophonisbe (1680) Neben der rhetorischen Dimension existiert jedoch bei Lohenstein auch eine performative Ebene des Spiels, die das kulturelle Programm der Androgynie reflektiert; sie wird in seinem vorletzten, 1666 uraufgeführten Trauerspiel Sophonisbe besonders deutlich. Um ihren Ehemann Syphax aus den Fängen des feindlichen Königs Masanissa zu befreien und die drohende Belagerung der Stadt Cyrtha abzuwenden, entschließt sich die Numiderkönigin Sophonisbe, der als Schutzpatronin verehrten Mondgöttin ein Opfer in Gestalt eines ihrer Söhne darbringen zu lassen. Ehe Sophonisbe selbst mit „Helm und Harnisch“65 in die Schlacht zieht, kommt es zu einem merkwürdigen Kleidertausch, der Voraussetzung für das Gelingen des Ritus ist. Gegenüber ihrem Stiefsohn Vermina, der das Opfer mit ihr durchführen soll, erklärt sie: „Zeuch meinen Rock auch an; | Daß ich in Helden-Tracht dem Mohnden opfern kann/ | Und du dis heil’ge Bild in Weiber-Kleidern ehren; | Weil sonst die Goettin nicht pflegt Betende zu hoeren.“66 Das geplante Ritual fordert offenbar die doppelte Maskerade, die Verkleidung der Frau als Mann und jene des Mannes als Frau. Lohensteins Anmerkung erläutert den Hintergrund dieses Vorgangs mit einem Hinweis auf Kirchers Oedipus Aegyptiacus (1652-54), der die arkanen Religionsgebräuche des antiken Nordafrika aus der Sicht einer christlichen Kosmologie deutet. Belehrt durch Kircher, berichtet Lohenstein, „daß bey den Alten Venus und der Mohnde einerley / beyde auch Mann- und Weibliches Geschlecht gewesen sey. Dahero hätten ihr die Maenner in weib- die Weiber in maennlichen Kleidern opfern muessen.“67 Noch Spensers Fairie Queene schildert unter Rückgriff auf solche auch in Griechenland und Ägypten geläufige Deutungsmuster die römische Liebesgöttin als Hermaphroditen, dessen Leib verschleiert sei: „Both male and female, both under one name: She sire and mother is herself alone“.68 Die Inszenierung des Kleidertauschs, die eine kulturelle Simulation der androgynen Erscheinung bedeutet, unterstreicht das Bild der geschlechtsneutralen Göttin, wie es phönizische und syrische Mythologien der Venus

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Lohenstein: Sophonisbe, S. 14. Ebd., S. 33 (I, v. 377 ff.). Ebd., S. 128 f.; Kircher: Oedipus Aegyptiacus, S. 348 f. Spenser: The Fairie Queene, IV, 10, 41 f.

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zudenken.69 In der Auflösung der je spezifisch weiblichen und männlichen Erscheinungsform vollzieht sich die Annäherung an die Mondgöttin, die nur über dem Umweg des Rollenwechsels verehrt werden darf. Laut Walter Burkert bezeichnet das Menschenopfer nach dem Muster dessen, was Sophonisbe plant, eine paradoxe „Strategie des Lebens auf dem Hintergrund des Todes“,70 weil es Erneuerung durch Zerstörung herbeizuführen sucht. Das in sich Widersprüchliche des Opfers liege, so formuliert Burkert im Homo Necans, in seiner Verknüpfung von Auslöschung und Wiedergeburt: „Eine Ordnung wird errichtet, die eben im Kontrast zum Vorangehenden gilt. Im Erleben des Tötens wird die Heiligkeit des Lebens erfahren, das durch den Tod seine Nahrung findet und eben damit seinen Fortbestand.“71 In Sophonisbes Zurüstungen spiegelt sich, gemäß dem altafrikanischen Brauch, die hier bezeichnete Paradoxie des Opfers über die Auflösung einer Geschlechtsidentität, die durch das androgyne Doppel des falschen Mannes und der falschen Frau ersetzt wird. Indem er sein Geschlecht verzweifacht, erreicht der Mensch seine größte Nähe zur Gottheit, deren Wesen als Einheit von Gegensätzen zu begreifen ist. Inszenierte Formen des Rollentauschs finden sich auch an anderen Stellen des Trauerspiels.72 Bereits in der Exposition bezeichnet der für die Römer kämpfende Masanissa Sophonisbe und Syphax mit aufschlussreichen Metaphern als Urheber des Kriegs, der Numidien in zwei Parteien spaltet: „So stuertzt sich Sophonisb’ und Syphax geht verlohren / | Weil sie den Frieden-bruch gezeuget / Er gebohren.“73 Ist Sophonisbe Zeugerin des Unglücks, Syphax aber sein Gebärer, so verrät das schon am Beginn des Dramas, dass die Geschlechterdifferenzen auf der Ebene der Sprache ins Wanken geraten. Theatralisch veranschaulicht wird dieser Befund, wenn Sophonisbe im zweiten Akt, als „Roemisch Kriegs-Knecht“ verkleidet, den von Masanissa erneut gefangengesetzten Syphax im Lager der Feinde zu befreien sucht. „Die Liebe“, so erläutert sie dem aufgrund ihrer äußeren Erscheinung überraschten Syphax, „ist aus des Proteus Orden / | Die sich zu allen macht / nimbt jede Farbe an sich | Wie ein Chamaeleon. Die hat / mein Engel / mich | Auch in dis Kleid versteckt dir Hülf und Rath zu 69 Zum Transvestitismus vgl. Aurnhammer: Androgynie, S. 79 ff. 70 Burkert: Kulte des Altertums, S. 47. Zum Menschenopfer in der Antike vgl. WilamowitzMoellendorff: Der Glaube der Hellenen. Bd. I, S. 291 ff. 71 Burkert: Homo Necans, S. 49. 72 Diese Formen des Kleidertauschs – und mit ihnen die Momente der Ambivalenz und Androgynie – fehlen in anderen Bearbeitungen des Stoffs, so in John Marstons Sophonisba (1605), wo die Titelheldin eine stoisch Tugendhafte ist, die sich mit Syphax zum Zweck der politischen Sicherung Karthagos verheiraten lässt und am Ende bereitwillig für ihr Land opfert (vgl. dazu Harris: Night’s Black Agents, S. 64 ff.; verweist auf die Hexenszene im vierten Akt als Parallele zu Shakespeares Macbeth). Zu Marstons Trauerspiel auch Tetzeli von Rosador: Magie im elisabethanischen Drama, S. 114 ff. 73 Lohenstein: Sophonisbe, S. 21 (I, v. 4).

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bringen.“74 Bereits Epicharis, die glücklose Gegnerin Neros in Lohensteins zweitem römischem Trauerspiel, operiert mit dem Mittel des Rollen- und Geschlechterwechsels, um inkognito ihre Verschwörung vorbereiten zu können: „Mein treu Gemuette zwing’t | Jn Maenner-Kleidern mich den Helden nach zuziehen.“75 Sophonisbe tauscht mit Syphax die Kleidung, damit er das Lager als Römer verlassen kann, während sie sich von ihm in Fesseln legen lässt, um Masanissa zu erwarten. Als dieser im Gefängnis auftaucht, entblößt sie vor ihm ihr Hemd und bringt ihn angesichts ihrer körperlichen Reize sogleich um den Verstand. Masanissa befreit Sophonisbe, erklärt ihr seine Liebe und kündigt an, sie unverzüglich zu heiraten – ein Verhalten, das er prägnant kommentiert, indem er erklärt: „Das Einhorn laegt sein Horn / das Zepter seiner Macht / | So in der Frauen Schoos.“76 Über die Befreiung des Syphax heißt es in Lohensteins Inhaltsangabe: Sophonisbe „zeucht ihn aus den Banden“ und „verwechselt mit ihm die Kleider“.77 Denkt man an die theatralische Realisierung derartiger Szenen auf der Bühne des späten 17. Jahrhunderts, so gewinnt diese ‚Verwechslung‘ einen äußerst ambivalenten Charakter. Nicht nur die Uraufführung der Sophonisbe, die vermutlich 1669 am Breslauer Magdalenum stattfand, unterlag der bereits erwähnten Regel, dass die Frauenrollen durch Knaben – noch vor dem Stimmbruch – darzustellen waren.78 Für Lohensteins Stück bedeutete die geltende Konvention, dass ein pubertierender Gymnasiast von weißer Hautfarbe eine erotisch attraktive schwarze Frau spielte, die sich als Mann ausgibt, im entscheidenden Moment aber ihre weibliche Identität offenbart, indem sie ihr Hemd öffnet und ihre Brüste zeigt. Lohenstein erweist mit dem Motiv des Kleidertauschs, dessen implizite Theatralität mitzu­denken ist, die Unzuverlässigkeit der Geschlechterordnung als Drama, in dem das Profil von Mann und Frau unaufhörlich changiert. Die Szene dokumentiert keinen Wechsel von einer Rolle in die andere, sondern eine Verwischung jeglicher Form der Identität, wie sie sich vergleichbar auch in Shakespeares Comedies – etwa in Twelfth Night – vollziehen kann. Was Jane Newman treffend die „Non-oneness“ Sophonisbes genannt hat, spiegelt sich in der Oszillation der Geschlechter, die die Heldin zwischen falscher Weiblichkeit – im Kontext der Theaterregeln – und falscher Männlichkeit – im Kontext der Fiktion – schwanken lässt.79 74 Lohenstein: Sophonisbe, S. 49 (II, v. 260 ff.). 75 Lohenstein: Epicharis, S. 290 (I, v. 234 f.). Zu Epicharis’ Androgynie vgl. Newman: The Intervention of Philology, S. 81 ff. 76 Lohenstein: Sophonisbe, S. 55 (v. 433 f.). 77 Ebd., S. 15. 78 Die Inszenierung von 1669, die der Breslauer Rat den Gymnasiasten mit Schreiben vom 14. Mai gestattete, war vermutlich die Uraufführung. Eine Festaufführung von 1666 ist nicht definitiv nachweisbar (vgl. Asmuth: Daniel Casper von Lohenstein, S. 36). 79 Newman: The Intervention of Philology, S. 43.

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Das einzige Element, das sich in diesem Wirbelsturm der Zuordnungen zweifellos behauptet, ist die Tatsache, dass jeder, der hier auftritt, spielt. Wo die Bedeutungen der Geschlechter wie die Differenzen, die sie trennen, unaufhaltsam verfließen, bleibt die ästhetische Dimension der letzte Raum, in dem Sinn – als Einsicht in seine Zweideutigkeit – erzeugt wird. Die Aufgabe dieser ästhetischen Ebene liegt darin, die Gesellschaft im Medium jenes Scheins zu repräsentieren, dessen Vorherrschaft nach Luhmann im 17. Jahrhundert die „Intransparenz des Selbst und der Welt“ begründet.80 In seinem an den Freiherrn Franz von Nesselrode adressierten Widmungsgedicht zur 1680 veröffentlichten Buchausgabe der Sophonisbe hat Lohenstein den Begriff des Spiels auf die Kräfte der Natur, die Anlagen des Menschen und nicht zuletzt auf die höfische Sphäre zurückgeführt: „Kein Leben aber stellt mehr Spiel und Schauplatz dar / | Als derer / die den Hof fürs Element erkohren.“81 Auch das Spiel der Geschlechter, das Lohensteins Drama in Szene setzt, ist ein Spiel, das – wie schon bei Shakespeare – an die politische Welt der Täuschung erinnert, weil in ihm der Schein das Sein bezwingt, indem er den Unterschied zwischen Betrug und Wahrheit vernichtet. Wenn Sophonisbe am Ende den Freitod einer Auslieferung an die römische Übermacht vorzieht, wird diese Dramaturgie der Täu­schung zum Schauplatz einer Katastrophe, deren zerstörerische Wucht die Identitätsverwirrung der Geschlechter im Bühneneffekt nochmals übertrifft. Die Entgrenzung der Gender-Rollen, die Lohensteins Sophonisbe zeigt, findet sich durch die galante Liebesdichtung des 17. Jahrhunderts vielfach gespiegelt. Deren frivole, sexuell aufgeladene Sprache stellt die Identität des Menschen in Frage, indem sie die Konturen seines Ich zersetzt. Die Ekstase, die sie mit scharfsinniger Genauigkeit schildert, offenbart kein behaftbares Ego, sondern einen unkontrollierbaren Affekt-Zustand, der sich im rhetorischen Modus der Paradoxie bekundet. Luhmanns brillante Analyse höfisch-galanter Kommunikationsstile hat demonstriert, dass sich die Passion in ein Movens der „Selbstentfremdung“ wandeln kann, indem sie eine Aufhebung der Grenzen zwischen begehrendem (männlichem) und begehrtem (weiblichem) Ich vollzieht.82 Ein besonders ungewöhnliches Beispiel für diese Auflösung bietet Sibilla Schwarz’ Sonett Mein Alles ist dahin (1650). Der topische Schwur, die Liebe berausche das Ich bis zur Bewusstlosigkeit, gerät hier zu einem Vorwand, der das Spiel der Geschlechter sichtbar macht. Der Versuch der Sprecherin, ihre Identität in einer männlichen Rolle zu verstecken, führt zur Verwischung fester Markierungen. Am Beginn heißt es unter Bezug auf eine fiktive Gelieb80 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, S. 923. 81 Lohenstein: Sophonisbe, S. 11 (v. 169 f.). 82 Luhmann: Liebe als Passion, S. 78.

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te, die in unerreichbare Ferne entschwunden scheint: „mein ander Ich ist fort / mein Leben / meine Zier / | mein liebstes auff der Welt ist wegk / ist schon von hier.“ Wie ein Palimpsest zeichnet sich jedoch unter der Oberfläche des Sehnsuchtsmonologs das Rollenproblem ab, das entstehen muss, wenn das weibliche Ich den Part des männlichen Galans übernimmt: „O liebste Dorile! Ich bin nicht mehr bey mir / | Ich bin nicht der ich bin / nuhn ich nicht bin bey dir.“83 Das Spiel bedeutet damit Spiel einer Rolle (als Produkt der rhetorischen Selbstinszenierung) und Dementi dieser Rolle (als Konsequenz der Logik des literarischen Textes). Das poetische Sprechen markiert keine Identität, sondern eine doppelte Differenz, die im Rollenwechsel klar hervortritt. Was wie ein traditionelles Muster petrarkistischer Liebesdarstellung anmutet, in dem das männliche Ich sich als berauscht vorführt, gerät über die rhetorische Suggestion des Taumels auf sehr kunstvolle Weise zur Chiffre einer spielerischen Entgrenzung der Geschlechter. Das ‚Ich bin nicht der ich bin‘ bedeutet wie das beredte ‚I am not what I am‘, mit dem Viola in Shakespeares Twelfth Night ihre Rollenkaskade andeutet, eine zweifache Auslöschung des Selbst. Die Sprecherin ist weder mit sich selbst noch mit dem, den sie spielt, identisch; die Strategie der Simulation erzeugt damit eine Differenz, die den Abstand vom echten und vom faschen Ich gleichermaßen begründet. Bei Sibilla Schwarz ist das Geschlecht, ebenso wie bei Lohenstein, in einem doppelten, jeweils rhetorisch vermittelten Sinn ‚verstellt‘: versteckt im Sinne der kunstvollen Täuschung, verloren im Sinne einer Verschiebung seiner Identität.

5. Resümee Mit dem Bereich der Androgynie berührt Lohensteins Trauerspiel die Verheißungen des aristophanischen Ursprungsmythos, der von der ehemaligen Perfektion des Menschen zu künden scheint. Am Beginn steht hier nicht die Differenz, sondern das gedoppelte, sich selbst genügende Geschlecht: die Vielheit als Einheit. Dieses Denkmodell ist jedoch schon mit einer Ordnung der Repräsentation verbunden, in der das vermeintlich erste – der Anfang – auf einer zweiten, vermittelten Ebene auftritt. Das androgyne Geschlecht bildet einen kulturellen Mythos, dem Lohensteins Trauerspiele auf kunstvolle Weise die Sehnsucht nach Identität und zugleich die Lust am magischen Zauber der Grenzüberschreitung abgewinnen. Der dramatische Text offenbart die Idee des unbedingten Ursprungs folgerichtig als Fiktion, die sich in der Inszenierung von Brechungen, Transformationen, Verdoppelungen und Travestien äußert. Die Einheit, 83 Maché/Meid: Gedichte des Barock, S. 182.

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die am Beginn der Geschlechtergeschichte steht, repräsentiert für Lohenstein kein Modell tatsächlicher Identität, sondern ein kulturell überliefertes Phantasma, das sich primär im Bereich der ästhetischen Erfahrung des Spiels wahrnehmen lässt. Der aristophanische Ursprungsmythos, in dem Frau und Mann, Zeugung und Tod, Beginn und Schluss eins sind, wird im Drama zum rhetorischen und theatralischen Spiel, das sich durch die Zweideutigkeiten der Sprache und die Verrücktheiten des Rollentauschs vermittelt. Für die Kategorie des Spieles ergeben sich damit drei zentrale Folgerungen. Das Spiel, das Lohenstein in Szene setzt, zeigt den Anfang, der in der androgynen Identität gedacht ist, als Form einer kulturellen Spiegelung: als im doppelten Sinn wiederholtes Geschlecht. Auf diese Weise erfüllt es eine metaliterarische Aufgabe, die die Gender-Identität als dynamisches Gebilde, die Gender-Differenz als veränderliche Konstruktion transparent werden lässt (1). Zugleich offenbart das Spiel seine Funktion als Medium, das Identität nur in Verschiebungen sichtbar macht. Das Spiel ist das mediale Äquivalent der Androgynie, die es im Drama über die Formungen der Rhetorik und des Theaters zur Darstellung bringt; in dieser Rolle zeigt es sich als literarisches bzw. ästhetisches Analogon einer Gender-Konstruktion, die keine Festlegungen von Identität mehr erlaubt (2). Nicht zuletzt weist das theatralische Spiel der Geschlechter eine epochale Signatur auf, denn in ihm dokumentiert sich die literarische Transformation jenes Denkens in Ähnlichkeiten, das Foucault als epistemisches Zentrum der Frühen Neuzeit ausgewiesen hat (3). Über dessen allmähliches Verschwinden in der Mitte des 17. Jahrhunderts heißt es in Les mots et les choses: Hinter sich läßt es nur Spiele, deren Zauberkräfte um jene neue Verwandtschaft der Ähnlichkeit und der Illusion wachsen. Überall zeichnen sich die Gespinste der Ähnlichkeit ab, aber man weiß, daß es Chimären sind. [...] Es ist die Zeit der Sinnestäuschungen, die Zeit, in der die Metaphern, die Vergleiche und die Allegorien den poetischen Raum der Sprache definieren.84

Übereinstimmend mit dieser Diagnose schließt Lohensteins Theater der Androgynie das Zeitalter der Ähnlichkeit ab, indem es die epistemische Qualität der Analogie in das Metaphernspiel der Literatur transponiert.

84 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 84 f. Foucault kennzeichnet den Abschluss des Zeitalters der Ähnlichkeiten als Prozess der Dekadenz, des Verfalls. Diese Perspektive erinnert an die älteren Theorien des Manierismus, wie sie z.B. Gustav René Hocke und Arnold Hauser vertreten (Hocke: Manierismus in der Literatur; Hauser: Der Manierismus). Es handelt sich jedoch weniger um ein kulturelles Niedergangsphänomen als um einen Transformationsprozess, den Foucaults Verfahren allerdings nicht angemessen beschreiben kann, weil es nicht in der Lage ist, Funktionsverschiebungen zu erfassen. Weitaus überzeugendere Lösungen bietet in diesem Punkt die Systemtheorie Luhmanns (vgl. hier nur: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 162-235).

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Alexander Honold

Fest und Spiel in der Klassischen Walpurgisnacht Das Faust-Drama insgesamt lässt sich als eine experimentelle Revue der begrifflichen und ästhetischen Dimensionen des Spiels und des Spielerischen beschreiben. Das ästhetische Prinzip, dem diese Dramatik folgt, liegt darin, das Theaterspiel als eine Experimentalform sozialen Handelns bis an jene Grenze zu treiben, an der es als ein Instrument, als ein Vehikel des Reisens durch Zeit und Raum an sich selbst thematisch wird. Die prozessuale Bühnenhandlung der ,Klassischen Walpurgisnacht‘ rückt, als Spielgeschehen betrachtet, in den Kontext eines kulturellen Handelns, das auf rituelle Programme und kalendarische Festzeiten rückverweist und auf einer wesentlich performativen Dimension von Theatralität fußt, auf dem festlichen, feierlichen Vollzug eines rituellen Spiels (ähnlich auch die ,Mummenschanz‘ im 1. Akt). Gegenüber einem quellenphilologischen Zugang, der sich etwa mit der Aufschlüsselung tradierter ästhetischer Referenzen (wie Homer, Aristophanes, Vergil, Calderón, die Gemälde Correggios und Raffaels) oder mythologischer Konzepte beschäftigt, geht es im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Lektüre auch um außerartistische soziale Praxen und um jene Bestände zeitgenössischen kulturellen Wissens, die aus den verschiedensten Bereichen von Natur (Astronomie, Biologie, den ,Erdwissenschaften‘) und Gesellschaft (Ethnologie, Mythologie bzw. Religionsgeschichte) in das komplexe Gebilde des Faust-Dramas Eingang finden. Goethes Faust-Drama bietet eine Revue theatraler und kultischer Formen des Spiels; in nahezu enzyklopädischer Breite werden die begrifflichen und ästhetischen Dimensionen des Spiels und des Spielerischen vorgeführt und ausdrücklich thematisiert. Auch in Schillers Dramenhandlungen ist stets ein Moment des Spielerischen enthalten. Indem sie von einer labilen Equilibristik gegenstrebiger Wirkungskräfte getragen werden, spielen sie die Handlungsrationalität historischer Konflikt-Situationen jeweils an einem dramaturgischen Modell durch, im theatralen Rollenschema eines Interaktionsspiels. So entwirft das Geschichtsdrama um Wallenstein eine Figur, die  

Über Goethes Verhältnis zum Ludischen handelt Pierre Bertaux’ elegante Studie: Goethes Spieltrieb. Zitatnachweise im Folgenden unter Angabe der Verszahl im Text. Zitiert wird nach der Faust-Ausgabe von Schöne: Faust. Kommentare.

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auf der Kippe steht zwischen widerstreitenden Handlungsoptionen, und die sich mit den spielerischen Mitteln des Hasard, des agonalen Wettstreits, des intriganten Rollenspiels und der providentiellen Zufalls-Kalkulation aus einer aporetischen Situation – letztlich vergebens – zu befreien versucht. Für Goethe hat das Ludische, bei vergleichbar herausragender Präsenz, gänzlich andere Funktionen. Es sucht und findet den Anschluss an Traditionen der öffentlichen und spontanen Theatralität, etwa aus dem Improvisationstheater der Commedia dell’arte (vor allem seit den Beobachtungen zum venezianischen Maskenspiel und zum römischen Carneval). Im Faust wird dies deutlich schon in den metaleptischen Einfügungen des ersten Teils, etwa der Walpurgisnacht-Episode und vor allem im Intermezzo des Walpurgisnacht-Traums, mit dem Goethe dem Vorbild Shakespeares seine Reverenz erweist. Als Spiel im Spiel hat die Geschichte Oberons und Titanias die Funktion, mit einem gespielten Hochzeitsfest der Gretchen-Handlung einen kontrastierenden Spiegel entgegenzuhalten. Durch den Wechsel der Spielebene aber thematisiert dieses Intermezzo den artifiziell-mimetischen Status des Theaterspielens selbst. In noch radikalerer Weise eröffnen im zweiten Teil jene Szenenanweisungen einen Spielraum des Improvisierens, in denen das Agieren und Sprechen auftretender Figuren gar nicht mehr explizit dramatisch auskomponiert, sondern in episch raffendem Bericht vorgezeichnet werden. Insbesondere in der Mummenschanz-Szene eröffnen sich der szenischen Aufführung bemerkenswerte Freiräume, wenn beispielsweise den Gespielinnen ein „vertrauliches Geplauder“ zugewiesen wird und an die Fischer und Vogelsteller die Spielanweisung ergeht: „Wechselseitige Versuche zu gewinnen, zu fangen, zu entgehen und festzuhalten geben den angenehmsten Dialogen Gelegenheit“ (zu V 5199). Bei der Dichterparade wiederum, die „verschiedene Poeten“ vorsieht, bemerkt die Bühnenanweisung: Die Nacht- und Grabdichter lassen sich entschuldigen, weil sie so eben im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vampiren begriffen seien; woraus eine neue Dichtart sich vielleicht entwickeln könnte; der Herold muß es gelten lassen und ruft indessen die griechische Mythologie hervor. (zu V 5299)

Die viel versprechende vampirische Urszene einer neuen Dichtungsart hätte man sich gerne etwas genauer angesehen, doch gerade hierbei lassen uns Goethes Andeutungen im Stich bzw. mit einer epischen Vorgabe zurück, die nur sehr schwer durch dramaturgischen Witz einzulösen ist. Das Spiel wird zusehends also den Spielern selbst überlassen, darauf laufen viele der nicht auskomponierten Dialoge oder scheinbar unmöglich zu realisierenden Spektakel im Faust II hinaus.



So auch Schöne: Faust-Kommentare, S. 429.

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Dass Goethes Behandlung des Faust-Stoffes überhaupt das Medium des theatralen Spiels explizit zum Gegenstand der Darstellung macht, signa­ lisiert bereits der dreifache Anlauf des die Studierzimmerszene und damit die eigentliche Exposition präludierenden Auftaktes mit ‚Zueignung‘, ‚Vorspiel auf dem Theater‘ und ‚Prolog im Himmel‘. Reflektierte die Zueignung die doppelbödige Realitätsform vorgefundener und selbst geschaffener Kunstfiguren, so rückt das Vorspiel ein zugleich ökonomisches wie gattungspoetisches Dilemma der zeitgenössischen Institution ‚Theater‘ in den Vordergrund, die Diskrepanz zwischen kunstautonomem Authentizitätsanspruch und modischer Konzession an den Publikumsgeschmack. Nicht nur zwischen diesen beiden muss der Dichter navigieren, sondern als Theaterautor zugleich zwischen widerstreitenden Genrekonventionen: im „Liebesabenteuer“ (V 160) winkt das Gattungsideal des Romans (V 165), im „Quell gedrängter Lieder“ die Klanglichkeit und das Ausdrucksideal des Lyrischen (V 186). Zu höchster Ebene wird schließlich im himmlischen Prolog zwischen Gott selbst und Mephisto jener teuflische Kontrakt geschlossen, der die Wette um die Seele Faustens zum Inhalt hat – ein agonales Spiel par excellence, das der ganzen folgenden Tragödie den Rahmen und die Spannung vorgibt. Schon diese wenigen Stichworte deuten an, wie systematisch Goethe im Faust das spielerische Potential des Theaters vermessen hat: als Institution und Gattung, nicht zuletzt aber auch als Medium zur Erzeugung künstlicher Welten. Virtualität ist ein Grundzug der faustischen Neuzeit, Simulation das ihr korrespondierende ästhetische Vermögen. Was leistet, wie funktioniert und vor allem: worauf richtet sich die künstliche Weltschöpfung im zweiten Teil des Faust-Dramas? Im Zentrum steht die Erzeugung eines Traumbildes der Antike, die in drei Anläufen erfolgt: erstens als Illusionstheater mithilfe einer Laterna magica, die mit ihrer Projektionstechnik auf die ästhetische Scheinwelt des Kinos vorausweist; zweitens als Hadesfahrt Faustens zur Auslösung Helenas; aus diesem Entwurf von 1826 wird in der Endfassung eine archäologisch-mythologische Exkursion, die Faust, Mephisto und der Homunkulus wie ein zeitgenössisch philhellenistisches Reisegrüppchen unternehmen; den dritten Anlauf schließlich bildet die „romantische Phantasmagorie“ im dritten Akt, der Helena selbst als Spielfigur wunderbarerweise auf dieselbe Zeit- und Realitätsebene wie den Protagonisten Faust rückt. Aus diesem Paar von dubiosestem Wirklichkeitsstatus geht, als ihr nicht in der Realität lebensfähiges Erzeugnis, Euphorion hervor. Von künstlicher Zeugung ist besonders auch das Naturell des Homunkulus geprägt, des Reiseführers in die Klassische Walpurgisnacht. Was die ,Klassische Walpurgisnacht‘ bietet, ist ein in mehrerlei Hinsicht hybrides Gebilde: als theatralische Form ein mit der Haupthandlung nur partiell verbundenes Spiel im Spiel; als eine Phantasmagorie oder TraumVision, der allerdings nur schwerlich ein träumendes Subjekt zugeordnet

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werden könnte; als ein Anachronismus, der von der Bühne des frühneuzeitlichen Kaiserhofes unvermittelt auf den Schauplatz des antiken Thessalien durchbricht wie durch ein morsches Brettergerüst; als Exkursion in mythologische Gefilde ein betont unklassisches, gleichsam vorolympisches Pandämonium. In potenzierter Form fließen hier, wie grundsätzlich schon im Faust-Helena-Strang angelegt, die Zeiten ineinander, und die Realitätsbzw. Handlungsebenen ebenfalls, die in ihrem ,ontologischen‘ Status seltsam in der Schwebe bleiben: da werden virtuelle Realitäten erzeugt, imaginäre und fiktive, als Kunstwelten bzw. Spielebenen zweiten oder noch höheren Grades. Das ästhetische Prinzip, dem diese Dramatik folgt, liegt darin, das Theaterspiel als eine Experimentalform sozialen Handelns bis an jene Grenze zu treiben, an der es als ein Instrument, als ein Vehikel des Reisens durch Zeit und Raum an sich selbst sichtbar und thematisch wird. Mit dem vergleichenden Bezug auf die nordische rückt auch die ,Klassische Walpurgisnacht‘ in den Kontext eines kulturellen Handelns, das explizit an rituelle Programme wie beispielsweise die antiken Mysterienkulte und an kalendarische Festzeiten nach dem Vorbild etwa der Schlacht von Pharsalos gebunden ist und auf eine wesentlich performative Dimension von Theatralität verweist, auf den festlichen, feierlichen Vollzug eines rituellen Spiels. Goethe hat die Brocken-Walpurgisnacht als monarchisch (nämlich mit dem Teufel Mephisto an der Spitze), ihre Kontrafaktur auf klassischem Boden hingegen als republikanisch bezeichnet; das entspricht dem Bilde vom polytheistischen Götterhimmel der Antike, der von den modernen Tendenzen der monotheistischen Rationalisierung abgelöst wird. Die Funktion einer Zusammenschau dieser antiken Vielheit übernimmt für die mythisch-allegorischen Partien in der Klassischen Walpurgisnacht und an anderen Stellen des Faust-Dramas die ästhetische Figur des Zuges (V 8271) bzw. der festlichen Parade. In der ,Prozession‘ treten die Abschnitte einer in die Länge gezogenen Bilderfolge idealiter zu einer Konfiguration zusammen; so verhält es sich schon in der ,Mummenschanz‘, deren einzelne Nummern wie die Abschnitte eines Bilderbogens aufeinander folgen, mündend in dem vom Herold angekündigten prächtigen Wagen, der die allegorische Macht der Poesie flankiert von Plutus und Geiz heranführt. Seht ihrs durch die Menge schweifen? – Vierbespannt ein prächtiger Wagen Wird durch alles durchgetragen; Doch er teilet nicht die Menge 

„Die alte Walpurgisnacht“, sagt Goethe, „ist monarchisch, indem der Teufel dort überall als entschiedenes Oberhaupt respektiert wird. Die klassische aber ist durchaus republikanisch, indem Alles in der Breite neben einander steht, so daß der Eine so viel gilt wie der Andere, und niemand sich subordiniert und sich um den Andern bekümmert.“ (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 19, S. 416)

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Nirgends seh ich ein Gedränge. Farbig glitzerts in der Ferne, Irrend leuchten bunte Sterne, Wie von magischer Laterne. (V 5511-5518)

Worin eigentlich besteht der Handlungsgehalt einer derartigen Szene? Pragmatisch gesehen in nichts anderem als in der Auftrittsleistung selbst; wie auf dem ‚Catwalk‘ einer Modenschau fahren oder spazieren die einzelnen Gruppen auf die Bühne, um bei dieser Parade möglichst lang und breit im Blickfeld der Zuschauer zu verweilen. Das Sich-Zeigen, sich Ausbreiten und Vorbeidefilieren ist der Sinn und Zweck einer solchen Parade. Sie funktioniert, indem etwa Faust und Mephisto hier in Rollen zweiten Grades schlüpfen, als ein Spiel im Spiel. Den Aspekt des Meta-Theaters aber hat die Mummenschanz auch und vor allem dadurch, dass die Ästhetik des Zeigens und der Schaustellung in ihr so dominant hervortritt. Nicht „benennen“, sondern „beschreiben“ ist, wie der Herold realisiert (V 5533 f.), der in der Komposition dieser Szenen angestrebte Umgang mit dem hierbei auf die Bühne gestellten Personal. Ein festlicher Masken- und Wagenzug, wie er zur populären Fasnachtszeit oder zum höfischen Unterhaltungsprogramm gehören mag, eröffnet die Möglichkeit, zahlreiche Figuren zu einem stehenden Bild zu versammeln, das sich sukzessive auf der Bühne entrollt oder akkumuliert. Die im zweiten Faust-Teil so spürbar suspendierte Handlungsdynamik hat sich transformiert in ein gleichsam choreographisches Theaterideal des stehenden bzw. konfigurierten Zuges. Statt der mimetischen Repräsentation eines Plots (Faust und Gretchen bzw. nun eben Faust und Helena; Faust als Träger neuzeitlichen Strebens zwischen Vernunft und Sinnlichkeit oder zwischen Selbstermächtigung und Triebgesteuertheit usw.), statt der szenischen Durchführung eines linearen Handlungsganges überwiegt zunehmend der Aspekt des Performativen und Kultischen. Aus dieser Tendenz zum Statuarischen, zur performativen Festlichkeit lässt sich auch jene flagrante Änderung erklären, die der zweite Akt mit der Klassischen Walpurgisnacht zwischen dem Entwurf von 1836 und der Ausführung fünf Jahre später genommen hat. Der vorgesehene Handlungskern des Aktes war die antiken Mustern folgende Hadesfahrt Faustens, sein Weg in die Unterwelt mit der Mission, Helena zu befreien, sie – mithilfe von, sei’s Gewalt, List oder guten Worten – ins Licht der Gegenwart zu holen und für sich selbst zu gewinnen. Daraus wird bekanntlich nichts: Die handlungsimmanente Begründung des Helena-Aktes unterbleibt. Wenn es 

„Das Seltsamste jedoch ist, daß […] das ganze in der Unterwelt spielende Drama, in dem Faust als zweiter Orpheus auftrat, und damit nicht weniger als der ursprüngliche Sinn und Zweck des Ganzen in der Ausführung gestrichen wurde.“ (Reinhardt: Die klassische Walpurgisnacht, S. 78)

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aber zutrifft, dass „die Geisternacht ursprünglich nur ein Vorspiel zum Des­ census“ war, wie Karl Reinhardt bemerkt, dann haben sich in der Ausführung die Gewichte vollständig verschoben. Nun streift die Klassische Walpurgisnacht gleichsam jede funktionale dramaturgische Zuarbeit im Dienste einer übergreifenden Handlungslogik ab und ist sich selbst genug. Und in einer weiteren Beobachtung ist Reinhardt zu folgen, wenn er nämlich feststellt: „Was sich da zutiefst und auf dem Grunde alles Übrigen gewandelt hat, ist der Begriff des ‚Festes‘.“ In der Tat scheint die Transformation des Exkurses in die Antike im Kontext jenes Denkens in bildhaft-zeitenthobenen Konstellationen zu stehen, das den gesamten zweiten Teil dominiert. Im Konzept des Festes als einer performativ sich selbst zelebrierenden Spielform hat diese Bühnenhandlung ihr ästhetisches Vorbild. Das Spiel wird zum Fest. Indem die auftretenden Figuren sich zu einem Fest bzw. einer kultischen Handlung versammeln, vollzieht und ereignet sich das von ihnen Dargestellte im Auftrittsakt selbst. Zur Illustration dieser Tendenz nur skizzenhaft zwei, drei Indizien: Die Vers­ poetik etwa nimmt Abstand von der dialogisch-dramatischen Wechselrede und tendiert stellenweise, so am Ende des zweiten Aktes, in Richtung Choral oder Oratorium. Auffallend ist auch die zunehmend ,epische‘ Behandlung der einzelnen Szenen durch Vermittler-Figuren wie den erwähnten Herold der Mummenschanz, in der Klassischen Walpurgisnacht vor allem durch Chiron und Manto; zum Teil kommentieren die Akteure ihre Auftritte sogar selbst. Eine wichtige Rolle spielen ferner Requisiten und Insignien mit betont zeichenhafter Funktion, Masken und Kleidungsstücke, die bestimmte Eigenschaften und Sprechhaltungen in verdinglichter Form herbeizitieren. Bei den aus mythologischem Repertoire geschöpften Figuren ist die expositorische Funktion demonstrativ hervorgekehrt, ein jedes bezeichnet sich mit seinen charakteristischen Kennzeichen, seien es nun die Sphinxe, die Sirenen, die Phorkyaden oder Kabiren. Sie scheinen mit nichts anderem beschäftigt, zu keinem anderen Zwecke aufzutreten, als um ihre bloße Identität anzugeben. Über weite Strecken erschöpft sich das Rendezvous zwischen den drei Abgesandten aus der Neuzeit und den von ihnen besuchten antiken Wesen im gegenseitigen Sich-miteinander-bekannt-Machen. „Jetzt nenne dich bis wir dich weiter kennen“ (V 7116), fordert die Sphinx Mephistopheles auf. Und Faust wiederum lernt mithilfe Chirons und Mantos sich halbwegs zurechtzufinden auf den thessalischen Feldern und inmitten antiken Personals. Der Boden haucht vergoßnen Blutes Widerschein, Und angelockt von seltnem Wunderglanz der Nacht, Versammelt sich hellenischer Sage Legion.  

Reinhardt: Die klassische Walpurgisnacht, S. 94. Ebd., S. 95.

Fest und Spiel in der Klassischen Walpurgisnacht

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Um alle Feuer schwankt unsicher, oder sitzt Behaglich, alter Tage fabelhaft Gebild… (V 7026-7030)

Erichthos Eingangsmonolog hat expositorische Funktion; im circensischen Sinne ist sie die Ansagerin der folgenden Vorstellung (übrigens dürfte kaum ein Theaterstück so von Ansagen, Vor- und Nebenbemerkungen und Kommentaren durchsetzt sein wie der Faust). Es geht um ein Zusammentreffen des Nordens mit der Antike, der Gegenwart mit der Vergangenheit. Ein ausgezeichnetes Datum und ein besonderer Schauplatz sind es, an dem die Pforten der Antike sich auftun und ihre Gestalten für die Dauer einer endlosen Mondnacht entlassen. Erzählend angedeutete Zusammenhänge führen in die Tiefenschichten des Gewesenen, evozieren das historische und das prähistorisch-mythische Gedächtnis der antiken Schauplätze und ihrer Akteure. Man denke an Pharsalos und die Entscheidungsschlacht zwischen Cäsar und Pompeius, dann aber auch an mythische Urszenen, wie sie Odysseus vor dem Gesang der Sirenen, Ödipus vor dem Rätsel der Sphinx zeigen. „Wir hauchen unsre Geistertöne / Und ihr verkörpert sie alsdann.“ (V 7114 f.) Es ist das Theater- und Rollenspiel, welches die Fähigkeit besitzt, „alter Tage fabelhaft Gebild“ als gegenwärtiges vor Augen zu stellen. „Ich wittre Leben“, so bricht Erichtho ihre Ansage hastig ab. „Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen die wir machten“ (V 7003 f.), warnt Mephisto unmittelbar vor Beginn der Klassischen Walpurgisnacht mit seinen Worten ad spectatores. Das heißt aber nichts anderes, als dass das von der Gegenwart evozierte Bild einer fremden, historisch inkommensurablen Antike wiederum so zurückwirkt auf diese Gegenwart, als ob es auch außer ihr eine selbständige Wirklichkeit besäße. Was als Phantasiegebilde, als Projektion und Geschöpf einer dichterischerfindungsreichen Einbildungskraft begann, gewinnt ein davon losgelöstes Eigenleben. Wie ein Safe nur bei bestimmter Zahlenkombination der Einstellrädchen seine Schätze preisgibt, so öffnet sich die Motivwelt der Antike nur bei einer besonderen Konjunktion von Schauplatz und Zeitpunkt. Statt der Brocken-Szenerie der neuzeitlichen Walpurgisnacht ist es nun das antike Pharsalus, Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Cäsar und Pompejus 48 v. Chr; und statt der Nacht zum ersten Mai befinden wir uns in derjenigen zum 9. August, dem historisch verbürgten Datum. Doch würde diese Referenz allein nicht ausreichen, Ort und Zeit zu einer magischen Konstellation zusammentreten zu lassen. Die sommerlichen Nächte Mitte August sind bekannt noch für ein anderes spektakuläres Geschehen, für die im Jahreslauf einmalige Intensität und Häufigkeit der zu dieser Zeit erscheinenden Sternschnuppen. Mephisto, von der Sphinx befragt, weist ausdrücklich darauf hin, dass die Vorboten dieses Sternschnuppenschwarms, der Perseiden, aufgrund des nur schwachen Mondlichts schon gut zu sehen sind.

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Sphinx […] Hast du von Sternen einige Kunde? Was sagst du zu der gegenwärt’gen Stunde? Mephistopheles aufschauend Stern schießt nach Stern, beschnittner Mond scheint helle Und mir ist wohl an dieser Stelle (V 7125-7128)

Die Klassische Walpurgisnacht ist auch ein Naturtheater. Ganze Scharen von kleinen und kleinsten Himmelspartikeln, zu Goethes Zeiten landläufig als Meteore und Meteoriten bezeichnet, gehen in den Nächten vor und nach dem 11. August (also nicht völlig kongruent zum Pharsalus-Tag) auf die Erde nieder. Wenn sie in der Erdatmosphäre verglühen, gleicht dieser Sternenregen einem wundersamen kosmischen Feuerwerk, welches die schützende Lufthülle der Erde in Form von Reibungsenergie aufnimmt und als nächtliches Leuchten sichtbar werden lässt. – Im Schlussbild des ägäischen Festes wird Homunkulus mit seinem Glase am Muschelpanzer Galateas zerschellen und sich in Gestalt fluoreszierender Partikel ins Meer ergießen. Auch der herannahende Muschelthron Galateas „glänzt wie ein Stern“ und „leuchtet durchs Gedränge“ (V 8452, 8454). Das flüssige Element wird in dieser Apotheose der Aphrodite vertretenden Liebesgöttin in gleicher Weise von Fremdkörpern durchsetzt oder, wie es der Text nahe legt, geradezu befruchtet, wie es der Atmosphäre mit den Sternschnuppen widerfahren war. Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen, Die gegen einander sich funkelnd zerschellen? So leuchtet’s und schwanket und hellet hinan; Die Körper sie glühen auf nächtlicher Bahn, Und rings ist alles vom Feuer umronnen; So herrsche denn Eros der alles begonnen! (V 8474-8479)

Himmelssphäre und Weltmeer fungieren als spiegelbildliche Elemente, die aufnehmend und aufleuchtend den fremden, eindringenden Stoff in sich verglühen bzw. versinken lassen. Mit dieser kopulierenden Durchdringung der Elemente mündet die Schlusspartie der Klassischen Walpurgisnacht in eine ekstatische, hymnische Eros-Feier. Doch wurde dieses einträchtige Zusammenspiel der Elemente im ersten Teil durch den dramatischen Einbruch eines Erdbebens unterbrochen. Dem Flusse Peneios ward damit fürs erste der Weg verlegt. Die ironische Spitze dieses Einfalls liegt darin, dass damit die mutmaßliche geologische Entstehungsgeschichte der hier evozierten thessalischen Landschaft förmlich umgekehrt wird, war es doch antiken Quellen zufolge einst ein Erdbeben gewesen, welches der sumpfigen Seeregion erst ein zum Meer offenes, steil 

„Im Farbenspiel von Venus Muschelwagen / Kommt Galatee, die schönste nun, getragen“ (V 8144 f.).

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eingekerbtes Flusstal bescherte, durch das die lange aufgestauten Wasser zur Küste hin abfließen und den strömenden Peneios bilden konnten. Als einen wahren Segen für das Land begrüßten und feierten jedenfalls die antiken Bewohner Thessaliens den durch die Erdkräfte gebildeten Wasserlauf. Und sie gaben durch ein jährlich abgehaltenes Dankesfest ihrer Überzeugung Ausdruck, dass die damit rituell gepflegte Erinnerung an das Erdbeben als unentbehrlicher und institutionalisierter Bestandteil in das kulturelle Selbstverständnis ihrer Gesellschaft aufgenommen zu werden verdiente. Erichtho Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon, Tret’ ich einher, Erichtho, ich die düstere; […] Überbleicht erscheint mir schon Von grauer Zelten Woge weit das Tal dahin, Als Nachtgesicht der sorg- und grauenvollsten Nacht. Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort In’s Ewige wiederholen… (V 7005-7013)

Mit dem angesprochenen Schauderfest hat es demnach eine mehrfache Bewandtnis. Neben dem Erinnerungstag der Pharsalusschlacht und dem die Szenerie geisterhaft illuminierenden Sternschnuppenschwarm hat Erichthos Einleitung in das folgende Nachtspektakel noch eine weitere konkrete Referenz; sie spielt an auf das antike Fest der Peloria, eben dasjenige, mit dem die Thessalier das unvordenkliche Erdbeben feierten, von dem sich ihr Flusstal ableitete. Anders als das ägäische Fest um den Muschelwagen Galatees, bei dem Goethe sich von Gemälden und Opern- und Theaterspiel inspirieren ließ, kann sich das eingangs angesprochene Schauderfest auf eine kulturhistorische Tradition berufen. Vom Schauder der Erinnerung führt die aktiv begangene Festlichkeit der Peloria „zur freien Jubelnacht“ (V 7109), in deren „Bachanal“10 alles erlaubt ist, da buchstäblich (und dem geologischen Anlass gemäß) alle gesellschaftlichen Schleusen geöffnet sind – eine Nacht lang. „Bis morgen ists alles durchgebracht“ (V 7110). Auch die antiken Peloria haben, wie die als Vorbild der Fasnachts- und Walpurgisnacht-Bräuche fungierenden Saturnalien, den Aspekt einer zeitweiligen Umkehr etablierter Ordnungen und Gesetze. 

Thomas Gelzer hat als vermittelnde, zeitgenössische Quelle, der Goethe den Hinweis auf die Peloria entnehmen konnte, die seinerzeit bekannte fiktive Reisebeschreibung des Abbé Barthelemy (Voyage du jeune Anacharsis) ausfindig gemacht. „Barthelemy läßt seine Griechenlandreisenden an einem Fest teilnehmen, das die Thessalier jedes Jahr zur Erinnerung an jenes Erdbeben feierten, durch das der Weg des Peneios ins Meer geöffnet und die Ebene von Larissa vom Wasser freigelegt worden seien.“ Als antike Referenzen nannte Barthelemy selbst Athenaeus und Aelian; Goethe ist, so Gelzer, „wie auch sonst auf die originalen Quellen zurückgegangen“ (Gelzer: Fest der klassischen Walpurgisnacht, S. 355). 10 Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 20.2, S. 1425.

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Alexander Honold

Im ersten Drittel der Nachtszenen wird indes (noch) kein egalitäres Fest gefeiert, sondern das Erdbeben aufs Neue evoziert, wodurch die feuer- und bebengeschüttelte Landmasse mit der Welt des Wassers in jenen Konflikt gerät, der dann im Disput zwischen Anaxagoras und Thales zum Austrag kommt (und hier innerhalb des Faust-Dramas noch längst nicht definitiv entschieden wird). Die Verweise auf das Schlachtengetümmel von Pharsalos und die Befreiungskriege der Neugriechen sind historisch gebunden; das ins Werk gesetzte aktuelle Erdbeben und die Erinnerung an den Schauder des gewaltsamen Flussdurchbruches sind es nicht. Dem Fest der Peloria wird kein spezieller Ort im Kalender zugewiesen. Erst recht kennt die ewige Kontroverse zwischen Vulkan und Neptun als kosmogonischen Prinzipien kein singuläres Datum. Goethe hat also, deutlich abweichend vom Modell der ersten, mitteleuropäischen Walpurgisnacht, ihrem antiken Pendant keine Verankerung im bürgerlichen Kalenderjahr gegeben. Der mythologische Schauplatz und seine Figuren sind – anders als das aus der ersten Walpurgisnacht bekannte Terrain am Harzmassiv – noch nicht ins letzte ausgeformt, sondern in brodelnder Umgestaltung begriffen. Einem gewieften Psychagogen vom Schlage Mephistos kann die erschwerte Handhabbarkeit dieser klassischen Mythenlandschaft nicht entgehen: Mephistopheles in der Ebne Die nordischen Hexen wußt’ ich wohl zu meistern, Mir wirds nicht just mit diesen fremden Geistern. […] Wer weiß denn hier nur, wo er geht und steht, Ob unter ihm sich nicht der Boden bläht? (V 7676-7685)

Der Boden Thessaliens ist noch heiß, aus ihm könnten jederzeit neue Berge und Götter emporsteigen. Das ist es, was die drei deutschen Besucher bei ihrer nächtlichen Exkursion herausfinden. Die Klassische Walpurgisnacht folgt der neuzeitlichen nicht nur im dramaturgischen, sondern auch im epistemologischen Sinne; sie ist republikanisch, anstatt monarchisch; sie ist von wandelbaren Kräften durchpulst und noch nicht zu Sprachmasken erstarrt. Was sie an Jahrhunderten älter scheint, ist sie im Geiste jünger, denn die historischen Randzeiten des Vorgeschichtlichen und des Nicht-mehrFormbaren berühren einander.

Literatur Bertaux, Pierre: Gar schöne Spiele spiel ich mit dir! Zu Goethes Spieltrieb. Frankfurt a.M. 1986. Gelzer, Thomas: Das Fest der klassischen Walpurgisnacht. In: Mark Griffith; Donald J. Mastronarde (Hg.): Cabinet of the Muses. Atlanta 1990, S. 351-360. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Hg. von Albrecht Schöne. Sämtliche Werke. Bd. 7. Frankfurt a.M. 1999.

Fest und Spiel in der Klassischen Walpurgisnacht

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Heinz Schlaffer. München 1986. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 20: Briefwechsel mit Zelter. 2 Teilbde. Hg. Von Edith Zehm und Sabine Schäfer unter Mitwirkung von Jürgen Gruß und Wolfgang Ritschel. München 1998. Reinhardt, Karl: Die klassische Walpurgisnacht. Entstehung und Bedeutung. In: Bernhard Dotzler (Hg.): Grundlagen der Literaturwissenschaft. Exemplarische Texte. Köln 1999, S. 73-114 [zuerst 1942]. Schöne, Albrecht: Faust. Kommentare. In: Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 7. Frankfurt a.M. 1999.

Roman Luckscheiter

Beherrschter Enthusiasmus Pädagogik und Ästhetik des Rollentauschs in Achim von Arnims Erzählung Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott 1. Die ästhetische und soziale Relevanz des Spiels Nur aus einer innigen Verbindung aus Ernst und Spiel könne „wahre Kunst“ entstehen, betonte Goethe wiederholt: „Streng genommen verträgt zwar der Zweck des Dichters weder den Ton der Strafe noch den der Belustigung. Jener ist zu ernst für das Spiel, was die Poesie immer seyn soll; dieser ist zu frivol für den Ernst, der allem poetischen Spiele zum Grund liegen soll“. Das Wesen der Kunst ist immer wieder mit dem Spiel in Verbindung gebracht worden. Eine markante philosophische Grundlage erhielt das Verhältnis von Kunst und Spiel durch den Idealismus, als Kant und in seiner Folge Schiller das Spiel systematisch zum Erfahrungsraum von Freiheit in der Sphäre des Ästhetischen aufwerteten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Johan Huizinga aus kulturanthropologischer Sicht den Spielcharakter der Poesie skizziert und dabei vor allem seine soziale Funktion hervorgehoben. Er bezieht sich dabei vor allem auf Platon: Zum einen, wenn es um die ordnungsstiftende Funktion der „göttlichen Festgemeinschaften“ geht, zum anderen, wenn die erzieherische und ethische Relevanz der Musik zum Tragen kommt: „Die olympischen Melodien wecken Enthusiasmus, andere Rhythmen und Weisen übertragen Zorn oder Sanftmut, Mut und Besonnenheit.“ Aus der Zusammenstellung dieser wenigen, zentralen Positionen ergibt sich bereits das Spannungsfeld aus Freiheit und Ordnung, in dem sich die Ästhetik des Spiels und ihre (volks-)pädagogische Funktionalisierung verorten lassen. In Achim von Arnims Erzählung Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott von 1818 konstituiert eben dieses Spannungsfeld den Handlungs- und Erfah    

Goethe: Werke, Abt. 1, Bd. 38, S. 139. Goethe: Werke, Abt. 1, Bd. 10, S. 457. Vgl. Corbineau-Hoffmann: Spiel, Sp. 1384 f. Huizinga: Homo ludens, S. 256. Ebd., S. 261.

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rungsradius der beiden Titelhelden, in denen sich personifiziert Tonkunst und Regierungskunst begegnen. Die Parallelisierung der beiden Sphären war seit Ende des 18. Jahrhunderts zu einem festen Topos geworden. In seiner schöpferischen Aufgabe wurde der Künstler als Souverän, der Regent als Künstler wahrgenommen. Die Phantasie vom Rollentausch war auch in der Bildenden Kunst präsent, beispielsweise bei den Nazarenern um Friedrich Overbeck, die just um 1818 von einer römischen Künstlerrepublik träumten – und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Künstler und Mäzen spielerisch reflektierten, indem sie Herrscherfiguren als Diener der Kunst feierten. Arnims Erzählung, so die These, unternimmt das Experiment, unter der Voraussetzung dieser strukturellen Ähnlichkeit des Herrschaftsanspruchs den Spielcharakter der schönen Künste zu übertragen auf die ‚Kunst‘ der politischen Praxis. Die Erzählung fungiert dabei als Kommentar zur Krise des spätabsolutistischen Herrschafts- und Kunstverständnisses, die Arnim als Krise zweier Leitkategorien sichtbar macht, die für Politik und Ästhetik gleichermaßen gelten: der Kategorien der Repräsentation und Partizipation.

2. Pädagogik der Teilhabe Das Spiel, in dem diese beiden Kategorien wiederbelebt und handlungsleitend werden sollen, besteht aus dem Rollentausch zwischen Fürst und Sänger. Ort der Handlung ist der Kurort Karlsbad, der dafür bekannt war, dass sich hier Staatsmänner und Künstler ungezwungen begegnen konnten, sich also bereits in einer Art Spielsituation befanden. Arnim entwickelt daraus eine Humoreske. Durch eine Verwechslung teilen sich Sänger Halbgott und Fürst Ganzgott ein Hotelbett und entdecken einander nicht nur als Doppelgänger hinsichtlich ihres Äußeren, sondern auch hinsichtlich der Notlage, in der sie stecken. Der Sänger war von seinem Theaterdirektor zum Auftritt trotz Erkrankung gezwungen und prompt vom Publikum ausgebuht worden, woraufhin er noch im Kostüm, einer Phantasieuniform, die Flucht nach Karlsbad ergriff; dem Fürst wiederum wird von seinen Untertanen vorgeworfen, vor Untätigkeit längst „versteinert“ zu sein und das Land in eine Wüste verwandelt zu haben. Er selbst klagt als melancholischer Kurgast über den Verlust von Lebensfreude und über eine existenzielle Langeweile, wie sie in vergleichbarer Drastik erst wieder in den Herrschersatiren eines Büchner oder Ionesco vorkommen wird. „Freilich“, seufzte der Fürst, „alles bleibt mir so fern […]! Jeder Fremde wird mir weitläufig angemeldet, ich soll ihn nach seinem ganzen Lebenskreise voraus kennen. Jedes Geschäft ist so vollständig abgetan, ehe es an mich kommt, dass selbst 

Siehe dazu Thimann: Der „glücklichste kleine Freystaat von der Welt“?, S. 84-87.

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meine Feder zum Unterzeichnen mir schon eingetaucht entgegen getragen wird. Ich habe Lust an Musik und Schauspielkunst, doch jedermann warnt mich; ich darf niemand etwas vorsingen, aus Furcht, meine Würde zu kompromittieren; wie glücklich wäre ich, könnte ich […] auch nur wenige Tage ganz meiner Neigung leben!“

Aus einer Laune heraus tauschen Sänger und Fürst am nächsten Morgen die Rollen – und entdecken im Modus des Spiels, wie sie ihre jeweiligen Entfremdungserscheinungen überwinden können. Der Fürst erkennt darin eine weitreichende Erlösung: „Ich langweile mich und andre in dem Hofzwange; meine Frau, mein ganzer Hof ist schon ganz versteinert, ich zur Hälfte, nur ein schneller Entschluss kann uns vom Untergange retten. Hier schwör ich es: wir tauschen die Rollen, aus dem Scherz wird Ernst […]:“ Die Pädagogik des vorübergehenden Rollentauschs zwischen den beiden Doppelgängern beruht auf der Annahme, dass in der Ungezwungenheit des Spiels der Fürst als Sänger wieder in Kontakt gerät mit dem Volk, das er repräsentiert, und der Sänger als Fürst partizipiert an der Ordnung des Staates, die auf ästhetische Strukturen und musische Ereignisse nicht verzichten kann. Dabei liegt das Augenmerk in erster Linie auf dem Fürsten, der in der egalitären Ausnahmesituation zwischen Künstler und Staatsmann einer ästhetischen Erziehung unterzogen wird. Arnim greift damit in satirischer Absicht den pädagogischen Impetus der Fürstenspiegel auf und realisiert zugleich die pädagogische Strategie einer ‚ungefährlichen‘ Fürstenerziehung, wie sie bereits im Barock bei Lohenstein genannt wird: „Es wäre zu wünschen, dasz man alles dis, was ein Fürst zu lernen hätte, ihm im Spiele beybringen könte.“ Das Rollenspiel von Sänger und Fürst entwickelt eine Dynamik, in der das verloren geglaubte Ideal einer natürlichen Gemeinschaft wieder anschaulich wird. Dazu gehört, dass der Künstler als Staatsmann die Liebe der ahnungslosen Fürstin durch erotische Gedichte wieder entfacht und die Zuneigung des Volkes durch öffentliche Feste zurückgewinnt. Der musikalisch begabte Fürst begibt sich unterdessen auf einer Draisine von Ortschaft zu Ortschaft seines Landes und versetzt seine wiederum ahnungslosen Untertanen auf den Marktplätzen in eine begeisterte Stimmung.10 Wenn Arnims Erzählung als Beispiel einer literarischen Pädagogik des Spiels dienen soll, dann also gleich auf zwei Ebenen: Im Vordergrund steht das explizite Spiel der beiden Protagonisten, die – indem sie an der Sphäre des jeweils Anderen teilhaben – zu einem natürlichen Verständnis ihrer Rollen zurückfinden.   

Arnim: Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott, S. 17. Ebd., S. 18. Das Lohenstein-Zitat findet sich in Grimms Deutschem Wörterbuch unter dem Eintrag „Spiel, c) im spiele etwas lernen, erreichen“ (Leipzig 1854-1960, Bd. 16, Sp. 2281). 10 Laut Huizinga die elementare Stimmung des Spiels (vgl.: Huizinga: Homo ludens, S. 212).

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Daneben oder vielmehr als Konsequenz daraus findet ein Spiel statt, an dem das Publikum der beiden Protagonisten teilnimmt, ohne es zu wissen. Es besteht in der vorübergehenden Aktualisierung der kultisch organisierten Gemeinschaft, in der der Einzelne seine Teilhabe am Ganzen sinnlich erfährt:11 So deutet sich die öffentliche Festkultur als Lösungsvorschlag in der diagnostizierten Repräsentations- und Partizipationskrise an.12 Die festliche Stimmung, die der Rollentausch verursacht, entspricht jener Form der öffentlichen Veranstaltung, wie sie den „fürstenstaatlichen Regierungen und Behörden im beginnenden 19. Jahrhundert als eine, wenn auch politisch nicht unverdächtige, so doch politisch weniger gefährliche Form öffentlicher Versammlung“ vorkam.13 Arnims erzählerisch verhandeltes Anliegen zeigt die Option einer kultischen Vitalisierung der Gesellschaft auf und verbleibt damit im Rahmen der absolutistischen Möglichkeiten, obwohl das fiktive Spiel einen hohen Grad an subversivem Potential bereithielte. Gleichwohl ruft Arnim in der spezifischen Konstellation des erzählten Experiments weitreichende Topoi der Staatskritik auf.

3. Staatspädagogisches Spiel gegen entfremdete „Spielerei“ Zur Pädagogik des Spiels gehört es, von begrenzter Dauer zu sein und auf freiwillig angenommenen Regeln zu basieren.14 Ihre Nützlichkeit erweist sich nicht in der Sphäre des Materiellen, sondern des Ideellen: Am Ende haben sich Sänger und Fürst gegenseitig rehabilitiert und ein neues Verständnis ihrer jeweiligen Regierungstechniken erlangt. Über die realistischen Machtverhältnisse zwischen Kunst und Politik lässt Arnim indes keinen Zweifel: Der Fürst gewährt dem Sänger zum Dank das Amt eines Staatsministers, die Kunst wird durch die Politik institutionalisiert und in materieller Abhängigkeit gehalten. Ideell aber hat die Kunst gesiegt, denn das staatspädagogische Spiel lief schließlich nicht nur darauf hinaus, dass die Akzeptanz der beiden Protagonisten gestärkt wurde; in der vorübergehenden Rolle des Sängers erkannte sich der Fürst wieder als Mensch und wurde zum Garanten humaner Politik. So wird bei Arnim die politische Pädagogik des Spiels in Form der ästhetischen Erziehung ausgeübt und anschließend in die Realität der Verhältnisse integriert. Über dieses Verfahren sichert sich der Künstler seine Teilhabe am Geschick des Staats und am Erfolg seiner Glückspolitik. 11 Vgl. ebd., S. 256. 12 Zu Geschichte und Funktion der öffentlichen Festkultur siehe: Düding/Friedemann/ Münch: Öffentliche Festkultur. 13 Ebd., S. 13. 14 Huizinga: Homo ludens, S. 212.

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Die Topik, die dieser Erzählung zugrunde liegt, ist bekannt und war zu Anfang des 19. Jahrhunderts dem gebildeten Publikum durchaus geläufig: Künstler und Staatsmann als Doppelgänger, als aristokratisch gesinntes Brüderpaar (es gibt in der Erzählung sogar Indizien für eine tatsächliche Brüderschaft der beiden) – diese illustrierte Analogie zwischen politischer und ästhetischer Wirkungsmacht betonte bereits die Renaissance. Im frühromantischen Organismusmodell erscheint das Verhältnis von Kunst und Politik als Wechselverhältnis nach der idealistischen Überzeugung, wonach es keine ästhetische Vollkommenheit ohne Freiheit und Gleichheit, aber auch keine Gemeinschaft in Freiheit und Gleichheit ohne die „Öffentlichkeit des Schönen“ geben könne.15 Auch Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung arbeitet mit dieser Ambivalenz. Auf den ersten Blick bezeichnet Schiller zwar den „Bau einer wahren politischen Freiheit“ als das „vollkommenste[] aller Kunstwerke“, nennt den idealen Herrscher einen „pädagogischen und politischen Künstler“ und kommt zu dem Schluss, dass die Arbeit am Kunstwerk Staat die anspruchsvollste sei.16 Doch das ist versteckte Kritik an der Gegenwart, die eben diese Qualitätsmerkmale nicht erfüllt. Für den Weg dahin legt er die Einschätzung nahe, dass sein „Gesetzbuch für die ästhetische Welt“ der Humanität förderlich und der „ästhetische Staat“ als Exempel organisierter Mannigfaltigkeit eine gute Fürstenschule sein könnte. Schillers Pädagogik ist das Spiel, sein Spiel ist die Kunst. Aus diesen Vorlagen übernimmt Arnim das Selbstbewusstsein der pädagogischen Ästhetik und die Stoßrichtung der romantischen Staatskritik. Er teilt die Sorge um den zum puren Mechanismus verkümmernden Staat und interveniert im Namen einer von der Kunst verkörperten Lebensdynamik: Das Signalwort der Erstarrung kehrt nicht nur innerhalb dieser Erzählung immer wieder, sondern hat auch in Arnims Abhandlungen aus dem zeitlichen Kontext seinen festen Platz. In den Betrachtungen über die Verfassung des vormaligen Königreichs Westphalen etwa notiert er 1817 seine geschichtsphilosophische Überzeugung: „Es gibt gewisse Einrichtungen der Staaten, welche die Kultur in’s Leben führt, die aber unter’m Barbarismus erstarren. Dann, wenn die Kultur siegt, erwärmt sie, und führt das Erstarrte in’s Leben zurück.“17 Hier setzt sein pädagogisches Spiel an, frei nach Schillers Definition, „der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“18 Die Position, die Arnim zum Thema seiner Erzählung einnimmt, lässt sich in Anbetracht ihres Verlaufs als Abklärung der Romantik, aber auch als Rückbestätigung 15 16 17 18

Malsch: Schillers und Friedrich Schlegels Poesiebegriffe, S. 27 f. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 578. Arnim: Betrachtungen über die Verfassung des vormaligen Königreichs Westphalen, S. 514. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 618.

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ihrer absolutistischen Tendenzen beschreiben. Aus dem traditionsreichen Nebeneinander des Brüderpaars lässt er am Ende ein Dienstverhältnis werden, in dem der Fürst die oberste Autorität behält und der Künstler in der ambivalenten Realität zwischen Abhängigkeit und Anerkennung angekommen ist. Arnim ist Konstitutionalist und Realist; seine Vorstellung von Politik, wie sie durch die satirische Folie seiner Erzählung deutlich wird, speist sich aus theoretischer Sachkenntnis, profiliert sich aber über praktische Erwägungen: In seinen Betrachtungen über die Verfassung des vormaligen Königreichs Westphalen lobt Arnim die darin gegebene Gleichheit vor dem Gesetz und die Öffentlichkeit der politischen und juristischen Entscheidungsprozesse. An anderer Stelle, in einer Rezension zu Regent und Volk oder: welche Constitution muß der preußische Staat haben?,19 ergreift er 1818 Partei für die Provinzialstände, da sie in ihrer Koexistenz neben der allgemeinen preußischen Ständeversammlung nicht nur eine „Kontrolle der Ausführung“ gewährleisteten, sondern auch eine lokale „Schule für den Staat“ darstellten. Die konkrete Anbindung der Politik an die Lebenswelt der Provinz ist ihm ein Anliegen; er sieht darin die Garantie, „daß die allgemeine Repräsentation […] nicht in theoretische Spielereien versinkt.“20 Mit dem Pejorativ „Spielerei“ assoziiert er eine abstrakte Herrschaftsausübung und bringt damit das Gegenbild zum emphatischen Begriff des Spiels in Erscheinung. Bemüht man noch einmal Schiller, dann zeichnet sich das Spiel durch die gegenseitige Anreicherung von Form und Inhalt, von Repräsentation und Repräsentiertem aus. Die Spielerei einer nicht mehr lebensweltlich verankerten Politik hingegen wäre bloße Form, wäre Entfremdungs- und Dekadenzzustand eines inhumanen Politizismus (als Äquivalenz zum Ästhetizismus). Vor diesem Hintergrund wird die Präsenz des Sängers als Minister am Hof in ihrer zivilisatorischen Bedeutung klar: Die Einbindung des Künstlers dient als Regulativ dazu, das Spiel als Möglichkeit aufrecht zu erhalten, um die Gefahr der „Spielerei“ zu bannen. Darin liegt das ideelle Gegengewicht zur materiellen Unterordnung der Kunst.

4. Beherrschter Enthusiasmus statt unbeherrschter Revolution Eine zweite programmatische Ebene der Erzählung verbirgt sich bereits in der Namensgebung der Protagonisten. Die Hierarchie zwischen Ganzgott und Halbgott bestätigt sich nur scheinbar; vielmehr ist die Namensgebung 19 Das Buch erschien anonym in Berlin 1818. Das dritte Kapitel der Abhandlung diskutiert die Frage: „Soll es außer der allgemeinen Stände-Versammlung noch Provincial-Stände geben oder nicht?“ 20 Arnim: Rezension zu „Regent und Volk“, S. 646.

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„Ganzgott“ für den Fürsten eine überaus zwiespältige, aus Sicht Arnims doppelbödige Kennzeichnung. Denn die Macht des Fürsten trägt damit den sichtbaren Makel, nicht menschlich zu sein. Der Sänger dagegen ist nicht nur Halbgott, sondern auch Halbmensch und wird so zur Erlöserfigur. Auch aus einer anderen Perspektive wird die Ironie der Konstellation noch einmal deutlich: Während der absolutistische Herrscher sich für seine Legitimierung auf Gott berufen kann, verfügt der Künstler traditionell über die Reputation, ein zweiter Schöpfer zu sein. Shaftesbury bezeichnete ihn als den „second maker“, der aus sich heraus ein kohärentes Ganzes schaffe und sich dabei auf eine grundlegende Eigenschaft verlassen könne: auf den Enthusiasmus. Shaftesbury reaktivierte damit die Vorstellung der Renaissance vom „furor divinus“, demzufolge sich die Wahrheit der Dichtung durch den Enthusiasmus beweise und erzieherisch wirken könne; gleichzeitig empfahl er den politischen und religiösen Herrschern eine Regierungskunst, die den natürlichen Enthusiasmus des Volks nicht unterbinde, sondern fördere und kanalisiere: Die Obrigkeit sollte, wenn sie ihre Kunst verstände, eine sanftre Hand haben und […] mit einer herzlichen Sympathie in die Angelegenheiten des Volks dringen, seine Leidenschaft gleichsam auf sich nehmen und, sobald sie dieselbe etwas gestillt und besänftigt hätte, sie mit Güte und Gelindigkeit zu zerstreuen und zu heilen suchen. Dies war die Politik der Alten; und daher ist es […] notwendig, daß das Volk in der Religion unter einer gewissen öffentlichen Führung stehe. […] Allein der Phantasie und Spekulation Grenzen vorschreiben, die Vorstellungen, die Religionsmeinungen, die Furcht der Menschen an eine gewisse Ordnung fesseln, die natürliche Leidenschaft des Enthusiasmus mit Gewalt unterdrücken oder ihr eine gewisse Bestimmtheit geben […] wollen ist in der Tat nicht vernünftiger […].21

Das ist das latente Thema, auf das Arnims leichte, aber gelehrte Erzählung anspielt: Der Enthusiasmus als Ausweis und Wirkung der Kunst sowie als soziale Kraft, über die der Einzelne an der Gemeinschaft teilhat. Die Pädagogik des Rollentausch-Spiels zielt auf den Enthusiasmus als Verhaltenslehre. Vermutlich kannte Arnim nicht nur Shaftesburys Solilog, sondern auch Schellings Münchner Akademierede von 1807, in der der Philosoph das Gelingen der schönen Künste wie dasjenige der Staatskunst an die göttliche Befähigung zum Enthusiasmus gekoppelt hatte. In der weithin beachteten Rede vor der Akademie der Wissenschaften am Namenstag des Königs hatte Schelling erklärt: „Die Kunst entspringet nur aus der lebhaften Bewegung der innersten Gemüths- und Geisteskräfte, die wir Begeisterung nennen. Alles […] ist durch Begeisterung groß geworden. So Reiche und Staaten, Künste und Wissenschaften.“22 21 Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ***, S. 15 f. 22 Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, S. 270.

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Schellings Abhandlung Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur kulminiert in einer Dialektik des Enthusiasmus: Es könne keine Kunst ohne eine Öffentlichkeit geben, die sich für das Schöne begeistern kann, und keine sich für das Schöne begeisternde Öffentlichkeit ohne eine enthusiasmierende Kunst. Doch ob aus Überzeugung oder als Grußadresse an den König: Die Interdependenz von Kunst und Öffentlichkeit wird bei Schelling dann doch von der Obrigkeit beherrscht: Wenn die Schicksale der Kunst abhängig sind von den allgemeinen Schicksalen des menschlichen Geistes, mit welchen Hoffnungen dürfen wir das nächste Vaterland betrachten, wo ein erhabener Regent dem menschlichen Verstande Freiheit, dem Geiste Flügel, menschenfreundlichen Ideen Wirksamkeit gegeben hat […]. Ja die Künste und Wissenschaften selbst […] würden eine Freistatt unter dem Schutz des Thrones suchen, auf dem milde Weisheit das Scepter führt, den Huld als Königin verschönert.23

Insofern stellt Arnims humoristische Bearbeitung des Motivs vom Dichterfürsten eine Umsetzung gemäßigter Enthusiasmus-Politik dar. Die Vorstellung, gerade die Poesie könne dazu beitragen, Emotionen zu regulieren und in den Zustand natürlicher Harmonie zu überführen, ist im EnthusiasmusDiskurs des 18. Jahrhunderts fest verankert.24 Ein Gegendiskurs dazu entwickelte sich ausgehend von Edmund Burkes einflussreicher Schrift gegen die Französische Revolution, die er explizit als das Resultat eines verirrten und exzessiven Enthusiasmus verurteilte.25 Arnims spielerisches Konzept signalisiert also eine bewusste Rückbesinnung auf vorrevolutionäre Überlegungen.

5. Grenzen des Spiels So setzt die narrative Inszenierung des Rollentauschs, die Achim von Arnim gewählt hat, der Pädagogik des Spiels auf mehreren Ebenen feste Grenzen: Zum einen, indem die Lehre vom Enthusiasmus auf das Handeln der Hauptfiguren und die Dauer des Rollentauschs beschränkt bleibt, zum anderen, indem die erzähltechnischen Entscheidungen hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die zur gleichen Thematik etwa Jean Paul anwandte, wenn er das Verhältnis von Künstler und Herrscher auf das Verhältnis von Leser und Erzähler spiegelte und dort Optionen einer egalitären Öffnung erprobte. Jean Pauls dementsprechenden Experimente stehen unter der romantischen Devise, jeder sei thronfähig, Arnims Erzählung hingegen bestätigt den auktorialen Duktus in derselben Art, wie der absolutistische Fürst 23 Ebd., S. 272 f. 24 Vgl. Mee: Romanticism, Enthusiasm, and Regulation, S. 42 f. 25 Ebd., S. 63, 82.

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am Ende der Geschichte im Amt bestätigt wird.26 Indem Arnim die Pädagogik des Rollentauschs als exklusives Spiel unter Großen darbietet und nicht auf die Interaktion mit dem Leser übergreifen lässt, antwortet er auf die Experimente der zurückliegenden Romantik, die ihre Spielanordnungen ins Offene hinein anlegte. Ihm geht es in seiner aristokratischen Pädagogik um die Belebung der Stabilität als Gegenmittel zu einer Pädagogik, von der er destabilisierende Effekte fürchtete. So verrät die Ästhetik des Spiels viel über dessen implizite Pädagogik.

Literatur Arnim, Achim von: Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott. Eine Bade-Unterhaltung. In: Ders.: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bd. 3. München 1965, S. 7-30. Arnim, Achim von: Betrachtungen über die Verfassung des vormaligen Königreichs Westphalen. In: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Schriften. Hg. von Roswitha Burwick. Frankfurt a.M. 1992, S. 512-532 [zuerst 1817]. Arnim, Achim von: Rezension zu Regent und Volk oder: welche Constitution muß der preußische Staat haben? In: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Schriften. Hg. von Roswitha Burwick. Frankfurt a.M. 1992, S. 645-646 [zuerst 1818]. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Spiel. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg. von Joachim Ritter; Karlfried Gründe. Darmstadt 1995, Sp. 1383-1390. Düding, Dieter; Friedemann, Peter; Münch, Paul (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988. Fischer, Bernd: Literatur und Politik. Die ‚Novellensammlung von 1812‘ und das ‚Landhausleben‘ von Achim von Arnim. Frankfurt a.M. 1983. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Abt. 1, Bd. 38. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1897. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Abt. 1, Bd. 10. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1889. Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 16. Bearb. von Moriz Heyne. München 1999 [Nachdruck der Erstausgabe von 1905]. Huizinga, Johan: Homo ludens. Amsterdam 1939. Malsch, Wilfried: Schillers und Friedrich Schlegels Poesiebegriffe im Lichte von Herders typologischer Griechenlanddeutung. In: Reinhard Görisch (Hg.): Perspektiven der Romantik. Bonn 1987, S. 9-35. Mee, Jon: Romanticism, Enthusiasm, and Regulation. Poetics and the Policing of Culture in the Romantic Period. Oxford 2003. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. In: Ausgewählte Werke. Bd. 4: Schriften von 1806–1813. Darmstadt 1968, S. 233-273 [zuerst 1807]. 26 In einer Monographie zu Arnims Erzählwerk wird indes darauf hingewiesen, dass Arnim selbst der „Spielerey mit Experimenten“ nicht abgeneigt gewesen sei. So könne anhand anderer Erzähltexte von ihm, die hier nicht zur Sprache kamen, durchaus von einer „experimentelle[n] Durchbrechung ästhetischer Normen“ gesprochen werden, die „im kog­ nitiven, emotiven und normativen Bereich Alternativen zu den ideologieverdächtigen Sinnsystemen der herrschenden Kunst, Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie durchspielen“ wolle (siehe dazu Fischer: Literatur und Politik, S. 270).

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Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. von Gerhard Fricke. München 91993, S. 570-669. Shaftesbury, Anthony Earl of: Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ***. In: Ders.: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Hg. von Karl-Heinz Schwabe. München 1990, S. 5-40 [zuerst 1708]. Thimann, Michael: Der „glücklichste kleine Freystaat von der Welt“? Friedrich Overbeck und die Nazarener in Rom. In: Ulrich Raulff (Hg.): Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien. München 2006, S. 60-103.

Literarische Spielformen zwischen Moderne und Postmoderne

Barbara Thums

Asketisches Künstlertum und klösterliche Einsamkeit Inszenierungen der Einbildungskraft um 1900 Die Einbildungskraft ist im 18. Jahrhundert ein heftig umkämpftes Phänomen. Ihr Vermögen, ihre Grenzen sowie ihr Gefährdungspotential für die Konzepte der Selbstbegründung von moderner, bürgerlicher Subjektivität ebenso wie von moderner Kunst werden insbesondere in den Wissensfeldern von Anthropologie und Ästhetik kontrovers diskutiert. Rückführbar ist dies nicht zuletzt auf ihre ambivalente Beurteilung als produktives, dichterisches Vermögen des Genies einerseits und als irrationales, der rigiden Kontrolle und Domestizierung durch die Vernunft bedürftiges Vermögen andererseits. Selbst wenn die Einbildungskraft als Garant der autonomen Schöpfertätigkeit des Genies gefasst wird, bewegt sie sich noch an der Grenze zum Pathologischen, da sich Genie und Wahnsinn nicht sys­tematisch unterscheiden lassen. In der zeitgenössischen Wahrnehmungstheorie, die sich intensiv mit der Funktionsweise des Gehirns sowie mit den physiologischen Voraussetzungen des Genies befasst, wird dies damit begründet, dass zwischen der Stärke der Einbildungskraft und der Stärke der Nervenerregung ein Zusammenhang bestehe. In dieser Grauzone der Ununterscheidbarkeit zwischen Genie und Wahnsinn wird auch die Schwärmerei erklärbar als „Originalität (nicht nachgeahmte Produktion) der Einbildungskraft“, die aller Vernunft zuwider nicht „zu Begriffen zusammenstimmt“, weshalb es der „dichtenden Einbildungskraft“ entgegenzuwirken gilt, um „eine Art von Wahnsinn“ zu vermeiden.   

  

Vgl. dazu Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Vgl. zu der in diesem Diskussionszusammenhang zentralen Funktion der Aufmerksamkeit Thums: Aufmerksamkeit, Kap. III. Vgl. dazu etwa Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, S. 169: „Die natürliche Beschaffenheit des Gehirns, nach welcher solche entfernte und verschiedne Ideen zu gleicher Zeit erregt und solche sonderbare Zusammensetzungen hervorgebracht werden können, ist eine Anlage zum Originalgenie – aber auch zur Raserey.“ Kennzeichen des Wahnsinns ist es nach zeitgenössischer Vorstellung, dass er eine „uneingeschränkte Macht über alle andren Leidenschaften ausübt“. Vgl. dazu Arnold: Beobachtungen über die Natur, Bd. 1, S. 191. Zur psychologischen Ursachenforschung vgl. etwa Hoffbauer: Untersuchungen über die Krankheiten der Seele. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 472. Kant: Der Streit der Fakultäten, S. 379. Zu dieser Strategie als „Verdrängung der Verdrängung“ vgl. auch Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 396.

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In auffälliger Weise rekurriert der Verwerfungsdiskurs einer als pathologisch diffamierten Einbildungskraft auf den Topos des Klosters als Ort asketischer, mönchischer Einsamkeit. Dabei kommen im Zuge des Säkularisierungsschubs mit seinen zahlreichen Klosterauflösungen um 1800 traditionsreiche Klischees über Mönche und Nonnen – insbesondere der verbrecherische Charakter, sowie Faulheit, Geilheit und Wahnsinn – zu neuer Konjunktur. Sie folgen klar bestimmbaren, bipolar organisierten Narratemen, konkret der Entgegensetzung von Orient – Okzident, klerikal – säkular, katholisch – protestantisch, adelig – bürgerlich, weiblich – männlich, schwärmerisch – vernünftig, ausschweifend – maßvoll oder krank – gesund. Insbesondere der offenbar mit Klöstern, Mönchen und Nonnen geradezu übersäte Orient wird dabei zur Gegenwelt des aufgeklärten Okzidents stilisiert, wobei die über diese Argumentationsstruktur vollzogene Ausschließung dessen, was zum kulturell Fremden und Anderen erklärt wird, die deutlich erkennbare Funktion hat, eine Identität des Eigenen zu stiften, die sich als säkularisiert, europäisch, bürgerlich und männlich erweist. So wird ein kulturelles Imaginäres formiert, in dem die klösterliche Welt eine konstitutive Funktion für die Herausbildung des bürgerlichen Normensystems bekommt: Sie wird Projektionsfläche für das aus dem Weltlichen Ausgeschlossene. Die Vorstellung, die Sexualisierung der Einbildungskraft sei eine notwendige Konsequenz aus der Abschließung eines weltabgewandten Klosterlebens, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Ebenso die Unterstellung, die klösterliche Abschottung von der Welt produziere einen Triebstau, weshalb die Auflösung der Klöster und die Entlassung der als sexhungrig imaginierten Mönche und Nonnen mit ihrer sexualisierten Einbildungskraft zur Gefahr für das bürgerliche Ehemodell einer tugendhaftvernünftigen Neigungspartnerschaft werden müsse.10 Dies erklärt, warum etwa die mönchische Askese, die hypertrophe Einbildungskraft, die religiöse Schwärmerei und Melancholie oder die Hypochondrie und Onanie als 

Besonders anschaulich lässt sich die exzessive Bezogenheit auf den Kloster-Topos an der 1784/85 erschienenen Abhandlung Ueber die Einsamkeit des Mediziners Johann Georg Zimmermann zeigen, die eine Anleitung zum richtigen Leben, konkret zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Einsamkeit geben will. Zimmermann gibt hier im Zuge seiner Rhetorik der Abschreckung zahlreiche Anekdoten über die sexualisierte Einbildungskraft von Mönchen und Nonnen zum Besten, um die pathologischen Auswüchse eines Lebens jenseits des mittleren Maßes zu illustrieren (Zimmermann: Einsamkeit, vgl. auch Jäger: Mönchskritik und Klostersatire).  So bietet etwa Zimmermanns Text reiches Anschauungsmaterial für die These Edward Saids, dass die Konstruktion der Idee vom ‚orientalischen Anderen‘ auf der „ontologischen und epistemologischen Unterscheidung zwischen dem ‚Orient‘ und dem ‚Okzident‘ basiere (vgl. dazu Said: Orientalism, S. 1).  Vgl. dazu ausführlicher Thums: Die gebannte Gewalt der Einbildungskraft, S. 113-120. 10 In diesem Sinne beschreibt Koschorke die aufgeklärte Ehe mit einer paradoxen Formel als „Einschluss des Ausschlusses des Sexuellen“ (Koschorke: Die heilige Familie, S. 163).

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das gegenweltlich Andere, also als das dem Klosters Zugehörige imaginiert werden. Vor diesem Hintergrund ist das Kloster mit Foucault als Heterotopie zu bestimmen: als wirklich lokalisierbarer Ort einer bestimmbaren kulturellen Ordnung und zugleich als ‚anderer Raum‘ innerhalb der eigenen Kultur.11 Entscheidend ist dabei der imaginäre Gehalt dieser Heterotopie: Sie ist Bezugsort kultureller Energien und Imaginationen des entstehenden Bürgertums und formiert als solcher eine imaginäre Gegenwelt für Ausgeschlossenes, Tabuisiertes und Pathologisiertes – kurz, für dasjenige, was es als Produkt einer hypertrophen Einbildungskraft in einen ‚anderen Raum‘ zu verbannen gilt. Insgesamt lässt sich also festhalten: Die Problematisierung der Einbildungskraft mit ihrer Anbindung an den Kloster-Topos steuert offensichtlich einen umfassenden Abgrenzungsdiskurs. Dieser bezieht sich auf Normalisierungspraktiken der Aufklärung und liegt der Formierung von genuin bürgerlichen Selbstbegründungskonzepten im Kontext einer sich säkularisierenden Moderne zugrunde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verändert sich die diskursive Konstellation. Einen wesentlichen Anteil daran haben neue anthropologische Erkenntnisse aus dem Umfeld der Sinnesphysiologie. Vorstellungen einer rein passiv-mechanistischen Auffassung der Sinnestätigkeit gelten spätestens dann als überholt, als Johannes Müller im Anschluss an Goethes und Purkinjes Untersuchungen zum subjektiven Sehen das Gesetz formuliert, dass Wahrnehmungen keine Repräsentationen der Außenwelt sind, sondern auf Selbstempfindungen des Nervensystems zurückgehen:12 Reize sind bloß äußerliche Stimuli, sie führen nicht selbst zur Wahrnehmung, sondern lösen lediglich die produktiv schöpferische Aktivität der Sinnesorgane aus, die dann – von einer Empfindung begleitet – zur Wahrnehmung führt. Damit wird die Einbildungskraft endgültig als produktives Vermögen etabliert, zugleich ist damit jene prinzipielle Vergleichbarkeit von Wahrnehmungs- und künstlerischen Produktionsprozessen gegeben, die für die ästhetischen Debatten um 1900 grundlegend sind.13 Die Neuformierung des anthropologischen Wissens wird durch weitere Faktoren bestimmt, die ihrerseits nicht ohne Auswirkung auf die Konzeptionalisierung der Einbildungskraft bleiben. In erster Linie ist hier das neovitalistische Verständnis von Lebenskraft, das medizinische und literarische Wissen über Gesundheit und Krankheit, Künstlertum und Décadence, Hysterie und Neurasthenie zu nennen. Darwins Evolutionstheorie, Nietzsches Moderne-Kritik, Wundts physiologische Psychologie, Krafft-Ebings Psychopathologia sexualis haben darin ebenso Eingang gefunden wie Nordaus Verständnis von Degeneration und Entartung. All diese Versatzstücke des 11 Foucault: Andere Räume, S. 34-46, S. 39. 12 Vgl. dazu Müller: Physiologie, S. 50. 13 Vgl. dazu ausführlich Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung.

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populären Wissens bündelt der zeitgenössische Hygiene-Diskurs, den es deshalb zunächst etwas ausführlicher zu erläutern gilt. Im Zuge der diskursiven Normalisierungsbestrebungen zur Durchsetzung der bürgerlichen Ehe entsteht die kulturelle Imagination von sexualisierten Subjekten, die durch ein ausschweifendes Sexualleben ihre Lebenskraft verschwenden, ihren Körper schwächen und ihren Geist zerrütten und deshalb mit dem Bann der Pathologisierung belegt werden. Im Fokus der Hygieniker steht dabei nicht nur der außereheliche Geschlechtsverkehr, sondern vor allem die Onanie. Bereits im 18. Jahrhundert gilt der in der Einsamkeit stattfindende, autoreferentielle Akt Onanie als Raubbau an wichtigen Ressourcen zur gesellschaftlichen Reproduktion, als eigensüchtiges Laster, das zur Zeugungsunfähigkeit führt, und damit zugleich als Akt der Verweigerung, die eigene Lebenskraft den sozialen Systemkreisläufen zur Verfügung zu stellen.14 Außerdem wird die weltabgekehrte Selbstgenügsamkeit der Onanie deshalb als besonders gefährlich gefasst, weil sie – darin der klösterlichen Weltabgekehrtheit gleich – mit einer sexualisierten und zum Wahnsinn tendierenden Einbildungskraft verbunden ist. Angepasst an das medizinische und psychologische Wissen um die Modekrankheiten Neurasthenie und Hysterie ist diese Auffassung der Onanie mitsamt ihrer Koppelung an eine der religiösen Schwärmerei vergleichbare hypertrophe Einbildungskraft noch das gesamte 19. Jahrhundert wirksam.15 So stellt etwa Krafft-Ebing in seiner Psychopathia sexualis einen expliziten Zusammenhang zwischen poetischer Einbildungskraft, religiösem Wahnsinn, sexuellen Anfechtungen und – wie er es nennt – „Psychosen auf masturba­ torischer Grundlage“ her, wobei er nicht zuletzt die Verbindung zwischen Masturbation und Melancholie betont.16 Vergleichbar versucht sich Max Nordaus Abhandlung Entartung an einer hirnphysiologischen Begründung der ungeregelten Ideenassoziation bei Degenerierten, indem sie diese auf „ererbte Gehirn-Mängel“ zurückführt.17 In Nordaus Verständnis sind Mystiker, Künstler, Hysteriker und Neurastheniker von diesen krankhaften Assoziationsstörungen betroffen, weil ihr Gehirn aufgrund dieser ererbten Willensschwäche unfähig ist, aufmerksam zu sein. Sie haben den „Kampf ums Dasein der Vorstellungen“ immer schon verloren, denn Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit des Gehirns, von den Erinnerungsbildern, welche durch Ideen=Assoziation oder Reizwelle bei jeder Erregung einer Hirnzelle oder Zellengruppe ins Bewußtsein treten, einen Theil zu unterdrücken und nur einen andern Theil bestehen zu lassen, nämlich blos diejenigen Erinnerungsbilder,

14 15 16 17

Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 83. Vgl. Sarasin: Reizbare Maschinen. Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 7 f. und S. 367. Nordau: Entartung. Bd. I, S. 39.

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welche sich auf den Erreger des Reizes, auf den eben wahrgenommenen Gegenstand beziehen.18

Nordau bezieht sich hier auf das Wissen der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie, insbesondere auf die Theorie der Reizverarbeitung und auf die Definition der Aufmerksamkeit Wilhelm Wundts: „Den durch eigentümliche Gefühle charakterisierten Zustand, der die klarere Auffassung eines psychischen Inhalts begleitet, nennen wir die Aufmerksamkeit“.19 Nordau integriert dieses wahrnehmungspsychologische Wissen in sein vom Darwinismus geprägtes Argumentationsschema einer Unterscheidung zwischen ‚Normalem‘ und ‚Anormalem‘. Bei der ‚anormalen‘ Aufmerksamkeit von „Degenerierten“ sind „gewisse organische Nervenzentren, namentlich die geschlechtlichen im Rücken= und im verlängerten Mark, [...] häufig mißbildet oder krankhaft erregt“, weshalb es nur zu halbdunklen Vorstellungen kommen kann.20 Diese – etwa als Zeichen von „Mysticismus“ zu bezeichnenden „Gedankengespenster“ und Angst auslösenden „Grenzvorstellungen“ –, sind wiederum Vorstellungen, die nicht nur „näher oder entfernter mit der Geschlechtsthätigkeit zusammenhängen“, sondern überdies dauernd sind, „weil auch die sie veranlassenden Erregungszustände dauernd sind“ und so alle empfangenen Eindrücke auch mit „erotische[n] Gedanken“ verknüpft werden.21 Bestimmender Faktor einer derart kontextualisierten „Onanieangst“22 ist mithin der „postulierte biologische Zusammenhang zwischen Gehirn und Sex“:23 Zur klassischen Symptomatik dieser ‚reizbaren Schwäche‘, die seit 1880 mit dem modernen Begriff der Neurasthenie belegt wird, zählen allgemeine Erschöpfungszustände und Krankheiten des Gehirns wie Nervenzerrüttung, Gedächtnisschwäche, Hypochondrie und Melancholie.24 Nicht auf körperlicher Ebene wird die Sexualität also zum Problem, sondern als jene Krankheit des Vorstellungsvermögens, die in der weltabgekehrten Einsamkeit entsteht und die den Onanisten, den Mönch und die 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 97 f. Wundt: Grundriß der Psychologie, S. 252. Nordau: Entartung. Bd. I, S. 112. Ebd., S. 105 f und 112. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 430. Ebd., S. 410. So führt nach Krafft-Ebing schon die ‚normale‘ sexuelle Ausschweifung zur „Gehirnerweichung“, und die onanistische Verschwendung von Samenflüssigkeit gar zur Schädigung der „Funktionen des Rückenmarks“, weshalb sie „eine Hauptursache der Nervenschwäche und Hypochondrie“ sei (zit. nach ebd., S. 410). 24 In einem Lehrbuch der Nervenkrankheit für Ärzte und Studierende aus dem Jahr 1894 lässt sich folgende Beschreibung der Neurasthenie finden: „Das Grundsymptom der Neurasthenie bildet die reizbare Schwäche, d.h. die abnorme Erregbarkeit und Erschöpfbarkeit, [...]. Die Stimmung ist meistens eine gedrückte, aber die Verstimmung ist gemeiniglich weder eine tiefe noch eine andauernde, sie resultiert im Wesentlichen aus der Reflexion über den krankhaften Zustand und den hypochondrischen Vorstellungen, die sich auf diese aufbauen.“ (vgl. dazu Oppenheim, zit. nach Winter: Naturwissenschaft und Ästhetik, S. 238)

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Nonne sowie den asketischen Künstler und den Dekadenten in einen Diskurszusammenhang stellt. Und unheimlich erscheint die Sexualität in dieser Logik deshalb, weil tatsächliche sexuelle Ausschweifungen auf imaginierte sexuelle Ausschweifungen, mithin auf eine sexualisierte Einbildungskraft, zurückzuführen sind. Interessanterweise hat sich die Faszinationskraft des Kloster-Topos und der asketisch-mönchischen Einsamkeit im Zuge dieser diskursiven Umstellungen keineswegs erschöpft. Im Gegenteil, immer noch ist die Heterotopie Kloster als imaginäre Gegenwelt eine wichtige Systemstelle innerhalb des Selbstbeschreibungsmodells bürgerlicher Kultur. Die daran gebundenen Phantasien um den Zusammenhang zwischen mönchischer Einsamkeit und entfesselter Einbildungskraft besetzen jetzt den Ursprungsort jener dichterischen Einbildungs- und Schöpferkraft, die sich über die Abgrenzung zu den bürgerlichen Werten und Lebensmodellen definiert. Die Heterotopie Kloster wird zu einem wesentlichen Bezugspunkt ästhetizistischer Begründungen von Subjektivität und Autorschaft. Dies soll ausgehend von Heinrich Manns Essay Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand25 dargelegt werden, der in einer spannungsvollambivalenten Haltung zwischen produktivem Anschluss und kritischer Distanz auf den Topos der mönchischen Einsamkeit und der christlichen Askese Bezug nimmt. Heinrich Manns Essay bezieht sich mit Gustave Flaubert auf eben jenen Autor, dessen Texte für das Bedingungsverhältnis von dichterischer Einbildungskraft und mönchischer Einsamkeit paradigmatisch sind. Flaubert nämlich entfaltet auf der Basis dieses Bedingungsverhältnisses sowie mit Bezug auf die traditionelle Wüstensymbolik die Spannung zwischen phänomenaler Leere und imaginativer Fülle der Wüste bzw. zwischen antizivilisatorischen Fluchtphantasien und Traumwelten des antiken Orients als fundamentale Spannung zwischen Wirklichkeit und Imagination, indem er zentrale Motive des frühchristlichen Anachoretentums ästhetisch transformiert. Dabei werden etwa in Die Versuchung des heiligen Antonius die Versuchungen der historischen Anachoreten zu Versuchungen der Schrift und die enzyklopädische Bezugnahme auf die Quellen kultur- und religionsgeschichtlicher sowie literarischer Symboliken der Einsamkeit zum Medium der poetischen Selbstreflexion.26 In der erstaunlichen Verbindung, die eine gleichsam delirierende Einbildungskraft hier mit einem gründlich recherchierten Wissen eingeht, hat Michel Foucault die Geburt „einer merkwürdig modernen Phantastik“ ausgemacht, die sich durch eine bis dahin ungekannte Energie der Einbildungskraft sowie dadurch auszeichnet, dass 25 Der Essay wird zitiert nach Werner: Heinrich Mann, S. 7-42. Zitate aus dem Essay werden im Folgenden in Klammern direkt im Text nachgewiesen. 26 Vgl. dazu Schmider: Visionen der Askese. Außerdem Dünne: Asketisches Schreiben.

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das „Imaginäre“, das „zwischen dem Buch und der Lampe [haust]“, ein „Bibliotheksphänomen“ ist.27 Heinrich Mann hingegen interessiert sich zunächst dafür, welche Funktion die Einbildungskraft innerhalb des psychischen Systems des Autors Flaubert hat. Als Quellen für seine gleichermaßen individual- wie sozialpsychologische Studie nutzt er Selbstreflexionen Flauberts sowie den Briefwechsel zwischen Flaubert und George Sand.28 Denn das psychische System Flauberts ist für ihn der Schlüssel nicht nur zum Werk, sondern darüber hinaus zur Selbstbeschreibung moderner Ästhetik im Spannungsfeld von Realismus und Impressionismus: Wenn er Flaubert gleichsam auf die Couch legt, so vor allem mit dem Ziel, den anti-bürgerlichen Impetus des asketischen Künstlerideals29 für die Selbstbegründung von Autorschaft im literarischen Feld um 1900 kritisch zu reflektieren und die Tragfähigkeit dieses Ideals für eine Ästhetik zu prüfen, die nicht nur unter dem Anpassungsdruck an die veränderten Wahrnehmungsbedingungen einer beschleunigten Moderne steht, sondern sich überdies gegen massive Angriffe von Seiten der Naturwissenschaften zu behaupten hat. Heinrich Manns Essay macht – so die These – deutlich, dass eine Form der Selbstbehauptung gegenüber den Naturwissenschaften die Aufnahme ihrer Diskurse und deren Vereinnahmung für die eigene Programmatik ist. Der Essay beginnt mit der herausragenden Stellung Flauberts innerhalb der Literatur des 19. Jahrhunderts bzw. der französischen Romankunst. Um diese zu untermauern, werden zunächst die Leistungen Chateaubriands, Stendhals, Balzacs und Gautiers benannt, um ausgehend davon zu schließen: Flauberts Talent hält dies alles zusammengerafft wie ein Viergespann und lenkt es, wohin sein Temperament und seine Weisheit wollen. Er hat den sozialen Überblick des Einen, ohne seine Illusionen; der Analyse des Anderen schafft er unerhörte Ausdrucksmittel, macht als Erster das Geistigste sinnlich fühlbar. Er hat Plastik als Grundtugend geübt, hat die malerische Wortkunst zum Impressionismus weitergeführt. Und das Tiefste in ihm ist sein Einsamkeitsbewusstsein, [...]. Er ist stark in jeder dieser Fähigkeiten; er wird groß, wo er sie alle zugleich betätigt. Wenn irgendwo, ist hier ein Gesamtkunstwerk, eins, das ein einziges Hirn erschuf und dem kein Handlanger zum Leben hilft. 30

27 Foucault: Nachwort, S. 215-251, S. 221 f. 28 Zu editionsphilologischen Aspekten sowie zu den sozialgeschichtlichen Kontexten vgl. die akribische Aufarbeitung bei Werner: Heinrich Mann. Vgl. dort auch die Hinweise zu Manns „Technik des kryptischen Zitierens“ (S. 122). 29 Vgl. zu Heinrich Manns identifikatorischer „Rezeption von ‚Topoi‘ der Bürgerkritik“ Flauberts Werner: Heinrich Mann, S. 79. Vgl. zu Werners These, Manns Flaubert-Essay markiere die ersten Schritte weg von der Ästhetik des ‚l’art pour l’art‘ hin zu einer ‚littérature engagée‘ bereits dies.: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 163-175. 30 Zit. n. Werner: Heinrich Mann, S. 8 f.

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Die weitere Charakterisierung Flauberts erfolgt, indem seine Begegnung mit George Sand bzw. ihr Blick auf ihn geschildert wird – eine Darstellungsstrategie, die sich nicht zuletzt der Polarisierungen ‚stark‘ – ‚schwach‘, ‚männlich‘ – ‚weiblich‘, ‚realistisch‘ – ‚romantisch‘, ‚impersonnalité‘ – ‚Herz‘ und ‚romanhaft‘ – ‚lyrisch‘ bedient, um den vermeintlich Modernen zum verspäteten Romantiker zu stilisieren, der auf das auktoriale Recht an seiner Autorschaft verzichtet, um durch diesen Verzicht als Künstler mit gleichsam göttlicher Autorität hervorzugehen. Erkennbar ist hier die ästhetische Transformation ursprünglich religiöser Denkfiguren wie der Umschlag von Leere zu Fülle bzw. von Ohnmacht zu Allmacht. Nimmt man diese Perspektive Ernst, so ist auch die zunächst merkwürdig anmutende Vereinnahmung Flauberts für den Impressionismus in ihrer unmittelbaren Verknüpfung mit Versatzstücken des Kloster-Topos nicht weiter erstaunlich. Flauberts Schreibstube, in dem er, der Melancholiker mit „schwarzer Laune“ (11), mit seinem „kuttenähnlichen Rock“, körperlich gezeichnet von den „Ausschweifungen der Arbeit“ (17) sitzt, ist ein „Klosterzimmer“, in dem „ein durch lange Unnatur Erschöpfter ringt“ (30) wie ein in der „Hölle Schmiedende[r]“ (15). Flaubert ist „weltflüchtig“, sieht „nur noch in der Enthaltung Vernunft“ (22), ist getrieben vom „Fieber seiner Begierden“ (21), von seinem „keuchende[n] Entsagen“(14) und seiner „Selbstvergewaltigung“ (15) zugunsten des Schreibens, von seinem „rasendem Kunstfieber“ (23) also, sowie vom Hass gegen die bürgerliche Welt.31 Sein Motto lautet: „besser die Wüste als ein Trottoir, besser ein Wilder als ein Friseur“ (19). Die Tatsache, dass er zunehmend „fast allen Zusammenhang mit dem Möglichen, mit dem Leben selbst“ verliert, bringt ein „solch geistiges Ungeheuer“ (39) hervor, wie etwa die Welt von Bouvard und Pécuchet oder die „menschenfeindlichen Grotesken“ (22) aus der Versuchung des heiligen Antonius. Aus „exaltierten Sensationen erhebt sich streng und stumm die Schwärmerei der Geister“ und die „Seelen streichen lautlos über tief erregtes Blut hin. Sinnlich bebende Worte machen, wie Aufschreie, den Engelsflug der Sätze mit.“ (22) Welten wie diese sind durchdrungen von Flauberts „mystisch sinnlichen Gedanken an das über seine Stirn schwebende ausgestopfte, schon halb zerfressene, aber smaragdene, aber purpurne Gefieder – die Kunst“ (42). Deutlich erkennbar ist der ursprünglich religiöse Topos asketischer Einsamkeit hier ästhetisch konnotiert. Explizit wird dies in der Gleichsetzung von Künstler und Priester (11). Damit wird zugleich die „Keuschheitsfrage“ gestellt, d.h. die Frage danach, wie der Zusammenhang zwischen Keuschheit, Kunst und Leben zu bewerten ist: Der keusche Künstler – so 31 In einem Brief an George Sand vom Mai 1867 spricht Flaubert umgekehrt vom „Haß, den man gegen den Beduinen hegt, gegen den Ketzer, gegen den Philosophen, gegen den Einsiedler, den Dichter“. (Zit. nach Werner: Heinrich Mann, S. 183)

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die zitierte Selbstbeschreibung Flauberts – leidet an „Todesängsten, durch die ihn der Stil hetzt“ (11). Für einen starken Künstler, dem es gelingt, die Keuschheit als „Kraftprobe“ zu begreifen sowie „Liebe und Kunst, alles zu gleicher Zeit, zu bewältigen“, stellt sie keine Gefahr dar, sondern steigert „im Gegenteil“ (11) das künstlerische Vermögen, weil der Mangel an sinnlichem Erleben umschlägt in die Fülle einer sexualisierten Einbildungskraft und die „intellektuelle Wollust“ (14) der Kunst. Ausschlaggebend für die diskursive Situierung des Konzepts asketischen Künstlertums um 1900 ist weniger die zitierte Selbstbeschreibung Flauberts, als vielmehr Heinrich Manns Kommentar: Ein späterer Betrachter [...] weiß, wohin dies alles geführt hat; weil schon in den Bildnissen aus der starken Zeit eines Geschlechtes manches den Sinn des Verfalles annimmt für den, der die Nachkommen kennt. (11)

Flauberts Autorschaftskonzept des asketischen Künstlertums wird in seiner biographischen Entwicklungsgeschichte als Verfallsgeschichte im Sinne zeitgenössischer Theorien der Evolution und Degeneration diagnostiziert, wobei insbesondere die um 1900 in unterschiedlichsten Wissensformen bemühte Polarität von ‚stark‘ und ‚schwach‘ eine Rolle spielt, aber auch die Genealogie des Bürgertums bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt wird: So wird – bekannt aus dem anthropologisch-medizinisch-diätetischen Wissen über das ungesunde Verhältnis von Körper und Seele bei Gelehrten, die sich zu wenig bewegen – der Zusammenhang von Ideenproduktion und „Zirkulationsstockungen“ angeführt, der wiederum das Bedingungsverhältnis zwischen der „Feindseligkeit gegen das Leben“ und der Schöpfung des „reine[n] Kunstwerk[s]“ (32) belegen soll. In diesem Kontext verknüpft der Essay den heterotopen Imaginationsraum Kloster mit dem Hygiene-Diskurs um 1900 und damit zugleich mit Symptomen der Décadence bzw. dem Krankheitsbild der Neurasthenie: Es ist die Rede von „hysterische[r] Reizbarkeit“ (38) bzw. von „überreizte[n] Nerven“, von einer gefühlten Nähe zu den „Priestern des Orients“, von einer „Geistigkeit, die sich schwer aus den Schlacken der Sinne losringt“, von einer „ungeheure[n] Animalität“, zu deren „Bändigung“ eine „Hygiene der Ungesundheit“ erforderlich ist, von einem durch die „Ausschweifungen der Arbeit“ zugrunde gerichteten Körper (17) sowie insgesamt von einem „Stil des ungesund Keuschen“ (22), bei dem die „nervenzerrüttende Enthaltsamkeit“ und eine „höchst fragwürdige Wollust“ (19) einander bedingen: Dieses Wüten des einsamen Lasterhaften gegen seine überspielten Nerven! Diese Jagd nach dem immer weiter zurückweichenden Rausch! Er holt aus Jugendtagen den ausschweifendsten Stoff zurück, steigert seine berauschende Ungesundheit vermöge alles seither erworbenen Wissens und Könnens; und auf eine Weile noch genügen ihm nun die Ungeheuer, Götter, letzten Seltsamkeiten, die durch glühenden Sand vor der Hülle des heiligen Antonius vorbeiziehen, – vor der Zelle des von der Literatur Besessenen. Dann? Nichts mehr. Die Angst und Verzweiflung bei der leeren Morphiumflasche. Die Kunst, die hier einen Menschen ganz

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in die Klauen bekam, hat ihn endlich so blasiert gemacht, daß er nicht mehr aus dem Zimmer gehen mag, und so hellnervig, daß er keine Gesellschaft aufsucht, ohne der Unzartheit und Dummheit des Wirklichen zu erliegen, zu weinen oder Streit anzufangen. Jeder Zwang, zu handeln, erregt ihm Lebensüberdruß. […] Die Handelnden, die Triebnaturen sind unsauber. […] Er, der Literat, hält sich mönchisch rein, wahrt sich Güte: weil er bewußter ist. Das Überblicken vieler Schicksale macht es ihm verächtlich, großen Wert auf das eigene zu legen. [...] Er, der Literat, ist durchgeistigt von seiner Phantasie. (24)32

In dieser Perspektive erscheint Flauberts asketisches Künstlertum als „Kampf gegen sich selbst“ (11), als letzter Ausdruck einer obsoleten „Pariser Geistesmode“, die ihn in seiner klösterlichen Einsamkeit auf dem Lande „verspätet“ (12) erreicht und ihn schon zu Lebzeiten zu einem Unzeitgemäßen gemacht hat. Denn: „Dieser endgültige Eroberer des Realismus ist kein Liebhaber der Wirklichkeit; dieser Moderne haßt die Bürgerwelt; dieser Erfinder des unpersönlichen Romanstils hat Lyrik zu verbergen.“ (11) Doch er ist gezwungen, sich einem asketischen Ideal zu unterwerfen, das sich keinen „Gefühlen“ (12) hingeben darf und notwendigerweise auf Triebunterdrückung basieren muss. Dies ist erforderlich, um nicht von der Zeit beiseite geschoben zu werden, unwirksam zu bleiben und abzusterben. Die Zeit will ihn modern, wissenschaftlich und nüchtern. [...] So ergibt er sich der Unterwerfung dessen, was er war, dem Kampf gegen den Jüngling, der noch in ihm lebendig ist. [...] So nimmt Flauberts Pessimismus seinen Ursprung in entrüsteter Romantik.33 (12)

Als Künstler steht er also unter einem permanenten Anpassungsdruck an die jeweils herrschende literarische Mode. Der Kampf gegen sich selbst erweist sich als darwinistischer Kampf ums Dasein, der – der Anklang an die Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale aus Nietzsches Zur Genealogie der Moral ist hier unverkennbar –34 Rachegelüste an eben jener Welt entste32 Vergleichbar unternimmt Nordaus Entartung den Versuch, die Krankhaftigkeit der religiösen Ekstase durch den Vergleich mit religiösen Wollustgefühlen zu belegen: „Der Umstand, daß die einzige uns bekannte normale organische Empfindung, welche der der Ekstase ähnlich ist, die Wollust-Empfindung ist, erklärt es, daß die Ekstatiker durch Ideen=Assoziation Vorstellungen der Liebe mit ihren ekstatischen Vorstellungen verbinden und die Ekstase selbst als eine Art überirdischen Liebes=Akt, als eine Vereinigung unfaßbar hoher und reiner Art mit Gott oder der heiligen Jungfrau deuten.“ (Nordau: Entartung. Bd I, S. 117) 33 Wenn in diesem Kontext Flauberts Abstammung von einem starken Geschlecht eigens betont wird, dann deshalb, um die bei ihm festzustellenden Symptome der Degeneration den allgemeinen kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungen anzulasten. 34 So heißt es, nicht Stärke, sondern eine aus „Not“ und „Schwäche“ (Werner: Heinrich Mann, S. 13) hervorgegangene „Sucht, zu herrschen“ (Ebd., S. 14) sei der eigentliche Motor von Flauberts realistischer Kunst der ‚impersonalité‘, deren Selbstverleugnung streng genommen ein Racheakt sei, um „in seiner hohen Einsamkeit mehr als die sonst bekannten Genüsse feiern“, diese „durch Literatur [...] überbieten“ zu können (Ebd., S. 14) und „aus Schwäche vor ihm [dem Leben, B.T.] das reine Kunstwerk“ zu schaffen (Werner: Heinrich Mann, S. 32). Vgl. entsprechend die Aussagen aus Zur Genealogie der Moral: Nach Nietzsche „herrscht“ beim asketischen Priester „ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten In-

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hen lässt, die solche Entsagungen verlangt. Um diese These zu begründen, greift Heinrich Mann auf den aus dem Kloster-Topos vertrauten Gegensatz von Orient und Okzident zurück. So wird der asketische Künstler Flaubert verglichen mit den „Wüstenheiligen, die von Begierde brennen und doch ihr Fleisch und ihr Herz dem eifersüchtigen Gott von Tabor opfern: dem Gott der Kunst.“ (25) Und so ist seine groteske Einbildungskraft ein Ergebnis seiner „Orientreise“ (13), die mit dem tradierten Zeichenarsenal des Kloster-Topos ausbuchstabiert wird: Wie der Anachoret die Leere der Wüste mit seinen Imaginationen auffüllt und wie der einsame Mönch in seiner Klosterzelle sich im Geiste an sexuellen Ausschweifungen berauscht, die seinem Körper immer verwehrt bleiben werden, so ist Flaubert im Orient besessen von seinem Ekel an der Welt des Okzidents, denn seine „Feinde, die Bürger, halten ihn [...] belagert“ und verwehren ihm jenen „Genuß von Träumen“ (13), der aus der jugendlichen Stärke des wahren Romantikers schöpft. Flauberts asketisches Künstlertum wird ausgehend davon als ein „Rausch“ nach Leben dargestellt, der durch die Droge Literatur befriedigt wird, weil diese ihm, „stärker als das Leben, die Exaltation des Zeugens“ gibt (14). Wie schon Nietzsches asketischer Priester ist auch Heinrich Manns asketischer Künstler ein Drogenabhängiger, dessen Rausch „immer üppiger genährt werden“ will: Er braucht wildere Absonderlichkeiten, eine Welt der Ungeheuer und Gifte, einen Himmel, der wie ein Albdruck ist; eine Welt auch, wo die Worte rasseln und klirren dürfen wie Panzer und Foltern, trompeten wie Elephanten, hysterisch beben wie eine mit Wohlgerüchen durchseuchte Priesterin; wo sie in die Augen schreien, die Augen sengen, die Augen zu Göttern machen und martern dürfen gleich der unerbittlichen Schönheit des harten Südens. (14)

Zentral für diesen darwinistischen Daseinskampf, der Flauberts groteske Einbildungskraft hervorbringt, ist der Zwang des realistischen Literatursystems auf Flaubert, seine innersten Gefühle zu verleugnen: Und das, obwohl er gar nicht glaubt, „daß es in der Kunst ein Äußeres gibt“, sondern sich vielmehr fragt, ob nicht das, „was als das Äußere erscheint, [...] gerade das Innere [ist]“ (16). In der Konsequenz dieser Überlegungen werden Flaubert schließlich folgende Worte in den Mund gelegt: „Ich bin Mystiker: ich, der Handwerker der Form. In der Form erst glüht meine Phantasie und wird flüssig.“ (16 f.) Diese vermeintliche Selbstbeschreibung geht einher mit Flauberts Darstellung als Wütender gegen die Ideale seiner Zeitgenossen. stinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über etwas am Leben, sondern über das Leben selbst“ (Nietzsche: Sämtliche Werke, S. 363). Die asketische Weltverneinung basiert streng genommen auf einem „Selbstwiderspruch“: Das „Leben gegen Leben“ setzende asketische Ideal steht nicht im Dienste jenseitiger Werte, sondern gehört – da dem „Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens“ entspringend – „zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens“ (Ebd., S. 365 f.).

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Hierfür wird direkt aus dem vierten Kapitel des ersten Buchs der L’éducation sentimentale zitiert:35 Laßt mich in Ruhe mit Eurer abscheulichen Wirklichkeit! Was soll das heißen: Wirklichkeit? [...] Die Sorge um äußere Wahrheit ist bezeichnend für die niedrige Gesinnung dieser Zeit; und die Kunst wird, geht es so weiter, ich weiß nicht was für ein Plunder werden, weniger poetisch als die Religion und weniger interessant als die Politik. Ihr Ziel – jawohl, ihr Ziel! –, das darin besteht, eine unpersönliche Exaltation in uns zu bewirken, erreicht Ihr nie mit kleinen Werken, trotz aller feinsäuberlichen Ausführung. (19)

All diese Äußerungen werden wie innere Monologe Flauberts wiedergegeben, in denen er seine Werke Revue passieren lässt sowie deren Darstellungsstrategien und die hierfür leitenden Gefühle und Motivationen offen legt. Fast gewinnt man den Eindruck, der Essay folge den Regeln einer Redekur im Sinne Freuds, in deren Rahmen Verdrängtes zur Darstellung gelangt, die Rolle der Sexualität für das gegenwärtige Leben und Schreiben analysiert und eine vergessene Vergangenheit wieder an die Gegenwart herangeführt wird. Immer wieder werden anhand der zitierten Selbstreflexionen Flauberts Prozesse der Selbsterkenntnis vorgeführt, lange Zeit Unbewusstes wird der bewussten Erkenntnis vermittelt, Verkennungen des eigenen Ich werden aufgelöst und was früher als Stärke empfunden wurde, wird nun als „Schwäche“ (24) erkennbar. Was jedoch in der Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart ausschließlich auf den Autor Flaubert und auf die psychologisch erfassbare Tiefenstruktur seiner Autorschaft bezogen scheint, ist zugleich als literatur- und ästhetikgeschichtliche Abhandlung zu lesen. Folgt man der Argumentationsstrategie des Essays in dieser Perspektive, so erschließt sich das, was man als den Realismus Flauberts zu bezeichnen gewohnt ist, als verdrängter Impressionismus. Auf die damit einhergehende Strategie der Vereinnahmung von Flauberts Autorschaftskonzept für die eigene, impressionistisch und neoromantisch geprägte ästhetische Programmatik verweisen zahlreiche Textsignale: So wird Flauberts Schaffen aus dem Geist der Romantik, sein Weg nach innen bzw. seine Kunst als Entfaltung des Innersten hervorgehoben, jedoch nicht, um Flaubert epochengeschichtlich in der Romantik zu verorten, sondern vielmehr, um ihn als Wegbereiter einer neuen Romantik zu adeln. Deren Grundlage sind die auch für den Impressionismus gültigen modernen Wahrnehmungstheorien, etwa jene für die Konzeptionalisierung der Einbildungskraft um 1900 oder für die Theorien des Unbewussten konstitutiven sinnesphysiologischen Erklärungsmodelle zur Analyse von Nervenfunktionen. Wenn von Flaubert also gesagt wird, dass sein „Geist [...] in seinen Quell, die Sinne, zurück[taucht]“, dass „statt des Gedankens [...] die Sensation [steht]“ und das „Dunkelste selbst [...] durchtastbar [wird]“ (21), so ist das vor diesem Hintergrund zu sehen. 35 Vgl. dazu den Kommentar bei Werner: Heinrich Mann, S. 57 f.

Asketisches Künstlertum und klösterliche Einsamkeit

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Dies gilt ebenso für die Antwort des Essays auf die ‚Keuschheitsfrage‘. In dem Maße nämlich, wie die „geheime Empfindsamkeit“ Flauberts zunimmt, nimmt auch die Keuschheit gegenüber dem eigenen Werk zu, denn: „Seine ‚Unpersönlichkeit‘ war ihm persönlichstes Bedürfnis.“ (21) Besonders deutlich wird dieser Gegenwartsbezug an jenen Stellen, an denen der Flaubert des Essays mit einem Schriftsteller aus einem anderen Text Heinrich Manns in den Dialog zu treten scheint: Wenn Kunst und Leben als unvereinbar dargestellt werden, wenn vom „Haß der Frau auf das Buch“ die Rede ist, wenn das „wirkliche Leben“ in Gestalt einer Geliebten zur Kontrahentin der Kunst wird, und wenn schließlich „die Frauen“ als die „scharfsichtigsten Kritiker“ der schreibenden „Einsiedler und Asketen“, die sich „über ihre Unbeliebtheit bei den Menschen nicht wundern“ (25) dürfen, bezeichnet werden, dann ist die Nähe zu Heinrich Manns Künstlernovelle Pippo Spano offensichtlich: Diese nämlich zeigt einen nervösen und neurasthenisch-schwachen Künstler namens Malvolto, der unter den wachenden Augen einer lebensgroßen Abbildung des Renaissancemenschen Pippo Spano, dem Inbegriff an Stärke und Lebenskraft, vergeblich versucht, Kunst und Leben in Einklang zu bringen. Überdies erscheint auch hier das Verhältnis von Kunst und Leben als darwinistischer Daseinskampf, als Kampf gegen die Macht einer überreizten Einbildungskraft und schließlich auch als Kampf gegen das Leben, der im Lustmord der Geliebten endet.36 Die Austauschbeziehungen, die der Essay mit anderen kulturellen Texten seiner Zeit eingeht, lassen mithin Flauberts Künstlertum in einem neuen Licht erscheinen. Man könnte auch sagen: Flauberts Künstlertum im Zeichen des asketischen Ideals ist Produkt seiner verfeinerten Nerven,37 und seine ‚mystisch sinnlichen Gedanken‘ basieren auf der „Mystik der Nerven“ jener „nervöse[n] Romantik“, in der die Erforschung der Seele zur Aufgabe und die Naturerkenntnis zur Basis einer Kunst wird, die sich auf dem Weg nach innen begibt: Eine Kunst, die den neuen anthropologischen Prämissen um 1900 gerecht wird, indem sie den Zusammenhang von Körper und Seele auf dem Wege einer naturwissenschaftlich begründeten Ästhetik neu zu denken versucht38 und dadurch nach Hermann Bahr 36 Vgl. dazu Thums: Die Macht der Bilder, S. 45-60. 37 Vgl. dazu auch Werner: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 171: Werner zufolge erklärt Heinrich Mann „das Heraufkommen des Artisten im Denkmodell des Dekadenzschemas“ und vertritt die Theorie, „dass Schwächung der Lebenskraft einhergehe mit Verfeinerung, Vergeistigung, Schöpferisch-Werden“. 38 So beteiligt sich auch Heinrich Mann an hirnphysiologischen Spekulationen, wie seiner in wissenschaftlicher Terminologie gehaltenen Erläuterung in seinem Aufsatz Von allermodernster Kunst zu entnehmen ist: Die Dekadenten, heißt es dort, erleben „Dämmerzustände, in denen alles Mögliche zur Perzeption, aber nichts zur Apperzeption kommt, Zustände zwischen Wachen und Schlafen, in denen ihre matten Gehirne sich wohler fühlen, als bei der scharfen Klarheit des vollen Wachens“ (Mann: Von allermodernster Kunst, S. 528-529).

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erst die Tendenz der Romantik sowie die Tendenz des Naturalismus zugunsten einer „Entbindung der Moderne“ verwirklicht.39 Wenn mithin Bahr den Naturalismus produktiv nach vorne denkt, so setzt der Essay an diese Stelle den Realismus Flauberts. In der Konsequenz dieser Argumentationsstrategie liegt es auch, Flaubert als Neurastheniker und typischen Vertreter der Décadence zu entdecken.40 Die neurasthenische Symptomatik – etwa Flauberts ‚hysterische Reizbarkeit‘, sein ‚Mysticismus‘ oder der ‚heilige Wahnsinn‘ seiner sexualisierten Einbildungskraft – wird dabei nicht wie bei Nordau als Zeichen der Entartung pathologisiert, sondern im Gegenteil als Begründung für die spezifisch künstlerische Kreativität des asketischen Künstlertums dargestellt.41 Das in der zeitgenössischen Naturwissenschaft hirnphysiologisch begründete Krankheitsbild der Hysterie sowie die ebenfalls hirnphysiologisch begründeten Abweichungen einer ‚normalen‘ Aufmerksamkeit und Fähigkeit zur Ideenassoziation werden im Rahmen der Ästhetik positiv gedeutet. Außerdem ermöglicht es diese Aufwertung der Hysterie wie der ungeregelten Ideenassoziation, Ästhetik und Naturwissenschaft produktiv aufeinander zu beziehen, sie also gerade nicht, wie in zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Theorien der Entartung und Degenereszenz gängig, gegeneinander auszuspielen. Der Rekurs auf die Heterotopie Kloster, dessen Topoi im zeitgenössischen Hygiene-Diskurs pathologisiert werden, hat in ästhetischen Konzepten eine andere Funktion. Mit der gängigen Formel von der Sakralisierung der Kunst ist diese nicht ausreichend erfasst. Denn die These der Ästhetisierung ursprünglich religiöser Denkfiguren im Zuge einer Aufwertung der produktiven Einbildungskraft, die auch den Rekurs auf die Heterotopie Kloster steuert, lässt sich ebenso für den klassizistisch-romantischen Epochenzusammenhang um 1800 begründen. Neu hingegen und entscheidend für die veränderte Wissenskonstellation um 1900 ist die Konkurrenz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz wird auch jenes den Imaginationsraum Kloster kennzeichnende Wechselverhältnis von Aus- und Einschlussprozessen neu kontextualisiert bzw. auf der Basis neuer und anderer Wissensformen semantisiert. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass solche Wechselverhältnisse generell Kultur formieren und sie sich deshalb nur durch die diskursive Erschließung des jeweils verfügbaren kulturellen Wissens 39 Bahr: Überwindung des Naturalismus, S. 199-205, S. 202. 40 Dazu gehört auch Flauberts klösterliche Einsamkeit, denn die „krankhafte[] Furcht“ des Nervenschwachen bedingt, so der ‚Erfinder‘ der Krankheit Neurasthenie Beard, „Anthropophobie“, also „Abneigung gegen Gesellschaft [...] in grösserer Menge“ (vgl. Beard: Nervenschwäche, S. 35, S. 33 FN und S. 37). 41 In diesem Zusammenhang zitiert Mann zustimmend Flauberts Analyse der eigenen hysterischen Traumgebilde, wie Flaubert sie bei seinen weiblichen Figuren gestaltet.

Asketisches Künstlertum und klösterliche Einsamkeit

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angemessen beschreiben lassen. Die Formel von der „Sakralisierung der Kunst“42 gilt es also zu präzisieren – dies hat die Analyse der klösterlichen Einsamkeit in Heinrich Manns Flaubert-Essay ergeben: Sie ist nicht nur leitend für die Selbstbegründung von Autorschaftsmodellen um 1900, die sich auf ein anti-bürgerliches Konzept des asketischen Künstlertums beziehen, sondern sie ist überdies verankert in einer zeitbedingten Semantisierung der Heterotopie Kloster. Sie nutzt dessen Topoi für die Ausformulierung einer wahrnehmungsphysiologisch begründeten Ästhetik, die sich als Kritik an jenem Materialismus der Naturwissenschaften verstanden wissen will, der die sinnlich fundierte, produktive Einbildungskraft unter permanentem Pathologieverdacht stellt.

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Nicola Gess

„Magisches Denken“ im Kinderspiel Literatur und Entwicklungspsychologie im frühen 20. Jahrhundert Ob Literatur, Malerei, Musik oder Theater: Die Künste des frühen 20. Jahrhunderts sind fasziniert von Kindheit und Kinderspiel. Diese Faszination bezieht sich zu großen Teilen auf ein spezifisch kindliches Denken, das die Entwicklungspsychologie der Zeit in Anlehnung an die Ethnologie zu beschreiben sucht: das so genannte ,magische Denken‘. Seiner Konstruktion in den neuen Humanwissenschaften und seiner Bedeutung für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts soll im Folgenden nachgegangen werden, um schließlich vor diesem Hintergrund zu einigen vorläufigen Überlegungen zu Benjamins Berliner Kindheit zu kommen. Die Formierung der Ethnologie im 19. Jahrhundert geht einher mit dem Versuch, das Denken der ,Primitiven‘ wissenschaftlich zu erfassen. In der grundlegenden Studie Primitive Culture von Tylor wird der Animismus zum wesentlichen Prinzip dieses Denkens erklärt. Darauf aufbauend beschreibt Frazer in The Golden Bough die „sympathetic magic“ als Kennzeichen des Denkens der Primitiven. Sie basiere auf zwei falschen Anwendungen des Prinzips der Ideenassoziation, nämlich im „law of similarity“ und im „law of contact“: Was sich ähnlich ist oder was sich einmal berührt hat, steht in Beziehung zueinander, ist möglicherweise sogar identisch oder übt mindestens einen starken Einfluss aufeinander aus. Sowohl Tylors als auch Frazers Konzepte werden von Lévy-Bruhl kritisiert, weil sie den kollektiven Charakter der Vorstellungen der Primitiven verkennen und sich anachronistisch an der geistigen Verfassung des modernen Menschen orientieren würden. Zur  



Eine andere, spätere Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel Walter Benjamin und die ,Primitiven‘. Reflexionen im Umkreis der ‚Berliner Kindheit‘ in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 31/32: Walter Benjamin, München 2009, S. 31-44. Dieses Denken wird von Zeitgenossen auch mit anderen Begriffen bezeichnet, z.B. mystisch, mythisch, prälogisch. Für den folgenden Zusammenhang greife ich den Begriff des ,magischen Denkens‘ heraus, weil dieser Begriff – durch seine Verwendung bei Piaget – in der Entwicklungspsychologie bis heute gebräuchlich ist und der literarischen wie umgangssprachlichen Vorliebe, die Welt des Kindes mit einer Atmosphäre des ,Zaubers‘ und der ,Magie‘ in Verbindung zu bringen, am ehesten gerecht wird. Ich verwende den Begriff des ,Primitiven‘ als Zitat aus den zeitgenössischen Texten, werde ihn aber im Folgenden der Einfachheit halber nicht mehr in Anführungszeichen setzen.

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Beschreibung der Kollektivvorstellungen der Primitiven, die Lévy-Bruhl vom Glauben an übernatürliche Kräfte bestimmt sieht, spricht er in Ermangelung besserer Termini vom „Mystischen“ – kurzzeitig zieht er hierfür auch den Begriff des „Magischen“ in Betracht – und vom „Prälogischen“. Die Kollektivvorstellungen gehorchten einem „Gesetz der Partizipation“, nach dem heterogenste Dinge aneinander teilhaben können, da in ihnen bestimmte mystische Kräfte wirksam seien. Ausdrücklich gehe es dabei nicht um Assoziation, weil die „mystischen Eigenschaften der Gegenstände und Wesen [...] einen integrierenden Bestandteil der Vorstellungen aus[machen], [...] welche in diesem Moment ein unzerlegbares Ganze“ seien. Tylor hatte in seiner Studie den Begriff des „survivals“ geprägt. Damit bezeichnet er primitive Denk- und Verhaltensweisen, die in spätere Stadien der kulturellen Entwicklung übernommen werden. Zahlreiche Beispiele dafür findet er im Verhalten von Kindern, insbesondere im Kinderspiel. Hier würden Tätigkeiten, die der erwachsene Primitive im alltäglichen Leben ausführt, auf spielerischer Ebene wiederholt. Tylor geht sogar so weit, dem Ethnologen als Methode die Kindheitserinnerung zu empfehlen: unsere Auffassung der niedrigeren Culturstufen hängt sehr von dem Grade ab, wie wir diese primitive, kindliche Anschauungsweise zu würdigen vermögen, und darin kann die Erinnerung aus unseren eigenen Kindertagen unsere beste Führerin sein. Wer sich noch der Zeit entsinnt, wo für ihn Pfähle und Stöcke, Stühle und Spielzeug eine reale Persönlichkeit besassen, wird begreifen, wie die Kindesphilosophie der Menschheit den Begriff des Lebens auch auf das hat ausdehnen können, was die moderne Wissenschaft nur als leblose Gegenstände kennt.

Als weiteres bedeutendes Reservat des Primitiven in der Gegenwart macht Tylor die Sprache aus. Dies gilt nicht nur für Redewendungen, deren ursprüngliche Bedeutung heute vergessen ist, sondern für die Sprache überhaupt: „[in der grossen Kunst der Sprache] [befolgt] der gebildete Mensch [...] wesentlich die selbe Methode [...] wie der Wilde, nur in der Behandlung der Einzelheiten erweitert und verbessert“, nämlich die „Aeusserung der Vorstellungen durch articulierte Laute, welche gewöhnlich mit diesen in Verbindung stehen“, z.B. „von dem Charakter eines Ausrufs oder einer Nachahmung“. Als bestes Beispiel für den Einsatz solcher Klänge gilt Tylor wiederum die Kindersprache, die er jedem Sprachursprungsforscher als Untersuchungsobjekt empfiehlt: so muss man den Geist, in dem wir Räthsel rathen und Kinderspiele spielen, verstehen, um die niedrigeren Phasen der Sprache begreifen zu können. Dies steht mit der Ansicht in Einklang, dass eine solche rudimentäre Sprache ihren Ursprung bei Menschen hatte, welche sich noch in einem kindlichen Geisteszustande befanden.

  

Lévy-Bruhl: Denken der Naturvölker, S. 26, S. 29, S. 30. Tylor: Anfänge, Bd. 1, S. 471. Ebd., S. 160, sowie S. 235.

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Tylors Ansicht, dass Primitives bis in die Gegenwart überlebt habe, teilen nicht nur spätere Ethnologen (z.B. Frazer, Lévy-Bruhl), Mediziner (z.B. Kretschmer) und Psychoanalytiker (z.B. Freud, Jung), sondern auch viele Pädagogen und Entwicklungspsychologen der Zeit. Für sie ist vor allem die Annahme einer Entsprechung von Phylo- und Ontogenese, wie sie auch Haeckels biogenetisches Grundgesetz propagierte, von Interesse. Sie kennzeichnet die noch junge Wissenschaft der Kinderpsychologie von Anfang an. Sully schreibt in der Einleitung zu den Studies of Childhood: Der [...] Entwicklungsgesichtspunkt setzt den Psychologen in den Stand, die Entfaltung des kindlichen Geistes mit [...] der Geistesgeschichte der Rasse [zu verknüpfen]. [...] Unter dieser Voraussetzung gewinnen die ersten Jahre des Kindes mit ihrem unvollkommenen sprachlichen Ausdruck, ihren grotesk-pantastischen Ideen, ihren Wut- und Schreckanfällen, ihrem Aufgehen im gegenwärtigen Augenblick ein neues und kulturhistorisches Interesse.

Gleiches gilt für den Tier-, Kinderpsychologen und Spieltheoretiker Groos, der in der Einleitung zu seiner Vorlesungssammlung Das Seelenleben des Kindes vermerkt: „Wir können [...] die Hoffnung hegen, durch unser Studium mancherlei verbindende Fäden zwischen dem Wachstum der einzelnen Seele und den ersten Anfängen der menschlichen Gattung [Herv. im Original, NG] aufzudecken“. Auch Piaget stößt in La représentation du monde chez l‘enfant „bei jedem Schritt auf Analogien zwischen dem Kind und dem Primitiven“.10 Um die Eigenart des kindlichen Denkens zu erläutern, verwendet er Lévy-Bruhls Begriff der Partizipiation, d.h. in Piagets Definition der Beziehung, die das ursprüngliche Denken zwischen zwei Wesen oder zwei Phänomenen zu sehen glaubt, welche es als teilweise identisch betrachtet oder die nach seiner Meinung einen starken Einfluß aufeinander ausüben, obwohl zwischen ihnen weder ein räumlicher Kontakt noch eine einsichtige kausale Konnexion besteht.11

Aus der Partizipation erwachsen die drei Charakteristika des kindlichen Denkens: Realismus, d.h. die mangelnde Unterscheidung zwischen der äußeren und der inneren Welt, Animismus, d.h. „die Tendenz, die Körper als lebendig und mit Absichten ausgestattet zu betrachten“ und Artifizialismus, d.h. die Annahme, dass alle Dinge gemacht worden sind, um bestimmte Funktionen für den Menschen zu erfüllen. Piaget definiert in diesen Zu

Als Kinderpsychologie bezeichnet Groos diese Wissenschaft, deren junges Alter und deren Beliebtheit er betont (Groos: Seelenleben, S. 1). Derartige Hinweise finden sich in vielen Vorworten der entwicklungspsychologischen Studien der Zeit.  Sully: Untersuchungen über die Kindheit, S. 8.  Groos: Seelenleben, S. 10. Zwar mahnt er diesbezüglich zur Vorsicht und vor zu hohen Erwartungen, stellt aber in seinen Vorlesungen dann wiederholt diesen Konnex her. 10 Piaget: Weltbild des Kindes, S. 90. 11 Ebd., S. 125.

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sammenhängen Magie als den „Gebrauch, den das Individuum von den Partizipationsbeziehungen machen zu können glaubt, um die Wirklichkeit zu verändern“.12 Andererseits bietet sich ihm der Begriff des ,magischen Denkens‘ auch als Oberbegriff für die Summe aller Denkvorgänge an, die aus dem Prinzip der Partizipation resultieren,13 und in diesem Sinne ist er auch von späterer Forschung gebraucht worden. Schon Piagets Vorgänger machen einen häufigen, in der Regel unreflektierten Gebrauch von den Begriffen der ,Magie‘ und des ,Zaubers‘. So schreibt Sully in der Einleitung der Kindheit einen ,Zauber‘ zu, der in späteren Kapiteln auf die kindliche Phantasie bezogen wird („magische Kraft der kindlichen Phantasie“).14 Diese Verbindung von Magie und Phantasie bei Sully weist auf einen entscheidenden Unterschied zu Piaget hin, so ähnlich sich beide in ihren Beobachtungen auch sind. Sully orientiert sich noch an Konzepten der englischen Assoziationspsychologie. Entsprechend liegt bei ihm dem ,magischen Denken‘ des Kindes die Einbildungskraft zu Grunde – „In der Geschichte des Individuums wie auch der Rasse entsteht das Denken [...] aus dem freien Spiel der Phantasie“ – und deren Prinzip der Assoziation. Dieses funktioniere im Sinne einer „Lauer nach Ähnlichem“ und schlage sich unter anderem in einer von Metaphern gesättigten Sprache nieder.15 Sullys Ansicht teilen auch andere Entwicklungspsychologen der Zeit. Stern leitet das ,magische Denken‘ des Kindes ebenfalls aus seiner Phantasietätigkeit ab. Dass das Kind andere Personen zu sein vermöge, dass es aus irgendwelchen Objekten die gerade erwünschten Gegenstände „zaubern“ könne, liege an seiner regen Phantasietätigkeit und an seinem Illusionismus: „Das Kind geht auf in einer Phantasievorstellung; während dessen ist ihm ihr Inhalt Wirklichkeit“. Diese Phantasievorstellungen gehorchen bei Stern ebenfalls dem Assoziationsprinzip.16 Wir haben es also mit zwei verschiedenen Erklärungsansätzen zum ,magischen Denken‘ des Kindes zu tun. Sie unterscheiden sich, wie Lévy-Bruhl in seiner Kritik der englischen Ethnologen ausführt, darin, dass der frühere, der sich auf die Assoziationstätigkeit der Phantasie bezieht, von einem gewissermaßen erwachsenen Standpunkt ausgeht, in dem die Wesen und Dinge schon voneinander geschieden sind. Denn die Scheidung ist die Voraussetzung ihrer 12 Ebd., S. 125, sowie S. 157. 13 „Die Magie ist folglich das vorsymbolische Stadium des Denkens“ (ebd., S. 150). 14 Sully: Untersuchungen über die Kindheit, S. 1, S. 2, S. 303. Er nennt dort auch das „Spiel der Phantasie“ eine „zauberische Umwandlung der Dinge durch die ungehinderte Lebhaftigkeit und die ungebundene Thätigkeit der kindlichen Einbildungskraft“ (ebd., S. 32, s.a. S. 51, 53). 15 Ebd., S. 65, s.a. S. 26, sowie S. 66, s.a. S. 30, sowie S. 27. 16 Stern: Psychologie, S. 191, S. 188, S. 197. Mit Verweis auf Stern betont auch Charlotte Bühler in ihrer Untersuchung der Grimm’schen Volksmärchen die hervorragende Rolle der Analogiebildung in der „denkenden Phantasie“ des Kindes, dem „die Märchenwelt in eben dem Masse natürlich [...] als sie dem Erwachsenen unwirklich“ ist (Bühler: Märchen, S. 11).

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Assoziierung. Der spätere versucht hingegen, dem noch-nicht-Erfolgtsein der Scheidung mit dem Begriff der Partizipation gerecht zu werden. Damit will er sich der kindlichen Perspektive, in der die Wesen und Dinge noch aneinander teilhaben, so weit wie möglich annähern. Unabhängig davon sind sich die Entwicklungspsychologen aber einig, dass sich das ,magische Denken‘ des Kindes vor allem im Spiel offenbare. Piaget schreibt zum Beispiel, dass das Spiel „von Partizipation ganz durchdrungen“ sei. Allerdings schließt er es trotzdem aus seinen Untersuchungen aus, weil ihm die „Ebene der Überzeugung“ fehle, d.h. das Kind sein spielerisches Denken und Handeln nicht für wirklich halte.17 Statt am Spiel weist Piaget das ,magische Denken‘ daher am nicht-spielerischen Verhalten des Kindes nach. Die zeitgenössische Spieltheorie gibt jedoch zu bedenken, dass es im Leben des Kindes keine Sphäre jenseits des Spiels gebe. Groos beschreibt in Die Spiele der Menschen das Leben des Kindes als „so gut wie ausschliesslich von dem Spiel beherrscht [...]. Das Spiel tritt uns hier als eine einheitliche, alles durchdringende Lebensmacht entgegen, ja als der eigentliche Lebenszweck des Kindes“. Vor dem Hintergrund dieser Totalität des Spiels liegt die Vermutung nahe, dass auch das ,magische Denken‘ des Kindes sich erst im und mit dem Spiel entwickelt. Das heißt mit Groos allerdings nicht, dass es nur „gespielt“ sei. Zwar unterscheidet er eine Illusion, die als „volle Verwechselung mit der Wirklichkeit“, und eine Illusion, die als „bewusste Selbsttäuschung“ erscheint, und weist nur letztere dem Spiel zu.18 Allerdings konstatiert er diverse „Übergangsstadien“ zwischen beiden Formen der Illusion. In einem solchen Übergangsstadium befindet sich in seinen Ausführungen auch das Spiel des Kindes. So schreibt er, dass die Illusion „beim spielenden Kinde [...] so mächtig werden [kann], dass sie sich der völligen Verwechselung mit der Realität nähert“, oder dass „selbst bei halberwachsenen Kindern [...] die Macht der Illusion viel grösser [ist] als beim Erwachsenen“. Anstelle der Annahme eines Oszillierens zwischen Schein und Realität geht er beim Kind von einem der Hypnose ähnlichen Zustand aus, in dem das Bewusstsein der Nicht-Wirklichkeit nur im Sinne eines „dunklere[n] Gefühl[s] des freien, selbstthätigen Eingehens in die Illusion“ vorhanden sei.19 In seinen späteren Vorlesungen ergänzt er diese These um die Positionierung des Illusionismus des Kindes in der Mitte „zwischen der mythologischen Auffassung des Primitiven und der ästhetischen Personifikation des erwachsenen Kulturmenschen“.20 Andere Entwicklungspsychologen der Zeit sind dagegen der Ansicht, dass das Spiel immer eine vollständige Illusion bedeute. 17 18 19 20

Piaget: Weltbild des Kindes, S. 126. Groos: Spiele, S. 478, S. 164. Ebd. S. 164, S. 166, S. 502. Groos: Seelenleben, S. 176.

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Bei Sully etwa kann sich die ,zauberische‘ Phantasietätigkeit des Kindes besonders gut im Spiel entfalten: [Es gibt] ein Gebiet des Kinderlebens, wo sie [die Umwandlung der wirklichen Umgebung durch die Phantasie, NG] kein Hindernis kennt, wo der Impuls, die armselige Wirklichkeit mit Schönem und Heiterem auszuschmücken, ganz und gar seine eigenen Wege geht. Dieses Gebiet ist das Spiel.21

Diese Losgelöstheit des Spiels ermögliche es dem kindlichen Bewusstsein, beinahe vollständig der Täuschung durch die Phantasievorstellungen zu erliegen.22 Auch Stern ist davon überzeugt, dass das spielende Kind „in einer Phantasievorstellung [aufgeht]; während dessen ist ihm ihr Inhalt Wirklichkeit, nicht weniger als ihm zu anderen Zeiten vielleicht sein Essen [...] objektiv ist. [...] [man erkennt], daß hier die Illusion der Wirklichkeit noch völlig oder doch annähernd vorhanden ist“.23 Wenn also die einen (z.B. Piaget, Karl Bühler) glauben, dass das Kind die Täuschung des Spiels durchschaue, die anderen aber gerade gegenteiliger Meinung sind, läuft das mit Groos auf die Vermutung eines Zwischenstadiums hinaus: Das Spiel des Kindes ist einerseits immer schon so ernst, wie Piaget es vom ,magischen Denken‘ behauptet, und im ,magischen Denken‘ ist andererseits immer schon der Kern zur Entzauberung angelegt, den der Scheincharakter des Spiels mit sich bringt. Oder anders gesagt: das Kinderspiel bewirkt beides: den Glauben und den Unglauben an die Wirklichkeit, die das ,magische Denken‘ erschafft. Das hat Rilke in einer fragmentarischen Elegie treffend zum Ausdruck gebracht, in der sich das Subjekt des Kindes im Spiel mit der animierten Puppe ausbildet, bis es diese schließlich als lebloses Objekt erkennt.24 Über das Spiel, das das Leben des Kindes mehr als das des Erwachsenen auszeichnet, wird das Kind in den Diskursen der Zeit mit dem Künstler in Verbindung gebracht.25 Dabei wird auf die alte These – vor allem Schiller wird als Gewährsmann angeführt – zurückgegriffen, dass Kunst und Spiel miteinander verwandt seien. Auch Groos setzt Spiel und Kunst analog, insofern es sich beim „ästhetischen Verhalten“ nur um eine „Teiler21 Sully: Untersuchungen über die Kindheit, S. 32. 22 Charlotte Bühler gründet ihre Untersuchung zur Phantasie des Kindes auf der Annahme, dass dem Kind „Wirklichkeit und Wunder [...] noch nicht durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt (sind). Dem Kinde mag die Märchenwelt in eben dem Masse natürlich sein als sie dem Erwachsenen unwirklich ist.“ (Bühler: Märchen, S. 11) Daher erhofft sie sich Aufschlüsse über die Phantasie und das Denken des Kindes durch eine Untersuchung der Grimm’schen Volksmärchen. 23 Stern: Psychologie, S. 188. Stern geht allerdings davon aus, dass der ,Illusionismus‘ des Kindes mit dem Alter abnehme und individuell verschieden stark ausgeprägt sei (ebd., S. 191). 24 Rilke: „Lass dir, daß Kindheit war“, S. 459-460. 25 Vgl. zu Groos im Kontext anderer Spieltheoretiker der Zeit sowie zum Bezug auf Literatur: Anz: Literatur und Lust, S. 33-76.

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scheinung aus [...] dem Gebiete der Illusionsspiele“ handele.26 Und Freud fragt in Der Dichter und das Phantasieren: „Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde suchen? [...] Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seine Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.“27 Im pädagogischen Schrifttum der Zeit wird vor diesem Hintergrund dem Kind eine besondere Fähigkeit zur Kunstrezeption und -produktion zugeschrieben. Ein ganzer Zweig der Reformpädagogik, die so genannte ,Kunsterziehungsbewegung‘, gründet auf dieser Überzeugung.28 Stellvertretend für diese Richtung mag Hartlaubs Buch Der Genius im Kinde stehen, in dem er dessen „ahnungslose Überlegenheit gegenüber [...] einer mit allem Können ausgerüsteten Durchschnittskunst“ feiert. Gleichzeitig wird auch der Umkehrschluss vollzogen, nämlich der Künstler als erwachsenes Kind beschrieben. Entsprechend schreibt Hartlaub: „jene allgemeine einbildungskräftige Möglichkeit des Kindes [...] erhält sich nur der Dichter und Künstler [...]. Der ,Künstler‘ allein weiß mehr oder weniger von jenem ganzen ungeheueren inneren Leben der Kindheit [...] zu retten“.29 Zeitgenössische Dichter greifen diese These gern auf. So vergleicht Rilke die Kunst mit der vergessenen Kindheit, die sich u.a. durch eine unvoreingenommene Liebe zu den Dingen auszeichne, Robert Walser fragt in den Mikrogrammen: „Sind nicht [...] Dichter etwas wie Menschen, die kindlichen Sinnes geblieben“, und Altenberg vergleicht die Tätigkeit des modernen Dichters, der in seinem Publikum die „Liebe“ zu den „Dingen“ wecken will, mit der des Kindes, das im Alltäglichen lauter „Wunder“ entdeckt.30 Den Primitiven, das Kind und den Künstler eint also nach Überzeugung der Ethnologen, Entwicklungspsychologen und Pädagogen um 1900 das ,magische Denken‘, d.h. – bei Sully und anderen – ein Denken im Bann der Einbildungskraft und ihrer Verfahren oder, in Piagets Lévy-Bruhlschen Termini gefasst, nach dem Gesetz der Partizipation, insbesondere in der Ausprägung des Realismus und Animismus. Den Dichter aber verbindet mit dem Primitiven und dem Kind außerdem der metaphorische Gebrauch der Sprache. Bereits Tylor stellt als charakteristisch für die Sprache der Primitiven das Wörtlichnehmen von Sprachbildern bzw. die Absenz eines 26 Groos: Seelenleben, S. 172. Im früheren Buch Die Spiele der Menschen schränkt er diese Verwandtschaft allerdings dahingehend ein, dass sie vor allem für den „künstlerischen Genuss“ und weniger für die „künstlerische Produktion“ bestehe (Groos: Spiele, S. 504). 27 Freud: Dichter, S. 171. 28 Suchte sie in ihrer ersten Phase vor allem das Rezeptionstalent des Kindes zu schulen, wandte sie sich in ihrer zweiten Phase der Förderung des kindlichen Kunstschaffens zu. Eindrucksvoll dokumentiert dies z.B. der Band Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen der Kunsterziehungstage in Dresden, Weimar und Hamburg. 29 Hartlaub: Genius, S. 69, S. 30. 30 Rilke: Über Kunst, S. 429; Altenberg: Was mir der Tag zuträgt, S. 306-307, und ders.: Märchen des Lebens, S. 240.

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„Gleichnisbewusstseins“ (Werner) fest, woraus nicht nur die ausgeprägte Bildlichkeit ihrer Sprache, sondern auch ihre Mythen resultierten.31 Auch für Lévy-Bruhl schlägt sich das partizipative Denken in der Sprache nieder, die von Konkretion und Bildlichkeit, d.h. von einem Zeichnen mit Worten geprägt sei und mystischen Charakter habe, insofern die Worte an den Wesen und Gegenständen partizipierten.32 Ähnliches gilt für die Entwicklungspsychologen. Sully formuliert in seiner Untersuchung unter Hinweis auf die Verwandtschaft mit den Primitiven, dass die Kindersprache dem Prinzip der Übertragung gehorche, durch das „Erfassen einer Ähnlichkeit oder die Assimilation“, sowie durch die „Assoziation“ geprägt sei. Er macht auch die Beobachtung, dass der Name eines Dings für das Kind zum „Objekt“ gehöre und „an seinem Leben teil zu nehmen“ scheine.33 Sie wird wichtig für Piaget, bei dem der „Realismus“ des Kindes u.a. darin resultiert, dass Kinder nicht zwischen Zeichen und Ding unterscheiden könnten. Sie hielten die Namen, so Piaget, zunächst für eine Eigenschaft der Dinge und später für eine Erfindung des Schöpfers der Dinge. Daher impliziere für sie die Kenntnis des Namens die Erkenntnis des Dings, sowie die Möglichkeit, Macht über es auszuüben. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass sich auch Sprachtheoretiker auf der Suche nach Wesen und Ursprung der Metapher um 1900 für das Kind und den Primitiven zu interessieren beginnen.34 Werner, den beispielsweise Benjamin rezipiert, argumentiert in Die Ursprünge der Metapher, dass diese sich aus dem Tabu und den reichen „Analogiebildungen“ der Primitiven entwickelt habe, indem der „Glaube an die Wirklichkeit“ der Analogien im Laufe der Entwicklung der Menschheit ab- und das „Gleich31 Da letztere wiederum den Stoff gegenwärtiger Dichtung bildeten, empfiehlt er dem Literaturwissenschaftler ethnographische Studien: „In so far as myth is the subject of poetry, and in so far as it is couched in language whose characteristic is that wild and rambling metaphor which represents the habitual expression of savage thought, the mental condition of the lower races is the key to poetry” (Tylor: Primitive Culture, II, S. 404), ergänzbar oder möglicherweise sogar ersetzbar durch den entsprechenden „key“ der Kindheitserinnerung: „no one is likely to enter into the real nature of mythology who has not the keenest appreciation of nursery tales“ (ebd., I, S. 215). 32 Der linguistisch interessierte Malinowski entwirft aufgrund ähnlicher Beobachtungen gewissermaßen das semiotische Gegenstück zu Lévy-Bruhls Prinzip der Partizipation. In The Problem of Meaning in Primitive Languages (S. 324) entwickelt er ein entsprechendes Modell der magischen Haltung zur Sprache, das eine unmittelbare Verbindung von Symbol und Referent annimmt (vgl. Stockhammer: Zaubertexte, S. 26). Das Entstehen einer solchen Haltung zur Sprache verortet auch Malinowski in der Kindheit. 33 Sully: Untersuchungen über die Kindheit, S. 154, S. 150, S. 152, S. 177. Dadurch gerate sie auf „poetische[s] Gebiet“, trage eine „metaphorische Seite zur Schau“ (ebd., S. 151). 34 Vgl. zum Bezug von ethnologischen und Metaphertheorien um 1900 die Untersuchungen von Riedel: Archäologie des Geistes; ders.: Arara=Bororo; ders.: Endogene Bilder. Riedel weist auch auf die Vorläufer dieser Theorien u.a. bei Vico, Hamann, Herder, Nietzsche, Vischer hin. Zu ergänzen wäre für die Zeitgenossen noch Cassirer.

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nisbewusstsein“ zugenommen habe.35 Darauf aufbauend leitet er in Die Ursprünge der Lyrik die Lyrik aus der „magischen Geisteshaltung“ der Primitiven ab: „eine Denkform, die von der Sphäre des Anschaulichen durchweg nicht abgelöst ist, obwohl sie das anschauungsgemäße Denken überwunden zu haben scheint“.36 Auch Biese erklärt in Die Philosophie des Metaphorischen die Tropen als notwendige Weisen [...], in welchen sich alle poetischen Urvölker deutlich zu machen suchten [...]. Aber nachdem damit, daß der menschliche Geist sich weiter entfaltete, diejenigen Ausdrücke gefunden wurden, welche abstrakte Formen oder Gattungsbegriffe bezeichnen, sind dergleichen Redeweisen der ersten Völker zu Übertragungen geworden.37

Das erste Kapitel seines Buches widmet er dann der „kindlichen Phantasie“, um die Rolle des Metaphorischen als „primärer Anschauungsform“ und der Metapher als deren sprachlichen Ausdrucks zu demonstrieren: Immer [...] webt ihr Wundergespinst die Zauberin Analogie und bricht hervor durch den Mund des Kindes in metaphernreicher Sprache. Für das Kind besteht nicht die Kluft zwischen dem Lebenden und Leblosen; leiht es also diesem Empfinden und Thätigkeit, so wird das Wort dafür dem erwachsenen Menschen metaphorisch erscheinen, während es für das Kind nur die eigenste und wahrste Wirklichkeit bedeutet.38

Auch Hofmannsthal, der Bieses Buch rezensierte, leitet die Herkunft des Metaphorischen im Gespräch über Gedichte aus dem Primitiven, und zwar aus der ,Magie‘ des Tieropfers ab: [A]lles ruhte darauf, daß auch er [der Opfernde, NG] in dem Tier gestorben war, einen Augenblick lang. Daß sich sein Dasein [...] in dem fremden Dasein aufgelöst hatte. – Das ist die Wurzel aller Poesie [...] Diese Magie ist uns so furchtbar nahe: nur darum ist es so schwer, sie zu erkennen.39

Das Wissen um diese Magie der Partizipation bzw. darum, „daß wir und die Welt nichts Verschiedenes sind“, schreibt Hofmannsthal nicht nur dem Dichter, sondern auch dem Kind zu, weshalb bei ihm beide über ein besonders inniges Verständnis des Symbols verfügen.40 Um 1900 verbindet sich also mit Kind und Kinderspiel die Vorstellung einer Fortdauer des Denkens des Primitiven, d.h. ein ,magisches Denken‘, das sich durch Realismus, Animismus und Artifizialismus auszeichnet und dessen Sprache im Bann der Übertragung steht, d.h. von Metaphern gesättigt ist, deren Gleichnischarakter dem Sprechenden nicht bewusst ist: Wie 35 36 37 38 39 40

Werner: Ursprünge der Metapher, S. 28, S. 34. Werner: Ursprünge der Lyrik, S. 4 f. Biese: Philosophie des Metaphorischen, S. 10. Ebd., S. 18. Hofmannsthal: Gespräch über Gedichte, S. 503. Ebd., S. 503.

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die Namen für ihn Teil der Dinge sind, verraten ihm auch die Sprachbilder etwas Wesentliches über die Dinge. Zugleich wird diese Vorstellung des Kindes in Zusammenhang gebracht mit der des Künstlers, insbesondere des Dichters, dessen Denken dem des primitiven Kindes, des kindlichen Primitiven verwandt sein soll. Die zeitgenössischen Künstler greifen diese Anregung auf, ermöglicht sie ihnen doch eine diskursive Einordnung und Rechtfertigung ihrer Kunst. Vor dem Hintergrund der neuen Humanwissenschaften erfahren nun alte Fragen, wie die nach dem Wesen und Zweck von Kunst, neue Antworten. Die Kunst, so scheinen diese Werke zu propagieren, ist mit dem Primitiven/Kindlichen verwandt und ermöglicht daher, je nachdem von welcher (politischen) Warte aus, dessen Fortexistenz in der modernen/erwachsenen Welt, dessen Wiederbelebung oder dessen kritische Reflexion. Man denke in der bildenden Kunst zum Beispiel an die Maler des Blauen Reiter und in der Musik an Stravinsky, Mahler und Ravel. Auch in der Literatur ist ein breites Interesse sowohl am Primitiven wie am Kind zu verzeichnen, letzteres z.B., um nur einige Autoren zu nennen, bei Barrie, Caroll, Collodi, Colette, Proust, Altenberg, Bloch, Benjamin, Rilke und Walser. Dabei spielt das ,magische Denken‘ des Kindes eine entscheidende Rolle, und zwar nicht nur als Thema, sondern auch als ästhetisches Prinzip der entsprechenden Texte. Wie aber hat man sich das vorzustellen? Was wäre ein vom kindlichen Denken inspiriertes Schreiben? Inwiefern kann sich Literatur einem Kinderspiel anähneln? Diesen Fragen kann hier nur noch anhand einiger vorläufiger Überlegungen zu einem einzigen Beispiel nachgegangen werden, und zwar Benjamins Berliner Kindheit.41 „Es gehört zu den wichtigsten Wesenszügen Benjamins, daß er sein Leben lang von der Welt des Kindes und kindlichen Wesen mit geradezu magischer Gewalt angezogen wurde“ – schrieb Gershom Scholem über Walter Benjamin.42 In der Tat lassen seine Texte vor allem seit den 1920er Jahren ein deutliches Interesse an der Kindheit erkennen. Es ist ein Interesse für die Tätigkeiten und Gegenstände des Kindes, z.B. das Kinderspiel, das Spielzeug und das Kinderbuch, denen er sich unter anderem durch die Erinnerung an seine eigene Kindheit zu nähern sucht. Benjamin war gut informiert über das psychologische und pädagogische Schrifttum seiner Zeit, kritisierte es aber heftig – von einigen wichtigen Ausnahmen, wie Hartlaubs Der Genius im Kinde, abgesehen.43 An die Stelle der Domestizierung der „Kinderseele“ in Analyse, Begriff und pädagogischer Praxis, wie sie diese Schriften vornehmen, setzt er ein „nicht psychologisch [...], sondern 41 In der Rexroth-Fassung der Gesammelten Schriften (zitiert im Text als BK), in: Benjamin: Gesammelte Schriften (zitiert im Text als GS), Bd. IV/1, S. 235-304. 42 Scholem, in: Adorno: Über Walter Benjamin, S. 136. 43 Brief vom 19. Juni 1913 an Wyneken; zit. nach Götz von Olenhusen: Walter Benjamin, Gustav Wyneken, S. 121 f. Zu Hartlaub siehe: GS III, S. 211 f.

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sachlich“44 orientiertes, literarisches Vorgehen, das sich einer Nutzbarmachung ebenso sperrt wie es die Rede vom Kind als besserem Menschen nicht bedient.45 Vielmehr spricht Benjamin unter Verweis auf Künstler seiner Zeit (Klee, Ringelnatz) vom Kind als „entmenschtem“ Wesen.46 Damit ist einerseits die amoralische Dimension des Kinderlebens angesprochen („grausame, [...] grimmige Seite [...] das Despotische [...] an Kindern [...] unverfroren sind Kinder“). Andererseits und in der Hauptsache geht es um eine grundsätzliche Fremdheit des Kindes, wie sie auch in der Beschreibung des Kindes als „erdenfern“ anklingt. Sie steht im Zusammenhang mit den zahlreichen Verbindungslinien, die Benjamin zwischen dem Kind und dem Primitiven zieht.47 In der Lehre vom Ähnlichen, die Benjamin im Zusammenhang mit dem „ersten Stücke“48 der Berliner Kindheit schreibt, stellt er zum Beispiel eine Entsprechung zwischen dem Kinderspiel als der ontogenetischen Schule des mimetischen Vermögens und der Phylogenese des Menschen her, die durch dieses Vermögen bzw. seine Verwandlung geprägt sei. Dem Kind, das „nicht nur Kaufmann oder Lehrer sondern auch Windmühle und Eisenbahn“ spielt, treten so die „alten Völker oder auch d[ie] Primitiven“ an die Seite, deren Welt voll mit „magischen Korrespondenzen“ war – Korrespondenzen, die sich in der Gegenwart dem Erwachsenen nur noch im Medium der Sprache ereignen. Das Kind steht so, wie die Menschen der Vorzeit, unter dem „Zwan[g], ähnlich zu werden und sich zu verhalten“.49 Dieser Zwang kommt in seiner Verwandlung in die Gegenstände und Worte des Spiels zum Ausdruck (BK, S. 261). Scholem weiß von der Vorgeschichte der Lehre vom Ähnlichen zu berichten, dass Benjamin sich im Sommer 1918 intensiv mit der Welt des „vormythischen“ Menschen (der „Vorwelt“, der „Urzeit“) beschäftigt habe und mit dem Versuch, die „Gesetze“ dieser Welt zu ergründen.50 Mit dem „mimetischen Vermögen“ hat Benjamin offenbar 44 Brief an Kracauer vom 21.12.1927, in: Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 3, S. 316. 45 Heinz Brüggemann hat jüngst in Walter Benjamin. Über Spiel, Farbe und Phantasie auf die große Bedeutung des kindlichen Spiels für Benjamins Phantasie-Konzeption hingewiesen und in diesem Zusammenhang wichtige Bezüge zwischen Benjamin und dem entwicklungspsychologischen und pädagogischen Schrifttum hergestellt sowie zu Kindheits-Konzepten in anderen Künsten. 46 Walter Benjamin: Altes Spielzeug, in: GS IV/1, S. 515. Auf diese Dimension des Kindes hat jüngst Davide Giuriato erneut hingewiesen in Mikrographien, z.B. auf S. 16-19. 47 Ex negativo trifft das auch für den Text Kolonialpädagogik zu, in dem Benjamin die Kinderpsychologie mit der Psychologie der Naturvölker vergleicht und beide für ihren kolonialistischen Umgang mit ihren Untersuchungsobjekten kritisiert. 48 Im Kommentar der Gesammelten Schriften wird vermutet, es handele sich dabei um das Stück Ein Weihnachtsengel oder um das Stück Tiergarten (GS II/3, S. 951). Allerdings taucht nicht dort, sondern in Die Mummerehlen die identische Formulierung vom Zwang zur Ähnlichkeit wie in der Lehre vom Ähnlichen auf. 49 Benjamin: Lehre vom Ähnlichen, GS II/1, S. 204-210, hier S. 205, S. 206, S. 210. 50 GS III/3, S. 955.

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ein solches Gesetz gefunden, das den englischen Konzepten – Frazers Rede vom „Gesetz der Ähnlichkeit“ und Sullys von der „Lauer nach Ähnlichem“ – verwandt ist, aus der Perspektive des Primitiven und des Kindes aber am ehesten in Verbindung mit Lévy-Bruhls und Piagets Begriff der Partizipation zu bringen wäre. Im Essay Erfahrung und Armut setzt Benjamin zudem das Entmenschte mit dem Barbarischen gleich.51 Dadurch kommt zum Obigen noch eine weitere Dimension hinzu, nämlich die Armut an Erfahrung, die den Barbaren auszeichnet. Für Benjamin bedeutet sie vor allem die Notwendigkeit eines „von vorn Beginnens“.52 In der Rezension Spielzeug und Spielen zu Karl Gröbers Kinderspielzeug aus alter Zeit macht Benjamin dieses „von vorn Beginnen“ auch zum Kennzeichen des Kinderspiels: Das Kind schafft sich die ganze Sache von neuem, fängt noch einmal von vorn an. Vielleicht ist hier die tiefste Wurzel für den Doppelsinn in deutschen ,Spielen‘: Dasselbe wiederholen wäre das eigentlich Gemeinsame. Nicht ein ,So-tu-als-ob‘, ein ,Immer-wieder-tun‘, Verwandlung der erschütterndsten Erfahrung in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spiels.53

Da dieses ,Neuanfangs‘ auch seine Gegenwart bedarf, die mit der erschütternden Erfahrung des Ersten Weltkriegs „ärmer an mitteilbarer Erfahrung“ geworden sei, werden das spielende Kind und der Barbar erneut zum Vorbild des erwachsenen Menschen. Benjamin vergleicht den Erwachsenen denn auch im Spiegel von Klees und Scheerbarts Werken mit einem Neugeborenen und seinen Namen mit den „entmenschten Namen“ russischer Kinder.54 Es wundert angesichts dieser Verzweigungen nicht, dass Benjamin in seinen Gelegenheitstexten zu Kinderspiel und Kinderspielzeug immer wieder Bezüge zum Primitiven herstellt. So erwähnt er in den zwei Rezensionen zu Gröbers Buch den kultischen Ursprung wichtiger Spielgeräte, nämlich Ball, Reifen, Federrad, Drachen und Rassel – eine These, die ähnlich schon Tylor aufgestellt hatte.55 Auch in der Berliner Kindheit, neben der Berliner Chronik Benjamins umfangreichste und unabgeschlossene Beschäftigung mit der Kindheit am Leitfaden seiner Erinnerungen, klingen die Verbindungen zum Primitiven immer wieder an. Zum Beispiel: Bei den vom 51 52 53 54 55

Vgl. Giuriato: Mikrographien, S. 16-17. Benjamin: Erfahrung und Armut, GS II/1, S. 213-219, hier S. 215. GS III, S. 131. GS II/1, S. 214, S. 216. GS III, S. 116, S. 128. Er behauptet außerdem die Verwandtschaft von kindlichem Weltbild und einfacher Volkskunst (GS III, S. 128) und wiederholt diese These in dem Aufsatz Russische Spielsachen: „Der primitive Formenschatz des niederen Volkes [...] bildet gerade für die Entwicklung des Kinderspielzeugs bis in die Gegenwart hinein die gesicherte Grundlage“ (GS IV/2, S. 623), weil das Kind „einen primitiv erzeugten Gegenstand“ viel besser verstehe als einen aus industrieller Herkunft.

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Kind aufgesuchten, vom Erwachsenen vergessenen Orten handelt es sich oft um Wildnis, etwa in den Stücken Tiergarten (BK, S. 239), Schmetterlingsjagd (BK, S. 244), Der Fischotter (BK, S. 256 – der verödete Winkel des Zoologischen Gartens) und Das Karussell (BK, S. 268 – der Urwald). Man trifft auf Zauberpriester (BK, S. 253, S. 255), Maskenspiele (BK, S. 253, S. 254) und Dämonen (BK, S. 254, S. 256, S. 258), heilige Tiere (BK, S. 257), Geister (BK, S. 260, S. 277, S. 279, S. 284), Talismane (BK, S. 264), Göttinnen (BK, S. 293, S. 297) und Tempel (BK, S. 253, S. 256, S. 286, S. 293). Über manchen Dingen und bisweilen auch über dem Kind liegt ein „Bann“, der „magisch“ (BK, S. 237, S. 284) von der Natur, von Dingen und Worten ausgehen kann (BK, S. 237, S. 244, S. 254, S. 258, S. 277). So steht das Kind in der Berliner Kindheit in vielfacher Korrespondenz zum Primitiven. Im Stück Das Karussell wird dem durch den „Urwald“ reisenden, von „Eingeborenen“ umgebenen Kind entsprechend das Wissen um die „ewige Wiederkehr aller Dinge“ zugeschrieben (BK, S. 286) und so tausendjährige („vor Jahrtausenden“) und jüngste Vergangenheit („eben erst“) zusammen geführt. Dazu gehört auch, dass das Kind ein ,magisches Denken‘ an den Tag legt. Das soll im Folgenden anhand der vier Stücke Schmetterlingsjagd, Verstecke, Die Mummerehlen, Die Farben kurz demonstriert werden. In der Schmetterlingsjagd ist der Animismus des Kindes am deutlichsten ausgeprägt. Von „Wind und Düften, Laub und Sonne“ wird behauptet, sich verschworen zu haben, um dem Flug des Schmetterlings zu gebieten. Liest man die Verschwörung auch als auf das Kind als den Jäger des Schmetterlings bezogen, deutet sich hier zudem ein Artifizialismus des kindlichen Denkens an. Der Schmetterling wird außerdem mit Gefühlen ausgestattet. Dies steht jedoch im Zusammenhang mit der Identitätsvertauschung, die zwischen Schmetterling und Jäger stattfindet: „Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns zu herrschen: je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an“ (BK, S. 244). Mehr als die Vermenschlichung der Tier- und Dingwelt ist es diese Tier- oder Dingwerdung des Kindes, die in der Berliner Kindheit immer wieder besprochen wird. Auch in Verstecke geht es darum, dass das Kind sich in die Gegenstände verwandelt, hinter denen es sich versteckt: „Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske“ (BK, S. 253). Das verleiht ihm magische Macht über sein Gegenüber: der Jäger, der sich dergestalt in das Tier hinein versetzt hat, vermag es nun zu fangen; das zur Tür gewordene Kind vermag als „Zauberpriester“ jeden, der die Schwelle passiert, zu verhexen. Gleichzeitig steht es aber auch in Gefahr, seiner Menschlichkeit für immer beraubt zu werden (BK, S. 244, S. 254), worauf unten zurückzukommen sein wird. Deutlich wird in diesen Passagen, dass die Identitätsgrenzen für das Kind noch nicht klar gezogen sind. Piaget hat dafür den Begriff des ‚Rea-

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lismus‘ geprägt: Dem Kind sind subjektive Erscheinungen genauso real wie objektive, die Unterscheidung zwischen Ich und Außenwelt ist noch verschwommen. In der Berliner Kindheit findet sich dieser Aspekt treffend wieder im Verschwimmen von Traum, Phantasie und Wirklichkeit (BK, S. 246, S. 248, S. 258, S. 276 f, S. 284, S. 292, S. 296, S. 303), auch im Ineinandergreifen von Wunschäußerung und Erfüllung (BK, S. 244, S. 248). Auf die Verwandlung des Kindes in die ihn umgebende Tier- und Dingwelt passt jedoch besser der Begriff der ‚Partizipation‘, den Piaget ebenso wie die ‚magischen Haltungen‘ des Kindes aus dem Realismus ableitet (BK, S. 119). Das Kind kann sich aus demselben Grund in sein Gegenüber verwandeln wie Wind und Sonne dem Schmetterling gebieten können: Weil sie aneinander partizipieren, und zwar mithilfe von „Geistern“ und „Dämonen“, deren Spuren das Kind im Stück Unordentliches Kind der Einbahnstraße in den Dingen wittert und die wie in Schmetterlingsjagd und Verstecke in es eingehen können.56 Benjamin spricht jedoch wie gesagt nicht von Partizipation, sondern vom „Zwang, ähnlich zu werden und sich ähnlich zu verhalten“ (BK, S. 261), der das Leben des Primitiven wie das Spiel des Kindes bestimme. Im Unterschied zum Partizipationsgedanken steht hierbei zum einen die Perspektive des Erwachsenen, der sich an das Denken des Kindes erinnert, im Vordergrund, zum anderen die Verwandlung des Menschen in die ihn umgebende Tier- und Dingwelt. Stärker noch als in den bislang besprochenen Theorien spielt bei Benjamin für dieses Schaffen und Erkennen von Ähnlichkeiten die Sprache eine besondere Rolle, weil sie für den Erwachsenen der Gegenwart zum Reservat der „unsinnlichen Ähnlichkeiten“ geworden ist. Das Kind nimmt dabei eine Zwischenstellung zwischen Primitivem und Erwachsenem ein: Einerseits lebt es, im Unterschied zum Erwachsenen, noch in einer auf unsinnlichen Ähnlichkeiten basierenden Welt „magischer Korrespondenzen“ und verfügt über ein entsprechendes – im Spiel geübtes – mimetisches Vermögen, andererseits sind diese Eigenschaften bei ihm, im Unterschied zum Primitiven, schon stark auf die Sprache bezogen.57 Sie schiebt sich gewissermaßen zwischen das Kind und den Gegenstand, dem es sich anähnelt. Die Verwandlung in den Schmetterling wird dementsprechend als Abgewinnen der Gesetze einer fremden Sprache beschrieben (BK, S. 245). Im Vordergrund steht also nicht die Einheit von Ding und Namen, wie sie in den ethnologischen und entwicklungspsychologischen Schriften betont wird, sondern vielmehr das Ähnlichwerden des Subjekts mithilfe der Aneignung einer fremden Sprache. Dass aus dieser Übersetzung schließlich nicht mehr unbedingt das Objekt, sondern vielmehr der 56 GS IV/1, S. 115. 57 Vgl. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 64.

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Übersetzer selbst spricht, macht das Beispiel des Missverstehens deutlich.58 Das Kind hört ein Wort, das es nicht kennt, ähnelt dessen Klang bereits bekannten Worten an und verschafft dem so geschaffenen Wort einen Sinn, indem es sich ihm ähnlich macht. Zum Beispiel: Aus dem unbekannten Wort „Kupferstich“ macht es „Kopf-versteck“ und steckt den Kopf unter dem Stuhl hervor (BK, S. 261).59 Hier geht es nicht um eine Korrespondenz von Ding und Namen – vielmehr ist gerade die Trennung der beiden, die bloß semiotische Seite der Sprache, Voraussetzung für das Geschehen60–, auch nicht um die Korrespondenz von Objekt und Subjekt, sondern um die des Kindes mit einem Wort, das seine Referenz erst in dieser Korrespondenz gefunden hat. So werden die Worte für das Kind zwar einerseits zu Masken, in die es sich ,einmummt‘, wie es das aus einem Missverstehen erzeugte Wort „Mummerehlen“ vorgibt,61 zugleich kommt in ihnen aber vor allem das Kind bzw. der Vorgang der produktiven Verwandlung der aufgenommenen Worte zum Ausdruck. Das zeigt sich auch am Umgang des Kindes mit Eigennamen: Im arbiträren Namen sucht es nach einer lautlichen Ähnlichkeit, deren Pendant es dann in der Wirklichkeit wieder findet. So klingt „Gnädige Frau“ ihm wie „Näh-Frau“ und bannt seine Mutter an der Nähmaschine fest (BK, S. 289); oder die Steglitzer Straße klingt wie der Vogel Stieglitz, so dass seine Tante, die an dieser Straße wohnt, zum „kleinen schwarzen Vogel“ mutiert (BK, S. 249; s.a. S. 237, S. 254, S. 275, S. 276). Zwar herrscht hier eine Ähnlichkeit zwischen dem – verwandelten – Namen und dem – im Licht dieses Namens – wahrgenommenen Objekt vor, jedoch besteht die für Benjamin wesentlichere unsinnliche Ähnlichkeit in der Beziehung dieser Worte auf ihren Schöpfer bzw. auf den rezeptivproduktiven Schöpfungsvorgang. Eben diese Dimension der Sprache, in der vor dem Hintergrund und in Absetzung von ihrer semiotischen Ebene der Sprechende selbst als „Ausdruck und Initiator einer Kommunikation von künstlerischer Produktion und historischer Erfahrung“ zum Ausdruck kommt, nennt Benjamin ihre „magische Seite“,62 wie Menninghaus 58 Vgl. zu Benjamins Theorie der „magischen Seite“ der Sprache als Übersetzung: Menninghaus: Sprachmagie, S. 33-41, S. 50-60. 59 Von diesen Sprachspielen des jungen Benjamin ergibt sich übrigens ein direkter Bezug zur zeitgenössischen Kinderpsychologie (vgl. Brüggemann: Spiel, Farbe und Phantasie, S. 8389). In dem Buch Die Kindersprache von Clara und William Stern, Verwandten Benjamins, tauchen nicht nur „private Mitteilungen“ auf, die den kreativen Umgang des Kindes „Walter B.“ mit Sprache demonstrieren (z.B. das Beispiel vom „Kopf-verstich“), sondern auch Konzepte, die denen Benjamins ähneln, etwa der bricolage-artige (Levi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29-36) Umgang des Kindes mit Sprache oder die kindliche Gestensprache, die die Sterns allerdings auf die „naturhafte Symbolik“ der Mimik und Pantomime reduzieren. (Brüggemann: Spiel, Farbe und Phantasie, S. 84, S. 85). 60 Vgl. GS II/1, S. 208. 61 Vgl. Giuriato: Mikrographien, S. 188-190. 62 GS II/1, S. 208.

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ausführlich gezeigt hat. 63 In Wiederholung der Phylogenese ist es also die Kindheit, in der sich diese „magische Seite“ der Sprache aus der Verwandlung der primitiven Form des mimetischen Vermögens herausbildet.64 Wie vor ihm z.B. Sully und Hartlaub, bewertet Benjamin das mimetische Verhältnis des Kindes zu Sprache und Welt einerseits positiv. Es weise „die Wege, die in ihr [der Welt, NG] Inneres führten“ (BK, S. 261), es tue dem Kind „den Schoß [der Dinge auf]“ (BK, S. 263). Tatsächlich ließe sich behaupten, dass Benjamins ganzes späteres Schaffen, insbesondere das Passagenwerk, durch den Versuch geprägt ist, das kindliche Denken für sein Schreiben fruchtbar zu machen.65 Das gilt insbesondere für das mimetische Vermögen des Kindes und sein Verwischen der Grenzen zwischen Traum, Phantasie und Realität, die ihm eine Wahrnehmung ermöglichen, die der der Surrealisten nahe kommt.66 Voraussetzung für diese positive Bewertung ist jedoch eine dialektische Wendung, die Benjamin in seinen Ansätzen zu einer „Anthropologie des proletarischen Kindes“ am Kind beobachtet und zugleich in seinen Anverwandlungen nachvollzieht: Es geht nicht um ein bezauberndes, sondern letztlich um ein „bezaubernd-entzaubernde[s] Spiel“ [Herv. NG].67 Dafür spielt der von Groos – dessen Buch Spiele der Menschen Benjamin schätzt – betonte Austritt aus der Illusion nur eine kleine Rolle. Entscheidender ist, dass das Kind gegenüber seiner Spielwelt immer wieder seine Souveränität behauptet: „das Kind lebt in seiner Welt als Diktator.“68 Das unterscheidet den „Zwang“ des Kindes „ähnlich zu werden und sich ähnlich zu verhalten“ (BK, S. 261) von dem des Primitiven. Es lässt sich zwar 63 Vgl. Menninghaus: Sprachmagie, S. 9-78, hier S. 14. 64 Seine Nähe zu dieser primitiven Form macht es dem Kind im Unterschied zum Erwachsenen noch möglich, bestimmte Dinge und Vorkommnisse als Zeichen zu verstehen, also das „was nie geschrieben wurde, [zu] lesen“ (Benjamin: Über das mimetische Vermögen, GS II/1, S. 210-213, hier S. 213). Dabei handelt es sich um ein Zitat von Hofmannsthal. 65 „Berliner Chronik, Einbahnstraße und Berliner Kindheit um Neunzehnhundert sind das Berliner Passagen-Werk Benjamins“ (Menninghaus: Schwellenkunde, S. 43). 66 André Breton schreibt: „Die Kindheit nähert uns vielleicht am meisten dem ,wahren Leben‘: [...] Durch den Surrealismus scheinen diese Möglichkeiten wieder gegeben.“ (Breton: Manifeste, S. 37). 67 GS III, S. 209, S. 314. Vgl. dazu Muthesius zur Struktur des „Erwachens“ in: Mythos, S. 115. Muthesius geht in diesem Zusammenhang auch ausführlich Benjamins Auseinandersetzung mit dem Mythos in der Berliner Kindheit nach: „Wir versuchen zu zeigen, daß die Vergegenwärtigung der Kindheit dem gilt, was der Logos als sein Anderes verdrängte; die Aufklärung bedeutet hier nicht die Zerstörung des Stoffes, sondern intendiert im Vollzug der sprachlichen Ordnung die Entbergung der mythischen Wirkungsmacht, „die Auflösung der Mythologie in den Geschichtsraum“ (GS  V/1, S. 579)“ (Muthesius, Mythos, 12). Um diese Auflösung dreht sich auch Menninghaus’ Schwellenkunde, die Benjamins Umgang mit dem Begriff des Mythos im Gesamtwerk durchleuchtet. Für die Berliner Kindheit betont er, dass sich „alle ihre Elemente“ „ihr Dasein [...] aus ,mythischem Schwellenzauber‘ (GS V, S. 283) zögen“ (ebd., S. 34). 68 GS II/2, S. 766; s.a. GS III, S. 312. Ähnlich argumentiert auch Groos (vgl. Anz: Literatur und Lust, S. 66-69).

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von den Gegenständen seines Spiels verzaubern, gebietet aber gleichzeitig über diese mit einer „Kommandogewalt“, die es in Freiheit setzt.69 Zugleich handelt es sich bei diesen Gegenständen nicht um reine Phantasieprodukte, sondern das Spiel besteht, in Analogie zum kindlichen Umgang mit Sprache, in der improvisatorischen Zertrümmerung und Neuzusammensetzung bereits vorhandener Materialien.70 Dadurch wird es, so Benjamin im Programm eines proletarischen Kindertheaters „aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Phantasie“ erlöst und „zur Exekutive an den Stoffen“ gebracht. Im Zentrum dieser Bewegung steht die „signalisierende Geste“, als die sich die Kommandos des Kindes äußern.71 Ihr kommt eine revolutionäre Bedeutung zu, insofern in ihr Oppositionen dialektisch vermittelt werden: „[R]ezepti[on]“ und „[S]chöpf[ung]“, Natur („Innervation“) und Subjekt („schöpferisch“), Zeitfluss (des Theaterstücks) und „Augenblick“ (der Geste), Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, insofern die Geste als ein in Teilen mimetisches Zeichen mit konativer Funktion zu betrachten ist.72 Aufgrund dieser dialektischen Struktur kann Benjamin die Geste des Kindes als „geheimes Signal [Herv. im Original, NG] des Kommenden“ lesen. Dies auch in dem Sinne, dass die spielenden Kinder, deren Phantasie im proletarischen Kindertheater „wild entbunden“ wurde, als spätere Erwachsene nicht mehr von einer ungelebten Kindheit belastet sind: „Im Spielen hat sich ihre Kindheit erfüllt. Sie nehmen keine Restbestände mit, die später eine unsentimentale Aktivität durch larmoyante Kindheitserinnerungen hemmen.“73 So geht aus der ungestörten Hingabe ans Kinderspiel letztlich ein Erwachsener hervor, der den Zustand der Entzauberung nicht als Mangel, sondern als Voraussetzung für die Schaffung einer anderen Gesellschaft empfindet. Diesen Thesen und ihren Bezügen zu Benjamins späteren Werken kann hier jedoch nicht länger nachgegangen werden. Stattdessen sollen zum Schluss einige erste Anhaltspunkte gegeben werden, inwiefern das Denken des Kindes der Berliner Kindheit auch als ästhetisches Prinzip dient und strukturell wirksam wird. Benjamin „schmiegt“ sich mit seinem Text dem Kind, das er erinnert, „an“ (BK, S. 244). Und es geschieht, wie bei Kind und Schmetterling, eine doppelte Verwandlung: Er affirmiert die Perspektive des Kindes, gleichzeitig wird das Kind, das er erinnert, zum Erwachsenen, indem es immer schon durch das erwachsene Ich geprägt ist. Diese Verschränkung zeigt sich etwa in der Erzählperspektive. Sie schwankt zwischen einem kindlichen Ich, das das erzählte Geschehen hinnimmt, und einem erwachsenen Ich, das es 69 GS III, S. 312, vgl. GS II/2, S. 768 70 Vgl. GS IV/1, S. 93; auch GS II/1, S. 767, GS III, S. 115 f. 71 Sie ist in Bezug zur Sprache des Urteils zu setzen, die Benjamin ebenfalls der magischen Seite der Sprache zuordnet (vgl. dazu Menninghaus: Sprachmagie, S. 46). 72 GS II/2, S. 766, S. 767, S. 769, S. 768. 73 GS II/2, S. 769, S. 768.

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kommentiert.74 Das lässt sich zum Beispiel am Umgang mit den Personifikationen verdeutlichen, die den Animismus des Kindes in Sprache übersetzen. In Blumeshof 12 springt der Text von einer Erläuterung der ambivalenten Gefühle, die das Inventar der 1870er Jahre dem Besucher beschert, zur Beschreibung des bedrohlichen Tuns des Treppenhauses – ein „Alp“, der das Kind in Bann schlägt – zur Erklärung dieses Geschehens als Traum. In Wintermorgen fehlt die nachträgliche Distanzierung von der Personifikation. Die Flamme „sieht [...] zu mir hin“, heißt es dort, ohne als kindliche Wahrnehmung(stäuschung) erläutert zu werden. Wenn in manchen Stücken das Ich hinter einen auktorialen Erzähler und seine Hauptfigur, „das Kind“, zurücktritt, geht diese Bewegung keineswegs mit einer Distanzierung von der kindlichen Perspektive einher: „Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst [Herv. NG] [...] zum Gespenst“ (BK, S. 253). Das Denken des Kindes in der Berliner Kindheit ist von Assoziationen geprägt, die auf Ähnlichkeiten oder Gleichzeitigkeiten beruhen – abermals ist hier die Nähe zu Frazer und Sully deutlich.75 Dem Kind werden z.B. Orte wie Westerland oder Athen zu Kolonien des Ortes Blumeshof 12, weil die Großmutter, die dort wohnt, Ansichtskarten von diesen Orten schickt. Oder die Droschkenhaltestellen werden zu Provinzen des Innenhofes, weil im Hof und an den Haltestellen die Wurzeln der Bäume von einem Eisengitter bedeckt sind. Viele Stücke der Berliner Kindheit funktionieren strukturell nach dem gleichen Prinzip. Das Stück Zwei Blechkapellen etwa springt von der Beschreibung eines Bummels auf der Lästerallee zu Freizeitvergnügungen auf der Rousseau-Insel. Einzige Verbindung zwischen beiden Szenen sind Blechkapellen, die an beiden Orten aufspielten. Ähnliches gilt für das Prinzip der Wiederholung. Benjamin macht es als wesentliches Gesetz des Kinderspiels aus: Das „Gesetz der Wiederholung [regiert die ganze Welt der Spiele]. Wir wissen, daß sie dem Kind die Seele des Spiels ist; daß nichts es mehr beglückt, als ,noch einmal‘.“76 In der Berliner Kindheit wird diese Annahme etwa im unermüdlichen Spiel des kleinen Kindes mit dem Strumpf (BK, S. 284) bestätigt. Auf die Ebene der Texte übertragen, bedeutet dies, dass sich bestimmte Themen wiederholen – wie das oben beschriebene der Verwandlung des Kindes – und keine Entwicklung, sondern eher ein Kreisen um das Faszinosum der erinnerten Kindheit stattfindet. So ist es nur folgerichtig, dass Benjamin sich zeitlebens nicht auf eine bestimmte Reihenfolge der Texte festlegen konnte und bis heute die 74 Giuriato, der sich in Mikrographien insbesondere dem Schreibprozess Benjamins widmet, macht auf die Verkleinerung der Erzählperspektive vom Gießener zum Pariser Typoskript aufmerksam (z.B. Giuriato: Mikrographien, S. 187), wenn er beschreibt, wie in letzterem die Selbstkommentare reduziert werden. 75 Das gilt auch für die Paronomasien, wie sie in den Verwandlungen der missverstandenen Worte entstehen (vgl. dazu Giuriato: Mikrographien, S. 188). 76 GS III, S. 131.

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Herausgeber über diese streiten. Auch auf der Ebene des Schreibprozesses lässt sich das Prinzip der Wiederholung darin wieder finden, dass Benjamin die Texte der Berliner Kindheit wieder und wieder schrieb.77 Das heißt: Er fügte nicht unbedingt neue hinzu, sondern veränderte und schrieb neu die bereits existierenden Stücke. Dieses Vorgehen entspricht zudem dem Prinzip des „noch einmal von vorn Anfangens“, das Benjamin für das Kinderspiel ausgemacht hat. Insofern wäre Benjamins Schreibprozess als ein vom kindlichen inspiriertes Spiel mit seinen Kindheitserinnerungen zu betrachten. Mit der Berliner Kindheit, die das ,magische Denken‘ des Kindes nicht analysiert, sondern demonstriert und in Sprach- und Textstrukturen überführt, kommt Benjamin diesem Denken einerseits näher als die humanwissenschaftlichen Diskurse der Zeit. In der selbstreferentiellen Dimension der Texte entfernt er sich aber auch weiter von ihm. Denn im Unterschied zu Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Pädagogik, die am Gedanken einer Wahrheitsfindung über das primitive und kindliche Denken festhalten, präsentiert Benjamin die prinzipielle Unmöglichkeit einer solchen Unternehmung. Für die Kultur des ,magischen Denkens‘ im frühen 20. Jahrhundert bedeutet dies, dass es sich beim Kindlichen und Primitiven letztlich um notwendige Konstruktionen handelt, mithilfe derer bestimmte ästhetische Methodiken entwickelt und umgesetzt werden.

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77 Zum Schreibprozess der Berliner Kindheit insgesamt vgl. ausführlich Giuriato: Mikrographien.

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„Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln“ Ludische Literatur – Theorie und Thesen (von Friedrich Schiller zur Avantgarde) Die folgenden Überlegungen sollen der theoretischen Fundierung einer literarischen Gattung nachgehen, die in zahlreichen unterschiedlichen Ausformungen auftaucht und auf einen integrierenden Begriff gebracht wird: die ludische Literatur. Dabei zielt der Beitrag auf einen bisher vernachlässigten Zusammenhang, speziell auf die Kontextualisierung einer Theorie bzw. Poetik des Spiels, welches dieses unter die Kategorie der Experimentaldichtung subsumiert, hier im Verständnis von „Spielzeug“ als „PoesieErreger“. Diese Auffassung ist zwar ebenso als philosophische Konzeption präsentiert wie apodiktisch fundiert, jedoch nur selten in ihrem systematischen Gehalt diskutiert worden. Ludische Literatur wird, so eine erste Feststellung, in der Literaturgeschichtsschreibung immer noch nur am Rande behandelt. Diese Zurückhaltung von Seiten der Forschung hängt vor allem mit der Schwierigkeit zusammen, angemessene Ordnungskriterien für die vielfältigen Beispiele literarischen Schreibens zu finden, denen sowohl explizit wie implizit etwas Spielerisches zu Eigen ist. Anregungen und Hinweise sollen im Folgenden gegeben werden. In meinem Beitrag gehe ich (I.) von theoretischen Prämissen aus, die ich zunächst vorstellen und dabei versuche werde, strukturelle Ordnungskriterien zu entwickeln. Es handelt sich dabei um die Positionen Friedrich Schillers, Hans Bellmers, Johan Huinzigas, Umberto Ecos und Roger Caillois’, wie sie in deren jeweiligen Werken niedergelegt sind. Deren Standpunkte betrachte ich (II.) vor dem Hintergrund der kritischen Schriften der historischen Avantgarde, die eine ludische Literatur primär konstituieren, hier exemplarisch anhand einer signifikanten Auswahl der Texte Hugo Balls. Insgesamt muss (III.) thesenartig gefragt werden, wie sich der Prozess entsprechend textueller Konfigurationen nachzeichnen ließe bzw. welche Aufgabe sich für zukünftige literaturwissenschaftliche Forschungsvorhaben vor dem Hintergrund des spieltheoretischen Diskurses stellt.   

Bellmer: Die Puppe, S. 29. So etwa Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. So etwa Matuschek: Literarische Spieltheorie.

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I. Ein erster Aspekt, der bei der Analyse solcher Texte Erfolg verspricht, ist also die Befragung der theoretischen Schriften nach Spuren einer Poetik des Spiels. Im vorliegenden Fall führt der Weg mithin zu einer Reihe von Ausführungen, die das Spiel unter strukturellen Gesichtspunkten diskutieren. Zu nennen ist zunächst Friedrich Schiller, der im fünfzehnten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) den Gegenstand des „sinnlichen Triebs“ bekanntlich als „Leben“ auffasst, um sodann den „Formtrieb“ als „Gestalt“ zu bezeichnen und schließlich den „Spieltrieb“ in einem „allgemeinen Schema“ vorzustellen. Dessen Gegenstand werde, so Schiller, „lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“ Dadurch könne aber weder „die Schönheit“ auf das „ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen“ werden; vielmehr soll sie „eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, das heißt, ein Spieltrieb seyn, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Nothwendigkeit, des Leidens mit der Freyheit den Begriff der Menschheit vollendet.“ Und so erscheint „die Schönheit“ Schiller als das „gemeinschaftliche Objekt“ des „Spieltriebs“, was für ihn allerdings keine Erniedrigung bedeutet oder eine Gleichstellung mit den „frivolen Gegenständen“; weder dem Vernunftbegriff noch ihrer Würde widerspreche die Einschränkung der „Schönheit“ auf ein „bloßes Spiel“ – vielmehr erweitere dieses jene. Die „wirklich vorhandene Schönheit“ sei des „wirklich vorhandenen Spieltriebes werth“, aber durch das „Ideal der Schönheit“, welches die Vernunft aufstelle, sei auch ein „Ideal des Spieltriebes“ aufgegeben, das der Mensch in allen seinen Spielen „vor Augen haben soll“, ein Postulat, woraus Schiller sein berühmtes Wort ableitet: „der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“10 Dieser Satz, das verspricht Schiller an dieser Stelle, werde „das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst“ tragen.11 

Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 58. Siehe dazu näher u.a. auch Janz: Über die ästhetische Erziehung.  Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 58.  Ebd., S. 59.  Ebd., S. 60.  Ebd., S. 61.  Ebd., S. 62. 10 Ebd., S. 62 f. 11 Ebd., S. 63.

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Die Frage, wann eine Literatur wie in einem Bezug zum Spiel steht, lässt sich mit Schiller dahingehend beantworten, wenn wir sie in den Kontext des generellen Problems einrücken, das durch das Verhältnis von spielerischen Regeln zur Dimension ästhetischer Erfahrung und Darstellung bezeichnet wird. Denn dieses Verhältnis ist dem literarischen ‚Unternehmen‘ nicht akzidentell, sondern gewinnt Notwendigkeit wie Gestalt aus den Begründungszusammenhängen, in die es sich aus dieser Perspektive verstrickt. Am deutlichsten tritt sie hervor, wenn man ihre programmatische Bestimmung betrachtet, wie sie Hans Bellmer in Die Spiele der Puppe skizziert. Dort heißt es: Das Spiel gehört zur Gattung Experimental-Poesie: das Spielzeug könnte auch ‚Poesie-Erreger‘ heißen. Das beste Spiel will weniger auf etwas hinauslaufen, als sich an dem Gedanken seiner eigenen, unbekannten Forschung wie an einer Verheißung erhitzen. Das beste Spielzeug wäre darum jenes, das nichts vom Sockel eines im Voraus bestimmten, immer gleichen Funktionierens weiß, das so reich an Möglichkeiten und Zufällen wie die ärmste Lumpenpuppe und herausfordernd wie eine Wünschelrute an die Umwelt herangeht, um hier und da die fieberhaften Antworten auf das immer Erwartete zu hören, die jeder nachsprechen kann: Die plötzlichen Bilder des ‚DU‘.12

Das Charakteristische spielerischer Kunst ist demnach eine radikalisierte transzendentale Befragung der unhintergehbaren Voraussetzungen für eigenständige ästhetische Produktion; das Kunstwerk inszeniert das, worauf es sich bezieht – die Wirklichkeit, die Wahrheit, seine eigenen Bestandteile, den Rezipienten usw. –, als eine „irrlichternde Ungerichtetheit“, als eine „in sich zurücklaufende Bewegung, die gerade darauf angelegt ist, nicht stillgelegt werden zu können“: „Materialität und Sinn, Offenheit und Geschlossenheit, Mittel und Zweck, Selbstbezug und Fremdbezug und andere Entgegensetzungen mehr oszillieren in einem Hin und Her, dessen Pointe darin besteht, in keiner Synthese aufgehoben werden zu können.“13 Dieses „Hin und Her“ bezeichnet Umberto Eco mit dem Begriff des „offenen Kunstwerks“,14 in dem die Bedeutung gerade nicht im Werk liege, sondern in den kommunikativen Strukturen, die es in semantischer, syntaktischer, physischer, emotiver und thematischer Hinsicht eröffne; Offenheit sei das Medium der Bedeutungserzeugung und nicht schon das Ziel, nicht schon die Bedeutung selbst.15 Der im Begriff des „offenen Kunstwerks“ zusammengefasste Befund gründet in einer Wendung zum Prozessualen, im Akt der Formation oder besser: der Performativität, in dem es vornehmlich um einen offenen Werkprozess geht.16 Eine für die Theorie des Spiels 12 13 14 15 16

Bellmer: Die Puppe, S. 29. Lüthy: Der Einsatz der Autonomie, S. 38. Vgl. Eco: Das offene Kunstwerk. Vgl. Eco: Vorwort sowie ders.: Poetik des offenen Kunstwerks. Vgl. Lüthy: Der Einsatz der Autonomie, S. 45.

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wichtige Untersuchung bietet Ecos vorgenommene Analyse, da sie jene Werkform fokussiert, die sich auf eine spielerische Interaktion mit dem Rezipienten ausrichtet, indem Eco die operativen Strukturen der Kunst und die Struktur der Form beleuchtet, die hier, wie gesagt, immer auch die Beziehung von Werk und Betrachter mit einschließt und somit bereits ‚aufgefasste‘ Form ist. Der Moment der ‚Offenheit‘ steht hier für eine programmatische Poetik, bei der dieser in jenen kommunikativen Strukturen entsteht, die das offene Kunstwerk eröffnet. Als besonders lehrreich für die Annäherung an ludische Literatur erweisen sich Ecos Bemerkungen im Hinblick auf die ästhetischen Verwirklichungen des Spielerischen, deren Eigenarten erst einer genaueren Betrachtung der jeweiligen Werkstruktur zugänglich werden. Der eröffnete Spielraum wird stets anders konturiert und in einer je eigenen Weise zuallererst erzeugt. Erst im Durchspielen der Werkstruktur lässt sich bestimmen, ob das gespielte Spiel eher als Fiktion, (Selbst-)Reflexion oder (Selbst-)Kritik aufzufassen ist. Ein weiterer Aspekt, der für einen Bestimmungsvorschlag ludischer Literatur von Bedeutung ist, sind die vielfach zu beobachtenden und für die Theorie des Spiels charakteristischen Phänomene von Spielfeldern wie Zufall und Regel, Regelverletzung und Modifizierung der Regelsysteme, die Aktivierung des Potentials der Kindheit, der spielerische Entwurf einer eigendefinierten ‚befreiten‘ Existenz, der provozierte Zufall u.ä. Mit diesen Stichworten greife ich Theoreme auf, die zwar in einer Fülle von unterschiedlich zu bewertenden Formen fassbar sind, und die für eine Literatur, zu der entsprechende Werke zählen, eine ausschlaggebende Bedeutung für die Deutung als eine spielerischen Dichtung hat. Ein solcher theoretischer Umgang mit dem Spielerischen lässt sich vor allem in zwei Varianten beobachten. Zum einen handelt es sich um Johan Huinzigas Überlegungen zum Homo Ludens (1938), in denen der spielerische Mensch dem arbeitenden gleichberechtigt gegenüber gestellt wird.17 Nach Huinziga entsteht Kultur in Form von Spiel, das „Gemeinschaftsleben“ erhalte „seine Ausstattung mit überbiologischen Formen, die ihm höheren Wert verleihen, in Gestalt von Spielen“; in diesen Spielen bringe die Gemeinschaft ihre „Deutung des Lebens und der Welt zum Ausdruck“: „In der Zwei-Einheit von Kultur und Spiel“ sei das Spiel die primäre, objektiv-wahrnehmbare, konkret bestimmte Tatsache, während Kultur nur die Bezeichnung sei, „die unser historisches Urteil dem gegebenen Fall anheftet.“18 Durch Wiederholung, Einübung und damit Ausarbeiten eines Regelwerks und schließlich durch Variation und Neuaufführung werde das experimentell Erprobte zur Kulturform; das Spiel, nicht die Arbeit, wird als konstituierendes Element alles 17 Vgl. Huinziga: Homo Ludens. 18 Ebd., S. 57.

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Kulturellen angesehen.19 Das Spiel ist hier definiert „durch Zwang- und Zwecklosigkeit“; es ist bestimmt durch „ein ‚als ob‘, das es aus dem übrigen Alltag heraushebt“; kennzeichnend sind eine „zeitliche und räumliche Begrenzung, die es als abschließbare Handlung auf einem eigenen Spielfeld mit festgelegten, selbst gesetzten Grenzen bestimmt“.20 Das Spiel ist zudem unvernünftig, von rationalistischen und auf Effektivität zielenden Standpunkt aus überflüssig und bereitet Vergnügen.21 Es nimmt kein Wunder, dass Huizinga im Zuge seiner Überlegungen schließlich auf den Punkt ‚Spiel und Dichtung‘ zu sprechen kommt, um nach dem „Wesen der dichterischen Schöpfung“ zu fragen, bilde doch dies in gewissem Sinne das „zentrale Thema einer Erörterung über den Zusammenhang von Spiel und Kultur“.22 Dichtung in ihrer „ursprünglichen Funktion als Faktor früher Kultur“ werde „im Spiel und als Spiel geboren.“23 Wenn Huizinga im Anschluss eine dann sicherlich doch soziologisch zentrierte, vor allem mythologische und rituelle Konturierung des Themas versucht, bleibt festzuhalten, dass die Verbindung von Spiel und Literatur mit Huizinga stark gemacht werden kann. Dieser schreibt: Zählen wir noch einmal auf, was uns die eigentlichen Merkmale des Spiels zu sein schienen. Es ist eine Handlung, die innerhalb gewisser Grenzen von Zeit, Raum und Sinn verläuft, in einer sichtbaren Ordnung, nach freiwillig angenommenen Regeln, außerhalb der Sphäre materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit. Die Stimmung des Spiels ist Entrücktheit und Begeisterung, und zwar entweder eine heilige oder eine lediglich festliche, je nachdem das Spiel Weihe oder Belustigung ist. Die Handlung wird von Gefühlen der Erhebung und Spannung begleitet und führt Fröhlichkeit und Entspannung mit sich. Es ist kaum zu verkennen, daß alle Aktivitäten der poetischen Formgebung: das symmetrische oder rhythmische Einteilen der gesprochenen oder gesungenen Rede, das Treffen mit Reim oder Assonanz, das Verhüllen des Sinns, der künstliche Aufbau der Phrase, in diese Sphäre des Spiels von Natur gehören.24

Als aufschlussreich für die vorliegende Diskussion erweist sich zum anderen, was der den Surrealisten verbundene Theoretiker Roger Caillois über Die Spiele der Menschen (1958) ausgeführt hat.25 Auch Caillois bestimmt das Spiel als frei, was für ihn jedoch bedeutet, dass es abgetrennt ist von der Realität sowie vom produktiven Leben und damit nicht schöpferisch ist, d.h. es bringt, im Gegensatz zur Kunst der Arbeit, kein endgültiges Werk hervor.26 Dabei unterscheidet Caillois vier Typen des Spiels: ‚agon‘ – der

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Vgl. Bäzner: Kunst als spielerischer Handlungsraum, S. 24. Ebd., S. 24 f. Vgl. ebd. Huizinga: Homo Ludens, S. 133. Ebd. Ebd., S. 146. Caillois: Die Spiele und die Menschen. Vgl. ebd., S. 92.

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Wettstreit (z.B. Schachspiel) und ‚alea‘ – der Zufall (z.B. Roulette), ‚mimikry‘ – die Maskierung (z.B. Rollenspiel, Schauspiel) und ‚ilinx‘ – der Rausch (z.B. Tanz). Das Spielerische bewegt sich für Caillois zwischen zwei Polen: einerseits der ‚paida‘, d.h dem Vergnügen, der freien Improvisation, der Phantasie und des ausgelassenen Überschwangs; und andererseits dem ‚ludus‘, der Unterwerfung unter einen Kanon, der Meisterung von künstlerisch-gesetzlichen Schwierigkeiten, dem Wettkampf mit sich selbst, der Berechnung und Kombination; Ludus ist angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Regelgehorsam und einer experimentellen Ausdeutung des Regelrahmens.27

II. Es ist dieses Ausdeutungsprogramm, das die primäre Ausformung ludischer Literatur im Einflussbereich der historischen Avantgarde sichtbar werden lässt, fasst man das Spielerische auch als jenes ‚karneralistische Lachen‘ auf,28 das Michail Bachtin insbesondere an Literaturformen herausgearbeitet hat.29 Bekanntlich strebte die Avantgarde im Allgemeinen bzw. der so genannte Dadaismus im Besonderen eine solche karnevalistische Erweiterung des Literaturbegriffs an und setzte dafür eine Vielzahl von Spielversionen ein; genutzt wurden den herkömmlichen Sinn unterlaufende Sprachspiele, die Sprach-Collage, Rollenspiele mit den Komponenten der persiflierenden Maskierung, Mimikry und Gesellschaftssatire, bei der gesellschaftliche und künstlerische Konventionen als phrasenhaft entlarvt wurden.30 Zu beachten ist, dass hier eine Auflösung und generelle Verletzung des bis dahin gültigen Regelkanons betrieben werden sollte, womit sowohl eine Reflexion der Darstellungsmittel und -weisen sowie die Überschreitung der textuellen Gattungsgrenzen einherging als auch die Hinwendung zum Experiment, das sich am Material ‚entzündet‘. Die avantgardistisch-dadaistische ‚Literatur‘ muss an jenen Korrekturen geprüft werden, die deren Vertreter selbst vorgenommen haben. Die Richtung dieser Revision hat vor allem Hugo Ball bezeichnet und im ersten dadaistischen Manifest vom 14. Juli 1916 formuliert, das als zentraler poeto­ logischer Gründungstext ludischer Literatur Geltung haben kann. Darin führt Ball Dada zunächst als Anti-Kunst vor Augen, ohne dieser die ästhe27 Vgl. ebd., S. 96-144. 28 Hugo Ball notiert zum 3. März 1916 in Die Flucht aus der Zeit: „Der Künstler als das Organ des Unerhörten bedroht und beschwichtigt zugleich. Die Bedrohung erregt eine Abwehr. Da sie sich aber als harmlos herausstellt, beginnt der Beschauer sich selber ob seiner Furcht zu verlachen.“ (Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 83 f.) Siehe auch Bergius: Das Lachen Dadas. 29 Siehe dazu Bachtin: Literatur und Karneval. 30 Vgl. Bätzner: Kunst als spielerischer Handlungsraum, S. 21.

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tische Beschaffenheit, Schiller würde sagen: ohne ihr die ‚Schönheit‘ abzusprechen. Ball definiert: Dada ist eine neue Kunstrichtung. [...] Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutet’s Steckenpferd. Im Deutschen heißt’s Addio, steigts mir den Rücken runter. Auf Wiedersehen ein andermal! Im Rumänischen: „Ja wahrhaftig, Sie haben recht, so ist’s. Jawohl, wirklich, machen wir.“ Und so weiter. Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Sehr leicht zu verstehen. Es ist ganz furchtbar einfach. Wenn man eine Kunstrichtung daraus macht, muß das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen. [...] Und im Ästhetischen kommt es auf die Qualität an.31

An anderer Stelle hat Ball dies nochmals präzisiert, indem er ausführt, was „wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.“32 Das Verhältnis von differentiellem Spiel und Bedeutung, wie es ästhetische Sprachverwendungen ausprägen, zeigt eine Subversion der konventionellen Sprache an; Ball spricht denn auch davon, diese „ad acta zu legen“: Dada m’dada. Dada mhm dada da. Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bisschen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. Wenn diese Schwingung sieben Ellen lang sind, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind.33

An der ästhetischen Freisetzung eines bedeutungssubversiven ‚bloßen‘ Spiels der Sprache im Sinne Schillers offenbart sich gleichsam eine Wahrheit über das sprachliche Geschehen schlechthin, die spielerisch überhaupt erst generiert wird und in einer Endlosschleife Poesie immer wieder von Neuem ‚erregt‘: Da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale kobolzen. Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut ... Worte tauchen auf, Schultern von Worten, Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu viel Worte aufkommen lassen. Ein Vers ist 31 Ball: Das erste dadaistische Manifest, S. 39. 32 Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 98. Weiterhin heißt es dort programmatisch: „Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, daß sich im Widerspruche das Leben behauptet und daß seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt. Das Direkte und Primitive erscheint ihm inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst. Das der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blutige Pose. [...] Der Dadist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit.“ (S. 98 f.) 33 Ball: Das erste dadaistische Manifest, S. 40.

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die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.34

Die ästhetische Erfahrung im Spiel mit der Sprache35 soll den Grund allen Bedeutens als seinen Abgrund enthüllen, und zwar indem sie tatsächlich als ‚offenes Kunstwerk‘ im Verständnis Umberto Ecos geradezu körperliche Formen annimmt, die frei aufgefunden werden sollen, man könnte auch sagen: die spielerisch wie aus dem Nichts entstehen, wobei die beabsichtigte Wirkung präsent bleibt. Ball berichtet in seinem überarbeiteten Tagebuch Die Flucht aus der Zeit von seinem ersten Vortrag der ersten Verse ohne Worte, dass er sich dazu ein eigenes Kostüm konstruiert hatte: Seine Beine „standen in einem Säulengrund aus blauglänzendem Karton“, der ihm „schlank bis zur Hüfte reichte“, so dass er „bis dahin wie ein Obelisk aussah“; darüber trug er einen „riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war“, dass er „ihn durch Heben und [S]enken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte“, dazu „einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.“36 Zudem erinnert sich Ball, wie er derart „die Rolle eines Predigers“ übernommen hat, als „magischer Bischof“ in die „uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation“ verfallen ist, in „jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt“.37 Was sich als performativ dargebrachtes Kunstwerk darbietet, dem (mit Huizinga gesprochen) etwas Kulturell-Spielerisches, Rituell-Mythisches grundlegend zu Eigen ist, erweist sich recht besehen zugleich als dessen offener Spielraum. Im ersten dadaistischen Manifest heißt es, jede Sache habe ihr Wort, aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. Warum soll ich es nicht finden? Warum kann der Baum nicht „Pluplusch“ heißen? und „Pluplubasch“, wenn es geregnet hat? Das Wort, das Wort, das Wort außerhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, außerhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit. Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.38

34 Ebd. 35 Vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 101: „Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, verstandesmäßigen Satzes und demnach auch unter Verzicht auf ein dokumentarisches Werk (als welches nur mittels zeitraubender Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich ist).“ 36 Ebd., S. 105. 37 Ebd., S. 106. 38 Ebd.

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Die Werkstruktur der Sprache wird im avantgardistischen Spiel zertrümmert und in freie Improvisation übersetzt.39 Die Usurpation des Spielerischen über die Sprache im Prozess der ästhetischen Kreation verweist auf eine Realität als „die Wirklichkeit eines Spiels, bei dem die Regeln jederzeit außer Kraft gesetzt werden können, um ein neues Spiel zu beginnen.“40 Gleichwohl hat allein dieses Eingeständnis noch nicht notwendig eine Preisgabe des ludischen Regelrahmens zur Folge. Die Ausdeutung ludischer Literatur über Theoreme des Spiels als frei flottierende Offenheit der ästhetischen Sprache ist nicht die einzige Möglichkeit, die sich mit dem Hinweis auf ihren engen Zusammenhang bei Dada geben lässt. Sie bildet vielmehr, das hat sich bereits angedeutet, ebenfalls den Einsatzpunkt für eine Reflexion auf die Spielfelder ludischer Literatur. Aufschlussreich ist nun, dass dieser Einsatzpunkt für die poetologische Befragung des Konzepts ludischer Literatur durch ihr Verhältnis zur ästhetischen Sprache zugleich die Geburtsstunde einer ‚Zeitkrankheit‘ ist, die sich selbst ausdrücklich als künstlerische versteht – und es ist diese Gleichzeitigkeit, die ich im Folgenden einer kurzen abschließenden Betrachtung unterziehen will. Markiert wird dieser Punkt wiederum durch einen Text Hugo Balls, der im Dezember 1926 unter dem Titel Der Künstler und die Zeitkrankheit in Heft 2 der Zeitschrift Hochland erschienen ist und in dem sich seine Argumenta­ tionslinien miteinander verflechten. Darin kommt Ball im dritten Kapitel auf die „hohe Einschätzung der Kunst“ zu sprechen, zu der die „Geltung der Person des Künstlers“ im „schroffsten Gegensatze“ stehe.41 Frage man die Künstler, woran sie leiden, so könne man (nach Ball) immer wieder dasselbe hören: „Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit. Das Band, das sie in früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerrissen. Es ist keine Tragfähigkeit, kein Anknüpfungspunkt mehr vorhanden.“42 Ästhetische Texte gewinnen für Ball eine Einsicht in die innere Verfasstheit des Künstlers, in seine „inneren Konflikte“; die derart „unbekannt drohende Macht“ solle „entladen und gefesselt, die getrennten seelischen Vermögen“ gesammelt und in einem „neuen Weltbilde“ vorgestellt werden: Der Künstler suche, so Ball, das „erschütterte Fundament“ zu sichern, indem er den „innersten Phantasieraum“ abtaste und dabei auf die „Grundformen der Anschauung“ stoße. Das konstituierende Element der Erscheinungen und damit alles „Unheimliche der Traumwelt“, doch auch ihr Gesetz – „das letzte der Imagination erreichbare Gefängnis der Seele“ – müsse erfasst und sichtbar werden; mit dem Berufstherapeuten verglichen, vermöge der Maler 39 40 41 42

Dazu jüngst etwa Borgards: Literatur und Improvisation. Luyken: Zur Strategie des dadaistischen Spiels, S. 60. Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit, S. 107. Ebd., S. 108.

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ganz anders die verdrängten Vorstellungen wachzurufen und im Symbole zu bannen, als der „doch im ganzen auf seine Ratio und einen abstrakten Eingriff in den Mechanismus der Krankheit hingewiesene Arzt“ – und ebenso vermöge der Dichter, dank seiner Intuition und seines Wortschatzes, ganz anders alle Besetzungen der libidinösen und der romantischen Irrwege aufzustören und dingfest zu machen, als abermals der Arzt, der „nur in seltenen Fällen und nicht ex officio über die Sprache verfügt.“43 Das literarische Kunstwerk ist das Medium, in dem sich der Prozess selbstreflexiver Texte entfaltet, die Spieltheorie der Diskurs schlechthin, der ihn artikuliert.44 Das Strukturgesetz dieses Diskurses, der die innere Bewegung des literarischen Textes nachvollzieht, hat Ball in Der Künstler und die Zeitkrankheit resümierend beschrieben, indem er angibt, die Kunst seiner Zeit sei „therapeutisch bemüht“, den Konflikt „zwischen Dämon und Ich“ zu lösen; sie treibe zu diesem Zwecke eine Analyse ihrer Stilmittel, die an die „magischen Experimente der Alchimie“ gemahne; sie suche eine Synthese, die die „sublimsten Errungenschaften einer Überkultur“ und die „verborgensten Leiden der inneren Nacht“ in ihre Form einbeziehe: Niemals sei eine Epoche dem Künstler günstiger gewesen, was die Notwendigkeit und den direkten, praktischen, den „sanitären Nutzen“ seiner Kunst betreffe; niemals aber sei der Künstler auch „so grausam in sein eigenes Selbst zurückverwiesen.“45 Dasjenige, was Ball mit dem Begriff der „therapeutischen Ästhetik“46 aufgreift und unter Rückgriff auf Otto Ranks Studie Der Künstler (1918) ins Auge fasst, meint, dass sich in der literarischen Praxis die Freisetzung ihres Spiels in ihrer semantischen Zerfaserung erweist, wodurch sich der Künstler (wiederum nach Ball) in die „innerste Alchimie des Wortes“ zurückziehen kann, das Wort „preis geben“ kann und so der Dichtung „ihren letzten heiligsten Bezirk“ bewahrt.47 Der Ausdruck einer solchen Bewegung vermag der spieltheoretische Diskurs so zu sein, dass er darauf verzichtet, sie diskursiv vollständig zu artikulieren. Recht verstanden sind Balls Hinweise im Hinblick auf die Konturierung ludischer Literatur richtungweisend, wie sich insbesondere vor dem Hintergrund entsprechender Spieltheoreme zeigt. Die Spannung zwischen dem auszumessen, was ein 43 Ebd., S. 116 f. 44 Die „magische Lebenschiffre“ der „radikalen Avantgarde-Kunst, DADA“ fixiert, so Christoph Schmidt, die beiden extremen Pole des eigenen Lebenswerks und dessen Etappen als eine Transformation, in der der Anspruch der radikalen ästhetischen Subjektivität auf absolute Emanzipation von der Tradition und ihrer normativen Verfassung zu deren Suspension führe, um von hier die „wahre Revolution“ dieses Subjekts als ethisch-theologisches Subjekt einzuleiten (vgl. Schmidt: Apokalypse des Subjekts, S. 7). 45 Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit, S. 117. 46 Ebd., S. 199. 47 Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 106.

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ludisch-literarischer Text ‚predigt‘, und dem, was er ‚praktiziert‘, zwischen seiner Bedeutung und seinen sprachlichen Mustern, seinem Spiel mit der Sprache, ist Aufgabe einer Forschung, die sich ausführlicher dem Gegenstand ludischer Literatur widmen will.

III. Der Beitrag hat es deshalb als sein Anliegen verstanden, Perspektiven für ein solches Forschungsfeld zu entwickeln. Es ging dabei auch darum, auf die Notwendigkeit nachfolgender Untersuchungen aufmerksam zu machen, die die ludische Literatur in Textlektüren als solche überhaupt erst fassbar machen und darüber hinaus deren Genese (möglicherweise auf der Grundlage meiner Ausführungen) darstellen. Von dieser Überlegung her lassen sich mit Blick auf zukünftige Forschungsvorhaben folgende Leitfragen formulieren: Welchen nachhaltigen Beitrag leistet ludische Literatur (1.) zur Literaturgeschichte? Und welches Potential bietet die ludische Literatur (2.) für die Interpretation von Literatur überhaupt? Für eine derart perspektivierte, weitergehende Beschäftigung mit Theorie und Praxis ludischer Literatur, so meine Abschlussthese, wird Walter Benjamin zum Orientierungspunkt. Denn dieser hat ja in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) die einschneidenden Veränderungen, die die Kunst im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts erfährt, mit dem Begriff des Verlusts der Aura beschrieben und diesen wiederum aus den Veränderungen im Bereich der Reproduktionstechniken zu erklären versucht. Gerade dies steht in einem, vor dem dargestellten Horizont explizit deutlich werdenden Zusammenhang zum Spiel. Wenn Benjamin von einem bestimmten Typus der Beziehung zwischen Werk und Rezipient ausgeht, den er auratisch nennt (eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“48), dann geht es hier auch um ein kultisch-spielerisches Ritual.49 Die Künstler der Avantgarde, besonders die Dadaisten wie Hugo Ball, haben, so Benjamin, Effekte der Reproduktion zu erzeugen versucht: Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. [...] Ihre Gedichte sind Wortsalat, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist

48 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 53. 49 Vgl. dazu auch Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 36.

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eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal der Reproduktion aufdrücken.50

Die Avantgarde erprobt an einzelnen ‚Produkten‘, Kunst, Kunstwerk und Künstler von jener Zeitkrankheit zu heilen, und zwar in einer evident spielerischen Erfahrungs- und Geltungsdimension, von der wiederum Schiller schreibt, der Mensch werde durch sie „unwiderstehlich ergriffen und angezogen“ und befinde sich in einem „Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung“; es entsteht „jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Nahmen hat.“51 Die ludische Literatur entfaltet sich aus einem durchaus emphatischen Konzept von Poetik und Ästhetik, dem im Kontext der avantgardistisch-dadaistischen Programmatik seine Brisanz zukommt, wohl deshalb, weil ihr auf dem Feld Dadas mit dessen unberechenbaren Wendungen größte spielerische Sprengkraft zukommt.

Literatur Bachtin, Michael: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M. 1999. Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichtung. Frankfurt a.M. 1988, S. 39 f. Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit. In: Ders.: Künstler und Zeitkrankheit, S. 102-149. Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. Zürich 1992. Ball, Hugo: Das erste dadaistische Manifest. In: Ders.: Künstler und Zeitkrankheit, S. 39 f. Bätzner, Nike (Hg.): Faites vos Jeux! Kunst und Spiel seit Dada. Ostfildern-Ruit 2005. Bätzner, Nike: Kunst als spielerischer Handlungsraum. In: Dies. (Hg.): Faites vos Jeux!, S. 19-29. Bellmer, Hans: Die Puppe. Die Spiele der Puppe. Die Anatomie des Bildes. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1976. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 1963, S. 7-63. Bergius, Hanne: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen 1989. Borgards, Roland: Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik. In: Schiller-Jahrbuch 51, 2007, S. 268-286. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Wien 1982. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M. 1977. Eco, Umberto: Vorwort zur zweiten Auflage. In: Ders.: Kunstwerk, S. 7-24. Eco, Umberto: Poetik des offenen Kunstwerks. In: Ders.: Kunstwerk, S. 27-59. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 202006. 50 Benjamin: das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 43. 51 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 64.

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Janz, Rolf-Peter: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 610-625. Lüthy, Michael: Der Einsatz der Autonomie. Spieldimensionen in der Kunst der Moderne. In: Nike Bätzner (Hg.): Faites vos Jeux!, S. 37-46. Luyken, Gunda: Zur Strategie des dadaistischen Spiels. In: Nike Bätzner (Hg.): Faites vos Jeux!, S. 55-63. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Heidelberg 2000. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen. Hg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2006. Schmidt, Christoph: Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball. Bielefeld 2003. Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels. Frankfurt a.M. 2000.

Barbara Wildenhahn

Maskenball Spiel und Fiktion bei Alfred Döblin „Dichten heißt“, so formuliert es Alfred Döblin 1929 in Der Bau des epischen Werks, „zum Beispiel sich loslassen, spielen“. Unter Abschnitt VI. Schilderung des Inkubationsstadiums im heutigen epischen Produktionsprozess beschreibt er detailliert, wie er sich dieses Spiel, das die Genese des Werks zum Inhalt hat, vorstellt: Während im Inkubationsstadium der Autor noch identisch ist mit seinem Werk, trennt sich dieses im Moment der ersten Konzeption von ihm: „Jetzt sieht das Ich, was es vor sich hat. [...] Es betrachtet dieses Wesen und – nimmt Stellung zu ihm“. Von diesem Augenblick an sieht Döblin eine Kooperative im Entstehen, eine Zusammenarbeit zwischen dem Ich und der dichtenden Instanz, in dessen Verlauf das Ich, der Mitarbeiter, [...] seine führende Haltung gegenüber dem Werk [verliert], es legt Masken an, es erleidet sein Werk, es tanzt um sein Werk herum. Das Ich ist in die Spielsituation des entstehenden Werks einbezogen und hat wenigstens zum Teil die Kontrolle verloren.

Die Terminologie von Spiel, Tanz und Maskerade, die Döblin hier zur Beschreibung des literarischen Produktionsprozesses heranzieht, dient nicht nur der bildlich-metaphorischen Illustrierung des komplexen poetischen Produktionsprozesses. Vielmehr werden mit ihrer Hilfe Kategorien bestimmt und entwickelt, denen im Zusammenhang von Döblins ästhetischem und erzählerischem Werk über Jahrzehnte hinweg eine poetologische Funktion zukommt: Maskierung, Tanz und Spiel stehen für ein Bewusstsein, das zur Quelle und zum Maßstab von Fiktionen wird. Ihre durchaus positive Produktivität im vorausgegangenen Zitat aus der 1929 entstanden Abhandlung verstellt indes die Komplexität, der diese Begriffe in Döblins literarischer und poetologischer Entwicklung unterworfen sind. Denn nur unter bestimmten Bedingungen entwickeln Spiel, Tanz und Maskerade den – zuletzt – produktiven Gehalt, auf den Der Bau des Epischen Werks setzt. Im Zentrum von Döblins Aufmerksamkeit steht dagegen zunächst eine andere Dimension dieser Konzeptionen: ihre Verstellungs- und   

Döblin: Bau des epischen Werks, S. 234. Ebd., S. 232 f. Ebd., S. 234.

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Täuschungsleistung, ihre Ablenkung von dem, was ‚ist‘. Als solche rufen sie Döblins kategorische Ablehnung hervor und werden zum Ausgangspunkt eines poetologischen Programms, das wesentlich Fiktions-Kritik ist. Es findet sich entwickelt und realisiert in Texten Döblins, deren Entstehungszeit sich über fast dreißig Jahre erstreckt: in seinen frühen publizistischen Schriften – Der deutsche Maskenball und den von den Herausgebern unter der Bandbezeichnung Schriften zu Politik und Gesellschaft herausgegebenen Texten – sowie in der für seine Poetologie grundlegenden Abhandlung Der Bau des epischen Werks und seinem letzten, erst 1946 entstandenen Roman Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende.

1. Der Deutsche Maskenball von Linke Poot Als Döblin in Der Bau des epischen Werks sein poetisches Programm ausformuliert, hat dieses – und das übersieht eine Forschung, die den Text als Vorbereitung und quasi Nebenprodukt zu Döblins im gleichen Jahr erschienenen Roman Berlin Alexanderplatz liest – eine erste Realisierung bereits gefunden. Der Bau des epischen Werks ist weniger das Programm, das es für Döblin zu dieser Zeit oder später umzusetzen gilt, als vielmehr bereits ein Ergebnis: Sein Begriffsfeld, das in der Rezeption viel Beachtung gefunden hat, ist kein originäres, sondern findet sich entwickelt in den frühen publizistischen Texten Döblins. Insbesondere gilt das für die Textsammlung, die Döblin 1921 als Auswahl aus seinen zwischen Juni 1919 und Mai 1921 in der Neuen Rundschau erschienenen Glossen veröffentlicht, und der er den Titel eines ihrer Artikel gibt: Der Deutsche Maskenball. In der Konfrontation von nationaler Referenz und rituell-ekstatischem Tanzgebaren scheint der Zusammenhang für den Rezipienten in ganz ähnlicher Weise bestimmt, wie durch Heinrich Heine in der Harzreise und den Französischen Zuständen: Tanz als Karnevalisierung des Realen, als Medium des politischen Gegenliedes scheint zur politischen Metapher und zum Sinnbild einer Essayistik zu werden, die den Zwang zur Politik erfährt. Obwohl eine solche Verwendung Döblins politischer Zielsetzung durchaus angemessen wäre, richtet sich seine Aufmerksamkeit nicht auf das subversive, die hierarchische Ordnung karnevalesk auflösende Potential von Maske und Spiel. Betrachtet man zunächst die in der Sammlung vereinigten Texte, so fällt auf, dass von den elf in ihr enthaltenen Stücken drei schon im Titel Institutionen von Spiel und Maskierung zitieren: Außer der titelgebenden Glosse Der deutsche Maskenball, sind das Himmlisches und irdisches Theater und Revue. Ein viertes Stück erinnert mit dem Titel Dionysos an den Gott der Freude, des Rausches, der Verwandlung und der Ekstase im antiken Griechenland. Nicht auf diese Stücke beschränkt sind die zahlreichen Thematisierungen und Referenzen von Spiel in seinen verschiedenen

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medialen und inszenatorischen Erscheinungsformen: Revuen, Tanzvergnügen, Kabaretts und vor allem die Vorstellungen in den Schauspielund Lichtspielhäusern ziehen sich durch die Texte der Sammlung. Spiel und spielerisch sind sie alle im Sinne der Definition, die Johan Huizinga 1938, und damit durchaus zeitnah, in Homo ludens formuliert: Als freiwillige Handlungen oder Beschäftigungen innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum sowie nach freiwillig angenommenen Regeln, die ihr Ziel in sich selbst haben und begleitet werden von einem Bewusstsein der Differenz zum gewöhnlichen Leben. Döblin steht, das wird die Parallelisierung seiner Publizistik mit Der Bau des epischen Werks zeigen – und das macht die Metaphorik von Spiel und Maskerade bei ihm so bedeutend –, in der Tradition der zahlreichen Versuche, die das Spiel als „Paradigma sogenannter ‚poietischer‘ Prozesse im Gegensatz zu gesellschaftlichen Handlungszwängen“ betrachten und die mit seiner Hilfe „den Bereich wie auch die Strategien der Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse zeitgenössischer Kunst in ihrer Offenheit und Polyvalenz“ bestimmen. Während Autoren um 1900 überwiegend das produktive Potential des Spiels zur Beschreibung der autonomen und selbstreferentiellen ästhetischen Strategien kreativer Prozesse entdecken und das Spiel zum Paradigma ästhetischer Prozesse erheben, ist Döblins Blick der Umgekehrte: Der Anspruch, die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Realität literarisch-publizistisch darzustellen, begründet seine Skepsis allem Spielerisch-Inszenatorischen gegenüber. „Ich bin kein Freund des Theaters, besonders nicht der Tragödie“, stellt gleich im ersten Text des Deutschen Maskenballs der Erzähler fest, der, wie in den anderen Texten auch, als Ich auftritt und damit der sprachlogischen Struktur eines Wirklichkeitsberichts unterliegt. Auf der Suche nach eine „Poesie jenseits der Illusionen“ bewegt sich dieser Linke Poot durch die Theater Berlins. „Der Mensch hat sich“, so die durch diverse Vorstel   

 

Huizinga: Homo ludens, S. 45. Wetzel: Spiel, S. 577. Döblin: Maskenball, S. 11. Was bei der Analyse zweifelsfrei literarischer Texte längst selbstverständlich ist, muss für Publizistik noch betont werden: Ihr Ich verweist nicht auf den empirischen Autor, sondern auf den Bericht eines Erzählers, ein Alter Ego, dessen Distanz zum Autor unterschiedlich groß sein kann. Für eine Publizistik, die in kritisch-essayistischer Form Wirklichkeitsauffassung vermitteln will, bietet sich die Ich-Perspektive wegen ihres spezifischen Weltverhältnisses besonders an. Döblin: Maskenball, S. 122. Bei der Theaterinszenierung, die unter diesem Anspruch steht, handelt es sich um Cäsar und Kleopatra von Shaw im Deutschen Theater, „das Stück, das durch seine nonchalante Nüchternheit, seine burleske Nüchternheit zu einer Poesie jenseits der Illusionen kommt. Es gibt auch Poesie ohne romantische Requisiten, sogar in Gegenwart und unter Beteiligung von Kurszettel, Berechnungen, geschäftlichen Besprechungen“ (S. 122). Der Besuch endet aber damit, dass der Erzähler, der über keine Platznummer verfügt, hin und her gestoßen und getrieben wird von einem amüsierwütigen Publikum, das sich als „wampige, wabblige,

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lungen nicht zu widerlegende Erkenntnis „diese tragischen Spiele aus seiner wüstesten Periode zurückbehalten“, dabei ist doch „so dumm wie die Helden der Tragödie selten ein Mensch“.10 Diese sind nichts als die Marionetten eines Dramatikers, dem das Fatalistische liegt: „Ihm ist alles klar, er bewegt seine Marionetten, weil er sich als Fatum fühlt“.11 Theaterstücke vollziehen sich, so der Tenor auch in den übrigen Artikeln der Sammlung, in der Distanz und bleiben ohne existentielle Relevanz: „Fern von mir vollzogen sich Tragödien, Komödien. Sie traten mir nicht zu nah. Sie ließen mich leben“12 heißt es auch über das Kino, das sich Alfred Döblin zum strukturellen Vorbild seiner Romane erwählen wird. Im Eingangstext mit dem Titel Kannibalisches konfrontiert Döblin dann auch die „unreine Lust am Tragödientöten von Menschen“13 mit der Erschießung eines jungen Mannes durch Soldaten in einem Kirchhof. „Die Vorstellung“ konstatiert Linke Poot beim Anblick des Toten „ist verdammt schwer. Man ist unleugbar erschreckt“14. – „Die wildesten Geschichten“, das ist sein unvermeidliches Fazit „werden aus der Stadt erzählt“.15 Sie nehmen sich, wie Walter Benjamin sagt, das gelebte Leben zum Stoff:16 „Das ganze Leben muss durchwühlt werden“ befindet Linke Poot, „man kommt nicht mehr aus mit Geplänkel“.17 Das Theater dagegen befriedigt und stellt ruhig, es macht – das betont der Erzähler in der Tradition des Juvenalschen panem et circenses – „satt“18 und „fast fromm“19 und es raubt, was das Entscheidende ist, den Menschen „das bisschen Vernunft, das Gott oder ein Funktionär von ihm“20 ihnen gegeben

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schaukelnde, wogende, wulstige, schwulstige Masse Mensch, Unmasse Mensch, Unmasse Unmensch“ (S. 123) erweist und wieder als „Getier“ und „Horde“ (S. 124). – Am Ende setzt sich dieser Erzähler „hinter Menschenmauern, im Winkel, hinter einer kühlen Säule [...] auf die Erde. Ein Buchexemplar des Stückes zog ich aus der Tasche, las es in großer Ruhe“ (S. 124). – Das Spiel auf dem Theater samt seines Publikums ist diesem Erzähler unerträglich: Das Theaterstück kann nicht öffentlich und in seiner Inszeniertheit gesehen, sondern nur einsam gelesen werden. Döblin: Maskenball, S. 11. Ebd., S. 112. Ebd., S.  65. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21. Ebd., S. 15. Vor diesen Geschichten, die weder Distanz noch Illusionierung erlauben, versagt das Theater wie die literarische Form insgesamt: „Wo seid ihr jetzt, ihr Gebildeten, ihr Geistigen, ihr Dicketuer? Ihr Großmäuler! Zum Kotzen seid Ihr allesamt. Mit euren albernen, modernen Theaterstücken, euren Gedichten, auf die ihr euch Gott weiß was einbildet, euren blödsinnigen neuen Ausdrucksformen. Ihr könnt nicht einmal das Älteste einfach ausdrücken: die Wut und den Schauder eines Mannes über eine solche Missetat“ (ebd., S. 23). Benjamin: Der Erzähler, S. 449. Döblin: Maskenball, S. 96. Ebd., S. 12. Ebd., S. 65. Ebd., S. 11.

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hat. Dementsprechend pessimistisch ist die Einschätzung der Besucher „der Kabaretts, der Musikcafés, dieser Tanzvergnügen“, die sich wiederholt zur entmenschlichten Herde reduzieren: „Müde, als wäre man eine bröcklige Lehmfigur, legt man das Geld der grinsenden Kassiererin vor, schleicht in den dunklen – Stall“21 heißt es über die Besucher eines Kinos und an anderer Stelle: „Dionysos ruft. Die Menschen laufen zum Lustgarten, zur Siegessäule, zum Wilhelmsplatz. Sie wiehern fast wie Pferde bei der Musik“.22 Was sich hier ereignet, sind Spiele ohne Spieler. Denn diese Menschenherde unterliegt Regeln, die sie sich nicht freiwillig und nicht einmal selbst gesetzt hat und zu dem für Huizinga mit dem Spiel verbundenen „Gefühl der Spannung und der Freude“23 ist sie gar nicht mehr in der Lage: „Sie können sich nicht vergnügen. Es ist ihnen nicht gegeben [...]. Sie haben ihre – soll man sagen, Heiterkeit in der Fabrik, im Bureau“24 – also dort, wo nicht das Spiel herrscht, sondern dessen Gegenteil, die ernste Arbeit. Ein Volk ersteht aus den Texten Linke Poots, das um seine anthropologische Spiel- und Amüsierfähigkeit betrogen wird. „Dionysos!“ so stellt der Erzähler fest, der sich diesem Volk verbunden fühlt, „er war einmal ein Revolutionär“25 – in der Gegenwart jedoch ist er ein Knecht der Macht, der für die herrschende Regierung und ihre administrativen Strukturen das Volk von seinen Problemen ablenkt. Spiel, Maske und Täuschung stehen somit im Dienst einer Staatsform und ihrer organisierten Amüsements. Dabei entwickelt sich die Szenerie, darin den Satiren Juvenals folgend, vor dem Hintergrund der ersten formal funktionsfähigen Republik auf deutschem Boden. Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen weit eher als strukturelle Kontinuität überwunden geglaubter Strukturen denn als wirklicher Neuanfang. Ihren Höhepunkt erlebt diese Argumentation, wenn in der titelgebenden Glosse Der deutsche Maskenball, die im Mai 1920 in der Neuen Rundschau erscheint, das politische System selbst zum Protagonisten eines Spiels wird, dessen Zustand sich an seiner Maskierung offenbart. So erscheint auf dem Ball als prominenter Gast das Heilige Römische Reich, maskiert mit „schweren republikanischen Stiefeln“ und dem „falsche[n] Gebiss des Parlamentarismus“.26 Gelegenheit, den „Kappstreich“27 als den Putschversuch zu erkennen, der er zweifelsohne war, bietet nur seine kurze Demaskierung während einer Tanzpause des Balles: Es „war kein Putsch. Sondern erstens eine Tatsache, zweitens eine Demaskierung. Diesmal eine richtige Entlarvung. Jedoch 21 22 23 24 25 26 27

Ebd., S. 26. Ebd., S. 34. Huizinga: Homo ludens, S. 46. Döblin: Maskenball, S. 27. Ebd., S. 34 – Hervorhebung von B.Wi. Ebd., S. 97. Ebd., S. 96.

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nur für zwei Minuten. Der Ball geht weiter. [...] Der Bürger bezahlt“.28 Ähnlich verhält es sich mit der „Affäre Lüttwitz [auch sie] war eine kurze Demaskierung“29 der vermeintlichen Republik. So herrscht auf dem Ball eine „geheimnisvolle, rätselgeschwängerte Situation“ voller „geheimnisvoller Wesen“, denen es „auf die Schliche zu kommen“30 gilt. Eher beiläufig „war auch eine Republik da“.31 Obwohl im Gegensatz zu den anderen Besuchern des Balls nicht maskiert, gibt sie Rätsel auf: „Man wusste nicht, was man damit anfangen sollte“,32 welche Bewandtnis es mit ihr hat, weil sie „ohne Gebrauchsanweisung“33 gebracht worden war. In dieser Atmosphäre inauthentischer Setzungen regiert die Illusionierung den Betrachter, der seine sinnliche Wahrnehmung ständigen Täuschungen unterworfen sieht. Wo er entsetzt bemerkt, „das Ganze sähe einer Diktatur zum Verwechseln ähnlich“ wird er beruhigt: „das sähe nur so aus.“34 In der kritischen Distanz zu den herrschenden Verhältnissen werden nun dem Erzähler Linke Poot Spiel, Tanz und Maskerade zum Movens, aus dem er seine ästhetischen Kategorien entwickelt. Denn die Wirklichkeit unterliegt auch im vorliegenden Text den gleichen Themen und Strukturen wie das Theater: „Gerhard Hauptmann hat eine dramatische Phantasie ‚Der weiße Heiland‘ geschrieben. [...] Der Kaiser der Mexikaner, den verheißenen weißen Messias erwartend, erlebt seine Desillusionierung; das Christentum wird entlarvt. Es sieht so aus: entlarvt“.35 Es gewinnt also offensichtlich eine Zuständigkeit für beide Bereiche, wenn der Erzähler Linke Poot verkündet: „Ich protestiere gegen schwindelhafte Fiktionen, gegen die falschen Maßstäbe und Konstruktionen [...]. Ich lobe allemal die Realität gegen den Traum“.36 In der Doppeldeutigkeit des Schwindels kommen Maskenball und literarische Fiktion zur Deckung: Als einerseits das subjektiv erlebte Drehgefühl, die Scheinbewegung zwischen sich und der Umwelt zum Beispiel in Folge des Tanzens, und als Lüge andererseits, bei der ein Sender, obwohl er die Unwahrheit seiner Aussage kennt, diese doch in der Absicht äußert, dass ein Hörer sie für wahr hält und glaubt. Über den vorliegenden Essay hinaus bestätigt Der Bau des epischen Werks diesen Zusammenhang. Ein knappes Jahrzehnt später, 1929, formuliert Döblin hier ganz ähnlich: „Es ist ein Schwindel mit verteilten Rollen. Man macht mich darauf aufmerksam: das ist ‚Kunst‘, aber ich bedaure schon sagen 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd., S. 96. Ebd., S. 105. Ebd., S. 100 f. Ebd., S. 99. Ebd. Ebd., S. 100. Ebd., S. 98. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95.

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zu müssen, daß es für mich zunächst die Tatbestandsmerkmale eines ganz dummen Schwindels hat“.37

2. Der Bau des epischen Werks Gegenstand der Kritik bei dieser Formulierung ist nicht ein Maskenball, dem sich ein entgeisterter Linke Poot als Zuschauer ausgesetzt sieht, sondern der zeitgenössische Roman, gegen den der Autor Döblin ein der Moderne gemäßes episches Erzählen zu profilieren versucht. Der strukturellen Ähnlichkeit der Erkenntnisgegenstände entspricht die Ähnlichkeit im Vokabular ihrer Bewältigung. Gegenstand im Bau des epischen Werks ist der zeitgenössische Roman in seiner „Plumpheit und Schwere“,38 der anstatt zu berichten „nur einen Bericht imitiert“.39 Für ihn gilt, was Döblin für Kunstwerke insgesamt feststellt: „Wir haben die Kunstwerke aus der Realität in das Reich der Illusionen, sagen wir einfach: in das Reich der Täuschung gestoßen“.40 Es klingt nach dem Linke Poot des Deutschen Maskenballs wenn Döblin verkündet: „Ich bin schon an sich gegen Imitationen“ und sich dagegen verwahrt, in der Dichtung sei geradezu zwangsläufig „doch alles nur Schein, Illusion“.41 Die Realität, die Linke Poot durch das Tanzgeschehen hindurch vergeblich zu erkennen versucht, findet auch Döblin im Roman durch die Imitation ihrer selbst ersetzt: Die „Romanschriftstellerei [...] imitiert, ohne in die Realität einzudringen oder gar zu durchstoßen, einige Oberflächen der Realität“.42 Die Fiktion ist also wie ihre spielerischen Inszenierungsformen im Deutschen Maskenball bei Döblin mit dem Anschein des bloß Trügerischen behaftet. Es ersteht in ihr eine „Welt des fingere“43 – im Sinne des dem römischen Denken entsprungenen ästhetischen Leitbegriffs – d.h. eine Welt des durch trügerische Handlungen und Sprachhandlungen bewirkten Trugs der Sinne und des Urteils.44 Döblins Ablehnung des Fiktiven im Zeichen von Begriffen wie Lüge, Illusion und Täuschung hat ästhetische Tradition. Auf die „Unschuld der Fiktion“45 in der römischen und griechischen Antike folgt in der Geschichte des Fiktionsbegriffs ihr Problematischwerden mit dem Aufkommen des Christentums. Der strenge Wahrheitsanspruch der Evangelien macht die 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 217. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 222. Ebd., S. 216. Ebd., S. 220. Ebd., S. 217. Ebd., S. 219. Stierle: Fiktion, S. 402. Ebd. Ebd., S. 381.

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Differenz von Wahrheit und Fiktion in bisher unbekannter Weise virulent. Er erhebt die Fiktion, als Ablenkung vom Wesentlichen, in den „Anklagestand“.46 Der Deutsche Maskenball belegt die skeptische Distanz, die Linke Poot zur Idee eines ästhetischen Eigenwerts der Fiktion hält. Ein solcher verflüchtigt sich in der eigensinnigen Entgegensetzung von Lüge – als Schwindel, Täuschung, Illusion und Imitation – und Wahrheit. „Ist aber die Wahrheit unsterblich, so haben Fiktion und Lüge keine Dauer“47 heißt es schon bei Petrarca und hier wird deutlich, aus welcher Tradition heraus Linke Poot argumentiert: „Wahrheitszwecken dienen [...] Fiktionen von Haus aus nicht“48 formuliert er im Deutschen Maskenball. Die „wahre Sphäre [...] des spezifisch epischen Berichts“49 ist Döblins Ziel auch im Bau des epischen Werks. Sie setzt er dem imitierten Bericht und der imitierten Realität des zeitgenössischen Romans entgegen: „Der wirklich Produktive aber muss zwei Schritte tun: er muss ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, ihren Geruch und dann hat er die Sache zu durchstoßen, das ist seine spezifische Arbeit“.50 Der epische Erzähler, dessen Arbeitsprogramm hier entwickelt wird, knüpft für Döblin an die epische Tradition „in der Frühzeit der Dichtung, das heißt der Menschheit überhaupt“ an, in der „Berichten hieß, ‚Wahres berichten‘“.51 Nur dann kann gelten, was Döblin als Ergebnis unter Abschnitt I. Das Epische Werk berichtet von einer Überrealität setzt: „Die Kunstwerke haben es mit der Wahrheit zu tun“.52 Die unverstellte Realität – die den Gegenbegriff zur Fiktion bildet – und die Wahrheit, die sich das epische Erzählen zu seinen Maßstäben erhebt, werden ergänzt, und auch hier klingt der Deutsche Maskenball nach, durch den Glauben an die Zuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmung und die Wahrheit des Berichteten. Dieser Glaube fehlte Linke Poot als Erzähler des Maskenballs, aber auch angesichts rein literarischer Dokumente – bei denen „jeweils muß hinzugeschrieben werden, wer es glaubt, wie und warum“53 – und als Besucher der städtischen Lichtspiel- und Schauspielhäuser. Anders als in den zeitgenössischen Romanberichten, „wo der nicht glaubt, der berichtet, und der es hört, glaubt es auch nicht“,54 gilt für das Epische Erzählen: „Zum Bericht gehörte der Glaube“.55 Dieser Zusammenhang begründet das spezifische Verhältnis zwischen dem Produzenten 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 389. Petrarca: De vita solitaria. Zitiert nach Stierle: Fiktion, S. 399. Döblin: Maskenball, S. 95. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 221. Döblin: Maskenball, S. 95. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 217. Ebd., S. 220.

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und dem Rezipienten des episch Erzählten: „solch Bericht fordert von mir, von dem Leser oder Hörer auch einen Glauben, so dass es sich dann also, unter Umständen, wieder lohnt, zu schreiben, da nun wieder ein ehrliches Verhältnis, auf begründetem Vertrauen beruhend, zwischen Autor und Hörer hergestellt ist“.56 Worin nun gründet dieser spezifische Glaube an die Wahrheit des epischen Berichts in einer Zeit, von der Döblin formuliert: „Bei uns heute aber liegt es so: es wird nicht geglaubt, Realität, Phantasie und Wunschbegehren werden scharf und nüchtern auseinandergehalten“57? Und in der Romane, die „erlegen [sind] dem Rationalismus und der naturwissenschaftlichen Epoche“,58 diesen Zustand nachhaltig bestätigen und festschreiben? Döblin betont, dass in der Zeit, von der die Epen berichten, „Realität und Traum und Phantasie viel weniger getrennt [waren] als heute“, wo man allenfalls noch „bei einer Anzahl einfacher Menschen diesen kindlichen Urzustand der Vermischung“59 antrifft. Was Döblin hier wiederbelebt sehen möchte, ist, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Produzenten und Rezipienten, ein annähernd mythisches Weltverhältnis: Was nun irgendeinen erfundenen Vorgang, der die Form des Berichtes trägt, aus dem Bereich des bloß Ausgedachten und Hingeschriebenen in eine wahre Sphäre, in die des spezifisch epischen Berichts hebt, das ist das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren, die geschildert werden.60

Der epische Bericht, in dem wie in der Ursprungsgeste der Mythe das Vielfache „in einem einmaligen Geschehen bestätigt, unveränderliche Schöpfung [wird]“,61 wird so zum „Mythischen Analogon“, das Clemens Lugowski beschreibt: Zur Quasi-Mythe, die in formaler Hinsicht mit den eigentlichen Mythen Strukturen der Ganzheit und der Geschlossenheit teilt62 und daraus eine „andere Festigkeit, eine andere Gültigkeit, [...] eine andere dignitas und eine andere auctoritas“63 gewinnt, als die zeitgenössischen Romane, von denen sich Döblin abzusetzen trachtet. Was sich hier argumentatorisch Bahn bricht, schließt unmittelbar an die Thematik von Trug und Glauben, Lüge und Wahrheit, Fiktion und Re56 57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 218. Ebd., S. 220. Ebd., S. 222. Ebd., S. 220. Ebd., S. 218. Jolles: Einfache Formen, S. 114. Vgl. Lugowski: Form der Individualität im Roman, S. 13. „Wir werden künftig von [...] einem mythischen Analogon sprechen. Die künstliche ‚gemachte Welt‘ einer Dichtung, in der sich nun ein mythisches Analogon ausprägt, ist eine Ganzheit. Es ist damit zunächst nichts anderes gemeint, als daß alles ‚Einzelne‘, das in der Dichtung erscheinen mag, sich in einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang, also nicht ohne weiteres als autonomes ‚es selbst‘ findet“. 63 Jolles: Einfache Formen, S. 115.

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alität an, die Döblin seit dem Deutschen Maskenball beschäftigen. Denn die Maßstäbe von Realität, Wahrheit und Glaubwürdigkeit, die sich Linke Poot gegen das Spielerische, Täuschende und Inszenierte zu Maßgaben seines Erzählens, wie Döblin zu Maßgaben des poetologisch gewollten Epischen Erzählens erhebt, schreiben den Status Quo einer „Fiktion im Anklagestand“64 fest. Die Rehabilitierung, die die Fiktion in der Ästhetik nach und nach erfahren hat, vollzieht Döblin nicht mit. – Vielmehr begründet der Verdacht eines bloß Trügerischen auch seine Abneigung gegenüber derjenigen Gestaltungsform der Fiktion, „die in der Neuzeit [....] mehr und mehr zum eigentlichen Paradigma der Fiktion werden sollte: der Roman“.65 – Oder umgekehrt: Das empfundene Ungenügen angesichts eines in der Moderne zum Bewusstsein seiner sprachlichen Natur gekommenen Romans, der sich nun ausdrücklich als Fiktion begreift,66 diskreditiert über die Fiktion hinaus alles, was strukturell ähnlichen Gesetzen unterliegt: Spiel, Tanz, Maskerade und – in Spaß wie Ernst – Täuschendes und Trügerisches. Gegen den Roman, in dem auf diese Weise die freie Erfindung dominiert, sucht Döblin den Anschluss an das klassische Epos. Zu den begrifflichen Paradigmen, von denen sich Döblin abschreibt – und hierin sind die eigentlichen poetologischen Konsequenzen seiner Argumentation zu sehen –, kommt auf diese Weise noch ein weiteres hinzu: Denn die Entstehung des Romans ist dadurch geprägt, dass ihn die eigene narrative Komplexität an das Medium der Schrift und damit an das Buch bindet. Das Buch aber steht in der Moderne „in allen seinen Dimensionen [für] die selbstbezügliche Fiktion, das fiktionale, fiktiv-reale Absolutum“.67 „Auf den heutigen Autor ist das Unglück des Buchdrucks gefallen“68 findet sich dieser Zusammenhang bei Döblin zugespitzt, der in Der Bau des epischen Werks für das Epische Erzählen die „Parole: Los vom Buch“69 ausgibt. Denn Döblin ist auf der Suche nach einer, wie er sie nennt, „wirklichen Sprache“, wenn er programmatisch formuliert: „dem Epiker, der schreibt, entgehen die wichtigsten formbildenden Kräfte der Sprache“.70 Walter Benjamin, der unter der Überschrift Krisis des Romans 1930 eine begeisterte Rezension zu Berlin Alexanderplatz schreibt, vernimmt aus dieser Aussage Döblins die „Stimme des geborenen Erzählers“.71 Als Vermittler des mündlich Tradierbaren könne er den Roman vom Buch befreien und

64 65 66 67 68 69 70 71

Stierle: Fiktion, S. 389. Ebd., S. 393. Ebd., S. 421. Ebd., S. 420. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 229. Ebd., S. 245. Ebd. Benjamin: Krisis des Romans, S. 231.

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den Weg weisen aus der modernen Krise des Erzählens.72 Der Gegensatz von Mündlichkeit und Buch, von Erzählen und Schreiben gehört danach in den Bereich der von Spiel und Maske her gewonnenen Dualismen: Illusionismus, Täuschung, Verstellung sowie Schrift und Buch auf der einen Seite, stehen Realität, Wahrheit, Glaube sowie Mündlichkeit und Erzählung auf der anderen gegenüber.

3. Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende Kein Werk Döblins zeigt diesen Zusammenhang besser als sein letzter Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Thematisch und begrifflich weit expliziter als Berlin Alexanderplatz, – für den ein Zusammenhang auch wegen der gemeinsamen Entstehungszeit früh gesehen wurde – schließt sich dieser Roman an die poetischen Vorgaben von Der Bau des epischen Werks an. Als, wie Walter Muschg befindet, „Novellenzyklus von einer Vollendung, wie es ihn bisher in deutscher Sprache nicht gab“,73 entwickelt er sich ausdrücklich zwischen den Polen von mündlichem Erzählen und literarischem Schreiben. Verkörpert wird diese Spannung durch den Schriftsteller Gordon Allison, dem (und hier ist es so aufschlussreich wie ratsam, sich bei der Charakterisierung auf die Wortwahl Walter Muschgs zu verlassen) „Phantasiezauberer [...], der den Zusammenhang mit der Wirklichkeit verloren hat und als schreibendes Ungeheuer seine Familie tyrannisiert“.74 Als der kriegsversehrte Sohn Edward von der Mutter nach Hause geholt wird, verfällt der Vater auf die Idee, ihn durch abendliche Gesellschaften, bei denen Nachbarn und Freunde Geschichten erzählen, ins Leben zurück zu holen. Die Gegensätze von Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion, Trügerisch-Illusionärem und Glaubhaften – auf die sich Döblins Interesse seit dem Deutschen Maskenball richten – sind nicht nur die thematischen Säulen, zwischen denen sich die Handlung des Romans entspinnt, sondern bestimmen auch die Diskussionen der Protagonisten. Nur noch wenige Beispiele sollen das illustrieren: Gegen eine Gleichsetzung des Theaters, an dem sich schon die Fiktionskritik Linke Poots entzündete, mit der Dichtung, auf die es ihm ankommt, hatte sich Döblin in der Der Bau des epischen Werks verwahrt mit den Worten: „Der Zuschauer im Theater glaubt doch auch nicht, nur Kinder oder Bauern fallen gelegentlich darauf rein“. 75 Und Alice ermahnt im Hamlet-Roman fast wortgleich ihren Sohn: „Eddy, bist du denn ein Kind, das ins Theater geht und alles ernst 72 73 74 75

Kiesel: Benjamins Erzähler, S. 158. Muschg: Alfred Döblins ‚Hamlet‘, S. 578. Ebd., S. 575. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 217.

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nimmt, was es sieht?“76 Als Hort des Illusionismus, des Spiels und der Maskerade steht das Theater auch hier wieder der Wahrheit entgegen, nach der sich die Erzähler im Haus der Allisons auf die Suche begeben: „Ich habe keinen Illusionismus gepredigt“77 behauptet der Vater Gordon von sich und verwahrt sich gegen die Idee, Illusionen hätten etwas mit Phantasie zu tun: „Phantasie wird gern mit der Fabrikation von Seifenblasen, von Illusionen, zusammengebracht. Ich bin schon lange anderer Meinung“.78 Vielmehr diene die Phantasie der Herstellung von Wahrheit: „Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf, ja, der Phantasie, um die Wahrheit zu finden. Ihr haltet das für kurios: Phantasie, um die Wahrheit zu ermitteln!“79 Die Wahrheit, die hier entworfen wird, ist eine Wahrheit, die trotz des „Wissen[s]: es ist nicht wahr [...] auf dem sehr stolzen und sehr menschenwürdigen Gebiet der freien Phantasie“80 entspringt und damit „über die gewöhnliche, flache Wahrheit hinweg“81 führt. Zumindest einmal entzündet sich die Debatte um die Kategorien, die Döblin dem epischen Erzählen reserviert, auch in Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende am Beispiel eines Maskenballs. In einer Parallelisierung von Maskenbällen mit abstrakter Malerei heißt es von letzterer – wie bei Linke Poot vom Kino – sie berühre „nur die Netzhaut“ und sei nichts als ein „Nervenkitzel für Ästheten, die nicht weiter behelligt werden wollen“.82 Der Anspruch von abstrakter Malerei, die „Kunst frei und rein zu machen“83 sei, so vertritt es der Diskutant Roddy O’Dowall gegen den Maler Mac Lyne, ein reaktionärer, weil er den Blick von der Gesellschaft ablenke und die Welt um ihre Gegenstände entleere. Darin gleiche sie dem Maskenball, der nur dadurch drollig sein und Laune geben könne,84 dass er die Realität und insbesondere ihre Widersprüche durch eine illusionäre Äußerlichkeit verstelle. Wie im Deutschen Maskenball wird deswegen auch im Hamlet-Roman das Thema von Maskenball, Demaskierung und Desillusionierung über die hier metaphorisch-illustrierende Funktion hinaus zum ganz konkreten Ziel des gemeinschaftlichen Erzählens.85 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Döblin: Hamlet, S. 116. Ebd., S. 163. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 47. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 221 f. Döblin: Hamlet, S. 48. Ebd., S. 165. Ebd., S. 164. Ebd. S. 165. Vgl. ebd., S. 165 f. Auf das Bekenntnis Mac Lyns: „Auf die Farben kommt es mir an [...]. Um ein Bild zu malen; um ein Kunstwerk zu schaffen“ entgegnet O’Dowall „‚Mit Farben? Man wird Sie kaum daran hindern. Warum soll man nicht Wände, statt sie zu tapezieren, bunt anstreichen? Man kann sich sogar selber in Regenbogenfarben kleiden. Wir machen das gewöhnlich nur auf Maskenbällen. Es ist drollig und gibt Laune. Sie meinen aber etwas

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Über diese Diskussionen, über das therapeutische Erzählen für den Sohn, findet Gordon Allison, zu Beginn des Romans der „Typus des im Unverbindlichen lebenden Literaten“,86 zur Mündlichkeit. Als Personifizierung der „Parole: Los vom Buch“87 vollzieht er einen Medienwechsel, der von seiner Familie ausnahmslos als Fortschritt gewertet wird, als neu gewonnene Fähigkeit: „Wie Vater erzählt. Er hat früher nie erzählt“ stellt der Sohn fest und bekommt von seiner Mutter Alice zur Antwort: „Du weißt, Edward, er schreibt nur“, worauf er insistiert: „Aber jetzt konnte er sprechen. Und wie, Mutter“.88 Auch Kathleen, das zweite Kind der Familie stellt fest, dass der Vater nur wenn er erzählt, „richtig“89 sei. Auf die Frage ihres Bruders: „Sage, Kathleen: Hat dir Vater öfter Geschichten erzählt?“90 antwortet sie: „Das weißt du doch, ist schon lange her. [...] Später hat er es gelassen, leider. Er sagte: jetzt bin ich groß genug und kann Bücher lesen. Bücher lesen ist nicht so interessant. Lange nicht, Edward“.91 Das mündliche Erzählen des Romans weist nicht nur in seiner spezifischen Medialität, sondern auch in seiner selbstreflexiven Charakterisierung zahlreiche der Merkmale auf, die Walter Benjamin – angeregt durch die Lektüre von Berlin Alexanderplatz, und Der Bau des epischen Werks – auf eine Revitalisierung des Epischen im Zeichen höchster Modernität haben hoffen lassen. Dazu gehört die Vorstellung eines, wie es Döblin auch selbst formuliert, auf „Kollektivarbeit von Autor und Publikum“92 gegründeten Erzählens. Anders als im Roman, der seine Inhalte festzuschreiben in der Lage ist und dies not-

86 87 88 89 90 91 92

anderes. Sie reden von Kunst und von Geist. Wenn das Kunst ist, sind wir alle Künstler. Wo soll dabei der Geist stecken oder Geist entstehen? Im Gegenteil: der Geist wird ausgeschaltet. Ihre Kunst mit den bloßen Farben berührt gerade die Netzhaut und bleibt da sitzen. Ein Nervenkitzel für Ästheten und Zuschauer, die nicht weiter behelligt werden wollen. [...] Diesen ist alles Recht, was Sie in der Kunst machen, bloße Farbenmalerei, Sauce ohne Fleisch und Gemüse, oder in der Literatur mit entlegenen Stoffen, wo alles blaß und himmelblau wird, wenn nur nicht gesagt wird: Warum zahlt man Hungerlöhne, warum baut man keine gesunden Wohnungen, warum macht man Kriege und lässt unsere Städte bombardieren? [...] Man braucht den zarten Herrschaften nur auf die Füße zu treten, so schreien sie auf und zeigen ihr schlechtes Gewissen.‘ [...] Der neue Gesellschaftskritiker wies auf den unbeweglichen Hausherrn hin: ‚Herr Allison versteht, was ich meine. Er hat ihrem Auftraggeber, dem Stahlfabrikanten, die Maske vom Gesicht gerissen, indem er auf den Widerspruch zwischen seiner Kanonenfabrikation und dem Ausschmücken eines Hauses mit Ihrer Malerei hinwies. Es ist aber nur äußerlich ein Widerspruch. Innerlich gehören Kanonenfabrikation und Illusionismus zusammen.‘“ Muschg: Alfred Döblins ‚Hamlet‘, S. 575. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 245. Döblin: Hamlet, S. 116. Ebd., S. 139. Ebd., S. 138. Es ist sicher kein Zufall, dass der Vater hier in der von der Tochter als wörtliche Rede zitierten Bemerkung die erste statt die zweite Person benutzt und „Ich“ statt „Du“ sagt (vgl. ebd., S. 139 – Hervorbebung von B. Wi.). Döblin: Bau des epischen Werks, S. 229.

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gedrungen tut, ist dieses Erzählen auf eine nie abreißende Wiederholung angelegt und angewiesen, um nicht vergessen zu werden.93 – Eine solche kollektive Memoria zeichnet die den jeweiligen Erzähler umringende „Gemeinschaft der Lauschenden“94 aus, die sich im Hause Allison wie in einer Versuchsanordnung versammelt hat: „,Die Geschichte‘“ so setzt Gordon Allison gleich am ersten Erzählabend ein „,wurde oft erzählt und ist in die Literaturgeschichte eingegangen‘. [...] Man hatte Edward auf das Sofa nahe des Kamins platziert. Er murmelte: ‚Ich kenne die Geschichte‘. Kathleen hell: ‚Ich auch‘.“ Die Protagonisten des Romans stehen deutlich am Ende einer Kette von namenlosen Erzählern; sie werden in „ihrer Fähigkeit, das Gehörte ihrerseits ‚weiter zu erzählen‘, selbst zu Erzählern“.95 Wenn der Vater den Sohn, der auf Ergebnisse dringt, im Verlauf des Erzählens ermahnt: „‚Nicht so rasch, Eddy. Wir haben alle Zeit, und gar wir Erzähler. Die Stoppuhr tritt erst nach dem Tode des letzten Erzählers in Funktion‘“, so lässt er die epische Breite den Vorzug vor einer linearen Zielgerichtetheit gewinnen und verhilft damit der ‚Dauer‘ zur Bedeutung, die auch für Walter Benjamin „in ganz anderer Weise als für die übrigen Werke der Dichtung ein Kriterium des Epischen“96 ist. Die wenigen Beispiele dürften genügen, um zu zeigen, dass der literarisch-mündliche Dialog im Hamlet-Roman den selben Regeln und Argumentationen unterliegt, wie der publizistische Monolog Linke Poots und das poetologische Programm des Autors Döblin in Der Bau des epischen Werks. Döblin hat die Maßstäbe seiner poetologischen Arbeit mit Hilfe Linke Poots entwickelt. Allerdings, so meine Überzeugung, dient Linke Poot nicht nur zur Einführung von Kategorien und zur Erprobung entstehender Paradigmen, die Döblin erst Jahre später als poetisches Programm formulieren und erst Jahrzehnte später zum Prinzip eines Romans machen wird. Sondern aus der spezifischen Stillage Linke Poots erwächst eine – seine Stellungnahmen zu Spiel, Maskerade und Fiktion komplementierende – Erkenntnispraxis, die ihn zur ersten literarischen Realisierung dessen macht, worüber er spricht. Wofür später die Person Gordon Allisons stehen wird, der Übergang von der Schriftlichkeit zu einem am Mündlichen orientierten Erzählen, findet sich schon zu Beginn der zwanziger Jahre in einem Rollenspiel entwickelt, das sich genau zwischen den bisher skizzierten Antonymen entfaltet. Denn Döblin nutzt das kurzzeitige und am jeweiligen Zweck orientierte Spiel mit wechselnden Identitäten, das die Zeitung eröffnet, indem er zur Unterzeichnung seiner Artikel neben dem Pseudonym Linke Poot auch immer wieder den eigenen Namen, Alfred Döblin, nutzt. – Und in93 94 95 96

Honold: Erzählen, S. 378. Benjamin: Der Erzähler, S. 446. Honold: Erzählen, S. 378 zitiert Benjamin: Der Erzähler, S. 447. Benjamin: Krisis des Romans, S. 235.

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dem er die beiden Erzähler in einer Weise unterschiedlich gestaltet, die sie als die Verkörperung zweier literarischer Prinzipien erscheinen lässt.

4. Die Schriften zu Politik und Gesellschaft Besonders die von den Herausgebern unter der Bandbezeichnung Schriften zu Politik und Gesellschaft versammelten Texte zeigen, anders als Der deutsche Maskenball, das planvolle Nebeneinander der beiden Autorenkennzeichnungen. Für ihre gleichzeitige Verwendung führt die Forschung zu Döblins publizistischen Arbeiten unterschiedliche Erklärungen an. Döblins große Produktivität – das Pseudonym ermöglicht ihm immer wieder den Abdruck gleich zweier Texte etwa in der selben Nummer der Neuen Rundschau – sowie das vermutete Bedürfnis, die eigene politische Meinung zu anonymisieren, sind darunter die prominentesten. Linke Poot und Alfred Döblin treten beide als Ich-Erzähler auf und zeichnen sich als solche aus durch die leiblich-konkrete Verankerung in der Welt, aus der sie berichten. In Linke Poot gestaltet Döblin das eigene Autoren-Ich als ein Verändertes. Noch über die gewöhnliche Distanzierung, die im Text begriffen liegt hinaus, rückt er ihn durch das Pseudonym weg von seiner Person, d.h. von der des Schriftstellers, auf den Alfred Döblin auch als Erzähler noch verweist. Denn als solcher gehört der Erzähler Alfred Döblin dem Bereich des Kulturellen und damit Künstlichen an, und er unterliegt – trotz aller gegenteiligen Bemühungen – den Ansprüchen der Fiktion. Für Linke Poot dagegen entwirft Döblin ein Weltverhältnis, das ihn von diesen Zwängen befreit und ihm den Zugang zu einer wahrhaftigen Realität sichert; er steht für den paradoxen Versuch, mit Hilfe von Kunst und Künstlichkeit, Natur und Natürlichkeit zurückzugewinnen.97 Linke Poot gewinnt mit seinem Erzählen dem literarischen Erzählen Döblins Energien mündlicher Erzählkultur und die damit verbundene Hoffnung auf Realität, Wahrheit und Glauben in der Dichtung zurück: Erzählung als Vorgang und Form,98 als anthropologisches Grundbedürfnis bleibt Linke Poot vorbehalten und bedingt die Differenz zu Alfred Döblin. Hinweise auf eine mündliche statt einer schriftlichen Sprachlichkeit gibt es in den Texten Linke Poots dann auch zahlreiche. In Das Nessushemd von 1921 sind sie explizit und in Form einer mündlichen Bekanntmachung gestaltet: Linke Poot hat sich entschlossen. Wozu? 97 Weihe: Paradoxie der Maske, S. 24 f. 98 Honold: Erzählen, S. 363.

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Zu sprechen. Zu wem? Zum Volk. Wo? Wann? Augenblicklich. Da er heiser ist, in einem Buche.99

Das Schreiben, das Medium des Autors Döblin und des Erzählers Alfred Döblin ist, wird von Linke Poot zum Ersatzmedium herabgestuft. Er spricht die „wirkliche Sprache“,100 nach der Döblin in Der Bau des epischen Werks auf der Suche ist. Diese mit Koch und Oesterreicher als „Sprache der Nähe“101 definierbare Oralität Linke Poots speist sich aus dem Belauschen von Stimmen und Geräuschen, so dass in seinen Texten neben seiner eigenen auch immer wieder andere Stimmen das Wort ergreifen. Damit wird die „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht“,102 schon bei ihm, und nicht erst in Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, zur konstitutiven Quelle seiner Erzählung. Wie die Epiker in der Frühzeit der Dichtung und der Menschheit trägt Linke Poot so „im Volk herumziehend die Fabeln, Schwänke, Sagen, die im Volk umliefen und an denen er selbst zumeist nur wenig arbeitete“,103 zusammen. Nicht nur in der Entstehung, sondern auch in seiner Rezeption ist dieser Erzählvorgang an seinen öffentlichen Rezeptionsort gebunden, für den paradigmatisch der Begriff des Volks steht, von dem Döblin im Bau des Epischen Werks sagt, es forme das epische Werk mit.104 Sinnliches Erleben und sprachliche Wiedergabe fügen sich in den Zusammenhang einer erzählerischen Praxis, an der zu jeder Zeit die „Präsenz der Stimme“105 haftet. Dabei flaniert Linke Poot durch heterogene Erlebnis- und Sprachräume und mischt ungehindert das Private mit dem Öffentlichen: Aus Geräuschen, Musik und Mundartlichem, Plakaten, Reklame und Zeitungsmeldungen entsteht so, was sich wie im Roman so auch in der Publizistik als ‚Montage‘ beschreiben lässt. Ihr bescheinigt Walter Benjamin bei seiner Lektüre von Berlin Alexanderplatz romansprengende Energien im Dienste der Befreiung des epischen Werks vom Buch.106 Von der dokumentarischen Erzählung, die so in den Artikeln Linke Poots entsteht, erhofft sich Döblin, dass sie die kulturelle Entfremdung, die täuschende Maskerade unterläuft. Dabei besteht die Chance Linke Poots, durch die Negierung der Differenz zwischen Realem und Imaginärem ein unideologisch Objektives bereitzustellen, ge99 100 101 102 103 104 105

Döblin: Schriften zu Politik und Gesellschaft, S. 193. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 245. Koch/Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz, S. 15-43. Benjamin: Der Erzähler, S. 440. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 229. Ebd. Honold: Erzählen, S. 377 zitiert Walter Benjamins frühen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen aus dem Jahr 1916. 106 Honold: Erzählen, S. 374.

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rade in der Subjektivität, die aus der Ich-Perspektive erwächst. Er entgeht damit der Gefahr, die auch Theodor W. Adorno für den zeitgenössischen Roman sieht, dass unter der „Geste ‚so war es‘ [...] jedes Wort zum Als ob“107 verkommt. Im Medium seiner Mündlichkeit eröffnet sich Linke Poot ein Zugang zur Realität, der dem Romanautor verschlossen bleibt. Weil in seinem Bericht „nun wieder ein ehrliches Verhältnis, auf begründetem Vertrauen beruhend, zwischen Autor und Hörer hergestellt ist“,108 darf er den Glauben an die Wahrheit des von ihm Berichteten beanspruchen. Welche Rolle verbleibt nach dem Vorausgegangenen nun noch für Döblins zweite publizistische Identität Alfred Döblin? Seine Texte dokumentieren, so lässt sich das Ergebnis vorwegnehmen, das Ungenügen der Schrift und die Unzulänglichkeit des modernen Autors. Anders als in den Artikeln Linke Poots gibt es in denen Alfred Döblins explizite Hinweise auf den Schriftsteller und Arzt. Ein deutlicher Fokus auf gebildete Schriftlichkeit und Literarizität – in Form von Bibliotheken, Büchern oder Zeitschriften – steht der Mündlichkeit entgegen, die wir als Medium der Artikulation wie der Erkenntnisgewinnung bei Linke Poot beobachtet haben. Der Erzähler Alfred Döblin steht, das wird schnell deutlich, zum Ideal eines positiven Wissens, das spätestens seit dem 19. Jahrhundert in Gegensatz zum mündlichen Erzählen gerät. Seine Texte zeichnen sich durch eine größere argumentative Kompaktheit aus, in denen die höhere Reflektiertheit des Erzählers die programmatische und formale Geschlossenheit sicherstellt. Dafür geht die Polyphonie der Straße, die die Texte Linke Poots auszeichnet, in die distanzsprachliche Monologizität eines einzelnen Erzählers über. Dieser berichtet zusammenhängend und zielorientiert, nicht nur im Hinblick auf das argumentative Ziel des Artikels, sondern auch der eigenen Bildungsgeschichte. Im vorliegenden Zusammenhang ist es maßgeblich, dass die sich solcher­ maßen konstituierende Erzählerstimme immer wieder Hinweise liefert, die ihre Identifizierung mit dem von Döblin im Bau des epischen Werks entworfenen modernen Romanautor nahe legen, der mit seiner Bindung ans Buch der Problematik von kultureller Sättigung, Spiel und Fiktion unterliegt. Denn wie wir das am Deutschen Maskenball bereits für Linke Poot beobachtet haben, so wird Döblin auch aus den mit Alfred Döblin unterzeichneten Texten seiner frühen Publizistik fast wörtliche Zitate in den Bau des epischen Werks übernehmen. Sie charakterisieren den Erzähler der Publizistik rückwirkend als den der Schrift unentrinnbar verbundenen, seinem Hörerkreis entfremdeten und damit notwendigerweise einsamen Autor. So heißt es an zentraler Stelle in Die Vertreibung der Gespenster über die Erkenntnisgewinnung und -sicherung des Ich-Erzählers: „Herumgehen in den Straßen 107 Adorno: Standort des Erzählers, S. 44. 108 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218.

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Berlins, Zeitunglesen, Leute anhören“.109 Fast wortgleich taucht nun dieser Satz neun Jahre später in Der Bau des Epischen Werks wieder auf: „Der Autor jetzt“, heißt es dort, „kann auf die Straße gehen [...] die Zeitungen lesen, hie und da herumhören“. Entscheidend ist, dass er nun folgendermaßen weitergeht: „von einem ‚Konnex‘ mit einem Hörerkreis kann keine Rede sein. Wir sitzen alle auf dem Isolierschemel“.110 Die im Medium der Schrift verankerte narrative Komplexität macht die einsame, mittelbare Kommunikation zum Rezeptions- und Produktionsdispositiv.111 Der Ich-Erzähler Alfred Döblin steht – das wird hier deutlich – in seiner engen Verweisfunktion auf den Autor Döblin für den einsamen Romanautor, über den Walter Benjamin formuliert: „Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit“.112 Der Riss zwischen Ich und Welt, dem sich Linke Poot entzieht, lässt diesen Erzähler die „eigene Ohnmacht, die Übermacht der Dingwelt“113 permanent erleben und macht sein Schreiben zur krisenhaften und resonanzlosen Erfahrung. Alfred Döblins Texte sind – auch als publizistische – Produkte jener Romanschriftstellerei, die Döblin im Bau des epischen Werks als eine „solid bürgerliche nützliche gewerbliche Beschäftigung“114 versteht. Dass es ihnen nicht gelingt, zur Realität vorzustoßen, weil sie der kulturellen Vermitteltheit jeglicher Erfahrung unterliegen, markiert Döblin unter subtiler Referenz auf den Deutschen Maskenball: „Die Gesichter dieser Elsässer, als wenn es ein Maskenball wäre“115 formuliert er in Revolutionstage im Elsaß und verortet damit den eigenen Text „bei dem alten Vaihinger, in der Sphäre des Als ob“.116 Die „Sphäre des Als ob“ aber gehört für Döblin zum Bereich von Illusion, Spiel und fiktionaler Maskierung: Denn „diese Erklärung mit der Illusion, mit dem Schein, dem Als ob, damit stellt man“ nach seiner Überzeugung „die Dichtung kalt“.117

5. Dichten heißt spielen Wohin führt uns diese schon zuvor als Rollenspiel bezeichnete Konstellation aus mündlich-epischem Erzähler und modernem, aber einsamen Romanautor? Sie liefert uns – und dazu wäre Gordon Allison weit weniger in der Lage, als es Linke Poot und Alfred Döblin sind – eine Erklärung 109 110 111 112 113 114 115 116 117

Döblin: Schriften zu Politik und Gesellschaft, S. 71. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 229. Stierle: Fiktion, S. 395. Benjamin: Krisis des Romans, S. 443. Adorno: Standort des Erzählers, S. 47. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 219. Döblin: Schriften zu Politik und Gesellschaft, S. 60. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 217. Ebd.

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dafür, warum für Döblin in Der Bau des epischen Werks Maskierung, Tanz und Spiel schließlich doch noch die positive Produktivität entfalten, die ihn dort sagen lässt: „Dichten heißt [...] spielen“.118 Denn dieser Satz steht bisher seltsam quer zu den negativen Implikationen, die dieser Aufsatz für sein Begriffsfeld erarbeitet hat: Merkmale des Spiels wie seine Zweckfreiheit, seine Freiwilligkeit, seine Unabhängigkeit von Realitätszwängen und der fehlende Anspruch, Wahrheiten zu formulieren,119 werden Döblin zu den problematischen Kategorien einer im Unverbindlichen verharrenden Literatur, die sich selbstgenügsam im Als-Ob ihrer Fiktionen einrichtet. Vom Deutschen Maskenball bis zum Hamlet-Roman sind Spiel und Fiktion Paradigmen des Illusionären, Trügerischen und Verlogenen und provozieren die Maßgaben von Realität, Wahrheit und Glauben als produktions- wie rezeptionsästhetische Dispositive. Mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit hat schon der Linke Poot des Deutschen Maskenballs den Anspruch erhoben, aus der trügerischen Welt der Fiktionen herauszutreten und sich zur Stimme der Wahrheit zu machen, die eigenen Texte zum Buch der Wahrheit einer aufgeklärten Moderne. Für das Spielerische und Fiktive scheint bei Döblin dagegen ein Anklagestand festgeschrieben, der jede mögliche Rehabilitierung von vorn herein ausschließt. Diese Haltung mündet in das empfundene Ungenügen eines in der Moderne zum Bewusstsein seiner sprachlichen Natur gekommenen Romans und lässt den Autor Zuflucht nehmen zum Epos, in dem er das Fiktive im Realen verankert, ihm unterworfen und von ihm gebändigt sieht. Die Differenzierungen, die Döblin im Bau des epischen Werks zwischen dem zeitgenössischen Roman und einem Epischen Erzählen vornimmt, findet jedoch, das gilt es sich bewusst zu halten, innerhalb der Diskussion um den zeitgenössischen Roman statt. Döblin ist nicht so naiv zu glauben, er selbst könne – konzentrierte er sich als Autor nur ausreichend auf ein Episches Erzählen – der fortschreitenden Verdinglichung und kulturellen Entfremdung entgehen, der die Romanautoren seiner Gegenwart unterliegen. Diesen Desillusionismus und die Unentrinnbarkeit des einsamen Autors dokumentiert überdeutlich die Rolle, die er derjenigen seiner Erzählerpersönlichkeiten auf den Leib schreibt, die seinen Namen trägt: Alfred Döblin. Das Ziel kann also einzig darin bestehen, das Bewusstsein der eigenen kulturellen Determiniertheit anders zu artikulieren als speziell der naturalistische Roman. Als Fiktion selbst ein Mythos des modernen Bewusstseins, stellt dieser den irreversiblen Riss zwischen Natur und Kultur umso deutlicher aus. „Da glauben sie“, formuliert Döblin in Der Bau des epischen Werks über die angeblich dürftigen und armseligen Naturalisten „das Beste getan zu haben, was sie können, wenn sie möglichst echt und wie die 118 Ebd., S. 234. 119 Wetzel: Spiel, S. 578 ff.

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Natur sind. Als wenn das einer könnte. Die Natur lässt sich weder in den Bauch kriechen, noch hat sie Schleppenträger nötig“.120 Anstatt sich in hoffnungslosen Versuchen zu verfangen, sich mit der Natur gemein zu machen, bemüht sich Döblins Episches Erzählen, dem Widerspruch von Natur und Kultur produktiv Rechnung zu tragen: Nicht die Mythe selbst ist sein Ziel, sondern ihr formales Analogon. Im Hamlet-Roman findet sich dieser Zusammenhang am Beispiel von Malerei konkretisiert: Nicht darin, „der Natur nach[zu]laufen, also derselben Natur, von der wir schon genug haben“ bestünde das Ziel, sondern es ist, „was wir wollen, was wir brauchen, [...] gerade Nicht-Natur, kein Duplikat, nicht noch eine künstliche Natur“.121 Zu den Stilprinzipien dieser Überzeugung gehört zweifellos die Montage, die Döblin in den Texten Linke Poots und vor allem in Berlin Alexanderplatz zur Meisterschaft bringt. Die Kraft, sich „gegen die Verschlossenheit der alten Romane [zu] kehren“,122 die Benjamin an ihr beobachtet, gewinnen die einmontierten Versatzstücke daraus, dass sie als solche immer sichtbar bleiben. Für Döblin ist der Zusammenhang aber ein noch weitergehender: Da Fakta und Dokumente nicht der Bearbeitung durch den sie verwendenden Autor unterliegen – gleichwohl sie selbstverständlich kulturelle Produkte sind –, spricht aus ihnen „der große Epiker, die Natur zu mir, und ich, der Kleine, stehe davor und freue mich, wie mein großer Bruder das kann“.123 Der Dichter begibt sich, das wird hier deutlich, in einen Wettstreit mit der Natur und damit beginnt auch bei Döblin die Rehabilitation der Fiktion. Denn die Frage, die sich ihm im Unterschied zu Linke Poot realistischer Weise stellt, ist nicht die nach einem Vermeiden des Fiktiven, sondern nach dem Umgang mit dem für den modernen Autor unvermeidlichen fiktiven Überschuss. Auf die Herausforderungen einer Natur zweiten Grades, d.h. „Fakta, Dokumente“,124 antwortet er mit einer Fiktion zweiten Grades. Paradigma dieser Fiktionalität – wie nach Wolfgang Iser der Fiktionalität insgesamt – ist für Döblin über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren, vom Deutschen Maskenball bis zum Hamlet-Roman, die Maske.125 Diese ist, dafür ist Döblin ein Paradebeispiel, Ausdruck der unaufhebbaren Differenz von Kultur und Natur und ihrer zum Schein möglichen Überwindung durch die Kunst.126 Mit der Verwendung des Pseudonyms Linke Poot und der Inszenierung zweier Erzähleridentitäten unterwirft sich Döblin den Kompetenzen der Maske zu Täuschung und Entdeckung, die die Person 120 121 122 123 124 125 126

Döblin: Bau des epischen Werks, S. 222 f. Döblin: Hamlet, S. 137 f. Benjamin: Krisis des Romans, S. 233. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 226. Ebd. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 140. Weihe: Die Paradoxie der Maske, S. 24.

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des modernen Autors als Mannigfaltigkeit seiner Aspekte enthüllen.127 Zu verstehen ist nun aber nicht, oder nicht in erster Linie, das Pseudonym Linke Poot als Maske des Autors Döblin, der sich hier seine eigene Rolle konstruiert. Das Bewusstsein des Ich-Erzählers Linke Poot steht im Rollenspiel der Erzähler für das ganzheitliche, wahrhaftige Weltverhältnis, für den unverstellten Kontakt zur Realität. Zu den konstitutiven Merkmalen dieser Welt gehört, dass in ihr Masken, Illusionen und spielerisch inszenierte Täuschungen unbekannt sind. Träger der Maske in ihrer illusionären und fiktiven kulturellen Funktion dagegen ist notgedrungen der moderne Autor. Das gilt auch, und darin ist von Döblins Seite eine durchaus realistische Einschätzung der modernen Produktionsbedingungen zu sehen, für den epischen Erzähler als dem Zielpunkt von Döblins theoretischem und erzählerischem Werk. Dass sich das epische Werk wie Linke Poot in seinen Texten Realität, Wahrheit und Glauben zu seinen produktions- wie rezeptionsästhetischen Maßstäben erheben kann, erklärt sich aus dem Zitat, das diesen Aufsatz eröffnet hat. Denn so wie sich im Werk Döblins Linke Poot und Alfred Döblin, Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Mündlichkeit und Schrift, gegenüberstehen, stehen sich im Verlauf des Produktionsprozesses auch das Ich des modernen Autors und das Wesen des Epischen gegenüber. Was sich in diesem Moment der Gegenüberstellung ereignet, in dem „der Autor nicht mehr allein in seiner Stube“ 128 sitzt, ist nach dem Bau des epischen Werks Folgendes: das Ich, der Mitarbeiter, verliert seine führende Haltung gegenüber dem Werk, es legt Masken an, es erleidet sein Werk, es tanzt um sein Werk herum. Das Ich ist in die Spielsituation des entstehenden Werks einbezogen und hat wenigstens zum Teil die Kontrolle verloren.129

Die Maske, mit der sich der moderne Autor nun verbindet, signalisiert, ganz wie es Weihe beschreibt, „den Auftritt in einer künstlichen Welt, in der die Maske beheimatet ist, einer hergestellten, zeichenhaften Welt. Das Aufsetzen der Maske bedeutet auch die Anerkennung der Regeln dieser veränderten Welt“.130 Daraus ergibt sich nun endgültig das Verhältnis von Alfred Döblin und Linke Poot: Wenn nämlich letzterer, wie ich es annehme, im Werk Döblins das Wesen des Epischen repräsentiert, wird der Erzähler Alfred Döblin – und mit ihm der empirische Autor – zum Mitarbeiter dieses Erzählers Linke Poot. Er wird, wie es Benjamin beschreibt, Teil der „Gemeinschaft der Lauschenden“,131 die den Erzähler umringt und die 127 128 129 130 131

Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 140. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 233. Ebd., S. 234. Weihe: Die Paradoxie der Maske, S. 18. Benjamin: Der Erzähler, S. 447.

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in der Fähigkeit, das Gehörte weiter zu erzählen, selbst zu einem – nun epischen – Erzähler wird.132 Denn das ist es, was das epische Werk vom zeitgenössischen Roman unterscheidet: Dass sich in ihm das Künstliche, Illusionäre, Kulturelle ergänzt sieht durch das Natürliche, Dokumentarische, Glaubhafte. Und dass es die „einfache und exemplarische Sphäre“,133 die Realität und die Wahrheit, die Linke Poot ihm sichert, durch Methoden des Fabulierens, Phantasierens und des Spiels mit der Realität in die überreale Sphäre der Literatur überführt – und zwar dem modernen Wissen und der Wissenschaft zum Trotz:134 „Die überreale Sphäre, das ist die Sphäre einer neuen Wahrheit und einer ganz besonderen Realität“.135 Wo aber das Werk aus dieser Zusammenarbeit hervorgeht, wo „Dichten [...] heißt [...] sich loslassen, spielen, zum Beispiel den Mut haben, inneren Verzauberungen zu erliegen und sich ihnen, formal und inhaltlich, zum Opfer machen“,136 da verliert nun auch die Maskerade ihren Schrecken. Als eine, die die Realität nicht mehr verstellt, sondern als formale hervorbringt, gewinnt sie dem Volk die Spiel- und Amüsierfähigkeit zurück, um die es die maskierte Republik im Deutschen Maskenball betrogen hatte: „In der Dichtung ist die Leichtigkeit und Verspottung der Realität vollkommen. Dies ist der ungeheure Lustgewinn, den die Berichtform des Fabulierens gewährt, dem Autor wie dem Hörer“.137

Literatur Adorno, Theodor W.: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974, S. 41-48. Benjamin, Walter: Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz. In: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M. 1972, S. 230-236. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskovs. In: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. von Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 438-465. Döblin, Alfred: Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende. Olten, Freiburg i.B. 1966. Döblin, Alfred: Der deutsche Maskenball von Linke Poot. München 1972. Döblin, Alfred: Der Bau des epischen Werks. In: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Walter Muschg. Olten, Freiburg i.B. 1989, S. 215-245. Honold, Alexander: Erzählen. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 1. Frankfurt a.M. 2000, S. 363-397. Huizinga, Johann: Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Basel, Brüssel, Köln, Wien 1949. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt a.M 1991. 132 133 134 135 136 137

Ebd. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218. Ebd., S. 222. Ebd., S. 223. Ebd., S. 234. Ebd., S. 222.

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Jolles, André: Einfache Formen. Tübingen 1999. Kiesel, Helmuth: Noch einmal ‚Benjamins Erzähler‘: Nicht Nicolai Lesskov, sondern Alfred Döblin! In: Hartmut Eggers; Gabriele Prauß (Hg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Berlin 2001. Bern 2003, S. 155-165. Koch, Peter; Oesterreicher; Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 1985, S. 15-43. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a.M. 1994. Muschg, Walter: Nachwort des Herausgebers. In: Alfred Döblin: Der deutsche Maskenball von Linke Poot. Wissen und Verändern. München 1972, S. 305-318. Petrarca, Francesco: De vita solitaria. In: Opera latine. Bd. 1. Hg. von Antonietta Bufano. Turin 1987. Stierle, Karlheinz: Fiktion. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 380-428. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004. Wetzel, Tanja: Spiel. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart, Weimar 2003, S. 577-618.

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Zwischen Nachahmung und Kreativität Spielformen fingierter Autorschaft am Beispiel von Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote (1939) trägt bereits im Titel den immanenten Widerspruch zwischen Autorschaft und Abschrift aus. Der Ich-Erzähler berichtet im Jahr 1939 von einem verstorbenen Bekannten, einem Schriftsteller, der sich vorgenommen hat, Cervantes’ Don Quijote noch einmal zu schreiben – aber nicht als aktualisierende Nacherzählung, sondern im Wortlaut des Originals. Die Erzählung entfaltet das Paradoxon einer getreuen Kopie, die etwas grundlegend anderes sein will als eine ‚bloße Kopie‘: Er wollte nicht einen anderen Quijote verfassen – was leicht ist – sondern den Quijote. Unnütz hinzuzufügen, daß er niemals eine mechanische Transkription des Originals ins Auge faßte; er wollte es nicht kopieren. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war es, ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten.

Da für ihn als dichtenden und wissenschaftlichen Autor das einfache Abschreiben unter seiner Würde ist, versucht es Menard zunächst über eine „totale Identifikation“ (S. 38, Hervorh. im Orig.) mit dem Schöpfer des Quichote. In einem seiner charakteristischen Gedankenexperimente kehrt Borges den schriftstellerischen Schaffensprozess also um: Ausgehend vom fertigen Text sollen dessen exakte Entstehungsbedingungen rekonstruiert werden, um sie noch einmal zu durchlaufen. Dadurch wird die Erzählung zur Parodie des literaturwissenschaftlichen Positivismus wie auch der Einfühlungshermeneutik. Die konkreten Schritte zur Umsetzung dieses absurden Schreibprojekts werden mit meisterhafter Ironie im Einzelnen dargelegt, bis sie schließlich nicht etwa als undurchführbar, sondern als ‚zu leicht‘ verworfen werden: Die Methode, die er sich anfänglich ausdachte, war relativ einfach. Gründlich Spanisch lernen, den katholischen Glauben wiedererlangen, gegen die Mauren oder   

Die Erzählung schließt mit einem pseudo-dokumentarischen Paratext, der zu den zahlreichen Kunstgriffen gehört, mit denen Faktizität simuliert werden soll: „Nîmes, 1939“ (Borges: Werke, S. 45 [Hervorh. im Orig.]). Zur Leitkategorie des Paradoxons in Borges’ Werk vgl. Blüher: Paradoxie. Borges: Werke, S. 39. Im Folgenden verweisen Seitenzahlen im Text auf diese Ausgabe.

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gegen den Türken kämpfen, die Geschichte Europas zwischen 1602 und 1918 vergessen. Miguel de Cervantes sein. Pierre Menard studierte dieses Verfahren (ich weiß, daß er es zu einer recht getreuen Handhabung der spanischen Sprache des 17. Jahrhunderts brachte), schob es aber als zu leicht beiseite. (S. 39)

Die schwierigste Form der ‚Kopie‘, nämlich die komplette Aneignung einer fremden Identität, wird in einer paradoxen Volte als zu einfach und zu berechenbar hingestellt, so dass der Autor beschließt, „fernerhin Pierre Menard zu bleiben und durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quichote zu gelangen“ (S. 40). Es folgen Jahre intensiver Schreibarbeit, deren Ergebnis von vornherein feststeht: der Text des Romans von Cervantes, exakt in der Form, wie er seit seinem Erscheinen 1605 bzw. 1615 vorliegt. Um ihn ein zweites Mal hervorzubringen, produziert Menard eine „Vielzahl von Entwürfen“ auf „Tausende[n] handgeschriebener Seiten“ (S. 44), die er allerdings immer wieder verbrennt, so dass in seinem Nachlass nichts mehr davon überliefert ist. So muss man als Leser oder Leserin auf seine Aussage vertrauen, dass er eine Unzahl von „Varianten“ (S. 41) durchprobiert hat, nur um am Ende einige wenige Kapitel zu hinterlassen, die dem Wortlaut der Kopiervorlage genau entsprechen. Beglaubigt wird dieses merkwürdige Schreibverfahren durch das Zeugnis seines ‚Nachlassverwalters‘, des Ich-Erzählers, der durch diverse ironisierende Stilmittel aber nicht gerade als vertrauenswürdige Quelle erscheint. Durch seine übereifrigen Bemühungen, den ‚genialen‘ Autor vor missgünstigen Zeitgenossen in Schutz zu nehmen, vor allem aber durch eine gespreizt-manieristische Schreibweise gibt er sich als unzuverlässiger Erzähler zu erkennen, so dass die vorgespiegelte Faktizität des Textes immer wieder konterkariert, ja karikiert wird. 





Dapía interpretiert Menards Entscheidung vor dem Hintergrund der hermeneutischen Unterscheidung zwischen der ‚intentio auctoris‘ bzw. ‚lectoris‘: „Entsprechend der ‚intentio lectoris‘ will sich Pierre Menard, wie man sah, anfangs noch in den historischen Kontext des 17. Jahrhunderts versenken. Er verwirft dies aber später als ‚zu einfach‘ und beschließt, nicht über die Welt des Autors Cervantes, sondern durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quijote zu gelangen. Er entscheidet sich also zugunsten der ‚intentio lectoris‘.“ (Vgl. Dapía: Rezeption, S. 58) Hatte die Abfassung des ersten Romanteils knapp fünf Jahre in Anspruch genommen, so waren es beim zweiten an die zehn. Menard dagegen plant in noch größeren Dimensionen: „Mein Unternehmen ist dem Wesen nach nicht schwierig […]. Ich müßte nur unsterblich sein, um es zu vollenden“ (S. 40). Stabb spricht von einer „feigned pomposity“, die neben dem philologisch dilettierenden IchErzähler auch gleich die ganze wissenschaftliche Zunft betreffen würde, wobei er allerdings einen allzu autoritätsgläubigen Autorschaftsbegriff zugrunde legt, wie er vom Text gerade widerlegt wird: „Anyone who has the temerity to write about Borges’s ‚Pierre Menard‘ (or the work of any great author, for that matter) will, of course, run the risk of doing just what the story’s pompous, self-important narrator attempted, namely, to seek fame and recognition vicariously through association with ‚the great man‘. Thus the text’s main thrust may well be the subversion of the critical act itself.“ (Stabb: Borges revisited, S. 68)

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Eine Form der Beglaubigung ist auch das wörtliche Zitat, ein häufig gebrauchtes Mittel in dem mit knapp zehn Druckseiten relativ kurzen Text. So führt der Ich-Erzähler als Argument für die schriftstellerische Meisterschaft seines Idols eine Stelle aus dem 26. Kapitel des Don Quichote an, das Menard ironischerweise „nie in Angriff genommen hat“: „Die Nymphen der Flüsse, die schmerzbewegte und feuchte Echo“ (S. 40). Was sein Apologet „außergewöhnlich“ nennt und was als Beleg für einen ausgeprägten Personalstil, für Menards individuelle „Stimme“ herhalten muss (ebd.), ist ausgerechnet eine Wendung, wie sie gewöhnlicher nicht sein könnte. Das mythologische Thema und die konventionellen Epitheta könnten auch aus einem Handbuch der antiken Rhetorik stammen und sind somit das genaue Gegenteil von inspirierter Originalität. Die prätendierte Einzigartigkeit des verkannten Autor-Genies wird also nicht nur durch die wörtliche Übernahme des Klassiker-Textes in Zweifel gezogen, sondern vor allem auch durch die nichtssagende Farblosigkeit der zitierten Stelle. Was Menard aus dem Quichote abschreibt, könnte schon Cervantes woanders abgeschrieben haben – und so weiter, bis sich die Spur des Zitats im Gewirr der anonymen Intertexte verliert. Ähnliches gilt für eine weitere Passage, die ihren Weg aus dem Zeitalter der barocken Rhetorik über den fiktiven symbolistischen Poeten Pierre Menard in die souverän mit Versatzstücken spielende Postmoderne10 eines 

Die Klassizität wie auch die Popularität des Romans hat sich zuletzt im Cervantes-Jahr 2005 erwiesen, wo in den öffentlichen Bibliotheken Spaniens Exemplare auslagen – mit der Aufforderung, eine Passage daraus abzuschreiben.  Stark benennt dieses Phänomen mit der rekursiven Formel „literature about literature about literature“ und konstatiert einen „regressus in infinitum“. Er verfällt dann allerdings in ästhetisch-moralische Werturteile, wenn er die Gefahr einer „endless self-examination to the exclusion of other concerns“ heraufbeschwört: „Writers of this kind of literature build an artificial construct, rather than rendering in artistic form meaningful details from a meaningladen world.“ (Stark: Literature of exhaustion, S. 24 [Hervorh. im Orig.]; S. 177; S. 21 f.)  Das fiktive Werkverzeichnis, das der pedantisch-penible Nachlassverwalter zusammengestellt und von „a“ bis „s“ durchnummeriert hat, beginnt mit einem „symbolistische[n] Sonett, das zweimal (mit Variationen) in der Zeitschrift ‚La Conque‘ (März und Oktober 1899) erschien“ (S. 36). Das charakteristische Leitmotiv der differierenden Doppelung findet sich ein weiteres Mal unter dem Posten „m“, wo die zwei voneinander abweichenden Auflagen des „Werks Les problèmes d’un problème“ aufgeführt sind, eine Monographie, die „in chronologischer Ordnung die Lösungen des berühmten Problems von Achilles und der Schildkröte erörtert“ (S. 37; zu diesem fiktiven Werk und seinem philosophiegeschichtlichen Kontext vgl. Zepp: Borges und die Skepsis, S. 87 f.). Menard hat als Autor also nicht nur dichterische, sondern auch philosophische Ambitionen und erfüllt die Rollenerwartungen an den inspirierten Poeten ebenso wie diejenige an den exzerpierend-recherchierenden Wissenschaftler. 10 „Borges es considerado desde hace tiempo por prominentes teóricos y representantes del postmodernismo – Jencks, Hassan, Barth o Eco – como uno des los más importantes precursores e impulsores de la estética postmoderna […]. Lo más frecuente aquí es aludir con razón al procedimiento de Borges que trata textos preexistentes de una manera lúdico-irónica, a aquello, por tanto, que queremos llamar en lo sucesivo la intertextualidad postmoderna en Borges.“ (Vgl. Blüher: Postmodernidad, S. 119) Wehr sieht darin allerdings eine bloße „Pro-

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Jorge Luis Borges gefunden hat. Wieder ist es nur ein Fragment eines Satzes, das zitiert wird, und wieder nur eine verblasste Stilblüte vom weiten Feld des abenteuerreichen Ritterromans: „… die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist, Nebenbuhlerin der Zeit, Archiv aller Taten, Zeugin des Verflossenen, Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige.“ (S. 43) Dass „diese Aufzählung ein bloßes rhetorisches Lob auf die Geschichte“ ist (ebd.), kann selbst dem bornierten Ich-Erzähler nicht entgehen. Doch liegt der besondere Effekt dieses Zitats nicht in seiner Singularität, sondern gerade in seiner Wiederholbarkeit, die im Text auch performativ in Szene gesetzt wird: Als Verdoppelung ein- und derselben Formulierung, nur durch einen kurzen Absatz getrennt und mit einer Quellenangabe versehen („Don Quichote, Erster Teil, Neuntes Kapitel“, ebd.). Hier werden bereits Theoreme poetisch-spielerisch erprobt, die Jacques Derrida einige Jahrzehnte später erst ausformulieren sollte: „Iterabilität“11 als verschiebende Wiederholung (oder fehlerhafte Kopie) und „Aufpfropfung“12 als Verpflanzung eines textuellen Ausschnitts von einer rhizomatischen Verästelung auf die nächste. Denn das Ziel der wortidentischen Wiederholung ist nicht der Eindruck von Identität, sondern von Differenz: Die Geschichte, Mutter der Wahrheit: Dieser Gedanke ist verblüffend. Menard, Zeitgenosse von William James,13 definiert die Geschichte nicht als eine Erforschung der Wirklichkeit, sondern als deren Ursprung. Die historische Wahrheit jektion von Epochenmerkmalen“ (Wehr: Originalität, S. 369), und Bell-Villada betont die Gemeinsamkeiten mit der ‚klassischen‘ Moderne, wie sie von James Joyce in Ulysses und Thomas Mann in Dr. Faustus ausgeprägt wurde (vgl. Bell-Villada: Borges and his fiction, S. 125). 11 Zur Unterscheidung zwischen einer sinnstabilisierenden Form der Wiederholung (Iterativität) und einer sinndestabilisierenden (Iterabilität) vgl. Derrida: Signature. 12 Das dem Schreiben inhärente Moment der intertextuellen „Aufpfropfung“ bringt Derrida mit dem Motiv des verlorenen Originals in Verbindung: „So schreibt sich die Sache. Schreiben heißt aufpfropfen (greffer). Es ist dasselbe Wort. Das Sagen der Sache ist an sein Aufgepfropft-Werden zurückgegeben worden. Das Aufpfropfen kommt nicht zum Eigen(tlich)en der Sache hinzu. Es gibt genausowenig mehr eine Sache, wie es einen ursprünglichen Text gibt.“ (Derrida: Dissemination, S. 402) 13 In gut positivistischer Manier klären Arnold und Haefs über die Herkunft dieser Anspielung auf: „William James (1842–1910): amerik. Philosoph, von Borges häufig zitiert (Borges’ Vater korrespondierte mit James).“ (Vgl. Borges: Werke, S. 177) Der fiktive Autor Pierre Menard ist nicht nur ein „Zeitgenosse von William James“, sondern auch ein Freund von Paul Valéry (vgl. S. 37), der in der Sekundärliteratur immer wieder als Vorbild für Borges’ Figur herangezogen wird (neben Stéphane Mallarmé, Miguel de Unamuno und anderen). Echevarría weist zu Recht darauf hin, dass es bei dieser Art von Quellenforschung weniger auf tatsächlich existierende Personen als auf poetologische Positionen ankommt: „Pienso […] que el establecimiento de paridades entre figuras literarias (Menard = Unamuno, Mallarmé o Valéry) es menos útil, desde nuestro punto de vista, que el buscar afinidades entre algunas concepciones en torno al lenguaje y a las prácticas literarias asociadas con estas figuras“ (Echevarría: Pierre Menard, S. 190). Ebenso fragwürdig ist eine Identifikation des Ich-Erzählers mit dem realen Autor Jorge Luis Borges, wie sie Hanke-Schaefer vornimmt (vgl. Hanke-Schaefer: Borges zur Einführung, S. 47).

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ist für ihn nicht das Geschehene; sie ist unser Urteil über das Geschehene. Die Schlußglieder – „Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige“ – sind unverschämt pragmatisch. (S. 43 f.)

„Verblüffend“ wird die farblose Allegorie erst dann, wenn sie vor dem Hintergrund eines modernen, pragmatischen Weltbilds gelesen wird, wenn sie aus dem ursprünglichen Kontext eines fest gefügten Kosmos herausgerissen und in einen gänzlich anderen Sinnzusammenhang verpflanzt wird. So kann selbst die absolut identische Form der beiden Passagen zur Differenzerfahrung werden: „Lebhaft ist auch der Kontrast der Stile. Der archaisierende Stil von Menard – immerhin ein Ausländer – leidet an einer gewissen Affektiertheit. Nicht so der des Vorläufers, der unbefangen das seinerzeit geläufige Spanisch schreibt“ (S. 44). Menards paradoxes Schreibprojekt, die einfache Abschrift als mühseliges Aussortieren möglicher Alternativen, ist in Wirklichkeit also eine Allegorie des Lesens,14 denn der „Kontrast der Stile“ resultiert einzig und allein aus einem differenten historischen Hintergrund, der wie eine variable Kulisse hinter den unangetasteten Prätext geschoben wird: Menard hat (vielleicht ohne es zu wollen) durch eine neue Technik die abgestandene und rudimentäre Kunst des Lesens bereichert: die Technik des vorsätzlichen Anachronismus und der irrtümlichen Zuschreibungen. Diese unendlich anwendungsfähige Technik veranlaßt uns, die Odyssee so zu lesen, als sei sie nach der Aeneis gedichtet worden, und das Buch Le Jardin du Centaure von Madame Henri Bachelier so, als sei es von Madame Henri Bachelier. (S. 45)

Kurz vor dem Ende der kurzen Erzählung (oder ist es eher ein Essay über Grundfragen der Hermeneutik?)15 schlägt sie nochmals einen selbstreferentiellen ‚doppelten Haken‘, indem das Generalthema des identisch-differenten, ab- und neugeschriebenen Quichote in der tautologischen Autorschaftszuschreibung an Madame Henri Bachelier wiederholt wird.16 Der Text endet mit einer rhetorischen Frage, vor deren Horizont poetische In14 Mit Anleihen bei Lacan und Iser spricht Lellouche von einer „allégorie d’expérience de la lecture“ (Lellouche: Borges ou l’hypothèse, S. 197). McMurray betont dagegen die produktionsästhetische Perspektive: „Although ‚Pierre Menard, Author of Don Quijote‘ might be described as a poetics of reading, it can also be read as a parody on the creative process“ (McMurray: Borges, S. 126). 15 Durch ihre kaum klassifizierbare Gattungshybridität weist Borges’ ‚Erzählung‘ ein weiteres wichtiges Merkmal postmoderner Textualität auf. Lapidot spricht von einem „story-essay“ (Lapidot: Borges and artificial intelligence, S. 1), ebenso Hanke-Schaefer: „Borges verläßt den gattungsspezifischen Diskurs und weicht in die essayistische Erzählung oder den fiktiven Essay aus“ (Hanke-Schaefer: Borges zur Einführung, S. 48 f.). 16 Gemeint ist eine fiktive Freundin des Schriftstellers Menard, die der Ich-Erzähler als Urheberin eines „lügenhaften Katalog[s]“ (S. 35) von dessen Werken entlarven möchte. Die monierten „Auslassungen und Zusätze“ (ebd.) verweisen so bereits zu Beginn des Textes auf das durchgängige Thema der philologischen Recherche als Königsweg der Unterscheidung zwischen Original und Fälschung – eine Unterscheidung, die im Verlauf der Erzählung jedoch gründlich ad absurdum geführt wird.

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novation nicht im Sinne der Moderne als Bildersturz und creatio ex nihilo erscheint, sondern als postmoderne Kombinationskunst, als souveränes Spiel mit Traditionsbeständen: „Wenn man Louis Ferdinand Céline oder James Joyce die Imitatio Christi zuschriebe: Wäre das nicht eine hinlängliche Erneuerung dieser schwächlichen spirituellen Anweisungen?“ (ebd.)

Literatur Bell-Villada, Gene H.: Borges and his fiction. A guide to his mind and art. Chapel Hill 1981. Blüher, Karl Alfred: Paradoxie und Neophantastik im Werk von Jorge Luis Borges. In: Paul Geyer; Roland Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. Historisch-systematische Untersuchungen zu einer Stil- und Denkform. Tübingen 1992, S. 531-549. Blüher, Karl Alfred: Postmodernidad e intertextualidad en la obra de Jorge Luis Borges. In: Ders., Alfonso de Toro (Hg.): Jorge Luis Borges. Variaciones interpretativas sobre sus procedimientos literarios y bases epistemológicas. Frankfurt a.M. ²1995, S. 119-132. Borges, Jorge Luis: Werke in 20 Bänden. Bd. 5. Hg. von Gisbert Haefs; Fritz Arnold. Frankfurt a.M. 1992. Dapía, Silvia G.: Die Rezeption der Sprachkritik Fritz Mauthners im Werk von Jorge Luis Borges. Köln 1993. Derrida, Jacques: Signature, événement, contexte. In: Ders.: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 365-393. Derrida, Jacques: Dissemination. In: Ders.: Dissemination. Wien 1995, S. 323-415. Echevarría, Arturo: Pierre Menard, Unamuno y los simbolistas. Bd. 2. In: Alfonso de Toro; Susanna Regazzoni (Hg.): El siglo de Borges. Homenaje a Jorge Luis Borges en su centenario. Madrid 1999, S. 189-201. Genette, Gérard: L’utopie littéraire. In: Ders.: Figures I. Paris 1966, S. 123-132. Hanke-Schaefer, Adelheid: Jorge Luis Borges zur Einführung. Hamburg 1999. Lafon, Michel: Borges ou la réécriture. Paris 1990. Lapidot, Ema: Borges and artificial intelligence. An analysis in the style of Pierre Menard. New York 1991. Lellouche, Raphaël: Borges ou l’hypothèse de l’auteur. Paris 1989. McMurray, George R.: Jorge Luis Borges. New York 1980. Stabb, Martin S.: Borges revisited. Boston, Mass. 1991. Stark, John O.: The literature of exhaustion. Borges, Nabokov, and Barth. Durham N.C. 1974. Wehr, Christian: Originalität und Reproduktion. Zur Paradoxierung hermeneutischer und ästhetizistischer Textmodelle in Jorge Luis Borges’ „Pierre Menard, autor del Quijote“. In: Romanistisches Jahrbuch 51, 2000, S. 351-369. Zepp, Susanne: Jorge Luis Borges und die Skepsis. Wiesbaden 2003.

Renata Plaice

Das Spiel als das Dynamische Der Begriff des Spiels zwischen Moderne und Postmoderne Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich.

Das moderne Spiel „[...] was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“, schreibt Friedrich Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und stellt damit die Weichen für die Konjunktur des Spielbegriffs in der Ästhetik, Literatur- und Kunsttheorie, die spätestens seit Johan Huizingas Homo ludens als Ursprung und damit das Schlüsselwort für das Verstehen der Kultur und Kunst gilt. Was ist denn Besonderes am Spiel, dass es das Menschliche ausmacht? Nach Schiller ist es sein Vermögen, die künstliche, ästhetische Wirklichkeit zu schaffen und den Menschen auf die Reise in den Bereich des Schönen mitzunehmen, damit er die Vereinigung seiner geistigen und seiner sinnlichen Natur erreichen kann. In dem Geiste der Dualität des Menschen wird das Spiel als Rettung und Versöhnung bestimmt, als dasjenige, das die menschliche „doppelte“ Natur überwinden und entfalten kann. Das Spiel steht jenseits der Opposition von Vernunft und Natur und damit jenseits aller Kategorien der dualen Humanität – der Ort des Spiels ist der Spielraum zwischen Sinnlichem und Intelligiblem; es findet dort statt, wo das Reale ins Fiktive verschoben und verkehrt wird. Damit aber ist  

Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 830. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 56-57.

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das Spiel nicht eindeutig mit dem Fiktiven, Schönen, noch mit der Literatur und Kultur, mit dem Metaphysischen oder mit dem Anderen gleichzustellen. Das Spiel lässt sich nicht konzeptualisieren, weil es als Moment der ständigen polaren Bewegung der Verkehrung nur in der Veränderung zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig setzt das Spiel die Veränderung voraus, indem es im Zwischenraum den Möglichkeitsraum eröffnet, wo der Künstler, sich vom Realen aufhebend, das Künstliche schaffen kann. „Das Spiel ist ständige Erfindung, Illusion und Faszination; es erzeugt eine verwandelte Welt, hervorgerufen durch eine Verwandlung der Spieler und ihrer Beziehungen untereinander, ihrer Gemeinschaft insgesamt“. Das Spiel als die Freiheit des Künstlers erspielt das Ästhetische in der Verfremdung und Verwandlung der realen Wirklichkeit. Es verkörpert die spielende Bewegung der Überwindung der Realität und der Natur des Menschen. Diese Bewegung initiiert die Geburt des modernen Denkens und der modernen Kunst, die im autonomen Bereich der reinen Spielhaftigkeit, Illusion, der nicht-mimetischen Schönheit ihren Platz und ihre Erfüllung findet. Damit beginnt die Eröffnung der Autonomie der Kunst; damit wird die Kunst in ihrer Ganzheit verstanden: als das Künstliche schlechthin, als das Erdachte, als eben nur das Spiel. Die moderne Konjunktur des Spiels als des autonomen Bereichs, in dem das schaffende, spielende Subjekt seine Humanität erkennt und versöhnt, findet schon in der Literatur um 1800 ihr Echo. Märchen, alte Geschichten, Lieder trennen den Protagonisten von der Natur ab und versetzen ihn in den Bereich des Poetischen. Das Spielerische befreit die Literatur von der Funktion der Naturnachahmung und spielt mit ihr das ewige Spiel, in dem der Geist zur Versöhnung mit sich selbst kommt. In diesem Spiel wird die ganze Natur, der Mensch mit Geist und Sinnen vereint; hier beginnt auch der totalisierende Metadiskurs, den Lyotard so vehement im Postmodernen Wissen kritisiert hat – nicht nur Literatur und Kunst sondern auch die Wissenschaft legitimieren ihren Diskurs der Metaerzählung, der im autonomen Bereich des sich von der Wirklichkeit abhebenden Geistes stattfindet. Das Spiel ist in der Moderne das Phänomen der Totalität, das immer wieder die Wirklichkeit als Ganzes mit einbegreift und in sich hinein schließt. Das Motiv des ‚Spiels im Spiel‘ wird als Konsequenz besonders beliebt, weil es den Totalisierungsprozess des Spiels veranschaulicht. In Werken mit der ,Spiel im Spiel‘-Struktur: von Calderóns Das große Welttheater über Ludwig von Tiecks Der gestiefelte Kater, Hugo von Hofmannsthals Das Salzburger Große   

Vgl. dazu die (postmoderne) Untersuchung des Fiktiven in der Literatur und die Rolle, die das Spiel in Wolfgangs Isers Das Fiktive und das Imaginäre hat (Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 377 ff. und 426 ff). Gebauer/Wulf: Spiel, Ritual, Geste, S. 199. Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 13 f.

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Welttheater und Arthur Schnitzlers Parcelus, Jean Genêts Der Balkon bis Peter Handkes Publikumbeschimpfung, Thomas Bernhards Die Macht der Gewohnheit und – in einer jedoch vervielfachten Form – Botho Strauß’ Dramen, erweist sich das Spiel als verbannendes Phänomen, dem man nicht entkommen kann. Wenn die Wirklichkeit des Spiels zur Wirklichkeit wird, erscheint die reale Wirklichkeit aus der Metaperspektive als verkehrte; das Hier wird im Jenseits verfremdet. Die Verwischung der Grenzen zwischen der Wirklichkeit und dem Spiel erfolgt nicht nur als Verkehrung sondern auch als eine ewige Konstruktion von immer neuen Metaebenen. Die Bewegung des Spiels ist eine Verweisung auf die immer höhere Totalität. Es geschieht gerade in diesem vertikalen Verweisen auf das Meta-Spiel, dass die Bewegung des Spiels sich der Kontrolle des modernen Subjekts entzieht. „Das eigentliche Subjekt des Spiels [...] ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Das Spiel ist es, was den Spieler in seinen Bann schlägt, was ihn ins Spiel verstrickt, im Spiele hält.“ Das Spiel ist hier auch vom Ästhetischen zu unterscheiden, weil es seine dynamische Natur zeigt. Es gleicht nicht dem statischen Bereich der Ästhetik; der ,Spielzustand‘ scheint in der modernen Theorie kein Zustand zu sein; das Spiel ist die Bewegung, die auf die metaphysische, künstliche, unwirkliche Ebene versetzt; es ist der Zwischenraum, in dem sich die Dynamik der Verweisung ereignet. Das Modell des ‚Spiels im Spiel‘ veranschaulicht, wie die ,Struktur‘ des Spiels sich der Erfassung, Konzeptualisierung und damit der Strukturalisierung immer wieder entzieht – auf den ersten Blick handelt es sich um statische Spielebenen, die sich durch Reziprozität erstens verkehren und zweitens immer neu verfremden; was aber das Spielerische ausmacht, ist der Raum zwischen den Ebenen, das Verweisen selbst, die Bewegung zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen. Das Spiel lässt sich in diesem Sinne nur noch als Spur, als Ereignis erfassen, als die Potenzialität ohne das Potenzielle (dieses gehört der Ebene der Kunst und Literatur), als die Veränderung ohne das Andere, als die nur in ihren Effekten beobachtbare und aus dem Grunde nicht messbare oder begreifbare Bewegung. Auf dieser Bewegung beruhen alle Spiele – die möglichen Formen oder Verläufe der Spiele sind schon Erspielungen (wo die Wirklichkeit das Bedingte der Spiele ist) und die Spielregeln sind die Grenzen der Geschlossenheit der abstrakten und unbeschränkten Potentialität. Das Phänomen des Spiels ist der Zwischenraum, in dem das immer schon Bedingte angetrieben wird (Schiller benutzt nicht ohne Zufall das Wort ‚Trieb‘). Es  

Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 106. Die dynamische Eigenschaft des Spiels erfasst in ihrer Allgemeinheit das Wörterbuch der Brüder Grimm, in dem das Spiel unter anderem als „die vorstellung einer zwecklosen, zumeist reglosen bewegung“ definiert wird (vgl. J. Grimm/W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10.I, S. 2277).

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ist dank dem Dazwischen des Spiels, dass die Literatur ihre Phantasieräume entwickeln und die Wissenschaft die Metaerzählung aufbauen können. Als Raum zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen, das ‚als ob‘ der Realität knüpft das Spiel, das in der Lücke zwischen dem Wirklichen und dem Schein verortet ist, an den Schiller’schen Begriff des Scheins. Das Wort ‚erscheinen‘ impliziert das Momentane und Dynamische, etwas, was sich dem Verstehen und der Präsenz durch sein Verschwinden gleich entzieht. Das Spiel spielt sich in der Eröffnung zwischen dem Wirklichen und seinem Schein ab – als Dynamik des Erscheinens und des Wiederverschwindens des Scheins. Die Dynamik des Spiels, die sich jenseits der Oppositionen von Hier und Jenseits, von Konkretem und Abstraktem ereignet und deswegen sich nicht mal als die Absenz, das Nicht-Darstellbare erfassen lässt, betrifft nicht zuletzt das Spiel als Begriff selbst. Den Begriff des Spiels zu erklären, heißt immer seiner Bewegung zu folgen und sie nur noch als Spur zu berühren. Wenn wir jetzt die Analyse des Begriffs des Spiels versuchen, erweist es sich, dass das Spiel mit uns spielt und eine immer neue Illusion erschafft, nur um sich gleich wieder zu bewegen. Vielleicht müssten wir, um dem Spiel nachzufolgen, in die Spielbewegung verwickelt werden, mitspielen. Dass der Begriff des Spiels viel älter als die moderne Idee von der Aufhebung der Wirklichkeit ist, zeigt die Selbstdekonstruktion des Spiels in seiner Form- und Bedeutungsverschiebung. Das Spiel war vor der Moderne die mimetische und symbolische Widerspiegelung der natürlichen Ordnung der Welt, die Nachahmung der Natur, in der der Mensch im Spiel Gottes seinen Platz erkennt, ohne berechtigt zu sein, die Regeln und den Verlauf des Spiels zu bestimmen. Wenn die Moderne das Spiel als die Bewegung der Überwindung der Wirklichkeit sieht, hinterlässt das Spiel in diesem Bedeutungswandel nur noch eine Spur von seinem alten Signifikat. Das Spiel wird in der Moderne zum Trieb, der den Raum für das Andere des Spiels und die Potenzialität seiner Bedeutung eröffnet und als Dynamisches die künstlerische Freiheit der Konstruktion des Fingierten garantiert.

Das postmoderne Spiel Die postmoderne Kritik der modernen Begriffe von Subjekt, Vernunft, Repräsentation, Idee, Universalität, Totalität, Wahrheit und jeder Präsenz muss auch das Phänomen des ästhetischen Spiels als Anfang jeder trans­ zendentalen Verweisung und Überwindung der Realität im ästhetischen Bereich der Kunst mit einbeziehen. In der Moderne erspielt das Spiel die 

Vgl. dazu: „Die moderne Ästhetik ist die Ästhetik des Erhabenen, bleibt aber als solche nostalgisch. Sie vermag das Nicht-Darstellbare nur als abwesenden Inhalt anzuführen [...].“ (Lyotard: Die Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 47)

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Präsenz der Kunst. In der Postmoderne wird aber das Spiel als Phänomen nicht nur beibehalten, sondern es liegt auch der postmodernen Kritik der Moderne zu Grunde: in Schriften von Lyotard, Barthes, Baudrillard, Foucault, und vor allem bei Derrida. Im Essay Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften von Menschen entwickelt Jacques Derrida eine ausführliche Theorie des postmodernen Spiels. Seine Kritik an der modernen Struktur der Präsenz ist die Kritik des Zentrums als der Stelle, die die Struktur organisiert, sich selbst aber paradoxerweise dem Spiel der Struktur entzieht. „Doch das Zentrum setzt auch dem Spiel, das es eröffnet und ermöglicht, eine Grenze.“ Derrida versteht das Spiel als Substitution, Transformation und Permutation der Elemente der Struktur. Im Punkt des Zentrums ist jede Substitution unmöglich. Das Zentrum als ein unbewegter Referenzpunkt ‚tötet‘ und ‚verdirbt‘ das Spiel und entzieht sich der Strukturalität der Struktur, wodurch es die Struktur von außen bestimmt: „Das Zentrum ist nicht das Zentrum.“10 Derridas Spiel ist kein nihilistischer Begriff – die Destruktion ist immer auch Dekonstruktion; das Zentrum als Subjekt, teleologische Transzendenz, wird nicht zerstört, sondern im Spiel ‚bewegt‘. Die Bewegung ist die Voraussetzung zum unbegrenzten Spiel. Als Folge hört die Präsenz auf, Präsenz zu sein. Im postmodernen Spiel handelt es sich nicht um die Negation der Präsenz, sondern um deren Verschiebung, in der sie zur Figur des Opfers wird, wie es Sarah Kofman im Bezug auf die Kunst beschreibt: Bei der Kunst handelt es sich nicht um eine einfache Abschaffung des Wirklichen (was noch beherrschbar wäre), sondern seiner Opferung im Sinne von Bataille, der sagt, dass die Opferhandlung das Opfer verändert, zerstört, tötet, aber nicht gleichgültig gegen es ist. Es handelt sich um ein Verschieben des Wirklichen, das in Schwebe versetzt wird, wobei jeder unmittelbare Sinn sich verliert: Es ist da, ohne da zu sein, der Wirklichkeit beraubt, indifferent, sinnentleert.11

Der Unterschied zwischen dem modernen und postmodernen Denken ist nicht der Unterschied der Oppositionspole im Sinne von Alt und Neu; der Unterschied liegt eher in der Verschiebung der Struktur der Moderne, deren Folge neue Konfigurationen des Zentrums und die Relativierung fester Bedeutungen und Oppositionen sind. Das Spiel als Begriff, der die Moderne und Postmoderne ausmacht, der sie zugleich verbindet und unterscheidet, scheint das Phänomen der Veränderung und der Verschiebung der Bedeutung per se zu sein. Die Verschiebung als Unterschied ist mit Derridas ‚différance‘ zu verstehen, dem Begriff, der keiner ist, der nur als der Zwischenraum zwischen den verschobenen Elementen existiert, der sich jeder Verkörperung und Präsenz entzieht.  Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 422. 10 Ebd., S. 423. 11 Kofman: Melancholie der Kunst, S. 16.

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Das Ereignis der postmodernen Verschiebung der Bedeutungen und der Präsenz kreiert durch Eröffnung Zwischenräume am Rande der verschiedenen Differenzierungen und neuen Signifikanten; Räume, die zur derselben Zeit aber auch immer schon verzögert (die Verzögerung impliziert eine Lücke) mit neuen Supplementen gefüllt werden; Räume, die die Potenzialität des Supplements ermöglichen. Auf der Fläche der Bedeutungen (nicht nur der sprachlichen sondern auch der literarischen Motive und Formen im Zeichensystem der Literatur) kommt es zu unzähligen Differenzierungen, Substitutionen, Transformationen, Veränderungen, Verräumlichungen, Wiederholungen, Dekonstruktionen, Verweisungen. „Was sich différance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das produziert, was nicht einfach Tätigkeit ist.“12 Auf der Fläche der Bedeutungen spielt das tanzende und freie Spiel der Spuren, das Spiel der ‚différance‘, der Elemente, wo Dekonstruktion zugleich Konstruktion ist, und Konstruktion zugleich eigene Dekonstruktion. Das Spiel ist der Zeitraum der Lücke zwischen dem Dekonstruierten und Konstruierten, das Verzögern (,différer‘), das in dem Differenzieren (,différer‘) entsteht, der Effekt der ,différance‘ zwischen dem Vergangenen und dem Jetzt, das immer zugleich im Spiel zum Vergangenen wird, und damit das Dazwischen zwischen Moderne und Post-Moderne.

Die Wiederholung des Spiels Die Wiederholung ist neben der Bewegung die konstituierende Eigenschaft des Spiels und in der Wiederholung zeigt sich das Phänomen des Spiels vielleicht am stärksten.13 Vor allem impliziert die Wiederholung nicht eine Erstarrung zur Ewigkeit, sondern vielmehr das Dynamische. Die Wiederholung ist die Bewegung des Wieder-Holens. What seems to be a mere repetition – a repetition of the same – is always something that defers the constitution and appearance of the same, namely the difference at work between the same and the other, between the same and its repetition, and within the presence of the same self,14

schreibt Tilman Küchler, indem er sich auf die Struktur seiner Untersuchung bezieht. Die Wiederholung erschafft durch ihre Bewegung den Raum zwischen demselben und Wiederholtem – in diesem Sinne ist die Wieder12 Derrida: Die différance, S. 89. 13 Wenn man den Traum und das Spiel zu unterscheiden versucht, ist die Wiederholung jedes Spiels (es ist erstaunlich, dass es tatsächlich kein Spiel ohne Wiederholung gibt) eine wichtige Eigenschaft des Spiels: Der Traum verkörpert die verkehrte, relativierte Wirklichkeit und zeichnet sich selten durch Wiederholung aus. 14 Küchler: Postmodern gaming, S. 129.

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holung desselben immer schon das Andere, ohne anders zu sein: Es ist das Andere durch die ‚différance‘, es ist die Spur desselben. Das Spiel bewohnt den Raum zwischen der Präsenz und ihrer Wiederholung, einen Raum jenseits der Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit. In dem zwischen unendlichen Wiederholungen (auf diesem Prinzip funktioniert die Sprache und die Literatur, die Wissenschaft und auch das menschliche Leben) geöffneten Raum konstituiert sich das Spiel durch permanente Selbstdekonstruktion. Foucault schreibt in diesem Sinne über die Unendlichkeit der Sprache, die an der Grenze des Todes – zwischen Tod und Leben – einen unendlichen Raum eröffnet, in dem sie sich immer auf sich selbst wiederholend bezieht – durch diese „Einschachtelung“ kommt das „Spiel von Spiegeln“ niemals an sein Ende.15 Die Wiederholung zeigt, dass das, was das Spiel ausmacht, der ‚SpielRaum‘, sich nicht konzeptualisieren lässt – als die Figur dazwischen ist es weder dasselbe noch das andere.16 Das Spiel lebt vom Rest (und dieser wird wieder vom Spiel bedingt) desselben, der in der Wiederholung als seine Differenz, als Geste der Differenz überlebt. In Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Ein Zerfall unternimmt der Protagonist Murau ein ungewöhnliches Projekt: Er will seine Vergangenheit, sein Familienhaus und damit sich selbst zerstören, indem er das Vergangene aufschreibt. Das einzige, das ich schon im Kopf habe, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist der Titel Auslöschung, denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe [...] Mein Bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung. [...] Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen.17

Der Mechanismus eines solchen Berichts ist spielerisch in seiner Natur: Damit die Auslöschung vollzogen werden kann, muss zuerst ihr Objekt ästhetisiert werden. Die ästhetische Konstruktion existiert, wie die Wirklichkeit eines Spiels, nur im Moment ihrer Entstehung, um gleich die Grenze ihrer Dekonstruktion zu berühren. Zwischen dem Vergangenen und dessen Wiederholung entsteht der Spielraum für Muraus ästhetisches Spiel, in dem sich die Konstruktion und Dekonstruktion einander bedingen. Die 15 Vgl. Foucault: Die Sprache, unendlich, S. 87. 16 Vgl. z.B. Derridas Worte aus seinem Essay Wie nicht sprechen: Verneinungen: „dies, was X geheißen wird (zum Beispiel der Text, die Schrift, die Spur, die différance, das Hymen, das Supplement, das Pharmakon, das Parergon, und so weiter), dies „ist nicht“ dieses noch jenes, nicht sinnlich noch intelligibel, nicht positiv noch negativ, nicht drinnen noch draußen, nicht übergeordnet noch untergeordnet, nicht aktiv noch passiv, nicht anwesend noch abwesend, nicht einmal neutral, nicht einmal dialektisierbar in einem Dritten, ohne mögliche Aufhebung und so weiter. Dieses ist also nicht ein Begriff noch gar ein Name, trotz des Anscheins.“ (Derrida: Wie nicht sprechen, S. 11) 17 Bernhard: Auslöschung, S. 199.

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Wiederholung versetzt das Subjekt zuerst auf die (im Geiste des modernen Diskurses verstandene) Metaperspektive, von der aus die Transzendenz der Wirklichkeit und damit ihre Archivisierung im Ästhetischen erreicht werden kann. Die Wirklichkeit wird aber dadurch nur noch als Vergangenheit, als verschwindende Präsenz im Wiederholten aufbewahrt – darauf beruht Muraus Geste der Auslöschung. In der Wiederholung hinterlässt die Präsenz des Wirklichen ihre Spuren, die das dynamische Erneuerungsspiel der Schrift im Raum zwischen dem Alten und seiner Wiederholung ewig anfangen und fortsetzten. Letztens – und der letzte Punkt ist immer auch der Ausgangspunkt – ist die Wiederkehr des Bewegungs-Motivs in verschiedenen Spieltheorien immer schon eine veränderte Wiederholung, wodurch sich das Spiel der Bestimmung entzieht.

Das Spiel zwischen Moderne und Postmoderne Auch wenn das Konzept des Spiels in der ewigen nichtdialektischen zufälligen Bewegung ohne Anfang und Ende postmodern ist, scheint es, dass das Spiel eben da spielt, wo sich die Moderne von der Postmoderne unterscheidet, wo die Postmoderne die Moderne und damit sich selbst immer erneut dekonstruiert. Wenn wir uns jetzt dem Spiel widmen, so tun wir es nicht (oder nicht nur), weil wir das postmoderne dekonstruierende Spiel der ‚différance‘ untersuchen wollen, sondern weil das Spiel als die Bewegung dazwischen und die Bewegung der Veränderung in der Wiederholung, als das Dynamische in ihrer unbegreifbaren Form, immer die Kultur und das Denken vorantreibt. Wenn man die Postmoderne und die ‚spielende‘ Literatur als Epoche oder Phase verstehen will, so kann das Spiel als das Moment der Transformation, als die Bewegung zwischen dem Postmodernen und dem Nicht-Mehr-Postmodernen gesehen werden. Das Spiel verkörpert nämlich das ‚Nicht-Mehr‘ selbst – das Vergangene in der Gegenwart, das nur noch als eine Spur, nicht einmal als Symbol, vorkommt. Das Spiel erspielt den Rest der Präsenz,18 das Dazwischen in der Signifikantenkette. Das Vergangene als reine Historizität materialisiert sich nach Giorgio Agamben in der Form des Spielzeugs: Das Spielzeug ist dasjenige, was – einst und jetzt nicht mehr – der heiligen oder praktisch-ökonomischen Sphäre angehört hat. Aber wenn das zutrifft, ist das Wesen des Spielzeugs [...] etwas vornehmlich Historisches: Es ist sozusagen das Historische im Reinzustand. Denn nirgends können wir die Zeitlichkeit der Geschichte 18 Der Rest der Präsenz ist keine Präsenz mehr – und zugleich keine Absenz. Die Präsenz (auch die Präsenz der Moderne, des transzendentalen Signifikats, des modernen Subjekts) wird in der spielerischen Transformation verschoben. Die Präsenz hinterlässt aber immer in der Verschiebung ein Sediment als Spur, die im Raum zwischen den Transformationen und Differenzierungen entsteht und immer wieder verschwindet.

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so in ihrem rein differenziellen und qualitativen Wert erfassen wie beim Spielzeug. [...] Das Spielzeug ist die Materialisierung der Historizität, die in den Gegenständen ist und die es durch eine besondere Bearbeitung zu extrahieren vermag.19

Das Spiel wird von Agamben als das Vergangene in seinem Jetzt-NichtMehr-Zustand verstanden, das ‚Nicht Mehr‘ der Geschichte, das ‚Nicht Mehr‘ der Moderne in der Postmoderne, aber auch das ‚Nicht Mehr‘ (das ,Post‘) der Postmoderne, wenn sie historisch verstanden wird. Das ‚NichtMehr‘ ist also das (wesenslose) Wesen der Spur, die Eröffnung für die Erfüllung der Lücke zwischen Bedeutungen und Formen. Agamben schreibt über das Spiel in Verbindung mit der Profanierung: „Rein, profan, von heiligen Namen frei ist das Ding, das dem allgemeinen Gebrauch der Menschen zurückgegeben ist.“20 Die Profanierung ist der unangemessene Gebrauch der heiligen Dinge, ohne dass die Sphäre des Heiligen abgeschafft wird. Im Spiel wird die ‚heilige‘ Sphäre der Wirklichkeit profaniert, indem sie ‚unangemessen‘ gebraucht wird, wie die Waffe als Spielzeug des Kindes. Man wird gleich bemerken, dass auf die gleiche Art und Weise die Wirklichkeit in der Literatur profaniert wird. Zugleich scheint es aber, dass die Lust der Profanierung, die Lust des Karnevalesken nicht nur im Spaß am Verkehrten liegt, denn das Profanierte entsteht nicht als Entgegensetzung des Heiligen, sondern es enthält den Rest des Heiligen, des heiligen ,Gebrauchs‘. Die Lust der Profanierung und damit des Spiels liegt im Ereignis der Verwandlung und Verkehrung (als Verschiebung) selbst. Während sich das Heilige als das schon Verkehrte, das Abgesonderte, das Aufgehobene, der ‚Ausnahmezustand‘, um Agambens Diskurs zu benutzen, konstituiert, gleicht die Profanierung dem ‚Zurückkehren‘, der Bewegung der Rückkehr (der Wieder-Holung), der Dynamik der Transformationen, dem NichtMehr-Heiligen. Das Spiel als Absonderung der Absonderung entzieht sich wie die Profanierung jeder Präsenz und damit jeder begrifflichen Bestimmung. Es transzendiert die Wirklichkeit, nur um gleich die Transzendenz in die NichtTranszendenz zu verwandeln, so dass es ewig und unbegrenzt gespielt werden kann. In dieser unendlichen Folge von Bewegungen entstehen Orte der Leere, die einerseits das Spiel ermöglichen, und sich andererseits dank dem Spiel als Bewegung eröffnen. In diesem Spiel handelt es sich nicht, oder mindestens nicht nur, um eine abgesonderte ästhetische Sphäre des Spielraums als Negation der Wirklichkeit, die „außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird, [...], die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Zeit vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft[...].“21 Das Spiel und seine Dynamik verortet sich 19 Agamben: Kindheit und Geschichte, S. 107 f. 20 Agamben: Profanierungen, S. 70. 21 Huizinga: Homo ludens, S. 22.

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zwischen dem Wirklichen und dem Ästhetischen, zwischen den Wirklichkeitselementen; dort wird aus dem Dazwischen der Wirklichkeit die Kunst geboren – und umgekehrt: An der Grenze zur Wirklichkeit, im Moment der Verschiebung der Wirklichkeit zur Kunst kann das Spiel ewig anfangen. Die Strukturen der Sprache, des Wahren und der Wissenschaft werden von der Veränderlichkeit22 bestimmt und fortgetrieben (und als Strukturen immer wieder re-struktuiert) – das Dynamische dieser Veränderung eröffnet den Spielraum. Das Phänomen des Spiels liegt nicht so viel in der Absonderung oder Trennung von zwei Sphären: Spiel und Ernst, Spielwirklichkeit und der empirischen Wirklichkeit, dem Positiven und dem Verkehrten, sondern vor allem in der Bewegung der De-Totalisierung, die alle Sphären des Lebens durchdringen will; es kreiert eine Leere, um sie zugleich zu verorten und das Transformierte, Verkehrte und Verschobene zu verzögern. Das Spiel wäre also das, was Agamben (und früher Heidegger) die Langeweile als „die Verlassenheit in der Leere“23 nennt, der Ort, wo wir von den Dingen des Daseins verlassen werden, indem sie uns gleichgültig sind, uns ‚langweilen‘. In der Langeweile bleiben wir durch die ‚Leere‘ an die Wirklichkeit angebunden, statt sich von ihr zu befreien – das Spiel behält den Bezug zur Realität als der Ort, den sie verlassen hat, der Ort des Verschwindens der Wirklichkeit. Das Spiel dekonstruiert jede feste Struktur der Sphärenabsonderung – ohne jedoch etwas zu vereinen, verschiebt das Spiel alle Trennung. Die Dynamik des Spiels zeigt sich paradigmatisch im Tanz; im humanistischen Idealismus bereitet die Bewegung des Tanzes das Erlebnis der Aufhebung der physischen Wirklichkeit: Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß. Seh ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes? [...]24

Und gleich zeigt sich das kreative Potenzial des Tanzes in der spielerischen Verwandlungs- und Veränderungsmöglichkeit – in der Bewegung zwischen ewiger Wirklichkeitszerstörung und ästhetischer Dekonstruktion. Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn. Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm schwindet, Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg. Sieh! jetzt schwand es dem Blick, in wildem Gewirr durcheinander Stürzt der zierliche Bau dieser beweglichen Welt. [...] Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung, Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel.25 22 23 24 25

Im Zeitalter der veränderbaren Internetwissensportale wird das mehr als je veranschaulicht. Vgl. Agamben: Das Offene, S. 72. Schiller: Der Tanz, S. 237. Ebd., S. 237 f.

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Die Szene „Scherzo“26 in Heiner Müllers Hamletmaschine zeigt die spielerische Tanzbewegung in ihrer unbegrenzten und zufälligen Entfaltung: „Der Tanz wird schneller und wilder.“27 Die Wildheit des Tanzes repräsentiert die Offenheit und Befreiung des Tanzes von jeder Kontrolle (von seinem transzendentalen Subjekt), weil dieser postmoderne Tanz sich in seiner performativen Spielbewegung ereignet, ohne dass ihr Bedeutungen zugeschrieben werden. Dadurch, dass Müller die Zerreißung von Hamlets Kleider als Voraussetzung zum Tanz darstellt, wird der Tanz zur Zelebrierung reiner Vitalität im Spielraum zwischen Heiligem und Profanem. Das Spiel wird hier im Tanz hier von jeder Symbolik ausgehöhlt und als reine Lust empfunden. Die Tanzbewegung erotisiert die Wirklichkeit dadurch, dass sie das Leben in ihrer performativen, kreativen, aber gleichzeitig selbstdekonstruktiven und verschwindenden Potenzialität erfahren lässt. Die Potenzialität kommt aus der wiederholenden Bewegung, aus der Lücke im Zwischenraum, die durch jede Tanzbewegung, jede Verschiebung momentan entsteht und verschwindet. Die Lücke, der Ort der Langweile des Daseins, ist das unbegrenzte Reich des Spiels. Das Spiel ereignet sich dank der Leere nach dem Verschwinden der Präsenz und durch die Profanierung der Bedeutung. Der Zwischenraum der Spielbewegungen, der Ort der präsenzlosen Ästhetik und unbegrenzten Interpretation wird damit zum Ort der Schrift und der Literatur – zum Ort der Profanierung und Performanz der Bedeutung. Das Spiel als Dynamik von Verwandlung, Verschwinden und Verschieben initiiert sowohl die Trennung (im modernen Sinne von Absonderung und im postmodernen Sinne von Differenzierung) als auch die Verwandtschaft von verschwindenden Spuren. Dadurch entzieht sich das Phänomen des Spiels nicht nur einer fremden Kategorisierung und Identifizierung, sondern dekonstruiert sich auch selbst in unbegrenzter Wiederholung.

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Renata Plaice

Derrida, Jacques: Die différance. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990, S. 76-113. Foucault, Michel: Die Sprache, unendlich. In: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 2003, S. 86-99. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1974. Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Hamburg 1998. Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1905. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 2001. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993. Kofman, Sarah: Melancholie der Kunst. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1998. Küchler, Tilman: Postmodern gaming: Heidegger, Duchamp, Derrida. New York 1994. Lyotard, Jean-François: Die Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990, S. 33-48. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1999. Müller, Heiner: Die Hamletmaschine. In: Werke 4. Die Stücke 2. Hg. von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M. 2001, S. 544-554. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. Hg. von Giorgio Colli; Mazzino Montinari. München 1980, S. 799-872. Schiller, Friedrich: Der Tanz. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. Aufgrund der Originalausdrucke hg. von Gerhard Fricke; Herbert G. Göpfert in Verb. mit Herbert Stubenrauch. München 1958, S. 237 f. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Hg. von Wolfgang Düsing. München, Wien 1981.

Stefan Neuhaus

Das Subversive des Spiels Überlegungen zur Literatur der Postmoderne Das Gehirn ist der Spieler.

Zur Theorie des Spiels Die Bedeutung des Spiel-Begriffs für die Literatur und ihre Wissenschaft ist von mehreren Arbeiten herausgestellt worden, stellvertretend sei auf den Artikel von Thomas Anz im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft und auf das Buch von Jörg Neuenfeld verwiesen. Hier finden sich bereits notwendigerweise auswählende historische Überblicke und systematische Überlegungen, wie sich der Begriff für die Beschreibung von Literaturprozessen und die Interpretation von Literatur nutzbar machen lässt. Anz hat mit seiner Definition programmatisch festgestellt: Spiel ist „zweckfreies oder regelgeleitetes Tun; dadurch Modell für die Produktion und Rezeption von Literatur“. Da es trotz dieser hilfreichen ersten Versuche keine für meine Zwecke operationalisierbare Literaturtheorie des Spiels gibt, sollen zunächst einige Überlegungen angestellt werden, die als Grundlage für die Beschäftigung mit dem Spiel als strukturbildendem Merkmal und Thema in der Gegenwartsliteratur dienen können; in einigen Punkten werden sie mit bisherigen Erklärungsansätzen übereinstimmen, in anderen von ihnen abweichen. Von Johan Huizinga ist der Begriff des Spiels als grundlegende kulturelle Kategorie bezeichnet worden. Die Fähigkeit zu Spielen begründet für ihn „freies Handeln“, er unterscheidet das Spiel vom Ernst des Lebens:   



Schulze: Das Leben, ein Spiel, S. 150. Vgl. Anz: Spiel, S. 469-472. Neuenfeld: Alles ist Spiel. – Die sehr interessante und lesenswerte Dissertation beginnt mit dem Spielbegriff bei Kant, Schiller und Novalis, geht dann auf Wittgenstein, Lyotard und Derrida ein. Fiktionale Literatur spielt, von den beiden genannten, kanonischen Autoren abgesehen, keine Rolle. Anz: Spiel, S. 469.

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„Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche‘ oder das ‚eigentliche‘ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Transzendenz.“ Oder auch: „In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung.“ Dies möchte ich als engen Begriff des Spiels bezeichnen und diesem engen einen weiter gefassten Spiel-Begriff gegenüberstellen, der sich bereits bei Friedrich Schiller finden lässt. Bekanntlich hat Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) ein pädagogisches Programm entworfen, an dem die Literatur einen entscheidenden Anteil hat. Schiller konzipiert zunächst einen Stofftrieb als „notwendige physische Abhängigkeit des Menschen“ und einen Formtrieb als „moralische Freiheit“, zwei Triebe, deren Entgegen- und Zusammenwirken die menschliche Existenz bestimmt. Damit formuliert Schiller Vorstellungen der heuristischen Aufteilung von Körper und Geist, Gefühl und Verstand neu, die Sigmund Freud 100 Jahre später zu den Kategorien Es und Über-Ich weiterentwickeln wird. Wenn bei Freud das Ich als Sitz der Persönlichkeit des Menschen einen Vermittlungsauftrag erhält, so ist es bei Schiller der Spieltrieb, der den Antagonismus von Stofftrieb und Formtrieb aufheben kann: „Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“ Schiller wie Freud verfolgen ein kulturpädagogisches Ziel. Bei Freud wird es heißen: „Wo Es war, soll Ich werden“,10 während Schiller dies so formuliert: „jedem Schrecknis der Natur ist der Mensch überlegen, sobald er ihm Form zu geben und es in sein Objekt zu verwandeln weiß“.11 Voraussetzung für die notwendige Entwicklung ist bei Schiller, wie der Titel seiner Schrift bereits sagt, die ästhetische Bildung der Menschen. Nur so lässt sich der dynamische oder ethische Staat in einen ästhetischen verwandeln, in dem „der Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums“ vollzogen wird.12 Der ästhetische Staat wirkt durch Schönheit, diese wird begriffen nicht als bloßes Äußeres, sondern als Einheit von Leben und Gestalt:13„Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung      10 11 12 13

Huizinga: Homo ludens, S. 16. Ebd., S. 21. Nebenbei sei erwähnt, dass dieser weite Begriff den engen einschließt, man denke an das Ende des Prologs zum Wallenstein von 1798: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“ (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 274) Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 654. Ebd., S. 616 f. Freud: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 86. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 652. Vgl. ebd., S. 667. Vgl. ebd., S. 614.

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zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung.“14 Dass er eine idealistische Perspektive formulierte, war Schiller bewusst. Er merkt an, das Gleichgewicht zwischen Form- und Stofftrieb im Spieltrieb sei „nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann“.15 Vor dem Hintergrund jüngerer Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Spiels erscheinen Schillers Überlegungen immer noch sehr aktuell. Bei Theoretikern der Postmoderne wird der Begriff wieder erstaunlich populär,16 und er wird wieder dazu verwendet, um Möglichkeiten der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung auszutesten. Im Anschluss an Wittgensteins Begriff der Sprachspiele stellt JeanFranςois Lyotard fest, dass „Aussagekategorien durch Regeln“ bestimmt sind, „die ihre Eigenschaften und ihren möglichen Gebrauch spezifizieren [...], genauso wie sich das Schachspiel durch einen Komplex von Regeln definiert, der die Eigenschaften der Figuren oder auch die erlaubte Art, sie zu bewegen, bestimmt.“17 Aussagekategorien sind für Lyotard „Wirkungen der Diskurse“.18 Diskurse werden für ihn vor allem durch Sprache vermittelt. Lyotard schließt offenbar an den Diskursbegriff Michel Foucaults an,19 wenn er den Diskurs um die Verteilung von Wissen als „Konkurrenzkampf um die Macht“ bezeichnet.20 Das Foucaultsche Konzept des Diskurses ist im Grunde nichts anderes als der Versuch, das Spiel um Teilhabe an der Macht am Beispiel von verschiedenen Teildiskursen in der Gesellschaft zu erklären und historisch zu perspektivieren. Foucault selbst verwendet in seinem Schlüsseltext Die Ordnung des Diskurses den Begriff des Spiels in zwei Funktionen, einmal, um damit die Anwendung von Regeln im Diskurs zu bezeichnen, zum anderen aber auch, um in der Trias „Spiel, Utopie oder Angst“ die Möglichkeiten zu benennen, das Verhaftetsein an Regeln kurzzeitig zu überdecken.21 Ähnlich argumentiert Pierre Bourdieu, auch wenn er sonst gern bemüht ist, sich von Foucault abzusetzen – was zweifellos zum wissenschaftlichen Spiel um Aufmerksamkeit und Anerkennung gehört. Bourdieu stellt fest: „Dem Funktionieren aller sozialen Felder, dem der Literatur wie der Macht, liegt die ‚illusio‘ zugrunde, die Investition ins Spiel und die affektive 14 Ebd., S. 668. 15 Ebd., S. 619. 16 Anz spricht von einer „Konjunktur des Spiel-Begriffs im Umkreis der Postmoderne“ (vgl. Anz: Spiel, S. 471). 17 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 39. 18 Ebd. 19 Auch in dem Aspekt der sprachlichen Vermittlung (vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 118: „Der Diskurs ist nicht mehr als die Repräsentation selbst, die durch sprachliche Zeichen repräsentiert wird.“). 20 Vgl. ebd., S. 26. 21 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 21 u. 18.

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Besetzung des Spiels.“22 Bourdieu weist darauf hin, dass die „Erfahrung der Realität als Illusion“ eine zentrale Einsicht ist, die von der modernen Literatur vermittelt wird; er nennt Cervantes’ Don Quixote und Flauberts Emma Bovary als Beispiele.23 Für Bourdieu gibt es eine deutliche Entwicklung in Kunst und Literatur: Immer seltener trifft es zu, daß das ästhetische Vergnügen nicht Bewußtsein und Kenntnis der geschichtlichen Spiele und Ziele voraussetzt, deren Produkt das Werk ist, des „Betrags“, den es, wie es so oft heißt, leistet und der selbstverständlich nur durch Vergleich und historische Bezüge erfaßbar ist. Die Unabhängigkeit von geschichtlichen Bedingungen hat ihre Grundlage in dem geschichtlichen Prozeß, der ein von den Zwängen und Determinierungen der historischen Konjunktur (relativ) befreites soziales Spiel überhaupt erst entstehen ließ [...].24

Für Bourdieu ist Spiel ein Schlüsselbegriff, der den Konstruktionscharakter, die Regelhaftigkeit und die Prozesshaftigkeit von Feldern charakterisiert, auch die des literarischen Feldes: Die literarische illusio, jene ursprüngliche Hingegebenheit ans literarische Spiel, die den Glauben an die Bedeutsamkeit oder den Reiz der literarischen Fiktionen fundiert, ist die fast immer unbemerkt bleibende Voraussetzung des ästhetischen Vergnügens, das zum Teil stets in dem Vergnügen besteht, am Spiel teilzunehmen, an der Fiktion Anteil zu nehmen, mit den Voraussetzungen des Spiels ganz übereinzustimmen; was auch Bedingung der literarischen Illusion und des Glaubenseffekts (eher als des „Realitätseffekts“) ist, den der Text hervorrufen kann.25

Bereits Jurij Lotman hat formuliert: „Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Spiel und Erkenntnis entbehrt jeder Grundlage“,26 und auf die Analogie von Spiel und Literatur hingewiesen. Zunächst hat er allgemein festgestellt: „Das Spiel hat eine enorme Bedeutung bei der Einlernung von Verhaltensweisen, da es gestattet, Situationen zu modellieren [...].“27 Gerade das Spiel erlaube es dem Menschen, „sein eigenes tiefstes Wesen zu finden“. In noch stärkerem Maße erfülle die Kunst diese Funktion: Indem sie dem Menschen die fiktive Möglichkeit schafft, mit sich selbst in verschiedenen Sprachen zu sprechen und dabei sein Ich auf verschiedene Weise zu kodieren, hilft die Kunst dem Menschen dabei, eine der allerwesentlichsten psychologischen Aufgaben zu lösen – die Erkenntnis und Bestimmung des eigenen Wesens.28

Bis hierher kann man zusammenfassend sagen, dass Spiel ein Begriff ist, der die Organisation menschlichen Zusammenlebens einerseits, die Or22 23 24 25 26 27 28

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 68. Vgl. ebd., S. 69. Ebd., S. 394. Ebd., S. 516. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 100 f.

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ganisation von Zeichensystemen wie dem der Literatur andererseits aus konstruktivistischer Sicht etikettiert – wobei ich auf Konstruktivismus und Semiotik als weitere allgemeine wissenschaftliche Grundlagen der Begriffsentwicklung hier nicht näher eingehen kann. Gleichviel sind Diskurse oder Felder ebenso Ergebnisse von Konstruktionen wie literarische Texte, die sich mit ihren Figuren und Handlungen darauf beziehen, die also ein fiktionales Spiel mit Partikeln aus jener historischen oder zeitgenössischen Realität spielen,29 die ihrerseits das Ergebnis eines Spiels ist. Als wesentlicher Unterschied liegt auf der Hand, dass das reale Spiel nur mit Einsätzen gespielt werden kann, die unmittelbare Konsequenzen für die Existenz der Spieler haben. Bourdieu spricht an, dass die Literatur sich immer mehr dahin entwickelt, den eigenen Spielcharakter zu reflektieren und auszustellen. Worauf er hier besonders hinweist, wird in der Literaturwissenschaft in der Regel mit den Begriffen Intertextualität und Metafiktionalität bezeichnet.30 Wichtig bleibt festzuhalten: Texte spielen mit Bezugnahmen auf andere Texte und sie machen (seit der Postmoderne deutlich häufiger als vorher) ihre Figuren- und Handlungskonstellation als Versuchsanordnung, als Spiel für ihre Leser transparent. Um den damit verbundenen Gewinn oder die mit der Spielanordnung verfolgten Ziele zu beschreiben, lässt sich auf Lyotard zurückgreifen, sofern man die Voraussetzung akzeptiert, dass Literatur und Wissen etwas miteinander zu tun haben. Lyotard legt sich auf zwei mögliche Ziele gesellschaftlichen Spielens fest; das eine wäre, „eine unentbehrliche Produktivkraft für das System zu werden“.31 In der Terminologie Bourdieus würde dies den symbolischen Profiten entsprechen, die der Spieler aus seinem Einsatz ziehen will, wobei die Anhäufung symbolischen Kapitals nur ein vorläufiges oder vorgeschobenes Ziel ist, eine Etappe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel des Erwirtschaftens von ökonomischem Kapital.32 So werden avantgardistische Künstler zu arrivierten Künstlern, die von einer neuen Avantgarde abgelöst werden. Lyotard sieht aber noch ein zweites mögliches Ziel vor, das er als „kritisch, reflexiv oder hermeneutisch“ charakterisiert und das „direkt oder indirekt die Werte oder Ziele in Frage stellt“.33 Die Fähigkeit, solches zu leisten, schreibt wiederum Bourdieu vor allem der Wissenschaft zu, und zwar 29 Zum Verhältnis von Literatur und Spiel vgl. bereits das Kapitel „Literatur als Spiel“ in: Anz: Literatur und Lust, S. 33-76. 30 Zur Zitatpraxis in der Gegenwartsliteratur vgl. Kopp-Marx: Zwischen Petrarca und Madonna, v.a. das Kap. „Im Spiel der Texte“, S. 94-97. Der Begriff des Spiels wird hier kennzeichnend verwendet, aber nicht weiter reflektiert. 31 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 51. 32 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 405. 33 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 51.

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vorrangig seiner eigenen Wissenschaft, der Soziologie.34 Für Lyotard ist die kritische Perspektive eine Metaperspektive, die gelernt werden kann und die jeder einnehmen kann. Unter Rückgriff auf Goffman sieht er jede menschliche Interaktion als Abfolge von „Spielzüge[n]“, die auf die „Veränderung des beiderseitigen Kräfteverhältnisses“ zielen.35 Nun gibt es in der Gesellschaft zwei grundsätzliche Konzeptualisierungen des Spielbegriffs, die miteinander konkurrieren. Das eine Konzept versucht, einheitliche Spielregeln durchzusetzen, eine solche forcierte „Identifikation mit dem System“ ist für Lyotard gleichbedeutend mit „Terror“ für das spielende Individuum.36 Dagegen steht ein pluraler Spielbegriff, der die Erkenntnis der „Heteromorphie der Sprachspiele“ voraussetzt und als einzigen unhintergehbaren Wert den der „Gerechtigkeit“ festschreibt: „Man muß also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsenses gebunden ist.“37 Eine solche Idee hat Lyotard in seinem Hauptwerk Der Widerstreit genauer ausgearbeitet.38 Im Anschluss an Lyotard hat Wolfgang Welsch Pluralität als Schlüsselbegriff der Postmoderne herausgestellt und vom Begriff des Pluralismus abgegrenzt.39 Pluralismus wäre Beliebigkeit der Werte, auch Gerechtigkeit wäre kein verbindlicher Wert mehr. Pluralität hingegen bedeutet die Chance zu Freiheit und Selbstverwirklichung: Das Ende der großen, vereinheitlichend-verbindlichen Meta-Erzählungen gibt dem Faktum und der Chance einer Vielzahl begrenzter und heteromorpher Sprachspiele, Handlungsformen und Lebensweisen Raum. Dieser Perspektive gilt es zuzuarbeiten. Erst die Zustimmung zur Multiplizität, ihre Verbuchung als Chance und Gewinn, macht das „Postmoderne“ am postmodernen Bewußtsein aus.40

Damit befindet sich Welsch tendenziell auf einer Linie mit Soziologen wie Ulrich Beck, der bereits 1986 die neuen Grundlagen der, wie er sie nannte, „Risikogesellschaft“ herausgearbeitet hat.41 Beck plädiert für eine „reflexive Modernisierung“, die er dem „Unbehagen an der Moderne“ entgegensetzt: 34 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 519. 35 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 58 f. Als Unterschied zur Systemtheorie etwa Niklas Luhmanns, die sich als weiteres Erklärungsmodell anbieten würde, da sie nach spezifischen Regeln wie ein Spiel aufgebaut ist, lässt sich der wertende Anspruch von Lyotard, Bourdieu und anderen sehen. Luhmann beschreibt, um zu beschreiben (was hier nicht beoder gar abwertend gemeint ist – die Leistung Luhmanns lässt sich kaum überschätzen), Lyotard beschreibt, um zu verändern, und auch bei Bourdieu kommt diese Absicht, zumindest am Ende von Die Regeln der Kunst, deutlich zum Vorschein. Insofern und auch aus Platzgründen wird daher auf die Systemtheorie als weitere spannende Perspektivierungsmöglichkeit verzichtet. 36 Vgl. ebd., S. 186. 37 Ebd., S. 190 f. 38 Vgl. Lyotard: Der Widerstreit. 39 Vgl. Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. XVII. 40 Ebd., S. 33. 41 Beck: Risikogesellschaft.

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Die bestehenden Institutionen (einschließlich den eigenen Verhaltensgewohnheiten in der Privatsphäre) müssen mit prinzipiellen Alternativen umzingelt und belagert werden. Es handelt sich also um Versuche der Revitalisierung der Aufklärung gegen ihr scheinbares Ende im Institutionensatz der national-staatlichen Markt-Demokratie. Reformation meint also Radikalisierung der Moderne gegen ihre industriegesellschaftlichen Bornierungen und Halbierungen.42

Interessant ist, dass die Bedeutung der Reflexion, der Beck die Fähigkeit zur notwendigen Reparatur des Projekts der Moderne zuschreibt, bereits von Schiller gesehen wurde, der formulierte: „Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt.“43 Zusammenfassend könnte man also sagen, dass Theoretiker des gesellschaftlichen Zusammenlebens (hier ließen sich zweifellos noch andere anführen) einen Wandel sehen, der eng mit dem Begriff des Spiels assoziiert wird, weil dieser den Konstruktionscharakter des Wandels benennt und dabei die Möglichkeit eröffnet, Regeln zu definieren und – mit dem Ziel einer reformierten pluralen Gesellschaft – zu ändern. Bourdieu unterstellt der Soziologie, dass sie literarische Texte auf diesen Spiel-Charakter hin dechiffrieren und die Bedeutung dieser Texte für den gesellschaftlichen Wandel herausarbeiten kann, er selbst hat dies am Beispiel von Flauberts Erziehung des Herzens in Die Regeln der Kunst vorexerziert. Dem wäre entgegenzuhalten, 1. dass die Literaturwissenschaft im Umgang mit Literatur Deutungskompetenzen herausgebildet hat, die denen der Soziologie zumindest vergleichbar sind, und 2. dass es wenig wahrscheinlich ist zu glauben, dass sich ‚reflektierte‘ Autoren des Spielcharakters ihrer Texte nicht bewusst sind, man also vielmehr annehmen sollte, dass sie die Texte absichtsvoll so konstruieren. Solche Fragen interessieren einen Soziologen verständlicherweise weniger, einen Literaturwissenschaftler aber dafür umso mehr. Dementsprechend soll an Beispielen aus der Gegenwartsliteratur der letzten zwanzig Jahre versucht werden, weniger den Spiel-Charakter der Literatur als vielmehr die Konzeptionalisierung von Literatur als Spiel in der Literatur herauszuarbeiten. Die Literatur hat die Neukonzeptualisierung des Spielbegriffs teils wahrgenommen, teils reagiert sie auf die allgemeinen Wissensveränderungen, die den Konstruktionscharakter von Wahrnehmungsprozessen mit dem Begriff des Spiels in Verbindung setzen. Als neuer Konsens kann hierfür gelten: „Spiele sind die Wahrheit des Bewusstseins. Was immer man tut, was immer man denkt, man ist gleichzeitig Regisseur und Akteur.

42 Beck: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, S. 102. 43 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 651.

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Man handelt und reflektiert im Rahmen seiner Vorstellungen.“44 Und die wichtigsten verschriftlichten ‚Vorstellungen‘ bezeichnet man als Literatur.

Praxis und metareflexive Theorie des Spiels in der Gegenwartsliteratur Die von Florian Illies postulierte „Generation Golf“ hat es so nie gegeben. Sie ist Ergebnis eines Spiels mit Mustern, mit Gegensätzen zwischen Generationen, und Produkt des Versuchs, sich von der Ernsthaftigkeit der sogenannten 68er-Generation abzusetzen. Illies’ Buch war wohl deshalb so erfolgreich, weil die hier porträtierte Generation ihre eigene Überlegenheit inszeniert sah, freilich nur in der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde (das selbstironische bzw. ironische Konzept des Buches unterläuft eine solche Auffassung wieder). Eines von vielen möglichen Gegenbeispielen zu Illies’ These der engagementfreien Wohlstandsgeneration ist der wichtigste Roman dieser Altersgruppe, sowohl international als auch, wegen seines Einflusses, innerhalb der deutschsprachigen Literatur: Bret Easton Ellis’ American Psycho von 1991. Der 1964 geborene Schriftsteller steht etwas außerhalb der von Illies gezogenen Grenze der „zwischen 1965 und 1975 Geborenen“,45 doch Christian Kracht, der mit Faserland von 1995 das deutschsprachige Pendant zu Ellis’ Roman schrieb und 1966 auf die Welt kam, ist kaum jünger. Wie sich zeigen wird, sind auch die 1962 geborene Ulrike Draesner und die 1974 geborene Juli Zeh aus der gewählten Perspektive nicht weit voneinander entfernt. Dazu kommt, dass ebenso ältere Autorinnen und Autoren, die der 68er-Generation zugerechnet werden, Literatur als Spiel inszenieren, etwa der 1940 geborene Uwe Timm, der mit seinem Roman Kopfjäger von 1991 die Geschichte der Osterinsel, die Börsenspekulationen seines Protagonisten und die Geschichte seiner Familie miteinander verbindet. Ebenfalls zu nennen ist Ulla Hahn, geboren 1946, die 1983 mit ihrem Gedichtband Spielende (und mit ihren anderen Gedichtbänden der Zeit) überraschend erfolgreich war. Gedichte wie Liebesspiel stellen das Spielen mit literarischen Mustern ebenso aus wie den literarisch-spielerischen Umgang mit diesem existentiellen Thema.46 Der Band trägt bereits die Ambivalenz von Ernst und Spiel im Titel, das sorgenfreie Spiel wie dessen möglichen Ernst. Wenn der 1971 geborene Illies feststellt: „Das Problem der Generation Golf ist dabei natürlich, daß sie sich persönlich mehr Gedanken macht über die Anzüge der Politiker als über deren Taten, politisch also 44 Schulze: Das Leben, ein Spiel, S. 149 f. 45 Illies: Generation Golf, S. 19. 46 Hahn: Spielende, S. 14.

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völlig indifferent ist“,47 dann scheint dieser Satz auch auf Patrick Bateman zuzutreffen, den Protagonisten von American Psycho. Seitenlang beschreibt der Erzähler des Romans aus der Perspektive Batemans die Kleidung von Freunden, Feinden und Bekannten. Und doch ist Bateman ein Killer, oder zumindest hat er die Psyche eines Killers. Denn Ellis’ Roman lässt letztlich offen, ob Bateman sich die perversen Morde, die er begeht, nur einbildet. Der Roman ist eine Versuchsanordnung, ein Spiel mit Versatzstücken der Wirklichkeit, die gerade durch die genaue Beobachtungsgabe des Protagonisten eine beklemmende Wirkung entfalten. Auch für Bateman ist die Wirklichkeit nur ein Spiel, doch so wie er es zu spielen vorgibt, ein ernstes und blutiges.48 Wenn also in den Medien wieder ein neues Lebensgefühl ausgerufen wird, dann sollte man dem mit Skepsis begegnen: Gemeinsam ist ihnen [den Jugendlichen um 2005] die Abkehr von der wattierten Empfindsamkeit der Generation Golf. Die Liebe zu den Dingen des Konsums wirkt plötzlich hilflos und belanglos. Es gibt wieder eine soziale Frage und den Ernst des Lebens. Die Zeiten sind nicht unbedingt härter, aber ganz sicher unverständlicher geworden.49

Dem ist zu widersprechen, für die Literatur der Nach-68er ist der ‚Ernst des Lebens‘ keineswegs etwas Neues, sie ist nur anders damit umgegangen. Sie hat (natürlich nicht als Ganzes, sondern in Gestalt exponierter Vertreter), wie am Beispiel American Psycho erkennbar, schon immer Konsum als Ersatzbefriedigung bloßgestellt und die Leere der Existenz dahinter gezeigt – allerdings auf dezidiert spielerische Weise. Und sie hat den sogenannten ‚Ernst des Lebens‘ vielleicht gerade deshalb ernstgenommen, weil sie ihn als ernstes Spiel mit Menschen dargestellt hat. Auf einige Beispiele für das Verhandeln von Spiel und Ernst im Medium der Literatur möchte ich nun genauer eingehen. Ulrike Draesner hat ihren 2005 erschienenen Roman Spiele genannt. Der Titel ist mehrdeutig, konkret weist er auf die Olympischen Spiele 1972 in München hin, die von einem Terroranschlag überschattet wurden. Auch ein Kinderspiel spielt eine wichtige Rolle. Protagonistin Katja hat Max, in den sie verliebt war, einen Streich gespielt. Weil sie sich von ihm betrogen glaubte, hat sie ihn vor ihren gemeinsamen Freundinnen und Freunden bloßgestellt. Diese bittere Erfahrung hat Max dazu bewogen, zur Polizei zu gehen. In der gescheiterten Aktion, die israelischen Geiseln der palästinensischen Terroristen des sogenannten Schwarzen September zu befreien, wird Max angeschossen, vermutlich von den eigenen Leuten. Er ist nun gehbehindert und scheidet 47 Illies: Generation Golf, S. 121. 48 Vgl. Ellis: American Psycho; zur Differenzerfahrung von Ich-Erzähler und Umwelt vgl. z.B. S. 391 f. 49 Bude: Glück in der Politik.

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aus dem Polizeidienst aus. Katja wird eine erfolgreiche Fotografin50 und meldet sich erst 30 Jahre nach diesen Ereignissen wieder telefonisch bei Max, der inzwischen eine eigene Familie hat. Sie selbst beginnt erstmals eine feste Beziehung mit Paul. Das Ende des Romans bleibt offen. Der Roman erzählt auch die Familiengeschichte Katjas, wobei die Protagonistin besonders durch den Tod der Mutter Marlene geprägt wurde und später erfahren muss, dass sich ihre Mutter umgebracht hat, weil sie unheilbar krank war.51 Dazu kommt die Heimatlosigkeit der Familie, die aus den früheren ostdeutschen Gebieten vertrieben wurde.52 Katjas Vater Edgar Berewski, ein Rechtsanwalt, will deshalb München nicht mehr verlassen, um seiner Freundin Susanne nach Freiburg zu folgen.53 Sein Vater Jozef sammelt Zucker aus seiner Heimat Schlesien, um die Entwurzelung auf spielerische Weise zu kompensieren.54 Die Olympischen Spiele repräsentieren den engen Spielbegriff. Das Kinderspiel mit ernsten Konsequenzen und der spielerische, aber sich ebenfalls auf das Leben der Figuren auswirkende Umgang miteinander verweisen auf den weiten Spielbegriff, auf den im Roman auch mehrfach angespielt wird. Den Zusammenhang zwischen dem Besonderen, der erzählten Geschichte Katjas, und dem Allgemeinen stellt schon das erste Motto des Romans her, man kann es als Leseanweisung verstehen. Zitiert wird aus der Rede des Präsidenten des deutschen olympischen Komitees zur Abschlussfeier der Münchner Spiele: „In einigen Monaten, in ein paar Jahren, ja vielleicht erst in Jahrzehnten wird man sagen, dass München ein zeitgeschichtliches Ereignis war, das mit seiner ganzen Tragik, seiner Wirrnis und der Unreife die Probleme deutlich gemacht hat, mit denen wir in dieser Welt von heute leben müssen.“55 Auf die universale Metapher des Spiels wird bereits früh im Roman hingewiesen, der auktoriale Er-Erzähler kommentiert das bevorstehende olympische Ereignis wie folgt: Etwas Großes lag in der Luft. Hart, wie gehämmert hing der Himmel über den Türmen der Stadt. Gehämmert aus blauen und weißen Blechen, aus denen man Spiele würde machen können. Nicht mit Brettern, Plastikhütchen und Würfeln, gefügig, willig, Spiele, die man verlieren konnte, ohne verloren zu gehen. Nein. Diese Spiele würden anders sein. Erwachsene hatten sie sich ausgedacht. Für Erwachsene waren sie gemacht. Große Spiele.56

50 Zu Draesners Roman, insbesondere zur identitätsbildenden Funktion der Medien vgl. Braun: Von Bildern des Terrors und dem Terror der Bilder. 51 Vgl. Draesner: Spiele, S. 470. 52 Vgl. ebd., z.B. S. 28, 34 f., 99, 124 f. u. – mit Bezug auf Kafka – 197. 53 Vgl. ebd., S. 184 u. 208 f. 54 Vgl. ebd., S. 92. 55 Ebd., S. 5. 56 Ebd., S. 25.

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Katjas Onkel Franz, der beim Bundesnachrichtendienst arbeitet, macht sich schwere Vorwürfe, dass man die Bedrohung durch Terroristen nicht ernst genug genommen hat. Auch er gebraucht die titelgebende Metapher: „Sicherheit lässt sich nie berechnen, sagte Elsbeth. Das ist es eben, antwortete Franz. Sie ist immer ein Spiel, man kann nie sicher sein, aber so sicher wie möglich, und das darf man nicht spielen.“57 Wenn Franz eine Bemerkung des Kindes Katja so interpretiert, „dass jeder Mensch ein Verbrecher sein könnte“, erwidert sein Schwager Edgar, Katjas Vater, Franz solle das Kind „aus dem Spiel“ lassen.58 Er weiß nicht, dass Katja schon längst mit im Spiel ist, dass sie sich, auch als Kind, den Konsequenzen der familiären und gesellschaftlichen Spieleanordnung nicht entziehen kann. Ebenso wie Max, dessen Entscheidung, zur Polizei zu gehen, der Erzähler als „nächsten Zug des Spiels“ bezeichnet. Max macht seine Entscheidung vom Verhalten seiner Mutter in einer bestimmten Situation abhängig, er entscheidet auf spielerische Weise.59 Er spielt häufig mit Katjas Großvater Schach, die Erzählerin vergleicht später Katjas Versuch der Rekonstruktion der Ereignisse 1972 mit einem Schachspiel.60 Die großen und die kleinen Spielzüge lassen sich nicht mehr trennen, sie greifen ineinander. Die Erzählerin charakterisiert das Verhalten der Behörden nach dem Anschlag wie folgt: „[...] es war ein Spiel mit gezinkten Karten, Fehlern, Hoffnungen, Lügen, Ideen. Ein Spiel um Vertrauen.“61 Die Terroranschläge von München zeigen ebenso wie die skandalösen, gescheiterten Versuche der Bundesrepublik, mit dem Terror umzugehen, dass es in der postmodernen Gesellschaft nur noch Versuchsanordnungen und keine Sicherheiten mehr gibt, die dem Individuum, in diesem Fall der Figur Katja, zu einer stabilen Identität verhelfen könnten. Deshalb ist sie bis zur Erinnerung an die Münchner Ereignisse 30 Jahre später ständig auf der Flucht vor sich selbst: „[...] wohin sollte sie ‚heim‘? Lief sie doch gerade weg vor jedem Zuhausegefühl [...].“62 Für Katja wird die Erfahrung, dass das Leben nicht viel mehr als ein ernstes Spiel ist, zum Auslöser einer dauerhaften existenziellen Krise. Andere machen die Erfahrung nicht, für andere ist nicht die Flucht das Muster des Lebens, sondern die serielle Monogamie: Sie [...] wunderte sich über sich selbst, da war sie knapp über 40 und hatte so viele abgelegte Männer um sich, die abgelegte Frauen hatten, und die Abgelegten liefen

57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 338 f. Vgl. ebd., S. 451. Ebd., S. 394. Ebd., S. 171.

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einander hinterher und beobachteten sich wie die Weltmeister, da war das FBI nichts dagegen, nur sie, Katja, war nicht dabei, in diesem Spiel.63

Die Außenseiterposition der Figur Katja macht es leichter, in den Text eine metafiktionale Ebene einzuziehen. Aus der Perspektive Katjas kann die Erzählerin selbst Paarbeziehungen als Spielanordnungen charakterisieren: „Sie waren zwei Soli, manchmal hintereinander, manchmal gegeneinander, manchmal gegen alle Voraussicht zusammen gespielt.“64 Wie die Liebe ist auch der Terror ein ernstes Spiel. München 1972 hat deshalb exemplarischen Charakter, weil es den Beginn des „Terrorismus der globalisierten Welt“ markiert.65 Auch Katjas Zahlenspiele demonstrieren auf verblüffende Weise diesen Zusammenhang: Dass hingegen der 5. September 1972 der 11. Tag der olympischen Spiele in München war, wunderte sie nicht mehr, seitdem sie auf die Elf aufmerksam geworden war. Die Gesamtsumme des 5.9.1972 ergab 33, dreimal die Elf. Folgerichtig schien ihr auch, dass U3, U6 und S2 1972 zum Olympiagelände hinausgefahren waren. Quersumme 11. Am 11.9. fand die Abschlussfeier der Spiele statt. Am 29.10. wurde die Boing entführt, Quersumme von 29 ist 11. Elf Passagiere saßen in ihr. Zählte man das Datum der Entführung zusammen, kam man auf 2011. Darin kehrte der 11.9.2001 versteckt wieder [...].66

Wenn Draesner weltpolitische und private Aktion zusammenbringt, so konzentriert sich Juli Zeh in ihrem 2004 erschienen Roman Spieltrieb auf das Geschehen in einer Privatschule. Der Roman ist so angelegt, dass man von dem Verhalten der Figuren auf die Lebenseinstellungen einer Generation schließen kann. Allerdings stellt sich am Ende des Romans heraus, dass die Gegensätze zwischen den exemplarischen Vertretern der Schülergeneration und bestimmten Vertretern der Lehrergeneration keinesfalls unüberbrückbar sind – aus der Erpressung eines Lehrers mit Hilfe einer Schülerin entwickelt sich ein offenbar dauerhaftes Liebesverhältnis zwischen diesen beiden. Man sollte von der Verbindung der beiden Figuren nicht auf die Harmonie zwischen den Generationen rückschließen, das wäre falsch; vielmehr ist es das Begreifen des Lebens als ernstes Spiel, das die Kluft zwischen den Generationen überbrückt. Wer sich selbst und das ihn umgebende Geschehen zu ernst nimmt, so existenziell es auch sein mag, scheitert oder macht sich lächerlich. Allerdings ist die Gegenposition ebenso fatal – das Leben nur als Spiel zu begreifen führt in die Katastrophe. Folglich heißt es in der Überschrift zur Einleitung in den Roman: „Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren“.67 Am Ende der Einleitung setzt die Autorin noch hinzu: „Wenn

63 64 65 66 67

Ebd., S. 248. Ebd., S. 309. Vgl. ebd., S. 422. Ebd., S. 441. Zeh: Spieltrieb, S. 7.

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nicht – erst recht.“68 Diese Aussage wird am Romanende noch einmal wiederholt.69 Die einzige Möglichkeit, das wird hier bereits vorweggenommen, liegt in einer Balance von Spiel und Ernst, wie sie ja auch im Kinderspiel oder in konventionalisierten Spielen wie Schach bewahrt ist – für die Dauer des Spiels zählt der Ernst der Situation, sonst hat man weder Freude am Spiel noch Aussicht auf Gewinn. (Nicht zufällig heißt das bekannteste Brettspiel für Kinder „Mensch ärgere dich nicht“.) Bei der Juristin Juli Zeh wundert es nicht, dass die Rechtstheorie eine wichtige Rolle spielt und der Showdown zwischen den Protagonisten am Romanende im Gerichtssaal stattfindet. Das Gesetz als Regelwerk wird als Spielanleitung für das Verhalten in der Gesellschaft begriffen, wobei es der Unterschied zwischen dem Konstruktionscharakter der ‚Spielregeln‘ und den ernsten Auswirkungen ihrer Anwendung ist, der Zeh interessiert. Nicht die ganze Spielanordnung des Romans kann hier beschrieben werden, von dem Namenspatron der Schule, Ernst Bloch, bis hin zu den Diskursen der Lehrer über den Sinn des Unterrichts und den Sinn des Lebens. Hier soll nur kurz auf die wichtigsten ‚Spieler‘ im Roman eingegangen werden, die Schülerin Ada, den Schüler Alev und ihren Deutschlehrer Smutek; Alev hat ägyptische und Smutek polnische Vorfahren. Ada lebt bei ihrer neurotischen Mutter, die sich nur für sich selbst interessiert;70 Alev hat einen gewalttätigen Vater – hier wird, eine der Schwächen des Romans, das Klischee des gebildeten, aber brutalen Orientalen reanimiert.71 Ada und Alev sind ebenso Außenseiter wie ihr Lehrer, der Probleme in seiner Ehe hat; seine Frau sieht in ihm fälschlicherweise einen polnischen Widerstandskämpfer und versucht sich im Schullandheim das Leben zu nehmen.72 Ada rettet sie vor dem Ertrinken.73 Ada liebt Alev, der allerdings impotent ist; er verleitet sie dazu, Smutek zu verführen, und er fotografiert die beiden beim Liebesspiel. Mit den Fotos wird Smutek erpresst, allerdings nur um kleine Geldbeträge; vor allem wird er gezwungen, die sexuelle Beziehung mit Ada fortzusetzen. Der Sinn dieser Spielanordnung ist nicht ganz klar; möglicherweise will Alev seine Impotenz im Zuschauen ausgleichen. Er gibt vor, Smutek zu dessen eigenem Besten unter Druck zu setzen.74 Nicht gerechnet 68 Ebd., S. 10. 69 Vgl. ebd., S. 559. 70 Das Kind wird zum Kriegsschauplatz der Trennung vom Stiefvater: „Die Mutter wandte ihre ganze Kraft auf, um den General in der eigenen Tochter zu bekämpfen [...].“ (ebd., S. 36) 71 Vgl. z.B. Alevs Aussage über seinen Vater: „Im Moment vögelt oder prügelt er meine Mutter, wahrscheinlich beides abwechselnd.“ (ebd., S. 251) 72 Die Fehleinschätzung Smuteks durch seine Frau führt zur inneren Entfremdung und schließlich zur Trennung (vgl. z.B. ebd., S. 237 ff.). 73 Ebd., S. 225 ff. 74 Vgl. ebd., S. 343.

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hat er wohl mit dem Ausgang: Smutek verprügelt ihn so sehr, dass er für sein Leben gezeichnet ist; der Lehrer verlässt seine Frau und fährt mit Ada Richtung Südosteuropa davon. Ada ist Identifikationsfigur und vertritt eine Haltung zu Leben und Gesellschaft, um deren Ausgestaltung sich der Roman bemüht.75 Ihr Pendant ist eigentlich nicht Alev, sondern Olaf – der ähnliche Klang des Namens ist sicher kein Zufall. Auch Olaf sucht jemanden, wie es etwas pathetisch heißt, „mit dem er sich über den toten Gott in einer toten Welt unterhalten konnte“.76 In einer postmodernen Welt beliebiger Sinnzuschreibungen suchen die jungen Individuen nach verbindlichen Sinnangeboten, nach Werten zur Orientierung. Der Konstruktionscharakter von Wahrnehmung führt zur fundamentalen Verunsicherung beider Figuren, denn, wie es im Roman heißt: „Wirklichkeit ist ein anderes Wort für das, woran Zeugen sich erinnern.“77 Während Olaf passiv, fast duldend bleibt und sich der Kommunikation über sämtliche Probleme und damit auch dem Spiel verweigert, nimmt Alev eine zynische Haltung gegenüber der Wirklichkeit ein, die er zu manipulieren versucht. Ada wird seine Spielpartnerin, wenn Alev feststellt: „Die Sinnsuche ist einem Kreuzworträtsel vergleichbar, in das der erste Begriff mit Absicht falsch eingetragen wurde. Eine Patience mit unvollständigem Kartenspiel. Man kann sich damit die Zeit vertreiben. Man kann es auch sein lassen.“ Ada stieg auf das Spiel ein und übernahm die Rolle eines besorgten Fragenstellers [...].78

Olaf ‚lässt es sein‘, während sich Alev und Ada mit dem Spiel ‚die Zeit vertreiben‘.79 Das Spiel dient beiden dazu, vor ihren Problemen mit Familie und Mitschülern zu flüchten; dies wird mehrfach durch Kommentare des Erzählers betont, etwa wenn es heißt: „Es gab viele Figuren im Spiel und viele denkbare Gründe, das geheime Ziel zu vertuschen, vor allem vor sich selbst.“80 Alev muss scheitern, weil er durch die Verdrängung von Wirklichkeitspartikeln zu einseitig argumentiert. Daran ist eigentlich sein Vater schuld, von dem er folgende Erkenntnis übernommen hat: „Was die Menschen täglich ihre Entscheidungen nennen, ist nichts weiter als ein gut einstudiertes Spiel.“81 Schon in der Prägung der Figuren durch ihre Primärbeziehungen zeigt sich der Ernst, der dem Spiel innewohnt. Für Smutek wird dies beim ersten Geschlechtsverkehr mit Ada offensichtlich: „Er verstand das Spiel nicht; inzwischen war es ihm gleichgültig.“82 Und als Alev verkündet: „Das Spiel 75 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. ebd., S. 348 f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 81. Ebd., S. 139. Zur näheren Charakterisierung Alevs als Spieler vgl. auch ebd., S. 154. Ebd., S. 167. Ebd., S. 179. Ebd., S. 327.

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ist aus“,83 reagiert Smutek wie ein Spielverderber. Alev hatte nicht begriffen, dass die Beziehung zu Ada für Smutek kein Spiel ist. Als Smutek seinen Schüler zusammenschlägt, heißt es über Alev: „Zum ersten Mal betrachtete er Smutek mit Erstaunen, und dieses Erstaunen verlieh ihm den Ausdruck eines kleinen Jungen, der von Anfang an etwas missverstanden hat.“84 Um sein Verhalten argumentativ abzusichern, hat sich Alev mit einem Buch versorgt, das er Ada leiht: Evolution of Cooperation, ein Buch zur „Spieltheorie“.85 Alev erklärt es so: „Um ein Spiel in Gang zu setzen, braucht man zunächst einen Gegner. [...] Nur ein künstlicher Gegner ist ein echter Gegner“,86 also niemand, den man ohnehin als Feind betrachtet. Hier zeigt sich wieder Alevs Versuch, gegen die Theorie den Ernst aus dem Spiel auszuklammern; doch genau dies wird zum Scheitern seines Spiels führen. Alevs Lektüre des 1984 erstmals erschienenen Buches, das von Robert Axelrod stammt, beruht auf einem Missverständnis. Richard Dawkins weist in seinem Vorwort von 2006 darauf hin, dass es die optimistische Botschaft des Buches sei, die Entwicklung von einer darwinistischen Auslese hin zur immer stärkeren Ausprägung des menschlichen Sozialverhaltens nachzuweisen.87 Kooperation ist lohnender als Konfrontation. Insofern macht Axelrods Buch nicht Alevs Theorie, sondern den Ausgang des Romans mit Smutek und Ada als Paar wahrscheinlicher. Allerdings sieht Alev zum Schluss seinen Irrtum ein und er bewahrt Größe, indem er Ada hilft, vor Gericht ein Spiel zu inszenieren, das Ada und Smutek entlastet. Alev begreift sich als „Verlierer des Spiels“88 und trägt dafür die Konsequenzen. Fluchtpunkt des Romans ist eine eher konservative Vorstellung von Zweisamkeit, die Generationen überbrückt und das Alter der Figuren relativiert. Der Geschichtslehrer Höfi, der seiner Frau in den Tod folgen wird, formuliert es so: „Zwei Menschen, die, jeder auf seiner Linie, Hand in Hand durchs Leben laufen, bilden zusammen einen Vierbeiner und werden nicht stürzen, selbst wenn sie von dem Abgrund unter ihren Füßen wissen.“89 Ada und Smutek sind nicht zufällig beide begeisterte Läufer. Am Roman­ ende werden sie beschließen, gemeinsam durchs Leben zu laufen – wie lange, bleibt freilich offen. Vladimir Nabokov ist offenbar der paradigmatische Autor für Autor­ Innen, die Literatur als Spiel inszenieren, um damit auf die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion als Spiel zu referieren. In Draesners Spiele heißt es über eine Figur: „[...] Katjas Sponsor für eine Woche, Mister Wladimir 83 84 85 86 87 88 89

Ebd., S. 512. Ebd., S. 513. Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 191. Vgl. Axelrod: The Evolution of Cooperation, S. XI. Zeh: Spieltrieb, S. 556. Ebd., S. 230.

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Chatterpee, wollte auch etwas haben von seiner Farm. Trotz seines halb russischen Namens, den er zu Ehren Nabokovs trug [...].“90 In Juli Zehs Buch ist die Parallele zu Nabokov sogar strukturbildend. Der Deutschlehrer Smutek, der sich in der Weltliteratur auskennt, überlegt einmal, ob er Ada fragen soll, „ob sie nach Nabokovs größtem Buch benannt worden sei“.91 Gemeint ist der Roman Ada oder Das Verlangen von 1969. Die Parallele ist die Suche junger Leute nach einem Lebenssinn in einer Zeit (bei Nabokov das Ende des 19. Jahrhunderts) zunehmender Dekadenz und Orientierungslosigkeit. Ada und ihr Halbbruder Ivan verlieben sich ineinander, doch sind sie zu jung und die Widerstände gegen Inzest zu groß. Erst im hohen Alter finden die beiden endgültig zusammen. Frivoles Spiel auf der einen Seite, Sehnsucht nach einer dauerhaften Liebesbeziehung auf der anderen Seite haben die beiden Romane gemeinsam. Allerdings ist die Liebe zwischen Ada und Ivan eine alle Schwierigkeiten und Zeiten überdauernde, während sich die Beziehung von Ada und Smutek, nachdem Ada zunächst in Olaf und dann in Alev verliebt war, erst noch bewähren muss. Nabokov gestaltet eine originelle Herausgeberfiktion, der hochbetagte Ivan schreibt die Geschichte seiner Liebe zu Ada und die nun mit ihm lebende Ada fügt ihre Kommentare in das Manuskript ein. So stellt Nabokovs Roman seinen Spielcharakter bereits in der Rahmenkonstruktion deutlich aus.92 In den Romanen von Draesner und Zeh steht der Begriff des Spiels im Titel, ihre Romane sind Versuchsanordnungen mit Spielcharakter, doch ist die Erzählweise vergleichsweise konventionell, indem Authentizität erzeugt wird und dem scheinbaren Realismus des Erzählten große Bedeutung beikommt. Zeh überwindet dies zumindest mit der Referenz auf Nabokov, der den scheinbaren Ernst seiner Handlung durch metafiktionales Spiel balanciert. Eine andere Autorin der Gegenwartsliteratur, auf die ich abschließend eingehen möchte, setzt den Spiel-Charakter der Literatur ganz konsequent auch auf der formalen Ebene um: Felicitas Hoppe. Ihre Texte folgen einer eigenen Logik, die mit Alltagslogik und daher mit realistischem Erzählen nichts mehr zu tun hat. Insofern sind sie noch radikaler als die Texte Kafkas, die nicht zuletzt deshalb so erfolgreich sind, weil sie trotz – oder gerade wegen – ihrer Deutungsoffenheit erhebliche Identifikationspotenziale bieten, man denke nur an die in den Texten literarisierte Auseinandersetzung Kafkas mit dem Vater. Felicitas Hoppe wird nicht müde zu betonen, dass die Texte zunächst einmal nur sich selbst bedeuten und dass alle Sinnzuschreibungen allein Aufgabe des Lesers sind. Dennoch betreibt sie erheblichen Rechercheaufwand, so reiste sie für den Roman Pigafetta von 1999 auf einem Contai90 Draesner: Spiele, S. 168. 91 Zeh: Spieltrieb, S. 89. 92 Vgl. Nabokov: Ada oder Das Verlangen.

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nerfrachtschiff um die Welt und für den Roman Johanna von 2006 las sie u.a. Verhörprotokolle Jeanne d’Arcs. Von diesen Quellen ist allerdings, von wenigen Motiven abgesehen, die als Spielmaterial dienen, nichts in den Roman eingegangen. Die Handlung des Romans ist, soweit man sie erschließen kann, schnell erzählt: Eine Ich-Erzählerin bereitet sich auf eine Doktoratsprüfung über die Jungfrau von Orleans vor, dabei hilft ihr ein Assistent, der bereits über Johanna promoviert hat und im Roman nur „Peitsche“ genannt wird. Ihr Professor der Geschichte verlässt während der Prüfung den Raum, zunächst hat sie also nicht bestanden. Schließlich fahren die Erzählerin, Peitsche, der Professor und einige andere Figuren, darunter auch historische aus der Zeit Johannas, unabhängig voneinander mit dem Zug nach Rouen, um den Schauplatz von Johannas Feuertod in Augenschein zu nehmen. Zahlreiche Symbole sorgen für eine enge Verklammerung aller Passagen, auch die Einteilung in sieben Kapitel, mit der Prüfungssituation im vierten, mittleren Kapitel, zeugt von präziser Konstruktionsarbeit. Immer wieder taucht der Begriff des Spiels im Roman auf, er wird eng assoziiert mit der Suche nach Erkenntnis. So wird beispielsweise das vom Professor betriebene „Lieblingsspiel“, das „erkenne den König“93 heißt, mit der Formulierung „wozu das Spiel“ hinterfragt.94 Der entscheidende Unterschied zwischen Prüfer und Prüfling ist, dass der Professor seine Forschungen als „kein Spiel“ ansieht.95 Der Roman nimmt eindeutig Partei für die Ich-Erzählerin; gerade durch das Aufbrechen von Logik, aber auch durch das Erzeugen von Komik wird Sinn hinterfragt, der den professoralen Ernst rechtfertigen könnte. Über eine Vorlesungsstunde des Professors heißt es beispielsweise: „Am Morgen danach [nach einer Party] herrschte große Stille im Hörsaal. Hitze und hektisches Kronensuchen.“96 Die Erzählerin versucht zwischen ihrer Position und der des Professors zu vermitteln. Als die drei zentralen Figuren einen Ausflug unternehmen, heißt es über ihre Beziehung: Ohne Auftrag und Angst, ohne Not, ohne Stift und Papier, ganz unter uns, als könnten wir wieder von vorne anfangen. In anderen Worten, drei grüne Ritter mit Aussicht auf Urlaub. Vergessen wir einfach den heimlichen Krieg. Sie ein Professor, Peitsche ein Doktor, und ich die schlechtere Hälfte des Mantels. Die bessere Hälfte für Sie und durch zwei, wir nehmen uns frei, nichts als ein Spiel.97

Schon zuvor waren die Begriffe Angst und Spiel zusammengebracht worden: 93 94 95 96 97

Hoppe: Johanna, S. 103. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 31. Ebd., S. 62. Für eine vergleichbare Aussage der Erzählerin vgl. S. 139.

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Nichts als ein altes Gesellschaftsspiel, ein Rätsel, das auch Peitsche nicht löst: Erkenne den König, den Mann am Klavier, die Zweitfrau am Ring, den Priester im Schlaf, den Hund in der leichten Jacke des Dichters, den Souffleur in der Kiste, das Publikum am erschöpften Applaus, die Jungfrau in der gefütterten Rüstung. Lauter Hasen der Angst unterm stampfenden Schritt, ein Kind unterm Helm.98

Hier wird das wohl zentrale Thema des Romans angesprochen – es geht um die Frage der Bewältigung von Angst, Johannas Angst vor den Engländern und dem Feuertod, die Angst der Erzählerin vor der Prüfung und davor, dem „geliebten Gegner“ Peitsche99 ihre Zuneigung zu gestehen. Wenn es so etwas wie eine Botschaft des Romans gibt, dann lautet sie: „Die Angst nimmt mich bei der Hand und führt mich. Wenn die Angst bei mir ist, habe ich keine Angst.“100 Nicht zufällig wird dieser Satz auch im kurzen Nachwort wiederholt, in dem die Autorin dem Dichter Ossip Mandelstam für diese Erkenntnis dankt.101 So kommt der Ernst des Spiels wieder in einen Text hinein, der seinen Spielcharakter über seine Form, über das Spiel mit Versatzstücken der Wirklichkeit und verschiedenster Traditionen, von der Bibel bis zur Geschichte Johannas, deutlich ausstellt.

Fazit Die Beispiele sollten gezeigt haben, dass Huizingas Formulierung „Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche‘ oder das ‚eigentliche‘ Leben“102 nicht unwidersprochen gelten kann. Von Schiller bis Lyotard oder Bourdieu gibt es Konzepte, den Ernst des Lebens und das Spiel zusammenzudenken, wobei Kunst und Literatur hierfür geeignete Simulationsräume darstellen. Autorinnen und Autoren haben in den letzten Jahrzehnten den Begriff des Spiels in diesem Sinn verwendet. Solche Texte begreifen den Menschen als „soziales Konstrukt“ (Luhmann),103 der Konstruktionscharakter der Wirklichkeit korrespondiert mit dem Konstruktionscharakter der imaginären Realität und für beides scheint, geht man nach seiner Verwendung in den besprochenen Beispielen, der Begriff des Spiels besonders gut operationalisierbar zu sein. Ästhetik und Pädagogik des Spiels sind dabei komplementär. Die ästhetische Form des Texts ermöglicht selbstbestimmtes Lernen, wobei die Texte klare Deutungsangebote machen, indem sie Sinndefizite offenlegen und Strategien diskutieren, wie solchen Defiziten beizukommen sein 98 99 100 101 102 103

Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 15 u.a. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 173. Huizinga: Homo ludens, S. 21. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 135.

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könnte. Die hier diskutierte postmoderne Literatur suspendiert keine Werte, sie versucht vielmehr, durchaus im Sinne von Lyotard und anderen, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, dem ja auch Schillers Konzeption des ästhetischen Staats verpflichtet ist. Wenn Lyotard Gerechtigkeit als zeitlos gültigen Wert verstanden wissen will, dann pflichtet ihm die Juristin Juli Zeh bei, indem sie vorführt, wie Gesetz und Gerechtigkeit am konkreten Beispiel in Deckung gebracht werden können. Draesners Suche nach der Wahrheit hinter dem Terroranschlag auf die Olympischen Spiele und Hoppes Beschäftigung mit Jeanne d’Arcs Gerichtsprozessen können ähnlich gedeutet werden. Alle warnen zugleich an prägnanten Beispielen vor der Instrumentalisierbarkeit von Gerechtigkeitskonzepten, denn die allgemein verbindliche Gerechtigkeit kann es trotz allem nicht geben. Die Erfahrung der „Dialektik der Aufklärung“ (nach Adorno und Horkheimer)104 hat die Literatur der Postmoderne sichtbar beeinflusst und dazu geführt, dass sich Ernst und Spiel die Waage halten, um individuelle (statt auf ein imaginäres Kollektiv gerichtete) Erkenntnisprozesse befördern zu helfen.

Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Anz, Thomas: Spiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. JanDirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 469-472. Axelrod, Robert: The Evolution of Cooperation. With a new foreword by Richard Dawkins. New York 2006. Beck, Ulrich: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne. In: Ders.; Anthony Giddens; Scott Lash (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a.M. 1996, S. 19-112. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 2003. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs; Achim Russer. Frankfurt a.M. 2001. Braun, Michael: Von Bildern des Terrors und dem Terror der Bilder. Ulrike Draesners Roman „Spiele“. In: Lothar Bluhm; Christine Schmitt (Hg.): Kopf-Kino. Festschrift für Volker Wehdeking zum 65. Geburtstag. Trier 2006, S. 209-219. Bude, Heinz: Glück in der Politik. Im Leben vieler Jugendlicher ist das Politische so wichtig wie lange nicht mehr – und spielt sich fast nur noch jenseits der Parteien ab. In: Die Zeit Nr. 2 v. 5.1.2005, S. 45. Draesner, Ulrike: Spiele. Roman. München 2005. Ellis, Bret Easton: American Psycho. Roman. Dt. v. Clara Drechsler; Harald Hellmann. Köln 2 2001. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Franz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 2000. 104 Um den Zusammenhang zwischen Adornos/Horkheimers Konzept und der Postmoderne darzustellen, wäre mindestens ein weiterer Aufsatz notwendig, dies sollte aber zumindest hier erwähnt werden (vgl Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung).

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Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Aus dem Franz. v. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 72000. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. 15. Bd.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Hg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt a.M. 1999. Hahn, Ulla: Spielende. Gedichte. Stuttgart 1983. Hoppe, Felicitas: Johanna. Roman. Frankfurt a.M. 2006. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 152004. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek 182001. Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. Limitierte Sonderausg. Frankfurt a.M. 2005. Kopp-Marx, Michaela: Zwischen Petrarca und Madonna. Der Roman der Postmoderne. München 2005. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 4 1993. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 32004. Lyotard, Jean-Franςois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 52005. Lyotard, Jean-Franςois: Der Widerstreit. Übers. v. Joseph Vogl. München 21989. Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen. Aus den Annalen einer Familie. Dt. v. Uwe Friesel; Marianne Therstappen. Reinbek 1999. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. 2. Bd.: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke; Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1981. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. 5. Bd.: Erzählungen/Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke; Herbert G. Göpfert. Darmstadt 91993. Schulze, Gerhard: Das Leben, ein Spiel. Spiel und Wahrheit sind kein Gegensatz. In: Spielen. Zwischen Rausch und Regel. Hg. v. Deutschen Hygiene-Museum. Begleitbuch zur Ausstellung „Spielen. Die Ausstellung“ v. 22.1.-31.10.2005. Konzept und Redaktion: Helga Raulff; Margret Kampmeyer-Käding. Ostfildern-Ruit 2005, S. 139-150. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 62002 [Acta humaniora. Schriften zur Kunstgeschichte und Philosophie]. Zeh, Juli: Spieltrieb. Roman. München 22006.

Birte Giesler

Formen und Funktionen von Spiel und Ritual in Igor Bauersimas futur de luxe Schau-Spiel als Simulationsspiel: Igor Bauersimas futur de luxe Die folgenden Überlegungen fassen das Theater als eine Institution auf, die selbst mit dem Phänomen ‚Spiel‘ spielt. Die Institution Theater verweist aber nicht nur selbstreflexiv auf das Spiel und das Spielerische zurück, sondern stellt selbst ein interaktives Spiel von Schauspielern und Zuschauern dar. Es ist genau diese „leibliche[] Kopräsenz“ von eben diesen beiden, Schauspielern und Zuschauern, welche die spezifische Ästhetik des Theater-Spiels ausmacht. Johan Huizinga zufolge zeichnet sich das Spiel durch seine grundlegende ‚Uneigentlichkeit‘ und ‚Unernsthaftigkeit‘ aus: Alles Spiel ist zunächst vor allem ein freies Handeln. [...] Spiel ist nicht das „gewöhnliche“ oder das „eigentliche“ Leben. [...] Schon das kleine Kind weiß genau, dass es „bloß so tut“, dass alles „bloß zum Spaß“ ist. [...] Der Gegensatz Spiel – Ernst bleibt stets schwebend. Die Minderwertigkeit des Spiels hat ihre Grenze im Mehrwert des Ernsts. Das Spiel schlägt in Ernst um und der Ernst in Spiel.

Demnach heißt Spielen grundsätzlich, frei ‚so-als-ob‘ zu tun. Das Gleiche gilt auch für das Theaterspielen, dessen gesellschaftliche und anthropologische Funktion eben in diesem ‚so-als-ob-Tun‘ liegt: „Das Theater [...] ist ein Gleichnis für alltägliches Rollenspiel.“ Gunter Gebauer und Christoph Wulf zu Folge ist „[d]as Prinzip des Als-ob“ das Hauptcharakteristikum des Spiels, wobei die ‚als-ob‘-Verdoppelung und „Trennung von dem Gegebenen“ beim Theaterspielen bedeute, dass „der Schauspieler neben seinem empirischen einen zweiten, einen Spiel-Körper [erzeugt]“. Sprachlogisch gehören die beiden Körper des Theaterspiels unterschiedlichen dramatischen Kommunikationsebenen an. Während der Spiel-Körper des Schauspielers die Dramenfigur verkörpert, fiktionsimmanent ist und auf     

Schwind: Theater im Spiel – Spiel im Theater, S. 421-433. Zur Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern im europäischen Schauspiel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. auch Fischer-Lichte: Kurze Geschichte, S. 5. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, S. 153. Huizinga: Homo Ludens, S. 15 f. Bachmann-Medick: Kulturelle Spielräume, S. 101. Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste, S. 191.

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der werkimmanenten Kommunikationsebene ,wahre‘ Handlungen vollzieht, bewegt sich der empirische Körper des Schauspielers auf der Kommunikationsebene zwischen Schauspielern und Zuschauern, trägt also das spielerisch-mimetische Element, das aus der Kommunikationsebene der fiktionalen Dramenhandlung auf die Kommunikationsebene zwischen Bühne und Zuschauerraum und letztlich auf die Kommunikation zwischen Theater und Außenwelt verweist. Die Kulturpraktik Theaterspielen wird vor allem im textzentrierten bürgerlich-klassischen Literaturtheater des 18. Jahr­hunderts zu einer Institution, welche die soziale Wirklichkeit des Publikums nach- bzw. vorspielt und so die Zuschauer mit ihrer eigenen Situation konfrontiert. Das Ganze geschieht bekanntermaßen mit erzieherischen Absichten; das Theater wird zur moralischen Anstalt, die der bürgerlichen Selbstvergewisserung, dem Demonstrieren und Erlernen bürgerlich-sozialer Regeln dient: „Von nun an avanciert das Theater in Deutschland für mehr als 150 Jahre unangefochten zu einer der wichtigsten Sozialisierungsinstitutionen der ,mittleren Stände‘.“ Im Bürgerlichen Illusionstheater (die Institution manifestiert sich im Schauspiel) wird Theaterspielen zu einem Simulationsspiel, bei dem sich die Gesellschaft selbst beim ‚so-als-ob-Tun‘ zuschaut. Dieses ‚so-als-ob-Spielen‘ dient dem spielerischen Durchlauf potentieller Möglichkeiten menschlichen Handelns und Seins. In den Worten von Erika Fischer-Lichte: „Das Theater erscheint [...] als ein anthropologisches Laboratorium, in dem unterschiedliche Möglichkeiten des Menschseins durchgespielt werden.“ Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass gegenwärtig – während die Wissenschaft Genforschung betreibt und von Experten wie auch der allgemeinen Öffentlichkeit darauf bezogene bioethische Fragen debattiert werden – im Embryonalzustand genetisch überprüfte, gentherapierte Retortenbabies und menschliche Klone auf die Theaterbühnen treten. Teil dieses Trends in der deutschsprachigen Theaterlandschaft ist Igor Bauersimas im Jahre 2002 uraufgeführtes Schauspiel futur de luxe. Das Theater­stück macht Gentechnik und reproduktives Klonen zu zentralen Themen, indem es Züge des Familien- und des Wissenschaftlerdramas zu einer Groteske verknüpft. Auf dem Weg zeigt es den Menschen in der Grauzone zwischen Natur und Kultur, Technologie und Kunst, historischen Fakten und frei erfundenen Fiktionen. In futur de luxe stellt der menschliche Klon geradezu eine Symbolfigur der ‚Postmoderne‘ dar. An Bauersimas geklontem ‚postmodernem‘ Menschen kristallieren sich die    

Zu den unterschiedlichen Kommunikationsebenen im Drama vgl. Mahler: Aspekte des Dramas, S. 71 f. Fischer-Lichte: Aufführung, S. 16. Fischer-Lichte: Kurz Geschichte, S. 300. Fischer-Lichte: Theater, S. 994.

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Aporien der Identitäts- und Subjekttheorie sowie die Grundsatzfragen der Kunst- und Naturphilosophie und der Debatten um Identität, Authentizität, klassische Dualismen, Referenzialität, Historie und Realität. Obwohl das Drama deutlich in die abendländische Dramen- und Theatergeschichte eingeschrieben ist, setzt sich das Stück klar vom zeitgenössischen Trend zur ‚Postdramatik‘ ab. Es verfügt über ein Figurenarsenal, das in Interaktion tritt und eine erkennbare Handlung durchspielt, sowie über eine klare Hauptund Nebentextstruktur mit deutlich voneinander abgesetzter Figurenrede und Inszenierungsanweisungen.10 Futur de luxe macht Literaturtheater im klassischen Sinne. Dabei reflektiert es den Spielcharakter von Literatur und Schauspiel demonstrativ mit und verweist so auf die für spieltheoretische Überlegungen in der Literaturwissenschaft grundlegende Einsicht von Johan Huizinga: „Dichtersprache ist Spielsprache.“11 Es ist das Element des Spielerischen, eines spezifischen Freiheitsgrades, das Huizinga zu Folge die literarische Sprache vom nichtliterarischen Sprachgebrauch unterscheidet: „Poiesis ist eine Spielfunktion. Sie geht in einem Spielraum des Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die der Geist sich schafft.“12 Demnach ist Literatur, sind die von der literarischen ‚Poiesis‘ geschaffenen fiktiven Welten, ein eigener Raum, in dem Gedankenspiele stattfinden. Dabei ist bei der literarischen Gattung des Dramas – folgt man Huizinga weiter – der Spielcharakter am deutlichsten erkennbar: „Einzig das Drama behauptet dadurch, dass seine Eigenschaft, Handlung zu sein, sich immer gleich bleibt, seinen festen Zusammenhang mit dem Spiel. [...] Das Drama heißt ein Spiel, es wird gespielt.“13 Dieser Spielcharakter des Dramas wird in futur de luxe auf verschiedenen Ebenen deutlich. Wie aus dem strukturellen Aufbau, dem Haupttext der Dialoge und den Regieanweisungen hervorgeht, spielt das Stück selbst mit traditionellen dramatischen Formen und der Montage von Drama, Bühne und Film. Am Beispiel der aktuellen Genetikdebatte inszeniert futur de luxe selbstreflexiv die gesellschaftliche Funktion von Literatur und Theater zwischen den ‚zwei Kulturen‘: Auf komplexe und ambivalente Problemstellungen wie etwa die Bioethik sind einfache Antworten prinzipiell nicht zu haben. Literatur und Theater bieten der Gesellschaft einen spezifischen ästhetischen Spiel-Raum, ein Simulations- und Experimentierfeld, in dem verschiedene Facetten einer Problematik und mögliche Lösungsentwürfe spielerisch durchdacht und ausprobiert werden können.14 10 Zu zeitgenössischen Theatertexten, in denen sich die klassische Dramenform auflöst, vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater; Opel: Sprachkörper; Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. 11 Huizinga: Homo Ludens, S. 131. 12 Ebd., S. 118. 13 Ebd., S. 140 (Hervorh. im Orig.). 14 Zur Auffassung des literarischen Bereichs als Experimentierfeld vgl. Braungart: Ritual und Literatur, S. 216.

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In der jüngeren kulturwissenschaftlich orientierten Theaterforschung ist der Zweig der Theater-Anthropologie entstanden. Dort wird immer wieder die Nähe zwischen Theater, Spiel und Ritual betont, denn sie alle erzeugen „mimetische Welten [...] durch ein Noch-einmal-Machen der alltäglichen sozialen Praxis“.15 Auch die Verwandtschaft zwischen Theater, Spiel und Ritual lässt sich in futur de luxe auf unterschiedlichen Ebenen beobachten. Nicht nur wird das Ritualhafte einer Schauspielaufführung bzw. eines Schauspielbesuchs spielerisch demonstriert. Die Stückhandlung selbst lässt sich als spielerische Inszenierung eines ‚Übergangsritus‘ lesen, kreist sie doch um das durch die Klonierungsvision tief traumatisierte (post)moderne bürgerlichmoderne Subjekt. Dabei spielt das Stück auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Phänomen der ‚Liminalität‘, der Schwellenerfahrung und Grenzübertretung, das sowohl die ästhetisch-theatrale Erfahrung strukturiert als auch die psycho-soziale Bedeutung von klassischen Übergangsriten ausmacht.16

Das Schau-Spiel futur de luxe Futur de luxe erzählt von einem gemeinsamen Abendessen der jüdischen Familie Klein an einem Freitagabend im Jahr 2020. Vater Theo, Mutter Ulla, die fünfundzwanzigjährige Tochter Uschi und die beiden Söhne der Familie, die vierundzwanzigjährigen Zwillinge Felix und Rudi, treffen sich zur Sabbatfeier im Elternhaus. Die anfangs alltägliche Situation eskaliert, weil während des Gesprächs bei Tisch Dinge zur Sprache kommen, die einzelne Familienmitglieder entweder überhaupt nicht wussten oder die zumindest nie ausgesprochen werden durften. Das Tischgespräch entwickelt sich zu einem Tribunal der Wahrheitssuche, nachdem der Vater, Biochemiker von internationalem Ruf, von einem einzigartigen Experiment berichtet: Als Wissenschaftler habe er die Frage beantworten wollen, ob das Gute und das Böse im Menschen genetisch angelegt seien oder von anderen Faktoren bestimmt würden. Deshalb habe er seine beiden Söhne vor vierundzwanzig Jahren, gegen die gesetzlichen Bestimmungen und mit falschen Angaben gegenüber seiner Frau, geklont: Der eine Sohn sei aus seinem eigenen Erbgut, der andere aus der DNA Adolf Hitlers hergestellt, wobei Theos Erzählung von der Beschaffung von Hitlers Genmaterial eine zentrale Rolle in dem Stück spielt. Außerdem habe Tochter Uschi als Embryo an einem frühletalen Gendefekt gelitten, den Vater Theo aber in einem riskanten 15 Gebauer/Wulf: Spiel – Ritual – Geste, S. 188. Zur Affinität von Theater und Ritual vgl. besonders auch die Arbeiten Richard Schechners, z.B. Schechner: Theater-Anthropologie. 16 Zur Liminalität im Theater vgl. Warstat: Liminalität, sowie Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. Für das Konzept des Übergangsritus immer noch grundlegend: van Gennep: Übergangsriten (1909).

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gentherapeutischen Eingriff habe heilen können. Über die verstörten Reaktionen auf die horrenden Neuigkeiten geraten sich Mutter und Tochter derart in die Haare, dass Ulla ihrer Tochter schließlich offenbart, Theo sei – was dieser offensichtlich stets gewusst hat – gar nicht ihr leiblicher Vater. Während der Offenbarungen und verbal brutalen Seelenentblößung werden die Identitäten der Figuren, ihre Bilder, die sie von sich selbst und ihren bis dahin engsten Vertrauten hatten, völlig zerstört, bis in dem zunehmend auch körperlich gewaltsamen Geschehen die Figuren nicht nur in ihren sozialen Beziehungen, sondern auch an Leib und Leben zu Schaden kommen. Die dramatische Handlung spielt zwei Varianten durch, wie der Abend verläuft: In der ersten Version kommt es zum gegenseitigen Morden, das außer Tochter Uschi niemand überlebt. In der zweiten, weitaus ausführlicher gestalteten Variante überleben alle bis auf Uschi, die sich erhängt, während der Vater mit von Sohn Rudi vorgehaltener Pistole der Wissenschaft abschwört. Das Stück endet mit einer Szene, die offenbar kurz vor dem Familientreffen spielt: Mutter Ulla steht in der Abenddämmerung auf der Terrasse und monologisiert – noch ahnungslos – voller Stolz auf ihren berühmten Ehegatten und auf ihre begabten Kinder über die Familie. 1969 formulierte Dieter Wellershof in einem seiner Essays den Satz: „Literatur ist in meinem Verständnis eine Simulationstechnik.“17 Dadurch, dass futur de luxe nacheinander zwei unterschiedliche Versionen der gleichen Geschichte erzählt, betont das Theaterstück den simulativen Charakter seiner eigenen Literarizität. Gleichzeitig steht das Schauspiel thematisch durch die inhaltliche Konzentration auf die Themen Biomedizin und Gentechnologie in der Tradition des Wissenschaftstheaters. Innerhalb des Subgenrestrangs Wissenschaftsdrama ist es nach der ‚postmodernen Wende‘ anzusiedeln. Spätestens seit Tom Stoppards Arcadia und Michael Frayns Copenhagen erscheint auch im Wissenschaftsdrama Wahrheit nicht mehr als direkt abbildbar, gilt ‚Realität‘ selbst als Konstruktion. Dass die Handlung von futur de luxe in verschiedenen Versionen durchgespielt wird, verweist also nicht nur auf die Künstlichkeit und Konstruiertheit von literarisch-fiktionalen Realitäten. Das Medientechniken nutzende Schauspiel reflektiert die ‚postmoderne‘ Skepsis gegenüber jeglicher empirischen Wahrheit und Faktizität, nach der Realität generell in ihrer medialen Vermittelt- und Inszeniertheit als „Kette von Simulationen“18 erscheint. Futur de luxe wurde am 23. Februar 2002 mit einer Inszenierung, bei der der Autor selbst Regie führte, am Schauspiel Hannover uraufgeführt.19 Im 17 Wellershoff: Fiktion und Praxis, S. 21, zit. n. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 27. 18 Anz: Das Spiel ist aus?, S. 28. 19 Ich danke dem Autor und Regisseur Igor Bauersima sowie dem Staatsschauspiel Hannover für die Erlaubnis, einen Videomitschnitt der Inszenierung wissenschaftlich auszuwerten. Vgl. dazu auch Giesler: Dolly und die Folgen.

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Jahr 2003 erschien das Stück zusammen mit weiteren Texten des Autors in Buchform. 20 Die in futur de luxe auf unterschiedlichen Ebenen wirksamen bzw. reflektierten Formen und Funktionen von Spiel und Ritual sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Der Mensch als Gott-Spieler Futur de luxe spielt in einem auffällig religiösen Kontext bzw. inszeniert selbst Religion. Die gesamte Handlung spielt während des von der Familie gemeinsam eingenommenen Sabbatmahls: Im Licht des Streichholzes erscheint die Familie Klein. Sie sitzt am reichlich gedeckten Esstisch. Uschi steht auf und zündet die Kerzen des Leuchters an. [...] Uschi breitet die Arme über den Kerzen aus, zieht sie in kreisenden Bewegungen dreimal nach innen und bedeckt schließlich ihre Augen mit beiden Händen. / USCHI singt Baruch ata adonoj eloheinu – melech haolam, Ascher kideschanu bemizwotaw weziwanu lehadlik ner schel schabbat. Amen. / (‚Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns befohlen, das Sabbatlicht anzuzünden.‘) / Uschi setzt sich, faltet die Hände und senkt den Blick. Stille. Uschi schaut auf. / Danke. (69)

Durch Lobpreis und Gesang im Kontext der Einnahme einer symbolischen Mahlzeit wird also innerhalb der fiktionalen Handlung ein religiöses Ritual inszeniert. In Bauersimas eigener Theaterarbeit wird das ritualhaft-symbolisch Inszenierte an der Mahlzeit noch dadurch betont, dass die Schauspieler/Figuren während des Essens einen Laib Brot herumreichen, von dem sie abwechselnd abbrechen, und zum Essen roten Wein trinken. In der publizierten Buchfassung des Dramas wird der religiöse Bezug sprachlich zusätzlich markiert. Dort steht das während einer einzigen Nacht spielende Theaterstück unter dem der biblischen Schöpfungsgeschichte entnommenen Motto: „Und es ward Abend und es ward Morgen.“ (65) Durch die im Stück mehrfach markierte inhaltliche Ausrichtung auf Bio­ medizin und Gentechnologie steht futur de luxe in der Tradition der Wissenschaftlerdramen. Gleichzeitig macht es durch die Klon-Figuren Gebrauch von einer jüngeren Variante des literarischen Motivs vom künstlichen Menschen. Futur de luxe enthält zahlreiche für das Wissenschaftlerdrama und die Motivgeschichte vom künstlichen Menschen genrespezifische Motive. So ist die Frage nach der Identität des Menschen und die Frage nach Gott, aus denen sich häufig die Gestaltung eines Konflikts zwischen Wissenschaft und Religion ergibt, ein in Wissenschaftlerdramen häufig anzutreffendes Thema.21 Dabei hat der in Wissenschaftlerdramen thematisierte Drang nach Er20 Bauersima: futur de luxe. Die im Haupttext in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebene Textausgabe. 21 Hye: The Moral Dilemma of the Scientist in Modern Drama, S. 3.

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kenntnis in der modernen Welt sehr häufig Ähnlichkeit mit Evas Neugierde in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Der religiöse Kontext ist in futur de luxe allgegenwärtig. So inszeniert das Stück die Problematik reproduktiven Klonens und des ‚genetic screening‘ explizit im Spannungsfeld zwischen Religion und Naturwissenschaft. Im Spiel auf der Theaterbühne erscheint der mit Genforschung und Biotechnologie konfrontierte Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters im Widerstreit mit der Tabus auferlegenden göttlichen Ordnung einerseits und der humanen Verantwortung, sich und anderen mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik zu helfen, andererseits. Eines der wichtigsten von der göttlichen Ordnung vorgeschriebenen Tabus ist die Hybris. Grundlegend für die göttliche Ordnung ist der uneingeschränkte Respekt vor dem Unterschied zwischen Gott/Göttern und den Menschen, wozu die uneingeschränkte Akzeptanz der Macht Gottes/der Götter über die Menschen gehört. Bereits in der griechischen Antike wurde deshalb von Platon das Bild vom Menschen als ‚Spielzeug Gottes‘ benutzt: Wir wollen ein jedes von uns Lebewesen als eine Marionette der Götter ansehen, mag sie nun als deren Spielzeug oder mit irgendeiner ernsten Absicht zusammengefügt worden sein; denn das können wir ja doch nicht erkennen.22

Für die Vorstellung von Gott als dem im Spiel Schöpfenden – dem ‚Deus ludens‘ – sind im jüdisch-christlichen Kontext vor allem die Sprüche Salomons von Interesse. Sie personifizieren „die Weisheit Gottes als spielenden Werkmeister des Schöpfungsprozesses“:23 als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust bei den Menschenkindern.24

Der Schöpfungsprozess als spielerischer Vorgang, als Spiel? Der Mensch in Gottes Hand, die Götter als ,Strippenzieher‘ des menschlichen Schicksals? Gott als Spieler? Diese Frage wird von den Figuren in futur de luxe explizit aufgeworfen: USCHI: Gott würfelt nicht! [...]/ RUDI: Das mag sein, dass Gott nicht würfelt. [...] Entweder er ist, wie so viele behaupten, tot und kann deshalb auch nicht würfeln ... oder er spielt mit uns Schach und dann, dann hat er auch Theos Hand geführt. (102 f.)

Neben dem Streit um den würfelspielenden Schöpfer wirft Uschi ihrem Vater vor, dass er als Genmediziner, der genetische Unregelmäßigkeiten identifizieren und korrigieren kann und dies auch tut, mit ‚menschlichem Material‘ hantiert, mit dem Menschen selbst ‚herumspielt‘: „USCHI: Und wer bin ich? [...] Du hast doch an mir rumgemacht. [...] Du hast an meinem genetischen Code rumgemacht.“ (95) Futur de luxe inszeniert die Spannung 22 Platon: Nomoi, S. 31. 23 Braungart: Ritual und Literatur, S. 225. 24 Bibel. Die Sprüche Salomos, 8, 30 f. Vgl. dazu auch Braungart: Ritual und Literatur, S. 225.

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zwischen Religion und Naturwissenschaft und setzt den mit bioethischen Fragen konfrontierten Menschen mitten in dieses Spannungsfeld. Das Stück deutet darauf hin, dass der Mensch im Genzeitalter dabei ist, sich selbst zum eigenen Spielzeug zu machen, das heißt ‚Gott zu spielen‘. Theos Handeln, besonders seine wissenschaftliche Neugier auf das Gott vorbehaltene Wissen um den Unterschied von Gut und Böse im Kontext seines Klonexperiments, erscheint als die direkte Wiederholung der biblischen Erbsünde im Genzeitalter. Dass Bauersima das Schaf sogar physisch in sein Schauspiel einführt (in dem Moment, als die Brüder gesagt bekommen, sie seien Klone, schickt die Regieanweisung eine Herde Schafe auf die Bühne (92)), ist ein die Groteske ergänzendes und den Aspekt der Hybris erhellendes Ornament. Es macht – allemal im Kontext eines Konflikts zwischen biblischer Religion und moderner Wissenschaft – auf eine merkwürdige Koinzidenz aufmerksam: In der christlich-sakralen Bilderwelt steht das Lamm direkt als Symbol für Jesus. Dass der erste gesund geborene, durch Kerntransfer hergestellte Säugetierklon ausgerechnet ein Lamm war (kurz nach ,Dolly‘ kamen Klone der unterschiedlichsten Säugetierspezies zur Welt), mutet im Kontext der christlichen Kultur- und Geistesgeschichte als geradezu grotesk blasphemische Koinzidenz – oder eben als Hybris – an: Nach langwierigem Forschen und Versuchen klont die christliche Welt als erstes das Symbol ihres Messias’ und fleischgewordenen Sohn Gottes. Indem sich der Mensch in futur de luxe selbst zum eigenen biotechnologischen ‚Spielzeug‘ macht, dreht das Stück das antike bzw. biblische Bild vom Menschen als Marionette und/oder Spielzeug Gottes um. Der Metaphorik des Stücks zu Folge macht sich der Mensch mit der Gentechnik der Hybris schuldig, in dem er sich selbst zu seinem eigenen ‚herumspielenden‘ Schöpfer macht. Nicht zufällig sagt Rudi, als er seinen Vater zum Rückzug aus der Wissenschaft zwingt, sarkastisch: „Unser Schöpfer [Theo, B.G.] wird uns gleich was aufschreiben.“ (114)

Die Welt als universales Spiel, das Leben als Schauspiel Futur de luxe reflektiert Theatralität und Rollen-Spielen als prinzipielle Aspekte des alltäglichen Menschseins. Das Stück zitiert das in der Tradition von Ibsens Familiendramen stehende, in einem einzigen Raum spielende Familien-Kammerspiel. In Bauersimas Hannoveraner Erstinszenierung ist dieses einzige Zimmer im familialen Innenraum als Kasten von zwei Seiten von außen zu sehen und zugänglich. Vor ihm befindet sich jeweils eine Terrasse. Die Wände sind mit Vorhängen und Jalousien versehen, die als Projektionsflächen für Videosequenzen verwendet werden können. Die Zuschauer sitzen in zwei Gruppen vor bzw. hinter der Bühne:

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Bühnenbild futur de luxe, Staatschauspiel Hannover 2002, Regie: Igor Bauersima

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Bauersima holt das Publikum auf die Bühne und macht damit das Publikum selbst zum integrativen Teil seines Schau-Spiels. Einerseits liegt darin eine Anspielung auf das naturwissenschaftliche Thema, wirkt der Bühnenraum doch wie eine von außen einsehbare Laborvitrine. (Der Eindruck wird durch die laut Regieanweisung eintretende Schafsherde noch ironisch verstärkt.) Ästhetisch und theatertheoretisch noch interessanter ist die Tatsache, dass Bauersima durch seinen Bühnenaufbau das Publikum dazu bringt, sich beim Theater-Spiel gegenseitig, also quasi selbst, zuzusehen. Futur de luxe trägt damit deutliche metadramatische und metatheatrale Elemente, die auf das Theaterspielen und Theaterschauen selbst zurückverweisen. Wie oben bereits angesprochen, gehört zur spezifischen Ästhetik des Theaters das Phänomen der ‚Liminalität‘. Der aus der Ethnologie übernommene Begriff deutet schon an, dass er sich auf Erfahrungen und Transformationsprozesse bezieht, die sich durch das Erleben und Übertreten von Grenzen auszeichnen. In der Forschung wird immer wieder betont, dass Kategorien für eine klare Abgrenzung von Theateraufführung und Ritual schwer definierbar seien.25 Wolfgang Braungarts Überlegungen zu Folge habe möglicherweise sogar die immense Bedeutung, welche die Theatermetaphorik in der abendländischen Literatur- und Bewusstseinsgeschichte hat, überhaupt in der Nähe von Theaterspiel und Ritual (und damit dem sozialen Leben) ihre Gründe.26 Erika Fischer argumentiert, „daß sich ästhetische Erfahrung im Theater [...] generell als Erfahrung von Liminalität realisiert.“27 Igor Bauersima betont den Theater-Spiel-Charakter seines Schau-Spiels, indem er eben diese Liminalität reflektiert und ausstellt. Matthias Warstat verweist auf die „Ambiguität der Metaphorik von Grenze und Schwelle“, die darin bestehe, dass „viele Grenzen […] überhaupt erst dadurch erfahrbar [werden], dass man sie überschreitet“, wobei Überschreitungen aber nur möglich seien, „wo auch Grenzen wahrgenommen werden“.28 Genau damit spielt die szenische Darstellungsform von futur de luxe. Indem die Grenze zwischen Zuschauer- und Bühnenraum verdoppelt wird, wird sie dem Publikum ebenso explizit vor Augen geführt, wie sie sich durch das auf der Bühne befindliche Publikum gleichzeitig tendenziell auflöst. Die beweglichen Vorhänge und Jalousien, die als Projektionsflächen benutzt werden, auf denen Teile des (hinter ihnen stattfindenden oder zuvor andernorts abgelichteten) Theater-Spiels ausgestrahlt werden, ziehen die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern spielerisch erneut – jedoch nicht ohne mit ihr zu spielen und gerade dadurch auf sich selbst und ihren Schwellencharakter aufmerksam zu machen. Das Stück enthält episierend metadramatische, anti-illusionistische 25 26 27 28

Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, S. 141. Vgl. dazu Braungart: Ritual und Literatur , S. 225 f. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, S. 158. Warstat: Liminalität, S. 188.

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Aspekte, die den Aufführungscharakter der ganzen Veranstaltung explizit machen. Schon bald nach Beginn des Stücks kommt es zu einer drastischen Grenzübertretung zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum, also zwischen den beiden theatralen Teilräumen, wo im einen die Schauspieler das fiktionale Geschehen inszenieren und im anderen das Publikum sitzt und das Ganze rezipiert. In einem figural-metadramatischen Fiktionsbruch fällt die Rudi-Figur quasi aus ihrer Rolle, als sie „mit einem Knopfdruck die automatischen Jalousien hoch[macht]“ und sich ans Publikum wendet: „Moment mal. Sie verstehen vermutlich nicht. Wir müssen die Geschichte von vorne aufrollen [...].“ (68, Hervorh. im Orig.) Adaptiv-metadramatische Elemente spielen vor allem in der auffälligen Intertextualität des Stücks, in den zahlreichen literarischen und philosophischen An-Spielungen, eine zentrale Rolle. Ein Publikum auf der Bühne, mit dem eine Figur (oder ist es der Schauspieler?) direkt kommuniziert. – Futur de luxe spielt in und mit dem Grenzbereich, wo die prosaische Erfahrung des ‚realen‘ Lebens und das ästhetische Erlebnis des Theater(spielen)s verschwimmen, wo die Theatralität des Alltags erfahrbar wird.29 Damit verweist das Stück auf die Auffassung vom formlosen universalen Welt-Spiel, die frühromantische Theoretiker wie die Schlegel-Brüder oder Novalis und später Friedrich Nietzsche vertreten. In futur de luxe zeigt sich diese Offenheit und Formlosigkeit im Aspekt der endlos verweisenden Intertextualität, bei der im Theater-Spiel alles zum Zeichen für etwas wird.30 Dabei zeigt sich auch hier im Schau-Spiel, was Wolfgang Braungart für Literatur im Allgemeinen konstatiert, dass nämlich Literatur, die geradezu ausstellt, daß sie sich aus Zitaten konstituiert, deshalb noch lange nicht beliebig in die literarische Tradition hineingreift, sondern bestimmten und nachvollziehbaren Spielregeln der Literatur folgt. Wie im sozialen RollenSpiel, wie im sportlichen Spiel oder im Unterhaltungs-Spiel, so werden auch im literarischen Spiel die Spiel-Regeln getestet. Sie stehen auf dem Spiel.31

Futur de luxe folgt den grundlegenden Spielregeln der europäischen Dramenund Theatergeschichte, den grundlegenden Strukturelementen der antiken Tragödie. Auf formaler wie inhaltlicher Ebene ist der spielerische Bezug zur antiken Tragödie unverkennbar. Das Stück erfüllt die aristotelische Forderung nach den drei Einheiten von Raum, Zeit und Handlung ganz erstaunlich streng, stellt sie durch die filmischen Elemente, welche die Handlung vor- bzw. rückblenden bzw. quasi verdoppeln, aber auch ‚aufs Spiel‘. Indem futur de luxe zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Handlungsverläufe als nebeneinander stehende Varianten anbietet, wendet das SchauSpiel die ästhetische antike Form zu einem klaren Widerspruch zur aristote29 Zur Theatralität des Alltags aus sozialwissenschaftlicher Sicht immer noch grundlegend: Goffmann: The presentation of self in everyday life (dt. Wir alle spielen Theater). 30 Eco: Semiotik der Theateraufführung, S. 266. 31 Braungart: Ritual und Literatur, S. 218.

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lischen Logik. Nichtsdestoweniger folgt die Fabel einem Spannungsbogen von aufsteigender und absteigender Handlung, in deren Mitte die Handlung umschlägt. Die durch die erschreckenden Neuigkeiten hervorgerufene Wende trägt sowohl Züge einer Peripetie als unglücklicher „Umschlag ins Gegenteil von dem, was gerade betrieben wird“, als auch Züge einer Anagnorisis als „Umschlag von Unkenntnis zur Erkenntnis“:32

Fabel e

nd ige fste

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Peripetie Anagnorisis

Ha

Katastrophe bereits eingetreten

Abs

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eH

Retardation Felix+Rudi auf Terrasse

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Katastrophe

Szene 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Rückblende früher Abend

Geschichte Szene 17 1 2 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 3 15 16 © B.Giesler

In der ersten und zweiten Szene beginnt der Familienabend mit dem sukzessiven Eintreffen der Kinder. In der dritten Szene ist die Katastrophe bereits geschehen. Die 4. bis 14. Szene zeigen im Rückblick das Geschehen, das zur Eskalation führt. Am Ende von Szene 14 ist die Handlung wieder in der Erzählgegenwart der 3. Szene angekommen. Die Szenen 15 und 16 bringen die Fortführung der 3. Szene und zeigen die Eskalation in der Katastrophe. Die 17. Szene fällt ähnlich wie die 3. Szene aus der Chronologie der Handlung; sie spielt vor Beginn der 1. Szene. Die 10. Szene, die als Filmprojektion eingeblendet wird, schließt sich zwar chronologisch an die Ankündigung der Katastrophe in der 9. Szene an. Sie spielt aber nur eine kurze Variante der Katastrophe durch, die bereits angesprochene Metzelei, die nur Uschi überlebt. So fungiert die eingeblendete 10. Szene auch als Retardation, als Verzögerung im dramatischen Entwicklungsgang, bevor die 32 Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, S. 77.

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Handlung mit Szene 11 erneut an die 8. Szene anknüpft und die zweite Variante des Handlungsverlaufs durchspielt. Weitere kurze Videoprojektionen brechen die Einheit des Raums ansatzweise auf, indem sie Informationen über Orte außerhalb des Wohnzimmers geben. Sie erfüllen die Funktion der klassischen ‚Teichoskopie‘ bzw. ‚Mauerschau‘. Die Affinität zur antiken Tragödie reicht bis hin zu inhaltlichen Parallelen zu Sophokles’ König Ödipus, steht doch in futur de luxe wie in Sophokles’ Tragödie das „An-das-LichtKommen des bisher Verborgenen“33 im Zentrum der Handlung. Dass futur de luxe einen deutlichen Bezug auf die antike Tragödie herstellt, verdeutlicht den Spiel-Charakter des Dramas: Die Herkunft aus dem Spiel ist bei Tragödie und Komödie dauernd sichtbar. [...] Auch die Tragödie ist in ihrem Ursprung nicht die absichtliche literarische Wiedergabe eines Stücks menschlichen Schicksals, sondern ein heiliges Spiel [...].34

Futur de luxe adaptiert die klassischen Formen und spielt mit dem TragödienSpiel mit Hilfe der theatralen Möglichkeiten der neuen Medientechnologie. Dabei wird gerade über das Spiel mit der Tragödienform die Nähe zum Ritual deutlich. Victor Turner argumentiert, dass ethnologische Prozesse – „social dramas“ – der gleichen Struktur folgen wie laut Aristoteles’ Poetik das Tragödien-Spiel auf der Theaterbühne: that a social drama, as I have analyzed its form, closely corresponds to Aristotle’s description of tragedy in the Poetics, in that it is ‚the imitation of an action that is complete, and whole, and of a certain magnitude... having a beginning, a middle, and an end, [...].35

Ethnologische Prozesse und griechische Tragödie folgen demnach derselben Phasenstruktur von ‚Anfang-Mitte-Ende‘. Tatsächlich lässt sich die der antiken Tragödienstruktur folgende Handlung von futur de luxe auch als ironisches Durch-Spielen eines typisch dreigliedrigen Übergangsritus interpretieren. Einer solchen Lesart zufolge inszeniert Bauersimas Groteske um den Menschen-Klon weniger die oberflächliche Frage nach der HitlerKlon-Horrorvision, als vielmehr die Schwellenerfahrung, die das westlichmoderne Subjekt selbst gegenwärtig angesichts der horriblen Vision seiner eigenen Klonierung macht.

Theater-Spiel als Kette von An-Spielungen Wie bereits angesprochen, gehört futur de luxe zum Traditionsstrang des Wissenschaftstheaters und innerhalb dessen hinter die ‚postmoderne Wende‘. Die verschiedenen Versionen der Handlung von futur de luxe, die über 33 Lefèvre: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen, S. 122. 34 Huizinga: Homo Ludens, S. 140 f. (Hervorh. im Orig.). 35 Turner: From Ritual to theatre, S. 72.

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rück- bzw. vorblendende Videoprojektionen vorgespielt werden, verweisen darauf, wie durch die die heutige Welt dominierende mediale Vermitteltheit ‚Realität‘ selbst zunehmend als Simulation erscheint. Bauersimas Schau-Spiel ist ein sprachliches und visuelles Puzzle-Spiel mit zahlreichen Mustern und Motiven, das auf die spielerische, endlose selbstbezügliche Verweisstruktur von Sprache und Kunst deutet. So bezeichnet sich der Klon Felix selbst als „Möbiusbandmensch“ (94). Die ‚Möbiusband‘ genannte mathematische Fläche wird konstruiert, indem man ein rechteckiges Band einmal verdreht, bevor man es an den Enden verheftet:36

Der menschliche Klon stellt insofern einen ‚Möbiusbandmenschen‘ dar, als er im potentiell endlos seriellen Spiel der Verdopplung in einer Endlosschleife selbst quasi ‚ohne Anfang und Ende‘ ist und dadurch seine Einzigartigkeit verliert. So lässt Bauersima seinen Klon ausrufen: Aber du kannst nicht in deine Mutter verknallt sein, das geht nicht, auch wenn sie nicht deine Mutter ist, sondern deine Frau, im Grunde, weil du schon länger mit ihr schläfst, als du überhaupt am Leben bist, weil du ein Möbiusbandmensch bist, der immer wieder kommt, durch dieselbe Öffnung Gottes kommst du und gehst und kommst. (94)

Die Struktur des Möbiusbandes zeichnet sich durch Repetitivität, Seriellität und Richtungslosigkeit aus.37 Bemerkenswerterweise ist es die Künstler-Figur, die den interdisziplinären Verweis zur Mathematik tätigt und vom Möbiusbandmenschen spricht, in einem Stück, das sich mit modernen Medien aufgerüstet auf die europäische Leitgattung, die antike Tragödie, stützt. So kann das Bild vom Klon als Möbiusband auch als selbstbezüglicher poetologischer Verweis angesehen werden auf die Ästhetik der Spiele von Literatur und Theater, die in der ständigen Wiederverwendung ihrer Spiel-Regeln im jeweiligen historischen Kontext Neues in alten Formen hervorbringen. Die metadramatischen und metatheatralen Elemente haben in futur de luxe auch eine für das Spiel prinzipiell charakteristische Funktion. Sie sind 36 Möbius-Band (3): Auflösung der Fragen. 37 Dieck: Topologie, S. 58.

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Mittel zur Metakommunikation, mit der die medial aufgebrochene Dramenstruktur sich selbst und die Funktion von Literatur und Theater allgemein kommentiert. Dies wird besonders deutlich an der Sequenz, in der Theo von der angeblichen Beschaffung von Hitlers DNA erzählt. Theo beginnt seine Erzählung von der Beschaffung der Hitler-DNA damit, dass damals ein „Gerücht“ um einen Wachmann, Herbert, aufgetaucht sei, der mit Hitler die letzten Minuten im Führerbunker verbracht „und sich als Andenken einen Finger Hitlers mitgenommen“ habe (89). Theo habe sich dann „auf die Suche nach Herberts Beute gemacht“ (90) und sei schließlich an einen Kuriositätensammler geraten. Bei einem Treffen unter falschem Namen habe sich der Besitzer nicht zum Verkauf des Fingers überreden lassen, ihn, Theo, aber zu sich nach Hause eingeladen. Dort habe er dann Theo in seinem Kuriositätenkabinett unbeaufsichtigt gelassen, als er auf die Toilette musste, so dass Theo den Finger entwenden konnte (90). Angefangen beim Körperteil des Fingers, der die DNA geliefert haben soll, ausgerechnet, wo doch nahezu alles am menschlichen Körper das individuelle Erbgut enthält, über die Tatsache, dass der Hitler-Klon selbst mittlerweile zum Motiv der Populärkultur geworden ist, bis hin zur Filmtechnik, gleicht Theos Erzählung von seinem Klonexperiment einem Kaleidoskop von Anspielungen auf Bilder und Muster der Kulturgeschichte. Der als Projektion eingeblendete Videofilm zeigt Theos Geschichte parallel zur Erzählung. Dabei spielt die grotesk-komische Stummfilmszene Theos Geschichte als tonlose Slapstick-Projektion nach dem Muster der englischen ‚Mr. Bean‘Filme vor, so dass sie vom Publikum kaum rezipiert werden kann, ohne in Gelächter auszubrechen. Bemerkenswerterweise wird Theos abstruse Geschichte im werkinneren Kommunikationssystem aber absolut ernst genommen. An keiner Stelle der Handlung wird die sich aufdrängende Frage diskutiert, woher Theo wissen will, dass der Finger, den er angeblich gestohlen hat, überhaupt von Hitler stammt, geschweige denn ob Vater Theo nicht einfach laut phantasiert. Das Schau-Spiel spielt hier auch mit dem Mittel der dramatischen Ironie. Es zeigt sich eine deutliche Diskongruenz zwischen den unterschiedlichen Kommunikationsebenen des Dramas. Für die Figuren ist das Spiel Ernst; sie nehmen die Gerücht-Geschichte buchstäblich todernst. Das Publikum dagegen sieht mehr und erkennt über den metakommunikativen Kommentar das über sich selbst hinaus verweisende Spielerische des Geschehens. Zu den zahlreichen literarischen Spiel-Regeln, die Bauersimas Familiendrama durch An-Spielungen und Wiederverwendung ‚aufs Spiel‘ setzt, gehören auch Aspekte des Bürgerlichen Trauerspiels. In ihrer umfangreichen Studie über Die literarische Modellierung der Tochterfigur im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts argumentiert Martina Schönenborn, dass dem Patriarchen im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts eine „‚gesetzgebende‘ Rolle“ zukomme, während die Tochter das Konfliktopfer im familialen Konfliktfeld darstelle

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und auf die Opferrolle festgeschrieben sei.38 Gleichzeitig sei die innige Liebe des Vaters zur einzigen Tochter ein in der Literatur der Zeit allgemein beliebtes literarisches Motiv und für das Trauerspiel gattungstypisch.39 Wie Renate Möhrmann herausgearbeitet hat, sind Mutterfiguren im Bürgerlichen Trauerspiel in auffallender Weise abwesend, während die Tochter mit ihrem genrespezifischen obligatorischen Tod die (bürgerliche) Identität des Vaters absichert.40 Genau eine solche Konsolidierung männlicher Identität durch das Verschwinden der weiblichen Familienmitglieder spielt futur de luxe vor. Bei aller Gewalt und Aggression, mit der zunächst auf die Nachrichten von Klonexperiment und Gentherapie reagiert wird, wird am Ende angedeutet, dass sich die beiden Klone mit den Gegebenheiten arrangieren werden. Dem stehen die weiblichen Figuren Ulla und Uschi gegenüber, von denen die eine hauptsächlich damit beschäftigt ist, ihren alternden weiblichen Körper zum Verschwinden zu bringen, und die andere sich selbst als „fremd“ (68) und „alles“ als „falsch“ empfindet (79). Bevor Uschi sich in der zweiten Variante des Handlungsverlaufs schließlich selbst erhängt, wirft sie ihren Eltern vor, sie seien nicht bereit „in die Abgründe zu schauen, die das Leben ausmachen“ (97). Sie mahnt explizit: „Wir müssen lernen zu sein, was wir sind... Auch wenn es so schwierig ist. Wir müssen lernen, uns zu beschränken. Ja. Auch sterben müssen wir lernen“ (97). Sie pocht auf die Abgründe, auf Tod und Beschränkung, nicht alles wissen und kontrollieren zu wollen, und damit auf das in der von Rationalität geprägten symbolischen Ordnung Verworfene. Die Figur der Uschi fällt aus dem Kleinfamilienensemble heraus. Als Tochter und (folgt man der väterlichen Erzählung) einziges leibliches Kind der Mutter überlebt sie oder stirbt sie als Einzige. In der knapp präsentierten ersten Variante der Geschichte überlebt Uschi als Einzige ein blutiges Gemetzel. In der ausführlich dargestellten Version der Handlung ist das einzige leibliche Kind der Mutter verschwunden, wofür aber die Produkte des Vaters, für deren Produktion der Körper der (Ehe-)Frau quasi als ‚Gefäß‘ benutzt wurde, überleben.

Postmoderne Schwellenerfahrung oder Die Wiedergeburt des ‚autonomen Subjekts‘ aus dem Gedanken-Spiel mit dem menschlichen Klon? Der Vater-Klon in futur de luxe bezeichnet sich selbst als Möbiusbandmensch, vergleicht sich also mit der Möbiusband genannten oben gezeigten mathematischen Fläche. Das Verblüffendste an dieser Fläche ist ihre Un38 Schönemann: Tugend und Autonomie, S. 15 f., 8. 39 Ebd., S. 7. 40 Möhrmann: Die vergessenen Mütter, S. 76.

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teilbarkeit: Ein von einem Punkt im Innern der Fläche ausgehender und zu ihm zurückkehrender Schnitt, den man parallel zum Rand führt, zerlegt das Möbiusband nicht in zwei Teilbänder, sondern macht es zu einem einzigen längeren, um 720° tordierten Band.41 Die Teilung der Fläche führt also nicht zur Trennung in zwei einzelne Flächen, sondern lässt eine neue, noch verdrilltere Fläche entstehen. Die Klonierung von Menschen, so lässt sich die Metapher vom menschlichen Klon als Möbiusbandmensch deuten, produziert keine neuen Individuen. Stattdessen entstehen immer ‚verdrehtere‘ narzisstische Verlängerungen der Geklonten und Klonierer. Klonen und Geklontwerden sind – so suggeriert futur de luxe – für das Subjekt und dessen Identität problematisch, weil das ‚Ich‘ und ‚der Andere‘ verschwimmen, keine eindeutige Trennung zwischen dem ‚Ich‘ und dem Anderen auszumachen ist. Die dialektische Beziehung zwischen Ich und Anderem ist für die Ausbildung von Ich-Identität aber notwendige Grundlage: „Am Du werden wir erst zum Ich.“42 Felix’ Monolog über den Möbiusbandmensch lässt sich auch als ironische Anspielung auf die psychoanalytischen Grundlagen von Lacans Subjektphilosophie sehen, in welcher der Spiegel und das ‚Spiegelstadium‘ eine zentrale Rolle spielen.43 Der Klon macht angesichts seines ‚Originals‘ eine andauernde Spiegelerfahrung, in der sich das Subjekt ständig aufs Neue selbst verliert, weil es sich sieht, wo es selbst nicht ist. Es verliert sich wie in einem Spiegelkabinett, in dem kein Standpunkt identifizierbar ist. Wie jede andere Person auch ist der Klon dem Signifikationsprozess in der symbolischen Ordnung ausgesetzt. Wo Lacan zu Folge die Eltern-Kind-Triade im Individuationsprozess so zum Tragen kommt, dass der Sprössling von der Identifikation mit der Mutter über die Verwerfung der Mutter zur Identifikation mit dem Gesetz des Vaters kommt, gibt es für den Klon-Sohn gewissermaßen gar keine Triade, da der Vater in Form seines Klons auch die Stelle des Sohnes besetzt. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse wirken das groteske Geschehen und Felix’ Monolog auch wie eine ironische Anspielung auf das Konzept vom ‚Ödipus-Komplex‘. Die Rivalität mit dem Vater – oder besser mit dem ,Original‘? – und das Ringen um die Abgrenzung eines eigenen Selbst nehmen hier besondere Formen an. Der Klon verharrt permanent im „Spiegelstadium, in dem das imaginäre Ich im Wunsch nach leiblicher und psychischer Einheit [seine] Brüchigkeit zu kaschieren sucht“.44 „Das, was Identität zu verbürgen scheint, erweist sich als unerreichbar fremd. Faszination und Aggression bilden den Zirkel dieser instabilen Beziehung.“45 41 42 43 44 45

Lietzmann: Anschauliche Topologie, S. 117. Buber: Ich und Du, S. 168. Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 21-35. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25.

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Die Mitteilung, ein Klon zu sein, stürzt Rudolf und vor allem Felix in eine tiefe Identitätskrise. Identitäts- und subjekttheoretisch steht der Klon aber keineswegs vor neuen Fragen und Problemen. Der menschliche Klon trifft vielmehr schonungslos auf die Aporien eines Subjektkonzeptes, über das seit René Descartes aus unterschiedlichen philosophisch-theoretischen Überzeugungen in Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen von Identität, Autonomie, Autarkie und Selbstverwirklichung gestritten wird.46 Angesichts des Menschenklons scheint die ‚Illusion der Autonomie‘ immer schwerer aufrecht zu erhalten.47 Besonders an Felix lässt sich beobachten, dass Identität keine feste Größe ist, dass sie weniger ‚von innen‘ (etwa durch die Gene) bestimmt wird, sondern viel mehr etwas ‚von außen‘ Konstruiertes und an das Individuum Herangetragenes ist. Zum ‚Klon‘ erklärt, reagiert Felix derart, als müsse er nun einsehen, eigentlich jemand ganz anderes zu sein, als er immer dachte. Als Klon fällt er gleichsam ins Spiegelstadium zurück. Er kann sich der Zuschreibung nicht entziehen, sieht sich nun beständig vor Augen, wo er selbst nicht ist, und verliert sich im „Banne des Spiegels“.48 Während Felix sich irritiert verhält, als sei seine Identität und Individualität durch sein (angeblich rein väterliches) Genmaterial bestimmt, demonstriert sein Benehmen dem Publikation jedoch genau das Gegenteil. Die genetische Ausstattung und Herkunft entziehen sich offensichtlich der direkten Erfahrung, hat Felix doch anscheinend eben diejenigen materiellen Gegebenheiten, die ihm nun sein Selbst-Gefühl nehmen, 24 Jahre lang nicht gespürt. Nachdem Felix 24 Jahre lang wächst und gedeiht, ist es die sprachliche Bezeichnung als ‚Klon‘, die Felix in eine fundamentale Identitätskrise stürzt. Identität – so lässt sich Bauersimas groteskes Spiel um den menschlichen Klon auch lesen – wird offensichtlich in einem permanenten Signifikations-Prozess mit und in der Sprache hervorgebracht. Die gesamte Genproblematik spielt sich in futur de luxe auf rein sprachlicher Ebene ab. Nicht nur das Publikum, sondern auch die Figuren ,erleben‘ Gentherapie und Klonierung ausschließlich über die Erzählung des Vaters. Futur de luxe spielt auch mit den Effekten männlicher Rede, des patriarchalen Diskurses als solchem. Futur de luxe zeigt ganz klar – und das macht das Schau-Spiel über die Literatur- und Theaterwissenschaft hinaus für die Genetikdebatte und die Identitätsphilosophie interessant –, dass im Kontext der Klondebatte

46 Einen sehr guten Überblick über die abendländische Subjekt- und Identitätsphilosophie gibt Zima: Theorie des Subjekts. 47 Vgl. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, in dem die Autorin – verblüffende Affinitäten zwischen subjekttheoretisch so unterschiedlichen Positionen wie denen von Jürgen Habermas und den zeitgenössischen französischen Denkern aufdeckend – überzeugend darlegt, dass Autonomie des Subjekts als anthropologische Bestimmung niemals in Reinkultur zu haben ist, als politische Forderung aber unverzichtbar bleibt. 48 Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, S. 21.

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essentialistische Vorstellungen vom Subjekt und seiner Identität ins Spiel kommen.49 Ein Essentialismus, der in anderen Kontexten längst obsolet schien. Es soll daher abschließend der Versuch unternommen werden, futur de luxe aus einer geschlechterkritisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive zu interpretieren. Liest man das Stück als ein ironisches Spiel mit dem patriarchalischen Signifikationsprozess, lässt sich das Geschehen dahingehend werten, dass sich hier ‚männliche‘ Identität um den Preis des Weiblichen konsolidiert. Aus einer geschlechterkritisch-diskurstheoretischen Perspektive wirkt das gesamte groteske Treiben um den Hitler- bzw. Vater-Klon wie eine Art Initiationsritus des ‚Männlichen‘: Durch die Mitteilung vom genetischen Eingriff und Klon-Sein wird das Subjekt seiner vertrauten familiären Anbindungen (verbal) beraubt. Es befindet sich in einer Art ‚Trennungsphase‘ („seperation“). Es gerät in eine tiefe Krise, die ‚Schwellenphase‘ („margin“, „limen“).50 Nach diesem ‚liminalen‘ Zustand scheint die Koexistenz von weiblichen und männlichen Nachkommen nicht mehr möglich. Hinter der Schwelle ist die Tochter/Schwester verschwunden. Die männlichen Familienmitglieder und die (ihres natürlichen Körpers ohnehin längst beraubte) Mutter werden sich – so deutet die Handlung an – mit den Gegebenheiten arrangieren. Die Söhne kehren in eine zwar veränderte, aber relativ stabile soziale Situation zurück. In dieser ‚Wiedereingliederungsphase‘ („aggregation“) haben sie immerhin die neue Macht, dem Vater zu verbieten, weiterhin Wissenschaftler zu sein.51 Bauersimas Stück kreist auf unterschiedlichen Ebenen um die Hervorbringung des Subjekts im männlich dominierten, rational bestimmten – ‚phallogozentrischen‘ – Signifikationsprozess. Zu diesem Prozess gehört auch die Festschreibung auf eine bestimmte Geschlechtsidentität. Die Lacan-Schülerin Luce Irigaray vertritt in ihrer frühen Schrift Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts in kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte der abendländischen Subjektphilosophie die These, dass das Subjekt immer ein männliches sei, weil es sich generell über die Leugnung und Verwerfung des Anderen der symbolischen Ordnung, das mit dem ‚Weiblichen‘ identifiziert werde, entwerfe. Zu dieser Leugnung des Anderen gehöre vor allem auch die Verdrängung der Leiblichkeit und des eigenen Ursprungs im mütterlichen Körper. Wie Irigaray weiter ausführt, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wie auf der Matrix eines dualistischen Denkens in Dichotomien von Materie versus Geist, Natur versus Kultur, passiv versus aktiv, männlich versus weiblich, generative Prozesse als die aktive Selbsthervorbringung des

49 Vgl. dazu Maio: Das Klonen im öffentlichen Diskurs; Nelkin/Lindee: The DNA Mystique. 50 Zu den drei Phasen klassischer Übergangsriten („rites of passages“) vgl. Turner: The Ritual Process, S. 94. 51 Zur Phase der „aggregation“ vgl. Turner: The Ritual Process, S. 94.

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Mannes interpretiert werden, so dass schließlich die Illusion eines autonomen, sich selbst produzierenden und reproduzieren Subjekts entstehe: Gerettet werden soll daher, daß der Mann der Erzeuger ist, daß die sexuelle Produktion und Reproduktion allein auf seine „Aktivität“, allein auf seinen „Entwurf“ zurückzuführen ist, wobei die Frau nur das Receptaculum ist, das passiv sein Produkt aufnimmt, [...] der das Saat-Gut anvertraut wird, damit es dort keimt [...]; schließlich ist sie lediglich „passiv“ der Reproduktion unterworfen. [...] Indem das Selbe sich immer wieder – einmal mehr, einmal weniger – neu bezeichnet, produziert es den anderen, dessen Funktion in dem Differenzierungsprozeß vernachlässigt, vergessen wird.52

Demnach stellt das (grundsätzlich männliche) ‚Subjekt‘ einen autoreferenziellen Selbstentwurf dar. Schaut man sich Grafiken zur Veranschaulichung der Klontechnik an, entsteht der Eindruck, als sollten die neuen Biotechnologien genau diese Vorstellung einer männlichen Selbstverdopplung in die Tat umsetzen. In den grafischen Darstellungen sieht man zwar die Abbildung eines Frauen- und eines Männerkörpers, wodurch auf den ersten Blick der Eindruck eines heterosexuellen Zeugungsaktes entsteht. Beim reproduktiven Klonen kommt es aber weder zu sexuellen Kontakten der Zellspender noch zu einer Vermischung von Erbgut. Klonen ist „asexuelle Replikation“.53 In den Schaubildern ist der Genomspender stets männlich. Der Spender gibt in diesem Fall jedoch kein Sperma, sondern eine Körperzelle. Eine Frau erscheint als Spenderin der zu entkernenden Eizelle und/ oder als Leihmutter, in dem der männliche Klon heranwächst:54

DER SPIEGEL

52 Irigaray: Speculum, S. 19, 22 (Hervorh. im Orig). 53 Zu einer kritischen Betrachtung von IVF und Reproduktionsmedizin aus geschlechtersensibler Perspektive vgl. Schneider: Gesellschaftliche Regulierung von Fortpflanzungstechnologien und Embryonenforschung, hier S. 112. 54 Die Gen-Debatte. Der manipulierte Mensch. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ 0,1518,135649,00.html. Die hier vorgeführten Abbildungen dienen lediglich als Beispiele.

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Am Ende der Prozedur steht das Duplikat des männlichen „Patien­ ten“:55

Der weibliche Körper dient der modernen Fortpflanzungstechnologie und Embryonenforschung als der das geeignete Zuchtmilieu zur Verfügung stellende ‚Behälter‘.56 Das groteske dramatische Geschehen in futur de luxe setzt diese Phantasie männlicher Selbstbezüglichkeit und Selbstverdoppe­ lung in Szene. In dem Bestreben, neben dem wirklich Bösen auch das wirklich Gute in die Welt zu setzen, behauptet Vater Theo, er habe seine 55 Reich: Es wird ein Mensch gemacht, S. 102. 56 Schneider: Gesellschaftliche Regulierung von Fortpflanzungstechnologien und Embryonen­ forschung, S. 111 ff.

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Frau Ulla eine Kopie seiner selbst austragen lassen. Unter dem Vorwand, Ulla habe eine sich dominant vererbende Krankheit, schneidet Theo die genetisch-materielle Bindung zwischen Mutter und Sohn ab: FELIX: Nachdem ich vierundzwanzig Jahre lang versucht habe, mich damit abzufinden, dass meine Mutter mich nur ausgetragen hat, dass ich aber nicht wirklich mit ihr verwandt bin,… dass meine leibliche Mutter eine Fremde ist, die irgendwo da draußen rumläuft, nach vierundzwanzig Jahren also wird mir erklärt, dass ich gar keine Mutter HABE! (94, Hervorh. im Orig.)

Eine körperliche Bindung der Mutter an ihren Sohn ist nicht gegeben. Der weibliche Nachkomme steht allein, entweder als Lebender oder Toter; in der ausführlichen Version ist er verschwunden. Gleichzeitig stellt der nominell mit Gott in Verbindung gebrachte Vater die für das Geschehen ausschlaggebende Instanz dar, deren abwegige Geschichte von niemandem hinterfragt, sondern zu eigen gemacht und von den Söhnen/Klonen ausund weitergelebt wird. Literarhistorisch spielt Bauersimas Klongeschichte auch auf die Motivgeschichte vom künstlichen Menschen an, die Rudolf Drux zu Folge als Geschichte „des archetypischen Traums des Mannes von der Verfügbarkeit der Frau“ als „Hegerin der von ihm weitgehend allein hervorgebrachten Nachkommenschaft“ gelesen werden kann.57

Schauspieler und Zuschauer als homo ludens in futur des luxe Futur de luxe liefert keine Stellungnahme in der aktuellen Bioethikdebatte, dafür ist es viel zu spielerisch angelegt. Das Schau-Spiel nutzt vielmehr zentrale Funktionen des Theater-Spielens, um über die Bioethikdebatte zu kommunizieren. Ist der Blick auf die mit den neuen Biotechnologien einhergehenden Probleme, Gefahren und Chancen in der Öffentlichkeit allzu oft dadurch verzerrt, dass die Debatte in weiten Teilen von Unwissenheit, einem geradezu religiösen Glauben an die Macht der Gene und der Freude am Horrorszenario geprägt ist, regt futur de luxe zum Nachdenken über die öffentliche Kommunikation zur Bioethik an.58 Futur de luxe zeigt den Menschen – als Schauspieler wie als Theaterzuschauer – als homo ludens, der sich über die Kulturtechniken Literatur und Theater Möglichkeiten zum spielerischen Testlauf in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen schafft. Hierin zeigt sich das Spiel als urmenschliche, erst kulturbildende Tätigkeit im durchaus Schillerschen Sinn. Indem im sprachlichen und theatralen Spiel menschliche Visionen, Hoffnungen und Ängste aus 57 Drux: Männerträume, Frauenkörper, Textmaschinen, S. 33. 58 Zur Kritik einer mitunter quasi-religiösen Überbewertung der Gene im öffentlichen Diskurs vgl. Maio: Das Klonen im öffentlichen Diskurs; Nelkin/Lindee: The DNA Mystique; Peters: Playing God?

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dem Imaginären ins Fiktive überführt werden, bildet der Spiel-Raum der Theaterbühne eine Art ,Pufferzone‘, in der eine Brücke geschlagen wird zwischen Fantasie und Sinnlichkeit und Empirie und Vernunft. Eben hier liegen die anthropologische Funktion und der gesellschaftliche Ort von Literatur und Theater im ,wissenschaftlichen Zeitalter‘: Zwischen den sich mit den imaginären Hintergründen von Kultur und Gesellschaft beschäftigenden Geistes- und Kulturwissenschaften und den sich (vorgeblich) mit ,harten Fakten‘ auseinandersetzenden Naturwissenschaften bieten sie einen spezifischen Spiel-Platz, auf dem das künstlerische Spiel eine erkenntnis­ leitende Brücke zu schlagen vermag.

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Spielformen und Textsorten: Regeln, Normen, Rituale

Anke Bosse

Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne Zum Spiel im Spiel Mit der Moderne um 1900 setzte europaweit eine Reformbewegung ein, die auf die Retheatralisierung des Theaters zielte und weitreichende Konsequenzen für Theater und Drama haben sollte. Ihr zugrunde liegt die Moderne-spezifische Krise der Repräsentation, die sowohl die theatrale Repräsentation und deren Mimesis-Gebot als auch die Sprache erfasste. Deren Repräsentationsfähigkeit/Referenzialität wurde angezweifelt bzw. als arbiträr erkannt, Sprache und Sprechen dem Vorwurf des Nicht-Authentischen ausgesetzt. Noch die erste Modernebewegung, der Naturalismus, war ‚sprachgläubig‘, sah das Theater als bloßen Vollstrecker des Dramentexts (‚Literaturtheater‘) und legte sich mit seinem Abbildungsperfektionismus, der vermeintlich exakten Repräsentation von Realität, ein verkürztes Mimesis-Gebot auf (Illusionstheater). Demgegenüber suchte sich das Theater in der Moderne als eigenständige Kunst neu zu begründen, indem es sich ‚retheatralisierte‘. Dabei kamen zum Zuge: 1. die Emanzipation vom sprachlich verfassten und darin infragegestellten Dramentext und, dazu komplementär, 2. die immense Aufwertung nichtsprachlicher körperbezogener theatraler Formen (Gestik, Mimik, Tanz, Pantomime, Akrobatik); 3. die produktive Re-Aktivierung älterer, dem bürgerlichen und dem naturalistischen ,Literaturtheater‘ voraus liegender europäischer Theaterund Spielformen und, damit verbunden, 4. die Moderne-spezifische Abstraktion, die Bühnenbild und -technik, Kostüme und Spielweise der Schauspieler gleichermaßen erfasste, das ,abbildungsperfekte‘ Illusionstheater verabschiedete und wesentlich auf die Aktivierung des Zuschauers, auf seine mitwirkende Imagination zielte; 5. die produktive Aneignung neuer Medien wie Fotografie, Phonograph und Film sowie neuer Techniken (Mechanik und Elektrizität); 6. die produktive Integration der Nachbarkünste Musik, bildende Kunst und Architektur sowie 

Gebauer/Wulf: Mimesis, S. 141.

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Anke Bosse

7. die vom bürgerlichen Kulturbetrieb marginalisierten theatralen Spielformen, von denen sich einige um 1900 neu formierten wie freier Tanz, Pantomime, Akrobatik, Variété und Kabarett. Die europäische Retheatralisierungsbewegung sollte nicht nur umwälzende Wirkungen für das Theater haben. Vielmehr nahm sie, dem Drama nun nicht mehr untergeordnet (Punkt 1), dieses auf ihrem Weg mit. Für die Autoren taten sich neue, ihre Dramentexte beflügelnde Kooperationen und ‚alt-neue‘ sowie neue Inspirationsquellen auf (Punkte 2-7). Aus der immensen Fülle werde ich nur einzelne Aspekte bieten können. Ich werde mich vor allem dem Spiel im Spiel widmen, das mir die Möglichkeit bietet, einige der sieben Punkte zu erläutern und, da es wesentlich autoreferentiell ist, ins Theater, ins Zentrum der Retheatralisierung vorzudringen. Anzusetzen ist bei anthropologischen Grundkonstanten, die sich eng mit Drama und Theater verbinden. Theater ist Spiel. Im Gegensatz aber zum Spiel von Kindern oder zum Gesellschaftsspiel wie z.B. dem Kartenspiel, bei denen gemeinhin alle Teilnehmenden auch Akteure sind, setzt das Theater seit seinen Anfängen das ko-präsente Gegenüber von Akteuren und Zuschauern voraus. Fehlt eine dieser beiden Instanzen, kann man nicht von Theater sprechen. Deswegen ist die Rolle des Agierens, ist die Rolle des Zuschauens und -hörens je eindeutig verteilt und nicht beliebig austauschbar. Zwar hat es immer Theaterformen gegeben, die diese Rollenverteilung, das Gegenüber von Zuschauer und Akteur und damit das Repräsentationsmodell transgredieren wollten – gerade im Rahmen der Reform- und Retheatralisierungsbewegung um 1900 und dann vor allem bei den Avantgarden. Doch alle diese Experimentalformen blieben und bleiben ex negativo auf das Theater-Modell der Repräsentation, des Gegenübers bezogen: Sie ziehen gerade aus dessen experimenteller Transgression zusätzlichen Lustgewinn, können es aber nicht aufheben. Denn Theater rührt hier an seine anthropologischen Wurzeln, an die conditio humana: Die theatrale Repräsentation bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, den Akteur als sein Double zu beobachten. So wiederholt sich für den Zuschauer, theatral-konkret veranschaulicht, das nur dem Menschen spezifische Heraustreten aus sich selbst und das sich selbst beobachtende Gegenübertreten. Parallel zur ontogenetischen, nur dem Menschen    

Vgl. Lazarowicz: Einleitung, S. 23. Vgl. Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, S. 18. Es gibt Kinderspiele, aber v.a. Gesellschaftsspiele, in denen ein Mitspieler vorübergehend zum Zuschauer wird, z.B. beim Billard oder bei Mannschaftsspielen wie Kegeln. In allen Fällen wechselt er aber wieder zurück in die Rolle des Akteurs. Dies gilt auch für jene Theaterformen, die eine gemeinsame Ekstase von Zuschauer und Akteur ‚imaginierten‘, weil sie eine Rückkehr in die – nach Nietzsche – ‚Vorform‘ des Theaters, die Dionysien wollten, z.B. Lothar Schreyers Theater oder auch Antonin Artauds ‚théâtre de la cruauté‘ (vgl. dazu Bosse: Theatralität).

Retheatralisierung in Theater und Drama der Moderne

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eigenen Entwicklung zu Selbst-Bewusstsein und zu Selbst-Beobachtung vollzieht das Theater als phylogenetischen Zivilisationsschritt die Entwicklung von der entfesselten Ekstase zur theatral simulierenden, bestimmten Spielregeln folgenden Re-präsentation, dem Gegenüber. Das Spiel im Spiel verdoppelt noch einmal die Beobachtungsebenen – und macht so dem Zuschauer seinen eigenen Status als Zuschauer eines Spiels sowie dieses Spiel als Spiel bewusst. Dass Sprechen Handeln ist, liegt dem Drama zugrunde. Es setzt so die der Sprache inhärente Performativität voraus. Das Theater als Performance vollzieht also mit sprechenden Akteuren diese Performativität szenisch und sinnlich vor den Augen und Ohren des Zuschauers. Das theater­spezifische Gegenüber von Akteur und Zuschauer führt zugleich die der Sprache inhärente Repräsentation vor und macht im Gegenüber von Sender und Empfänger eine weitere anthropologische Grundkonstante bewusst: der Mensch kann nicht nicht kommunizieren. Auch angesichts eines schweigenden, aber körperlich präsenten Akteurs wird der Zuschauer immer zu decodieren versuchen, was das Schweigen mit Blick auf die Rolle bedeutet, re-präsentiert. Im Theater als Wahrnehmungsrahmen wird er immer – pa­rallel zum Gesprochenen – die Kinesis des Akteurs als theatral wahrnehmen (Aisthesis) und zur rollenbezogenen Semiosis nutzen. Auch angesichts der Moderne-spezifischen Krise der Sprache und der Repräsentation, die die Aktivierung v.a. körperbetonter theatraler Formen anstieß, gilt für das Theater weiterhin: Es kann nicht nicht repräsentieren. Jacques Derrida betonte, dass wir dieser „clôture de la représentation“ nicht entkommen, aber versuchen können, ihre Abgeschlossenheit zu ‚denken‘: Penser la clôture de la représentation, c’est donc penser la puissance cruelle de mort et de jeu qui permet à la présence de naître à soi, de jouir de soi par la représentation où elle se dérobe dans la différance. Penser la clôture de la représentation, c’est penser le tragique : non pas comme représentation du destin mais comme destin de la représentation. Sa nécessité gratuite et sans fond.10

Im Bereich theatraler Repräsentation ist es nun insbesondere das Spiel im Spiel, das, indem es wesentlich die Artifizialität und den Inszenierungs- und  

Vgl. dazu ebd. und Anm. 5. So wie auch Schreiben und Lesen als Vollzugsakte die Performativität von Sprache umsetzen (vgl. Iser: Das Fiktive, S. 14-16). Dass Iser von der Rezeptionsästhetik herkommt, führt dazu, dass er nur das Lesen als Vollzugsakt, nicht das Schreiben erfasst (vgl. ebd., S. 9).  Watzlawick: Pragmatische Axiome, S. 53.  Nach Helmar Schramm erstellt sich ‚Theatralität‘ überhaupt über das Zusammenspiel dreier Modi: des vom Akteur getragenen Körper- und Bewegungsmodus’ (‚Kinesis‘), den die sprachkritische Moderne aufwertet (vgl. Punkt 1-2), des Wahrnehmungsmodus’ (‚Aisthesis‘), den Akteur und Zuschauer tragen, indem sie die Situation als theatral wahrnehmen, sowie eines spezifischen Modus’ der Zeichenproduktion (‚Semiosis‘), wiederum getragen von Akteur und Zuschauer (Schramm: Karneval des Denkens, S. 44). 10 Derrida: Le théâtre de la cruauté, S. 368.

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Spielcharakter des Bühnengeschehens ausweist, das Phänomen der Repräsentation ausstellt und bewusst macht. Und so geht es über das bloße ‚Denken‘ des Philosophen Derrida hinaus. Es ist nicht nur „penser la clôture de la représentation“, sondern ‚mise en scène de la représentation‘: Es führt zum spielerischen, lustvollen Erkennen von Repräsentation und Inszenierung qua Autoreferentialität. Denn das Spiel im Spiel besteht darin, dass innerhalb der primären, rahmenden Handlung den Akteuren ein Theaterstück – meist mit anderen Akteuren – vorgeführt wird, so dass sie zu Zuschauern gemacht werden. Indem das Spiel im Spiel innerhalb der ersten eine zweite Fiktionsebene aufmacht,11 markiert es diese als inszeniertes Spiel, weist aber zugleich die primäre, rahmende Handlung als Fiktion aus, kann diese, illusionsbrechend, als theatrales Spiel entlarven: Das Spiel im Spiel ist autoreferentiell. Auch wiederholt es im inneren Kommunikations­ system die Aufführungssituation des äußeren: Den realen Zuschauern im Zuschauerraum entsprechen fiktive auf der Bühne. So stellt das Spiel im Spiel die Spielregeln des „ungeschriebenen ‚contrat théâtral‘“ aus, der die Beziehungen zwischen Akteuren und Zuschauern im Rahmen einer Aufführung regelt.12 Im Angesicht seines Doubles auf der Bühne wird so dem realen Zuschauer sein Spiel-Bewusstsein verdeutlicht, das das unausgesprochene a priori der Theatersituation und eine Grundregel des ‚contrat théâtral‘ ist. Zugleich erzeugt das Spiel im Spiel über seine Verdoppelungsstruktur, seine Autoreferentialität und durch gezielte Verstöße gegen genau diese Spielregeln einen ästhetischen Überschuss zwecks Lustgewinns am Spiel an sich – allerdings ohne diese Regeln aufheben zu können. Dem Lustgewinn am Spiel liegt die „spezifische Fiktionsbedürftigkeit“ des Menschen zugrunde, die Wolfgang Iser als unentbehrliche anthropologische Basis von Literatur, von Kunst überhaupt definierte, erlaubten diese doch dem Menschen „die Selbstauslegung seiner eigenen Existenz“.13 Die mediale Funktionsweise der Künste bestehe darin, dass der Mensch sich „seine eigene Plastizität vergegenwärtigt“.14 Nicht nur Literatur, auch das Theater ist „fiktiv“, sofern es „über die gegebene Realität hinausführt“, und „imaginär“, sofern es „einen von der Realität abgehobenen Vorstellungsraum eröffnet“.15 Theater eröffnet einen fiktiven „Spielraum“ – aufgrund des Spiel-Bewusstseins von Akteur und Zuschauer wissen beide, dass etwas Fingiertes repräsentiert wird –, und einen imaginären. Denn konstitutiv für Theater ist gerade nicht die naturalistische, vermeintlich exakte Abbildung 11 Pfister: Das Drama, S. 299 f. 12 Den Begriff „contrat théâtral“ hat Lazarowicz in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseaus „contrat social“ entwickelt (Lazarowicz: Einleitung, S. 23 f.). 13 Iser: Das Fiktive, S. 14-16. 14 Ebd., S. 11 f. 15 So wird „Spiel zur Struktur, die das Ineinander von Fiktivem und Imaginärem reguliert.“ (Vgl. ebd., S. 15 f.)

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der außertheatralen Realität, vielmehr muss es mit „Andeutungen, Abkürzungen und Auslassungen“ arbeiten, um die Bereitschaft des Zuschauers zur imaginativen „Komplettierung“16 zu fordern. Voraussetzung ist, dass sich Theater in einem „exterritorialen Raum“ ereignet, in dem Akteur und Zuschauer „im Modus des Als-ob miteinander verkehren.“17 Das Theater als eine autonome, aber nicht autarke Enklave kann mit Michel Foucault als „Heterotopie“, als „Gegenort“ gesehen werden, der „all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage stellt und ins Gegenteil verkehrt.“18 Dieser eigentümlich außerhalbinnerhalb liegende ‚andere Raum‘ bleibt an den realen – gesellschaftlichen – Ort durch den Bezug gebunden. In diesem anderen Raum, dem Theater, befinden sich Akteure und Zuschauer „in einer Art von Ausnahmezustand, in dem viele der außerhalb des Theaters geltenden Gesetze, Vorschriften und Konventionen außer Kraft gesetzt sind“.19 Aus der Aufhebung dieser restriktiven, das zivilisierte und soziale Zusammenleben aber überhaupt ermöglichenden Regeln beziehen Akteure und Zuschauer ästhetischen Lustgewinn, da die Suspendierung innerhalb dieses Spielraums verbleibt und der obersten Regel ,Alles ist Spiel und im Modus des Als-Ob‘ weiterhin unterliegt. So verbleibt auch die kathartische Affektabfuhr innerhalb des Spiel-Geheges:20 „Perhaps it was the sense of theatre that made us human, ages ago.“21 In dieser anthropologischen, phylogenetischen Funktion überschneidet sich Theater mit dem Spiel allgemein, in dem nach Johan Huizinga der Ursprung der menschlichen Kultur liegt: Es sei das Bändigen von Aggressionen im geregelten Spiel als zivilisatorische Leistung, die das spezifisch Menschliche ausmache. Das Spielen habe nämlich die Doppelfunktion, einerseits von allen äußeren Normen oder moralischen Ansprüchen lustvoll zu befreien, andererseits aber – ohne Spielregeln kein Spiel – reguliertes Verhalten zu verlangen und einzuüben. Ein Spiel sei das bewusste „Heraustreten aus dem Kontinuum der Wirklichkeit in eine Welt mit eigenen Gesetzen“ und ende mit der „Rückkehr in die Wirklichkeit mit Ergebnissen aus diesem frei geschaffenen Zwischenraum“.22 Als „Heterotopie“ (Foucault), als „Ausnahmezustand“ (Lazarowicz), als „liminoide Schwellensituation“

16 Lazarowicz: Einleitung, S. 35. 17 Ebd., S. 24. 18 Foucault: Von anderen Räumen, S. 935. Foucault zählt das Theater explizit zu den Heterotopien (vgl. ebd., S. 938). 19 Lazarowicz: Einleitung, S. 38. 20 Vgl. zur Unterscheidung von Theater und theatralischen Arrangements in Situationen des Alltags oder der kultischen Feier: Brauneck: Theater des 20. Jahrhunderts, S. 16-19. 21 Jones: The Dramatic Imagination, S. 155. 22 Huizinga: Homo ludens, S. 14 f.

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(Turner)23 setzt auch Theater dies um – allerdings mit Akteuren und Zuschauern. Der ästhetische Lustgewinn für Akteure und Zuschauer hängt davon ab, ob Theater „nur emotional, unreflektiert, auf identifikatorischer Basis produziert und rezipiert“ wird oder „auch unter Beteiligung des illusionsresistenten, skeptisch distanzierten Bewusstseins“.24 Genau auf dieses Bewusstsein zielt die Autoreflexivität des Spiels im Spiel. In ihm wird sich das Theater selbst zum Thema, und zwar als Medium.25 Das Spiel im Spiel setzt die medialen und ästhetischen Bedingungen des Spiels in Szene und thematisiert sie: die Beziehungen zwischen dem Autor und seinem Werk, zwischen dem Stück und seinem Publikum, zwischen dem Akteur und seiner Rolle („triadische Kollusion“26). Durch ihre Potenzierung im Spiel im Spiel wird die dramatische Illusion problematisiert,27 Theater dekonstruiert sich im Aufbau und Durchbrechen mehrer Illusionsebenen und legt so implizit auch das Verhältnis zwischen dem realen Zuschauer und der Aufführung bloß. Dies kann zur kalkulierten Verunsicherung des Zuschauers über die Grenzen von Sein und Schein, von Realität und Fiktionalität führen, die ihm schließlich auch die außertheatrale Realität als illusionäres Theaterspiel erscheinen lässt. Einer der fraglos bedeutendsten Virtuosen des Spiels im Spiel sowie seines Einsatzes für die Moderne-spezifische Retheatralisierung ist Arthur Schnitzler. Was bisher theoretisch aufgefächert wurde, sei exemplarisch an seinem Stück Zum großen Wurstel erläutert.28 Erste Spielebene und Rahmenhandlung dieser „Groteske“ sind auf dem Wiener Wurstelprater situiert, auf den Schnitzler das Marionettentheater Zum großen Wurstel und als dessen fiktive Zuschauer Praterbesucher, Personen aus dem Zirkus, den Direktor des Marionettentheaters und den Dichter platziert, der dafür ein Stück geschrieben hat. Dieses Stück wird – zweite Spielebene – im Marionettentheater als Spiel im Spiel aufgeführt. Indem Schnitzler die Marionettenbühne auf dem Wiener Wurstelprater errichtet, ruft er die theatrale Tradition des volkstümlich-lebendigen, aber vom etablierten bürgerlichen Theaterbetrieb zum bloßen Kindervergnügen marginalisierten Marionettentheaters auf (vgl. Punkte 3 und 7). Ziel ist aber 23 Vgl. Turner: Das Ritual, und ders.: Vom Ritual zum Theater. 24 Lazarowicz: Einleitung, S. 43. 25 Pfister: Das Drama, S. 299 f., und Schmeling: Métathéâtre, S. 8. – Man unterscheidet gegenwärtig eine „schwache“ und eine „starke“ Bedeutungsvariante von ‚Medium‘ (vgl. SchulteSasse: Medien/medial, S. 1 f., 4 f.). Gemäß der „starken“ ist Theater ein Medium. 26 Lazarowicz: Der Zuschauvorgang, S. 103 f. 27 Pfister: Das Drama, S. 299 f. 28 Schnitzler: Zum großen Wurstel. Seitenangaben zukünftig direkt im Haupttext. – Später änderte Schnitzler den Untertitel ‚Groteske‘ zu ‚Burleske in einem Akt‘ und fügte den Einakter als Schlussstück in die Trilogie‚Marionetten‘ ein, die er 1904 veröffentlichte.

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nicht dessen bloße Rehabilitation und Wiederbelebung – Zum großen Wurstel ist nur ein vergrößertes Imitat des ‚echten‘ Marionettentheaters,29 und die Marionetten werden von marionettisierten Schauspielern gespielt.30 Vielmehr setzt Schnitzler das Marionettentheater als Provokation des institutionalisierten Illusionstheaters ein, in dessen abgeschlossenes System Marionetten als Unordnung stiftende „Störenfriede im wahrsten Sinne des Wortes“ eindringen.31 Denn obwohl nur Imitat, wird die ausgestellte, illusionsbrechende Artifizialität der Marionette – wie zu zeigen ist – im Spiel im Spiel thematisiert und eingesetzt. Neue Vitalität gewinnt Schnitzler seinem Stück außerdem durch die Verwendung von Elementen des Kabaretts, das um 1900 als Gegenwelt zum etablierten Theatersystem geradezu boomte (vgl. Punkt 7).32 Ja, Schnitzlers Stück entstand für das überhaupt erste deutschsprachige Kabarett, Ernst von Wolzogens Buntes Theater in Berlin, wo es am 8. 11. 1901 uraufgeführt wurde. Schnitzlers Stück zeigt also, wie neben der Ästhetik des Marionettentheaters auch neue außerliterarische Theaterformen wie das Kabarett nicht nur auf das Theater, sondern auch auf das Drama zurückwirken: Es verfügt über eine kurze, kabarettbühnengerechte Form, aktiviert gegen das etablierte Theater dezidiert den Unterhaltungsaspekt sowie Parodie und Satire und setzt die illusionsbrechende Parabase in Gesangform ein (S. 875), wie sie – als direkt publikumsgerichtet – für das Kabarett typisch ist. Auch einen dritten Aspekt der Retheatralisierung weiß Schnitzler nun für das Drama produktiv zu machen: Er gewinnt seinem Stück die eingangs erwähnte Aufwertung nichtsprachlicher, körperbezogener theatraler Formen (vgl. Punkt 2), indem er – das bürgerliche und naturalistische Illusionstheater attackierend – die Personen des Spiels im Spiel sichtbar marionettisiert (sie hängen an allzeit „sichtbar[en] Drähten“, S. 875) und sie so der spezifischen, markiert artifiziellen und darin antiillusionistischen Kinesis der Marionette unterzieht. Schnitzlers Stück nutzt die (imitierte) Marionette als Paradigma einer eigengesetzlichen, weil rein theatralen Gesetzen – der Mechanik der Drähte – unterworfenen Kinesis, die auf eine Mimese der ,natürlichen Verhaltensweise‘ des Menschen 29 Bezeichnenderweise steht laut Bühnenanweisung neben dem explizit „große[n] Marionettentheater“ mit der Aufschrift „,Zum großen Wurstel‘“ ein sichtbar marginalisiertes, nämlich „seitlich links, schiefgestellt[es], schmales hohes Wursteltheater alter Konstruktion […], in dem eben eine Vorstellung stattfindet (zwei kleine Figuren raufen sich, beide werden vom Teufel geholt usw.)“, und davor sitzen „Kinder [!] mit ihren Begleitern.“ (Ebd., S. 873) 30 Zu den „Personen des Marionettentheaters“ (ebd., S. 872) heißt es anfangs: „die Drähte, an denen sie gelenkt zu werden scheinen [!], sind sichtbar“, was der Zuschauer „Der Naive“ mit „Die sind oben ang’hängt! Ah, das is aber gut! Zu den Freunden Schauts!“ (ebd., S. 875) kommentiert. Wenn dann der „Held“ vortritt und „mit Klavier folgenden Vers […] singt“ (ebd.), ist klar, dass hier keine ‚echte‘ Marionette von einer Stimme aus dem Off begleitet wird. 31 Bayerdörfer: Eindringlinge, S. 506. 32 Vgl. zur Schlüsselrolle des Kabaretts: Bosse: Das Kabarett.

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nicht zielt, nicht zielen kann. Die Marionettisierung der Akteure im Spiel im Spiel weist sie sichtbar als fiktiv und als Imitanden eines eigengesetzlichen theatralen Spiels, nicht einer außertheatralen ‚Realität‘ aus. Doch Schnitzler nutzt zugleich auch die traditionell metaphorische Funktion der Marionettenexistenz am Draht, ihren Verweis auf den Determinismus der menschlichen Existenz: Indem er die Marionettenaufführung als Spiel im Spiel präsentiert, ruft er die Tradition des ‚theatrum mundi‘ auf (vgl. Punkt 3). Diese traditionelle Form des Spiels im Spiel inszeniert die Welt als Bühne, auf der sich die Menschen als Puppen eines Spielers bewegen, der ihre Fäden/ihr Schicksal in der Hand hält und die (Welt-)Ordnung garantiert. War dies in Mittelalter und Barock Gott, wird er im Zuge der Säkularisierung vom Tod als ‚Regisseur‘ abgelöst. Dieser gehört denn auch zum Personal der Schnitzlerschen Marionettenbühne. Doch macht er hier, statt seine ordnende Regisseurfunktion im Moment größter Handlungsverwirrung auszuüben, eine überraschende Wandlung durch: Er wirft Maske und Mantel ab und steht plötzlich als Hanswurst da, konvertiert vom Regisseur zu dem ‚Anarcho‘ wider alle Spielregeln des Illusionstheaters (S. 892).33 So parodiert eine ältere theatrale Form, das Stegreiftheater des Hanswurst, eine andere ältere, das Welttheater als Spiel im Spiel, ja hebelt sie aus (vgl. Punkt 3). Das Welttheater geht in die Brüche, seine letzte metaphysische Instanz, der Tod, wird desavouiert. An seine Stelle tritt die Theaterwelt als solche, in der kein ‚Drahtzieher‘ mehr vorhanden ist und die, entfesselt, zum Selbstläufer wird und im Tohuwabohu endet (S. 890-893). Schnitzlers Stück setzt so die Funktionsverschiebung der Marionette von der deterministischen Metapher zur „Chiffre des freigesetzten theatralischen Spiels“ um.34 Der Zweck des Aufrufs des ‚theatrum-mundi‘-Modells liegt darin, dass es die Frage nach der Beziehung zwischen dem Theater und der Wirklichkeit der menschlichen Existenz erst aufwirft, dann aber über die Transformation zum Wurstelspiel [sic!] seine transzendente Instanz (Tod) und den Realitätsbezug einbüßt. Da mit der metaphysischen Auflage auch die ästhetische der Mimese entfällt, können sich die Spielelemente und Spielebenen freisetzen – und für nichts anderes stehen als sich selbst. Es ist daher ganz im Sinne einer das Theater erneuernden, hier auch das Drama erfassenden Retheatralisierung, dass das Spiel im Spiel autoreferentiell ist, im Theater das Theater zum Thema macht. 33 Keine Figur passt weniger in die illusionistische Immanenz als Hanswurst, da er seiner theatralischen Natur gemäß als Sprachrohr des realen Publikums und als Kommentator des Bühnengeschehens auf der ‚Schwelle‘ zwischen der Ebene der ‚dramatis personae‘ und der des Publikums agiert, ja von jeher mehr auf Seiten des Publikums als auf der der Dramenpersonen. Er verkörpert geradezu das anarchische Prinzip, das das Illusionstheater unterminiert. 34 Bayerdörfer: Eindringlinge, S. 526.

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Schnitzlers genialer Kunstgriff besteht nun darin, dass er gleich zwei autoreferentielle Stücke überlagert, indem er auf der ersten Spielebene (Wurstlprater) einen Dichter geschaffen hat, der selbst schon ein sich selbst kommentierendes Stück, das der zweiten Spielebene, geschrieben hat. Auf beiden Ebenen vollziehen die Figuren fiktions- und illusionsbrechende Handlungen und Sprechakte, die – autoreferentiell – den Zuschauer im Parkett auf den Fiktions- und Spielstatus des theatral Dargebotenen stoßen und sein Spielbewusstsein wecken. Dieses stimulieren schon die Zuschauerfiguren der ersten Spielebene allein durch ihre Präsenz als Doubles der realen Zuschauer. Doch sie desavouieren auch den eigenen Fiktionsund Spielstatus durch Regelverstoß, durch den antiillusionistischen Effekt des Aus-der-Rolle-Fallens, indem sie autoreflexiv ihr Verhalten in Bezug auf den Rollentypus, den sie verkörpern sollen, thematisieren: „Der Bissige [zum Wohlwollenden]: Was heißt denn das? … Sind Sie der Bissige oder ich! …“ (S. 881). Autoreferentiell und darin fiktionsentlarvend ist nun aber auch das Marionettenstück des Dichters, das Spiel im Spiel. So sprechen und singen die ,Marionetten‘35 Parabasen ad publicam, mit denen sie nicht nur die Grenze zwischen der Marionettenbühne und der Wurstlprater-Bühne der ersten Spielebene sowie diejenige zwischen dieser Bühne und dem Zuschauerraum überschreiten, sondern, vor allem, autoreflexiv sich und ihre eigene Rolle vorstellen. So z.B. redet der Held über sich als Bestandteil des Stücks und des Marionettentheaters sowie über seine Funktion als ‚Held‘ (S. 877 f.) – eine Autoreflexion auf das Theater als Spiel, deren antiillusionistischer Effekt durch den wiederholten Regelverstoß des Aus-der-RolleFallens auch durch andere Figuren immer wieder aktualisiert wird. Solche wiederholten, über beide Spielebenen gestaffelten Fiktionsbrüche drängen die eigentliche Handlung des Spiels im Spiel, das bevorstehende Duell des ‚Helden‘, in den Hintergrund und stören sie so lange, bis sie im völligen Tohuwabohu untergeht. Schnitzler toppt die internen Fiktionsbrüche noch durch externe, durch transtextuelle Bezüge, die die Kenntnisse des realen Zuschauers über frühere theatrale Formen (Marionettentheater, Hanswurstiade, ‚theatrum mundi‘) und über zeitgenössische Stücke fordern. Seine eigenen Dramen parodierend, versammelt Schnitzler im Spiel im Spiel Figuren-Typen, die die zeitgenössische Rezeption topisch mit seinen bisherigen Stücken verbinden.36 Ja, er lässt in transtextueller Fiktionsbrechung mit dem Grafen von Charolais und dem ,Meister‘ Figuren aus Dramen Richard Beer-Hofmanns und Hermann Bahrs auftreten und – zusätzlicher Fiktionsbruch durch Autoreflexion – über ihre Herkunft aus einem „fünfaktigen

35 Da es sich um Marionetten imitierende Schauspieler handelt, setze ich ab hier ‚Marionetten‘ in einfache Anführungsstriche. 36 Vgl. Bayerdörfer: Vom Konversationsstück, S. 567 f.

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Trauerspiel“ und einer „dreiaktigen Komödie“ reflektieren (S. 892).37 Die Störungen und Spielregelverstöße, die bisher vorrangig das Spiel im Spiel betrafen, übertragen diese beiden nun auf die erste Spielebene. Als Figuren aus anderen Stücken als dem Marionettenstück des Dichters müssten sie in der Staffelung der Fiktionsebenen auf der zweiten stehen, tauchen aber zur Entgeisterung des Dichters auf seiner Ebene, der ersten, auf. Die beiden Figuren markieren nun auch diese Ebene als fiktives Spiel und signalisieren durch ihr Auftauchen die zunehmende Unbeherrschbarkeit und Verselbständigung des gesamten theatralischen Materials. Zweitens hat sich Schnitzler, indem er durch das Spiel im Spiel die Fiktionsebenen verdoppelte, die Voraussetzung für ein wahres Feuerwerk an desillusionierenden, regelverletzenden Fiktionsbrechungen durch den Wechsel zwischen den Fiktionsebenen geschaffen. Die Zuschauerfiguren der ersten Spielebene (Wurstlprater) stören nicht nur durch wiederholte Kommentare die dramatische Illusion der zweiten Spielebene (Marionettenstück als Spiel im Spiel), sie greifen sogar darin ein.38 So entert eine Figur der ersten Spielebene, der Ringkämpfer, die Marionettenbühne und rauft sich mit einer Figur der zweiten Spielebene, dem Herzog (S. 884) – ein Illusionsbruch im Ebenenwechsel, der von einem zweiten begleitet wird, der autoreferentiellen Bemerkung des Dichters, dass dieser Schaukampf gar „nicht dazu gehört“ (S. 887). Hier und immer öfter entgleitet ihm die theatrale Inszenierung seines Stücks, des Spiels im Spiel, es verselbständigt sich zusehends gegenüber dem Drama des Dichters und weist darin die Eigenmächtigkeit des Theaterspiels aus. Doch die Verselbständigung erfasst auch die erste Spielebene: Als sich die Auseinandersetzungen zwischen den Zuschauerfiguren zuspitzen, dreht sich das Verhältnis zwischen erster und zweiter Spielebene um: Die „Marionetten schauen hinter den Kulissen hervor“ (S. 891) und werden zu Zuschauern des Tumults, ja greifen wenig später illusionsbrechend auf die erste Spielebene über, indem sie über den Rand des Marionettentheaters hinausblicken (S. 892). Drittens aber treibt Schnitzler diese Verselbständigung des Theaters bis zu seiner Entgrenzung. Denn in einem radikal regelverletzenden Illusionsbruch wird die Trennung zwischen Bühne und realem Zuschauerraum, die Rampe, transgrediert – und damit die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Ein „Herr, der im wirklichen Parkett hinten sitzt“, meldet sich und erklärt alles für „Schwindel“: „Es ist ja evident, dem Dichter ist kein Schluß eingefallen – der Skandal ist arrangiert!“ (S. 892) Er entlarvt nicht nur das 37 Graf von Charolais aus Beer-Hofmanns Der Graf von Charolais. Ein Trauerspiel (1904) und der ‚Meister‘ aus Hermann Bahrs Komödie Der Meister (1904) (vgl. ebd., S. 569). 38 So will der Dichter dem Räsoneur einige Zeilen kurzfristig streichen und durchbricht, da er dies der Räsoneur-Marionette zuflüstert, selbst die Fiktion seines eigenen Stücks (Schnitzler: Zum großen Wurstel, S. 879).

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Versagen des Dichters, sondern auch diesen selbst als fiktiv („Sie kommen ja auch nur vor!“, ebd.), ist selbst aber nicht bereit, sich als „wirklicher Theaterbesucher“ auszuweisen, sondern lässt sich auf die Bühne ziehen (S. 893). So entlarvt er sich selbst als inszeniert-arrangiert, als nur gespielten ‚echten‘ Zuschauer. Dass Schnitzler dies potenziert durch eine zweite, gegengleiche Grenzüberschreitung – der Bissige „geht“ daraufhin mit dem Bemerken „Das ist ja der reine Zirkus!“ protestierend „ins Parkett hinunter“ (ebd.) – führt zur Entgrenzung des Theaters, des Spiels, der Illusion. Denn der Bissige verwandelt sich nun nicht in einen ‚echten‘ Zuschauer, bleibt doch sein Überschreiten der Rampe zum Publikum inszeniert und darin Teil des Spiels. Das Spiel lässt sich entgrenzen, aber nicht aufheben – bis der Vorhang fällt. Doch damit nicht genug. Die Pointe ist, dass es Schnitzler viertens gelingt, jenen Konflikt, der der Retheatralisierungsbewegung der Moderne überhaupt zugrunde liegt, zu gestalten: die konkurrentielle Auseinandersetzung zwischen den beiden Medien ‚Drama‘ und ‚Theater‘ (vgl. Punkt 1).39 Dafür holt er die einzige Konstellation der Theater-konstitutiven „triadischen Kollusion“40 ins Theater, die gemäß den theatralen Regeln dort nichts zu suchen hat: den Autor und sein Werk.41 Er holt sie sogar auf die Bühne – den „Dichter“ und sein Marionettenstück. Dieser muss permanent sein Drama verteidigen: gegen den spektakelfixierten Direktor, gegen das respektlos störende Publikum der ersten Spielebene, gegen Eindringlinge wie den Ringkämpfer, und schließlich sich selbst gegen Eindringlinge aus anderen Dramen – allein, er muss die Destruktion seines Dramas und seine eigene Entmachtung durch das Theater erleben. Nämlich durch die Verselbständigung seiner eigenen Geschöpfe, der ‚Marionetten‘, die einen Aufstand gegen ihn anzetteln – einen Aufstand des Mediums Theater gegen das Medium Drama (S. 893 f.) Doch auch die – erneut fiktionsbrechende – Selbstermächtigung der ‚Marionetten‘ zu einem Theaterspiel, das nichts als dem Ausleben des Spieltriebs frönt, endet im Chaos. Im Moment des größten Tohuwabohus, der potenzierten Regelverletzungen durch eigenmächtige Aktionen tritt die Figur des Unbekannten auf der ersten Spielebene auf (S. 894). Er scheint zunächst als ‚deus ex machina‘ zu fungieren, der eine restlos verfahrene Situation retten soll. Doch einmal mehr wird eine frühere theatrale Tradition aktiviert (vgl. Punkt 3), um sofort illusions­brechend 39 Dass Schnitzler die Selbstermächtigung des Theaters, seinen ‚Sieg‘ über das Drama, ‚in‘ einem ‚Drama‘ darstellt, macht dieses noch nicht zum finalen ‚Sieger‘. Schließlich adaptierte Schnitzer extensiv außerliterarische theatrale Formen und zielte auf die theatrale Inszenierung seines Dramas an. 40 Lazarowicz: Der Zuschauvorgang, S. 103 f. 41 Als Zuschauer kann der Autor natürlich im Theater präsent sein, er kann sogar selbst in seinem Stück als Akteur auftreten – aber dann wechselt er von der Autor- zur Zuschauer- bzw. Akteurrolle.

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parodiert zu werden. Denn erstens schafft der Unbekannte mit seinem Schwert noch mehr Chaos, zweitens bekennt er durch illusionsbrechende Autoreflexion, seiner Funktion als ‚deus ex machina‘ selbst nicht sicher zu sein („Bin ich ein Gott? …ein Narr? Bin ich ich selber – oder nur ein Zeichen?“, S. 894). Der Sinn des ganzen Verwirrungsgeschehens, das er selbst perpetuiert, liegt in der Aufhebung der Grenze zwischen Theater und Realität, zwischen Schein und Sein. Der Unbekannte liquidiert diese Grenze und somit das herkömmliche Illusionstheater, das die Unterscheidbarkeit von Schein und Sein voraussetzt. Denn als er mit seinem Schwert die Drähte der Marionetten zerschlägt und sie zusammenfallen, wird zwar ihre fiktionsbrechende Selbstermächtigung beendet und ihr Status als reine Kunstfigur demonstriert – doch koinzidiert dies mit einem neuerlichen, potenzierten Desillusionseffekt: Die Schläge des Unbekannten treffen auch „unsichtbare Drähte“ (ebd.), so dass auch die vermeintlich ,menschlichen‘ Bühnenzuschauer der ersten Spielebene zusammenbrechen – inklusive des Dichters. Ihre Entlarvung als rein fiktive theatrale Figuren, als ,Marionetten‘ von des Unbekannten Gnaden, wird am Ende zugleich destruiert und potenziert darin, dass sie nach dem Abgang des Unbekannten eigenmächtig wieder aufstehen und – fiktionsverdoppelnd – signalisieren, ,Marionetten‘ nur gespielt zu haben (S. 894). So kann der Unbekannte den entfesselten theatralischen Apparat nur für einen Moment zum Erliegen bringen, denn das Stück mündet ohne Abschluss wieder in seinen Anfang. Auf die ‚Wiederauferstehung‘ der Wurstlprater-Zuschauer folgt die der ‚Marionetten‘, und der Direktor wiederholt seine marktschreierische Eingangsrede (S. 873 f.), deren Einleitungssatz die Liquidation des herkömmlichen Theaters nun bestätigt: „Meine Herren! Hier ist zu sehn das preisgekrönte allerneueste Figurentheater oder auch Marionettentheater genannt – ein Theater, welches fürderhin jeglichen Theaterbesuch endgültig überflüssig zu machen geneigt und anvertraut ist.“ (S. 894) Diese Kreisstruktur des Spiels, das sich selbst vernichtet und doch wieder von vorn beginnt, markiert seine Abgeschlossenheit nach außen, seine Eigenmächtigkeit, seine sich selbst perpetuierende Eigenbewegung. Das Spiel im Spiel weckt durch seine Autoreferentialität das Spiel-Bewusstsein des Zuschauers und macht ihm die Spielregeln als Gelingensbedingungen des Theaters bewusst (‚contrat théâtral‘). Dies vollzieht das Spiel im Spiel aber durch regelverletzende, autoreflexive fiktions- und illusionsbrechende Verfahren, die – so die radikale Konsequenz in Schnitzlers Stück – über ihre Verselbständigung in die Autodestruktion führen können. Zugleich aber führt das Spiel im Spiel dem Zuschauer jenes regelverletzende anarchisch-zerstörerische Verhalten vor, das er sich selbst aufgrund des ‚contrat théâtral‘ versagt. Teilnehmender Beobachter dieser Regelverstöße zu sein, erzeugt in ihm lustvolle Befreiung und kathartische Affektabfuhr, ohne den ‚contrat théâtral‘ zu brechen. So demonstriert Schnitzlers Stück

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virtuos, dass sich im heterotopen, ‚anderen‘ Raum des Theaters zwecks Lustgewinns die Verstöße gegen die Spielregeln bis zur Autodestruktion des Spiels multiplizieren können – ohne aber, da inszeniert, das Spiel aufzuheben. Bis der Vorhang fällt, bleibt es in der „clôture de la représentation“. Dies weist Schnitzler aus, wenn er am Ende des Stücks Theater erst als sich selbst vernichtendes und dann sich regenerierendes, autonomes, eigengesetzliches und eigendynamisches System vorstellt und in eine Endlosschleife münden lässt. Darin schließlich führt Schnitzlers Stück die Retheatralisierungsbewegung und ihr Ziel, das Theater als eigenständige Kunst zu begründen, in den Exzess. Das Spiel im Spiel ist immer wieder als Reflexion des Theaters auf sich als Medium definiert worden. Da sich die Medialität des Theaters im Grenzgebiet von Bühne und Publikum ereignet und wesentlich die Formung der Aisthesis des Zuschauers betrifft, hat es das Spiel im Spiel auf genau dieses Grenzgebiet abgesehen. Denn indem es hier immer wieder die Grenze zwischen Spiel und Realität transgrediert, weist es die Grenze als illusionär aus: illusionär, sie eindeutig erkennen und ziehen zu wollen. Ein instabiles Repräsentationsmodell ist also Voraussetzung für das Spiel im Spiel und kommt in ihm zur Darstellung. Es zieht den Zuschauer unweigerlich hinein in anthropologische Grundfragen, in die Frage nach der Erkennbarkeit von Schein und Sein, in die „Selbstauslegung seiner eigenen Existenz“,42 denn es drängt ihn zu der Erkenntnis, dass sein Bezug zur Realität den Unwägbarkeiten seiner individuellen Perspektive unterworfen ist und dass ihm die Realität an sich intangibel bleibt. Insofern kreiert das Spiel im Spiel eine verdoppelte „illusorische Heterotopie“, zwei ineinander verschachtelte „illusionäre“ Räume, die „den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarv[en].“43 Das Spiel im Spiel suspendiert daher Mimesis als Versuch, ein Referenzverhältnis zur Realität herzustellen, qua Des-Illusion und Autoreflexivität. Und: Es nutzt letztere, um die Lust an der anarchischen Eigendynamik und Eigenmächtigkeit des Spiels mit dem Zuschauer zu feiern.

Literatur Bayerdörfer, Hans-Peter: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie. Zu Arthur Schnitzlers Einaktern. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16, 1972, S. 516-575. Bayerdörfer, Hans-Peter: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. Symbolische Dramatik und die Anfänge des modernen Theaters. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20, 1976, S. 504-538. 42 Iser: Das Fiktive, S. 14. 43 Foucault: Von anderen Räumen, S. 941.

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Optimistische ‚Endspiele‘ – vom Nutzen des Zufalls in Spiel und Komödie I. Die Komödie und das Spiel – ein altes Paar Die Komödie und das Spiel sind ein altes Paar. Unter den traditionellen literarischen Gattungen ist die Komödie wohl diejenige, die am häufigsten und am vielfältigsten mit der Kategorie des Spiels in Verbindung gebracht worden ist – und dies durchaus auf sehr unterschiedlichen Ebenen und bezogen auf verschiedenste Varianten des Spielbegriffs. Die prominenteste dieser Ausprägungen ist sicherlich die sehr basale des Spiels als eines Gegenbegriffs zur Realität. Am allgemeinsten trifft diese Hinsicht bereits auf die Komödie als eine dramatische Subgattung zu. Als solche erreicht sie ihre Rezipienten normalerweise in Form einer fingierten Handlung, nämlich eines Spiels der Schauspieler auf dem Theater. Konkreter auf die Spezifika der Komödie bezogen, lässt sich feststellen, dass dieser in der Regel eine gewisse ausgestellte Künstlichkeit eignet. Gegen das Prinzip einer möglichst vollständigen Illusion, deren Ziel die Einfühlung des Rezipienten in das auf der Bühne präsentierte Geschehen darstellt, wurde und wird dem Zuschauer im Fall der Komödie die Differenz von Realität und Spiel zumeist sehr bewusst gehalten. Deutlich wird dies beispielsweise durch die verbreitete Nutzung einer irrealen Hyperbolik oder die häufige Verwendung der Parabase. Allgemein dürfen Unwahrscheinlichkeiten in der Darstellung hier also mit einer wesentlich höheren Toleranz rechnen als etwa im ernsten Drama und vor allem in der Tragödie. Nicht zufällig ist etwa im Französischen ‚comédie‘ ein durchaus mehrschichtiger Begriff. Bezeichnen kann er sowohl konkret das Bühnenlustspiel als auch in einem allgemeineren Sinn jegliche Form fiktiver theatraler Darstellung oder sogar den Ort, an dem diese stattfindet. Im alltäglichen Leben verweist er schließlich noch auf einer metaphorischen Ebene auf das   

Der vorliegende Text entstand im Rahmen eines von der Alexander von Humboldt-Stifung verliehenen Feodor-Lynen-Stipendiums an der Indiana University in Bloomington, USA. Vgl. zur Komödie und überhaupt zu komischen Genres als Gattungen der Distanz Bergson: Das Lachen. Vgl. dazu Winkler: Zur Geschichte des Begriffs ‚comédie‘.

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Vorspielen eines Sachverhalts, der nicht der Realität entspricht: Der Ausdruck ‚jouer la comédie‘ hebt wie sein deutsches Äquivalent ‚jemandem eine Komödie vorspielen‘ dabei gerade das Element des nur Fingierten und nicht etwa in erster Linie das des Komischen hervor. Diese Tendenz der Komödie, ihr Spiel als solches sichtbar zu halten, manifestiert sich zudem regelmäßig im Rahmen einer spezifischen und sehr speziellen Form der Selbstverdoppelung. Es handelt sich hierbei um das Spiel im Spiel. Es gibt tatsächlich kaum eine traditionelle Komödie, in der nicht zumindest einer der Charaktere an irgendeinem Punkt im Laufe der Handlung auf eine höhere Spielebene wechselt, indem er sich verkleidet, in eine andere Rolle schlüpft oder zumindest eine mit einem Akt der Verstellung verbundene Intrige spinnt. Wohlgemerkt: Dies gilt keinesfalls nur für die böswilligen Intriganten und Gegenspieler der Helden, sondern speziell auch für die positiven Figuren und vor allem für deren Unterstützer. Diese Reihe von Elementen, die die traditionelle Komödie eng mit der Kategorie des Spiels verbinden, ließe sich problemlos erweitern: etwa durch die Tendenz zum generellen Unernst in der Komödie, dessen Suspendierung in Teilen der Geschichte gerade des deutschen Lustspiels einer ausführlichen Kommentierung durch die Forschung bedürfte, oder durch die Flüchtigkeit und die Momenthaftigkeit des hervorgebrachten Vergnügens, das Komödie und Spiel ebenfalls gemeinsam ist – um hier nur einige wenige zu nennen. Kaum eines der topischen Definitionselemente der Gattung Komödie ist im Zuge dieser vielfältigen Parallelisierungsversuche ausgelassen worden, bis auf allerdings – soweit ich es sehe – das der spezifischen Verlaufsstruktur des Lustspiels und damit zusammenhängend auch das des Happyends. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht randständig erscheinen mag, soll hier nun der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich der Vergleich zwischen Spiel und Komödie auch auf diese Elemente sinnvoll übertragen lässt und vor allem welches Licht durch einen derartigen Versuch sowohl auf die Komödie als auch auf das Spiel fällt.

II. Zum hier verwendeten Spielbegriff Die Spieldefinition, die bei den bisher üblichen und hier nur skizzierten Ansätzen zur Parallelisierung von Spiel und Komödie zumeist verwandt wurde, ist eine sehr allgemein gefasste. Spiel wird hier primär als Gegenstück  

Vgl. dazu Simon: Theorie der Komödie, der dies zum Definitionskriterium der Komödie schlechthin erhebt. Vgl. hierzu den ‚Klassiker‘ von Arntzen: Die ernste Komödie, sowie zuletzt Neuhuber: Das Lustspiel macht Ernst.

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zur ‚Realität‘ begriffen und ist eng mit dem Begriff der Fiktion verbunden. Im vorliegenden Fall des Versuchs einer Parallelisierung von Verlauf und Finale von Spiel und Komödie scheint mir jedoch die Verwendung eines anders akzentuierten und vor allem eines spezifischeren Spielbegriffs sinnvoll zu sein. Die Art des Spiels, die sich hier schon deshalb zum Vergleich anbietet, weil sie am ehesten das Augenmerk auf die Aspekte des Verlaufs und des Ergebnisses richtet, ist die des agonalen Wettspiels. Interessant für den Vergleich sind derartige Spiele nun aber nicht nur wegen der vordergründigen Basisparallele der Folge von Konflikt und Lösung, sondern mehr noch wegen eines zweiten und weniger offensichtlichen Elements, das ihre Verfasstheit mit der der Komödie verbindet: Beide sind so konzipiert, dass das jeweilige Ergebnis ganz ausdrücklich und keinesfalls nur akzidentiell sowohl durch intentionale Handlungen der Akteure als auch durch kontingentes Geschehen beeinflusst wird. Dies ist zu erläutern. Die weit überwiegende Zahl der Wettspiele kommt weder ganz ohne ein ausdrücklich zugelassenes oder sogar eigens eingeführtes Moment der Kontingenz aus, noch darf ihr Ergebnis völlig vom Zufall abhängig sein. Dies gilt sowohl für hochkomplexe Sportarten, wie Fußball oder Handball, als auch für vergleichsweise triviale Würfelbrettspiele mit nur geringen Eingriffsmöglichkeiten der einzelnen Akteure. Dort, wo auf der einen Seite die Kontingenz weitestgehend ausgeschaltet sein und nur das reine Vermögen der Spieler den Ausgang determinieren soll, wie es etwa beim Schach das Ideal darstellt, geht gleichzeitig das eigentlich Spielerische verloren, und das Geschehen droht in Kampf überzugehen. Solange der Ausgang des Spiels auch vom Zufall abhängt, ist gerade der unterlegene Spieler in seine Niederlage als Person nicht im vollen Maße involviert: Wenn man gewinnt, wird man es zwar vor allem seinem Können zuschreiben, wenn man hingegen verliert, kann man das Ergebnis immer noch auf den dem Spiel inhärenten Zufall schieben. Der Zufall verhindert die Demütigung des Unterlegenen, die ein Ende des Wettspiels als Spiel in diesem engeren Sinne bedeuten würde. Auf der anderen Seite wird dort, wo ausschließlich der Zufall regiert, wie etwa beim Roulette, das Spiel für sich genommen leicht uninteressant. Man ist in der Folge gezwungen, das Interesse an ihm mit Strategien der Supplementierung aufrecht zu erhalten: entweder indem man gegen besseres Wissen daran festhält, dass auch hier ein Element strategischen Handelns prinzipiell möglich sei, oder indem man das fehlende Interesse des Spiels selbst durch Elemente ersetzt, die eigentlich nicht der von der Realität abgetrennten Spielsphäre angehören, wie dies etwa bei Geldeinsätzen der Fall ist. Das Spiel verliert damit seinen hier zugrunde gelegten Charakter als eine Handlung nicht nur mit eigener Logik, sondern auch mit primär eigenem Zweck.

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III. Vom Zufall in der Komödie Ein klassisches und wohlvertrautes Komödiensetting, wie es die Bühnen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein weitgehend unangefochten dominierte, sei hier in aller Kürze und Knappheit skizziert: Am Anfang steht gewöhnlich eine Konfliktsituation, bei der ein junges Liebespaar einem bösartigen oder zumindest halsstarrigen Vater, Onkel oder einem sonstigen Vormund ausgeliefert ist, der den beiden das ersehnte Glück verwehrt. Er oder auch der konkurrierende Bräutigam, den er der jungen Frau zugedacht hat, leidet unter den seltsamsten Ticks und Marotten, deren ausführliche und sich tendenziell immer wiederholende Präsentation nun einen Gutteil der komischen Wirkung des Lustspiels ausmacht. Die Grundsituation ist im höchsten Maße asymmetrisch. Auf der einen Seite stehen Vermögen, Macht und gesellschaftlicher Status, auf der anderen neben dem Wohlwollen des Publikums höchstens noch die List von einigen dem Liebespaar beistehenden Dienerfiguren. In einem Agon, der einfach die in der Exposition sichtbar werdenden Potenzen ausspielte, hätte die Seite der Jungen keinerlei Chance. Aber sie gewinnen trotzdem. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die kausale Verknüpfung der Handlung in der Komödie eine wesentlich geringere Rolle spielt als im ernsten Drama und vor allem in der Tragödie. Vielmehr erscheint das Lustspiel als ein Genre, in dem tendenziell zufällige und gerade nicht zwangsläufige Ereignisse an den entscheidenden Punkten der Handlung eher die Regel als die Ausnahme darstellen: unerwartete Entdeckungen einer verborgenen Schwäche des Gegners, plötzliche Erbschaften, das zufällige Sichtbarwerden von ganz ungeahnten Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den Akteuren und so weiter und so fort. Das spezifische Ende der Komödie mit dem glücklichen Sieg des Underdog bleibt dabei allerdings – gegenläufig zur entscheidenden spielinternen Bedeutung des Zufälligen und damit des Unwägbaren – allein aufgrund der Gattungstradition problemlos voraussagbar und durch diese gleichsam garantiert.

IV. Die entscheidende Differenz Und genau hier liegt nun die entscheidende Differenz und damit auch die prekäre Grenze bei diesem Versuch einer Parallelisierung von Spiel und Komödie. Anders als in der Komödie darf der Sieger beim agonalen Wett 

Vgl. hierzu vor allem Frye: Analyse der Literaturkritik, S. 165-188. Vgl. zur Paradigmatik in der Darstellung des Komischen vor allem Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie.

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spiel natürlich keinesfalls schon zu Beginn feststehen, und es darf auch nicht vollständig determiniert sein, ob am Ende nun das Geschick oder das Glück den Ausschlag geben wird. Gleichzeitig kann es aber bei gleich verteilten Chancen im Zufallsanteil des Spiels als der Normalfall angenommen werden, dass der im Spiel Geschicktere tendenziell häufiger gewinnt, wobei die Möglichkeit, dass genau dieses Ergebnis nicht eintritt, eine Art notwendiger Ausnahme darstellt. Erst auf lange Sicht verliert sich dieser Effekt gemäß den Gesetzen der Statistik: Spiele in dem hier skizzierten Sinne können wegen der ihnen inhärenten Folgenlosigkeit zumeist problemlos wiederholt werden, und es steht zu erwarten, dass sich der Geschicktere am Ende doch durchsetzen wird, wenn man nur eine genügend große Zahl von Repetitionen ansetzt. Der Konflikt in der traditionellen Komödie ist hingegen zumeist gerade nicht auf Wiederholbarkeit angelegt. Dies gilt vor allem dann nicht, wenn sich die Handlung um eine Partnerwahl dreht, die in einer Hochzeit enden soll. Der innerfiktional sehr große Einsatz besteht in nichts weniger als dem Lebensglück der Akteure. Das Gesetz der großen Zahl, das ein mögliches Korrektiv zum Element des Zufalls in der Spielentscheidung darstellt, kann hier also von vornherein überhaupt nicht greifen – und soll es auch gar nicht. Denn die Komödie realisiert letztlich doch immer nur die Variante des durch die Ausnutzung des Zufallselements gelingenden Siegs des strukturell Unterlegenen – also genau das, was im Spiel selbst den Sonderfall darstellt. Was dort eine Ausnahme ist, wird hier zu einer nicht hintergehbaren Regel. Der Sieg in der Komödie gründet sich letztlich auf eine besondere Qualität der Spieler, die mit dem Spiel selbst und dessen Voraussetzungen nichts zu tun hat. Unverdient ist er nach den spielinternen Regeln der Wahrscheinlichkeit, als verdient wird er hingegen nach den Maßgaben der Kategorie der poetischen Gerechtigkeit präsentiert – einer Kategorie mithin, die wie schon das lebensweltliche Ergebnis des Komödienagon außerhalb der eigentlichen Spielsphäre zu lokalisieren ist. Mit anderen Worten: Die Komödie als eine spezifische Form des Spiels geht davon aus, dass das Spiel vom im präsentierten Agon selbst Schwächeren, ideell hingegen Überlegenen unverdient-verdient gewonnen wird. Die klassische Komödie präferiert – wie letztlich jede Underdoggeschichte – eine nach der Idee der Kompensation funktionierende Welt, in der man sein Glück ‚woanders‘ verdient hat. Die Komödie geht dabei – so paradox es klingt – von einer ordnungsstiftenden Funktion des Zufalls aus, der unerwünschte Tendenzen der Realität zu korrigieren vermag. Diese sehr spezielle Struktur macht wiederum darauf aufmerksam, dass im Bereich des spielerischen Wettkampfs selbst derartige Fragen nach einer Moral, die mit der Kategorie der Gerechtigkeit verknüpft ist, gerade keine Rolle spielen sollten: Spielen stellt eine außermoralische Angelegenheit dar, und im Rahmen des Spiels geht es allein um den Erfolg. Die einzige verblie-

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bene ‚Moral‘ des Spiels besteht darin, sich an die formalisierten Regeln des Spiels selbst zu halten.

V. Die Schließung der Lücke Bis zu diesem Punkt erscheint die Komödie dem Spiel bei aller formalen Ähnlichkeit, vor allem was den Grad an Reflektiertheit angeht, hoffnungslos unterlegen. Das Spiel wirkt gerade wegen seiner Abgehobenheit von der Wirklichkeit wie ein verhältnismäßig realistisches Abbild der Welt: Auch wenn der Einzelne über eine gewisse, manchmal größere und manchmal kleinere Gestaltungskompetenz verfügt, muss er immer gewahr sein, dass ihm die Kontingenz in seinen Plänen ein Schnippchen schlägt. Das durchaus nützliche ‚Lernziel‘ besteht nach diesem Spielverständnis also darin, den Fährnissen des Lebens mit einem gewissen Sportsgeist (der somit eigentlich ein ‚Spielgeist‘ ist) zu begegnen. Funktioniert es einmal nicht, so sorgt das Modell des Spiels in der oben ausgeführten Weise für psychische Entlastung. Dagegen erscheint das Modell der Komödie mit seinem haltlosen Versprechen, dass die Dinge – egal, wie hoffnungslos die aktuelle Situation auch sein mag – auf jeden Fall gut und gerecht ausgehen werden, als ein immer schon illusionäres. Allenfalls ließe sich dieser Entwurf historisch entsorgen, indem man ihn einem mittlerweile untergegangenen Konzept eines durch einen Gott oder eine Vorsehung garantierten harmonischen Weltplans zuordnet. Die Komödie scheint ihr Spiel in diesem Punkt gefährlich ernst zu nehmen – so ernst, dass sie sich zutraut, das Heil ihrer Protagonisten jederzeit als Einsatz zu wagen, wodurch sie zugleich wiederum den ursprünglich gegebenen Rahmen des Spiels selbst überschreitet. Gleichwohl kann die Komödie als Ganze der hier skizzierten Falle doch noch entkommen. Das Grundmuster des Happyend ist trotz der vielen Male, die es vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert in Theorie und Praxis attackiert worden ist, keineswegs endgültig verabschiedet und noch nicht einmal vollständig trivialisiert. Der Grund dafür liegt gerade in dem eingangs beiseite gesetzten reflexiven Element, das die Komödie von anderen Underdoggeschichten etwa im glücklich endenden Roman oder Melodrama unterscheidet. Denn die Komödie präsentiert sich nicht nur in dieser einen Hinsicht, sondern, wie bereits zu Beginn gezeigt wurde, ausdrücklich und auf den verschiedensten Ebenen und in einem umfassenderen Verständnis als ein Spiel. Diese beiden Hinsichten – also die sehr spezifische und auf eine innerfiktional durchaus unspielerisch-ernste Lösung zielende sowie die allgemeinere eines dominanten Unernstes und eines verminderten Gehalts an ‚Realität‘ – müssen dabei gegeneinander abgewogen werden. Der Blick auf die Folge von Konflikt und Lösung wird blockiert, wenn man die Komödie

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aus der Perspektive der Lachtheorie allein als eine Ermöglichungsform komischer Szenen in den Blick nimmt. Der Blick auf das Spielerische als einem allgemeinen Gegenstück zur Realität hingegen wird dann verstellt, wenn man die Komödie und ihre Möglichkeiten zu ernst nimmt – etwa indem man sie durch die Brille des deutschen Aufklärungslustspiels und der rührenden Komödie als einem unmittelbar darauf reagierenden Versuch seiner Überwindung betrachtet. Hier hat eine Didaktisierung stattgefunden, durch die das Genre in einer sehr konkreten Hinsicht auf das bezogen werden sollte, was man zeitgenössisch für die Realität hielt. Hinzu kam eine möglichst vollständige Applikation des klassizistischen Wahrscheinlichkeitsgebots. Verloren gingen dabei geradezu zwangsläufig diejenigen Elemente, die die weiter oben beschriebene Reflexivität der Komödie ausmachen – seien es nun Parabase, Hyperbolik oder ausgestellte Künstlichkeit. Eine Komödie, die sich entgegen dem hier skizzierten Konzept, das weite Teile des 18. Jahrhunderts beherrschte, selbst auch als ganze als ein Spiel versteht, vermag folgerichtig von ihrem eigenen, immer wieder gleich gearteten Ergebnis durchaus spielerisch zurückzutreten, ohne dabei den ganz großen Widerruf lancieren zu müssen oder gleich in eine komische Nummernrevue zu zerfallen. Es ist mit ihm nämlich keinesfalls ein Versprechen verbunden, sondern hier wird lediglich ein Wunsch erfüllt. Und im Gegensatz zu Versprechen sind Wunscherfüllungen naturgemäß nicht einklagbar. Die Komödie ist hier letztlich noch spielerischer als es das zum Vergleich benutzte, praktisch gewendete Spielmodell insinuiert.

VI. Die Komödie als ein aktivierender Akt der Befreiung Ein letzter Bogen zurück zu einem zumindest indirekt realitätsbezogenen Modell soll hier – zum guten Schluss sozusagen – aber doch wieder geschlagen werden: Die Komödie präsentiert dem Zuschauer gleichsam eine Situation, in der die Lehre aus dem agonalen Wettspiel – das Wagnis einzugehen! – bereits gezogen und in eine ausdrücklich fiktive Praxis umgesetzt worden ist. Ein Romanheld, nämlich die Titelfigur aus Denis Diderots Jacques le fataliste, stellt hiernach die geradezu prototypische Komödienfigur dar. Wie kein anderer zeigt Jacques, wie der Einbezug der Kontingenz, die bei ihm in Gestalt der Vorsehung auftritt, den Menschen vom völligen Gefangensein im potentiell endlosen Bedenken sämtlicher Folgen seines Tuns befreit. Gerade durch diese Entlastung gewinnt Jacques seine Handlungsfähigkeit, wohingegen sein Herr, der sich für den Verantwortlichen, nicht nur der direkten Ergebnisse, sondern auch aller weiteren Folgen seines Tuns hält, dabei endet, dass er schließlich überhaupt nicht mehr handeln kann. Während das Beispiel des agonalen Wettspiels also vor allem missliebige Ergebnisse von in der Vergangenheit bereits abgeschlossenen Handlungen

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zu verarbeiten lehrt, öffnet die Komödie durch den in ihr präsenten spiegelverkehrten Modus Handlungsspielräume in Gegenwart und Zukunft. Sie versucht, einen produktiven Umgang mit Kontingenz zu ermöglichen, ohne sich dabei jedoch zu möglicherweise nicht haltbaren Versprechungen hinreißen zu lassen. Anders gesagt: Wer dem üblen Widersacher den Schlüssel zum Erfolg unter dessen Kopfkissen hervorstehlen will, wird dies nicht schaffen, wenn er sich nicht in eine Happyend-Story projiziert, aber es zeigt auch einen gewissen Grad an Naivität, dieses Gedankenspiel nicht in Form einer Komödie und somit wieder als Spiel zu arrangieren.

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Vom Spiel des Lebens Regelverstöße und Sanktionsmöglichkeiten im autobiografischen Diskurs Spätestens seit der ‚Wiederentdeckung‘ von Johan Huizingas 1938 erstmals publizierten grundlegenden Überlegungen zum Homo Ludens in den 1980er und 1990er Jahren ist der Begriff des Spiels zur allgegenwärtigen Universalmetapher avanciert. Viele Kultur- und Alltagsphänomene scheinen Paral­ lelen zum Spielen aufzuweisen und sich, betrachtet man sie unter dem Vorzeichen des Spiels, besser verstehen zu lassen. Das gesellschaftliche Gefüge, in dem wir uns heute bewegen, ist – so der Ausgangspunkt des Kultur­ anthropologen Huizinga – spielerisch entstanden. Kultur, so lautet eine seiner zentralen Formulierungen, „entspringt nicht aus Spiel, wie eine lebende Frucht sich von ihrem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel.“ Angesichts der hier konzedierten engen Beziehung zwischen Spiel und Gesellschaft kann es nicht wundern, dass der französische Soziologe Roger Caillois 1966 im Anschluss an Huizinga eine „von den Spielen ausgehende Soziologie“ zu formulieren versuchte. Spielen ist darüber hinaus seit Kant prägendes Paradigma in der Ästhetik. Fragt man nach dem Mehrwert der Beschäftigung mit autobiografischen Texten unter dem Paradigma des Spiels, gilt es zunächst, einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Spiel anzustellen.

1. Spiel und Literatur Widmet man sich intensiv dem Zusammenhang zwischen Kultur und Spiel, so landet man früher oder später zwangsläufig bei der Literatur: Die Frage nach dem Wesen der dichterischen Schöpfung bilde, so Huizinga, „das zentrale Thema einer Erörterung über den Zusammenhang von Spiel und Kultur“. Angesichts der Tatsache, dass Spielen als anthropologische Konstante    

Huizinga: Homo Ludens, S. 189 (Hervorh. im Orig.). Caillois: Die Spiele, S. 78 (Hervorh. im Orig.). Vgl. hierzu Klein: Ästhetik des Spiels. Huizinga: Homo Ludens, S. 133.

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anzusehen sei, könne es auch nicht überraschen, dass man überall auf der Welt ähnliche Formen der Dichtkunst finde. Folgt man Johan Huizinga weiter, dann sind Literatur und Spiel nicht nur durch Parallelitäten verbunden: „Wer Dichtung ein Spiel mit Worten und Sprache nennt, […] bedient sich keiner Bedeutungsübertragung, sondern trifft den Wortsinn selbst.“ Thomas Anz definiert Spiel im Anschluss an Roger Caillois als „freiwillige, von Realitätszwängen entlastete, meist durch Regeln und durch Zufälle gelenkte Tätigkeit, die vorrangig durch das mit ihr verbundene Vergnügen motiviert ist“. Diese Bestimmungen auf Literatur und den Umgang mit ihr zu übertragen, bereitet zunächst kaum Schwierigkeiten. Dass dabei eben nicht nur Texte, sondern auch „die mit ihnen verbundenen sozialen Aktivitäten in den Blick geraten, vor allem das Schreiben und das Lesen“, bezeichnet Anz als einen ersten Gewinn der Parallelisierung von Spiel und Literatur. Die Produktion oder Rezeption von Literatur erfolgt tatsächlich meist freiwillig, ist entlastet von Realitätszwängen (‚Flucht aus dem Alltag‘, ‚Erfahrungen in anderen Welten‘) und (meist) durch Vergnügen motiviert. Allerdings gelingt die Übertragung der das Spiel konstituierenden Merkmale auf Literatur nicht in allen Fällen ohne weiteres: Denn natürlich gelten die Charakteristika Freiwilligkeit, Freiheit von Realitätszwängen und Vergnüglichkeit nicht für solche Leser oder Autoren, deren Existenz vom Schreiben oder Rezipieren abhängt (im psychologischen wie pekuniären Sinne), und sie sind auch nicht immer charakteristisch für den Literaturunterricht in der Schule. Stefan Matuschek führt eine simple (gleichwohl zutreffende) Erklärung für die Beliebtheit der Spieltheorie in der Literaturwissenschaft an, wenn er darauf hinweist, dass das Spiel den „Reiz des Gegensätzlichen“ verströme: „Im Spiel mischen sich Zufall und Gesetz“. Die Unabschließbarkeit des Spielbegriffs korrespondiere idealtypisch mit den Vorstellungen von Literatur und würde eine Bezugnahme geradezu aufdrängen, denn aus dem Wort Spiel in allen seinen Facetten ergebe sich fast von selbst eine komplette Literaturtheorie – sowohl bezogen auf die Struktur des Werks als auch auf die Funktion von Literatur in der Gesellschaft. Thomas Anz nennt sechs Aspekte, die seiner Meinung nach den Spielbegriff für die Literaturwissenschaft (gerade im Umkreis postmoderner Theoriebildung10) so attraktiv machen: 1. Pluralität der Spielformen, 2. Offenheit des Spiels, 3. Interaktivität als Konstituente des Spiels, 4. Simulati     10

Ebd., S. 134. Anz: Spiel. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 17. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 1. Vgl. ebd., S. 15. Zu nennen wären als Kronzeugen Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, sowie de Man: Tropen (Rilke), insbes. S. 79-86.

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onscharakter des Spiels, 5. der Lustgewinn beim Spielen. Hinzu kommt ein Aspekt, der nicht auf der Ebene der Merkmalsübertragung liegt, nämlich die Tatsache, dass unter den Begriff Spiel auch Anspielungen subsumiert werden können.11 Literatur als Spiel bedeutet eben auch das Spiel mit Bedeutungen im Text. Besonders wichtig für die Betrachtung von Literatur durch den Fokus des Spiels sind natürlich die Regeln, die das Spiel im Einzelnen ausmachen. Auch der literarische Diskurs zeichnet sich durch spezifische Regeln aus. In seiner Studie Die Regeln der Kunst bemüht sich Pierre Bourdieu darum, die Entwicklung des literarischen Feldes nachzuzeichnen, wobei ein Feld als relativ eigenständiger Bereich einer Gesellschaft zu verstehen sei, der nach eigenen Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist. Die Geschichte eines Feldes bestehe hierbei im Kampf um die Etablierung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien,12 im Zuge der Autonomisierung bildeten sich die jeweiligen Instanzen und Mechanismen zur Durchsetzung dieser Ansprüche heraus. Je autonomer schließlich das Feld werde, desto unabhängiger seien die Bewertungskategorien von denen anderer Felder.13 Der Zugang zum literarischen Feld sei nicht durch Zugangskriterien geregelt, sondern (auf den ersten Blick) relativ offen – oder in Bourdieus Worten: Er ist nur in geringem Maße kodifiziert.14 Das bedinge eine gewisse Fragilität des Feldes, denn, so Bourdieu weiter, einem geringen Ausmaß an Kodifizierung des Zugangs entspreche „ein Zustand des betreffenden Feldes, bei dem die Regel des Spiels selbst auf dem Spiel steht“.15 Ein durch die entsprechenden Instanzen attestierter Verstoß gegen die spezifischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmaßstäbe führe zu Sanktionen. Bevor es im Einzelnen um die Regeln im autobiografischen Diskurs geht, möchte ich noch einige wenige Bemerkungen zum zugrunde liegenden Spielvertrag machen.

2. Spielvertrag Jedem Spielen liegt die – unausgesprochene oder explizite – Übereinkunft zugrunde, dass die Mitspieler in ein Spiel eintreten. Die so entstandene Spielgemeinschaft kann in einer Art Spielvertrag die für das zu spielende Spiel konstitutiven Regeln prinzipiell selbst festlegen (unabhängig davon, ob es jenseits des konkreten Spielaktes fixierte Spielregeln gibt). Die Mitspieler 11 12 13 14 15

Anz: Das Spiel ist aus?, S. 30 f. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 253. Ebd., S. 116 f. Ebd., S. 358. Ebd.

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ordnen sich für die Dauer des Spiels freiwillig diesen Regeln unter. In der Freiwilligkeit der Partizipation (denn erzwungenes Spielen ist kein Spielen) und der Möglichkeit zur Kreation eigener Regeln bzw. zur Modifikation existierender Regeln besteht zu großen Teilen der Reiz des Spiels. Im Spiel schafft man sich folglich eine eigene Realität, die nach anderen Regeln funktionieren kann als das ‚echte‘ Leben. „Das Spiel ist beides“, meint Heinrich Popitz in diesem Sinne, „Überwindung und Erfindung von Realität, befreiend und kreativ.“16 Doch auch wenn das Spiel nicht das ‚eigentliche‘ Leben ist, sondern gerade etwas anderes, heißt das nicht, dass Spielen durch das Fehlen von Ernst gekennzeichnet wäre. Die Grenze zwischen Spiel und Ernst ist vielmehr in den meisten Spielverläufen fließend, oder, in den Worten Huizingas: „Der Gegensatz Spiel-Ernst bleibt stets schwebend.“17 Dass im Hinblick auf die Lektüre autobiografischer Texte gleichfalls eine Art Vertrag zustande kommt, legt schon Philippe Lejeunes Formulierung vom „autobiographischen Pakt“ nahe. Kern von Lejeunes Ansatz zur Definition der Gattung Autobiografie bildet bekanntlich „die Idee, daß die autobiographische Gattung eine vertragliche Gattung ist.“18 Hintergrund dieses Ansatzes ist folgende Frage: Warum lesen wir autobiografische Texte so, als würden sie uns tatsächlich die originäre Wahrheit präsentieren, obwohl wir wissen, dass Autobiografien immer nur unzulängliche Rekonstruktionen von vergangenem Geschehen sein können? Lejeunes Antwort lautet: Weil wir im Rahmen der Lektüre bestimmte Regeln als verbindlich betrachten und davon ausgehen, dass sich alle ‚Mitspieler‘ daran halten. Wir spielen ein Spiel und gehen dafür einen ‚Spielvertrag‘ ein, einen „impliziten oder expliziten Vertrag, den der Autor dem Leser anbietet, einen Vertrag, der die spezifische Lesart des Textes bestimmt und Effekte erzeugt, die dem Text zugeschrieben werden und ihn als Autobiographie zu definieren scheinen.“19 Die Gattung Autobiografie wird demnach weniger durch textinterne Faktoren als durch ein spezifisches Autor-Leser-Verhältnis bestimmt. Diese Erkenntnis Lejeunes kann meines Erachtens aber nicht Endpunkt einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiografie unter kommunikationstheoretischem Vorzeichen sein, sondern nur Ausgangspunkt (was Lejeune selbst einräumt). Ich schlage daher vor, die Überlegungen zum autobiografischen Pakt um einige Anleihen aus der Spieltheorie zu erweitern, da die Idee, es gäbe einen Pakt, den man entweder einhalten oder gegen den man verstoßen kann, dem diffizilen Autor-Leser-Verhältnis im autobiografischen Diskurs nicht in allen Facetten gerecht wird. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Kategorien von Regeln und Regelverstößen 16 17 18 19

Popitz: Spielen, S. 28. Huizinga: Homo Ludens, S. 17. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 49 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 50 (Hervorh. im Orig.).

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aufzuzeigen und die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten zu benennen, die den autobiografischen Diskurs strukturieren.

3. Spielregeln Der Literaturwissenschaftler Hans-Jost Frey eröffnet seine Ausführungen zum Verhältnis von Literatur und Spiel mit der Feststellung: „Was immer ein Spiel sein mag, es gehorcht gewissen Regeln. Spielen heißt dann: sich regelmäßig verhalten.“20 Claude Lévi-Strauss meint entsprechend, jedes Spiel sei durch die Gesamtheit seiner Regeln zu definieren.21 Die Regeln werden hier also zum Charakteristikum des jeweiligen Spiels, eine Beobachtung, die auch Johan Huizinga unterstützen würde, heißt es doch bei ihm: „Jedes Spiel hat seine eigenen Regeln. Sie bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Welt, die es herausgetrennt hat, gelten soll. Die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel.“22 So einleuchtend diese Aussage auf den ersten Blick sein mag, so offensichtlich ist auch, dass es verschiedene Verbindlichkeiten von Regeln gibt: Es gibt solche Regeln, die das Wesen eines Spiels ausmachen und unbedingt zu gelten haben, und solche, die weniger konstitutiv sind, wiewohl die Zuordnung im Einzelfall eine Auslegungsfrage sein dürfte. So ist etwa die Regel beim Spiel Mensch ärgere dich nicht, der zufolge eine Figur, wenn sie auf ein Feld gelangt, auf dem bereits eine gegnerische Figur steht, diese gegnerische Figur ‚schlagen‘ muss, also auf das Startfeld des Mitspielers zurückschickt, eine für das Spiel konstitutive Regel. Ob man nun allerdings nach einer gewürfelten Sechs noch einmal würfeln darf oder nicht, ist eine Regel, die den Kern des Spiels nicht tangiert. Gregorio Robles nennt jene Regeln, die den Handlungsraum schaffen und dem Spiel sein typisches Gepräge geben, „ontische Regeln“,23 man könnte auch von ‚notwendigen‘ Regeln sprechen. Ludwig Wittgenstein spricht in diesem Kontext vom „Witz“ des Spiels, der das Eigentliche des Spiels ausmache, und den Regeln, die im Zweifelsfall abgeändert werden könnten, ohne den Charakter des Spiels zu verändern.24 Zu den notwendigen Regeln im Kontext autobiografischen Erzählens zählt zum einen die Regel der (Selbst-)Referentialität, zum anderen die der Wahrhaftigkeit. Das heißt, dass zum einen weitestgehend solche Geschehnisse geschildert werden, die Referenzpunkte in der außersprachlichen Wirklichkeit haben und vom Autor selbst erlebt wurden. Dabei berichtet 20 21 22 23 24

Frey: Der unendliche Text, S. 263. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, S. 324. Huizinga: Homo Ludens, S. 20. Robles: Rechtsregeln und Spielregeln, S. 14 f. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 450 f. (§ 564 ff.).

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der Autor die selbst erlebten Geschehnisse nach bestem Wissen und Gewissen, das heißt ohne absichtliche Verzerrungen bzw. Lügen. Diese beiden Regeln (Referentialität und Wahrhaftigkeitsverpflichtung) machen den „Witz“ des autobiografischen Erzählens aus und schaffen den Handlungsraum. Sie gelten ungeachtet der Tatsache, dass die Mitspieler (Autor und Leser) grundsätzlich vom Spielraum wissen, den autobiografische Texte im Hinblick auf Subjekt- und Identitätskonstruktion besitzen. Zu den hinreichenden Regeln des autobiografischen Diskurses – also jenen Regeln, die den durch die ontischen Regeln geschaffenen Handlungsraum ausgestalten – zählt die Maßgabe, in einem kohärenten und in sich stimmigen Text alles erzählen zu müssen, was man an Relevantem weiß. Zulässige Spielutensilien sind eine funktional angemessenen Rhetorik und Bildlichkeit. Die Annahme, dass diese Regeln eingehalten werden, erlaubt es einerseits dem Leser, das Geschilderte sinnvoll auf außertextuelle Wirklichkeit zu beziehen, es empathisch nachzuvollziehen und sich ggf. zu identifizieren, und bietet andererseits dem Autor überhaupt erst die Möglichkeit ernst zu nehmender Stellungnahmen im Rekurs auf außersprachliche Wirklichkeit.

4. Regelverstöße und Sanktionen Legt man diese Überlegungen zu Grunde, lassen sich verschiedene Parameter für die Typologisierung von Regelverstößen aufstellen: Einerseits die Frage, ob ein Regelverstoß offen oder verdeckt erfolgt, andererseits die Frage, ob gegen eine notwendige oder eine untergeordnete Regel verstoßen wird. Kombiniert man diese Aspekte, sind zunächst ‚klassischerweise‘ drei Regelverstöße denkbar: (1) der verdeckte Regelverstoß gegen eine untergeordnete Regel (‚Falschspiel‘), (2) der offene Verstoß gegen eine untergeordnete Regel (‚Spielerneuerung‘) sowie (3) der Verstoß gegen eine notwendige Regel. Der Mitspieler, der gegen eine notwendige Regel verstößt, ist ein ‚Spielverderber‘, das Produkt, das einen Mitspieler im autobiografischen Diskurs zum ‚Spielverderber‘ macht, nenne ich ‚Hoax‘ (dieser Begriff ist in der anglo-amerikanischen Forschung zum Thema gut etabliert und im Deutschen durch ‚Schwindel‘ oder ‚Fälschung‘ nur unzureichend zu übersetzen). Der Verstoß gegen eine notwendige Regel wird zunächst immer verdeckt geschehen, da der Regelverletzer, würde er eine der notwendigen Regeln von Anfang an ablehnen, nicht Teil der Spielgemeinschaft werden könnte (er würde den Spielvertrag nicht eingehen können). Häufige Verstöße eines Mitspielers gegen untergeordnete Regeln lassen die Einhaltung der notwendigen Regeln zweifelhaft erscheinen. Regelverstöße führen zu Reaktionen, die je nach Art des Verstoßes spielinterne oder spielexterne Sanktionen nach sich ziehen. Im Extremfall

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wird der Mitspieler aus dem Spiel ausgeschlossen. Auf den autobiografischen Diskurs bezogen bedeutet dies: Alle künftigen Aussagen des Autobiografen verlieren ihre Glaubwürdigkeit als Stellungnahmen im autobiografischen Kontext. Im Folgenden sollen die verschiedenen Regelverstöße und ihre Sanktionsmöglichkeiten aufgezeigt werden. 4.1 ‚Falschspiel‘ Der Falschspieler erkennt nach außen hin die Regeln an, befolgt sie aber nicht oder nur dann, wenn es ihm passt. Dennoch stellt der Falschspieler die Regeln des Spiels nicht grundsätzlich in Frage. Es liegt mithin ein verdeckter Verstoß gegen eine untergeordnete Regel vor. Aufgedeckt wird ein solch verdeckter Regelverstoß häufig dann, wenn Zweifel an der Zulässigkeit der Spielutensilien aufkommen (‚gezinkte‘ Utensilien). Die Sanktion erfolgt meist innerhalb des Spiels, sodass der Falschspieler weiterhin Teil der Spielgemeinschaft bleibt. Je nach der Tragweite des Verstoßes ist es aber auch möglich, dass der Falschspieler aus der Spielgemeinschaft ausgeschlossen wird. Im autobiografischen Diskurs sind die Übergänge zwischen Falschspiel und ‚Hoax‘ bzw. ‚Pseudo-Mitspiel‘ (die weiter unten ausgeführt werden) fließend. Beispielhaft für ein Falschspiel sind Autobiografien, in denen wichtige Sequenzen unter der Hand (weil sie etwa für den Autobiografen unschmeichelhaft wären) ausgespart werden. Wird ein solches Falschspiel von Mitspielern aufgedeckt, wird das Verhalten des Falschspielers zunächst gerügt und die Schwere des Regelverstoßes diskutiert. Im Falle eines harmloseren Regelverstoßes könnte als Sanktion die Aufforderung zur Nachreichung der ausgesparten Passagen verhängt werden. Ein prominentes Beispiel eines solchen Falles stellt die Diskussion um Günter Grass’ kurzzeitige Mitgliedschaft in der Waffen-SS anhand seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel dar. Dabei ist die Frage der ‚objektiven‘ Schuld eher sekundär, sobald Mitspieler die Einhaltung des Spielvertrags an sich in Frage stellen. Zunächst entzündet sich an der von Grass benutzten Metaphorik im Rahmen der autobiografischen Schilderung der Verdacht, dass Grass die eigentlich delikaten Sequenzen seiner Biografie mit einer Art Taschenspieler-Trick unzulässigerweise überspielen wolle. So meint etwa Ijoma Mangold in der Süddeutschen Zeitung, dass es (im Sinne des Spielvertrags) wahrhaftiger gewesen wäre, wenn Grass die Lücken in seiner Autobiografie offensiv betont hätte, anstatt diese durch Metaphorisierungen zu überdecken: Andere Menschen haben Gedächtnislücken. Helmut Kohl hatte mal ein Blackout. […] Günter Grass indessen besitzt eine Metapher, in der Selbstanklage und Selbstüberhöhung in eins fallen. […] Günter Grass vorzuwerfen, dass er als Jüngling an

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das Dritte Reich geglaubt hat, ist absurd. Über sein langes Schweigen aufschreien mag, wer ihn zuvor zur moralischen Ikone erhöht hat – es hat aber etwas Tantenhaftes. […] Eines aber kann man sagen: Die literarische Form, die Grass für sein Eingeständnis bemüht hat, enthält entschieden zu viele Metaphern. Und solche erhellen die Abgründe des Lebens meistens nicht.25

Grass gebe – so der implizite Vorwurf an dieser Stelle – zwar vor, die Regeln einzuhalten, scheine aber durch Einsatz gezinkter Utensilien (dysfunktionale Metaphorik) die eigentlich erwartbaren Erklärungen zu den Hintergründen und zur Motivation zum Eintritt in die SS und das lange Schweigen über seine Mitgliedschaft eher zu vernebeln. Auf diese Weise scheint Grass gegen die (untergeordneten) Regeln der umfassenden, kohärenten und in sich stimmigen Lebenserzählung verstoßen zu haben. Konzediert man, dass Grass lediglich gegen diese untergeordneten Regeln verstoßen hat, so lassen sich die von Grass inzwischen mehrfach nachgereichten Ergänzungen als Reaktionen auf die entsprechenden Sanktionen im o.g. Sinne interpretieren. Allerdings zeigt sich im Falle Grass auch eindrücklich, wie sehr die Feststellung der Schwere des Regelverstoßes eine Auslegungsfrage ist. Denn geht man davon aus, dass Grass, indem er durch den Einsatz dysfunktionaler Metaphorik an zentralen Stellen seiner Autobiografie nicht nur eine untergeordnete Regeln verletzt, sondern wissentlich die Wahrhaftigkeitsregel nicht eingehalten hat, hätte Grass in der Tat gegen eine grundlegende Regel des autobiografischen Diskurses verstoßen. Grass müsste dann konsequenterweise aus dem Spiel ausgeschlossen werden, sein Glaubwürdigkeitsverlust würde sich entsprechend auf alle Stellungnahmen im autobiografischen Diskurs beziehen – er würde unglaubwürdig. Für einige Kritiker (das legt Mangolds Sottise bereits nahe) hat sich Grass in der Tat in genau solch eine Situation manövriert. Stellvertretend für diese Haltung sei hier Michael Jürgs zitiert: „Sicher ist: […] Grass [wird] auch künftig als Hausierer demokratischer Grundwerte […] von Tür zu Tür gehen und selbst Gesprochenes [sic] anbieten. Nicht so sicher ist, ob ihm noch alle öffnen, die ihn früher ins Haus gebeten haben.“26 Als Instanz in moralischen Fragen, so muss man Jürgs wohl verstehen, habe Grass ausgespielt. 4.2 Spielerneuerung Neben dem verdeckten Regelverstoß gegen eine untergeordnete Regel findet man den offenen Verstoß gegen eine nicht-notwendige Regel. Der Spieler bekennt sich zwar zum Spiel, missachtet aber ostentativ einzelne Regeln, weil er sie für unpassend, zu umständlich oder unwichtig hält. Der 25 Mangold: Seht, wie meine Augen tränen, S. 11. 26 Jürgs: Was vom Dichter übrig blieb, S. 1.

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Regelverstoß wird von den Mitspielern entweder ignoriert oder aber nach Diskussion als Vorschlag zur Regeländerung gedeutet und angenommen. Es hängt also von den Mitspielern ab, ob sie den Regelverstoß zur neuen Regel erheben oder nicht und im letzteren Fall den Spielerneuerer ggf. ausschließen. Es lassen sich zahlreiche Beispiele für Fälle finden, in denen offene Regelverstöße im autobiografischen Diskurs als Vorschläge zur Spiel­ erneuerung (und damit Innovationen) gewertet und akzeptiert wurden. So haben etwa Autobiografen offen gegen die Regel zum umfassenden Bericht verstoßen und sich auf Details konzentriert (Walter Benjamin oder Roland Barthes), andere wenig kohärent und konzise erzählt (Gottfried Benn oder Imre Kertész). Wie jedes Spiel lebt auch der autobiografische Diskurs von Wiederholungselementen, ohne die man das Spiel als solches nicht erkennen könnte. Erst vor dem Hintergrund dieser Wiederholungen, die nach Heinrich Popitz sogar den „Keim des Spiels“ ausmachen,27 vor dem Erleben einer gewissen Verlässlichkeit, sind überhaupt Abweichungen, mithin Innovationen, denkbar. 4.3 ‚Hoaxes‘ Im Rahmen eines ‚Hoax‘ wird gegen grundlegende Regeln des Spiels verstoßen, da der vermeintlich autobiografische Text von Erlebnissen berichtet, die in dieser Form nie stattgefunden haben, bzw. der vermeintliche Autobiograf gar nicht existiert. Der Urheber des ‚Hoax‘ gibt zwar vor, sich auf das Spiel einzulassen (denn sonst würde er gar nicht zum Mitglied der Spielgemeinschaft), stellt sich dann aber über die grundlegenden Regeln und erkennt ihre Geltung nicht mehr an. Diese Haltung kann er selbst artikulieren oder sie wird ihm von anderen nachgewiesen. Er wird zum Spielverderber und zerstört die Spielwelt, indem er ihr, so Huizinga, die Illusion nimmt: „Darum muß er vernichtet werden, denn er bedroht die Spielgemeinschaft in ihrem Bestand.“28 In weniger martialischen Worten ausgedrückt, kann die Spielgemeinschaft auf diesen extremen Regelverstoß also nur mit Ausschluss des Spielverderbers aus dem Spiel reagieren. Verstößt ein Mitspieler im autobiografischen Diskurs folglich gegen das Gebot der Referentialität, bedroht er die Glaubwürdigkeit der ganzen Gattung. Es liegt im Interesse der Mitspieler, den Spielverderber und seinen ‚Hoax‘ aus dem autobiografischen Diskurs auszuschließen, ihn der Fiktion zuzuschlagen. Sidonie Smith und Julia Watson weisen darauf hin, dass autobiografische ‚Hoaxes‘ häufig entwickelt werden, um ein konkretes Ziel zu erreichen: Sich persönlich zu bereichern oder politische Ambitionen umzusetzen. Aller27 Popitz: Spielen, S. 15. 28 Huizinga: Homo Ludens, S. 20.

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dings fassen Smith und Watson unter ‚Hoaxes‘ auch die Phänomene der so genannten ‚Fantasized Lives‘ und ‚Plagiarized Lives‘, die sich für mich nur bedingt in ihre Typologie einfügen lassen, denn hier liegt weniger eine betrügerische Absicht zugrunde als vielmehr ein Unvermögen, geltende Konventionen anerkennen zu können (entsprechend verhandele ich diese Phänomene unter dem Punkt Pseudo-Mitspiel).29 Beispiele für ‚Hoaxes‘ wären also Autobiografien, die sich als vornehmlich erfunden herausstellen (wie im Falle der US-amerikanischen Dramatikerin Lillian Hellman).30 Hier wird insbesondere die Regel der (Selbst-)Referentialität verletzt, weil die geschilderten Erlebnisse keine Referenzpunkte in der außersprachlichen Wirklichkeit besitzen. Einen noch extremeren Fall markiert der Skandal um JT Leroy, den Peter Haffner folgendermaßen zusammenfasst: JT Leroy, den gefeierten „subkulturellen Jungstar der US-Literatur“, gibt es gar nicht! Seine Werke, in zwanzig Ländern publiziert […], wurden […] von des Autors vermeintlicher Mentorin Laura Albert verfasst. Sie und ihr Freund […] wollen JT Leroy von der Straße aufgegabelt haben – einen obdachlosen Strichjungen, der von einem Truckstop in West Virginia gekommen und im Drogenmilieu von San Francisco gelandet war [wo er sich mit HIV infiziert haben soll, C.K.]. Drei Romane [u.a. Sarah, C.K.] […] schildern die schockierende Lebensgeschichte dieses Dropouts, den seine Mutter, eine Prostituierte, ins Sex-Geschäft einführte. Prominenz aus Kunst und Kultur […] unterstützten den Autor finanziell und förderten seine kometenhafte Karriere, die vor fünf Jahren startete und umso erstaunlicher war, als er persönlich kaum je in Erscheinung trat.31

Wenn JT in der Öffentlichkeit auftauchte, dann immer mit Perücke und Sonnenbrille, was mit der Menschenscheu JTs erklärt wurde, tatsächlich aber notwendig war, weil Laura Alberts Quasi-Schwägerin Savannah den androgynen JT verkörperte. Im Oktober 2005 waren erste Gerüchte zu hören, denen zufolge etwas nicht mit rechten Dingen zuging, im Januar tauchten Fotos auf, die Savannah (also den vermeintlichen JT) ohne Perücke zeigten. Mitte Februar gestand Laura Alberts Freund die Täuschung. Bezeichnenderweise entzündeten sich erste Irritationen im Falle JT offenbar wieder an der Verwendung unzulässiger Spielutensilien, d.h. an unangemessener Sprachverwendung. Lange bevor der Nachweis erbracht wurde, dass Leroy eine Kunstfigur ist, kamen erste Verunsicherungen auf. So wunderte sich etwa Frank Schäfer bereits 2001 in einer Besprechung des Romans Sarah: Leroy erzählt von dem Schrecken einer sozial randständigen Kindheit, aber er erzählt nicht anklagend oder gallebitter, wie man es hätte erwarten müssen, son-

29 Vgl. Smith/Watson: Say It Isn’t So, S. 15 ff. 30 Vgl. hierzu Freadman: Masken, Lügen, biographische „Wahrheit“, S. 101 ff. 31 Haffner: JT Leroy: Sex, drugs und lauter Lügen.

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dern so unbeschwert und leichthin, als ginge es ums Burgenbauen im Sandkasten. […] [W]ie ist dieser kindlich-glättende, harmonisierende Erzählgestus zu erklären? Sollte diese Bagatellisierung der Unzulänglichkeit des Erinnerns geschuldet sein? Verklärt sich in der nostalgischen Rückschau selbst noch die Hölle zur heimeligen Wohnstube? Oder hatte das, was Leroy widerfahren ist, seinen Schrecken irgendwann tatsächlich verloren, weil es schlicht zum Alltag gehörte?32

Solange sich die Regelverletzung allerdings allein auf der Ebene der zulässigen Utensilien (angemessene Sprache) bewegte, nahm die Glaubwürdigkeit zwar ab, aber Leroy wurde höchstens zur Erklärung seiner sprachlichen Eigenheiten und zur Rechtfertigung aufgefordert. Er blieb weiterhin Mitglied der Spielgemeinschaft. Der Ausschluss aus der Spielgemeinschaft erfolgte in dem Moment, als sich herausstellte, dass nicht nur untergeordnete Regeln, sondern auch notwendige Regeln verletzt wurden. Als sich abzeichnete, dass die Person Leroy gar nicht existierte, die vermeintlich autobiografischen Texte folglich die Regel der Referentialität nicht einhielten, wurde der Falschspieler zum Spielverderber – und schied sofort aus dem Spiel aus. Die Texte galten fortan als rein fiktional. Jens-Christian Rabe meint resümierend zum Fall JT Leroy: „Es war ohne Zweifel der spektakulärste Literaturschwindel des vergangenen Jahres, und sicher ist er auch einer der bemerkenswertesten in der Geschichte der Kunst.“33 4.4 Pseudo-Mitspiel Eine besondere Form des Regelverstoßes praktiziert der Pseudo-Mitspieler. Er glaubt zwar mitzuspielen und meint, sich an die Regeln zu halten, tatsächlich entzieht er sich ihnen aber, weil er sie nicht durchschaut bzw. ihnen nicht genügen kann. Er ist somit nur scheinbar Mitglied der Spielgemeinschaft. Diese Regelverletzung wird immer erst durch Hinweise anderer Mitspieler aufgedeckt. Die anderen Mitspieler werden zunächst versuchen, dem Pseudo-Mitspieler die Regeln erneut darzulegen, müssen sie aber feststellen, dass diese Versuche zur Sicherung der Regeleinhaltung nicht fruchten, werden sie den Pseudo-Mitspieler aus dem Spiel ausschließen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Autobiograf seine Lebensgeschichte, an die er glaubt, erfunden hat und entgegen der Faktenlage weiterhin standhaft versichert, dass er die geschilderten Erlebnisse tatsächlich so erlebt habe. Auch der PseudoMitspieler verletzt folglich die Referentialitätsregel, auch wenn er die Wahrhaftigkeitsregel einzuhalten glaubt. Eines der spektakulärsten Beispiele für einen Fall des Pseudo-Mitspiels dürfte der Fall Wilkomirski sein. Als Binjamin Wilkomirski 1995 seine Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 veröffentlichte, wurde das Werk von der Kritik be32 Schäfer: Truckstoplizards, S. 18. 33 Rabe: Psycho-Monologe, S. 14.

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geistert aufgenommen. Hier lag der schonungslose Bericht einer jüdischen, vom NS-Terror geprägten Kindheit vor, die sich vornehmlich in Konzentrationslagern abgespielt hatte. Nach der Befreiung aus dem Lager war Wilkomirski in ein Waisenhaus gekommen und in der Schweiz adoptiert worden, wo er seine Vergangenheit mühsam zu rekonstruieren vermochte. 1998/99 stellte sich heraus, dass diese Lebensgeschichte eine Erfindung war: Wilkomirski war kein „child-survivor“, sondern das Kind einer Schweizerin, die ihn zur Adoption gegeben hatte. Die Lager kannte Bruno Dössekker, so sein eigentlicher Name, nur als Tourist. In einer umfangreichen Studie hat Stefan Mächler dargelegt, dass Dössekker eigene Erfahrungen zu einer Kinder-Shoah-Biografie umgeschrieben hatte. Mächler kommt zu dem Schluss, dass Dössekker nicht bewusst täuschen wollte, sondern selbst an die Geschichte glaubte.34 Dössekker war ein Pseudo-Mitspieler, er war davon überzeugt, sich an die Regeln zu halten, verstieß de facto aber grundlegend gegen sie. Er musste folglich aus dem autobiografischen Diskurs ausgeschlossen werden und war fortan ein Fall für die Psychologie, der er eine neue Kategorie bescherte: das ‚Wilkomirski-Syndrom‘. Anfängliche Zweifel an der Referentialität der Schilderungen wurden – ganz in der Logik des Spielvertrags – weggewischt, solange sie noch als Verletzungen untergeordneter Regeln betrachtet werden konnten, wie die Schilderung Jörg Laus nahe legt, der die ersten Reaktionen auf die Publikation von Dössekkers fingierter Autobiografie zusammenfasst: Die Literaturkritik hat die „Bruchstücke“ seinerzeit mehrheitlich mit fast religiöser Ehrfurcht aufgenommen. Vor einem Buch, das offenbar „das Gewicht des Jahrhunderts“ (so damals die Neue Zürcher Zeitung) zu tragen hatte, verblaßten alle skeptischen Fragen. Hier und da wurde angemerkt, daß die Gewalt- und Horrorszenen aus den Lagern ein wenig zu klar und zu effektvoll wirken – wie „auf der Couch eines Psychoanalytikers rekonstruierte Alpträume eines Traumatisierten“ (Süddeutsche Zeitung). […] Man hielt sich aber mit weitergehenden Zweifeln an der Authentizität zurück, denn schließlich bürgte hier ein leibhaftiger Leidender, ein stets bescheiden und leise auftretender Mensch, für die Wahrheit seines Textes. „Was sich im einzelnen tatsächlich zugetragen hat, spielt deshalb eine untergeordnete Rolle“, resümierte damals Eva-Elisabeth Fischer in der SZ: „Denn die Bruchstücke der Erinnerung sind Binjamin Wilkomirskis Wahrheit.“35

Doch reicht die hier konstatierte Einhaltung der Wahrhaftigkeitsregel allein nicht aus, um Zweifel an der Einhaltung der autobiografischen Spielregeln an sich auszuräumen – zumal dann nicht, wenn die Einhaltung der Referentialitätsregel massiv in Frage gestellt wird. Wilkomirskis Wahrheit ist eben ohne Referenzpunkte in der außersprachlichen Wirklichkeit allein seine Wahrheit. Auch die Person des Autors und seine ‚Performance‘, die vorab möglicherweise leise Zweifel verstummen ließen, konnten dann die Mit34 Mächler: Der Fall Wilkomirski, S. 287 f. 35 Lau: Ein fast perfekter Schmerz, S. 66.

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spieler nicht mehr überzeugen. Der Pseudo-Mitspieler wird ausgeschlossen und der vermeintlich autobiografische Text wird als das gekennzeichnet, was er ist: Fiktion. Während Verstöße gegen untergeordnete Regeln also zumeist spielintern geahndet werden und derjenige Mitspieler, der verdeckt eine Regel verletzt hat, zur Korrektur bzw. Ergänzung aufgefordert wird, und während der offene Regelverstoß häufig als Innovation positiv bewertet wird, führt der Verstoß gegen grundlegende Regeln immer zum Ausschluss aus dem Spiel. Die Texte des Spielverderbers und des Pseudo-Mitspielers werden aus dem autobiografischen Diskurs ausgeschlossen und wahlweise in den psychologischen oder fiktional-literarischen Diskurs verwiesen.

5. Fazit Die Betrachtung des autobiografischen Diskurses vor dem Hintergrund des Spiels hilft daher auch zu verstehen, warum Unstimmigkeiten in autobiografischen Erzählzusammenhängen häufig so starke Emotionen auslösen. Sie berühren, so hat es Barbara Schaff in einem Aufsatz über simulierte Erfahrungen erklärt, „den Glauben an eine kommunikative menschliche Grunderfahrung: den anderen durch das, was er sagt, erkennen zu können […].“36 Auch umgekehrt, so möchte man ergänzen, besteht die Überzeugung, dass andere einen in dem, was man von sich erzählt, erkennen können müssten. Darin findet sich wohl auch ein Grund für die anhaltende Faszination, die Autobiografien ausüben: Wir lesen sie, weil wir – ungeachtet aller postmodernen Erkenntnisse – davon ausgehen, in ihnen die Möglichkeit gezeigt zu bekommen, alle Handlungen eines Individuums in einen erklärbaren, zusammenhängenden Ablauf einpassen zu können. Auch wenn uns zeitgenössische Überlegungen zur Identitätskonstruktion die Fragmentarisierung unseres Ichs vor Augen führen, scheint doch der Glaube daran ungebrochen, einerseits eigene vergangene Handlungen erklären und begründen zu können und andererseits prognostizieren zu können, wie man in einer bestimmten Situation reagieren würde. Indem Spielverderber oder Pseudo-Mitspieler die Geltung der für dieses Verfahren konstitutiven Regeln infrage stellen, bedrohen sie den Kern unseres eigenen Subjektentwurfs. Schließlich kündigt der Spielverderber ja nicht allein die Spielgemeinschaft mit seinen Mitspielern, sondern er bedroht auch die Illusion des Spiels, die Spielwelt an sich. Hier liegt der Grund dafür, warum wir auf Regelverstöße im autobiographischen Diskurs so empfindlich reagieren: Die Verletzung der Regeln verweist immer auch schmerzhaft auf den illusionären Charak36 Schaff: Der Autor als Simulant, S. 439.

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ter unserer eigenen Identitätskonstruktion. Denn eigentlich könnte es uns doch egal sein, ob jemand eine wahrhaftige Geschichte erzählt, solange sie gut erzählt ist – auf den ersten Blick sind wir ja nicht persönlich davon betroffen. Tatsächlich sind wir aber eben nicht nur Zuschauer, sondern Mitspieler, und da interessiert es einen sehr wohl, ob man gerade über den Spieltisch gezogen wird.

Literatur Anz, Thomas: Das Spiel ist aus? Zur Konjunktur und Verabschiedung des „postmodernen“ Spielbegriffs. In: Henk Habers (Hg.): Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands? Amsterdam, Atlanta 2000, S. 15-34. Anz, Thomas: Spiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd 3. Hg. v. JanDirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 469-472. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999 [Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 1992]. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a.M. 1982 [Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, 1958]. Derrida, Jacques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972, S. 422442 [La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines, 1966]. Freadman, Richard: Masken, Lügen, biographische „Wahrheit“. Lilian Hellman und das genre des life writing. In: Bernhard Fetz; Hannes Schweiger: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Wien 2006, S. 95-110. Frey, Hans-Jost: Der unendliche Text. Frankfurt a.M. 1990. Haffner, Peter: JT Leroy: Sex, drugs und lauter Lügen. Den Jungstar unter den US-Autoren gibt es gar nicht. In: Wiener Zeitung, 20.01.06, http://www.wienerzeitung.at/Desktopdefault.aspx?TabID=3946&Alias=WZO&lexikon=Literatur&letter=L&cob=215527 [Stand: 04.12.08]. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1987 [zuerst 1938]. Jürgs, Michael: Was vom Dichter übrig blieb. In: Süddeutsche Zeitung 63, 22./23.09.2007, S. 1 [Wochenendbeilage]. Klein, Christian: Ästhetik des Spiels als Ästhetik des Rechts. Anmerkungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. In: Andreas von Arnauld (Hg.): Recht und Spielregeln. Tübingen 2003, S. 273-297. Lau, Jörg: Ein fast perfekter Schmerz. Die Affäre um Binjamin Wilkomirski zieht weite Kreise: Darf man Erinnerungen an den Holocaust erfinden? In: Die Zeit 53, 17.9.1998, S. 66. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a.M. 1994 [Le pacte autobiographique, 1975]. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1967 [Anthropologie structurale; 1958]. Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich 2000. Man, Paul de: Tropen (Rilke) (1979). In: Ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1988, S. 52-90, insbes. S. 79-86. Mangold, Ijoma: Seht, wie meine Augen tränen. Günter Grass häutet seine Zwiebel nun tatsächlich in Buchform: Zwischen Fakten und Fiktion gibt es keine klare Grenze. Dafür aber reichlich Metaphern. In: Süddeutsche Zeitung 62, 19.8.2006, S. 11.

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Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998. Popitz, Heinrich: Spielen. Göttingen 1994. Rabe, Jens-Christian: Psycho-Monologe in allen Akzenten dieser Welt. Laura Albert, die Frau die den Stricher-Autor JT LeRoy kreierte, offenbart sich als Leidensstimmenimitatorin. In: Süddeutsche Zeitung 63, 4.1.2007, S. 14. Robles, Gregorio: Rechtsregeln und Spielregeln. Wien u.a. 1984. Schaff, Barbara: Der Autor als Simulant authentischer Erfahrung. Vier Fallbeispiele fingierter Autorschaft. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 426-443. Schäfer, Frank: Truckstoplizards. J.T. Leroy überschreibt seine desolate Kindheit mit Privatmythen. In: Jungle World 5, 10.10.2001, S. 18. Smith, Sidonie; Watson, Julia: Say It Isn’t So: Autobiographical Hoaxes an the Ethics of Life Narrative. In: Koray Melikoglu (Hg.): Life Writing. Contemporary Autobiography, Biography and Travel Writing. Stuttgart 2007, S. 15-34 [Proceedings of a Symposium Held by the Department of American Culture and Literature Halic University, Istanbul, 19.-21. April 2006]. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe in acht Bänden. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1984.

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Spiel- und Erkenntnismittel im Aphorismus der Wiener Moderne 1. Vorspiel oder terminologische Abgrenzungen Der Aphorismus kennzeichnet sich als Gattung der Kurzprosa durch eine kunstvolle Kombination und Komprimierung von Stilmitteln wie Wortspielen, Anspielungen, Antithesen, Paradoxa und Pointen. Inwiefern diese Stilmittel im Aphorismus als Spielmittel fungieren, wird hier exemplarisch anhand einzelner Aphorismen der Wiener Moderne untersucht. Während das Wortspiel bei Karl Kraus durch Christian Wagenknecht ausführlich dargestellt wurde, ist dieses Stilmittel in den Aphorismen von Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal bisher nur peripher erforscht worden. Anhand von Aphorismen dieser und anderer Schriftsteller der Wiener Moderne wird geprüft, inwiefern aus Wortspielen oder Anspielungen Erkenntnisse resultieren können oder ob eher ein zirkuläres, mitunter auch tautologisches Spiel um des Spieles willen vorliegt. Ausgehend von der Etymologie des Aphorismus, die sich von dem griechischen Verb ‚aphorizein‘ ableitet, welches sich nach Gerhard Neumann mit ‚abgrenzen‘, ‚abtrennen‘ oder ‚abschneiden‘ übersetzen lässt, wird der Aphorismus gattungsterminologisch von anderen Gattungen der Kurzprosa abgegrenzt. Zugleich gilt es zu berücksichtigen, dass Aphorismen insbesondere durch Wortspiele und Anspielungen mit Sprichwörtern und Geflügelten Wörtern arbeiten: Durch solche Spielmittel werden Sprichwörter und Geflügelte Wörter häufig verändert in Aphorismen integriert. Wenngleich die Stilmittel in kunstvollen Verdichtungen auftreten, sollte man durch Jürgen Stenzels Terminus „allusives Wortspiel“ nicht die Grenzen zwischen Anspielung und Wortspiel verwischen lassen. Deshalb werden hier in der Analyse der Aphorismen sowohl einzelne Arten des Wortspiels als auch der Anspielung voneinander abgegrenzt.

  

Vgl. Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus, S. 5 ff. Vgl. Neumann: Einleitung, S. 11. Stenzel: Anspielung, S. 94.

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2. Wortspiele Neben der Abgrenzung des Aphorismus von anderen Gattungen der Kurzprosa sind die Termini ‚Wortspiel‘ und ‚Sprachspiel‘ zu trennen. Obwohl im Wortspiel mit der Sprache gespielt wird, sollte man bei der Analyse von Wortspielen den Begriff des ‚Sprachspiels‘ vermeiden, da es sich um eine philosophische Kategorie Wittgensteins handelt. Innerhalb des Wortspiels wird grob zwischen horizontalen und vertikalen Arten unterschieden: Wenn durch ein gleichförmiges Morphem mindestens zwei Wörter submorphemisch kombiniert sind, liegt ein horizontales Wortspiel vor. Wenn hingegen zwei gleichförmige Morpheme semantisch disproportional und unkonventionell in einem Wort verbunden oder kontaminiert sind, handelt es sich um ein vertikales Wortspiel. Diese und weitere Unterschiede zwischen horizontalen und vertikalen Wortspielen werden im Folgenden anhand von einzelnen Beispielen verdeutlicht. 2.1 Horizontale Wortspiele „Wenn ein jeder wüsste, was er zu wissen hätte, wäre die Welt erlöst!“ In diesem Aphorismus von Altenberg handelt es sich um ein horizontales Wortspiel, das durch die unterschiedlichen Verbformen „wüsste“ und „wissen“ zustande kommt, und sich demnach als Figura etymologica spezifizieren lässt. Dabei ist die erste Verbform im Konjunktiv dem anschließenden Infinitiv „wissen“ syntaktisch superordiniert. Diesem Wortspiel wird einerseits durch die zusätzliche Alliteration der Wörter „wenn“, „was“ und „wäre“ ein ästhetischer Rahmen verliehen, wobei das Wortspiel sich andererseits durch den identischen Anfangsbuchstaben auch als Teil der Alliteration ansehen lässt. Das horizontale Wortspiel evoziert erst zwischen den Verbformen „wüsste“ und „wissen“ einen Spannungsbogen, welcher anschließend durch die Alliteration in beide Richtungen so verlängert wird, dass er nahezu über den gesamten Aphorismus reicht. Der Konditionalpartikel am Anfang des Satzes schafft zudem eine gespannte Erwartungshaltung beim Rezipienten, wodurch sich die Pointe in der anschließenden Konsequenz verstärkt. In der konstruierten Gegenvariante ‚Die Welt wäre erlöst, wenn ein jeder wüsste, was er zu wissen hätte‘ antizipiere man die Konsequenz, wodurch die Spannung zu einer Binsen   

Vgl. Wagenknecht: Wortspiel, S. 865. Vgl. Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus, S. 21, sowie Wagenknecht: Wortspiel, S. 865. Altenberg: Pròdrŏmŏs, S. 33. Ebd.

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weisheit erlahme sowie die Pointe entfiele. In der Ursprungsfassung des Aphorismus kann die gespannte Erwartungshaltung dem Rezipienten eher zu Erkenntnisleistungen verhelfen, wobei sich durch die Beschaffenheit der zu vermittelnden Erkenntnis jedoch ein Paradoxon andeutet: Denn die Kondition, dass ,jeder wüsste, was er zu wissen hätte‘, erkennt der Rezipient als Utopie, durch die auch die Konsequenz, die Erlösung der Welt, nivelliert wird. Dieses Paradoxon ist so im Aphorismus als bleibende Reflexionsaufgabe für den Rezipienten angelegt; indem der Rezipient als Teil der Welt inhaltlich mit ihrer Erkenntnisbegrenzung konfrontiert wird, kann er separat einen Erkenntnisfortschritt machen. Wenngleich dieses Ideal nicht der Realität entspricht, ließe sich aus einer experimentellen Perspektive die Vorstellung, dass jeder weiß, was er zu wissen hat, als Gedankenspiel verstehen; was ein jeder wüsste, bliebe dabei jedoch Spekulation oder Rätsel des Spiels. Die Ursprungsversion des Aphorismus von Altenberg ließe sich allerdings noch in eine andere (Spiel-)Dimension ausrichten und als folgende Fassung formulieren: ,Wenn weder jeder weiß, was er zu wissen hätte, noch jeder weiß, was der andere weiß, was weiß der Mensch dann?‘. Inwiefern diese Dekonstruktion des gemeinen Wissens Konsequenzen für das persönliche oder individuelle Wissen hervorrufen kann, soll folgender Aphorismus von Hofmannsthal aufzeigen: „Was ist Kultur? Zu wissen, was einen angeht, und zu wissen, was einen zu wissen angeht.“ Wenngleich in diesem Aphorismus das Wortspiel nur durch den Infinitiv des Verbs „wissen“ zustande kommt, handelt es sich hier erneut um ein horizontales Wortspiel. Allerdings kann man hier nicht von einer Figura etymologica sprechen, da die drei Formen des Verbs innerhalb des Spannungsbogens von dem Wortspiel identisch sind. Der Infinitiv „wissen“ erfährt (inklusive der Partikel „zu“) eine zweifache Repetition. Während in der Satzstruktur sowohl die ersten beiden Infinitive „wissen“ als auch die beiden identischen Verbformen „angeht“ syntaktisch gleichgewichtig bleiben, ist der dritte Infinitiv „wissen“ den beiden vorherigen und der wiederholten Form „angeht“ syntaktisch subordiniert. Auf die Ausgangsfrage des Aphorismus, was Kultur ist, kann der Rezipient zu der utilitaristischen Erkenntnis gelangen, dass sich das Individuum ein kulturelles Detailwissen nur zunutze machen kann, wenn es seine Involvierung in den gemein-vielschichtigen Kulturbegriff als Relation zur Gemeinschaft (wieder)erkennt. So wie es demnach in diesem Aphorismus inhaltlich auf die Beziehung der unterschiedlichen Wissensformen ankommt, wird die Art des horizontalen Wortspiels durch die Relation der wiederholten oder variierten Wörter  

Hofmannsthal: Buch der Freunde, S. 42. Ebd.

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determiniert. Inwiefern hingegen bei den vertikalen Wortspielen der Akzent auf das Spiel innerhalb eines Wortes gelegt wird, sollen die zwei folgenden Aphorismen herausstellen. 2.2 Vertikale Wortspiele „Das wichtigste im menschlichen Verkehr bleibt immer: die Leute bei schlechtem Gewissen zu erhalten.“10 Das vertikale Wortspiel in Schnitzlers Wortspiel besteht in der Ambiguität des Wortes „Verkehr“, da es sich für mehrere Beziehungskonstellationen und Umgangsformen gebrauchen lässt. Dabei wäre der alltägliche Umgang mit Menschen durch die semantische Art und Weise des Wortes „Verkehr“11 von intimen Verhältnissen zu unterscheiden. In der Interpretation kann der Rezipient mit einzelnen Deutungsvarianten dieses Wortes spielen und sie anschließend kombinieren, ohne dabei Chiffren oder inhaltliche Kontaminationen zu erzeugen. Während sich der Rezipient innerhalb dieser Kombination an die Spielregel halten sollte, keine Chiffren oder inhaltliche Kontaminationen zu erzeugen, kann hingegen der Aphoristiker als Produzent eine Kontamination als weitere Art des vertikalen Wortspiels herbeiführen. „Luft und Haut sind Liebesleute. Sie wollen sich vermählen, trotz aller Fährlichkeiten.“12 Bei dem vertikalen Wortspiel „Fährlichkeiten“ aus Altenbergs Aphorismus handelt es sich um eine Kontamination, da in dem Neologismus die Wörter ‚Gefährlichkeiten‘ und ‚Fähigkeiten‘ in einem antithetischen Verhältnis verschmolzen sind. „Fährlichkeiten“ kann zudem eine Reminiszenz an die Wörter ‚Affäre‘ und ‚Flüchtigkeiten‘ auslösen, welche auch mit dem Kontext des Aphorismus korrespondieren. Wenn eine Affäre von Luft und Haut wie bei Liebesleuten temporär begrenzt ist, wird der Austausch von Flüchtigkeiten determiniert. Da in Kontaminationen einerseits Interdependenzen zwischen verschmolzenen Wörtern von dem Schriftsteller intendiert sind und es andererseits die Aufgabe des Rezipienten ist, das gedrängte Zusammenspiel der Wörter interpretatorisch zu klären, können Kontaminationen als ambivalente Art des Wortspiels fungieren. Durch das Zusammenspiel der Wörter oder der Bedeutungen im engen Raum eines Wortes bildet sich bei vertikalen Wortspielen allerdings kein Spannungsbogen heraus; stattdessen wird die Spannung innerhalb eines Wortes komprimiert.

10 Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlaß, S. 273. 11 Ebd.. 12 Altenberg: Pròdrŏmŏs, S. 38.

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Wenn als ursprüngliche Kategorien des Spiels einerseits die Spannung und andererseits Regeln dessen Struktur festigen, verschafft die Spannung dem Menschen insofern einen kräftigen Ausgleich für die Regeln, als dass sie den Menschen an das Spiel bindet. Transferiert auf die hier behandelte Gattung bindet die Spannung der Spielmittel den Rezipienten in den Aphorismus ein, so dass dieser in der Interpretation die Paradoxa antithetischer Wörter oder Strukturen sowie inhaltliche Ellipsen mit geistreichen Erkenntnissen ausfüllen kann. In welch anderen Varianten Stilmittel noch in Spielmittel gewendet werden können, werden die nächsten beiden Aphorismen anhand ihrer Anspielungen aufzeigen.

3. Anspielungen In Anspielungen bedingen nach Peter Hughes die Semantik des Schweigens13 sowie inhaltliche oder syntaktische Ellipsen das Ausmaß des Rätsels und das dadurch evozierte Versteckspiel. Im Suchvorgang wird das Entdecken der Anspielung zur spannenden Aufgabe oder Herausforderung für den Rezipienten. Da in Aphorismen literarische oder textuelle Anspielungen auf Geflügelte Wörter, Zitate oder Sprichwörter Priorität haben, wird hier die Unterteilung in themenbezogene, personenbezogene, metaphorische und strukturelle Arten14 zurückgestellt. Um hingegen die essentielle Kategorie des Rätsels in ihren unterschiedlichen Ausmaßen zu würdigen, werden hier die einzelnen Exemplare unter impliziten und expliziten Arten der Anspielungen verortet. 3.1 Implizite Anspielungen Sowohl Robert Musils Aphorismus „Dichten ist Gerichtstag halten über sich selbst; mit einem sicheren Freispruch!“15 als auch Erwin Chargaffs Aphorismus „Der Gerichtstag über sich selbst unterliegt einer besonders strikten Verjährungsfrist“16 sind als Anspielung auf das Zitat „Dichten – Gerichtstag halten/Über das eigene Ich“17 von Henrik Ibsen zu verstehen. Bei beiden Varianten handelt es sich um implizite Anspielungen, wobei 13 14 15 16 17

Vgl. Hughes: Anspielung, S. 652. Vgl. ebd. Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, S. 301. Chargaff: Bemerkungen, S. 82. Ibsen: Ein Vers, S. 167.

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Musils Aphorismus näher am Originalzitat von Ibsen bleibt, so dass die Reminiszenz an Ibsens Worte eher erkannt wird. Da Chargaff hingegen das Wort „Dichten“, den Ausgangspunkt des Zitats, eliminiert,18 kann seine Variante als Versteckspiel mit einem höheren Schwierigkeitsgrad auf den Leser fungieren. Auf diese Art und Weise erfährt der Grad der Implizierung bei Chargaff eine Steigerung, so dass in dem Spiel mit dem Bildungsbewusstsein des Rezipienten das Rätsel eine stärkere Herausforderung bildet. Die Gegenüberstellung der Aphorismen von Musil und Chargaff zeigt zwei inhaltlich unterschiedliche Reaktionen auf Ibsens Worte auf: Während Musil sich auf einen Richterspruch verlässt, der die Freiheit des Dichters wiederherstellt, geht Chargaff von der antithetischen Ansicht aus, dass der Gerichtstag eine strenge Frist impliziert, somit dem Dichter seine Freiheit durch eine strenge Frist verwehrt. Wenngleich sich zusätzlich zu dieser Intertextualität zwischen Musil und Chargaff feststellen lässt, dass der Aphorismus von Chargaff als ein Nachfolger der Wiener Moderne später entstanden ist, bleibt als Spekulation für den Rezipienten, ob Chargaff sich auch bewusst gegen Musils Variante wendet. Ob allerdings Ibsens Worte noch auf das frühere, thematisch ähnliche Zitat „In der Schrift hält der Mensch das jüngste Gericht über sich selbst, seine Gedanken und Empfindungen“19 von Ludwig Feuerbach rekurrieren, bleibt für den Leser offen. Bei Ibsen hingegen lassen sich durch Musils und Chargaffs Versionen eine hohe Memorierbarkeit und der daraus resultierende Bekanntheitsgrad seiner Worte belegen. Die Anspielung unterliegt demnach der Prämisse, dass es sich um eine intendierte Variation des Ausgangszitats handelt; wenn sich hingegen nicht nachweisen lässt, ob die Reminiszenz als Anspielung intendiert ist, kann man wie bei Ibsen und Feuerbach zumindest noch von einer Intertextualität ausgehen. Während sich eine Kette von Intertextualitäten angefangen bei Feuerbach über Ibsen sowie Musil bis zu Chargaff herausarbeiten lässt, bleiben bei den impliziten Anspielungen für den Leser selbst nach der Prüfung auf literarische Verweise Fragen oder Spekulationen, wodurch im Spiel mit dem Bildungsbewusstsein des Rezipienten die Spannung erhalten wird. 3.2 Explizite Anspielungen Inwiefern sich dagegen bei expliziten Anspielungen die Rätsel des Versteckspiels eher klären lassen, sollen die folgenden zwei Beispiele verdeutlichen. 18 Vgl. Chargaff: Bemerkungen, S. 82, sowie Ibsen: Ein Vers, S. 167. 19 Feuerbach: Der Schriftsteller und der Mensch, S. 162.

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„Unter den Blinden wird der Einäugige wahnsinnig.“20 Bei diesem Aphorismus von Chargaff handelt es sich um eine explizite Anspielung auf das Sprichwort: „[U]nter den Blinden ist der Einäugige König.“21 Indem sich der Rezipient über Chargaffs Wendung wundert, erinnert er sich zugleich direkt an die ursprüngliche Version des Sprichworts und erkennt den Widerspruch zwischen beiden Aussagen. Dabei wird das Ende der ursprünglichen Aussage so gewendet, dass die Hyperbel „König“22 eliminiert und durch die Degradierung des Einäugigen mit dem Adjektiv „wahnsinnig“23 ersetzt wird. Obschon durch diese Ersetzung das ursprüngliche Ende des Sprichworts verschwiegen und somit eine inhaltliche Ellipse evoziert wird, bleibt die Anspielung insofern explizit, als dass der Rezipient die Ellipse direkt durch die Kenntnis des Sprichworts ausfüllen kann. Dass sich der Grad der Explizierung noch steigern lässt, soll der nächste Aphorismus von Schnitzler aufzeigen. „Die Erinnerung, sagt Jean Paul, ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Manchmal mag das zutreffen. Öfter aber ist die Erinnerung die einzige Hölle, in die wir schuldlos verdammt werden.“24 In diesem Aphorismus stellt sich die Anspielung als sehr explizit dar, weil die Worte Jean Pauls sinngemäß mit Verweis auf den Autor zitiert werden. Lediglich den (Kon-)Text muss der Rezipient noch klären: Wenn der Rezipient Jean Pauls Zitat nicht a priori kennt, kann er dieses als Geflügeltes Wort im Büchmann nachschauen, wo Die Unsichtbaren Loge (1793) als (Kon-)Text25 des Zitats angegeben wird. In solch expliziten Anspielungen minimiert sich durch die Vorgaben einerseits der Grad des Rätsels, andererseits kann die hohe Transparenz der Anspielung den Effekt der anschließenden Antithese Schnitzlers präzisieren und verstärken. Allerdings kann sich das Rätsel von der Anspielung auf die inhaltliche Ebene des Aphorismus verschieben, da eine inhaltliche Synthese im Aphorismus ausbleibt und zur Aufgabe oder Herausforderung für den Rezipienten wird. Aus der Konfrontation der vermeintlich allgemeingültigen These Jean Pauls mit der besonderen, persönlichen Antithese Schnitzlers resultiert ein Erkenntniskonflikt zwischen Deduktion und Induktion,26 welcher allerdings in seiner ungelösten Beschaffenheit aus dem Aphorismus auf den Rezipienten transferiert wird. Die interpretatorische Klärung des Konflikts kann im Reflexionsprozess des Rezipienten erst durch die Erschließung der Synthese gelingen. 20 21 22 23 24 25 26

Chargaff: Bemerkungen, S. 88. http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-portal/de/wort_www?site=208&Wort_id=2640832. Ebd. Chargaff: Bemerkungen, S. 88. Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlaß, S. 277. Büchmann: Geflügelte Worte, S. 310. Vgl. Neumann: Einleitung, S. 6.

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Dass Schnitzler auch dynamischer auf ein Geflügeltes Wort reagieren kann, zeigt der folgende Aphorismus auf, bei dem es sich allerdings um eine Kombination aus Anspielung und Wortspiel handelt.

4. Anspielung und Wortspiel „Weltschmerz? Nein, Weltironie.“27 Dieser Aphorismus von Schnitzler setzt mit einer Anspielung auf Jean Pauls Geflügeltes Wort „Weltschmerz“ ein, das aus dem Werk Selima oder über die Unsterblichkeit28 (1827, posthum veröffentlicht) stammt. Obschon Schnitzler hier nicht den Autor des Geflügelten Wortes benennt, handelt es sich um eine explizite Anspielung, da die Wortschöpfung Jean Pauls sowohl sinn- als auch wortgemäß zitiert wird. Zudem weist diese Wortschöpfung als Geflügeltes Wort insofern einen hohen Bekanntheitsgrad auf, als dass diese von einem Rezipienten mit einem entsprechenden Bildungsbewusstsein direkt erkannt werden kann. Aus Schnitzlers Widerspruch durch das Wort „Weltironie“29 gegenüber Jean Pauls „Weltschmerz“30 resultiert zusätzlich ein horizontales Wortspiel, wobei die Kontrastierung erst durch den jeweiligen zweiten Teil der Komposita zustande kommt. Erneut fungiert hier Schnitzlers Position als Antithese zu der These Jean Pauls: Schnitzler stellt Jean Pauls Wortschöpfung in Frage, um diese anschließend zu negieren sowie durch die eigene Position zu ironisieren, so dass sich „Weltironie“ auch als poetologisches Stilmittel erweist. Obwohl in diesem Aphorismus „Weltschmerz“ als Ausgangspunkt für mehrere Stilmittel fungiert, lassen sich die Stilmittel einzeln analysieren, so dass die Grenzen zwischen Anspielung und Wortspiel nicht verwischen. Solche Grenzen bilden die Prämisse für die Entwicklung und die Erhaltung der heterogenen Arten, unter welchen sich die stilistischen Exemplare der jeweiligen Aphorismen verorten lassen. Dass die Stilmittel in dem Aphorismus innerhalb eines engen Spielraumes aufeinandertreffen, evoziert eine Stilmitteldichte, die von der dynamischen Spannung in der Prägnanz aus drei Wörtern bestimmt wird. Während hier durch das horizontale Wortspiel ein kurz-kräftiger Spannungsbogen über diesen Aphorismus geschlagen wird, verschiebt sich im folgenden Aphorismus „Es ist eine Bestialität, bei Tag und Nacht auf der eigenen Loblauer zu liegen!“31 von Altenberg der Spannungsbogen auf die 27 28 29 30 31

Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlaß, S. 277. Vgl. Büchmann: Geflügelte Worte, S. 310 f. Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlaß, S. 277. Büchmann: Geflügelte Worte, S. 310 f. Altenberg: Fechsung, S. 96.

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Anspielung, welche direkt auf die bekannte Redewendung „auf der Lauer liegen“32 rekurrierbar ist. Diese explizite Anspielung bildet dabei einen Rahmen über das vertikale Wortspiel „Loblauer“,33 das sich im Unterschied zu der Anspielung in einem Wort verdichtet. Da ‚Lob‘ und ‚Lauer‘ in diesem Neologismus verschmelzen, lässt sich das Einwortspiel als Kontamination spezifizieren. Wenngleich sich in dem Wort „Loblauer“ Anspielung und Wortspiel verschränken, sollte man hierbei nicht wie Stenzel von einem „allusiven Wortspiel“34 ausgehen, denn die so resultierende Verschiebung der Kontamination von der Ebene des Produzenten auf die des Rezipienten hindert die präzise Analyse der Stilmittel. Stattdessen sollte der wissenschaftliche Rezipient in der Interpretation die Kontamination klären, indem er die Stilmittel erst einzeln präzise analysiert und diese kontrastiert, um anschließend die Kombination und Stilmitteldichte nachzuvollziehen.

5. Nachspiel Die Stärke des Aphorismus als anspruchsvolle Gattung liegt in seiner Kürze oder Konzision: In wenigen Worten oder Sätzen werden Wortspiele, Anspielungen, Antithesen, Paradoxa und andere Stilmittel so kombiniert, dass dem Leser ein weiter Raum für Reflexionen und interpretatorische Deutungen eröffnet wird. Dass die Konzision eine Stärke des Aphorismus ist, kann sowohl das Wortspiel als auch die Anspielung verdeutlichen. Wenn als ursprüngliche Kategorien des Spiels einerseits die Spannung und andererseits Regeln die Spielstruktur des Aphorismus festigen, verschafft die Spannung dem Menschen einen Ausgleich für die Regeln. Der bildungsbewusste Rezipient kann in der Interpretation die Paradoxa antithetischer Wörter oder Strukturen sowie inhaltliche Ellipsen mit geistreichen Erkenntnissen ausfüllen. Mit Hilfe der Heterogenität der stilistischen Arten können auf diese Weise unter der gattungstheoretischen Offenheit des Aphorismus und in Kombination mit der vom Produzenten intendierten Spannung Stilmittel zu Spielmitteln gewendet werden.

32 http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-portal/de/wort_www?site=208&Wort_id=33154522. 33 Altenberg: Fechsung, S. 96. 34 Stenzel: Anspielung, S. 94.

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Literatur Altenberg, Peter: Pròdrŏmŏs. Berlin 1906. Altenberg, Peter: Fechsung. Berlin ²1915. Büchmann, Georg (Begr.): Geflügelte Worte. Der große Büchmann. Bearb. von Jürgen Bolz; Claudia Krader. München 2003. Chargaff, Erwin: Bemerkungen. Stuttgart 1981. Feuerbach, Ludwig: Der Schriftsteller und der Mensch. Eine Reihe humoristisch-philosophischer Aphorismen. In: Sämtliche Werke. Bd. 3: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. Leipzig 1847, S. 149-259. Hofmannsthal, Hugo von: Buch der Freunde In: Aufzeichnungen. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1973, S. 7-81. Hughes, Peter: Anspielung. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1: A-Bib. Tübingen 1992, S. 652-655. Ibsen, Henrik: Ein Vers. In: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Georg Brandes. Berlin 1903, S. 167 [zuerst 1871]. Musil, Robert: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. von Adolf Frisé. Hamburg 1955. Neumann, Gerhard: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt 1976, S. 1-18. Projekt Deutscher Wortschatz der Universität Leipzig. 2008, http://wortschatz.uni-leipzig. de [Stand: 23.01.2008]. Schnitzler, Arthur: Aphorismen und Betrachtungen aus dem Nachlaß. In: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a.M. 1967, S. 185-492. Stenzel, Jürgen: Anspielung: In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Lexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1: A- G. Berlin 1997, S. 93-96. Wagenknecht, Christian Johannes: Das Wortspiel bei Karl Kraus. Göttingen 1965. Wagenknecht, Christian Johannes: Wortspiel. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Lexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: P-Z. Berlin 2003, S. 864-867.

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Ernst oder Spiel? Zur ethischen Dimension ästhetischer Spiele am Beispiel der Konkreten Poesie ping pong ping pong ping pong ping pong ping pong Eugen Gomringer, Konstellation

I Das Spiel ist, ethisch betrachtet, ein zutiefst ambivalentes Phänomen. Einerseits negiert das Spiel alle Regeln, Normen oder Ansprüche außerhalb seiner selbst, wie Johan Huizinga zu Beginn seiner großen Studie Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938) festhält: „Was die anderen da draußen tun, geht uns eine Zeitlang nichts an. In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung.“ Das Spiel ist ‚frei‘, und nicht zuletzt darin dem Ernst des Lebens entgegengesetzt, dass es sich dessen „Gesetze und Gebräuche“, dessen ethische Substanz also in der doppelten Bedeutung des Ethischen von Norm und Gewohnheit, nicht zu Eigen machen muss. Andererseits enthalten sowohl der Regelcharakter des Spiels als auch der entsprechend geforderte Wille des Spielenden, meist vorgegebenen, jedenfalls für alle Mitspielenden verbindlichen Regeln zu folgen, ein unabweisbar ethisches Moment der Selbstverpflichtung. Auch darauf weist Huizinga hin, wenn er am Ende seiner Studie, die das Moment des Spielens in allen, auch den „grausam[en] und blutig[en]“ Bereichen der menschlichen Kultur aufsucht, „Spielmäßiges in der internationalen Politik“ zum Thema macht und dabei indirekt auf die zeitgenössischen weltpolitischen Ereignisse deutend feststellt, dass das ‚Spiel‘ der Politik und das spielähnliche Kennzeichen jeder Rechts- oder Staatengemeinschaft „bis in gar nicht weit zurückliegenden Zeiten“ im Einhalten der Regeln eines Völ

Huizinga: Homo Ludens, S. 21.

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kerrechts bestanden habe, das immer „in hohem Maße von der Geltung von Begriffen wie Ehre, Anstand und gutem Ton abhängig gewesen“ sei. Ebenso, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, wird bei Jean-François Lyotard der verpflichtende Charakter des Spiels und insbesondere der Sprache als sozialem Sprachspiel sichtbar, dessen disziplinierenden Regelcharakter Lyotard jedoch kritisch hervorhebt. Lyotard weist dabei auf den schon von Huizinga gesehenen und ethisch brisanten agonalen Charakter des Spiels hin, um ihn, Ansätze der linguistischen spieltheoretischen Semantik aufnehmend, auf Sprache überhaupt auszudehnen, so, „daß Sprache kämpfen im Sinne des Spielens ist und daß Sprechakte einer allgemeinen Agonistik angehören“. Auch im ästhetischen Spiel lässt sich diese ethische Ambivalenz von Freiheit und Selbstverpflichtung wiederfinden. So meint die Lust am freien Spiel der Erkenntnisvermögen ‚ohne alles Interesse‘, wie Kant im § 2 der Kritik der Urteilskraft unterstreicht, zunächst eine Freiheit der ästhetischen Erfahrung von allen äußeren Zwecksetzungen. Sie schließt auch die Freiheit vom „Wohlgefallen am Guten“ (Kritik der Urteilskraft, § 4) ein und erlaubt, sich in ästhetischer Einstellung von allen vorgegebenen und eben auch moralischen Regeln und Normen zu distanzieren. Doch hat die Freiheit einer ‚bestimmten‘ ästhetischen Erfahrung darin ihre Grenze, dass auch sie sich andererseits auf bestimmte, durch die Werkstruktur eines ästhetischen Objekts oder seinen Autor vorgegebene Regeln einlassen muss, wie es der enge Zusammenhang von Kunst- und Spieltheorie auch jenseits explizit formulierter Spielregeln durch die Kunstgeschichte hindurch deutlich macht. Dass dabei im Ästhetischen allerdings der Bruch solcher Regeln folgenlos bleibt, ja unter Umständen sogar gefordert sein kann, und dass man ein Spiel aus freien Stücken beenden kann, markiert zugleich jedoch die Grenze dieser Analogie zwischen ästhetischem und außerästhetischem Spiel. Ein besonders bekanntes, mittlerweile klassisch zu nennendes Beispiel für ästhetische Spielformen stellt die sogenannte Konkrete Poesie der 1950er und 1960er Jahre dar, zu deren Vertretern unter anderem Eugen Gomringer (*1925), Helmut Heißenbüttel (1921-1996), Franz Mon (*1926), im        

Ebd., S. 226. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 36-41. Ebd., S. 40. Agonal deutet Lyotard schließlich auch (ebd., S. 41) das (für das Folgende nicht unwichtige) Moment der spielerischen Innovation als ringenden ‚Kampf‘ gegen den etablierten konventionellen Sprachgebrauch. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 116 f. Ebd., S. 119-122. Vgl. Matuschek: Literarische Spieltheorie. Siehe Anz: Literatur und Lust, S. 33. Vgl. Garbe: Konkrete Poesie. Für einen Überblick siehe Weiss: Konkrete Poesie als Sprachkritik, S. 420-435.

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Weiteren auch Gerhard Rühm (*1930) oder Ernst Jandl (1925–2000) zählen. Eine Vielzahl der textuellen Gebilde der Konkreten Poesie sprechen in ihren seriellen Strukturen und manchmal auch thematisch direkt auf das Spielen an, so etwa Eugen Gomringers als Motto zu meinen Ausführungen gewählte Konstellation ping pong. Aber darüber hinaus lässt sich auch in einem allgemeineren Sinn der sprachreflexive Kontext der Konkreten Poesie als ein programmatisches Spielen mit der Sprache und ein Sprachspiel verstehen, wie sie sich teils selbst auch ausdrücklich so versteht. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, dass gerade die besonders nachdrücklichen ästhetischen Spiele der Konkreten Poesie auch die ethische Problematik des Spiels in besonderer Weise erhellen.

II Wenn das Spiel von einer „tief im Ästhetischen verankerten Eigenart ist“,10 ist darum nach Huizingas Analyse in seiner Studie über den Homo Ludens nicht auch schon die Kunst immer spielerisch. Vielmehr ist nach den Hochzeiten des Spiels in Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts, so Huizinga, ein rasanter Verfall der allgemeinen kulturellen wie auch der ästhetischen „Spielqualität“ festzustellen,11 so dass man in der modernen Gegenwart „das Spielelement“ in der Kunst schließlich „in weiter Ferne suchen“ muss.12 Dieser Verlust des Spielerischen in der Kunst der Gegenwart gründet jedoch nicht nur im vorangegangenen Jahrhundert, in dem sich der Spielsinn allmählich verloren hat, sondern er spiegelt eine aktuelle kulturelle und politische Lage, in der nach Huizinga das Spielerische ‚echter Kultur‘ im Sinne einer „gewisse[n] Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung“ und der „Fähigkeit, in [...] eigenen Tendenzen nicht das Äußerste und Höchste zu sehen“, sowie sich „innerhalb gewisser freiwillig anerkannter Grenzen“ im Respekt vor Vernunft, Menschlichkeit oder Religion zu bewegen, untergegangen ist zugunsten einer allgegenwärtigen, ‚hysterisch erregten‘ Propaganda (nach Huizinga dem Gegenteil allen echten Spiels) und der Bereitschaft „[i]n der Politik unserer Tage“ jede Regel und jede sittliche Norm zu brechen.13 Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftspolitischen Diagnose Huizingas 1938, deren Klarsicht der tatsächliche historische Verlauf der folgenden Jahre bekanntlich in grauenhaftester Weise noch bestätigen und zugleich in unvorstellbarer Weise übertreffen wird, scheint eine gewisse Folgerichtigkeit 10 11 12 13

Huizinga, Homo Ludens, S. 10. „Im neunzehnten Jahrhundert dominiert der Ernst“ (ebd., S. 208). Ebd., S. 218. Ebd., S. 228 f.

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darin zu liegen, dass auf der Suche nach einer kulturellen Neubestimmung und Selbstvergewisserung in der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre auch der Reiz des – in den modernen Avantgarden zuvor schon einmal beheimateten – ästhetischen Spiels wieder entdeckt wird. Und kein Zufall ist es vielleicht auch, dass es ein in Lateinamerika geborener Schweizer Weltbürger ist, Eugen Gomringer, der den Spielbegriff in der Poetik der fünfziger Jahre etabliert, bevor sich ihn die Postmoderne mit wiederum anderen Akzenten zu Eigen machen wird.14 In Eugen Gomringers literarischem Manifest vom vers zur konstellation über „zweck und form einer neuen dichtung“, zuerst 1954 in der Neuen Zürcher Zeitung, dann im ersten Jahrgang der von Max Bense herausgegebenen Zeitschrift Augenblick. Aesthetica, philosophica, polemica 1955 publiziert, ist das ‚Spiel‘ ein Schlüsselbegriff. Seine Bedeutung ist zunächst eine rein innerästhetische. Denn der „große[...] reinigungsprozeß“, den Gomringer der Sprachkunst verordnen will,15 spielt nicht etwa auf eine ‚Reinigung‘ der Sprache von nationalsozialistischer oder anderer Propaganda an, wie sie Dolf Sternbergers Wörterbuch des Unmenschen (1945) oder Viktor Klemperers LTI (1947) intendiert hatten,16 sondern knüpft an eine nach Gomringer von Mallarmé bis Mondrian reichende immanente Selbstläuterungsbewegung der Kunst an, die „die Elemente des Aufbaus neu entdecken ließ“.17 Ihre zeitgenössisch adäquate Form soll jene auf elementare Sprachformen zurückgeführte Konkrete Poesie sein, deren Gestalt Gomringer in seiner Programmschrift vom vers zur konstellation umreißt. Das aus wenigen Worten, möglichst „einfach und überschaubar“ komponierte „neue gedicht“ (ein erstes Heft solcher neuen, von Gomringer mit einem Mallarmés Un coup de dés entlehnten Begriff als ‚Konstellationen‘ bezeichneten Dichtungen war 1953 in der Schweiz dreisprachig erschienen)18 soll ein „denkspiel“ sein: es beschäftigt durch seine kürze und knappheit. es ist memorierbar und als bild einprägsam. es dient dem heutigen menschen durch seinen objektiven spiel-charakter, und der dichter dient ihm durch seine besondere begabung zu dieser spieltätigkeit. er ist der kenner der spiel- und sprachregeln, der erfinder neuer formeln. durch 14 Vgl. Anz: Literatur und Lust, S. 36 ff.; siehe auch Deleuze: Logik des Sinns, S. 83-91: „Vom idealen Spiel“. 15 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 279. 16 Dieses Motiv nennen jedoch ausdrücklich Max Bense und Reinhard Döhl in ihrem Manifest zur lage (1964) und berühren dabei auch das Verhältnis von Ästhetik und Spiel, Ethik und Moral. Zwar bleibe auch der Autor einer neuen „progressiven poesie“ der „gesellschaft verpflichtet: aber an stelle der ethischen verpflichtung tritt die ästhetische moral, an stelle des kategorischen imperativs zählt die ästhetische auseinandersetzung (mit der sprache des unmenschen etwa), an stelle der mitgeteilten fabel gilt das ästhetische spiel.“ (Bense/Döhl: zur lage, S. 167). 17 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 279. 18 Gomringer: konstellationen constellations constellaciones.

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die vorbildlichkeit seiner spielregeln kann das neue gedicht die alltagssprache beeinflussen.19

Das Modell des Spiels, auf das Gomringer seine Poetik des ‚neuen Gedichts‘ damit bringt, ist, wie man diesen Erläuterungen entnehmen kann, gleich mehrfach motiviert.20 Als ‚Denkspiel‘ eingeführt, hebt Gomringer am Modell des Spiels als Vorbild einer ‚neuen Dichtung‘ zunächst den konstruktiv-intellektualistischen Charakter des regelgeleiteten Spielens hervor. Er setzt die intendierte ‚neue Dichtung‘ von einem hergebrachten alten Typ lyrischer, emotionalistischer und individualistischer Ausdrucksästhetik ab, die nur noch „einige eifrige interpreten interessiert“.21 Demgegenüber akzentuiert das ‚neue Gedicht‘ als Denkspiel das Denken, durch das es hervorgebracht worden ist und das die auf eine kleine „gruppe von worten“22 reduzierten und deutungsoffenen konstellativen Gebilde der Konkreten Poesie wiederum auch im Rezipienten anregen sollen. Vor allem aber dient, wie man sehen kann, der Spielbegriff Gomringer dazu, alle drei Instanzen der ästhetischen Situation – Autor, Werk und Leser – zu integrieren und gleichsam miteinander ins Spiel zu bringen. So eignet zunächst dem Gedicht selbst „objektiv[...]“, wie es heißt, als Werk „spiel-charakter“, weil es die Form selbst ist, die ein Spiel, eine mehr oder weniger erkennbar regelgeleitete spielerische Kombination von Wortelementen darstellt. Im Falle der Konstellation ping pong etwa eine aus den Elementen ‚ping‘ und ‚pong‘. Der Autor spielt, weil er – „durch seine besondere begabung“ und als „kenner“ gleich doppelt ausgezeichnet – die vorgefundenen „spiel- und sprachregeln“ auf neue ‚Formeln‘ bringt. D.h., dass er sowohl im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinn eine Verhältnisbestimmung von gegebenen Elementen erfindet, als auch im ästhetischen Sinn eine neue Sprachgestalt form(-)uliert. Schließlich sollen, wie im Weiteren deutlich wird, auch die Lesenden bzw. Betrachtenden des ‚neuen Gedichts‘ spielen, indem sie die in ihm angelegte „spieltätigkeit“ realisieren und mitspielen. „[D]ie konstellation ist eine aufforderung“, fasst Gomringer die ludistische Appellstruktur

19 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 280. 20 Zur hier nicht weiter verfolgten möglichen Nähe zu Wittgensteins Sprachspieltheorie siehe Haas: Sprachtheoretische Grundlagen der Konkreten Poesie, bes. S. 111 ff. und S. 166 ff. Vgl. dagegen aber auch die skeptischen Vorbehalte Thomas Kopfermanns gegenüber einer solchen Applikation des Wittgensteinschen ‚Sprachspiels‘ auf das generell in seiner Aussagekraft von Kopfermann gering eingeschätzte Spielmodell der Konkreten Poesie: Kopfermann: Konkrete Poesie, S. 189. Auch in jüngerer Zeit ist, so weit ich sehe, dem ‚Spiel‘ als Begriff und Metapher in der Poetik der Konkreten Poesie noch nicht besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Einschlägige Stellen lassen sich ermitteln über den entsprechenden Registereintrag in Kopfermanns sehr brauchbarer Quellensammlung: Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie, S. 199. 21 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 278. 22 Ebd., S. 280.

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des ‚neuen Gedichts‘ zusammen,23 in der bereits anklingt, was die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers später im Rückgriff auf Edmund Husserl und Roman Ingarden als Konstituens literarisch-ästhetischer Erfahrung überhaupt entfalten wird und sich dabei ebenfalls am Modell des Spiels orientiert.24 Es könnte nun nahe liegen, die ethische Dimension im Spiel der „konstellationen“ eben in der Integration der drei Instanzen zu sehen, die Autor, Werk und Leser zu gemeinsamen und gleichberechtigten ‚Agenten‘ in diesem Spiel werden lassen – eben so, wie die poetische Form der ‚Konstellation‘ in der Konkreten Poesie auch das einzelne Wort emphatisch emanzipieren will: „wir wollen ihm [...] auch in der verbindung mit anderen worten seine individualität lassen und fügen es deshalb in der art der konstellation zu anderen worten.“25 So spricht Gomringer jedem Wort „absoluten charakter“26 zu, dem auch die praktizierte konsequente Kleinschreibung, jedes Wort gleichberechtigend, typographisch Rechnung trägt. Aber dieses individualistische Ethos der ‚Konstellation‘, das man angesichts einer bekanntlich auch noch in den 1950er Jahren weitgehend autoritär und hierarchisch geprägten Lebens- und auch Literaturwelt hoch veranschlagen muss, wird in Gomringers Manifest bezeichnenderweise ‚nur‘ den Worten, nicht etwa jedoch dem Recht auf individuellen Ausdruck zugebilligt (von dem sich die ‚neue Dichtung‘, siehe oben, ja gerade abwenden will), wie auch Menschen in diesem Manifest nicht als Individuen, sondern als „viele menschen“ erscheinen, deren „zahl sich beträchtlich vermehren wird“27 und die darum einer möglichst effektiven ästhetischen Kommunikation bedürfen. Darüber hinaus spricht gegen eine emanzipatorische Lesart der Poetik Gomringers auch die bemerkenswert herausgehobene Autorfunktion im Ensemble der Instanzen. So zeigt sich in der oben zitierten Passage der „dichter“ sowohl „durch seine besondere begabung“ ausgezeichnet, womit nach alter rhetorischer Tradition der Topos der unverfügbaren ‚natura‘ als Grundlage der ‚inventio‘ aufgenommen ist,28 als auch durch seine besondere Kennerschaft „der spiel- und sprachregeln“ (‚poeta doctus‘!), die nicht nur die Innovationskraft des Autors ausmachen, sondern allein den Einfluss seiner Dichtung auf die „alltagssprache“ garantieren.29 Hierin liegt die offensiv vertretene Absicht Gomringers begründet, „der dichtung“ und mit ihr dem Dichter „wieder eine organische funktion 23 Ebd., S. 282. 24 Iser: Der Akt des Lesens; vgl. zum Moment des Spielens ders.: Das Fiktive und das Imaginäre, Kap. 5, „Textspiel“. 25 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 280. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 277. 28 Vgl. Quintilian: Ausbildung des Redners, S. 12/13 (I, proem., 26 f.). 29 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 280.

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in der gesellschaft zu geben“.30 Dabei wird die alte aufklärerische Maxime vom moralischen Nutzen der Literatur sprachästhetisch umformuliert. Die Dichtung soll „gebrauchsgegenstand“ und als Teil „wirklicher gebrauchsliteratur“ ihren verlorengegangen Sitz im Leben wieder erobern, indem sie sich in die Sprache der Gegenwart „einschaltet“ 31 und auf sie durch „die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen“32 wirkt. Auch wenn darin „der dichter dient“,33 ist dieses erzieherische Ethos von der herausgehobenen Autorität des „Dichters als Führer“ (Max Kommerell) her konzipiert, bleibt auch der ‚dienende‘ Dichter unmissverständlich Spielleiter: „die konstellation wird vom dichter gesetzt. er bestimmt den spielraum, das kräfte feld und deutet seine möglichkeiten an. der leser, der neue leser, nimmt den spielsinn auf und mit sich [...]“34 Der „spielsinn“ soll wohl die eigene eingeschliffene Sprachpraxis des ‚neuen Lesers‘ in Frage stellen, nicht aber die Autorität der vom Autor gesetzten Grenzen des ‚Spielraums‘.

III Es verwundert daher nicht, dass der Begriff der ‚Freiheit‘, der seit Kant und Schiller aufs Engste mit der Idee des Spiels verbunden war,35 in Gomringers ästhetischer Spieltheorie keine Rolle spielt. Der Schein der Freiheit in der ästhetischen Darstellung (Schiller) oder die Freiheit in der ästhetischen Rezeption (Kant) sind für Gomringer keine Werte an sich, sondern sie verschwinden angesichts eines im Rückgriff auf die Poetik Mallarmés behaupteten ‚absoluten‘ Charakters der Konstellation.36 30 Ebd. Damit zeigt sich auch bei Gomringer eine letztlich ethisch begründete Dialektik von Spiel und Gesellschaft, die nach Huizingas Beschreibung das ‚echte‘ Spiel charakterisiert: sich zwar als Spiel vom ‚Ernst‘ des Lebens zu distanzieren, aber zugleich in eine Lebenspraxis eingebettet zu sein, die ihm eine über die selbstbezügliche ‚Spielerei‘ hinausweisende Bedeutung verleiht. Vgl. etwa Huizingas Überlegungen zur Adelsethik: Homo Ludens, S. 75 ff., und vor allem auch die kulturkritischen Passagen in der historischen Musterung der „Kulturen und Perioden ‚sub specie ludi‘“, ebd., S. 189 ff. 31 Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 280. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 281. Vgl. Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Die mit der Frage nach der besonderen ‚Autorität‘ des Dichters berührte und vielleicht zunächst überraschende Wertschätzung Gomringers für Stefan George wäre ein eigenes Thema, siehe hier nur Gomringers Beitrag zur George-Gedenkschrift Kein ding sei, wo das wort gebricht. 35 Dazu Sdun: Der Begriff des Spiels bei Kant und Schiller. Mit weiteren Belegen siehe auch Anz: Literatur und Lust, S. 66-69, vgl. ebd. S. 68: „Vielleicht ist unter den zahllosen Lusterfahrungen der Beseitigung eines unlustvollen Mangels die Befreiung von Zwängen der wichtigste Aspekt der Lust am Spiel wie der Lust an der Literatur.“ 36 „der dichter kann die konstellation auch so ausrichten, dass ihr der leser punkt um punkt

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In einem denkwürdigen Widerspruch hierzu ist es nun gerade die Erfahrung der Freiheit, die einer der frühen faszinierten Leser Gomringers, Helmut Heißenbüttel, im Rückblick auf seine erste Begegnung mit Gomringers ‚Konstellationen‘ in den fünfziger Jahren festhält. In der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Werkausgabe der Konstellationen Eugen Gomringers worte sind schatten (1969) schreibt Heißenbüttel, mittlerweile selbst einer der wichtigen Autoren und Theoretiker Konkreter Poesie, er habe die Konstellationen „als einen Akt der Befreiung [...], einer plötzlichen und unverhofften Befreiung“ von den reaktionären ästhetischen Kräften einer immer noch wirksamen „NS-Kulturdiktatur“ empfunden,37 der vor allem aber „unter der Voraussetzung, daß alles erlaubt ist, daß es keine Regeln, keine Grenzen und keine Verpflichtungen gibt“, die eigene künstlerische Kreativität radikal freisetzte.38 Gomringers Texte hätten Freiheit gerade darin gewährt, dass sie ein „Heraustreten aus den Spielregeln“ ermöglichten und ein Beispiel dafür gaben, dass „es gelingen kann, Spielregeln auszuweichen, indifferent ihnen gegenüber zu bleiben, ohne nun dies Ausweichen, diese Indifferenz gleich wieder zu einem neuen Programm zu machen.“39 Damit verkehren sich die Assoziationen des Spielmodells. Die Regelhaftigkeit des Spiels bürgt nicht mehr für die ästhetische Innovation unter der Leitung des Autors, sondern wird zur Metapher für die zwanghafte Konventionalität der ‚Spielregeln‘ der bürgerlichen Gesellschaft. Bezeichnenderweise beginnen Heißenbüttels den Konstellationen Gomringers vorangestellte Erinnerungen, zunächst scheinbar zusammenhangslos, mit einer Reminiszenz an den Schriftsteller Franz Jung, der für einen „gemäßigte[n], aber unbeirrbare[n] Anarchismus“ eingetreten sei.40 Heißenbüttels im Vergleich zu Gomringer gerade entgegen gesetzter Gebrauch der Spielvorstellung weist damit indirekt auch auf den prekären Status der Freiheit im Spiel, die in diesem zugleich entbunden und geregelt wird.41 Insofern dieses nämlich einerseits von allen gesellschaftlichen Regeln, Normen oder Ansprüchen dispensiert, andererseits – ohne Spielregeln kein Spiel – autoritative Setzung und reguliertes Verhalten innerhalb der Grenzen eines Spielraums zu verlangen scheint. Zweifellos sind die Spielregeln, von denen Heißenbüttel spricht, andere als die, um die es Gomringer geht. Es sind die falschen Regeln

37 38 39 40 41

folgt: er wird dadurch nicht vergewaltigt, denn die konstellation ist das letztmögliche absolute gedicht.“ (Gomringer: vom vers zur konstellation, S. 281). Heißenbüttel: einleitung, S. 13. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 11, vgl. auch S. 16. Dass dies auch einer der Urväter der ästhetischen Spieltheorie, Friedrich Schiller, sehr genau gesehen hat, hat jüngst Jürgen Brokoff noch einmal eindrücklich gezeigt. Brokoff: Die Unvereinbarkeit von Erziehung.

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gesellschaftlicher (und ästhetischer) Konvention, während Gomringers ‚Spiel‘ zunächst einmal auf den werkimmanenten, gesetzten Regeln des ‚spielgebenden‘ Dichters beruht. Aber ebenso offensichtlich ist, dass diese Entgegensetzung keine scharfe ist, und damit ist Heißenbüttels kritischer Gebrauch der Spielmetaphorik auch als eine bewusste Korrektur einiger ‚affirmativer‘ Implikationen der Poetik Gomringers zu verstehen, dessen Werk nämlich, so Heißenbüttel, bei aller Faszination in seiner Reduziertheit das Konflikthafte und die Verzweiflung, kurz: das Leiden ausschließe und stattdessen ganz „dem Spiel und der Heiterkeit, die dem Spiel entspringt“, vertraue.42 Diese bedenkenswerte Kritik, der Heißenbüttel die ‚utopische Kraft‘ der „Positivität dieser Kunst“43 gegenüberstellt, formuliert nicht nur einen zentralen inneren Konflikt der Konkreten Poesie, der an der unterschiedlichen Haltung zum Spiel greifbar wird,44 sondern ist aufschlussreich auch für die Diskussion der kritischen und utopischen Potenz des Spiels selbst und seiner Reichweite als Beschreibungsmodell ästhetischer Erfahrung.

IV Aus den häufigen und häufig eher unspezifischen Verwendungen des Spielbegriffs im Kontext der Konkreten Poesie ragt neben den eben beschriebenen schärfer konturierten Positionen Gomringers und Heißenbüttels schließlich noch Franz Mons Deutung des Spielens hervor, die er in einer theoretischen Skizze über Perspektive (1959/60) vornimmt. Sie führt nicht nur Freiheit und Spiel zusammen, sondern bringt auch noch einmal einen neuen Aspekt am (Sprach-)Spiel zur Geltung: den der ‚Erinnerung‘. Mon zufolge sind ‚Erinnerung‘ und ‚Erwartung‘ Grunddimensionen menschlicher Sprache überhaupt. Ist die Sprache einerseits von einem mehrdeutigen Fond von Erinnerungen bestimmt, die im Laufe der Sprachgeschichte unter anderem als „Bilder und Imperative“ und „geschichtliche Erfahrungen“ in sie eingehen,45 steht ihr seit der Neuzeit das Ideal einer präzisen, mathematisch-technisch bestimmten Sprachform gegenüber, die sich vom Willen zur Beherrschbarkeit der Welt und der „Erwartung einer Zukunft, die nicht von der Erinnerung her dirigiert ist“, herleitet.46 Mon verkennt nicht den „gewaltige[n] ethische[n] Impuls“, der sich in diesem 42 Heißenbüttel: einleitung, S. 20. So auch Eugen Gomringer ausdrücklich: „spiele setzen lust, heiterkeit und bejahung voraus.“ (Gomringer: der dichter und das schweigen, S. 293) 43 Heißenbüttel: einleitung, S. 20. 44 Vgl. dazu Kopfermann: Einführung, S. XL-XLIII. 45 Mon: Perspektive, S. 23. 46 Ebd., S. 24.

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Willen zur Freiheit der sprachlichen Weltgestaltung ausspricht.47 Jedoch muss diese ganz auf „Entwurf, Experiment und Realisation“48 ausgerichtete technisch-rationale Sprache der ‚Erwartung‘ das menschliche Individuum verfehlen, das in einer „existentielle[n] Zeitbewegung“ begriffen ist,49 die durch Vergangenheit und Erinnerungen maßgeblich mitbestimmt bleibt. Wenn nun das moderne Subjekt nach Mons Überzeugung weithin überfordert ist, diese beide Dimensionen: die mathematische und historische, die seiner Sprache und der Sprache überhaupt angemessen zu erfassen, insofern es selbst immer schon in deren divergierenden Wirklichkeiten perspektivisch verstrickt ist, bietet das Sprach-Spiel eine Möglichkeit, diese Sprachrealität „im Modellvollzug zu distanzieren“.50 Denn das experimentelle Spiel, so die hier entscheidende, an der poetischen Praxis der Konkreten Poesie orientierte These, nimmt nicht nur seiner Form nach wesentliche Objektivationen der mathematisch-technischen Welt in sich auf, wie „Rasterung, Spiegelung, statistische Anordnungen“,51 die sich gerade in den seriellen oder visuell-poetischen Gebilden der Konkreten Poesie häufig wiederfinden lassen. Sondern es bringt auch „die Dimension der Erinnerung [...] von sich her mit“.52 Beide Dimensionen der Sprache, die Erinnerung und die Erwartung, werden damit im spielenden Gebrauch der Sprache zusammengeführt. Denn indem das Spiel einerseits das futurische Moment der Freiheit als Experiment mit dem ‚Unerwartet-Erwarteten‘53 aufnimmt, andererseits aber als Sprachspiel dem mitspielenden Subjekt die Möglichkeit eröffnet, sich selbst und seine Sprache, seine Bilder und seine Erinnerungen „in der Arbeit der Negation“ ins Spiel mit einzubringen, eröffnet es zugleich die Möglichkeit, „seine Freiheit“54 neu zu erfinden. Dass die experimentelle Kunst des ästhetischen Spiels dadurch die „zivilisatorische Entfremdung selbst“ keineswegs aufzuheben vermag,55 ist Mon durchaus bewusst. Immerhin aber erhält sie „jene Existenzform des volldimensionierten Subjekts 47 48 49 50

51 52 53 54 55

Ebd. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd., S. 31. An anderer Stelle spricht Mon von der Möglichkeit, „Medien, Strukturen, Phänomene“ der Wirklichkeit, die das Subjekt umfassen, im Spiel in eine „prägnante Verfassung“ zu bringen. Mon: An einer Stelle die Gleichgültigkeit durchbrechen, S. 39. Dass sich hier dann jedoch auch noch der spielende Autor in seinem nach seinen eigenen Regeln geschaffenen Werk als „Geist von seinem Geist“ in seiner „Freiheit“ wiedererkennen kann, das zudem „der gewählten Materie ihre Sprache zurückgibt“ (ebd.), lässt nicht nur fragen, ob damit nicht ein allzu selbstgewisses Spiel einer naiv-idealistischen Ästhetik weitergespielt wird, sondern nährt auch den Verdacht, dass der Spielmetapher, wie schon im Falle Gomringers, eine Tendenz zur Selbstüberschätzung innewohnt. Mon: Perspektive, S 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd.; Hervorh. von mir, J.J. Ebd., S. 32.

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am Leben“ und zeigt damit einer weiterhin entfremdeten Gesellschaft wenigstens in der Analogie „das unerwartete und doch begründete Gesicht der Freiheit, des Spiels, des neuen ‚Ganzen‘“.56

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56 Ebd.

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Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998. Mon, Franz: An einer Stelle die Gleichgültigkeit durchbrechen. In: Ders.: Texte über Texte. Neuwied, Berlin 1970, S. 35-39 [zuerst 1959/60]. Mon, Franz: Perspektive. In: Ders.: Texte über Texte. Neuwied, Berlin 1970, S. 22-32. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Bde. Lat./dt. Übers. u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt ²1998. Sdun, Wilfried: Der Begriff des Spiels bei Kant und Schiller. In: Kant-Studien 57, 1966, S. 500-518. Weiss, Christina: Konkrete Poesie als Sprachkritik. In: Ludwig Fischer (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München, Wien 1986, S. 420-435 [= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 10].

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Lyrik-Parodien: Spielverderberei oder lyrisches Mit-Spiel? Beobachtungen anhand des Spiels mit der ‚Regel‘ Wiederholung A: Der wiederholte Butzemann Altdeutsches Volkslied Es gehen zwei Butzemänner im Reich herum; Mit der kleinen Kilikeia, mit der großen Kumkum. Der eine klimpert um den Brei herum; Bidibum auf der Trum, bidibum, bidibum. Der andre schaut sich nach den Fräulein um; Mit der kleinen Kilikeia, mit der großen Kumkum. Sie drehen sich beide recht artig herum; Bidibum, bidibum. Gute Nacht, Butzemänner, dreht euch weiter um! Mit der kleinen Kilikeia, mit der großen Kumkum. Wer hat dies feine Liedlein gemacht? Es kamen entlang drei Enten den Bach, Die haben dies feine Liedlein erdacht usw.

Diese Parodie Friedrich Schlegels von 1808 lässt sich auf fünf Ausprägungen dessen beziehen, was Johan Huizinga als ‚Spiel‘ bezeichnet. Am offensichtlichsten ist, dass sie auf ein Kinderlied zielt, das noch heute begleitend zu einem Kinderspiel gesungen wird: Es tanzt ein Butzemann In unserm Haus herum di dum, Er rüttelt sich, er schüttelt sich, Er wirft sein Säckchen hinter sich, Es tanzt ein Butzemann In unserm Haus herum.  



In: Schlegel: Kritische Ausgabe 1.5, S. 3. Ich beziehe mich auf die berühmten Definitionen in Huizinga: Homo ludens, S. 20 und 34. „Bei Huizinga bleibt allerdings die Perspektive weitgehend auf den Autor beschränkt. Welchen Status der Leser oder Zuhörer hat, ist unklar. Den eines aktiven Mitspielers?“ (Anz: Literatur als Spiel, S. 46) Arnim/Brentano: Wunderhorn 3, S. 297.

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So steht es in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, und zwar in der letzten Abteilung, den Kinderliedern (1808). Doch gibt es in den Alten deutschen Liedern tatsächlich auch einen zweiten „Butzemann“, auf den Schlegel explizit anspielt, nämlich im Kriegslied gegen Karl V.: Es geht ein Butzemann im Reich herum, Didum, Didum, Bidi, Bidi, Bum! Der Kaiser schlägt die Trumm Mit Händen und mit Füßen, Mit Säbeln und mit Spießen! Didum, Didum, Didum.

Es handelt sich um ein Trommellied; die zitierten Verse werden refrainartig wiederholt, um den Trommelschlag anzuzeigen. Welches der beiden Lieder Vorlage für das andere war, ist unklar. Klar scheint mir aber, dass sich Schlegels Parodie sowohl auf ‚altdeutsche Volkslieder‘ im Allgemeinen, als auch auf ‚Kinderlieder‘ im Besonderen bezieht. Veröffentlicht hat er sie allerdings in einer Reihe von fingierten ‚Proben neuerer Poesie‘. Damit ist richtig erfasst, dass die Herausgeber des Wunderhorns, Achim von Arnim und Clemens Brentano, einerseits viele Lieder um- und weiterdichteten, andererseits den Wunderhorn-‚Ton‘ als vorbildlich auch für neuere Lyrik empfanden, nicht zuletzt für ihre eigene. Die vier Spiel-Ebenen, auf die die Parodie anspielt, sind also: (1) Kinderspiele, (2) Kinderlieder, (3) ‚Volkspoesie‘ und (4) eine bestimmte ‚Kunstpoesie‘, die ‚spielerisch‘ an (2) und (3) anschließt. Aber auch (5) die Parodie selbst lässt sich als Spiel betrachten. Literarischen Parodien ist nämlich, Alfred Liede zufolge, „bloß das bewußte Spiel mit einem (möglicherweise auch nur fingierten) literarischen Werk gemeinsam“. Verbreiteter als Liedes bewusst weit gefasste Definition ist allerdings ein Verständnis der Parodie, das besonders dezidiert Theodor Verweyen und Gunther Witting vertreten: Eine literarische Parodie sei „das Resultat einer bestimmten Textverarbeitungsstrategie […], das im Unterschied zu anderen Adaptionsformen gegen die verwendete Vorlage gerichtet ist, d. h. ihrer Herabsetzung dient.“ Doch auch unter diesem Vorzeichen wäre die Charakterisierung als Spiel noch immer sinnvoll, nämlich im Sinne eines Wettkampfs. So formuliert Hans Magnus Enzensberger: „Durch Nachahmen bloßstellen – warum nicht?    



Ebd., S. 89. Siehe Fußnote 1 (meine Hervorhebung, R.S.). Liede: Art. Parodie, S. 320 (Hervorheb. im Orig.). Verweyen/Witting: Nachwort, S. 311. Ausführlich begründet in: Verweyen/Witting: Die Parodie. Etwas zurückhaltender sprechen sie in der dritten Auflage des Reallexikons (Bd. 3, 2003) von einem „Verfahren distanzierender Imitation von Merkmalen eines Einzelwerks, einer Werkgruppe oder ihres Stils“ (S. 23). Vgl. Huizinga: Homo ludens, S. 55 ff.

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Die Frage ist, wer dabei die Oberhand gewinnt, der Parodist oder der Pa­ rodierte.“ Was aber, wenn Parodisten eher „Spielverderber“ sind?10 Selbst dies wäre durch Liedes erweiterten Spielbegriff gedeckt: „Es gibt in der Unsinnspoesie eine Freiheit des Spiels, die keine Regeln und Grenzen mehr anerkennt, die ‚Spielverderberin‘ ist gegenüber dem Spiel der Dichtung und kaum mehr eine Spielwelt mit festen Regeln aufbaut oder höchstens insofern, als sie Regellosigkeit des Spiels fordert“.11 Tatsächlich aber betonen auch ostentative ‚Spielverderber‘ wie der Parodist Robert Neumann ihre imitierende Bezugnahme auf die zu ‚verderbenden‘ Regeln.12 Meiner Meinung nach bieten Parodien deshalb einen geeigneten Ansatzpunkt, wenn man diese impliziten ‚Regeln‘ explizit machen will. Besonders deutlich wird dies, wenn sich eine Parodie nicht auf einen Einzeltext, sondern eine Textgruppe bezieht, z.B. auf das Œuvre einer Lyrikerin, auf eine literarische Strömung oder eine Textsorte. Wollte man mit Hilfe der Parodie etwas über deren Regeln erfahren, könnte man nämlich den Weg umkehren, den Theodor Verweyen und Gunther Witting modellhaft für die Verfertigung einer „Textklassenparodie“ skizziert haben. Sie schlagen vor, die Textklassenparodie als Resultat einer doppelten Operation zu beschreiben:

1) Umsetzung aus der ‚Linearität‘ (der Einzeltexte) in die ‚Zirkularität‘, d.h. daß ein set von Regeln für typische Verfahren der primären (sprachlichen) wie der sekundären Strukturierung aufzustellen ist, ebenso eine ‚Liste mit den besonderen lexikalischen und thematischen Präferenzen und den sich in den Einzeltexten manifestierenden spezifischen Einstellungen. 2) Umsetzung aus der ‚Zirkularität‘ in die ‚Linearität‘, d. h. Anwendung dieser Regelmenge zur Herstellung eines neuen Einzeltexts, eben jener Textklassenparodie. Dabei sind einmal, um die notwendige partielle Identität zu erreichen, einzelne Regeln zu befolgen; andererseits muß ein bewußter Regelverstoß vorliegen, damit gleichzeitig die gleichfalls notwendig Diskrepanz entsteht. Dabei kann man […] wohl im allgemeinen davon ausgehen, daß bei solchen Umsetzungsprozessen das Ergebnis von 1) lediglich als ‚Bewußtseinsresultat‘ vorliegt und nur durch 2) zu erschließen ist.13

So nutzt der Volkskundler und Germanist Hermann Bausinger Schlegels Altdeutsches Volkslied in seinem Standardwerk Formen der Volkspoesie, um ‚Re 10 11 12

Enzensberger: Wasserzeichen, S. 13. Vgl. Huizinga: Homo ludens, S. 18 f. Liede: Dichtung als Spiel, S. 25. „Parodie ist Nachahmung mit Polemik gegen den Nachgeahmten“ (zit. n. Verweyen/Witting: Die Parodie, S. 109). „Ein Vorbild soll mit seinen eigenen Mitteln geschlagen werden“ (ebd., S. 187). 13 Ebd., Die Parodie, S. 84. Der Begriff ‚Zirkularität‘ scheint mir allerdings etwas missverständlich und sollte vielleicht durch ‚Paradigma‘ ersetzt werden.

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geln‘ (nicht nur der „Butzemann“-Lieder, sondern) 14 des Volkslieds herauszuarbeiten. Eine davon ist die ‚Wiederholung‘: Die ermüdend wiederholten Klangmalereien, die vielleicht auch ganz speziell die romantische Dichtung Brentanos aufs Korn nehmen, wecken Assoziationen, aber führen sie ins Leere. […] [J]edoch werden hinter der Karikatur die positiven Möglichkeiten der Wiederholung sichtbar, die als Gegenprinzip der Variabilität fungiert und zugleich die Fragmente nicht auseinander fallen läßt. Zu den Elementen der Wiederholung gehört die erstaunliche Konstanz von Motiven und Motivverknüpfungen […], gehören stereotype Wendungen. […] Der Kehrreim, der zum Teil auf den Wechselgesang zwischen Vorsänger und Chor zurückgeht, potenziert das Prinzip der Wiederholung.15

Die Parodie verdeutlicht also nicht nur die Regel ‚Wiederholung‘, sie bietet auch einen Ansatz, deren Funktion und Wirkung zu thematisieren. Derart werden Parodien jedoch höchst selten heuristisch fruchtbar gemacht. Das dürfte mit der schon angesprochenen Einschränkung auf ihre aggressive Spielart zusammenhängen: Wenn man eine Parodie überhaupt im Verhältnis zu ihrer Vorlage würdigt, belässt man es in der Regel dabei, einen „Angriff“ zu konstatieren und klassifiziert diesen allenfalls als „seriös“ oder „trivial“.16 Damit tritt tendenziell der ‚inhaltliche‘ Aspekt des parodierten Textes in den Vordergrund; welche ‚Regeln‘ sie angreift, interessiert weniger. Nun ließe sich mein Vorschlag, Parodien zum Ausgangspunkt für die Interpretation ihrer Vorlagen zu machen, sicherlich auch formulieren und erproben, ohne auf das Modell des Spiels zurückzugreifen. Doch scheint mir dieses Modell geeignet, den oft behaupteten kategorialen Unterschied zwischen ‚originellen‘ bzw. ‚seriösen‘ Vorlagen einerseits und ‚parasitären‘ bzw. ‚trivialen‘ Parodien andererseits zu relativieren, ohne dass man sich gleich in den Schutz einer Großtheorie begeben müsste.17 In diesem Sinne sollen nun Lyrikparodien vorgestellt werden, die, wie Schlegels Altdeutsches Volkslied, vor allem die Regel der Wiederholung aufgreifen. Sie wurde aus der Fülle möglicher ‚Regeln‘, auf die sich Parodien konzentrieren (denkbar wären z.B. auch Hyperbel, Hypo- oder Parataxe), deshalb ausgewählt, weil Wiederholung nicht nur typisch für ‚Volkspoesie‘ und sich darauf beziehende ‚Kunstpoesie‘ ist – sie ist, Huizinga zufolge, generell „eine der wesentlichen Eigenschaften des Spiels. Sie gilt nicht allein vom Spiel als ganzem, sondern auch von seinem inneren Aufbau. In beinahe allen hö14 Das ist schon deshalb einleuchtend, weil die letzte Strophe nichts mit diesen Liedern zu tun hat. Bei ihr setzt Bausinger denn auch an. 15 Bausinger: „Volkspoesie“, S. 269 f. 16 Z.B. Freund: Parodie, bes. S. 16. 17 Ich denke hier insbesondere an das Konzept der russischen Formalisten von einer ‚progressiven Parodie‘ (vgl. Striedter: Formalismus) und an Gérard Genettes System der „Hypertextualität“ (Genette: Palimpseste).

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her entwickelten Spielformen bilden die Elemente der Wiederholung, des Refrains, der Abwechslung in der Reihenfolge so etwas wie Kette und Einschlag.“18 Und dies gilt in besonderer Weise für das ‚Spiel‘ der Parodie im Verhältnis zum parodierten Text: Jede Parodie ‚wiederholt‘ Elemente ihrer Vorlage. Doch auch textintern ist in Parodien der exzessive Gebrauch von Wiederholungen auffallend häufig, und zwar selbst dann, wenn er in der Vorlage sehr viel weniger oder auch überhaupt nicht betrieben wird. Dies geschieht typischerweise in ‚kritischen Parodien‘.19 Exzessive Wiederholung scheint mir nämlich ein besonders geeignetes Mittel zu sein, die jeweilige Vorlage als (a) ‚kindisch‘, (b) ‚geistesschwach‘ oder (c) ‚mechanisch produziert‘ zu denunzieren – drei der beliebtesten Unterstellungen kritischer Parodien überhaupt. Dies wird im Folgenden an einigen Beispielen belegt. Zu zeigen sein wird auch, dass sich die Polemik besonders im Fall (a) und (c) noch steigern lässt durch die mehr oder weniger explizite Bezugnahme auf das ‚Motiv‘ des Spielens. Dies suggeriert, die Verfertigung der kritisierten Poesie sei ‚nur ein Kinderspiel‘, und zwar im doppelten Sinn: ‚spielend einfach‘ und ‚bloße Spielerei‘. Nur andeuten lässt sich in diesem Rahmen, dass die eben angeführten Tendenzen nicht nur polemisch unterstellt werden, sondern oft genug in den parodierten Vorlagen tatsächlich eine Rolle spielen, allerdings unter positivem Vorzeichen: Die parodierte Lyrik will ‚kindlich‘ oder ‚irrational‘ (‚a-logisch‘, ‚assoziativ‘) sein, mit Versatzstücken spielen oder ein individu18 Huizinga: Homo ludens, S. 179. 19 Ich übernehme diesen Terminus von Alfred Liede, der folgende Binnendifferenzierung der Parodie vornimmt: Die „artistische Parodie“ richtet sich nicht gegen die Vorlage, sondern ahmt sie „im Scherz oder Ernst“ möglichst täuschend nach. „Die kritische Parodie greift das Original an und will es zerstören. Ihr letztes Ziel ist die vollendete Polemik und Satire; die Ähnlichkeit mit dem Original nimmt also bei steigender künstlerischer Qualität ab. Für die agitatorische Parodie dagegen ist die umformende Benützung einer Dichtung ein wirksames Mittel der Propaganda“ (Liede: Art. Parodie, S. 322). Ähnlich wie Wende differenziert Gérard Genette zwischen den ‚Registern‘ ‚satirisch‘, ‚spielerisch‘ und ‚ernst‘, verdoppelt das triadische Modell aber durch die m.E. problematische Zusatzunterscheidung von ‚Transformation‘ und ‚Nachahmung‘. Insgesamt ist sein Begriff der „Hypertextualität“ sehr viel umfassender als Liedes Parodie-Begriff (Genette: Palimpseste). Liedes Dreiteilung findet sich leicht modifiziert bei Waltraud Wende, die zwischen ‚trivialer‘, ‚textkritischer‘ und ‚instrumentaler‘ Parodie unterscheidet (Wende: Goethe-Parodien, S. 79 ff.). Den Begriff ‚trivial‘ finde ich etwas irreführend, den Begriff der ‚agitatorischen‘ bzw. ‚instrumentalen‘ Parodie würde ich in Anlehnung an Verweyen und Witting durch ‚Kontrafaktur‘ ersetzen (Verweyen/Witting: Die Parodie, S. 135-152). Allerdings sehen die beiden in der Kontrafaktur eine eigenständige Textsorte (bzw. Textverarbeitungsstrategie) ‚neben‘ der Parodie; diese ist bei ihnen im Grunde mit der ‚(text)kritischen‘ Parodie identisch. Auch die ‚artistische‘ Parodie verstehen die Autoren als eigenständige Textsorte: als ‚Pastiche‘ (ebd., S. 154 f.). Meiner Meinung nach sind jedoch die historischen und systematischen Gemeinsamkeiten der drei Sorten von ‚Sekundärtexten‘ so bedeutsam, dass ich es mit Liede und Wende für heuristisch sinnvoll halte, sie als Ausprägungen ‚eines‘ Grundtypus zu beschreiben.

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alistisches Lyrik-Verständnis in Frage stellen – nicht ‚Spielerei‘ also, doch ‚Spiel‘ im emphatischen Sinne. Außerdem soll im Folgenden gezeigt werden, dass in der literarischen Moderne (und damit auch in jener Epoche, in der Huizingas Buch entsteht)20 das literarische Spiel unter den genannten Vorzeichen derart aufgewertet wird, dass sich Lyrik und Lyrikparodien stark annähern können – manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit.21 Mit anderen Worten: Der ‚Spielverderber‘ (wenn er denn je einer war) wird zum ‚Mitspieler‘. Mit Beispielen hierfür schließen die beiden folgenden Kapitel ab. Das erste widmet sich schwerpunktmäßig der Textsorte anakreontischer Lyrik und der Wiederholung von Identischem, das zweite der Textsorte Sonett und der Wiederholung von Klangähnlichem, was hier vor allem bedeutet: dem Reim.22

B: „Nehmet Wein und Liebe, / Nehmet Lieb’ und Wein“ Was Henker soll ich machen, Daß ich ein Dichter werde? Gedankenleere Prose In ungereimten Zeilen, In Dreyquerfingerzeilen, Von Mädchen und von Weine, Von Weine und von Mädchen, Von Trinken und von Küssen, Von Küssen und von Trinken, Und wieder Wein und Mädchen, Und wieder Kuß und Trinken, Und lauter Wein und Mädchen Und lauter Kuß und Trinken, Und nichts als Wein und Mädchen Und nichts als Kuß und Trinken, Und immer so gekindert, Will ich halbschlafend schreiben. Das heißen unsere Zeiten Anakreontisch dichten.

Der Mathematiker und aufklärerische Epigrammatiker Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800) nutzt die ‚Regel‘ der Wiederholung im Scfhlussteil seiner (etwa dreimal so langen) Anakreontische[n] Ode in auffälliger Weise.23 Bei der Beschreibung könnte man auf Termini der Figurenlehre zurückgreifen, etwa Anapher, Epipher, Chiasmus, Polysyndeton. Allerdings haben die so 20 Er beruft sich namentlich auf Valéry (vgl. Huizinga: Homo ludens, S. 130). 21 Siehe dazu auch Rotermund: Parodie. 22 Dies ist allerdings nur eine grobe Unterscheidung: Es wird auch um Reime in der Anakreontik und um Wortwiederholungen in Sonetten gehen. 23 Kästner: Anakreontische Ode, S. 13 f.

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bezeichneten Figuren in der traditionellen Rhetorik dienende Funktion; mit ihrer Hilfe soll eine gedankliche Struktur abgebildet oder doch zumindest eine Überredungsabsicht affektiv unterstützt werden. Kästners Gedicht dagegen betont ausdrücklich, dass eben dies hier nicht geschieht: Das anakreontische Spiel mit einem beschränkten Motivreservoir geschieht „gedankenleer“ und „halbschlafend“, es ist ein ‚Kindern‘, eine Kinderei. Diese Vorwürfe werden in einem Schreiben an den Herausgeber „des Neuesten aus dem Reiche des Witzes“ variiert. „M.H. haben Sie wohl jemals gehört, daß die Gabe anakreontisch zu dichten ansteckt wie die Elektricität oder wie die Pest?“ fragt der Parodist einleitend und fährt fort: Er selbst habe beim Lesen einer anakreontischen Ode in der Zeitung das Bedürfnis gespürt, eine neue zu verfertigen: Sie glauben nicht, M. H., wie leicht mir diese anakreontische Ode geworden ist. Ich dächte, unsere anakreontischen Dichter könnten ihrer in einem Jahr mehr machen als ein Nürnberger Künstler Stecknadeln oder Glaskorallen. Aber ich sehe auch mit Betrübnis, daß mancher vortreffliche Kopf, der ein großer Anakreonte werden würde, aus Mangel des Unterrichts zurück bleibt. Letztens hörte ich beim Spazierengehen ein Paar Kinder folgendes Lied singen: Guckt er nicht raus, guckt sie doch raus, Guckt sie nicht raus, guckt er doch raus. B.A.[24] Glauben Sie nicht, M. H., daß der glückliche Dichter dieses Liedes einen vortrefflichen Ansatz zu einem anakreontischen Dichter gehabt hat? 25

Für den Aufklärer Kästner genügt schon der bloße Hinweis auf kindischen Singsang, um die Anakreontik als Dichtung zu diskreditieren. Ihre ‚Regel‘ Wiederholung ermöglicht zwar, so sein Vorwurf, deutliche Wiedererkennbarkeit und mühelose Reproduzierbarkeit, suspendiert aber Ideale wie Originalität, Innovation, gedankliche Klarheit und überhaupt bewusste Formung. Diese Postulate sind nicht nur ex negativo erschließbar, sondern werden zu Beginn der Parodie am Beispiel der vorbildlichen Dichter Haller, Hagedorn, Schlegel, Gellert, Bodmer, Breitinger und Lessing vor Augen geführt. Besonders hervorgehoben – und freilich umgehend in den Dienst des ‚prodesse‘ gestellt – wird Klopstock: Ich kann nicht, kühn wie Klopstock, In prächt’gen neuen Tönen, Die Mädchen ernsten Tiefsinn, Die Stutzer Andacht lehren.26

Nimmt man also Kästners anakreontische Ode und den Bericht an den Herausgeber zusammen, so finden sich hier sogar recht explizit alle drei 24 Meine Bemühungen, diese Abkürzung aufzulösen, waren leider erfolglos. Sehr dankbar wäre ich für Hinweise an [email protected]. 25 Kästner: Anakreontische Ode, S. 12, Anm.1. 26 Ebd., S. 12.

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Vorwürfe, die, wie eingangs behauptet, häufig die Tendenz kritischer Pa­ rodien sind und besonders häufig über die Hypertrophierung der ‚Regel‘ Parodie transportiert werden: ‚Kindisch‘, ,geistesschwach‘ und ‚mechanisch produziert‘ soll anakreontische Lyrik sein, was in diesem Fall vor allem heißt: nutzlos. Etwas impliziter findet sich Ähnliches in Peter Wilhelm Henslers Rezept zu einem anakreontischen Liede Nehmet Wein und Liebe, Nehmet Lieb’ und Wein, Mischet etwas süße Triebe, Etwas Rebenblut hinein; Noch ein Teilchen Rosenwangen, Lockig Haar und Äugelein Voll von zärtlichem Verlangen, Etwas Dampf von Chierwein, Auch nach Notdurft volle Becher, Rührt es wohl mit Pfeil und Köcher, Siebt’s durch Amors Augentuch, Bis die Dosis stark genug. Backet es mit Liebesflammen Fein in einen Teig zusammen, Machet Männerchen daraus, Von Gestalt wie Amoretten, Wohlversehn mit Blumenketten, Und dem schönsten Rosenstrauß. Dann die allerliebsten Herrchen Nur nach Leipzig hingesandt! Mit den Äpfeln, mit den Lerchen, Überschwemmen dann die Närrchen Unser deutsches Vaterland.27

Der Eindruck des ‚Kindischen‘ wird vor allem durch die vielen Diminutive („Männerchen“!) erweckt und verbindet sich in dem Ausdruck „Närrchen“ mit dem des Verrückten; der Vorwurf der beliebigen Reproduzierbarkeit ist bereits in der Überschrift mit dem Stichwort „Rezept“ angesprochen. Da dieses Stichwort aber bereits semantisch ‚Wiederholung‘ evoziert, kann Hensler diese ‚Regel‘ etwas zurückhaltender einsetzen und dafür die Topoi bzw. „Zutaten“ anakreontischer Lyrik etwas ausführlicher nennen als Kästner. Dennoch wird Wiederholung hier auch in der Binnenstruktur wirksam, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen verfahren die ersten beiden Verse, die gewissermaßen den „Ton“ angeben, genau wie die analysierten Verse Kästners. Zum anderen wird in dieser Parodie vorgeführt, dass anakreontische Lyrik, auch wenn sie sich des Reimes bedient, „Prose“ vermeidet, doch keineswegs ‚Gedankenleere‘. Vielmehr haben wir es 27 In: Verweyen/Witting: Lyrikparodien, S. 30.

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nun mit ‚gedankenleeren Reimen‘ zu tun: Auf den anakreontischen Topos „Wein“, reimen sich die nicht weniger topischen „Äugelein“, dazwischen steht das belanglose „hinein“, und schließlich noch einmal „(Chier)wein“.28 Ein weiteres anakreontisches Versatzstück sind „Lerchen“. Die artistischen Reime, die Hensler für dieses Wort findet, verbinden sich mit der Strategie des Lächerlichmachens durch Diminutive. Nun wäre – im Sinne meines Vorschlags, Parodien als Interpretationshilfen zu benutzen – anhand einer repräsentativen Auswahl anakreontischer Lyrik zu diskutieren, welchen Stellenwert und welche Funktionen die Wiederholung in anakreontischer Lyrik hatte. Hier kann ich lediglich Hinweise geben. Zunächst ein Zitat von Wolfgang Braungart, das ganz auf der Linie Kästners und Henslers zu liegen scheint: „Man muß nur ein gutes Dutzend der anakreontischen Gedichte Gleims und seines Freundeskreises lesen, dann wird unmittelbar erfahrbar, wie sehr ein ästhetisches Paradigma ausgereizt ist. Die ästhetische Produktion stagniert, dreht sich im Kreis, dreht sich nur um ‚Wein, Weib, Gesang.‘“29 Immerhin lässt die Formulierung „ausgereizt“ die Frage zu, welchen Reiz denn die anakreontische ‚Wiederholung‘ zunächst hatte. Die Anakreontik ‚wiederholte‘ ja einerseits Grundtopoi der Bukolik und erneuerte sie nach dem Muster der so genannten Anakreonteen, reimlosen, unstrophischen Oden aus dem Hellenismus, die man dem Dichter Anakreon aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. zuschrieb. Innovativ wirkten der teilweise Verzicht auf Reim und feste Strophenform. Die Frage wäre, ob sich Kästners Vorwürfe nicht auch positiv wenden lassen: Ermöglicht es vielleicht gerade die Wiederholung weniger Signalwörter, das delectare besonders genussvoll gegen das prod­esse ‚ausspielen‘? Und gehört dazu vielleicht ein Duktus, der gesellige Improvisation evoziert und damit Dichtung als unterhaltsames Spiel inszeniert, offen für jedermann? Dass sich die anakreontische Freude an der Wiederholung auch unter positivem Vorzeichen verstehen lässt, bezeugt jedenfalls Goethes Epigramm Anakreons Grab: Es lässt anakreontische Lieblingsbilder Revue passieren und ordnet sie in vertrauter Weise anaphorisch: Wo die Rose hier blüht, Wo Reben um Lorbeer sich schlingen, Wo das Turtelchen lockt, Wo sich das Grillchen ergötzt

Doch auch ohne metrische Spezialkenntnisse dürfte man erkennen, dass es sich hier um ein von mir typographisch manipuliertes Distichon handelt. Der Eingriff sollte deutlich machen, dass Goethes Gedicht eingangs 28 Von der Insel Chios vor Kleinasien, der Heimat Anakreons. 29 Braungart: Das Ur-Ei, S. 72.

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Strukturen anakreontischer Lyrik evoziert,30 um sie im zweiten Distichon in eine komplexe Satzstruktur zu überführen, die der anspruchsvolleren metrischen Struktur entspricht: Wo die Rose hier blüht, wo Reben um Lorbeer sich schlingen, Wo das Turtelchen lockt, wo sich das Grillchen ergötzt

Welch ein Grab ist hier das alle Götter mit Leben Reich bepflanzt und geziert? Es ist Anakreons Ruh.

Im letzten Distichon wird mit den Begriffen „Grab“ und „Winter“ das vorgeführt, was anakreontische Lyrik programmatisch auslässt: Frühling, Sommer und Herbst genoß der glückliche Dichter

Vor dem Winter hat ihn endlich der Hügel geschützt.31

Das Gedicht entstand um 1785,32 also rund 10 Jahre nach den Parodien von Kästner und Hensler, und lässt sich nicht nur als Huldigung an den tatsächlichen Anakreon verstehen, sondern auch als liebevoller Rückblick auf eine lyrische Periode, deren spielerische Leichtigkeit und innovatives Potenzial er bekanntlich höher schätzte als die beiden Aufklärer. Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich ins 20. Jahrhundert springen, um ein Beispiel für die eingangs behauptete Wichtigkeit parodie-analoger Verfahren in der modernen Lyrik anzuführen. Es gibt nämlich eine Erinnerung von Oskar Pastior, die frappant an Kästners Bericht vom Singsang der Kinder erinnert: Mein erstes Gedicht bestand aus drei Wörtern und hatte den Vorzug, daß ich es mir ohne Zeitnot, notfalls stundenlang, aufsagen, genauer gesagt, zubrummen konnte. Es ging so: Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht, Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht… und so fort. […] Daß es ein Gedicht war, stand außer Frage. Daß es mein Gedicht war, oder ist, im Sinne von Verfügbarkeit, kann ich vermuten, weil ich es nach gut 45 Jahren memoriere.33

Anders als bei Kästner jedoch wird die Struktur des erinnerten Gedichtes nicht verwendet, um ‚gedankenleere‘ Gegenwartslyrik lächerlich zu machen, sondern um Poesie hervorzubringen, die sinnvoll-unsinnig mit dem vorgegebenen Sprachmaterial weiterspielt. Jalusien aufgemacht, Jalusien zugemacht. Jaluzien aufgerauft, Zuluzien raufgezut. Luluzien zugemault, Zulustoßen zugemault.

30 Dieser ‚Anklang‘ scheint mir so verhalten zu sein, dass ich das Gedicht insgesamt nicht als Pa­ rodie verstehen würde, wohl aber als „Metalyrik“ im Sinne von Eva Müller-Zettelmann: „Metalyrisch sind binnenfiktionale, selbstreferentiell auf (lyrische) literarische Texte, im weiteren Sinn auch auf Kunst allgemein bezogene Elemente eines lyrischen Texts, die in explizit-diskursiver oder implizit-inszenierender Weise den ‚fictio‘- und oder ‚fictum‘-Aspekt der Fiktionalität literarischer Werke in besonderer Weise zu Bewußtsein bringen“ (Zettelmann: Metalyrik, S. 180). 31 Goethe: MA 2.1, S. 101. 32 Vgl. den Kommentar ebd., S. 603. 33 Zit. n. Hörner/Kapfer: Alles Lalula, S. 7 f.

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Maulusinen angenehm, Aulusinen zugenehm. Zufaliden aftamat, Infaliden aftamat. AFluminiom zugesaut, Aluflorion zugebart.34

Das Gedicht wiederholt die grammatische Struktur des Ausgangsverses – ‚Substantiv plus Partizip oder Adjektiv, Substantiv plus Partizip oder Adjektiv‘–, unterstützt durch die Länge der Wörter: ‚vier Silben plus zwei Silben, vier Silben plus zwei Silben‘. Das Komma trennt zudem zwei auftaktlose alternierende Vierheber, die betont enden. Diese starre Struktur wird allerdings zwischen dem fünften und sechsten Vers ein wenig aufgeweicht durch die Voranstellung des „A-“ und die Fünfsilbigkeit von „Aluflorion“; letztere ließe sich immerhin beim Vortrag relativieren, wenn man das „i“ zu einem „j“ verschleifen würde. So klar sich die formale Weiterführung des Anfangsverses beschreiben lässt, so unklar ist die Semantik: Zwar tauchen mitunter lexikalisch bestimmbare Wörter wie „angenehm“ und „zugesaut“ auf, doch schon ihre Pendants „zugenehm“ und „zugebart“ lassen erkennen, dass sich hier ein Prinzip des ersten Verses assoziativ-sprachschöpferisch – „halbschlafend“, um mit Kästner zu sprechen – verselbstständigt hat: die Dialektik von Wiederholung und Kontrastierung, letztere allein bewirkt durch die Ersetzung der Vorsilbe „auf“ durch „zu“. Wie raffiniert Pastior diese Struktur allein in den ersten sechs Versen variiert, kann hier nicht im Einzelnen vorgeführt und noch weniger für den Rest des Gedichtes analysiert werden. Es sei nur darauf hingewiesen, wie er „Jalusien“ in „Jaluzien“ verwandelt, um damit ein Substantiv kontrastieren zu können, das auf „-stoßen“ endet. Das so entstandene Wortmaterial ist denotativ schwer festzulegen, doch grammatisch zumeist bestimmbar (mit Ausnahme von „aftamat“) und reich an Konnotationen: Sind „Luluzien“ vielleicht Blumen, „Fluminiom“ und „Aluflorion“ chemische Elemente? Nicht von ungefähr erinnern solche Worte an die unbekümmerten Sprachschöpfungen von Kindern – und oft hat man den Eindruck, ein Kind könnte einem die Bedeutung vielleicht doch erklären.35 So hat Pastior in Erinnerung an einen Kindervers dasselbe getan wie Kästner, nämlich wiederholend und variierend „gekindert“. Nur eben im Sinne Huizingas: „Um Dichtung zu verstehen, muß man fähig sein, die Seele des Kindes anzuziehen wie ein Zauberhemd und die Weisheit des Kindes der des Mannes vorzuziehen“.36 Dennoch fehlt auch in diesem Gedicht nicht der Aspekt des ‚mechanisch Produzierten‘: „aftamat“ dürfte 34 Pastior: Werkausgabe, S. 184. 35 Die absolute Autorität in solchen Fragen ist und bleibt aber Humpty Dumpty: erstens aufgrund seines Namens, zweitens, weil er einem Kinderreim entsprungen ist, und drittens, weil er in Lewis Carrolls Through the Looking Glass das Gedicht Jabberwocky auslegt (Caroll: Works, S. 185 ff.). 36 Huizinga: Homo ludens, S. 118.

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auf das russische „avtomat“ hinweisen, was nichts anderes heißt als „Automat“…

C: Ein „Sonett wiederlallen“? Orlando sprach: der erste Reim sey: knarren!

Pseud’Isodorus drauf versetzte: knurren! Und Sirius fuhr fort: Ich wähle: schnurren! Das erste Glied, schließ ich, schloß Faust mit Karren.

So beginnt ein Sonett mit dem Titel Aufgabe der Endreime zu einem vierfachen Sonett. Es findet sich in einem Buch mit dem Titel Der Karfunkel oder Klingklingel-Almanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker, erschienen im Jahre 1809 und gemeinsam verfasst von dem klassizistischen dänischen Dichter Jens Immanuel Baggensen (alias „Faust der jüngere“), dem Kritiker Alois Schreiber („Sirius“), dem Philologen Otto Martens („Orlando Furioso“) und dem Professor Heinrich Voss (Pseudo-Isodorus); letzterer ein Sohn des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voss, dessen polemisch-parodistischen Angriffe auf das Sonett hier Schützenhilfe erhalten.37 Der Rest des Gedichtes lautet: Das zweite fang’ ich an, sprach Or- mit Farren; Und Pseud’–: ich füge jetzt zu diesen: murren; Drauf Si– wenn’s euch gefällt, beliebt mir: purren. Das zweyte Glied schloß Faust, schließ ich mit: Narren. Der erste Zwilling jetzt zum Steiß sey: Knorren! Sprach Or– und Pseud’– es sey der zweyte: zerren! Der dritte, raunte leise Si–, sey: Irren! Des ersten Bruder sey, rief Or–: verworren! Des zweyten, sagte Pseudo–, heiße: plärren! Und ich, schloß Faust, will enden jetzt mit: Klirren. 38

Die vier greifen in polemischer Absicht eine Praxis auf, die (nicht nur) im Zusammenhang mit Sonetten durchaus beliebt und dereinst auch hochgeachtet war: die aus Frankreich kommende Mode der bout-rimés der ‚aufgegebenen Endreime‘.39 Freilich gehörte dieses lyrische Spiel vor allem in einen Kontext, in dem man Dichtung als unterhaltsam-gesellige Praxis und den Dichter vor allem als Virtuosen der Form sah. „Vorliebe für aufgebene Endreime 37 Vgl. dessen Klingsonate in: Kircher: Sonette, S. 170 ff. Über Entstehung und literaturgeschichtliche Hintergründe des Klingklingel-Almanachs informiert die Einleitung von Gerhard Schulz zu Baggensen: Klingklingel-Almanach. 38 Baggensen: Klingklingel-Almanach, S. 24. 39 Den neuesten Forschungsstand zu diesem Thema repräsentiert das materialreiche und methodisch ambitionierte Kapitel in Greber: Textile Texte, S. 373-544. Greber geht auch auf den Klingklingel-Almanach ein, schenkt dessen parodistischer Absicht allerdings kaum Beachtung.

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zeigen alle Epochen, in denen der Dichtung noch eine gesellschaftliche Rolle zugedacht ist“, resümiert Liede.40 Um 1800 nun erfreuten sich ‚bout-rimés‘ (wie u.a. Sonette von August Wilhelm Schlegel und Eichendorff bezeugen)41 zwar großer Beliebtheit, doch galten Texte, die kollektiv im Salon entstanden, mittlerweile kaum noch als literarisch ‚salonfähig‘. Vielmehr dominierte besonders in der Frühromantik die Vorstellung vom inspirierten Originalgenie.42 So war es nunmehr möglich, diese Vorstellung durch die Konstruktion einer ‚bout-rimés‘-Spielrunde lächerlich zu machen: [W]enn man die Melodie einmal in den Ohren hat, und dazu zwanzig bis dreyßig Sonette in seinem Leben gelesen, so möchte ich die sterbliche Zunge ausgereckt sehen, die nicht ein Sonett wiederlallen könnte, das jeden Schüler aus der neuesten Schule zur Bewunderung hinrisse.43

Inspiration wird hier ersetzt durch Imitation, der begnadete Moment durch die Zeitvorgabe eines Gesellschaftsspieles und die Begeisterung durch den antiromantischen Furor. Auf lautlicher Ebene drückt sich dies dadurch aus, dass der Lautklang des ‚Kling-Gedichtes‘ karikiert wird durch eine Folge schnarrender „rr-Reime“, deren Eintönigkeit sich noch dadurch erhöht, dass alle Reime weiblich sind (dies in Befolgung von August Wilhelm Schlegels Empfehlung),44 und neun Infinitive. In welche Richtung diese Hypertrophierung romantischer Reim-Wiederholung zielt, deutet bereits das Reimwort „Narren“ an. Wie weit aber wurde in der Romantik tatsächlich die Reimwiederholungs-Struktur des Sonetts genutzt, um die Dominanz des ‚Klanges‘ über den ‚Gedanken‘ zu fördern? Auch die Verfolgung dieser Frage kann hier nur vorgeschlagen werden, nicht durchgeführt. Immerhin sei darauf verwiesen, dass selbst Tieck die „Sonettenwut“ bisweilen unheimlich wurde: Sein Sonett mit den berühmten Anfangsversen „Ein nett honett Sonett so nett zu drechseln / Ist nicht so leicht, ihr Kinderchen, das wett ich“ verspottet das gedankenlos dahinklingende Sonettieren und empfiehlt solides ‚Ausbessern‘.45 Ich möchte jedoch den Blick zurücklenken auf das Spiel der ‚Karfunkel‘-Dichter. Dieses, so meine These, ist keineswegs ein planloses ‚Wiederlallen‘, sondern eine Anwendung von Regeln der rhetorischen ‚inventio‘, wie sie Wulf Segebrecht modellhaft für das humanistische Ge40 Liede: Dichtung als Spiel 2, S. 173, Überblick S. 173-178. 41 Vgl. ebd., S. 175 f. 42 „Schon in der Geniezeit waren die anmaßlichen Übertreibungen des Original-Wesens persifliert und kritisiert worden. […] Aber in der Frühromantik brach dieser Subjektivismus erneut durch und unter dem Einfluß des deutschen Idealismus steigerte er sich bis zum Hybriden“ (Schmidt: Genie-Gedanken 2, S. 1). 43 Baggensen: Klingklingel-Almanach, S. 18 f. 44 Vgl. Borgstedt: Wiedergeburt des Sonetts, S. 222-230. 45 Zit. n. Kircher: Sonette, S. 148, vgl. ebd. Nachwort, S. 433 f. und 437.

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legenheitsgedicht rekonstruiert hat.46 So dient die antiromantische Polemik als ergiebiger „Fundort“ (‚locus‘) poetischer Erfindung. Im folgenden Sonett schließen solche Ausfälle an die Nennung von Begleitumständen des Winters an (nach der ‚Regel‘‚ex loco cicumstantiarum temporis‘),47 die wiederum mit rühmenden Apostrophen auf die anderen Teilnehmer verschränkt sind: Apotheose. An Faust, Pseudo-Isodorus und Orlando Furioso. Sonett. Jetzt, da im Frost des Forstes Eichen knarren, Und Hund und Katze hinterm Ofen knurren, Soll euch das Rädchen meiner Muse schnurren: Dir, Roland, auf des alten Thespis Karren! Dir Faust, der einst, hellfunkelnd, bey dem Farren Am Himmel glänzt, trotz kleiner Kläffer Murren, Die, dich, den Löwen, gar possirlich purren! Und Pseudo –! dir, der Nesseln flicht den Narren! Ihr steht und grünt als echte deutsche Knorren; Mag die Romantik ihr Gesicht verzerren, Eu’r Lied wird nie zum Krämer sich verirren! Schon läuft das Wunderhornvieh ganz verworren; Tiecks Lämmlein, horcht! wie sie schon ängstlich plärren! Sie hören Eure Beil’ und Messer klirren.

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Das Reimschema kann aber auch an biblischen Sujets erprobt werden, etwa am Durchgang der Israeliten durchs rothe Meer. Sonett. Der Strand empfängt sie. Hinter ihnen knarren Die Wagen Pharaos; es hilft kein Knurren; Sie müssen durch die Wogen oder schnurren, Entweder füllen den bespießten Karren. 46 Segebrecht: Anleitung. Prinzipiell stimme ich zwar Grebers These zu, dass sich das rhetorische Modell der Textverfertigung auf die Entstehung von ‚Bouts-rimés‘ nicht direkt anwenden lässt: Am Anfang steht keine inventio, die aus den ‚res‘ Textmaterial gewönne, das sodann zu gliedern (‚dispositio‘) und durchzuformen (‚elucutio‘) wäre. Vielmehr geht die ‚inventio‘ von den ‚verba‘, den vorgegebenen Reimwörtern, aus (Greber: Textile Texte, S. 419 ff.). Dennoch glaube ich, dass auch bei der Aufgabe, einer ‚Kette‘ von ‚rimes inconciliables‘ einen Sinn abzugewinnen (ebd., S. 410 f.), nicht nur allgemeine Assoziationsprinzipien ‚ins Spiel‘ kommen wie „die gedankliche Verbindung zu dem Gesuchten über Ähnliches oder Gegensätzliches oder eng Verbundenes“ (ebd., S. 411), sondern auch altbewährte Techniken des Rückgriffs auf ‚Fundorte‘. 47 Segebrecht: Anleitung, S. 122 ff. Segebrechts Beispiel ist tatsächlich der Winter (als „Begleitumstand“ einer Hochzeit). 48 Baggensen: Klingklingel-Almanach, S. 30.

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Es bäumen viele sich, wie wilde Farren, Rückwärts in dem Gedräng’; und viele murren; Vergebens sucht sie Moses anzupurren; Schilt er sie Feige, schelten sie ihn Narren. Der Meerdurchführer hebt des Stabes Knorren, Als widerspenstig sie zu grob ihn zerren, Und spricht: „Hier geht der Weg! Gott kann nicht irren! Mir nach!“ Die Fische staunen ganz verworren, Als, trotz der vielen Juden-Weiber Plärren, Er geht – und all’ ihm nach mit Zungen klirren. Faust der Jüngere.49

Mag sein, dass durch solche Motivwahl auch romantische ‚Frömmelei‘ verspottet wird (eine der Hauptstoßrichtungen des Almanachs); explizite polemische Spitzen finden sich in diesem Gedicht jedoch nicht. Stattdessen ist doch ein gewisser Ehrgeiz erkennbar, der exakt wiederholten Reimfolge einen neuen Sinn abzugewinnen, der, wie im Fall des dritten Verses, auch gern den Unsinn streifen darf. Wenn sich nun die Teilnehmer mehrmals treffen und dieses Spiel mit neuen Reimen wiederholen, so dass damit ein ganzes Buch gefüllt werden kann, so dient dies zwar vorgeblich als satirischer Beweis, wie leicht sich eine „Fabrik“ zur Produktion von Sonetten gründen lässt.50 Das hätte aber auch schon ‚eine‘ solche Reihe genugsam verdeutlichen können. Der Verdacht, dass dieses Spiel bei den Teilnehmern doch ein gewisses „Gefühl der Spannung und Freude“ ausgelöst hat, drängt sich auf. Für Gerhard Schulz jedenfalls, der das Gemeinschaftswerk 1978 neu herausgegeben hat, „ist dieses Vergnügen an Sprachkomik und poetischem Spiel wohl die wesentlichste Rechtfertigung für diese parodistische Anthologie über ihren begrenzten polemischen Zweck hinaus. Es gibt darin Nonsense-Dichtung, die aufbewahrenswert ist, besonders da das Genre in der deutschen Literatur nicht reich entwickelt ist.“51 Freilich scheint aus klassizistischer Warte ein solches Lustgefühl, das keines der Lust am Schönen ist, dem ‚Ernst‘ wirklicher Dichtung unangemessen. Einem solchen Verständnis folgend, verlagerte sich das geselligartistische Dichten im 19. Jahrhundert denn auch in Gesellschaften, die die 49 Ebd., S. 31. 50 „Er [des Herausgebers ‚alter ego‘ Danwaller] „erzählte mir also, daß er nicht bloß seine Erfindung: ‚Sonette aller Art durch eine äußerst leichte Handbewegung mechanisch in der größten Schnelligkeit, ja sogar dutzendweise, in der nehmlichen Zeit, die ein gewöhnlicher Sonettenschreiber braucht, eins abzuschreiben, hervorzubringen ‘ als eigenes Handwerk für sich getrieben, sondern sogar schon eine Fabrik angelegt, worin während sieben Abenden, jeden Abend zu drei Stunden gerechnet, 700, schreibe siebenhundert vollständige Sonette […] von sieben, meistens ganz ungeübten Händen verfertigt worden“ (Baggensen: KlingklingelAlmanach, S. IV f.). 51 Ebd., S. 41.

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hohe Literatur hohe Literatur sein ließen und sich mit der Freude am tendenzlosen Sprachspiel begnügten.52 Zu einer von ihnen, dem „Allgemeinen deutschen Reimverein“, gehörte auch Heinrich Seidel, dessen Sonett Das Sonett mit seinen Reimkakophonien deutlich an das ‚Karfunkel‘-Spiel erinnert: So recht geeignet ist für spitz verzwickte Verschnörkelte Ideen die verzwackte Sonettenform und für modern befrackte Gedanken eine wunderbar geschickte. Und wer von Weisheit nur ein Körnlein pickte Und von Ideen nur ein Ideelein packte, Der zwängt es gerne in die höchts vertrackte Sonettenhaut, die viel und oft geflickte. Die Freude dann, wenn das Geflick ihm glückte Und schwitzend er sein Nichts zusammenstückte, Darob er manche Stunden mühsam hockte! Doch hilft’s ihm nimmer, daß er drückt’ und druckte, Weil gähnend ob dem künstlichen Produkte Die Menschheit ruhig einschläft, die verstockte!53

Die hier zur Schau getragene Sonetten-Verachtung führte bei Seidel jedoch keineswegs zur Sonetten-Abstinenz – vielmehr hat er die Schwierigkeiten in An Eveline sogar noch durch Doppelreime gesteigert.54 Doch das Sonett überlebte auch in der ‚hohen Lyrik‘ – anders als andere zeitweilig beliebte Reimspiele wie Terzine oder Ghasel. Dies dankte es nicht zuletzt einer allmählichen Lockerung des Reimwiederholungszwanges.55 Ein Kompromiss zwischen der strengen Form und neuen Reimen in jeder Strophe ist der identische Reim, den etwa Friedrich Rückert prononciert in einem Sonett aus dem Zyklus Amarylis einsetzt: Amara, bittre, was du thust ist bitter, Wie du die Füße rührst, die Arme lenkest, Wie du die Augen hebst, wie du sie senkest. Die Lippen aufthust oder zu, ist’s bitter. Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter, Bitter ein jeder Kuß, den du nicht schenkest, Bitter ist, was du sprichst und was du denkest, Und was du hast, und was du bist, ist bitter. 52 Vgl. Liede: Dichtung als Spiel 2, S. 279-306. Allerdings wurden ‚bouts-rimés‘ in der französischen und russischen Avantgarde wiederentdeckt (Greber: Textile Texte, S.  383 ff., 502554). 53 Zit. n. Gernhardt/Zehrer: Hell und schnell, S. 396. 54 Abgedruckt in: Liede: Dichtung als Spiel 2, S. 301. 55 Ich meine hier vor allem den Prototyp des von Bürger in die deutsche Literatur eingeführten Sonetts ‚italienischer‘ Prägung, also vierzehn Verse in fünfhebigen Jamben mit deutlicher Teilung in Quartette und Terzette. Betrachtet man die Geschichte des Sonetts insgesamt, spricht allerdings viel für Grebers Paradoxon: „die Gattungs-Invariante des Sonetts ist seine Varianz“ (Greber: Textile Texte, S. 568).

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Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen, Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten, Und eine folgt den Spuren deiner Füße. O du mit Bitterkeiten rings umfangen, Wer dächte, daß mit all den Bitterkeiten Du doch mir bist im innern Kern so süße.56

Die umarmenden Reime der Quartette wiederholen als identische Reime das Grundthema. In den Terzetten taucht das Zentralwort zwar zunächst nicht mehr im Reim auf, wird aber als Substantiv im Versinneren wiederholt und rückt im vorletzten Vers in Reimposition (wobei der Reim eine falsche Betonung erfordert): Der Kontrast zum letzten Wort, der Pointe, wird dadurch nur umso stärker. Es handelt sich bei diesem Sonett des Reimvirtuosen und Ghaselenübersetzers Friedrich Rückert also um einen Text, der seine eigene Gemachtheit fast plakativ ausstellt – bis hin zum Spiel mit dem Namen der Geliebten. Was nicht ausschließt, dass man ihn gerade wegen seiner „überschäumenden stotternden Silben“ als „ein leidenschaftliches Werk“ erlebt und sich im eigenen Liebeskummer zutiefst verstanden fühlt – so Wolfgang Koeppen.57 Hans Magnus Enzensberger dagegen macht spielerisch die ‚Regel‘ der Negations-Wiederholung bewusst, indem er sie in „Pidgin“-Sprache bzw. „Gastarbeiterdeutsch“ bringt58 und so jene Formulierungsvarianten beseitigt, die die Regel verschleiern: Amara, du nix gut, du nix gut machen, mit dein Fuß du nix gut gehen, Hände nix gut, du mich anschauen, nix gut, du wegschauen, nix gut, du mir was sagen nix gut, nix sagen nix gut. Du ciao sagen, wenn kommen, nix gut, ich nix Kuß kriegen, nix gut, nix gut, was du sagen, du nix gut denken, du nix gut haben, du nix gut. Wenn du kommen ich wissen, nix gut, du da sein, links nix gut, rechts nix gut, wenn du abhauen, ich nix gut. Du vorn und hinten nix gut. Ich nix wissen warum alles nix gut, aber ich denken an nix wie Amara, Amara gut.59

Doch geht es bei dieser Parodie keineswegs darum, die Vorlage ‚herabzusetzen‘ – so wenig wie in den übrigen der hundertvierundsechzig Spielarten, in denen sein Buch Das Wasserzeichen der Poesie […] [d]ie Kunst und das Vergnügen Gedichte zu lesen vorführt. „Lesen heißt immer auch: zerstören“, behauptet Enzensberger in seinem Vorwort, „wer das nicht glauben will, möge die 56 57 58 59

Rückert: Gedichte 2, S. 107, zit. n. Enzensberger: Wasserzeichen, S. 398. Wolfgang Koeppen: Ein Liebesgedicht, S. 50 f. Enzensberger: Wasserzeichen, S. XXII. Ebd., S. 399.

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Hirnforscher fragen –; zerstören und wieder zusammensetzen. Dabei entsteht allemal etwas Neues. Ein Klassiker ist ein Autor, der das nicht nur verträgt; er verlangt es; er ist nicht totzukriegen durch unsere liebevolle Rohheit, unser grausames Interesse.“60 So gesehen, muss auch die radikale Reduktion des Sonetten-Schemas, die Gerhard Rühm in seinem Sonett vornimmt (im Gegensatz zu der auf dem Titel des „Klingklingel-Almanachs“)61 nichts ‚Herabsetzendes‘ haben: erste strophe erste zeile erste strophe zweite zeile erste strophe dritte zeile erste strophe vierte zeile zweite strophe erste zeile zweite strophe zweite zeile

zweite strophe dritte zeile zweite strophe vierte zeile dritte strophe erste zeile dritte strophe zweite zeile dritte strophe dritte zeile vierte strophe erste zeile vierte strophe zweite zeile vierte strophe dritte zeile62

Die Reduktion erinnert vielmehr daran, dass Sonette nicht nur das Ohr des ‚Hörers‘, sondern auch das Auge des Lesers einfach dadurch befriedigen, dass eine Strophe von vier Versen und eine zu drei Versen wiederholt wird, wobei sich in der Regel auch ein Metrum und damit ungefähr eine Zeilenlänge das ganze Gedicht über wiederholt.63 Das Reimschema ist ja hier gar nicht berücksichtigt. Im folgenden Gedicht Rühms geht es dagegen um den Klang des ‚Klinggedichts‘. Eine Zeitungsmeldung wird nach folgendem ‚Rezept‘ in ein Sonett umgewandelt: Man setze auf jeden zweiten Vers ei60 Ebd., S. VIII. Enzensberger selbst versteht den Begriff ‚Parodie‘ allerdings eher im Sinn von Liedes ‚kritischer Parodie‘. Die Transposition des Textes in Gastarbeiterdeutsch ist für ihn keine Parodie, sondern eine der von ihm vorgestellten „Spielarten“. 61 Etwas vereinfacht gesagt, werden die ungereimten Silben durch Asterixe wiedergegeben, die Reimsilben in den Quartetten durch große und kleine Kreuze, in den Terzetten durch großes und kleines „a“, „x“ und „y“. Die einzelnen Strophen werden nicht durch Abstände voneinander abgesetzt, sondern durch einen großen Asterix links vor jedem Anfangsvers markiert. 62 Zit. n. Kircher: Sonette, S. 409. 63 Allerdings hat sich die von Rühm verwendete Druckanordnung historisch erst recht spät und keineswegs vollständig durchgesetzt. Zuvor wurden insbesondere die Terzette gerne als einheitlicher Block wiedergeben, so auch im ersten Drittel des Klingklingel-Almanach. Typisch ist auch, dass dort der erste Vers jeder Strophe linsbündig gedruckt ist, die folgenden Verse dagegen eingerückt werden. Warum ab Seite 54 auch die Terzette voneinander abgerückt werden, ist mir unklar. – Zur Eigenschaft eines jeden ‚Klinggedichtes‘, ein „Sehtext“ zu sein, siehe Greber: Textile Texte, S. 587 f.

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nen Akzent, ohne Rücksicht auf Betonungsregeln der deutschen Sprache, und erzeuge so vierzehn fünfhebige Jambenverse. Die letzten Worte der ersten beiden Verse verwende man als identische „Reimwörter“ nach dem Schema abba abba, ohne Rücksicht auf den weiteren Fortgang des Textes; entsprechend verfahre man in den Terzetten gemäß dem Schma cdc dcd. Und man sorge dafür, dass das Ende der Quartette wie auch das Ende der Terzette jeweils mit einem Satzende zusammenfällt, indem man zuvor einige Silben wiederhole. Letzteres führt zu einem gewissen Stottereffekt: montag, 21.7. 1969

die ersten menschen sind auf dem mond am sónntag dém dem zwánzigsténsten júli neunnéunzehnhúndertnéunundséchzig, úm um éinundzwánzig úhr uhr áchtzehn úm sind sínd die béidenden améri- júli kaníschen ástronáuten néil neil júli neil ármstrong únd und édwin áldrin úm an bórd bord íhres ráumraumschíffes úm um „ádler“ áuf dem mónd gelándet júli. in dér gebórgenhéitheit íhrer lándedekápsel lágen étwa nóch fuenf stúnden vor íhnen bís bis síe als érste lánde bewóhner dés planéten érde stúndenden íhren fúss auf éinen frémden lándede hímmelskóerper sétzen sóllten stúnden.64

Laut gesprochen, erwecken diese Verse den Eindruck einer Computerstimme, und tatsächlich könnte man die ‚Regeln‘ in einen Computer eingeben, um neue Sonette zu erzeugen.65 Es waren denn auch Vertreter der konkreten Poesie, die zuerst den Computer zum Mitspieler oder Spielzeug in jenem Spiel gemacht haben, das durch Enzensbergers Lyrikmaschine vielleicht am bekanntesten geworden ist.66 Jenseits solcher Versuche wirkt das Sonett jedoch nach wie vor als Herausforderung, die anspruchsvolle Regel der zweimal vier und ev. auch zweimal drei Reime nicht nur formal, sondern auch intellektuell befriedigend zu erfüllen: In der Wiederholung zeigt sich erst der Meister. Und zwar umso mehr, je seltener der Reim in der ‚hohen Lyrik‘ geworden ist. Robert 64 Zit. n. ebd., S. 410. 65 Dabei müsste man allerdings noch präziser als oben geschehen festlegen, welche Silben zur ‚Füllung‘ der Verse wiederholt werden sollen. Konsequente Kleinschreibung ist eine Regel, die mit der Sonettstruktur nichts zu tun hat. Eine rhetorische Reformulierung der ‚Regeln‘ findet sich in Plett: Rhetorik, S. 228 f. 66 Siehe dazu Stürner: Künstliche Poesie, bes. S. 18-36. Von ‚Spiel‘ kann man m.E. allerdings nur dann sprechen, wenn es noch einen gewissen Grad an Ungewissheit, einen gewissen „Spielraum“ gibt (vgl. Anz: Literatur als Spiel, S. 40 f.).

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Gernhardts berühmtes Sonett Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs (1981) beginnt mit dem Vers „Sonette find ich sowas von beschissen“ und endet mit der Bekräftigung „Ich find Sonette unheimlich beschissen“: Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dummen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. Und die Wut Darüber, daß so’n abgefuckter Kacker Mich mittels seiner Wichserein blockiert, schafft in mir Aggressionen auf den Macker. Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert. Ich tick es echt nicht. Und will’s echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen. 67

Doch ebenso, wie es sich bei genauerem Hinsehen eher um ein Sonett englischen als „italienischen Ursprungs“ handelt, wird hier keineswegs die „Gedichtform“ parodiert, sondern ein damit kontrastierender rotziger Befindlichkeits-Slang, der in den 70er/80er Jahren Mode war. Wortwiederholungen (viermal „echt“, parallel zu „ehrlich“ und „irgendwie“) und Pleonasmen („die Wut […] schafft in mir Aggressionen“) sollen zwar vordergründig Aggressivität evozieren (wie Rückerts Wiederholungen Verzweiflung), entlarven aber letztlich die ‚Gedankenleere‘ dieses Sprechens. Dennoch fügt sich das Geschwätz wundersamerweise zu einem Sonett, in dem ausgerechnet „beschissen“ und „Wut“ zu den wichtigsten Reimwörtern werden.68 Darin – so lässt sich mit Blick auf meine Ausgangs-Fragestellung sagen – manifestiert sich der Sieg des Spielreizes über den vorgeführten Möchtegern-Spielverderber.

Literatur Anz, Thomas: Literatur als Spiel. In: Ders.: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 2002, S. 33-76. Arnim, Achim von; Brentano, Clemens (Hg.): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Kritische Ausgabe. 3 Bde. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1987 [zuerst 1806, 1808]. 67 Gernhardt: Gesammelte Gedichte, S. 109. 68 Reimtechnisch wie inhaltlich hat das Gedicht übrigens auffällige Ähnlichkeit mit Johannes R. Bechers Sonett Über das Sonett, das mit den Versen beginnt „Ich hielt gar lange das Sonett-Geflecht / für eine Form, veraltet und zerschlissen“ und den weiblichen Reim mit den Wörtern „Gewissen“ und „beflissen“ fortführt (Becher: Sonett-Werk, S. 231).

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Baggensen, Jens u.a. (Hg.): Der Karfunkel oder Klingklingel-Almanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker. Hg. und mit einer Einführung von Gerhard Schulz. Bern u.a. 1978 [Faks. nach der Ausgabe von 1809]. Bausinger, Hermann: Formen der „Volkspoesie“. Berlin 21968. Becher, Johannes R.: Sonett-Werk. 1913-1955. Berlin 1956. Borgstedt, Thomas: Poesie des Lebens, Poesie der Poesie. Die Wiedergeburt des Sonetts bei Gottfried August Bürger. In: Theo Stemmler; Stefan Horlacher (Hg.): Erscheinungsformen des Sonetts. 10. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik. Mannheim 1999, S. 202-243. Braungart, Wolfgang: Das Ur-Ei. Einige mediengeschichtliche und literaturanthropologische Anmerkungen zu Goethes Balladenkonzeption. In: literatur für leser 2, 1997, S. 71-84. Enzensberger, Hans Magnus: Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr [Pseud.]. Nördlingen 1985. Freund, Winfried: Die literarische Parodie. Stuttgart 1981. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Frz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1993 [zuerst 1982]. Gernhardt, Robert; Zehrer, Klaus Cäsar (Hg.): Hell und schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten. Frankfurt a.M. 2004. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 2.1: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775-1786. Hg. von Hartmut Reinhart. München 1987 [Münchner Ausgabe]. Greber, Erika: Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln u.a. 2002. Hörner, Wolfgang; Kapfer, Herbert (Hg.): Alles Lalula. Songs und Poeme. Von der BeatGeneration bis heute. Frankfurt a.M. 2003 [Booklet zur gleichnamigen CD]. Huizinga, Johan: „Homo ludens“. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1956 [zuerst 1938]. Kästner, Abraham Gotthelf: Anakreontische Ode. In: Poetische und Prosaische Schönwissenschaftliche Werke. Zweiter Theil. Berlin 1841, S. 12-14. Kircher, Hartmut (Hg.): Deutsche Sonette. Stuttgart 1979. Koeppen, Wolfgang: Ein Liebesgedicht. Friedrich Rückert: Amaryllis. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1977, S. 49-52. Liede, Alfred: Art. Parodie. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin, New York 21977, S. 12-77. Liede, Alfred: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen zur Sprache. Berlin, New York 21992 [Nachdruck der zweibändigen Ausgabe von 1963 in ‚einem‘ Band mit Ergänzungen]. Mirian Stürner: Von künstlicher und digitaler Poesie. 2003, www.netzliteratur.net/stuerner/ stuerner_mag.pdf [Stand: 24.01.2008]. Müller-Zettelmann, Eva: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg 2000. Pastior, Oskar: Werkausgabe. Bd. 3: Minze Minze flaumiran Schpektrum. Hg. von Ernest Wichner. München, Wien 2004. Plett, Heinrich F.: Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen. München 2000. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Klaus Weimar u.a. 3 Bde. Berlin, New York 19972003. Rotermund, Erwin: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik. München 1971.

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Sprachspiel und Individualität Neue Tendenzen einer Literatur der Migration Die Art der Sprachreflexion innerhalb einer deutschsprachigen Literatur der Migration, also jener Literatur, die Migrations- und Fremdheitserfahrungen zum Thema hat, ändert sich seit den Anfängen in den 1960er Jahren und ihrer Konsolidierungsphase in den späten 1970er und den 1980er Jahren grundlegend gegen Ende der 1990er Jahre. Während die traditionelle Form sprachliches Unvermögen und kommunikative Störungen als Kennzeichen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Migranten inszeniert, hat die von Feridun Zaimoğlu mit inszenierte Kanak Sprak-Bewegung die Weichen in Richtung auf Individualität und Selbstbehauptung der Sprechenden gestellt. Diese diskursiven Differenzen sind ein konstitutives Merkmal zwischen einer „älteren“ Literatur der Migration (bis in die Mitte der 1990er Jahre) und einer neueren – die traditionelle Variante ist hierbei durch die Ausrichtung an kollektiven, die innovative an individuellen Diskursen gekennzeichnet. Die Art der Sprachverwendung und -reflexion innerhalb der Literatur der Migration dient zunächst als Prüfstein für die Möglichkeit oder Un 





Im Gegensatz zur „Migrantenliteratur“, die Texte aus der Feder von Schreibenden mit Migrationshintergrund bezeichnen soll, ohne dass ihre Thematik sich tatsächlich auf die Migrationserfahrung richten muss; zur Begriffsbestimmung vgl. Sorko: Systemmigration. Vgl. Biondi: Die Anfänge, S. 37: „maine nix gut doitsch/isch waiss/isch sprech ja/nur gastarbeiterdoitsch/und immer problema/iberall/doitsch leute nix verstee/was isch sagen/was isch wollen//aber langsam langsam/geets:/isch jetzz meer verstee//doitsch loite/aber/ maine sprache/nix viil verstee/gastarbeiterdoitsche sprache/schwere sprache“; sowie passim die in folgenden Anthologien versammelten Texte: Ackermann: Als Fremder in Deutschland; Ackermann: In zwei Sprachen leben; Ackermann: Türken deutscher Sprache. Besonders deutlich in Zaimoğlu: Koppstoff; als Beispiel hier S. 115: „Der Stumme, der ich bin, hat beuligen Sprech, hat Monsterdeitsch auf der Zunge. Spricht Kackmeierstammel. Und weil keiner sieht das Bild auf meiner Zunge, will‘s keiner wissen, von was ich sprech. Als wär ne fette Schleife gewickelt um mein Zungenmageres, wird mein Null-Assimil-Sprech gehalten für Gaga-Unsprech. Es fragen sich die Menschen: Hat ein Gaga mir zu sagen was? Mein Monsterdeitsch aber klarwortig, ist mit allen Schikanen gesegnet.“ So folgt etwa Kerim Pamuk in seinem Buch Sprich langsam, Türke, v.a. S. 112-118 noch ausdrücklich einem Verständnis von spezifischer Sprachverwendung als Merkmal einer Gruppenidentität, vgl. ebenso durchgängig die satirischen Texte von Osman Engin, u.a. Der Deutschling (1985), Der Sperrmüll-Effendi (1991), Dütschlünd Dütschlünd über üllüs (1994), Oberkanakengeil (2001), GötterRatte (2004).

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möglichkeit der sozialen Angleichung an ein gegebenes, fremdes ‚setting‘; am Grad der „richtigen“ Sprachverwendung solle sich (so auch die aktuelle politisch geführte Diskussion) eine gelungene oder misslungene Integration von Zuwanderern ablesen lassen. Doch bereits 1988 hat Gayartri Chakravorty Spivak in einem grundlegenden Aufsatz festgestellt, dass soziale Ausgrenzung oder Randständigkeit zu Sprachlosigkeit führt – und die literarischen Umsetzungen dieser These sind seit etwa 2000 sehr zahlreich: vom Erfinden einer Privatsprache bis zum Verstummen der Figur Isti in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer (2002), dem Verlust einer in kommunikativen Situationen tragfähigen Sprache in Aglaja Veteranyis Warum das Kind in der Polenta kocht (1999) bis hin zum Sprachgenie Abel Nema in Terézia Moras Alle Tage (2004), der sich trotz Beherrschung mehrerer Idiome anderen Mitmenschen nicht mitteilen kann. Als eine literarisch sehr produktive Möglichkeit, Hybridität und Alterität anhand von Sprachreflexion zu vermitteln, ist darüber hinaus das Spiel mit der Sprache auffällig, da hier ‚Fremdheit‘ nicht primär auf der Ebene des Erzählens codiert wird, sondern vielmehr im eigentlichen Sinne durch grammatische, syntaktische, phonetische und pragmatische Verfremdung erst sinnfällig wird. Gerade im Spannungsfeld von fremd erscheinenden Bedeutungen und befremdenden sprachlichen (und somit kulturellen) Handlungen zeigen sich leserwirksame Möglichkeiten, um die Beziehungen zwischen Eigenem und Fremden in neue Zusammenhänge zu stellen. ‚Sprachspiel‘ meint eine bewusste Verfremdung des vorgefundenen (in unserem Falle: fremden, von der Muttersprache abweichenden) sprachlichen Materials mit dem Ziel besonderer ästhetischer und erzählerischer Formgebung. Dieses Spiel ist zwar nicht nur zweckfrei und selbstreflexiv, wie es Johan Huizinga als grundlegendes Kennzeichen des Spiels definiert hat, sondern durchaus funktional gedacht und unterliegt – wie die folgenden Ausführungen zeigen wollen – bestimmten Spielregeln, die das Mitspielen der Leserschaft letztlich erst ermöglichen, aber auch den eigenständigen und innovativen Charakter der zu behandelnden Texte zu charakterisieren vermögen. ‚Sprachspiel‘ soll hier nichts anderes bedeuten als den gezielten Einsatz von Ausdrucksformen zu dem Zweck, das Eigene (die Muttersprache der intendierten Leserschaft) als fremd erscheinen zu lassen und somit Differenzen der Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung zu betonen. Im Vordergrund der Überlegungen stehen die zunächst recht widersprüchlich anmutenden Arbeiten von Yoko Tawada und Zé do Rock. Nicht nur die literarischen/erzählerischen Verfahrensweisen sind höchst unterschiedlich, auch die „Ausgangskulturen“, aus denen sich die Beobachterdifferenz auf deutsche Verhältnisse und Sprache ergeben, sind nachgerade antipo 

Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 271-313. Vgl. Huizinga: Homo Ludens, v.a. S. 37 und passim.

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disch: Yoko Tawada mit ihrem japanischen Erfahrungshintergrund, Zé do Rock mit seinem brasilianischen. Allerdings soll mit diesem Hinweis keinesfalls einem biografistischem Herkunftsmodell das Wort geredet sein, wie es noch das Handbuch von Carmine Chiellino (2000) kennzeichnet, im Gegenteil: Die kulturelle Alterität bzw. die Hybridität der in den Texten formulierten Wahrnehmungen werden innerhalb der Werke selbst mehrfach thematisiert, liefern also eine deutliche Lektüre- und Interpretationsanweisung. Natürlich inszenieren diese Hinweise eben zunächst nichts anderes als ‚Fremde‘, die Frage ist jedoch, in welcher Form und zu welchem Zweck diese ‚Fremde‘ literarisch formuliert wird. Zé do Rock steht zunächst für einen aktiven und dekonstruierenden Ansatz, der beinahe anarchistische Züge trägt, mit Klischees spielt und sie in einem dem Pastiche ähnlichen Verfahren neu fasst. Yoko Tawada hingegen präferiert in ihren Texten eine beobachtende und besinnende Art der Darstellung, für die ein neugieriger, persönlicher Blick und eine starke Ausrichtung an Überlieferungen, Ritualen und kulturgebundenen Wahrnehmungen typisch ist. Beiden gemeinsam ist die individuelle Suche nach Ausdrucksformen, nach unmittelbarer Erfahrung des Anderen, die Neugier; beide stehen für eine neue Sprachform, die über die Gruppenidentität stiften wollende Darstellung etwa bei Zaimoğlu hinausgeht. Genau das Gegenteil soll erreicht werden: eine Suche nach individuellen Sichtweisen, die sich weder von diskursiven (sozialen wie literarischen) Erwartungen beeinflussen lassen noch eine integrative Funktion für das soziale oder literarische Leben übernehmen wollen. Prägend ist der spielerische und kreative Umgang mit der Fremdsprache Deutsch. Obwohl die jeweiligen Schreibarten höchst unterschiedlich sind, ist es durchaus legitim, Zé do Rock und Yoko Tawada gemeinsam zu behandeln – ein Hinweis auf die Nähe der literarischen Modelle mag sein, dass beide mit je einem Text in einer der Anthologien vertreten sind, die exemplarisch für die Umbrüche in einer Literatur der Migration seit etwa 2000 zu nennen ist. Yoko Tawadas Art des Sprachspiels wird sehr deutlich in dem kurzen Text Von der Muttersprache zur Sprachmutter (1996), findet sich jedoch ebenso durchgängig in dem Band Talisman (1996) oder in Überseezungen (2002). Die systematische Reflexion darauf hat die Autorin in ihren Tübinger Poetikvorlesungen Verwandlungen (1998) dargelegt; auch ihre Dissertation widmet sich unter anderem Aspekten des Fremdverstehens und des Sprachspiels.10  

Vgl. Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Trojanow: Döner in Walhalla, darin Tawada: Von der Muttersprache zur Sprachmutter, S. 8185 (zuerst in Tawada: Talisman, S. 9-15) und do Rock: kleines wörterbuch um die langeweile aus diesem buch zu vertreiben, S. 181.  Tawada: Muttersprache (wie Anm. 8). 10 Tawada: Spielzeug und Sprachmagie.

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Die Texte nehmen die Leser mit auf die Suche nach den möglichen Bedeutungen fremder Sprache und Kultur. Immer bleibt dabei die individuelle Position der Erzählerfigur transparent: Es ist ihr eigenes Unverständnis, von dem berichtet wird, es sind ihre Versuche, sich im Fremden zu orientieren – und diese Versuche werden nicht nur als notwendig, sondern auch als Spiel begriffen: In diesem Sinne verstehe ich es als künstlerisches Experiment, eine fremde Sprache zu sprechen und dabei die körperlichen Anstrengungen zu beobachten. Es ist natürlich meistens nicht als Experiment gedacht, wenn jemand in/mit einer Fremdsprache lebt. Für diejenigen, die im Ausland leben, ist das vielmehr eine Notwendigkeit. Mittlerweile frage ich mich aber, ob ein Experiment oder ein Spiel, das nicht aus Langeweile, sondern aus Not entstanden ist, nicht viel interessanter ist. Man muß den überflüssigen Unsinn genau an der Stelle treiben, an der etwas Existentielles auf dem Spiel steht.11

Die spielerischen Verfahren sind variantenreich.12 Ihre Sprachbetrachtungen folgen einem konstruktivistischen Schema. Ein in den meisten Texten erzählendes Ich beobachtet die eigenen Reaktionen auf Sprache, sprachliches Handeln und sonstige kommunikative Codes. Der angesetzte japanische Kulturhintergrund, vor dem sich die Texte häufig abspielen, erschwert die Dekodierung der aufgenommenen Zeichen, da die Arten der Verschriftlichung im Deutschen und Japanischen bekanntermaßen äußerst unterschiedlich sind. Ihr Blick auf die Fremdwahrnehmung ist weniger bestimmt durch klangliche oder semantische Divergenzen als vielmehr durch die Frage, auf welche Konventionen und Traditionen sprachliches Handeln verweist und welche Mythen und Rituale damit verbunden sein könnten. Da sich mythischer und ritueller Habitus in westlichen und östlichen Kulturen stark unterscheiden, führen die Erklärungsversuche in Tawadas Texten häufig zu Konflikten mit der alltäglichen Umwelt. Mal wird die Schriftgestalt zum Auslöser (etwa der zwei Mal vorkommende Buchstabe „O“ in den Ortsnamen entlang der Bahnstrecke des Gotthardtunnels wie Airolo, Lavorgo oder Giornico, die als Gestalt der Tunnelausgänge interpretiert werden – um dann zur Feststellung zu gelangen, dass ja auch im Namen „Yoko“ diese zwei „O“ auftauchen), mal wird der Unterschied zwischen der alphabetischen und der ideographischen Schrift Auslöser für sprachliche Neuinterpretationen oder die grammatischen Regeln und Funktionen werden dekonstruiert, um eine individuelle Ausdrucks- und Denkmöglichkeit neu zu entwickeln: Als ich inmitten des Wortes „Gesicht“ das Wort „ich“ entdeckte, kam ich auf die Idee, daß das Gesicht die Perfektform des Verbs „ich“ sein könnte: „Ich habe es

11 Tawada: Verwandlungen, S. 10 f. 12 Alle folgenden Beispiele aus Tawada: Verwandlungen.

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gesicht.“ Was könnte dieser Satz bedeuten? Was mein Gesicht betrifft, habe ich noch nichts vollzogen, was ich in der Perfektform erzählen könnte.13

Diese Art der Sprachumformung, des Spiels mit Formen und Bedeutungen, kann von Muttersprachlern nicht oder kaum geleistet werden, da Wörter und Strukturen eben nicht als fremd erscheinen. Der produktive und innovative Umgang mit dem Fremden steht also auch hier dem sich als fremd verstehenden Individuum zur Verfügung; die Neuinterpretationen der Sprache (und damit die Möglichkeiten einer Literarisierung) entstehen aus der Differenz zwischen Eigenem und Fremden. Yoko Tawada folgt einer Art globalisierendem Verfahren. In Überseezungen (bereits der Titel ist Sprachspiel genug, changierend zwischen Übersetzungen, Seezungen, Übersee und den Zungen, in denen geredet wird) stehen kommunikative Orientierungsversuche in (so die Kapitelüberschriften) „euroasiatischen, südafrikanischen und nordamerikanischen Zungen“ stellvertretend für allgegenwärtige Fremdheit und zu überwindendes NichtVerstehen. Als Fazit der einzelnen Kapitel bleibt immer die subjektive Einstellung der Erzählerin zu einzelnen sprachlichen Äußerungen übrig, so etwa im Schlusspassus des Buches: „‚Ja, mein Herz‘, sagte sie manchmal zu mir. Ich war verlegen, wenn ich das Wort ‚Herz‘ hörte. Es war mir zu warm und zu verletzbar. Das Wort ‚Artischockenherz‘ bereitete mir hingegen immer Freude.‘“14 Die individuelle sprachliche Leistung besteht hier also in einer Umdeutung des Sprachmaterials, in der Resemantisierung einzelner Begriffe. Die Überführung eines Wortes (hier ‚Herz‘) in einen neuen, für die Leserschaft ungewohnten und überraschenden Kontext ermöglicht neue, individuell positiv begriffene Emotionen. Das Kommunikationsmittel Sprache dient somit nicht primär dem intersubjektiven Austausch als vielmehr der Selbstvergewisserung. Zé do Rocks autobiografisch gefärbte Erzählungen folgen zwar einem völlig unterschiedlichen Weg, doch sein sprachspielerisches Projekt folgt durchaus ähnlichen Zielen wie dasjenige Tawadas. Auf den ersten Blick erinnern die Texte von Zé do Rock an Experimente in Anlehnung an Ernst Jandl.15 Bezüge zwischen den graphematischen und den phonetischen Ebenen werden verwischt („fassade – nie wieder saufen“), die Auflösung morphologischer Einheiten bei mehrgliedrigen Ausdrücken zerlegt Bedeutungen in ihre ursprünglichen Bestandteile („einwandfrei – haus mit nur 3 wänden“; „willkommen – kommt aber nicht“), Mehrdeutigkeiten werden gezielt in ihrer Mehrdeutigkeit belassen („mißverständnis – die schönste psychologin“), dabei wird bisweilen auch die Ausgangssprache verlassen 13 Ebd., S. 50. 14 Tawada: Überseezungen, S. 152. 15 Die folgenden Beispiele aus Zé do Rock: kleines wörterbuch um die langeweile aus diesem buch zu vertreiben.

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und in eine hybride Mehrsprachigkeit überführt, so dass sich ein komplexes Vexierbild ergibt („taifun – spaß in Bangkok“). Das letzte Beispiel mit seiner Kombinatorik von mehreren Sprachen, ungewohnter Schreibung und nicht konvergentem Laut- und Schriftbild gibt Hinweise auf eine andere Funktion des Sprachspiels jenseits von Unterhaltung. Was sich zunächst als rein scherzhaftes und unbekümmertes, ja komödiantisches oder gar albernes Spiel mit Worten präsentiert, erweist sich als „längeres Gedankenspiel“ (Arno Schmidt) mit deutlich kultur- und gesellschaftskritischen Konsequenzen. Bereits in seinem ersten Erzählwerk fom winde ferfeelt (1995) entwickelt Zé do Rock eine neue Sprache, die sich ans Standarddeutsche anlehnt und dieses radikal verfremdet. Dieses „Ultradeutsch“ ist die erste Stufe eines langsamen Umbaus der deutschen Sprache, des so genannten „Schwerdeutschen“, und vor allem ihrer Orthographie, allerdings als Vorschlag und nicht als Norm gedacht – Normen und Reglementierungen werden als inadäquat verurteilt. Die vorgeschlagenen Änderungen sind zwar wenig innovativ (durchgängige Kleinschreibung außer bei Personen- und Ortsnamen sowie besonderen Hervorhebungen, Orientierung an alltäglicher Aussprache, grammatikalische Vereinfachung durch Weglassen der Flexionsendungen, Aufgabe von Interpunktionsregeln etc.), der angestrebte Effekt ist dafür umso radikaler. Deutsch als vermeintlich präzise und logische Sprache wird kritisiert, die Beschäftigung „nicht mit der Sprache, die man benutzen sollte, sondern mit der Sprache, die man benutzt“,16 kann als Versuch gelesen werden, Sprache, Sprachverwendung und den damit verbundenen Regelvorrat zu demokratisieren; das Deutsche sei unnötig kompliziert – und somit für Nicht-Muttersprachler kaum zu erlernen: Was Deutsch von diesen Sprachen unterscheidet, ist, daß es alle Probleme aufweist: einen absurden Satzbau, eine uneinheitliche Rechtschreibung (Zuk-ker statt Zuc-ker oder Zu-cker, Pappolizist statt Papppolizist, Großschreibung für die Hauptwörter und sparen aber fahren, los aber Moos, Form aber vorn), eine ausufernde Grammatik (Konjugationen, Deklinationen, über 10 Mehrzahlendungen) und eine unnachahmliche Aussprache (Silben mit 10 Buchstaben wie du schleichst, du schluchzst, Konsonantenanhäufungen wie Lachsschlemmer).17

Diese Form der Sprachkritik und einer spielerischen Neuschöpfung von Schreibweisen setzt zweierlei voraus: eine profunde Vertrautheit mit der Sprache und ein sicheres Beherrschen ihrer Grammatik einerseits und andererseits wiederum einen differenten Blick von außen auf diese Sprache, der einher geht eben mit der Orientierung an der alltäglichen Umgangssprache, die in der realen Lesesituation von Muttersprachlern als ‚fremd‘ empfunden werden muss. 16 Do Rock: vom winde verfeelt, S. 9. 17 Ebd., S. 8 f.

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Zé do Rock benutzt in vom winde ferfeelt diese Schreibung, um einen Entwicklungsroman zu erzählen, handelnd von einem um die Welt reisenden Brasilianer, der überall auf Unverständliches und Fremdes stößt und in letzter Konsequenz zur Konstruktion einer eigenen Sprache als Gegenmodell zu den vorgefundenen Verhältnissen gerade in Deutschland greift: ein Akt des individuellen Aufbegehrens, genau an dem Punkt, der als Ausweis nationaler Identität gilt, der einer gemeinsamen Sprache. Die einzelnen Episoden innerhalb des Textes bezeugen eine gleichsam anarchische Neugier des Protagonisten den Verhaltensweisen seiner Mitmenschen gegenüber, die zunehmend als fremd und absurd erfahren werden. Alltäglichkeiten wie etwa das Lösen einer Busfahrkarte erscheinen als grotesk, wobei der Auslöser des Grotesken immer im Sprachspiel liegt, im Zu-Wörtlich-Nehmen, in Doppeldeutigkeiten, in vermeintlich falschen Semantisierungen, wie sie jeder Fremdsprachenlernende erlebt: BITTE ENTWERTEN SI IRE FARKARTE. Farkarte versteen wir, aber was meinen di mit diesem wort entwerten? wert versteen wir auch, und ent- hat doch meist was mit weknemen zu tun, oder? wir sollen den wert von einer farkarte weknemen? eine farkarte zerstören, di wir gar nich ham? und wozu was kaufen, was ma anschliszend zerstören soll?18

Sprache fungiert hier zwar als Brücke zwischen Reflexion und Handlungsmöglichkeiten, die ‚eigentliche‘ Bedeutung bleibt jedoch unverständlich. Nur die eigene Beobachterposition des Sprechers scheint sicher und definiert zu sein, der Versuch, den Satz „Bitte entwerten Sie Ihre Fahrkarte“ nachzuvollziehen, führt zur deutlichen Wahrnehmung der Fremdheit in dieser Situation; individuelles Verstehen stößt auf habituellen Umgang mit Sprache, pragmatische Vorgaben stoßen auf persönliche Deutungen. Der Reflex auf diese Differenzen führt jedoch nicht zur Anpassung des Sprechers an die vorgegebene Zielsprache, sondern in der Logik des Textes zur Umformulierung der Zielsprache Deutsch in ein – wie zitiert – unproblematisches Kommunikationsmittel, das vom Autor zunächst individuell entwickelt wird. Allerdings macht die „Rechtschreibreform“ nicht bei der deutschen Sprache Halt, es fließen lautliche und orthographische Verbindungen zu anderen Sprachen mit ein, etwa bei unterschiedlichen Aussprachemöglichkeiten von Vokalen im Englischen oder Deutschen, die wiederum Konsequenzen auf die Schreibung im Zé do Rock’schen „Ultradeutschen“ haben.19 Letztlich führt dies nicht nur zu einer an den phonetischen Möglichkeiten des Deutschen orientierten Schreibweise, die in all ihrer Verfremdung im Druck die Leser am Sprachspiel teilhaben lässt, sondern auch zu einer Übertragung der spielerischen Aneignung einer zunächst neuen und fremden Sprache auf andere Sprachen. Vom winde verfeelt (1995) 18 Ebd., S. 108. 19 Vgl. ebd., S. 110. „ma kann s happy, häppy oder heppy schreiben (und sagen) [...].“

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wie später deutsch gutt sonst geld zuruck (2002) überträgt dieses Verfahren auch auf andere Sprachen und Dialekte. Das eigene Hörverstehen des Protagonisten in Verbindung mit der an der Lautgestalt orientierten Schreibweise fordert die Leser zur Überprüfung der ihrerseits eigenen Sprachkompetenz und zum Vergleich mit dem individuellen Verstehen des Erzählers auf: Tya, un dann fare vir nac Italia unde misse aine entoisciung hinneme, de pizzaturm stete scif. Faule italiena, varum reparire di nix? Dì grìchon sínd lèbenslûstig, àber étwas patètis in ìra áusdruxwâise. Áin bùch háisst gláich bìblios, dèn áusgang nénnen si éxodos, dèr transpórt ís gláich dì metáphora. In der Türkei sünd di löyte ser gastfröyndlich in yede sitüasyön, Bulgarija und Jugoslavija sind komunistic und problematic. Die DDR is weniger problematish, aber umso komunistisher, andrerseits sind die leute entspannter als im westen, ausser sie werden von eim westler angesprochen. In Schandinavien sind de svensker vi de sveizer, de norske vi de österriker, und die finän haabän mit däa gantsän sachä niks zu tuun, si sind gastfröindlich wii dii türkän. Nuur melankoolisa, das is aaba auch kain vunda, bai däa kältä. Und dânn nach Froncreisch: Venne dou lébensmide bist, cannst dou in France vorschlagène, ire orthograph mer simple zou machén, vaile sie danne gans beuse verdênne. In Espana macht a sich daruber cayne sorguen, und dasch prtugisisch fon Prtugaul can man sovisô nisch refrmirn. Esch isch unrfrmirbar.20

Das System, das Zé do Rock entwickelt hat, gipfelt momentan in den extremen Schreibungen des „Siegfriedischen“ und „Kauderdeutschen“,21 ersteres ersetzt alle im Deutschen fremdsprachigen Ausdrücke durch möglichst „rheinblütige“,22 die zweite Variante versucht eine weitestgehende Transformation deutscher Sprache in ein lateinisch-romanisch-angelsächsisches Vokabular zu überführen. Sprachliche, besonders lautliche und orthographische Klischees werden satirisch überspitzt, das Verfahren erlaubt eine persönliche Annäherung an die fremde Sprache, es vermag sprachliche (und damit verbunden: kulturelle) Unterschiede in ein eigenes System zu integrieren und schafft damit etwas, was – analog zu Yoko Tawada – in weiterem Sinne als globalisierender Akt begriffen werden kann. Die Art einer dem Hörverstehen folgenden Schreibung literarischer Texte kann also durchaus begriffen werden als ein ‚individual turn‘ gegen sprachlich orientierte Integrationsnormen. Dabei bleibt immer der spielerische Blick auf kulturelle und sprachliche Standards erhalten, der die Differenzen zwischen einer individuellen kulturellen und sprachlichen Wahrnehmung und Äußerung und einer als fremd erfahrenen transparent hält, durchaus zum ‚gaudium‘ der Leser. Beide Autoren, Yoko Tawada und Zé do Rock, interpretieren also ihre Fremdsprachenerfahrungen neu und gießen sie in ein spielerisches sprachliches System um. Zu betonen ist jedoch, dass dies innerhalb der neu er20 Do Rock: deutsch gutt, S. 188. 21 Vgl. ebd., passim. 22 Vgl. ebd., S. 136.

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lernten Fremdsprache Deutsch geschieht. Die Auseinandersetzung mit der Fremdwahrnehmung wird realisiert aufgrund der konkreten Erfahrung mit divergenten lautlichen, grammatischen, semantischen und pragmatischen Realien, die zur eigenen sprachlich-kulturellen Sozialisation in Beziehung gesetzt werden müssen. Eine solche Sichtweise ist nur aufgrund einer Fremdheitserfahrung denkbar. Wie gezeigt konstruieren beide Autoren eine ausgesprochen individuell geprägte sprachliche Welt und präsentieren sie einem wohl als deutschsprachig intendierten Publikum. Diese Leserschaft wird also mit der Inszenierung einer Fremdheit des Eigenen (hier der Muttersprache) konfrontiert. Jenen, deren Muttersprache nicht die deutsche ist, werden Möglichkeiten eröffnet, wie eine individuelle Wahrnehmung und damit verbunden eine individuelle Äußerung erreichbar sein könnten. Da sich die Texte auf die konkrete Sprachverwendung konzentrieren, bringen sie eine ästhetische Qualität in die Literatur zurück, die einige Zeit vergessen schien: Sprachreflexion und Spiel mit der Sprache als Ausgangspunkt literarischen Erzählens. Dass diese Rückbesinnung innerhalb einer Literatur der Migration, der Alterität inszeniert wird, ermöglicht weiter reichende Diskussionen um den Standort dieser Literaturform innerhalb des aktuellen kulturellen Lebens. Die Konstruktionen von Zé do Rock und Yoko Tawada beweisen, dass gerade die Erfahrung von Fremdheit von persönlichen Reaktionen geprägt ist und die kollektiven Vorgaben, seien sie sprachlicher, kultureller oder literarischer Natur, auf innovative Weise am besten auf individuelle, vielleicht gar spielerische Art überprüft werden können. Darüber hinaus zeigen die globalisierenden Verfahren in den einzelnen Texten, dass Fremdheit und individuelle Wahrnehmung ein überall anzutreffendes Phänomen sind – und somit nur unzureichend für ein ethnozentrisches oder gar nationalistisches Kulturverständnis vereinnahmt werden können.

Literatur Ackermann, Irmgard (Hg.): Als Fremder in Deutschland. München 1982. Ackermann, Irmgard (Hg.): In zwei Sprachen leben. München 1983. Ackermann, Irmgard (Hg.): Türken deutscher Sprache. München 1984. Bánk, Zsuzsa: Der Schwimmer. Frankfurt a.M. 2002. Biondi, Franco: Die Anfänge. In: Ders.: Nicht nur Gastarbeiterdeutsch. Gedichte. KleinWinterheim 1979, S. 37. Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2000. do Rock, Zé: Vom winde ferfeelt. welt-strolch macht links-shreibreform. Berlin 1995 [neuausgabe light. Leipzig 1997]. do Rock, Zé : deutsch gutt sonst geld zuruck. A siegfriedische und kauderdeutshe ler- und textbuk. München 2002. Engin, Osman: Der Deutschling. Berlin 1985. Engin, Osman: Der Sperrmüll-Effendi. Reinbek 1991.

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Engin, Osman: Dütschlünd Dütschlünd über üllüs. Berlin 1994. Engin, Osman: Oberkanakengeil. Geschichten aus dem deutschen Alltag. Berlin 2001. Engin, Osman: GötterRatte. München 2004. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Amsterdam 1939 [hier zitiert nach der Ausgabe Hamburg 2004]. Mora, Terézia: Alle Tage. München 2004. Pamuk, Kerim: Sprich langsam, Türke. Hamburg 2002. Sorko, Katrin: Die Literatur der Systemmigration. Diskurs und Form. München 2007 [=Entwicklungen und Diskurse 1]. Spivak, Gayartri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson; Larry Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana 1988, S. 271-313. Tawada, Yoko: Talisman. Tübingen 1996. Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen 1998. Tawada, Yoko: Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie. Tübingen 2000. Tawada, Yoko: Überseezungen. Tübingen 2002. Trojanow, Ilija (Hg.): Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur. Köln 2000. Veteranyi, Aglaja: Warum das Kind in der Polenta kocht. Stuttgart 1999. Zaimoğlu, Feridun: Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft. Hamburg 1999.

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Zur Bedeutung von Ritualen und ritualisierten Abläufen in erfolgreicher Literatur Literarisches Lesen kann, insbesondere im Falle der unterhaltungsorientierten Rezeption von Literatur, gleich auf mehreren Ebenen von Ritualen geprägt sein. Völlig textunabhängig finden sich alleine auf die Lesesituation bezogen nicht nur feste Lesegewohnheiten (wie z.B. grundsätzlich in der Bahn oder vor dem Einschlafen lesen), sondern auch feingliedrige Inszenierungen des Lesens (Telefon aus, Schokolade, Tee, Lieblingssessel…), die dazu dienen, den Rezeptionsgenuss zu erhöhen, indem die Entspannung des Lesers auch durch äußere Merkmale gefördert wird, und die das Lesen als Handlung aus dem Alltag hervorheben und als besonderen Vorgang markieren. Im Falle vieler besonders erfolgreicher literarischer Texte lassen sich übergreifend bestimmte Handlungsverläufe und -elemente abstrahieren, die den Genreverbund, dem der jeweilige Text zugerechnet werden kann, markieren und die von Lesern bei der Auswahl der Lektüre oft ebenso erwartet wie bei der Rezeption dann genossen werden können. Im Zusammenhang mit Literatur, insbesondere erfolgreicher ‚Unterhaltungsliteratur‘, werden die Begriffe des Schemas, der Konvention und der Schablone oft (ab-)wertend gebraucht – abgewertet wird damit nicht nur der Text an sich, sondern mit ihm auch sein Autor und nicht zuletzt derjenige Leser, der einen derartigen Text genießend rezipiert. „Dass ihre Produkte standardisiert und zielgruppenspezifisch formatiert sind, wertet Unterhaltung keineswegs ab“, zumindest nicht automatisch. Häufig handelt es sich bei den wiederkehrenden Elemente nicht um sture Wiederholungen einer starren Schablone und im Bestfall zaghafte Variationen, sondern vielmehr um regulierende Strukturen, die von hoher Komplexität sein können und über ihre einzelne inhaltliche Bedeutung hinaus für den Gesamttext von sinntragender Bedeutung sein können und trotzdem offen für Weiterentwicklung, Ausbau und Kombination sind. Damit lassen sie sich als ästhetisch besonders ausgezeichnete, geregelte Wiederholungshandlungen […] in einem Kontinuum zwischen „streng fixiert“ einerseits und „spielerisch-re 

Entsprechende Schilderungen aus qualitativen Interviews finden sich bei Pfarr/Schenk: „Erzählen Sie doch mal…“. Faulstich: „Unterhaltung“ als Schlüsselkategorie, S. 16.

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flexiv“ andererseits […][,] zwischen ästhetisch und sequentiell „elaboriert und differenziert“ […] einerseits und „schematisiert und reduziert“ andererseits

verorten und so als Rituale bezeichnen. Zudem wird diese Bezeichnung auch der empathischen Komponente der Rezeption von Literatur mit wiederkehrenden Elementen eher gerecht, die regelrecht zelebriert werden kann und damit sowohl den Vorgang des Lesens als auch den konkreten Lektüregegenstand erhebt. Diese ritualisierten Elemente und die entsprechenden emotionalen Skripts, die der Leser mit diesen Elementen und ihrer Rezeption verknüpft, lassen die textinternen Rituale als Kommunikationshandlung zwischen Text und Leser erscheinen. Sie erleichtern dem Leser das Hineinfinden in den Text, markieren wie das „Es war einmal…“ beim Märchen die Grenze zur Fiktion, und helfen so auch dabei, geschilderte Situationen in den vorhersehbaren Gesamtzusammenhang des Textes einzuordnen und zu bewerten. Zugleich aber bieten sie dem Rezipienten auch eine Möglichkeit, dem Text gegenüber eine gewisse Distanz einzunehmen, die z.B. als schützender Rahmen dienen kann, wenn der Text besonders emotional bewegende oder auch grausame und schockierende Details beinhaltet, wie es beispielsweise bei den im Folgenden noch genauer betrachteten forensischen Kriminalromanen, die auch als Medical Thriller bezeichnet werden, der Fall ist. Das Vorwissen um den Verlauf bestimmter ritualisierter Abläufe kann während der Lektüre dabei helfen, die einzelne, konkrete Umsetzung gespannt rezipieren zu können, ohne dass die überhand nehmende Spannung über den Ausgang einer Handlung diese genussvolle Rezeption erschwert oder gar verhindert. Ein zentrales Merkmal ritualisierter Abläufe in erfolgreicher Literatur ist es, dass der konkrete Handlungsablauf auch ohne Kenntnis seines Ritualcharakters genussvoll rezipiert werden kann, die Ritualkenntnis sozusagen nur eine weitere Dimension des Leseerlebnisses eröffnet, es aber nicht alleine determiniert. Insofern lassen sich in gewissem Maße bereits auf Basis mehrerer konkreter Texte abstrahierte Genremuster als Ritualisierungen der Literatur deuten, deren Kenntnis Lesern bei der Lektüre ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und die dem Rezipienten auch dabei helfen können, intentional eine besondere Wirkung berechnend, einen Text für die Lektüre auszuwählen und dessen Bestandteile dann während des Lesens entsprechend einzuordnen und zu interpretieren. Dies kann dann bedeuten, dass während der Lektüre Inferenzen dem Rezeptionsziel angepasst werden können, kann aber auch zur Folge haben, dass ein Leser, in Erwartung eines bestimmten Verlaufs, Hinweise auf einen Handlungsablauf, der dem Muster nicht entspricht, lange übersieht.   

Braungart: Ritual und Literatur, S. 72 f. Vgl. Christmann/Schreier: Kognitionspsychologie, S. 256. Vgl. László/Viehoff: Literarische Gattungen, S. 243.

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Genremuster bieten den Literaturproduzenten und -rezipienten Orientierung auf dem für den Laien quasi unüberschaubaren Buchmarkt. Sie dienen der Klassifikation von Geschmacksfeldern, wobei, wenn ein Genre schon besonders ausgeprägt ist, bereits Andeutungen und kleinste Informationen (z.B. Name des Autors) zur Einordnung genügen. Genremuster werden im Bereich der Paratexte und damit der externen Lesemotivation durch die Covergestaltung, durch Verweise (bei Romanserien auf die Hauptfigur, gerne aber auch durch die Nennung von anderen Autoren/Figuren, die ein vergleichbares Genremuster repräsentieren) und die Verwendung von Schlüsselworten im Klappentext angesprochen. Entsprechende, mehr oder weniger direkte Andeutungen sind vorausgenommene Reaktionen auf die Erwartungen der Leser, die sich wiederum aus ihren bisherigen Rezeptionserfahrungen ergeben. Viele Leser suchen nach Texten, die die Wiederholung einer positiven Leseerfahrung ermöglichen, und reagieren daher auf Analogie- und Ähnlichkeitssignale verschiedenster Art. Auf dem gegenwärtigen Buchmarkt wird auch die äußerliche Gestaltung der Bücher immer weitergehender in diesem Sinne genutzt. Als Leseobjekt, das ihnen die Distanzierung vom Alltag ermöglichen soll, suchen Freizeitleser häufig nicht unbedingt nach einem Text, dessen Lektüre die letzte positive Rezeptionserfahrung übertrifft. Vielmehr scheint es häufig die Aussicht auf eine stabil positive Lektürewirkung zu sein, die als Auslöser für die Auswahl des neuen Lektüregegenstands genügt. Verspricht ein Text Analogien zu in der Vergangenheit positiv rezipierten Titeln, so kann dieses Vorwissen ein Gefühl der Kontrolle über die Situation und den Gegenstand, mit dem man sich unterhalten lassen möchte, vermitteln und damit wiederum das tatsächliche Eintreten von Unterhaltung befördern, da Souveränität und Kontrolle Determinanten für das Unterhaltungsempfinden darstellen können. Weicht ein Text hingegen zu stark von bisher rezipierten Mustern ab, so wird nicht nur ein überragendes Leseerlebnis möglich, sondern es steigt auch das Risiko für einen Misserfolg und damit eine Frustration während der kostbaren, der Lektüre gewidmeten Freizeitstunden. Aber: Auch wenn Unterhaltungskommunikation per se als Ritual organisiert ist und entsprechend zeremoniell begangen wird […], ist darin konstitutiv und erwartbar inbegriffen das jeweils Unerwartete oder Überraschende, welches gerade diese Gelegenheit des Unterhaltenwerdens von jeweils anderen, ähnlichen Gelegenheiten signifikant unterscheidet.

   

Vgl. Muth: Leseglück. Vgl. Früh: Unterhaltung: Konstrukt und Beweislogik, S. 40. Vgl. Anz: Literatur und Lust, S. 70: „Wer von dem Komplexitätsgrad einer Reizkonfiguration in seiner Kompetenz über- oder unterfordert wird, reagiert auf die Schwierigkeiten mit Unlust.“ Ganz-Blättler: Krimi als Sport und Spiel, S. 201.

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Mit der Entscheidung für einen (vermeintlich) bekannten Ablauf ist also keineswegs zwingend die Ablehnung von Variationen verbunden; Innovationen können in diesem Zusammenhang gerade im Zusammenspiel mit einer festen Rahmung ausprobiert werden. Die Kombination erfahrungsgemäß wirksamer Strukturen mit neuartigen Elementen und Versatzstücken kann besonders produktiv und reizvoll sein, zugleich werden Neuerungen so gewissermaßen im ‚abgesicherten Modus‘10 ausgeführt. Eine gewisse Verlässlichkeit ist erfolgreicher Literatur in den meisten Fällen eigen; Kohärenz und Abgeschlossenheit der zur Unterhaltung rezipierten Texte stehen im Gegensatz zur Vieldeutigkeit und grundsätzlichen Offenheit des Lebensalltags und können von Lesern als angenehm, entspannend und wohltuend erfahren werden. Die Sicherheit dieser Ordnung sorgt für eine Grundentspannung, die es wiederum erleichtert, die inhaltliche Spannung im Verlauf der konkreten Lektüre nicht nur zu ertragen, sondern sogar genießen zu können. Bei Texten, die jenseits jeder bisherigen Leseerfahrung liegen, fehlt eine solche Komponente. Die Etablierung neuer Rituale und ritualisierter Abläufe erfolgt daher zumeist durch die Kombination mit bereits etablierten Mustern, denen „zwischen Originalität und Tradition eindeutig eine eigenständige Vermittlerrolle zuerkannt“ wird.11 Insofern ist während der Etablierungsphase des Neuen also eine Interaktion zwischen Text und Leser vorhanden, als die Anzahl der Leser (und ihre positive Reaktion, die sich in Weiterempfehlungen und damit der Steigerung der Verbreitung eines Textes zeigt) über Erfolg und Weiterentwicklung des neuen Handlungsmusters entscheidet. Am Beispiel der Medical Thriller lässt sich eine solche Neuentwicklung von Genremustern und Ritualisierung von Abläufen besonders gut betrachten, da sie sich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu einer der beliebtesten Subkategorien des ebenso etablierten und beliebten wie ausdifferenzierten Genres des Kriminalromans entwickelten und damit innerhalb dieses groben Rahmens eine eigene spezifische Nische besetzen. Medical Thriller verfügen über ein relativ festes, aber dennoch sehr produktives Genremuster, das inzwischen sogar medienübergreifend auftritt. Kriminalromane basieren im Allgemeinen auf einer Konfrontation mit dem Tod, die dem ersten Augenschein nach nur als Auslöser für einen spannungsorientierten Handlungsverlauf dient; zugleich beheimaten sie in der gegenwärtig massenhaft verbreiteten Literatur häufig nicht nur Gesellschaftskritik, sondern behandeln darüber hinaus Auseinandersetzungen mit den Grundfragen des menschlichen (Zusammen-)Lebens. Auch die forensischen Thriller widmen sich der detektivischen Aufklärung von Mordfällen, der zentrale Ausgangs- und Bezugspunkt dieser Ermittlungen ist aber 10 Vgl. den Begriff der „abgesicherten Rezeption“ bei Mikos/Eichner: Involvement, S. 300. 11 Weninger: Konvention und Germanistik, S. 300.

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immer der tote menschliche Körper,12 der so dafür sorgt, dass die Konfrontation mit dem Tod als Grundvoraussetzung der Kriminalhandlung nicht völlig zugunsten des lustvollen Miträtselns in den Hintergrund gerät, das wiederum durch „die Offenheit, mit der die Clues, die Indizien, erzählt werden“13 provoziert wird. In these investigative texts, the body is not neatly arranged in a locked room, and murderers are not necessarily apprehended: we are far from the libraries and drawing-rooms of classic detective fiction. Decomposing corpses (in the novels of Patricia Cornwell, for example) become central characters.14

Der tote Körper liefert durch die an ihm offenkundigen Spuren des Verbrechens alle für die Aufklärung der Fälle notwendigen Hinweise, die durch die ermittelnden Forensiker dann ausgewertet werden müssen. Durch den steten Rückbezug auf das bzw. zumeist die Opfer wird deren Tod und die ihm zugrundeliegende Verletzung immer präsent gehalten und die Toten wirken fast wie lebendige Bestandteile der Geschichte, da es stets die Erkenntnisse sind, die im Rahmen der langwierigen und intensiven Untersuchungen der Körper im Verlauf der Handlung gewonnen werden, welche die entscheidenden Wendungen der story motivieren. Gleichzeitig vermitteln die medizinische Fachsprache und die streng naturwissenschaftliche Vorgehensweise eine Distanz zu dieser Todesthematik und stellen besondere Rituale zur Verfügung, die die im Rahmen der Literatur erfolgte Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens literarisch auffangen. Gemeinsam mit der für das gesamte Genre des Kriminalromans geltenden Sicherheit, dass am Ende das Verbrechen aufgeklärt wird – was nicht unbedingt bedeuten muss, dass der Täter gefasst oder bestraft wird –, wird so verhindert, dass die Thematik und die direkten Schilderungen das Leseerlebnis trüben. Medical Thriller führen insbesondere mit der drastischen Direktheit, die die Schilderungen prägt, klassische Eigenschaften von Kriminalromanen mit Kennzeichen von Thrillern zusammen15 und vereinen damit lockende und schockende Elemente auf geradezu selbstverständlich wirkende Art und Weise: [T]he thriller unsettles the reader less by the magnitude of the terrors it imagines than by the intensity of the experience it delivers: assaults upon the fictional body, a constant awareness of the physicality of danger, sado-masochistic scenarios of 12 „Lifeless the corpse may be in definition, but in the craft of crime and mystery writing it has a vital role in continuing to foster invention and variation of convention.“ (Vgl. Reilly: Corpse, S. 92). 13 Hügel: Detektiv, S. 156. 14 Horsley: Twentieth-Century Crime Fiction, S. 114. 15 Vgl. ebd., S. 139: „As the older investigative tradition comes together with the post-1970s currency of the idea of the serial killer, we see the emergence of a narrative structure in which Holmesian methods are combined with serial thriller fascination, often within narratives that move towards the kind of closure associated with classic detective fiction.“

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torture or persecution, a descent into pathological extremes of consciousness, the inner world of the psychopath or monster.16

Den Grundstein für das neue Genre der forensischen Medical Thriller legte Patricia Cornwell mit dem 1990 erschienenen ersten ihrer inzwischen fünfzehn Romane um den weiblichen Chief Medical Examiner Dr. Kay Scarpetta.17 Die Gerichtsmedizinerin ermittelt ausschließlich anhand der Spuren an der Leiche, sie wendet die jeweils neuesten Techniken im Bereich der Spureninterpretation an und schreckt auch nicht vor blutigen Rekonstruktionsversuchen zurück, um die Entstehung von Verletzungen zu erklären. Ihr Vorgehen wird stets genau beschrieben und ihre Schlussfolgerungen werden so für den Leser nachvollziehbar. 1997 legte dann Kathy Reichs ihren ersten Roman (von inzwischen zehn Titeln) um die forensische Anthropologin Dr. Temperance Brennan vor, deren Lebens- und Arbeitsorte (Charlotte/USA und Montreal/Kanada) mit denen der Autorin, von Beruf selbst praktizierende und lehrende forensische Anthropologin, identisch sind.18 Tempe Brennan wird im Unterschied zu Cornwells Protagonistin Kay Scarpetta meist erst zu Ermittlungen hinzugezogen, wenn die Leichen entweder besonders schwer zugerichtet oder schon stark verwest sind oder sich gar nur noch Knochen finden. In diesen Fällen ist durch diese Distanz zum intakten menschlichen Körper zwar eine Abstraktion geschaffen, die geschilderten Handlungen werden dadurch aber zugleich noch verschärft. Wie die amerikanische Autorin Tess Gerritsen, die seit 2001 immerhin eine sechsteilige Romanfolge um Dr. Maura Isles veröffentlichte,19 versuchen immer mehr Autoren mit Einzelveröffentlichungen im Stile der Gerichtsmedizinthriller an den Erfolg der beiden paradigmatischen Autorinnen Cornwell und Reichs anzuknüpfen und teilweise auch eigene Reihen zu eta-

16 Glover: Thriller, S. 138. 17 In der Reihenfolge ihres Erscheinens sind dies: Post mortem (1990; dt. Titel: Mord am Samstagmorgen bzw. Ein Fall für Kay Scarpetta), Body of Evidence (1990; Ein Mord für Kay Scarpetta), All That Remains (1992; Herzbube bzw. Das fünfte Paar), Cruel and Unusual (1993; Vergebliche Entwarnung), The Body Farm (1994; Body Farm bzw. Das geheime ABC der Toten), From Potter’s Field (1995; Die Tote ohne Namen), Cause of Death (1996; Trübe Wasser sind kalt), Unnatural Exposure (1997; Der Keim des Verderbens), Point of Origin (1998; Brandherd), Black Notice (1999; Blinder Passagier), The Last Precinct (2000; Das letzte Revier), Blow Fly (2003; Die Dämonen ruhen nicht), Trace (2004; Staub), Predator (2005; Defekt), Book of the Dead (2007; Totenbuch). 18 Die Romanreihe um Temperance Brennan umfasst bislang folgende Titel: Déjà Dead (1997; erschienen unter dem deutschen Titel Tote lügen nicht), Death du Jour (1999; Knochenarbeit), Deadly Decisions (2000; Laßt Knochen sprechen), Fatal voyage (2001; Durch Mark und Bein), Grave Secrets (2002; Knochenlese), Bare Bones (2003; Mit Haut und Haar), Monday Mourning (2004; Totenmontag), Cross Bones (2005; Totgeglaubte leben länger), Break No Bones (2006; Hals über Kopf) sowie Bones to Ashes (2007; Knochen zu Asche). 19 Tess Gerritsens Romane mit Maura Isles: The Surgeon (2001; dt. Titel: Die Chirurgin), The Apprentice (2002; Der Meister), The Sinner (2003; Todsünde), Body Double (2004; Schwesternmord), Vanish (2005; Scheintot) sowie The Mephisto Club (2006; Blutmale).

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blieren, was jedoch wenigen wirklich erfolgreich gelingt.20 Auch zahlreiche deutschsprachige Kriminalromane (und Fernsehkrimis) greifen auf die Figur des Rechtsmediziners/der Rechtsmedizinerin zurück und es ist insgesamt eine Schwerpunktverlagerung auf medizinisch-naturwissenschaftliche Lösungsansätze in Kriminalnarrationen zu beobachten. Dies geschieht sicherlich auch, um die Neuentwicklungen im Bereich der diagnostischen Verfahren auch in fiktionalen Kontexten relevant zu machen.21 Die Verlässlichkeit und Sicherheit, die diese Einzelelemente vermitteln, sind aber weit von der Wirkungsmacht der miteinander verknüpften, wiederkehrenden und sinntragenden Abläufe im Medical Thriller entfernt. Trotzdem sind entsprechende Formate gerade im Fernsehen derzeit Quotenrenner, die Figur der Tempe Brennan diente als Inspiration für die gleichnamige Titelheldin einer international erfolgreichen Fernsehserie, die unter dem Titel Bones ausgestrahlt wird, der amerikanische Serienverbund CSI22 hat mehrere Sendeplätze in der Woche und auch in originär deutschen Kriminalfilmen und -serien sind immer mehr Gerichtsmediziner zu finden, die immer zentralere Rollen bekommen und auch für die Handlung immer wichtiger sind: Die Bandbreite geht dabei von Der letzte Zeuge über festes Personal in einigen Ermittlergruppen des Tatort (besonders Münster, aber auch Köln und Saarbrücken) bis hin zu deutschen Produktionen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in Bezug auf kommunikativen Stil sowie Kameraund Schnitttechnik, fast 1:1 eine Adaption der CSI-Folgen darstellen (Post mortem). Die gegenwärtig starke Präsenz der Gerichtsmedizin in den Medien wird auch innerhalb der literarischen Medical Thriller thematisiert: Andere literarische Figuren werden als Rollenvorbilder mit ihren Standard-Sätzen zitiert oder die Darstellungen werden als beschönigend oder unrealistisch beurteilt.23 Was sind nun die immer wiederkehrenden Rituale und Konstanten des Medical Thrillers? 20 Beispielhaft hierfür sei Simon Beckett mit seinen beiden Romanen Chemistry of Death (2006; Chemie des Todes) und Written in Bone (2007; Kalte Asche) angeführt, der das Schema insofern variiert hat, als er einen männlichen Protagonisten einsetzt. Schon weniger populär ist die Romanreihe von Beverly Connor um die Gerichtsmedizinerin Diane Fallon: One Grave Too Many (2003; Sterbliche Hüllen), Dead Guilty (2004; Die vierte Schlinge) und Dead Secret (2005; Das Gesetz der Knochen). Dead Past (2007) ist noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen. 21 Insgesamt lässt sich derzeit ein Trend zu den so genannten „Police Procedurals“ feststellen (vgl. Scaggs: Crime Fiction, S. 91): „The police procedural, on both sides of the Atlantic, is a type of fiction in which the actual methods and procedures of police work are central to structure, themes, and action.“ Dieser Gruppe können die forensischen Thriller sicherlich auch als besondere Ausprägung zugerechnet werden (vgl. auch ebd., S. 100, und Hügel: Detektiv, S. 157). 22 CSI steht für Crime Scene Investigation; die einzelnen Serien haben unterschiedliche Schauplätze, der Ablauf ist aber identisch. 23 So zitiert z.B. Dr. Leonie Simon im Geiste den Gerichtsmediziner Börne aus dem Münsteraner Tatort (vgl. Kampmann: Fremdkörper, S. 240).

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Die Hauptfiguren der Romane sind weibliche Rechtsmediziner zwischen Ende dreißig und fünfzig. Sie sind äußerst intelligent und verfügen über eine anerkannte und hohe Ausbildung. Als Persönlichkeit sind sie nicht immer einfach – was sich bei Romanserien häufig mit der Zeit durch Analepsen in die Vergangenheit der Figuren erklärt –, sie haben in der Regel kein Privatleben und keine stabile Partnerschaft (mehr) und fühlen sich so auch häufig einsam. Als Frauen in einer Männerdomäne fühlen sie sich mit ihrem Beruf und den dadurch begründeten Verhaltensweisen sowie ihrer zumeist sehr empathischen und oftmals intuitiven Herangehensweise an den Berufsalltag oft unverstanden. Die Verknüpfung der streng auf nachprüfbare Fakten ausgelegten Vorgehensweise24 mit emotionalen Bezügen und dem Eingeständnis der Protagonisten, dass sie die Fälle über das nötige berufliche Maß hinaus beschäftigen und verfolgen, beeinflussen die besondere Atmosphäre vieler forensischer Romane maßgeblich. Die Vorgehensweisen der Leichenöffnung und -untersuchung werden detailliert geschildert, Fachvokabular wird verwandt und in Exkursen werden diese Begriffe, die Vorgänge und ihre Funktionen genau dargestellt und erklärt. Das berufliche Verhalten der Medizinerinnen ist so zwar einerseits durch die Verletzung der Leichname im Rahmen der Obduktionen und der weitergehenden Untersuchungen geprägt, weist aber auch eine emotionale Komponente auf, wenn die Figuren sich und anderen gegenüber die Würde jedes einzelnen Toten betonen und sich, oft ausdrücklich, weigern, in den Leichen nur ein Untersuchungsobjekt und den Initiator der Ermittlungen zu sehen.25 In dieser Form der Verantwortlichkeit für die einzelnen Toten 24 In fast jedem forensischen Thriller findet sich auch ein entsprechendes ‚Credo‘ der Protagonistin über ihre Berufsauffassung. So z.B. Kampmann: Macht der Bilder, S. 145: „Ich bin Ärztin, Wissenschaftlerin, wenn Sie so wollen. Ich glaube nicht an irgendwelchen Hokuspokus, sondern an das, was ich sezieren, analysieren und beweisen kann.“ 25 Exemplarisch sei für diese Beobachtungen ein längeres Textzitat aus Kathy Reichs Roman Knochenarbeit angeführt. Nachdem drei Erwachsene und zwei Babys in einem teilweise verbrannten Haus gefunden wurden, sichert die Ich-Erzählerin Tempe Brennan eine Verletzung am Brustkorb eines der Babys. Die Fragen, die Ryan (ein FBI-Agent) zur Verfahrensweise stellt, sind die Fragen, die sich auch dem Leser stellen. Tempes professionelles Umgehen mit der Leiche schützt sie trotzdem nicht vor Emotionen – im Gegenteil: Sie begründet ihren Beruf und die Notwendigkeit ihres Handelns häufig damit, den Toten ihre Würde und Identität nur durch diese Untersuchungen zurückgeben zu können, da diese sonst namenlos und die Täter unbestraft blieben. „Ich maß fünf Löffel eines rosafarbenen Pulvers ab, schüttete sie in ein Glasschälchen und goß zwanzig Kubikzentimeter eines klaren flüssigen Monomers hinzu. Ich rührte um, und nach einer Minute hatte sich die Mischung zu einer Masse verdickt, die aussah wie rosafarbenes Plastilin. Ich formte daraus einen Ring und legte ihn so auf die winzige Brust, daß er die Quetschung völlig umschloß. […] Ich griff nach einer Tube und drückte eine klare Flüssigkeit um den Rand des Rings. ‚Was ist das?‘ fragte Ryan. ‚Zyanoacrylat.‘ ‚Riecht wie Sekundenkleber.‘ ‚Ist es auch.‘ Ich wartete einige Augenblicke und zog dann sanft an dem Ring, um zu sehen, ob der Kleber schon hart war. Noch ein paar Tropfen, ein wenig Warten, und der Ring hielt. […] ‚Fertig‘, sagte ich und trat zurück. Mit einem Skalpell durchtrennte

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liegt das Überschreiten der Kompetenzen (sowohl innerhalb der Romanwelt, aber auch im Vergleich mit dem realistischen Profil dieses Berufs im amerikanischen, besonders jedoch im deutschen Rechtssystem) begründet, das die Rechtsmedizinerinnen bei fast jeder ihrer Ermittlungen begehen. Dabei hilft ihnen der gute Kontakt zu einer festen Bezugsperson bei der Polizei, die häufig ebenfalls keine einfache Persönlichkeit ist, wodurch meist ein gewisses Verständnis füreinander besteht, andererseits aber auch eine tiefer gehende persönliche Annäherung verhindert wird. Im Rahmen der meisten Romanserien existiert zumindest ein Band, in dem die Hauptfigur selbst zum Zentrum des Interesses des Täters wird und so nicht nur als Ermittler, sondern auch als potenzielles Opfer in die Handlung involviert ist.26 Das scharf in die Kategorien von gut und böse aufgeteilte Denken der Medizinerinnen wird durch die Handlung regelmäßig aufgebrochen und fordert so immer wieder eine Neupositionierung der Charaktere. Aus den deutschsprachigen Titeln, die das Genremuster des Medical Thrillers mit nur wenigen Veränderungen adaptieren, stechen die recht erfolgreichen Romane von Renate Kampmann um die Hamburger Rechtsmedizinerin Dr. Leonie Simon heraus.27 In den erst drei bisher erschienenen Romanen Kampmanns finden sich bereits fast alle typischen Merkmale und Handlungsstrukturen forensischer Kriminalromane. Insbesondere die detaillierte Darstellung der forensischen Untersuchungsschritte fällt hierbei auf, die sogar häufig durch einen Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens begleitet wird und damit die Erklärung von der übrigen Handlung deutlich absetzt.28 Auch die Protagonistin Leonie Simon selbst ist eine LaManche die Haut um den Ring, wobei er so tief schnitt, daß sich auch das darunterliegende Fettgewebe löste. Als er den Ring abhob, klebte das verletzte Hautstück straff und fest daran, wie ein winziges Gemälde in einem runden, rosafarbenen Rahmen. LaManche legte das Beweisstück in ein Gefäß mit einer klaren Flüssigkeit, das ich bereithielt. ‚Was ist das?‘ fragte Ryan noch einmal. ‚Eine zehnprozentige, gepufferte Formalinlösung. In zehn bis zwölf Stunden ist das Gewebe fixiert. Der Ring wird dafür sorgen, daß es keine Verzerrungen gibt, so daß wir später, falls wir eine Waffe haben diese mit der Verletzung vergleichen können. Und natürlich haben wir auch noch die Fotos.‘ ‚Warum benutzen Sie nicht einfach nur die Fotos?‘ ‚Mit dem hier können wir eine Transillumination durchführen.‘ ‚Eine Transillumination?‘ Da ich im Augenblick wenig Lust auf einen naturwissenschaftlichen Vortrag hatte, hielt ich die Erklärung einfach. ‚Man kann das Gewebe durchleuchten, um zu sehen, was sich unter der Haut befindet. Das fördert oft Details zutage, die auf der Oberfläche nicht sichtbar sind.‘ […] Als ich mich abwandte, spürte ich eine große Traurigkeit, und ich konnte nicht anders, ich mußte die winzige Hand anheben. Sie fühlte sich weich und kalt in meinen Fingern an. Ich drehte die Klötzchen am Handgelenk. M-A-T-H-I-A-S. Es tut mir leid, Mathias“ (vgl. Reichs: Knochenarbeit, S. 94 f.). 26 Dies ist z.B. der Fall in Cornwell: Der Keim des Verderbens; Reichs: Laßt Knochen sprechen sowie Kampmann: Im Schattenreich. 27 Kampmann: Die Macht der Bilder; Im Schattenreich und Fremdkörper. Für 2008 ist der nächste Romane um Dr. Leonie Simon unter dem Titel Fremder Schmerz angekündigt. 28 Vgl. z.B. Kampmann: Im Schattenreich, S. 88-89. Der Fund einer stark verwesten Leiche zwingt Leonie Simon dazu, eine forensische Entomologin, Ursula Kühn, hinzuzuziehen,

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geradezu paradigmatische Hauptfigur eines Medical Thrillers. Die alleinstehende Ärztin arbeitet am Hamburger rechtsmedizinischen Institut und unterrichtet an der medizinischen Fakultät, sie ist Einzelgängerin und überschreitet ihre Kompetenzen in den Romanen stets deshalb, weil sie die Fälle besonders beschäftigen und betreffen. Im ersten Band muss sie sich das freundschaftliche Verhältnis zum ermittelnden Kommissar erst erarbeiten, das sich in den späteren Texten aber weiter festigt und bewährt. Leonies eigene Vergangenheit wird schrittweise thematisiert, da sie versucht, die Ermordung ihrer Mutter aufzuklären, die starb, als Leonie noch ein Kind war. In diesem Zusammenhang lernt Leonie auch ihren Halbbruder kennen, von dem sie bis dato noch nichts wusste. Er ist es, der Leonies Gut-BöseDenken auf die Probe stellt: Selbst Krimineller, liefert er ihr im Rahmen einer Ermittlung aber wichtige Hinweise, die zur Ergreifung eines Heckenschützen führen.29 Bei den Verbrechen, die in Medical Thrillern thematisiert werden, handelt es sich durchgehend um Serienmorde. Der Einstieg in die Ermittlungen erfolgt meist durch den Fund eines oder von Leichenteilen, die Handlung wird in der Regel aber durch den Fund neuer Opfer weiter beschleunigt, so dass die Ermittler nicht nur bereits geschehene Taten aufzuklären versuchen, sondern damit auch weitere Verbrechen vereiteln und so Menschenleben retten wollen. Durch die ausschließliche Präsentation besonders brutaler Verbrechen und damit auch extremer Täter wird eine Distanz zur gängigen um anhand der Insektenbesiedlung genauere Aussagen zum Todeszeitpunkt und den -umständen machen zu können: „Seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Ursula Kühn hatte sich Leonies Verhältnis zu Insekten erheblich verändert. Statt unangenehmer, wenn auch notwendiger Teil des Kreislaufs der Natur waren Maden und Käfer für sie zu kleinen Hilfstruppen der Todesermittler geworden, die dort weitermachten, wo der Rechtsmediziner seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, weil der Fäulnisprozess einer Leiche schon zu weit fortgeschritten war. Die Insektenbesiedlung eines toten Körpers erfolgt in mehreren Schritten. Schmeißfliegen sind in der Regel die ersten, die kurz nach Todeseintritt eintreffen. Sie reagieren auf Blut- und Fäulnisgeruch und setzen sich gern auf Wundern und, wenn keine blutenden Verletzungen vorhanden sind, auf Körperöffnungen wie Nase, Mund, Augen, Ohren und Geschlechtsteile. Dort legen sie ihre Eier in kleinen Paketen ab, und je nach äußeren Gegebenheiten wie Luftfeuchtigkeit und Temperatur und je nach Fliegengattung schlüpfen die Larven, auch Maden genannt, nach einem oder mehreren Tagen oder Wochen und beginnen sofort, den toten Körper zu verzehren. Nach einer gewissen Zeitspanne verpuppt sich die Larve, und aus der Puppe schlüpft nach Ablauf weiterer Tage die neue Fliege. Und genau diese Zeiträume sind es, die der Entomologe berechnen und durch die er auf zwei bis vier Tage genau den Todeszeitpunkt bestimmen kann. Nach den Insekten, die frische Leichen lieben, gibt es diejenigen, die erst kommen, wenn das Gewebe schon stark zersetzt und dadurch weicher geworden ist. Käfer wiederum mögen es fester und interessieren sich erst für tote Körper, wenn die ausgetretene Fäulnisflüssigkeit völlig abgetrocknet ist und die Leiche zu mumifizieren beginnt. Leonie betrachtete die unbekannte Tote und fragte sich, ob auch in diesem Fall die Insekten helfen würden, den Täter zu finden.“ 29 Vgl. Kampmann: Fremdkörper.

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Verbrechensrealität geschaffen, zugleich führt diese Konzeption aber auch dazu, dass gängige Erklärungsansätze und Versuche, die Motivation des Täters zu begründen, scheitern müssen und daher in der Regel kaum auf entsprechende Aspekte, z.B. gesellschaftskritischer Art, eingegangen wird und die Erklärung für die Taten einzig in den pathologischen Befunden des Täters zu liegen scheint, der einfach böse ist.30 In den Romanfolgen lassen sich die Weiterentwicklungen der kriminalmedizinischen Techniken wie z.B. der DNA-Diagnostik mitverfolgen, so dass die älteren Texte Cornwells unterdessen fast überholt scheinen, in denen z.B. auf DNA-Untersuchungen mehrere Wochen gewartet werden muss und diese so zwar möglich, aber wegen des Zeitdrucks nur selten praktikabel sind. Insbesondere in den amerikanischen und amerikanisch inspirierten Fernsehserien wird der Einsatz der forensischen Untersuchungen nicht nur detailliert beschrieben, sondern durch die filmische Umsetzung geradezu zelebriert. Es fehlt aber häufig die Erklärung der Verfahrensweisen, so dass diese zusammen mit der zugrundeliegenden modernen Technik zu geheimnisvollen Werkzeugen der Ermittler werden. Interessanterweise sind hier auch meistens Teams zur Ermittlung nötig, eine Person alleine scheint die unterschiedlichsten Kenntnisse hier kaum vereinen zu können. Im literarischen Medical Thriller hingegen „kehrt mit dem Pathologen wieder Sherlock Holmes in die Arena des literarischen Verbrechens zurück“:31 Eine Einzelperson schafft es nicht nur, alle relevanten Details wahrzunehmen, die dem Leser ja im Rahmen der Handlung ebenso vermittelt werden, sondern kann sie auch alleine ordnen, die richtigen Schlüsse daraus ziehen und so die Lösung des Falls finden. Die Bedeutung, die die Verlässlichkeit und empirische Beweisbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden als zentraler Orientierungspunkt ihres Lebens für die Figuren in den Medical Thrillern hat, und das Gefühl der Sicherheit, das bei den Figuren dadurch bewirkt wird, überträgt sich in gewissem Maße auch auf den Leser. Wenn die Sicherheit dieses Bezugspunktes im Rahmen der Handlung aber zu schwanken scheint und den Charakteren so ihr Fixpunkt zu schwinden droht, wirft sie dies völlig aus der Bahn und verunsichert damit nicht nur die Lebens- und Weltsicht der Hauptfiguren, sondern auch das Vertrauen des Lesers in diese Rituale als feststehende Orientierungspunkte des Genremusters. Die sicher geglaubten Handlungsfortschritte, die aufgrund der entsprechenden Erkenntnisse und deren Nutzung erwartet werden, werden plötzlich (vermeintlich) ungewiss, die Zweifel, die während des Textes an der forensischen Methodik geschürt werden, bewirken durch die Bestätigung ihrer Wirksamkeit mit der Lösung des Falls am Ende des Texts aber zuletzt eher eine Stärkung des Vertrauens in ihre Zuverlässigkeit. Sie 30 Vgl. auch Scaggs: Crime Fiction, S. 99 f. 31 Brittnacher: Engel in der Morgue, S. 113.

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fungieren so auch als Bestätigung der ritualisierten Abläufe, bestätigen und erweitern im Verlauf der Lektüre also die Leseerfahrungen der Rezipienten mit diesem Genremuster.32 Wenn der Leser durch die Handlung dazu angestiftet wird, sein Vertrauen in den Erfolg der Ermittlungstaktik zu hinterfragen, so wird von ihm eine Auseinandersetzung mit dem Text gefordert, die sein Leseerleben deutlich beeinflussen und intensivieren kann.33 Da er den entsprechenden Ablauf aufgrund seiner Leseerfahrung möglicherweise aber auch wieder erwarten kann, obliegt ihm die Möglichkeit, sein Leseerlebnis aktiv zu beeinflussen, wenn er sich mit diesen durch die Handlung gestifteten Zweifeln mehr oder weniger auseinandersetzt. Ähnliches ist möglich, wenn der Leser seine Aktivität beim Miträtseln um den Täter variieren kann und entsprechend intensiv auf die Hinweise in den Textdetails achtet oder nur als unbeteiligter Zuschauer die Lösung des Falls beobachtet und sich vom Ausgang überraschen lässt.34 Indem diese verschiedenen Möglichkeiten gegeben sind, kann die Ritual- und Genrekenntnis für den Leser zusätzliche Anreize geben, ist aber für eine lustvolle Lektüre nicht obligatorisch. Da empathisches Miterleben insbesondere beim unterhaltungsorientierten Lesen häufig erwünscht ist, kann Literatur dann auch dazu ‚benutzt‘ werden, gewisse Stimmungen zu erreichen.35 Die Kenntnis von Genremustern kann dann dem Leser dabei helfen, einen auf die individuelle Situation angepassten Text zu finden, der keine (negativen) Überraschungen bereitzuhalten und so eine erwartet positive Leseerfahrung anzubieten scheint. Aus dieser Perspektive betrachtet, bedeuten Genremuster, Rituale und ritualisierte Abläufe entsprechend nicht mangelnde literarische Originalität, Einfallslosigkeit und Langeweile, sondern sie geben dem literarischen Text ein zuverlässiges Grundmuster, das dem Leser die Lektürewahl erleichtert. Wenn bestimmte Grundkonstellationen und Abläufe klar sind, können zudem Feinheiten detaillierter dargestellt und insbesondere bei Romanfolgen parallele Handlungswelten aufgebaut werden, die beispielsweise die private Entwicklung der Hauptfiguren schildern. Dem Leser 32 Vgl. Braungart: Ritual und Literatur, S. 76: „Variation und Abweichung sind im Ritual reguliert und kontrolliert. Sie werden nur in einem bestimmten Rahmen zugelassen, der das ganze Ritual nicht gefährden darf bzw. der selbst ritualisiert ist […].“ 33 Vgl. Stockwell: Cognitive Poetics, S. 2-3 u.ö. 34 Vgl. Mangold/Unz/Winterhoff-Spurk: Erklärung, S. 176, sowie Früh: Triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie, S. 31: Abwechslung und variierte Wirkung könne auch „im Kopf des Zuschauers durch dessen Aktivität [entstehen]. Deshalb ist eine abwechslungsreich-dynamische Präsentation (externale Abwechslung) auch nur teilweise mit kognitiver Abwechslung (internaler Abwechslung) gekoppelt.“ 35 Als theoretische Modellierungen hierfür sind insbesondere der Uses-and-Gratifications-Approach sowie die Mood Management-Theorie anzuführen. Einen Überblick zum Uses-andGratifications-Konzept bietet Rubin: Uses-And-Gratifications-Perspektive, zur Mood-Management-Theorie vgl. Zillmann: Mood Management sowie Knobloch: Mood Management Theory.

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wird damit eine zusätzliche Bindung an die Texte angeboten, durch die ein gesteigertes Interesse an Folgetexten motiviert werden kann. Besonders erfolgreiche Romane orientieren sich zumindest in einem gewissen Maße an den Wünschen und Bedürfnissen der Leser und versuchen zugleich, diesen mit neuen Elementen zu begegnen. Feststehende Abläufe helfen dem Leser aber während der Lektüre auch bei der Orientierung im Handlungsverlauf und der Bewertung einer Situation im Text. Insbesondere wenn das Lesen durch (auch längere) Pausen unterbrochen wird, wie es beim Freizeitlesen häufig der Fall ist, wird es damit Lesern erleichtert, sich wieder in die Lektüre einzufinden. Rituale fördern so die allgemeine Entspannung beim Lesen und damit auch den Lektüregenuss. Das Auftreten ritualisierter Abläufe bestätigt zudem den individuellen Leser in seiner Leseerfahrung und aktualisiert gleichzeitig die durch diese Leseerfahrungen gewonnenen Konzepte von positiver Rezeptionswirkung und Lektüreinteressen. Durch das Lesen eines breit rezipierten Textes hat der einzelne Leser teil an einem zwar individuell praktizierten, aber doch auch bei anderen Lesern und zugleich sozial und gemeinschaftlich empfundenen Ritual des Sich-FaszinierenLassens durch einen in sich selbst wiederum ritualisierten Text.36 Die im Text ritualisierten Abläufe erleichtern dem Leser dabei, sich auf die konkrete Handlung in Form einer Rezeptionshaltung einzulassen, die sich auf die neuen, d.h. wechselnden Elemente der Handlung konzentriert und damit den Leser in gewisser Weise von einer dauerhaft gleich intensiven Aufmerksamkeit auf den Text entlastet, da die groben Abläufe bekannt sind und die Gewissheit besteht, dass spätestens zum Ende die Auflösung erfolgt, bei der die verschiedenen Handlungsfäden mit den relevanten Informationen wieder zusammengeführt werden. Der Leser kann so gleich doppelt zum Ritual­teilnehmer werden, indem er erstens überhaupt den Text rezipiert und zweitens versucht, die Lektüre aktiv zu gestalten und stetig selbst auf Basis der Textinformationen Vermutungen über den weiteren Verlauf, im Medical Thriller v.a. über den Täter, anstellt. Bringt der Leser die für letzteres notwendige aktive Auseinandersetzung mit dem Lektüregegenstand nicht auf, so ist er dennoch zumindest Ritualzuschauer. Der Leser hat die Intensität der Leseerfahrung selbst in der Hand und kann sie individuell an seine Bedürfnisse anpassen. Für erfolgreiche Literatur müssen entsprechende Rituale immer wieder neu festgelegt werden, dabei entstehen neue Genremuster in der Regel durch die Neuerfindung von Handlungsabläufen, die positiv und vielfach rezipiert und infolge dessen wieder aufgegriffen und perfektioniert werden. Die ritualisierten Abläufe übernehmen hierbei die Funktion „eines Arguments und Generators im literarischen Textgeschehen“37 und erhalten 36 Zur sozialen Bedeutung geteilter Unterhaltungserfahrungen vgl. z.B. Engelhardt: Kultureller Habitus. 37 Neumann: Begriff und Funktion, S. 51.

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so eine weitere Bedeutung für die Produzenten und Rezipienten und auch für den populären Text selbst.

Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 2002. Beckett, Simon: Die Chemie des Todes. Reinbek 2006. Beckett, Simon: Kalte Asche. Reinbek 2007. Braungart, Wolfgang: Ritual und Literatur. Tübingen 1996 [Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 53]. Brittnacher, Hans Richard: Die Engel in der Morgue. Über den Trend zur Forensik im amerikanischen Kriminalroman. In: Bruno Franceschini; Carsten Würmann (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre. Berlin 2004 (Juni; 37/38), S. 101-118. Christmann, Ursula; Schreier, Margit: Kognitionspsychologie der Textverarbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin u.a. 2003, S. 246-285 [Revisionen; 1]. Cornwell, Patricia: Ein Fall für Kay Scarpetta. München 1992. Cornwell, Patricia: Ein Mord für Kay Scarpetta. München 1992. Cornwell, Patricia: Herzbube. München 1992. Cornwell, Patricia: Vergebliche Entwarnung. München 1994. Cornwell, Patricia: Das geheime Abc der Toten. München 1995. Cornwell, Patricia: Die Tote ohne Namen. Hamburg 1996. Cornwell, Patricia: Trübe Wasser sind kalt. Hamburg 1997. Cornwell, Patricia: Der Keim des Verderbens. Hamburg 1998. Cornwell, Patricia: Blinder Passagier. Hamburg 2001. Cornwell, Patricia: Brandherd. Hamburg 2001. Cornwell, Patricia: Das letzte Revier. Hamburg 2002. Cornwell, Patricia: Die Dämonen ruhen nicht. Hamburg 2004. Cornwell, Patricia: Staub. Hamburg 2005. Cornwell, Patricia: Defekt. Hamburg 2006. Connor, Beverly: Sterbliche Hüllen. München 2006. Connor, Beverly: Dead Past. Memphis 2007. Connor, Beverly: Die vierte Schlinge. München 2007. Cornwell, Patricia: Totenbuch. Hamburg 2007. Connor, Beverly: Das Gesetz der Knochen. München 2008. Engelhardt, Michael von: Kultureller Habitus und Unterhaltung. In: Dieter Petzold; Eberhard Späth (Hg.): Unterhaltung. Sozial- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu ihren Formen und Funktionen. Erlangen 1994, S. 7-26 [Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften; 70]. Faulstich, Werner: ,Unterhaltung‘ als Schlüsselkategorie von Kulturwissenschaft: Begriffe, Probleme, Stand der Forschung, Positionsbestimmung. In: Werner Faulstich; Karin Knop (Hg.): Unterhaltungskultur. München 2006, S. 7-20. Früh, Werner: Triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU). In: Werner Früh; HansJörg Stiehler (Hg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln 2003, S. 27-56. Früh, Werner: Unterhaltung: Konstrukt und Beweislogik. In: Werner Wirth; Holger Schramm; Volker Gehrau (Hg.): Unterhaltung durch Medien. Theorie und Messung. Köln 2006, S. 25-46.

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Scaggs, John: Crime Fiction. London, New York 2005 [The New Critical Idiom]. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An introduction. London, New York 2002. Weninger, Robert: Konvention und Germanistik. Germanistik ohne Konvention? Zur (Re)Konstruktion eines literaturwissenschaftlichen Begriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 36, 1993, S. 294-316. Zillmann, Dolf: Mood Management. Using Entertainment to Full Advantage. In: Lewis Donohew; Howard E. Sypher; E. Tory Higgins (Hg.): Communication, social cognition and affects. Hillsdale 1988, S. 147-171.

Literatur und andere Spiele

Pierre Mattern

Text, Wettkampf, Spiel Zur historischen Typologie des Verhältnisses Sport – Literatur Das Spiel lässt sich als visuelles Medium behandeln. Als solches versammelt es erst einmal recht karge Sprachformen um sich herum: Erklären und Entscheiden – also beschreibendes Sprechen, das potentielle Teilnehmer unterweist, und verbindliches Sprechen, wie Regelwerk und dessen Anwendung, das aktuelle Teilnehmer einander zuordnet. Solange man Spielen mimetisch lernen kann, ist das Sprechen subsidiär; auch wenn’s komplizierter wird, bleibt es streng referentiell. Es ist einer Praxis einbeschrieben und bezieht sich auf deren Vorgänge. Es bedarf weiterer Vor­ aussetzungen, wenn Spielen nicht nur eine strenge Beziehung zwischen Sehen und Sprechen sein soll, sondern auch mit der Beziehung zwischen beidem spielt, mit den Brücken und Abgründen zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit. Eine dieser Voraussetzungen ist sicher das Auftreten von Körpern an der Seite oder an der Stelle vom Spielgerät – ein Auftreten, das man herkömmlicherweise Sport nennt. Das Spielfeld wird zur Projektionsfläche, der Zuschauer ist mehr als ein potenzieller Teilnehmer. Ahmt er die Spieler nach, dann muss das nicht wiederum auf einer eingerichteten Spielfläche geschehen. Man kann Sportler ohne Sport sein, aber man kann auch Zuschauer bleiben. Der professionelle Zuschauer ist ein Sprecher oder Wetter. Spricht er, so erweitert er das Register der Sprachformen mit massenmedial (und nicht mehr nur milieu-)kompatiblen Paraphrasen. Er fügt dann der Entscheidung die Einschätzung hinzu, der Erklärung die sprachlich gefasste Stimmungslage, nimmt damit der sprachlichen Referenz ihre Eindeutigkeit und eröffnet die Möglichkeit, sie zu problematisieren. Der Wetter, der nicht wie der Wettkämpfer gegen die Körper, sondern mit der Chance spielt, verbleibt dagegen im engen Rahmen der alten Sprachspiele. Der passionierte Zuschauer tut das nicht. Stattdessen: Gebetartiges Sprechen, opferartige Handlungen, Pflege ekstatischer Zustände. Ritus? Religion? Karneval? Jedenfalls ein triumphaler Einzug in das Feld der Kulturtheorie. In der großen Frage nach dem 

Vgl. Gebauer u.a.: Treue zum Stil, S. 12-14.

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Weltbezug des Religiösen taucht plötzlich der Sport auf, oder jedenfalls der passionierte Zuschauer, der Fan. Nach den Kategorien von Roger Caillois sind die Fans nicht bloß quasireligiös, sondern auch Spieler. Mit ihnen versammeln sich um den Agon herum die Spielformen Ilinx und Mimikry, also Rausch und Maske. Es sind Spiele mit dem Spiel, sie ziehen bloß nicht, wie die Wette, aus dem Ergebnis des Wettkampfs ein weiteres Ergebnis, sondern zunächst einmal aus seinem Stattfinden ein weiteres Stattfinden. Dabei muss die Grenze des Agons respektiert werden. Geschieht das nicht, bestimmt etwa die Wette den Agon, dann mündet das in den Skandal; siegen Maske und Rausch über ihn, erfolgt die Katastrophe, der Platz wird gestürmt: „der Fan, wenn er von der Polizei nicht gehindert wird, killt das Spiel.“ Es gibt eben nicht bloß – wie man vor freilich vielen, vielen Jahren einmal gedacht hat – eine Welt des Ernstes um das Spiel herum; es gibt vielmehr Spielformen am Rande des Spiels – und deren Kollision kann sehr ernste Konsequenzen haben. Fan und Reporter, d. h. die Körper-Spiele am Rand des Agons und die Übertragungsmedien, sie sind die entscheidenden Gestalten in der Genealogie der zeitgenössischen Sportliteratur. Und zweifellos nicht der traditionelle Autor, von dem einige noch immer den großen Sport-Roman erwarten. Was den Sport betrifft, so ist der literarisch interessante Überschuss der Sprache durch Geschwätz und quasireligiösen Karneval entstanden. Im Folgenden gehe ich der These nach, dass sich bisher drei mögliche Verhältnisse der Literatur zum Sport ergeben haben. Sie lassen sich beschreiben, wenn man das, was sich im Bildmedium Spiel zu erkennen gibt, auf einen Nenner bringt: die Aufeinanderfolge von Aktion und Entscheidung. Unter ‚agonaler Ordnung‘ verstehe ich im Folgenden eine strikte Zuordnung von Aktion und Entscheidung. Die Entscheidung folgt der Aktion, und sie qualifiziert die Aktion im Nachhinein. Zu dieser agonalen Ordnung, zum Spielcharakter des Sports, haben sich bisher drei mögliche Verhältnisse der Literatur ergeben: (1.) die problematisierende Trennung, (2.) die moralisierende Umkehrung, (3.) die zelebrierende oder skeptische Anerkennung. Mein Beitrag bezieht die späte Durchsetzung des dritten Typus auf das Auftauchen eines Feldes aus vier Historisierungsmöglichkeiten. Durchgeführte Spiele (ohne moralische Brechung und ohne Subversion ihres agonalen Charakters) sind heute Bestandteile (a.) biographischer Geschichte, (b.) politischer Geschichte, (c.) der Sportgeschichte sowie (d.) der Geschichte von Spracherfahrungen.

  

Vgl. Caillois: Die Spiele, S. 19 f. Delius: Fußball, S. 49 f. Vgl. Seel: Zelebration, S. 95 f.

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Literatur kann die Subversionen des Agons beschreiben oder erzählen – sie kann sie aber auch selber herbeiführen. Und sie kann ihn respektieren, was wiederum nicht unbedingt heißt, ihn zu beschreiben oder zu erzählen. Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird: Unter diesen Gesichtspunkten ist die Beziehung der Literatur zum Sport relativ fruchtbar gewesen. Allerdings nicht nach Maßgabe des poetischen Realismus (und seiner Nachfolger), sondern nach Maßgabe der ‚Fremdsprachlichkeit‘, gewissermaßen der Verwunderung der Sprache gegenüber dem Agon, gegenüber dem, was der Wettkampf zu sehen gibt, d.h. angesichts der Entdeckung eines Bildmediums im Sport.

Katastrophe, Skandal und Resistenz Bis vor nicht allzu langer Zeit galten die Beziehungen zwischen Sport und Literatur bzw. zwischen Sport und Geistes- oder Kulturwissenschaften als reine Missverhältnisse. Im Jahre 1997 konnten Kommentatoren immer noch auf den „großen Sport-Roman“ warten, da sie augenscheinlich vor­ aussetzten, realistische Epik könne da eine adäquate Beziehung stiften. Doch scheint sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren so etwas wie ein Thematisierungsschub zu ereignen. Literaten wie Theoretiker zelebrieren geradezu ihre frühen Erfahrungen mit – und ihr gegenwärtiges Wissen um den Sport, zumeist um den Fußball. Was zuvor besonders heikel zu sein schien, geht nun ungemein leicht von der Hand. Der Sport wird rückblickend als Sozialisationsinstanz entdeckt, der vor allem den Knaben die wichtigen ersten Schritte „vom ‚Über-Ich‘ zur ‚fitness-Orientierung‘“ gehen ließ, also dazu verhalf, in einer sich informalisierenden Gesellschaft sich nicht wie auf einem fremden Planeten zu fühlen. Schon allein dafür gebührt ihm das Lob immerhin schon zweier Generationen vor allem männlicher Schreiber, die sich denn auch mit einer Reihe enttrivialisierender Theoriegriffe bedanken. Freilich konnten schon im Jahre 1936 Sport und Literatur einander so äußerlich nicht mehr sein, denn als es Georg Lukács in diesem Jahre um eine literaturpolitische Unterscheidung zwischen (politisch erwünschtem) Erzählen und (unerwünschtem) Beschreiben in der epischen Prosa ging, wählte er zur Illustration zwei Sportszenen. In Tolstois realistischem Ro    

Ein knapper Überblick, auf den Fußball beschränkt, bei Moritz: Das unfähige Leder. Nach ebd., S. 6. Vgl. Delius: Der Sonntag; ders.: Fußball; Pfeiffer: Das Mediale, S. 439-596; Theweleit: Das Tor; Gumbrecht: Lob des Sports; Claussen: Bela Guttmann. Blinkert: Vom „Über-Ich“. Vgl. Lukács: Erzählen oder Beschreiben, S. 197-199.

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man Anna Karenina nimmt der Graf Wronski, der Geliebte Annas, an einem glänzenden Pferderennen teil – und stürzt. In Zolas naturalistischer Nana findet sich ein Passus, bei dem es sich mit Lukács’ Worten um „eine kleine Monographie des modernen Turfs“ handelt – mit dem gesamten Ablauf des Wettkampfs und mit all seinen Vorbereitungen, mit dem überraschenden Sieg eines der Kontrahenten und auch mit dem sich dahinter abzeichnenden Wettbetrug. Lukács weitergehende politische Interessen sollen hier nicht noch einmal aufgerufen werden. Auf der Ebene seiner Beispiele ist er weniger legislativ als symptomatisch. In ihnen gesteht er der Literatur zwei Möglichkeiten zu, den Sport zu thematisieren. Es handelt sich um zwei typische, in gewisser Weise aber auch extreme Möglichkeiten. Einmal die Katastrophe des Wettkampfs: Er wird begonnen, kollabiert aber und kann nicht beendet werden. Die zweite extreme Möglichkeit, die Lukács kennt, ist der Skandal: Er kommt darin zum Ausdruck, dass der Wettkampf zwar durchgeführt und entschieden, aber von anderen Interessen bestimmt und verfälscht wird. ‚Extrem‘ kann man diese Möglichkeiten insofern nennen, als die agonale Ordnung entweder für die außerhalb ihrer ohnehin herrschenden Macht- oder Gewaltverhältnisse so weit durchlässig wird, dass diese die agonalen Kräfte für sich nutzen (Skandal) – oder aber sich als völlig porös erweist, indem die äußeren Gewalten die agonalen Kräfte ganz oder teilweise beseitigen, so dass der Agon erst im Kollaps interessant wird (Katastrophe). Selbstverständlich lassen sich daraus weitere Varianten der schleichenden, verkappten oder offenen Subversion des Agons konstruieren. So kann der einzelne Teilnehmer psychischem Druck nicht gewachsen sein, oder die ganze Veranstaltung kann kollabieren, oder – konstruktivistische Variante – der Zuschauer mag mit seinen Eindrücken nicht zurecht kommen. Doch darüber hinaus ergibt sich auch die Möglichkeit, dass das agonale Feld den bedrohlichen Kräften gegenüber resistent ist, dass es kriminellem, politischem oder auch moralischem Druck zum Trotz zu einer geniun agonalen Entscheidung kommt. Dies geschieht etwa in Sergio Olguíns Roman Die Traummannschaft (2004), wo es zwei Schilderungen von Fußballspielen gibt, die den Agon nicht nur als mögliches Manipulationsobjekt, sondern auch als möglichen Resistenzpunkt vorstellen. Im ersten Teil scheint die Mannschaft des jugendlichen Erzählers auswärts einen unerwarteten und wohl auch gar nicht gewollten Sieg zu erzielen, muss sich daraufhin gegen die Übergriffe der gewalttätigen Heimmannschaft zur Wehr setzen und bekommt den Sieg dann „wegen unerlaubten Verlassens des Spielfeldes“ aberkannt. Aber im zweiten Teil wankt die Macht der das Slumviertel beherrschenden Gang, nachdem deren Mannschaft trotz vorsorglicher Gewaltmaßnahmen ein Bolzplatzturnier gegen ein (allerdings zum Sieg motiviertes) Indioteam verliert. So ‚märchenhaft‘ dieser Schluss

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dann sein mag, wichtig ist hier, dass in diesem Fall der agonalen Ordnung keine Scheinkonsistenz mehr zugesprochen wird, sondern dass sie auf die Kräfteverhältnisse ihrer Umgebung einwirkt.10 Andererseits kann das agonale Feld mit seiner spezifischen Sichtbarkeit, seinen spezifischen Ereignissen und der auf ihm immer wieder dramatisierten Differenz von Können und Gelingen auch immer noch aus dem Text ‚herausgeschrieben‘ werden. Dies geschieht etwa in Bodo Kirchhoffs BodyBuilding (1980). Die drei Texte, die unter diesem Titel versammelt sind (die Erzählung Der Mittelpunkt des Universums, das Schauspiel Body-Building und der Essay Körper und Schrift) eskamotieren zunehmend das Moment des Agons. Die Tatsache des Wettkampfs wird gegenüber der Narzissmusproblematik im ersten Text immerhin noch zweimal, im zweiten, dem Schauspiel, einmal und im anschließenden Essay überhaupt nicht mehr erwähnt – hier geschieht stattdessen eine Bewaffnung mit Theorie, mit der sich der Sprecher eine andere als agonale Sichtbarkeit intellektuell absichern will.11 Franzobels Fußballokratie zieht aus dem Begehren nach Theorie den logischen Schluss und führt ein Gemeinwesen vor, wo man endlich „der Theorie dieses Franzosen Rechnung getragen und den verfrühten Verlust der Plazenta und die daraus entstandenen Traumata durch eine komplette Verfußballisierung abgefangen“ hat – so dass sich die Haut der Fußballallergikerin Frau Kreil in allen Fußballfarben verfärbt, bis sie – in einem umgekehrten Akt des ‚BodyBuilding‘ – schließlich „wie ein Fernseher implodierte“, ihr geschundener Körper „tausende, abertausende kleiner Fußbälle“ entlässt und mit ihnen die gläubige Menge speist.12 Der ein für alle Mal beseitigte seelische Mangel bedarf nicht mehr der Sichtbarkeit agonaler Ordnung, sondern schwelgt in den Freuden einer alleinherrschenden „Präsenzkultur“.13

Drei Typen Noch einmal der Turf. Torbergs letzter Ritt des Jockeys Matteo auf Belladonna tritt in seine letzte Phase: Ob das noch ein ‚plötzlicher Vorstoß‘ genannt werden konnte, mit dem Matteo die Spitze nahm, ließe sich schwer sagen. Die Stute löste sich so leicht vom Feld, in so deutlich gesteigertem Regelmaß, daß es schien, als würde sich der Abstand 10 Olguín: Die Traummannschaft, S. 65-68, S. 136-140 und S. 177 f. 11 Kirchhoff: Body-Building, S. 10 („Einmal war ich sogar Vierter...“), S. 18 („Gewonnen hatte damals Pfitzenberger, zu Unrecht...“), S. 42 („ohne meinen Spiegel, / hätten Sie wahrscheinlich keine Chance / bei der / Wahl – keine gute –“). 12 Franzobel: Fußballokratie, S. 85 und S. 89. 13 „Präsenzkultur“ nach Gumbrecht: Lob des Sports, S. 41-45; dort selbstverständlich nicht als idealer Zustand, sondern als Differenz zu „Subjektkultur“: „ein Instrument zur Herstellung weiterer Unterscheidungen“ (S. 41).

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gleich regelmäßig immer weiter vergrößern, unaufhaltsam, das hinter ihr waren überhaupt keine Gegner. Doch zeigte sich bald, daß ihr Reiter sich da entweder übernommen hatte, oder aber das übrige Feld – nämlich die geschlossen dahinterliegende Gruppe Odysseus, Come on! und Irrwisch – hatte das Tempo gleichfalls gesteigert: jedenfalls kam Belladonna nicht weiter als auf höchstens drei Pferdelängen los. Die hielt sie. Bis Odysseus aufrückte. Und wenn man schon von Matteos Ansatz den Eindruck der Unaufhaltsamkeit gehabt hatte: was war dann dieses hier? Wie wollte man dieses geradlinige Hinflitzen bezeichnen, in dem Kovácz nach vorn kam und bald an Matteo vorübermußte, mußte, bald, auf den nächsten Metern in der nächsten Sekunde, jetzt – Es war am Ende der ersten Geraden, es waren jene tausend Meter vor dem Ziel, an denen Kovácz seinen Gegner doch abzuhängen hätte, um sich für alle Fälle gegen unliebsame Überraschungen zu sichern – so hoch hatte sich ja das höchste Vertrauen, das man bei klaren Sinnen für Matteo noch haben konnte, verstiegen. Und Matteo, der alte Matteo, hat es rechtfertigt. Hat gehalten, was man im besten Fall von ihm erwartete. Wenn man es recht besieht, so hat er das Rennen in seinem bisherigen Verlauf – und das waren fast zwei Drittel – zu einer richtigen Sensation gestaltet, hat dem besten europäischen Jockey tatsächlich allen Widerstand entgegengesetzt dessen er fähig war, ein großer Kampf den er da liefert, sein größter vielleicht, der alte Matteo, es ist prachtvoll, es ist kaum glaublich, sie schreien sich die Kehlen heiser, sie recken sich die Hälse und stehen auf den Fußspitzen, es ist ‚alles drin’ was in dem Rennen nur sein kann, es ist genug. 14

Was sehen die Zuschauer? Sie sehen, wie gerade eine Aktion in eine Entscheidung übergeht. Die agonale Entscheidung ‚reagiert‘ zwar nicht auf die Erwartung von Subjekten,15 doch bleibt sie immer Erwartungen zugeordnet, zeichnet sich vor ihnen ab. Die Erwartung sagt: „es ist genug“, die Entscheidung aber fügt dem noch etwas hinzu, sei es auch das schwer Erträgliche. Alles das, was die Zuschauer wissen, die Vorgeschichte, die Einschätzung, die Kenntnis der möglichen ‚Spielzüge‘ wie z.B. den „plötzlichen Vorstoß“, setzen sie ein, um genau dies zu sehen: den Übergang einer Aktion in eine Entscheidung. Und wer das Wissen um Matteo und Kovácz nicht haben sollte, sieht auf jeden Fall doch die beiden Komponenten, die Aktion und die Entscheidung, wenn vielleicht auch weniger ‚bedeutsam‘ miteinander verbunden. Wenn man sich fragt, was im Sport wohl das Faszinationsobjekt sein mag, dann ist es vielleicht nicht allein der Körper, der „Präsenz hat“16 – dann ist es vielleicht dieser irreversible Übergang von Aktion in Entscheidung, in eine Entscheidung, die alle vorhergehenden Entscheidungen (Material, Aufstellung, Spielzüge etc.) qualifiziert. Welche andere Entscheidung der sportlichen Aktion auch vorausgehen mag oder sie begleitet, sinnfällig beim Sport, wie gesagt, ist auf jeden 14 Torberg: Der letzte Ritt, S. 97-99. 15 Zur allgemeinen Beziehung zwischen Entscheidung und Erwartung vgl. Luhmann: Die Wirtschaft, S. 278 f. 16 Gumbrecht: Lob des Sports, S. 40.

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Fall die Aufeinanderfolge von Aktion und Entscheidung und zwar allein in dieser Reihenfolge. Dabei hat Literatur schon seit längerem die spezifische Kopplung dieser beiden Komponenten, die den sportlichen Agon ausmacht, in den Blick genommen. Diese Kopplung lässt sich nicht nur beschreiben, sie kann auch bearbeitet werden oder bezeugt. Gerade die Literatur der Klassischen Moderne hat sich ungemein fruchtbar darin gezeigt, den Zusammenhang zwischen der Handlung und der Entscheidung zu lockern oder aufzulösen. Dies in immer neuen Varianten. So beginnt Kafkas früher Prosatext Zum Nachdenken für Herrenreiter (1910) mit dem Satz: „Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.“ Dem Ruhm folgt mögliche Reue, möglicher Neid und möglicher Schmerz, die Beziehungen zur Umwelt werden durch den Sieg nachdrücklich getrübt.17 Auch in dem späten Fragment vom Olympiaschwimmer setzt sich die Welt des Siegers und die des Teilnehmers am Wettkampf falsch zusammen: Das Festkomitee, das den Olympiasieger empfängt, spricht nicht dieselbe Sprache wie dieser, und deshalb kann er der übrigen Welt auch nicht klarmachen, dass er überhaupt nicht schwimmen kann.18 Der kleine verstorbene Fußballfan in Horváths Legende vom Fußballplatz (1924) wird im Himmel mit dem Anblick eines nie abzupfeifenden Fußballspiels belohnt, bei dem sich die ausführenden Engel allerdings nur schwer in die menschliche Motorik finden. 19 In Horváths Sportmärchen (1924) findet unter der Oberfläche des sportlichen Agons der hinterhältige und unerklärte Krieg der Dinge gegen die Menschen statt. Auch wenn es sich um erzieherische Institute handelt, wird die Verbindung von Aktion und Entscheidung gekappt: In Frank Wedekinds Fragment Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen (1903) werden zwar Schönheitswettbewerbe unter den weiblichen Zöglingen durchgeführt, die jungen Auserwählten verschwinden jedoch ein für alle Mal aus dem Gesichtsfeld der Erzählerin.20 Der Schüler Gerber, der in Rilkes Erzählung Die Turnstunde (1902) im militärischen Drill ein einziges Mal über sich und die Leistungen seiner Kameraden hinauswächst, stirbt wenige Minuten später an Herzversagen. All dies sind Varianten für die Triumphskepsis dieser Literatur, die den agonspezifischen Zusammenhang von motorischer Aktion und Entscheidung aufschiebt, ausblendet, zu Bedenken gibt oder verrätselt. Gegen Anfang des Mannes ohne Eigenschaften gibt Robert Musil dieser Lockerung des Zusammenhangs von Handlung und Entscheidung sogar eine konzeptuelle Form. Im siebten Kapitel des ersten Buches (1930) ent17 18 19 20

Kafka: Herrenreiter, S. 30 f. Kafka: „Der große Schwimmer!...“ Horváth: Sportmärchen, S. 50-54. Wedekind: Mine-Haha, S. 47.

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wickelt Ulrich gegenüber seiner ‚Retterin‘ Bonadea die Theorie, dass das Ausführen sportlicher Handlungen zu den formalisierten Sportarten im selben Verhältnis stehe wie früher einmal die Mystik zur Theologie: Das Sporterlebnis habe die Mystik, die Formalisierung des Sports die Theologie ersetzt. Hierbei beschränkt sich Ulrich aber ausdrücklich auf die vom Bewusstsein wenig oder gar nicht berührten motorischen Aktionen, ohne Berücksichtigung ihres Erfolges. Im dreizehnten Kapitel wird diese zweite Komponente nachgeholt. Ulrich beobachtet nun die Hegemonie der Sportsprache, die sich mittlerweile auf den akademischen Karriereweg bezieht und dabei alte ‚idealistische‘ Auszeichnungen zweckentfremdet („Wissenschaft als Training“, sowie das berühmte „geniale Rennpferd“). Ulrich meint, dies müsse katastrophale Folgen für den alten idealistisch-akademischen Erfolgsbegriff haben, der auf Dauer und nicht bis zur nächsten Saison angelegt gewesen sei.21 Genauso gut könnte man negative Folgen für den subjektzentrierten Entscheidungsbegriff befürchten, der bei der Privilegierung des Sports sozusagen auf der anderen Seite der Aktion steht, der ihr sichtbar folgt und nicht unsichtbar vorhergeht, der keiner Innerlichkeit mehr zuzuschreiben ist. Musil ist ein Beispiel für eine besonders ausgefeilte und intellektualisierte Variante, die dennoch dem Usus der erwähnten Textgruppe folgt, motorische Aktion und Entscheidung als die beiden agonspezifischen Komponenten einander zu ‚entfremden‘. Die sehr viel spätere Erzählung Peter Handkes, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), die manchem als unrealistischste und womöglich verstiegenste Behandlung des Sports von Seiten der Literatur gilt,22 handelt im Grunde davon, dass der ExTormann Bloch zu der Form der Sport-Beschreibung gelangt, welche die Literatur der Klassischen Moderne bevorzugt hatte. Am Ende der Erzählung gibt Bloch einem Fußballzuschauer zwei Hinweise. Der erste Hinweis – beim Angriff auf den Tormann und nicht auf den Angriff selber zu sehen – lenkt die Aufmerksamkeit auf einen rein körperlichen Vorgang, nämlich darauf, wie der Tormann „die Hände auf den Schenkeln, vorlaufe, zurücklaufe, sich nach links und rechts vorbeuge und die Verteidiger anschreie.“ Dies sind schon zur Entstehungszeit des Textes herkömmliche Fernsehbilder der Sportschau. Der zweite Hinweis – auf das Kalkülspiel beim Elfmeter – unterstellt eine Operation des Bewusstseins, die eine Entscheidung herbeiführen soll, ohne durch physische Zufälligkeiten beeinflusst zu werden.23 Bloch trennt deutlich zwischen dem Ausführen einer Handlung und dem Herbeiführen einer Entscheidung: Mit diesen beiden Elementen – die reine körperliche Handlung, die reine Entscheidung – hat 21 Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 28-30 und S. 44-47. 22 Moritz: Das unfähige Leder, S. 7. 23 Handke: Die Angst des Tormanns, S. 111 f.

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er zwei Elemente des Agons ‚herausgearbeitet‘, er hat sie aber auch völlig voneinander isoliert. Die zweite Möglichkeit der Literatur, sich zur agonalen Form zu verhalten, besteht darin, ihr ein Kehr-Modell entgegenzusetzen (erst Entscheidung, dann Aktion). Das Skandal-Modell ist eine Variante dessen. Denn hier ist die den Agon qualifizierende Entscheidung vor diesem gefallen: Geldzahlungen, Absprachen, finstere Pläne. Dieses Kehr-Modell tritt aber auch als ethisches Modell auf, das die Entscheidung als qualifizierendes Merkmal einer Innerlichkeit des Sportlers oder Zuschauers zurückerstatten will. In Siegfried Lenz’ Brot und Spiele (1959) wird dem Läufer Bert Buchner dieses ethische Modell von einer Verehrerin explizit entgegengehalten: „Warum sind Sie noch nicht verheiratet? Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht laufen? Wollen Sie auch Sportlehrer werden? Sind Sie in einer Bausparkasse oder unterstützen Sie ihre Eltern? Und was werden Sie tun, wenn Sie nicht mehr berühmt sind?“ 24 Und es zeigt sich hierbei, dass Buchner sich als Figur definiert, die allein in einer agonalen Ordnung leben will: Für ihn gibt es prinzipiell nie ernsthafte Entscheidungen vor der Aktion. Der didaktische Zug tritt in Heinrich Manns Die große Sache (1930) noch deutlicher zutage. Hier versammelt sich an zentraler Stelle fast das gesamte Personal des Romans bei einem Boxkampf, der einen für diese Sportart recht eigenartigen Ausgang nimmt: Er endet unentschieden, und diesem Ausgang wird das didaktische Anliegen der Hauptperson, Lebensentscheidungen an einem bestimmten Ethos zu orientieren, kontrastiert.25 In beiden Fällen spielt die Homonymie zwischen moralischer/sportlicher Entscheidung selber die entscheidende Rolle. Hermann Brochs Roman Die Unbekannte Größe (1933) enthält auf wenigen Seiten den Verlauf eines Fußballspiels. Nachher ist es der Mutter Katharina Hieck ein Anliegen, mit einer „wohlvorbereiteten groß angelegten Ermahnung“ ihren Sohn Otto und dessen Freund Karl von einem solchen Sport, den sie als Rohheit, Geheul und Gewühl empfindet, wieder abzubringen. Diese Figur verwirklicht zwar das Schema, Entscheidungen über Lebensführung dem Agon vorzuschalten, jedoch lenkt die altbackene Art dieser Versuche auch schon den analytischen Blick des Erzählers auf sich: Er trägt eine Analyse ihrer Gedankenwelt und Normvorstellungen vor, die deren kontingenten Ursprung und die daraus resultierende Unangemessenheit darlegen soll.26 Allerdings liefert der Roman dann keine Vorstellung der Konsistenz der agonalen Ordnung. Denn sie fungiert hier nur als Raum, in dem sich homosexuelles Begehren (das steht hinter Ottos Faible für 24 Lenz: Brot und Spiele, S. 132. 25 Vgl. Mann: Die große Sache, S. 306-314. Siehe dazu jetzt: Mattern: Kleine Städte, S. 142-144. 26 Vgl. Broch: Die Unbekannte Größe, S. 82-85 (Strandbad) und S. 85-89 (Fußballfeld und Katharina Hiecks Begriffe).

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das Fußballspiel) sowohl situieren wie auch maskieren kann, und wenn die Romankomposition dem das Schwimmbad als Wirkungsstätte heterosexueller Anziehung entgegenstellt, dann wird die agonale Praktik aus beiden Sportarten wiederum ausgeblendet. Das macht, nicht ganz zufällig, den Eindruck starker Zeitgebundenheit. Man sollte meinen, wenigstens Homers Heroen hätten diese Probleme mit der agonalen Entscheidung nicht. Vielmehr schildert ja bereits Homers Ilias einen Agon in allen Einzelheiten: das Wagenrennen im Rahmen der Leichenspiele zu Ehren des toten Patroklos (23. Gesang). Aber auch hier streiten die Helden bereits um die Anerkennung des Agons: Sollen die ausgesetzten Preise eigentlich tatsächlich so verliehen werden, wie der Zieleinlauf das vorgibt? Dass aber der Wettkämpfer Archilochos erst durch ein waghalsiges und irgendwie irregulär erscheinendes Manöver Zweiter wurde und der Held Eumelos nur durch göttliche Manipulation Letzter und nicht Erster, das soll bei der Preisverleihung denn doch berücksichtigt werden – und so wird in der Versammlung so lange nachreguliert, bis auch die dem Sozialprestige entsprechende Rangfolge der Gespanne in das Endergebnis, die Auszeichnung, mit einfließt. Dem einzelnen Agon als Ereignisfeld wird also zunächst einmal misstraut. Den Heroen dient der Agon dazu, die zuvor ausgesagte Rangfolge eher zu bestätigen als herauszufordern und zu verändern. Am Rande des Agons konkurrieren sprachliche Formen miteinander: die Unterweisung des Coaches, Archilochos‘ Vater Nestor, der Tipps gibt und seinen Sohn darauf hinweist, wie man auch aus schwachen Pferden eine Menge herausholen kann, um sich entgegen der anerkannten Rangfolge einen besseren Platz zu erkämpfen – und der Schwur, den die Versammlung nachher demselben Archilochos abtrotzen will, und den er doch lieber nicht ablegt. Auch hier wird also nachträglich eine zuvor gefallene Entscheidung dem Ausgang vorgeordnet: durch eine Rangfolge, die nicht durch serielle Wettkämpfe und Punktwertung ermittelt wird, sondern durch Reputation. Die Götter mischen einesteils im Ereignisfeld des Agons mit und gefährden dadurch die ‚wahre‘ Rangfolge, bewahren sie aber doch als Hüter des Schwurs und des wahren Sprechens. Das Kehr-Modell, das die zweite Textgruppe kennzeichnet, taucht also schon lange vor seiner moralisierenden Variante auf, die das 20. Jahrhundert beisteuert. Die Texte der letzten, der dritten Gruppe behalten den engen Zusammenhang zwischen agonaler Tätigkeit und Entscheidung einfach bei und verzichten weitgehend darauf, ihn durch ein ethisches Gegenmodell, durch Lockerung oder Spaltung zu irritieren. Nick Hornbys Lebensbeschreibung anhand der langen Serie von Vereinsfußballspielen Fever Pitch oder F. C. Delius’ Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde erzählen autobiografisch gerade anhand des ‚intakt‘ gelassenen agonalen Zusammenhangs. Hornby zielt auf die das Leben ‚tragende‘ Serialität der Spiele, womit er die „Kette der Gefühle“ geradezu nach Rousseauschem

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Vorbild materialisiert:27 Die regelmäßige Dichte der immer affektbesetzten Spiele stiftet ein affektives Gedächtnis und macht den Zusammenhang eines Lebens erzählbar. Bei Delius entdeckt der Protagonist anlässlich der berühmten Berner Radioreportage Herbert Zimmermanns den Zusammenhang zwischen selbst erzeugten Bildern und emotionalem, aber (nach rigiden Über-Ich-Maßstäben) ‚unwahrem‘ Sprechen. Die religiöse Sprache seines Vaterhauses ruft Vorstellungen von Mord und Kannibalismus hervor, verbindet Glauben, Sohnesopfer, das sündhafte und das sonntägliche „Fleisch“ – und beansprucht doch Ordnung zu stiften. Die Fußballsprache versammelt ‚Fußballgötter‘, Retter, Kinder und Kommunisten, bejaht aber ihr eigenes Delirium und zeigt sich darin überlegen.28 In Elfriede Jelineks Sportstück greift das agonale Modell auf alle Lebensbereiche über und erzeugt Gewalt der Subjekte gegen sich und andere. Aber auch hier ist es in eine Historizität eingebunden, in die subjektive Geschichte, die als Schuld kommunizierende Mythologie in Elfi Elektras Beziehung zum toten Vater thematisiert wird.29 Dabei enthält die „seichte“ Sprache der Kalauer, die der Programmatik Jelineks entspricht,30 die kollektive Gewaltgeschichte mit ihrer konträren Unschuldsmythologie. Die Serialität der Spiele macht nicht nur Leben erzählbar, sondern auch Siege verrechenbar; sie artikuliert, pathetisch gesprochen, nicht nur das Lebensrätsel des Fußballfans, sondern auch das Rätsel der Seinsweise des Siegers, an dem sich die Texte der ersten beiden Gruppen abgearbeitet hatten. Ihnen zufolge, ihrer Intervention in den Zusammenhang Aktion/ Entscheidung gemäß, gab es das ja nicht: das Sein eines Siegers. Die Texte der dritten Gruppe erkennen es an, vertreten und vermitteln aber auch eine Erfahrung der Sprache, die etwas anderes wird ist als die schon bei Homer vorgegebenen Register Erklären und Entscheiden. Die Sprache ist nicht mehr allein Verbindlichkeit (Schwur, Ernst, Glaube, Gesetz) und/oder Wissen (List, Vorteilsnahme, Unterweisung), sondern wird als Medium erfahrbar, das eine Beziehung zu seiner eigenen delirierenden Kraft hat und zu seiner Wirkung auf die Körper – sei es als Lust des stotternden Sohnes bei Delius oder als Pein der trauernden Tochter bei Jelinek. Die drei Gruppen bilden, wie man sieht, strukturelle Möglichkeiten, aber auch annähernd drei zeitliche Schwerpunkte. Das erste Modell, das den Zusammenhang zwischen Aktion und Entscheidung voraussetzt, aber unterschlägt oder problematisiert, ist eine Sache der Klassischen Moderne bis in die zwanziger, ja dreißiger Jahre und darüber hinaus bis zu Handke. 27 Starobinski: Rousseau, S. 293. 28 Delius: Der Sonntag. 29 Jelinek: Sportstück, S. 8-10 und S. 184-188. Vgl. zu Jelinek und Delius jetzt Mattern: Hervorholen. 30 Jelinek: Ich möchte seicht sein.

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Während sich für das zweite, für das didaktische Kehr-Modell, besonders gute Beispiele in der Vor- und Nachgeschichte des Zweiten Weltkrieg finden lassen, setzt sich das dritte im Grunde erst seit den achtziger Jahren durch.

Vier Geschichten Der dritte Typus, die Anerkennung der agonalen Ordnung durch die Literatur, verweist auf eine vervielfachte Historisierungsmöglichkeit des Sports. Brochs Romantitel Die Unbekannte Größe trifft auch noch auf den Sport in diesem Roman zu, auf dessen agonale Verfasstheit, die doch so neu nicht ist. Dem Chaos, das die Mutter Katharina Hieck im Fußball wahrnimmt, können die Jungen Karl und Otto letztendlich nur die Tautologie entgegensetzen: „Sport ist Sport“.31 Das ist inzwischen anders, und zwar nicht, weil Sport medial und ökonomisch verwertet wird, was ja in den zwanziger Jahren bereits der Fall war. Sport schreibt sich aber heute mittlerweile in mindestens vier Register der Geschichte ein – und kann deshalb aufgrund von vier Erzählanreizen thematisiert werden. In Uwe Johnsons Drittem Buch über Achim oder bei Siegfried Lenz wird Sport noch als rein gegenwärtige Größe behandelt, während in der ‚Archäologie‘ der Subjekte Buchner oder Achim das Verhalten in Krieg oder Aufstand auftaucht. Der Sport konstituiert hier noch keine eigene Historizität, sondern verlängert eine andere. Mittlerweile aber schreibt sich der Sport selber in die subjektivbiografischen Geschichten ein (a.). Auch theoretische Einlassungen realer Autoren beginnen heute gerne erst einmal mit sportlichen Reminiszenzen aus ihren frühesten Zeiten. Sport ist darüber hinaus Bestandteil der politischen Geschichte (b.), und zwar nicht mehr allein über die Assoziation mit Gewalt und über eine Massenpsychologie. Das verdankt sich wahrscheinlich auch dem ebenfalls nach agonalem Muster wahrgenommenen Kalten Krieg32 sowie den Boykottgeschichten, Aus- und Einschlüssen bei Olympischen Spielen.33 Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass der Sport nicht allein über kurzzeitige Aufzeichnungssysteme verfügt (Zeitlupen, Tabellen, Statistiken), sondern auch über allgemeinere und langfristige Gedächtnisformen und damit über eine eigene Sportgeschichte (c.). Zudem treten mit seiner fortschreitenden Medialisierung nunmehr als vergangen empfundene Spracherfahrungen (wie die Radio-Sprache Herbert Zimmermanns oder die legendären „Konferenzschaltungen“, das Material von Delius und von Ror Wolf) selber in eine historische Aura ein (d.). Heute, da 31 Broch: Die Unbekannte Größe, S. 89. 32 So auch bei Johnson: Das dritte Buch, S. 297-299. 33 Einführend: Ueberhorst: Die Olympischen Spiele.

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jedem Spieler, der spätestens nach dem Schlusspfiff zur Kabine geht, ein Mikrofon unter die Nase gehalten wird, werden auch dessen Antworten zunehmend gewandt; die Sprache wird, mit massenmedialen Aufwand, naturalisiert; aber die Zeit der Verhaspler, des Stotterns, des plötzlichen eigenartigen Tief- oder Schwachsinns, der Poesie und des Aneinandervorbeiredens ist einigen noch in Erinnerung und kommt zuweilen noch hervor. Dies ist die literaturfreundliche Zeit des Sports gewesen, die Zeit seiner potentiellen ‚Fremdsprachlichkeit‘. Verschiedene Lagen von Geschichtlichkeit können nun aufeinander verweisen, einander potenzieren oder auch voneinander entlasten. Sport ist also heute in ein Feld von vier einander interessant machenden Historisierungsmöglichkeiten eingelassen. Die Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit, die der Rückgriff auf Geschichte immer ermöglicht, widerspricht nicht dem Spielcharakter, den die Literatur inzwischen auch für sich beanspruchen kann – vor allem, wenn sie sich mit der vierten Historisierungsmöglichkeit beschäftigt, der Spracherfahrung. Währenddessen hat der ökonomisch-mediale Zugriff auf den Sport ihm seinen Spielcharakter wider Erwarten nicht ausgetrieben. Der Sport, das Massenmedium, der Kommerz: All das sind Riesenkomplexe, mit denen man sich immer noch des Spiels versichert. Das hatten die großen Theoretiker des Spiels, Huizinga und Caillois, ja noch anders gesehen.34 Literatur kann sich auf das agonale Feld beziehen und sich gewissermaßen parallel dazu verhalten, indem sie ihren eigenen Spielcharakter gegen mögliche Subversionen durchsetzt, weil es ihr ähnlich geht, weil auch ihr Spielcharakter durch massenmedial-kommerzielle Verschaltung eher hervorgekehrt als verwischt oder gar unmöglich gemacht wird. Selbst wenn die mediale Inszenierung von Literatur den Autor als Figur des alles kontrollierenden Bewusstseins noch aufrecht hält, ist auch dem literarischen Schreiben die Beziehung zwischen Aktion und nachträglichem qualifizierenden Entscheiden nicht fremd. Sie ist ihm sogar, sit venia verbo, eingeschrieben. Die Frage ist, inwiefern die Literatur ihren Spielcharakter nicht allein in einer Autorenpoetik, sondern im Text reflektiert und ernst nimmt. Der Schreibprozess erkennt sich ja schon längst als Spiel,35 der Text allerdings scheint immer noch auf das (fiktive) Kontrollbewusstsein des alles übersehenden Autors angewiesen. Der dritte Texttyp, die Anerkennung des Agons, seines Spielcharakters, den man nicht mehr von Interessen verschüttet oder korrumpiert sieht, wäre dann aus einer in der Moderne erst 34 Über die Beziehungen der Theorie der 20er/30er Jahre zu Ethos und Praxis des (Schein-) Amateurismus damaliger Sportverbände müsste wohl noch eigens geforscht werden. Über die Durchsetzung von Profisport am Beispiel Fußball (und deren möglicher pazifizierender Wirkung) vgl. Claussen: Bela Guttmann, S. 26 f. und S. 35. 35 So etwa prägnant bei Heiner Müller: „Solange man weiß, was man macht, entsteht keine Kunst“ (Müller/Crone: Fünf Minuten Schwarzfilm, S. 146).

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möglichen Parallelführung von Sport und Schreiben zu erklären. Die jeweiligen Spielcharaktere der Literatur und des Sports haben unterschiedliche Geschichten, Stützen und Sichtbarkeiten. Aber sowohl der Agon als auch der literarische Diskurs stoßen gerade aufgrund ihres Spielcharakters auf ein reiches Gedächtnis.

Literatur Blinkert, Bodo: Vom „Über-Ich“ zur „fitness-Orientierung“. Anmerkungen zum Informalisierungstheorem der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, http://www.soziologie. uni-freiburg.de/blinkert/Publikationen/elias.htm [Stand: 8.4.2007]. Broch, Hermann: Die Unbekannte Größe. Roman. In: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1977. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Übersetzt von Sigrid von Massenbach. Frankfurt a.M. 1982. Claussen, Detlev: Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person. Berlin 2006. Delius, Friedrich Christian: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung. Reinbek bei Hamburg 1996. Delius, Friedrich Christian: Fußball. In: Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer. Ein Leitfaden für deutsches Denken. Berlin 2003, S. 48-50. Fischer, Nanda: Traumhelden, Sportgirls und Geschlechterspiele. Sport als Literatur. Zur Theorie und Praxis einer Inszenierung im 20. Jahrhundert. Eching 1999. Franzobel: Fußballokratie. In: Ders.: Mundial. Gebete an den Fußballgott. Mit Illustrationen von Carla Degenhardt. Graz, Wien 2002, S. 79-89. Gebauer, Gunter; Alkemeyer, Thomas; Boschert, Bernhard; Flick, Uwe; Schmidt, Robert: Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft. Bielefeld 2004. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Lob des Sports. Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich. Frankfurt a.M. 2005. Handke, Peter: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Erzählung. Frankfurt a.M. 1972. Hornby, Nick: Fever Pitch. Ballfieber – Die Geschichte eines Fans. Deutsch von Marcus Geiss und Henning Stegelmann. Köln 2001. Horváth, Ödön von: Sportmärchen, andere Prosa und Verse. In: Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden. Hg. von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanne Foral-Krischke. Bd. 11. Frankfurt a.M. 1988. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit d. Verf. aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Hamburg 1956 [zuerst 1938]. Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a.M. 1990, S. 157-160. Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg 1998. Johnson, Uwe: Das dritte Buch über Achim. Roman. Frankfurt a.M. 1998. Kafka, Franz: „Der große Schwimmer! Der große Schwimmer! riefen die Leute...“ In: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1992, S. 254-257. Kafka, Franz: Zum Nachdenken für Herrenreiter. In: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt a.M. 1994, S. 30 f. Kammler, Clemens: Mythen des Fußballs. Über einige Lesarten des Jugendbuchklassikers „Elf Freunde müßt ihr sein“. In: Der Deutschunterricht 2, 1998, S. 18-25.

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Kirchhoff, Bodo: Body-Building. Erzählung, Schauspiel, Essay. Frankfurt a.M. 1980. Kleinschmidt, Sebastian (Hg.): Brecht und der Sport. Brecht-Dialog 2005. Berlin 2006. Lenz, Siegfried: Brot und Spiele. Roman. München 1964. Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1994. Lukács, Georg: Erzählen und Beschreiben. In: Werke. Bd. 4: Probleme des Realismus, 1. Neuwied 1971, S. 197-242. Mann, Heinrich: Die große Sache. In: Ders.: Mutter Marie. Die große Sache. Zwei Romane. Düsseldorf 1986, S. 175-456. Mattern, Pierre: Kleine Städte, große Sachen. Konkurrenz und Spektakel als Produktionen sozialer Ähnlichkeit bei Heinrich Mann. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 25, 2007, S. 133-150. Mattern, Pierre: Hervorholen und wieder einstecken. Väter, Sport und Gedenken bei Jelinek, Wortmann und Delius. In: Sabine Müller; Cathrine Theodorsen (Hg.): Elfriede Jelinek. Tradition, Politik und Zitat. Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1.3. Juni 2006 in Tromsø. Wien 2008, S. 71-87. Moritz, Rainer: Das unfähige Leder. In: Der Deutschunterricht 2, 1998, S. 6-11. Müller, Heiner: Fünf Minuten Schwarzfilm. Rainer Crone spricht mit Heiner Müller. In: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. von Gregor Edelmann; Renate Ziemer. Frankfurt a.M. 1990, S. 137-150. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Bd. 1. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981. Olguín, Sergio: Die Traummannschaft. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Frankfurt a.M. 2006. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt a.M. 1999. Rilke, Rainer Maria: Die Turnstunde. In: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Vierter Band: Frühe Erzählungen und Dramen. Frankfurt a.M. 1961. Seel, Martin: Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports. In: Merkur, 1993, S. 91-100. Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff. München, Wien 1988. Theweleit, Klaus: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell. Mit einem Vorwort von Chris­ toph Biermann. Köln 2004. Torberg, Friedrich: Der letzte Ritt des Jockeys Matteo. Novelle aus dem Nachlaß. München, Wien 1985. Ueberhorst, Horst: Die Olympischen Spiele der Neuzeit. Eine kleine Chronologie. In: Hans Sarkowicz (Hg.): Schneller, höher, weiter. Eine Geschichte des Sports. Frankfurt a.M. 1999, S. 96-112. Wedekind, Frank: Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen. Frankfurt a.M., Leipzig 1994.

Frank Degler

A Willing Suspension of Misbelief Fiktionsverträge in Computerspiel und Literatur Im Kontext einer kultur- und medienwissenschaftlichen Erweiterung der Forschungsperspektiven und -gegenstände der Germanistik ist eine MitBeobachtung von Computerspielen dringend sinnvoll und geboten. Fruchtbar ist ein Ausloten der Vergleichbarkeiten und Verbindungsmöglichkeiten nicht nur aus einer wissenschaftspolitischen, sondern vor allem aus einer wissenschaftlichen Perspektive wie etwa der Erzähltheorie. Denn in den Computerspielen haben sich (von den Philologien bisher weitgehend unbeachtet) neue Verfahren und Standards des Geschichtenerzählens etabliert, die mit den Instrumenten der Narratologie erfolgreich erforscht werden könnten. Während sich aber die Medienwissenschaft dem Genre Computerspiel aus ihrer (medienpädagogischen, -empirischen oder -theoretischen) Perspektive längst unter dem Label ‚game studies‘ angenommen hat, regiert in der Germanistik noch vorsichtige Skepsis, wodurch dann aber die Analyse der inhaltlichen Aspekte der Spiele systematisch zu kurz kommt. Die Skepsis besteht aber zu Unrecht, da sich für die Germanistik, wenn sie sich dieser Forschungslücke annähme, vielfältige weitere Anknüpfungspunkte ergäben. Im Bereich der Stoff- und Motivforschung wäre es etwa eine wünschenswerte Aufgabe, die Entwicklungslinien und wechselseitigen Einflüsse bis in die Gegenwart des digitalen Erzählens hinein zu verfolgen. Es ist aber insbesondere der Leitbegriff des Spiels, der auf der Ebene der Narratologie und der Fiktionalitätsforschung eine vergleichende Be­obachtung nahelegt. Insofern nämlich ein Kerngebiet der Germanistik  

  

Vgl. Degler: Medienspiele; ders.: Minotaurus; ders.: Scheintod. Auch in den Jahrbüchern zur Computerphilologie werden Computerspiele nur am Rande behandelt; eine der Ausnahmen ist Kocher/Böhler: Begriff des Spiels. Im Zentrum des Interesses finden sich die der Germanistik scheinbar näher stehenden Hypertexte, von denen man sich aber oftmals als ästhetisch-literarische Enttäuschung wieder abwendet. 2003 wurde zum Beispiel innerhalb der GFM eine Arbeitsgruppe Game Studies gegründet. Vgl. Fromm: Shooter; Gendolla: Medienkunst; Lischka: Spielplatz; Mertens/Meißner: Space Invaders; Pias: Spiel – Welten; Rötzer: Virtuelle Welten. Vgl. auch Ästhetik & Kommunikation (115): Computerspiele. Vgl. Raessens/Goldstein: Handbook of Computer Game Studies, S. 219-245. Vgl. auch: Anz: Spiel; Gadamer: Spiel in der Kunst; Kaiser: Kunst und Spiel; Sonderegger: Ästhetik des Spiels; Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen.

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(als Literaturwissenschaft) die Beschäftigung mit den Formen und Inhalten des Erzählens ist, insofern muss sie eben auch ein Erzählen zur Kenntnis nehmen, das nicht mehr nur primär auf Sprache gestützt ist, sondern sich verschiedener Trägermedien und -formen bedient. Berechtigte Bedenken bezüglich des wissenschaftlichen Alleinstellungsmerkmals ‚Sprache‘ werden durch den hochgradigen Aktualitätsgewinn mehr als ausgeglichen. Denn die (schöne) Literatur ist eben ‚nicht‘ mehr das zentrale Selbstverständigungsmedium der (deutschen) Gesellschaft, sondern wurde abgelöst von einem Medienverbund, dessen Gesamtproduktion an fiktional-narrativen Gegenentwürfen zur realen Realität ein lohnender Gegenstand der Germanistik sein könnte. Zwingend ist eine solche Erweiterung der Perspektive insbesondere dann, wenn die mediologischen Rahmenbedingungen des Erzählens in einer engen Wechselwirkung mit den Sinnstiftungsprozessen der Rezipientinnenseite stehen. Die Germanistik wird nämlich gegenüber den dispositiven Voraussetzungen des Mediums Buch blind, wenn sie sich ausschließlich mit diesem Medium beschäftigt. Ein Ziel der folgenden Skizze wird es daher sein, einige Folgen und Bedingungen zu rekonstruieren, die das Erzählen im Umfeld digitaler/interaktiver/a-linearer Medien im Vergleich und im Gegensatz zu den Erzählungen in den analogen/stabilen/linearen Medien wie Buch und Film auszeichnet. a. Medium/Form: Eine vergleichende Beobachtung von Computerspiel und Literatur mit Hilfe der Unterscheidung von Medium und Form im Sinne Luhmanns ermöglicht dabei eine präzise Benennung der narrativen Innovationen in digitalen Präsentationsweisen. Versteht man unter einem Medium den Vorrat locker gekoppelter Elemente, die selbst nicht als Medium beobachtet werden können, sondern immer nur als Form, dann kann gezeigt werden, dass das Erzählen im Rahmen der interaktiv-digital organisierten Computerspiele narrative Unterscheidungen dauerhaft und unmittelbar präsent hält, die in der Literatur erst erzähltheoretisch rekonstruiert werden müssen: Die ‚Geschichte‘ ist ein ‚Medium‘ für die ‚Erzählung‘, die bestimmte Elemente der Geschichte herausgreift und diese enger koppelt, sie also in einer spezifischen Weise ‚formiert‘. Die Geschichte ist dabei aber nie selbst als Medium beobachtbar, sondern nur als Konstruktion ‚hinter‘ den verschiedenen realisierten bzw. möglichen Formen der Erzählung zu ermitteln. Im Zugriff auf Literatur verschwindet daher das Medium ‚Geschichte‘ hinter der Form ‚Erzählung‘ und muss erst wieder analytisch rekonstruiert werden. Das Erzählen im Computerspiel dagegen hält durch die beständige Differenz zwischen der einen aktuellen Ausprägung des Handlungsverlaufs  

Vgl. Luhmann: Massenmedien. Vgl. Martinez/Scheffel: Erzähltheorie; Petersen: Erzählsysteme.

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und den vielen möglichen anderen Formen, in denen die Geschichte erzählt werden könnte, eben diesen Unterschied präsent. Das Gleiche gilt für die Differenz von ‚Geschichte‘ und ‚Geschehen‘, wobei in diesem Fall sogar noch deutlicher wird, dass eine – im Fall der Literatur hochabstrakte Kategorie – nämlich das Geschehen, das nur mit hohem Aufwand von der Geschichte zu trennen ist, mit einem Male als selbstverständliche Unterscheidung sichtbar wird. Denn Computerspiele variieren nicht nur im Rahmen von Versuch und Irrtum innerhalb einer einzigen Geschichte, sondern halten oftmals die konträre Variante des Geschehens, in Form einer zweiten Spielversion präsent. Sie ermöglichen damit die Beobachtung, dass auch die Geschichte (die ihrerseits wieder eine potentiell unendliche Vielzahl von Erzählungen erzeugt) selbst schon das Produkt eines Auswahlprozesses ist: Denn eine Geschichte ist die Formung eines Geschehens, welches als Medium für diesen Selektionsprozess fungiert. Dass die zwei Geschichten im Computerspiel zumeist noch als die zwei konkurrierenden Formen des einen Konfliktgeschehens auftreten, macht diesen Umstand nicht nur besonders auffällig, sondern auch medienpädagogisch und ‑analytisch höchst bedenkenswert. Und schließlich wird auch eine theoretische Differenzierung im Computerspiel direkt sinnfällig – während sie in der Literatur abstrakt bleibt, nämlich dass Kunstwerke offene Zeichenstrukturen sind, die erst durch die Ko-Produktion einer Leserin semantisch gesättigt werden. Sie wird in den unterschiedlichen Formen, in denen dieser Unterschied im Spiel operationalisiert wird, auch in unterschiedlicher Weise präsent gehalten. Aber dass ein Spiel seine Geschichte erst dann zu erzählen beginnt, wenn die Spielerin mitzuspielen beginnt, ist ganz unmittelbar zu erfahren; während in der Literatur der Anteil des Publikums eher unsichtbar bleibt und nur auf der Ebene theoretischer Diskussionen wirklich relevant ist. b. Einheit/Differenz: Diese Unterscheidungen, die als Medium-FormDifferenzen im Computerspiel in ganz direkter Weise zu beobachten sind, während sie in der Literatur erst nachträglich rekonstruiert werden müssen, sollen im Folgenden weiter bestimmt werden. Diese Analyse ist auch insofern berechtigt, als sich an sie auch fiktionstheoretische Überlegungen anschließen lassen: Es lässt sich nämlich die These vertreten, dass es gerade die dargestellten Selektionsleistungen sind, durch die das digital-interaktive Erzählmedium überhaupt in die Lage versetzt wird, im Verlauf des Spieles eine konsistente Geschichte zu erzählen und dabei sowohl wiedererkennbar zu bleiben und doch genug Variationsbreite zu eröffnen, um als ‚Spiel‘ wahrgenommen zu werden. Damit stellt aber das interaktive Erzählen in einem bisher unbekannten Ausmaß vom Konzept der ‚Einheit‘ auf die Form der ‚Differenz‘ um. Auf 

Vgl. Aarseth: Ergodic Literature, S. 1-23.

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der Ebene des narrativen Ausdifferenzierungsprozesses (zwischen dem Geschehen vs. Geschichte vs. Erzählung) mutet es dem Publikum im Rahmen seiner audiovisuell-interaktiven Simulationen beständige Selektionsleistungen zu. Fiktionalität wird hier nicht mehr lediglich im Sinne einer „willing suspension of disbelief“ konstruiert, also einer gutwilligen Rezeptionshaltung gegenüber einer schon fertig vorliegenden Sonderrealität. Dem Publikum wird es hier nämlich ermöglicht, nicht nur die Formen, sondern auch die Auswahlprozesse zu beobachten, die zu diesen Formen geführt haben. Es wird aber auch beständig zu dieser metafiktionalen Beobachtung 2. Ordnung gezwungen, die es zu einer – gerade im Rahmen der visuellen Überwältigungsstrategien bemerkenswerten – Überprüfung des eigenen Fiktionsverständnisses führt. Der fiktionale Pakt, die „willing suspension of disbelief“, führt in der Literatur zu einem hochwirksamen, wenn auch temporär strikt begrenzten Glauben an die – gegenüber ihrem Medium ‚Realität‘ – fiktional ausgeformte Sonderrealität der ‚Fiktion‘, die ausschließlich auf der internen Stimmigkeit und Konsistenz ihrer Selektionen beruht. Das Computerspiel schließt nun einerseits ebenso einen Fiktionsvertrag mit seinem Publikum und ist auch vielfach darum bemüht, seine Nutzerinnen zu überwältigen. Trotzdem gibt es natürlich auch hier vielfältige Brüche in der Konstruktion, die es für die Spielerin notwendig machen, ‚freiwillig‘ von ihren Zweifeln abzusehen, um nicht den Spaß am Spiel zu verlieren. Neben diesem Zwang zu einer gutwilligen Haltung gegenüber der Fiktion, die es ebenso in der Literatur gibt, liegt im Computerspiel aber noch ein weiterer und entscheidender Punkt vor. Das Neue in den digital-interaktiven Erzählungen des Computerspiels ist nämlich, dass die metafiktionale Sichtbarkeit des Differenzierungsprozesses dazu führt, dass die Selektionsleitungen der Form ‚Fiktion‘ – gegenüber ihrem Medium ‚Realität‘ – selbst in einer kritischen Weise beobachtbar werden, wie dies im Medium Buch nicht der Fall ist. Worauf Computerspielerinnen trainiert werden, ist ein beständiger Widerstand gegenüber dem aufkommenden Glauben an die rezipierte Fiktion im Sinne einer opak-stabilen Wirklichkeit. Sie werden qua Systemlogik darauf trainiert, jeden Glauben an die Notwendigkeit zu verlieren, dass ein Geschehen in der Welt nur in der einen unveränderlichen Art und Weise präsentiert werden könne. In schroffem Gegensatz hierzu steht die mediale System- und Prozesslogik druckschriftlicher Kommunikation mit ihrem 

„In this idea originated the plan of the ‚Lyrical Ballads‘; in which it was agreed, that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic, yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.“ (Coleridge: Biographia Literaria II, 14, S. 6.) [Hervorhebung vom Autor, F.D.].

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Monoperspektivismus des ‚einen‘ Helden, des ‚einen‘ Erzählers, der ‚einen‘ Ideologie, der ‚einen‘ Nation etc. Die erzählerischen Experimente – etwa der Moderne – waren immer nur die Ausnahme von der Regel einer singulären Beobachterposition gewesen. Daher kann mit einigem Recht behauptet werden, dass das diese Erzählhaltung charakterisierende Suffix Mono- erst durch den Poly-Perspektivismus der digitalen Erzählmedien als die eine Seite einer Wahlmöglichkeit beobachtbar wird. Durch diese Kontextualisierung wird es der Literatur(-wissenschaft) ermöglicht, den bilden Fleck ihrer Form der schriftlichen Kommunikation selbst zu beobachten und damit auch theoretisch zu reflektieren, etwa von Seiten der Fiktionstheorie.10 Da nämlich die Nutzerinnen der Computerspiele wissen, welche Rezeptionshaltung von ihnen im Kontext der beständigen Selektionsprozesse erwartet wird, ergeben sich neue Rahmenbedingungen für die künstlerische Kommunikation: Der Fiktionsvertrag, den das Computerspiel mit seinen Nutzern schließt, könnte damit in pointierter Abgrenzung zu Colederige als ‚willing suspension of misbelief‘ bezeichnet werden. Der Irrglaube an einen besonderen, ausgezeichneten Weltzugang, wie ihn die Dichtung präsentiert, muss angesichts der aufgedeckten Prozesshaftigkeit des Erzählens tatsächlich ‚freiwillig‘ aufgegeben werden, wenn man auf der Höhe der technologischen Möglichkeiten des Mediums rezipieren und analysieren will oder auch nur Spaß am Spiel haben möchte. Damit kann aber für das Computerspiel eine Form des Fiktionsvertrages bestimmt werden, die das Computerspiel zu einer ideologiekritischen Herausforderung des verdächtig monoperspektivischen Illusionismus der literarischen Fiktionen werden lässt. Dieser Herausforderung an Form und Inhalt sollten sich Literatur und Germanistik stellen.

1. Linearität (Geschichte vs. Erzählung) Im Gegensatz zur fiktionalen Erzählung, die in Form eines gedruckten Buchs vorliegt, ermöglicht, erleichtert und fördert die Prozesslogik digitaler Medien ein a-lineares Erzählen. Dies prägt ihr erfolgreichstes Genre, das Computerspiel – es ist aber ebenso in künstlerischen oder rein-literarischen Formen, wie etwa hypertextueller Computerpoesie zu beobachten.11 a. Mikroebene: Die nicht-lineare Ereignisfolge manifestiert sich auf der Mikroebene eines einzelnen Spielverlaufs (d.h. auf der Ebene der (Mit-) Produktion der Erzählung): Der heute übliche Fall ist der freiwillige oder erzwungene Spielabbruch und die Möglichkeit der Rückkehr zu einem abgespeicherten früheren Spielstand – das save-as ermöglicht die Wiederauf­ 10 Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. 11 Vgl. Daiber: Literatur und Nicht-Linearität.

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erstehung des toten Avatars. Die insbesondere bei älteren Spielen übliche zweite Möglichkeit ist der vom Spieldesign (im Fall des Scheiterns) erzwungene komplette Neustart: Hier wird erst mit wachsendem Geschick und erweiterter Kenntnis des Spielgeschehens ein nach und nach immer tieferes Vordringen in die Erzählung möglich. Beide Prinzipien gleichen sich darin, dass sie ein kreis- bzw. spiralenförmig wiederholendes Fortschreiten im Verlauf des Spielens erzeugen. Das heißt, dass auch schon in älteren Spielen Variationen auf der Ebene des einzelnen Spielablaufs, der einzelnen Erzählung entstehen. Die Herausforderung an die Spielerin, den immergleichen Spielablauf (ein Stück weiter) zu meistern, erzeugt einen Anpassungsdruck, der im Arkade-Game ja auch in barer Münze ausdrückbar war. Die richtige Strategie des eigenen Handelns im Kontext eines gleich bleibenden Ablaufs ermöglicht es, eine Variante gegenüber dem schon etwas früher gescheiterten letzten Versuch zu probieren. Aufgrund eines immer besseren Verstehens des Spiels durch die Spielerin kann diese mit der Zeit eigene Regeln für ihr Handeln entwickeln und damit ihre Handlungen dem Sinnhorizont des Präsentierten immer besser angleichen (zum Beispiel: „Wenn Du Level Drei betrittst, sofort ducken, denn gleich kommt von rechts ein Monster usw.“). Dieses Wechselspiel zwischen einem unveränderten Text, den immer neuen Versuchen und dem tatsächlich immer besseren Verstehen kann in ganz unironischer Form mit einem hermeneutischen Lektüre- und Verstehensprozess verglichen werden. Allerdings konditioniert das Computerspiel seine Leserinnen durch klarere Erfolgsmeldungen, als dies bei literarischen Texten üblich ist. Und die Annäherung des Verstehenshorizonts der Spielerin an die Logik der Erzählung vollzieht sich im Wesentlichen auf einer taktilmotorischen Ebene und weniger auf einer kognitiv-semantischen. Trotzdem entsteht hier ein komplexes Gefüge semiotischer Entzifferung – wenn auch meist nicht auf der Dignitätsebene dichterischer Sinnstiftungsansprüche. b. Makroebene: Aber auch auf der Makroebene (d.h. also seitens der Programmstruktur Spielsoftware) wird die Geschichte nicht streng linear erzählt. Ein besonderer Reiz des Computerspiels liegt bekanntermaßen darin, dass die Spielerin bei einer Wiederholung des Spiels mit neuen Ereignisvarianten konfrontiert wird. Erst durch diese Veränderungen des Spiels selbst entsteht die spezifische interaktive Dynamik, die das Erzählen in digitalen Medien auszeichnet. Hierin ist ein qualitativer Sprung gegenüber den Sinnverschiebungen zu sehen, die sich ja auch bei der wiederholten Lektüre eines an sich stabilen Textes ergeben. Diese Veränderungen des Spiels können wiederum auf zweierlei Arten geschehen: – Erstens kann das Spiel der Spielerin verschiedene Wege passiv zur Auswahl anbieten. Die Spielerinnen können dann sowohl ihren Spielablauf konsequent wiederholen und durch Versuch und Irrtum weiter vorantreiben. Sie können aber auch neue Wege gehen und Varianten ausprobieren.

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– Zweitens können Spiele ihre Nutzerinnen aktiv mit immer wieder neuen Ausgangssituationen konfrontieren: Das heißt, dass auch bei der Rückkehr an einen schon bekannten, zuvor gespeicherten Spielstand sich in der Folge nicht wieder der gleiche Ablauf ergeben wird. Denn ein solches Programm verändert das Verhalten seiner eigenen Spielfiguren nach eingebauten Zufallsprinzipien. Dies führt dann auch zu einer neuen Regel: „Wenn Du Level Drei betrittst, kann ein Monster von rechts oder links kommen – es kann aber auch nichts passieren etc.“ Seltener sind dagegen Veränderungen der Spielobjekte, also der Räume etc. – diese bleiben in den allermeisten Fällen unverändert, wodurch eine gewisse Stabilität und Wiedererkennbarkeit des Kommunikationsangebots gewahrt bleibt. – Drittens: Indem in Computerspielen das Geschehen auf der Mikround auf der Makroebene der Ereignisstruktur verändert wird, entsteht ein qualitativ anderes Verhältnis von Auswahl und Alternative, als dies durch analoge Medien möglich war. Im Computerspiel wird die Linearität des kontinuierlichen Lektüreprozesses des einen Geschehensverlaufs in eine Iterationsbewegung überführt, deren Frequenz sich antiproportional zum Spielgeschick des Nutzers verhält: Da die temporale Verfasstheit der realen menschlichen Existenz aufgrund ihrer Gleichgerichtetheit keine Rückkehr zu einem früheren Zustand erlaubt, ist damit die Möglichkeit einer vollständigen Korrektur früherer Handlungen ausgeschlossen – zum Beispiel ist das Ungeschehen-Machen eines Fehlers oder auch nur das durch Neugier inspirierte Durchleben einer Alternative eben nicht möglich. Eine wichtige Funktion der Fiktion im Allgemeinen bestand darin, dass es in ihr – aufgrund zeitlicher Straffungen – zu einer größeren Überschaubarkeit des Geschehens kommt. Die Übersicht von Anfang und Ende einer Geschichte wird ermöglicht und damit ein Ausprobieren und Gegeneinander-Abwägen von Lebensalternativen, das in der Realität in dieser Form unmöglich ist. Die gerahmte Sonderrealität etabliert eine Konstruktion, in der auch die schlimmste Konsequenz einer Handlung temporal begrenzt und als reine Imagination auch jederzeit reversibel ist: Daher sind wir in der fiktionalen Realität auch gerne bereit, unseren Helden in risikoreicheres Terrain zu folgen. Die uns in der realen Realität vernünftigerweise abschreckenden (im Falle des Scheiterns der verwegenen Pläne aber) möglichen Konsequenzen der riskanten Abenteuer sind im Roman weder endgültig noch real. Freud pointiert bekanntlich in Zeitgemäßes über Krieg und Tod: „Auf dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen.“12 Im Computerspiel wird diese Struktur einer imaginativen Etablierung eines Spielraums für Probehandlungen qualitativ noch in einer ganz 12 Freud: Krieg und Tod, S. 51.

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entscheidenden Weise gesteigert, indem sie in eine einzige Fiktion hineinkopiert wird: Die Alternative hatte sich im Zeitalter der analogen Medien ja nur in der Relation zwischen dem einen realen Leben und dem je nur einen fiktionalen Handlungsablauf etabliert, der z.B. in einem Roman geschildert wird. Im Computerspiel dagegen besteht nun die Möglichkeit, die Handlungen innerhalb des fiktionalen Geschehens selbst nochmals entsprechend der eigenen Wünsche und Strategien zu erproben und zu verändern. An die Stelle des einen passiv zu konsumierenden Gegenentwurfs, der in seiner fixierten Gestalt unveränderbar bleibt, tritt nun ein Möglichkeitsraum, in dem wir die Mehrzahl der Leben, von denen Freud spricht, in einem ganz konkreten Tauschverfahren erhalten: Eine Münze = drei Leben, das war die existenziale Formel des Arkade-Games,13 die aber noch immer die Erzähllogiken der Computerspiele prägt.

2. Mitspieler (Produktion vs. Rezeption) Computerspiele können sowohl zwischen dem Programm und der Spielerin – aber auch zwischen den Spielenden untereinander stattfinden. Im letzteren Fall, der (inzwischen) durch die Möglichkeiten des Internet auch ohne die reale Kopräsenz zweier Körper vor einem Bildschirm leicht herzustellen ist, liefert die Software nur die Plattform, auf der das Spiel stattfindet. Das Programm ist dabei sowohl das Spielbrett als auch ein Teil der Spielregel. Die Game-Engine14 erzeugt eine Welt, in der eigene physikalische Gesetze herrschen, an die sich alle halten müssen, die aber innerhalb gewisser Grenzen die Möglichkeit für beliebige Aktionen bietet. Die digital simulierte Spielwelt befindet sich hiermit genau im Zentrum des von Matuschek formulierten abstrakten Definitionskerns von ‚Spiel‘ – nämlich der Auffassung von Spiel als einer „Dichotomie von Zufall und Gesetz“.15 Die Interaktionen der Spielenden bringen eine unvorhersehbare und nicht vollständig kontrollierbare Abfolge von Zuständen hervor, die zwar als intentional motiviert aufgefasst werden müssen, die aber (als invisiblehand-Phänomene) im Ergebnis doch wie zufällig scheinen. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass die simulierte Eigenphysik der Welt als Teil der Spielregel beschrieben wird, deren Akzeptanz „unbedingt bindende“16 Gel‚Arkade-Games‘: Spiele aus der Frühzeit des Computerspiels, die auf Automaten in Spielhallen gespielt wurden. 14 Die ‚Engine‘ erzeugt die grundlegenden Eigenschaften der Spielwelt und ist die Basis-Software, vor deren Hintergrund dann Objekte und Figuren aufeinander bezogen werden können. 15 Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 5. 16 Huizinga: Homo Ludens, S. 20. 13

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tung haben muss, damit das Spiel in fairer Weise funktionieren kann. Deutlich macht dies die Ächtung von Cheatern17 im Onlinespiel, bei gleichzeitiger Hochachtung vor den Trickjumpern, deren Kunststücke auf der geschickten Ausnutzung eines Programmierfehlers zum Beispiel der Quake-Engine beruhen, der mitsamt seinen Folgen eben zu einem Teil der Spielwelt geworden ist.18 Wer mitspielen will, muss also exakt diese Sonderrealität (inklusive der unerwartet produktiv nutzbaren Bugs19 des Programms) als die seine akzeptieren – die ‚willing suspension of disbelief‘ muss für alle und alles in der gleichen Weise gelten: Denn anderenfalls würden die Teilnehmer gar nicht dieselbe Realität bewohnen. a. Spielerin gegen Spielerin: In diesem Fall wird die digitale Realitätssimulation des Spiels lediglich als Spielfeld genutzt. – ‚Alle-gegen-Alle‘: In dieser Spielform entsteht zwar auch ein rudimentäres Geschehen, nämlich der ‚Kampf Aller-gegen-Alle‘, dessen intentionale Struktur sich in einem eher wenig elaborierten kategorischen Imperativ zusammenfassen lässt: „Überlebe!“ Da sich in einem solchen Umfeld kaum weitreichende Planungen verfolgen lassen, sehen sich die emergierten Erzählungen auch bis zum Verwechseln ähnlich. Sie lassen sich in etwa folgendermaßen in Worte fassen: „Eine Figur kommt zur Existenz, wird bedroht, verteidigt sich und wird schließlich doch getötet.“ Auch wenn das Spiel für die einzelne Spielerin in diesem Fall zu Ende ist, geht der Kampf trotzdem weiter. Und nach einer gewissen Unterbrechung ist dann auch für den Getöteten ein Wiedereinstieg möglich. Dies macht deutlich, dass es offenbar kein sich kausal bedingendes Handlungsgeschehen gibt, das diesen Wiedereinstieg erschweren würde. Ist ein sofortiger Neueinstieg dagegen nicht möglich, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass eine (rudimentäre) narrative Gliederung des Geschehens vorliegt: – ‚Clans‘: Die unendliche Wiederkehr des Gleichen im endlosen Kampf ‚Aller-gegen-Alle‘, die das ‚Deathmatch‘20 inszeniert, weicht der nächsten Komplexitätsstufe in der Zivilisationsgeschichte, dem Zusammenschluss in ‚Clans‘.21 Und wie beim heimischen Brettspiel muss nun der Einzelne das Ende einer Handlungseinheit (Match, Spieleinheit, Mission etc.) abwarten, bevor er wieder mitspielen darf. Das heißt, dass es schon in diesem Fall ein Geschehen gibt, in das ein Wiedereinstieg nicht ohne weiteres möglich ist. Offenbar hat sich ab diesem Punkt der Entwicklung die Erzählung in 17 Ein ‚Cheat‘ ist ein Befehl, mit dessen Hilfe Spielhindernisse umgangen werden können. 18 Zum Erklärung der verschiedenen Spielarten des ‚Trickjumping‘ vgl. den Wikipedia-Eintrag: http://en.wikipedia.org/wiki/DeFRaG 19 ‚Bugs‘ sind kleinere Fehler in der Software. 20 In der Spielvariante ‚Deathmatch‘ werden alle Figuren in eine ‚Arena‘ platziert – es gewinnt, wer überlebt. 21 Längerfristig miteinander spielende Gruppen nennen sich ‚Clans‘ – sie sind mit Sportmannschaften vergleichbar.

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Form einer komplexen Abfolge von Ereignissen etabliert, deren UrsacheWirkungs-Relation die temporale Beliebigkeit aufhebt. – ‚Spielwelten‘: Eine weitere Komplexitätsstufe ergibt sich dann, wenn das Handeln des Einzelnen dauerhafte Spuren in der Spielwelt hinterlassen kann: Dies bedeutet nämlich, dass die Spielwelt nicht nur als ein rein präsentischer Komplex akzeptierter Regeln aufzufassen ist, sondern dass sie sich als ein übergreifendes Raum-Zeit-Kontinuum präsentiert, das alle Spielenden miteinander teilen. Damit sind alle Spielerinnen Teil einer Daseins-Struktur, deren irreversibler Gerichtetheit sie unterworfen sind; sie sind, wenn sie spielen, in ein von Regeln bestimmtes und kollektiv geteiltes Sein geworfen. Da auch hier alle Teilhabenden über dieses Wissen verfügen (können), ergeben sich ebenso wie in der realen Realität Konfliktlagen, wie mit dieser Geworfenheit umzugehen sei. Eine Möglichkeit, die eingeführte Temporalität dieser Welten produktiv zu nutzen, besteht darin, das Dasein im jagenden Clan aufzugeben und sich in der nächsten Zivilisationsstufe der ‚Vorratswirtschaft‘ einzurichten. Denn wer Spuren hinterlässt, kann auch Werte akkumulieren. Ab diesem Moment lohnt es sich also mit seinem Avatar22 vorsichtiger umzugehen – denn mit seinem Tod verliert die Spielerin auch die gespeicherte Bonität – in welcher Währung diese auch immer vorliegt (Erfahrungspunkte, virtuelle Besitzungen, Fähigkeiten, Ansehen, Dukaten oder schlicht Dollars23). In einer solchen Welt können sich auch ohne das Zutun einer Spielleitung komplexe Systeme von Schutzgemeinschaften, kulturellen Differenzen und Interessenskonflikten ergeben, die sich aus den unterschiedlichen Handlungsstrategien heraus notwendig ergeben. Schon die Mitgliedschaft in einem Clan, noch mehr aber die Zugehörigkeit zu einer Subkultur (z.B. Sesshafte vs. Kriegerische), lässt sich nicht mehr einfach wie die Farbe eines Spielsteins vertauschen. Dafür ist primär zunächst die starke zeitliche Ausdehnung von Spielabläufen verantwortlich, die sich (im Gegensatz zu den wenigen Minuten im Arkade-Game) bei Onlinespielen zu Tagen, Wochen und Monaten ausdehnen können. Es entsteht in dieser Zeit eine ebenso rationale wie emotionale Bindung an ein bestimmtes Milieu, dessen Integrationsfähigkeit stark auf seinem Potential zur Identifikation beruht. Die Spielenden wählen eine bestimmte Sicht auf ihre Welt und damit ihren Platz in der voranschreitenden Geschichte. Während im Spiel mit dem Programm die Spielerinnen nur den Eindruck einer (unabhängig von ihnen bestehenden) Ereignisfolge haben, ent22 ‚Avatar‘ wird die steuerbare Stellvertretung der Spielerin in der virtuellen Realität genannt. 23 In der realen Realität werden mittlerweile hohe Preise in echtem Geld bezahlt, um in der fiktionalen Realität virtuelle Objekte zu erwerben. Zu überlegen wäre, ob dieser metafiktionale Umweg einen regelwidrigen Betrugsversuch darstellt oder nicht.

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wickeln sich die kollektiv geteilten Ereignisse beim Onlinespiel schließlich tatsächlich weiter, auch wenn die Spielerin nicht anwesend ist: Die erzählte Zeit läuft zwar etwas schneller als die Erzählzeit ab, aber doch streng mit ihr synchronisiert – wodurch eine enge Kopplung an die Lebenszeit der Spielenden entsteht (und damit auch die beklagten Suchtpotentiale). Schläft die Spielerin in der realen Welt, könnte gerade in diesem Moment ihr virtuelles Haus zerstört werden. Damit wird aber ein zentrales Merkmal von Fiktionen marginalisiert: Die temporale Straffung, durch die in analogen Medien, wie dem Buch oder dem Film, Anfang und Ende einer Geschichte (fast) immer überschaubar gehalten wurde, ist hier nicht mehr notwendig durch die mediale Prozesslogik gegeben: Everquest zum Beispiel wird – wie der Name schon sagt – aller Voraussicht nach auch nach dem Tod des Avatars und auch nach dem Tod der Spielerin noch existieren. Zwar liegt auch hier noch ein deutlich fiktionales Geschehen vor, allerdings ist ein lebenslanges Spiel mit einer Figur in dieser Parallelwelt durchaus denkbar, womit die Fiktionalitätsbedingung einer erkennbaren Rahmung des Präsentierten als abgesonderter Alternativrealität nicht mehr in vollem Umfang verwirklicht ist. b. Spielerin gegen Programm: Die zweite Großgruppe der Ko-Produktionsmöglichkeiten funktioniert aufgrund der Struktur digitaler Fiktionalität qualitativ ganz anders: Einerseits kann die präsentierte Welt komplexer werden. Die Zustände in der Spielwelt sind seitens der Objekte wie der Figuren in einer gerichteten Weise organisiert. Sie sind damit in der Lage, ein dynamisches Umfeld zu emergieren, in dem sich eine fortlaufende Geschichte in dramatisierter Form entfaltet. Die Prozesse in einer Onlinespielwelt laufen dagegen in stark verlangsamter Form ab, da hier vor allem die selbstorganisierenden Kräfte der unsichtbaren Hand, also die nicht intendierten Folgen intentional gerichteten Handelns, wirksam sind, um die Geschichte voranzutreiben. Und dies führt – ebenso wie in der realen Realität – durch rational begründete Absicherungsverfahren und eine geschmälerte Risikobereitschaft zu dramatisch verlangsamten Entscheidungsprozessen. Im Fall eines programmierten Handlungsgeschehens wird im Spiel dagegen ein dynamischer Ereignisablauf vorab präsentiert, an dem die Spielerin in Form ihres Avatars teilhaben kann. Sie hat den Eindruck, dass sie die Geschehnisse einerseits beeinflussen kann, dass sich diese aber auch ohne ihr Zutun fortentwickeln würden. Genau dies ist aber gerade – in zentraler Differenz zum ‚Prinzip Spielbrett‘ – nicht der Fall: Und nur weil dies so ist, eröffnet sich für die Spielerin die Möglichkeit zur folgenlos bleibenden Abweichung vom temporal streng synchronisierten Rezeptionsvorgang, z.B. in Form einer Pause. Die Software ist so geduldig wie das Papier, das man zurückblättern kann (während das Leben und das Online-Spiel immer weitergehen). Das scheinbare Defizit gegenüber der

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realistischeren Simulation von Interaktionen im MUD24 erweist sich so als der eigentliche Mehrwert digitaler Narration, da es nur hier möglich ist, im Rahmen spielerischer Iterationsbewegungen eine tragfähige dramaturgische Struktur auszubilden. Die Geschichte des Computerspiels lässt sich also auch als eine Zivilisationsgeschichte sich steigernder Komplexität und Ausdifferenzierung lesen: Der rein gegenwartsbezogenen Existenz des Einzelkämpfers und den frühesten Ausprägungen kurzfristiger Taktik und Strategie in Form von Absprachen im Clan folgen erste langfristigere Lebensentwürfe innerhalb von Schutzgemeinschaften, die in einer dauerhaft präsenten fiktionalen Gegenwelt online zur Verfügung stehen. Am Ende des geschilderten Durchlaufs durch die Zivilisationsgeschichte, die das Computerspiel strukturell geprägt hat, präsentieren sich die Spielformen gegen/mit der Software im Modus vorläufiger Lebensentwürfe, die im immer wieder neuen Ansetzen und Ausprobieren von Optionen das virtuelle Pendant zur modernen, urbanen Patchwork-Existenz darstellen.

3. Seitenwechsel (Geschehen vs. Geschichte) In den vom Zwang der Temporalität entlasteten Spielsituationen findet die mikrostrukturelle A-Linearität der iterativen Erzählbewegung ihre spiegelbildliche Entsprechung auf der Makroebene der ‚großen Erzählung‘. Die Variationsbreite der Interaktion umfasst dabei aber nicht nur die Chance, eine neue Handlungsmöglichkeit innerhalb einer Geschichte zu wählen und damit jeweils eine neue Erzählung zu erzeugen. Es wird den Spielenden darüber hinaus in bestimmten Genres mittlerweile standardmäßig die Möglichkeit angeboten, das gleiche Geschehen aus einer grundsätzlich anderen Perspektive zu beobachten. Üblicherweise kann dann der Geschehenskern einer antagonistischen Situation aus den widerstreitenden Perspektiven der Konfliktparteien spielerisch durchlebt werden. Dies hat zunächst medial-ökonomische Gründe: Es ist seitens der Programmiertechnik vergleichsweise unaufwendig, die Steuerungsprozesse des einen Figurensets freizugeben und sie auf ein anderes zu übertragen. Der entstandene Effekt ist dabei allerdings kaum zu unterschätzen, da nun die gleiche Szenerie plötzlich mit umgekehrten Vorzeichen wahrgenommen wird. Was eben noch bedrohlich war, dient nun als Schutz. Das eben noch Vertraute wendet sich gegen die Spielerin. Dies ist eine erzählerische Op24 MUD – Abk. für Multi User Dungeon – eine von einer Gruppe bespielbare Softwareumgebung. Diese frühe Form war meist vollständig textbasiert und wurde von den heutigen MMORPGs abgelöst, den ‚Massively Multiplayer Online Role-Playing Games‘, die auf Bildund Tonsignalen beruhen.

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tion, die es in dieser Prägnanz bisher noch nicht gegeben hat. Innerhalb dieses Verfahrens können verschiedene Typen des Wechsels bzw. der Wahl unterschieden werden: a. Spielfeld: Die einfachste Form ist die ‚kontingente Entscheidung‘ für eine Seite des Spielfeldes. Diese Wahl eines Spielsteins/Avatars ist mit der Möglichkeit vergleichbar, bei einem Schachspiel sowohl die Weißen wie auch die Schwarzen zu spielen. Dies hat unter Umständen zwar Auswirkungen auf die Gewinnchancen (bestimmte Figuren haben zum Beispiel die Möglichkeit bestimmte Züge zu machen etc.), aber die Auswahl etabliert keine emotionale Komponente. Selbst die Entscheidung für einen bestimmten Clan (in der schon beschriebenen Interaktionsvariante Spielerin-gegen-Spielerin) scheint zu Beginn noch ebenfalls recht kontingent – und die Wahl beeinflusst kaum mehr als die Markierungsfarbe des Avatars. Allerdings wird sich auch hier im Laufe der Zeit eine gewisse identifikatorische Übertragungsleistung von den Spielerinnen auf ihre Figuren ergeben – und damit ein erster Übergangsbereich zu semantisch aufgeladenen Variationen. b. Aufträge: Problematischer und narratologisch interessanter ist die Wahlmöglichkeit ab dem Moment, ab dem der reine Imperativ des „Überlebe!“ erzählerisch überboten wird und es zu einer ‚narrativen Einbettung‘ des Geschehens kommt und damit auch zu der Charakterisierbarkeit der beiden Parteien. Ein Beispiel für diesen Verlust semantisch-emotionaler Neutralität ist etwa schon in der basalen Konfliktsituation angelegt, die sich durch die sich direkt widersprechenden Aufträge „Befreie die Geiseln!“ vs. „Verteidige das Gefängnis!“ ergibt. Schon solch ein rudimentäres Handlungsziel setzt genügend identifikatorisches Potential frei, um je nach Charakter der Spielerin eher die Wahl der Seite ‚Räuber‘ oder ‚Gendarm‘ zu begünstigen. Schon hier liegt nicht mehr die neutrale Opposition von weißen vs. schwarzen Spielsteinen vor. Damit es aber gelingt, eine Spielsituation zu konstruieren, die eine erzählerische Legitimation der Gründe liefert, die die Ursache für den gewaltsamen Konflikt sind, müssen ‚beide‘ Interessenlagen grundsätzlich plausible Versionen eines Geschehens sein. Selbst ein in seiner narrativen Weltdeutung nicht eben elaborierter Egoshooter, der aber einen Seitenwechsel zulässt, entspricht ab diesem Moment Regel Nr. 825 aus Ernest Adams sogenanntem Dogma 2001, in dem er sinnvolle (Selbst-)Ansprüche 25 „8. There may be victory and defeat, and my side and their side, but there may not be Good and Evil. Justification: Good versus Evil is the most hackneyed, overused excuse imaginable for having two sides in a fight. With the exception of a small number of homicidal maniacs, no human being regards him- or herself as evil. As a Dogma designer, you are required to create a real explanation for why two sides are opposed – or to do without one entirely, as in chess.“ (Adams: Dogma 2001)

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von Spieldesignern und -autoren an ideologische Ausgewogenheit und erzählerische Mindeststandards formulierte. Die Spielindustrie dagegen verfolgt mit diesen narrativ-ideologischen Rahmungen wohl zunächst einmal das ökonomische Ziel, die Illusion des „Kaufe Zwei für Eins!“ zu erzeugen, um so ein weiteres Verkaufsargument für ihr Produkt zu haben. Im obigen Beispiel würde etwa die Spielerin in eine Situation versetzt, in der einem Einsatzkommando der Polizei die Deutung nahe gelegt wird, dass sich in einem Gebäude Terroristen befinden, die Geiseln genommen haben. Die Kämpfenden der Befreiungsarmee, die sich in dem Gebäude aufhalten, haben dagegen aus ihrer Sicht der Dinge Kriegsverbrecher dingfest gemacht und verteidigen die Sicherheit eines legitimen Gefängnisses gegen die Truppen eines autoritären Regimes. Haben die Spielenden also einmal ihre Wahl für eine der beiden Seite getroffen, müssen die vorgebrachten Begründungen ihr Handeln weitgehend konsistent und bruchlos instruieren können, sonst leidet die Stimmigkeit der Fiktion. Durch eine narratologische Analyse lassen sich nun also mindestens drei Ebenen identifizieren, die sich hier überlagern und miteinander interferieren: Das Geschehen (der Kampf um ein Gebäude), die Geschicht[en] (Geiselbefreiung vs. Befreiungskampf) und die Erzählung[en] (sowohl jede einzelne Spielkampagne; aber auch jeder einzelne Spielversuch als Erzähleinheit) sind unterscheidbar und in ihrer Differenz zueinander bedeutungsstiftend zu beobachten: Obwohl das ‚Geschehen‘ dasselbe geblieben ist, wurden durch die bewertende Einordnung (auf der Rahmenebene) zwei unterschiedliche ‚Geschichten‘ erzeugt – auch wenn sie sich in einer Beziehung spiegelbildlicher Ähnlichkeit befinden. Es wird hier daher die These vertreten, dass im Medium Computerspiel ein modernistisches Projekt ideologiekritischer secondorder-observation zum ersten Mal massenkompatibel auftritt, indem es die Differenz von ‚Geschehen‘ und ‚Geschichte‘ (in der Wahl der Seiten durch die Spielerin) als Medium-Form-Differenz beobachtbar macht. (Ebenso wurde im Computerspiel die Differenz von ‚Geschichte‘ und ‚Erzählung‘ als formgebende Kopplung von Elementen im Produktionsprozess eines narrativen Aktes (durch die Spielerin selbst) beobachtbar.) Hat die Spielerin nämlich beim zweiten Versuch die Gegenseite gewählt, funktioniert die jeweilige Instruktion dort ebenfalls. Da sich aber die Spielerin (in der realen Realität) noch an ihr vorheriges Erlebnis erinnern wird und auch das Grundsetting der Auseinandersetzung wiedererkennt – kommt es zu einem überaus interessanten Effekt kognitiver Dissonanz. Im Bewusstsein der Spielenden entsteht eine temporal verlagerte Kollision zweier kontradiktorischer, aber in sich konsistenter Ideologien, die in Bezug auf ein und dieselbe Situation ein entgegengesetztes (oft gewalttätiges) Handeln legitimieren. Doch obwohl sich die Positionen ausschließen, hatte jede für sich ihre Berechtigung, wie die Spielerin ja am eigenen (Spiel-)Handeln selbst erfahren konnte. Im Gegensatz zu den analogen Medien gibt es

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aber für die Spielerinnen ausschließlich das unverbundene Nebeneinander dieser alternativen Versionen – das Spiel selbst bietet keine Möglichkeit an, diese sich ausschließenden Realitätsversionen miteinander zu versöhnen. Computerspielerinnen lernen hier also aus eigener Erfahrung und damit sehr nachdrücklich, dass bei Konflikten immer beide Seiten glauben, dass sie im Recht seien. Sie internalisieren qua medialer Logik (in sich selbst) die Kontingenz jeder ideologischen Wahl – und werden in Zukunft möglicherweise wesentlich schwerer davon zu überzeugen sein, dass nur eine Sicht der Dinge möglich ist. c. Die dunkle Seite der Macht: Genau an diese Strategie knüpft die Spiel­ industrie an (wenn auch motiviert durch ökonomische Gründe der Aufmerksamkeitserzeugung und -bindung durch den kalkulierten Tabubruch), wenn sie den Spielerinnen die Wahl der ‚bösen Seite‘ ermöglicht. Bei diesen Spielen findet der emanzipatorische Perspektivenwechsel nicht innerhalb, sondern zwischen der Medienumwelt und dem Spiel statt. Einige kurze Beispiele sollen hier zur Illustration des Verfahrens genügen: – Es wird – in Übereinstimmung mit einer filmischen oder literarischen Vorlage – die Seite einer bösen Hauptfigur gewählt, zum Beispiel wird man in The Godfather – The Game (Electronic Arts, 2006) Mitglied des CorleoneClans und wird dabei mit der (in den Filmen weitgehend ausgeblendeten) schmutzigen Alltagsrealität von Auftragsmord und Schutzgelderpressung konfrontiert und in sie involviert. – Andererseits bieten Spiele auch oft die Möglichkeit – im Gegensatz zur Vorlage – zum Beispiel die dunkle Seite der Macht zu wählen und die Star Wars auf der Seite des Imperiums zu erleben. – Während hier eine präzise bestimmbare intermediale Relation vorliegt, bieten Spiele wie Dungeon Keeper II (Bullfrog, 1999) in einer ganz allgemeinen Weise die Möglichkeit, ‚das Böse‘ zu wählen, hier in Form eines Unterweltdämons, der mit seinen Orks die lästigen Helden und guten Zauberer bekämpft: „It’s good to be evil“ lautet der Slogan des Spiels. – Auch gibt es Spiele, in denen ebenfalls eine intermedial klar definierte gute und böse Seite existiert, die aber ‚beide‘ gewählt werden können: Das Simulationsspiel The War of the Worlds (Rage Games, 1998) bietet die Möglichkeit, sowohl die Briten zu spielen, die die Insel und die Menschheit verteidigen – aber auch die vom Rohstoffmangel zur Expansion gezwungenen Marsianer, die entweder die Erde erobern oder mitsamt ihrer Rasse und Zivilisation untergehen: Knapp 10 Jahre bevor Spielbergs Blockbuster War of the Worlds (USA, 2005) die Perspektive wieder ausschließlich auf den Familienvater als den Urtypus des amerikanischen Helden reduzierte, der einer gesichtslosen Bedrohung von Außen durch das ganz Andere ausgesetzt ist, hatte das Spiel immerhin doch einmal gezeigt, dass auch ‚die Anderen‘ nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln haben, auch wenn es einen Konflikt der Interessen gibt.

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d. Seitenwechsel: Schließlich ist der Typus zu nennen, der die Spielerin zu einer Wahl während des Spiels nötigt: Schon in jedem Rollenspiel gab und gibt es die Möglichkeit innerhalb der eigenen Gruppe, von einer Figur zur anderen zu wechseln. Im narrativ elaborierten Kriminal-Adventure Fahrenheit (Quantic Dream, 2005) werden die Spielenden allerdings gezwungen, innerhalb desselben Spiels sowohl die Figur des gejagten Mörders wie auch die Jägerin / Kommissarin zu spielen – wobei ihr Geschick auf der einen Seite ‚des Spielfelds‘ ihre Chancen auf der anderen Seite beeinflusst. In ähnlicher Weise wird in Wing Commander IV – The Price of Freedom (Origin, 1995) (allerdings gänzlich innerhalb der Handlungslogik des Spielgeschehens) zunächst mit großem narrativen Aufwand ein Weltraumabenteuer mitsamt einer bösen terroristischen Bedrohung etabliert, gegen die die Spielerin in der Gestalt ihres Helden kämpft – bis sie dann an einem gewissen Punkt des Spiels die ursprüngliche Loyalität aufgegeben muss/kann, da sich die praktische Möglichkeit und moralische Notwendigkeit ergibt, zu den Rebellen überzulaufen. Und als letzter Fall soll Black & White (Lionhead Studios, 2001) genannt werden. Hier liegt eine Variation des Spielgenres Godgame vor, die sich dadurch auszeichnet, dass hier die Spielerin permanent mit einem Doublebind konfrontiert wird: Sie spielt den Gott eines Landes – und kann diesem und seinen Bewohnern dabei Gutes wie Böses tun. Durch das Böse verschafft sie sich zwar mehr Respekt und Mana-Punkte, verwüstet aber nach und nach ihr eigenes Land. Das Gute zu tun lässt dagegen das Land erblühen, sie aber möglicherweise einem konkurrierenden Gott unterliegen, der nicht so freundlich zu seinen Gläubigen ist und daher schneller und effizienter in der Lage war, Mana und damit Macht zu akkumulieren.

4. Fazit Im Gegensatz zu Kommunikationsprozessen in analogen Medien wie Buch und Film ermöglichen die neuen digitalen Medien ein a-lineares Erzählen – durch das die narrativen Ausdifferenzierungsprozesse zwischen der Mikroebene des einzelnen Spielversuchs (Erzählung) und der Makroebene des Spiels (Geschichte) bzw. des abstrakten Ereignisgerüsts (Geschehen) metafiktional beobachtbar werden: Der Spielerin sind durch die Software die Mittel an die Hand gegeben, durch ihr Spielen auf dem Bildschirm einen narrativ strukturierten audiovisuellen Output zu produzieren, dessen erste (und meist einzige) Rezipientin sie selbst ist. Computerspiele machen durch diesen Rückkopplungseffekt von Produktion und Rezeption die Differenz von Erzählung (das einzelne Spiel) und Geschichte (die in der Software hinterlegte Kernkonstruktion, die variiert wird) beobachtbar.

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Da aber nicht nur eine Geschichte spielbar ist, sondern in der gleichen Verpackungshülle sich verschiedene Datenträger (CDs, Disketten etc.) befinden, die einzulegen sind, je nachdem welche Seite gespielt werden soll, ist auch die Medium-Form-Differenz von Geschehen und Geschichte beob­ achtbar. Sie ist es, die den Wechsel der Perspektive auf dasselbe Geschehen innerhalb eines einzigen medialen Produkts (der Gesamtumfang der Spielsoftware) ermöglicht. In der zeitlichen Überschau durch die Spielerin in der realen Realität entsteht nach und nach ein nicht-synthetisierbares Nebeneinander von konkurrierenden Geschichten und strikt entgegengesetzten Bewertungen, die sich aus ein und demselben Geschehen ableiten lassen. In dieser medialen Ausformung einer ideologischen Pluralisierungstendenz liegt die zentrale Provokation des erzählerischen Mediums ‚Computerspiel‘, unabhängig von den es (bisher) dominierenden marginalen Inhalten, die meist kaum einer Interpretation wert sind: Was in den analogen Medien also nur als eine experimentelle Ausnahme gelungen war – eine narrative Abbildung der a-linearen/multiperspektivischen Lebensrealität der Moderne – dies gelingt in den interaktiven Erzählungen auf der Grundlage ihrer neuen mediologischen Struktur spielend. Sie schließen also vermittels ihrer Prozesslogik mit der Spielerin einen Fiktionsvertrag, der nicht auf das freiwillige, passive Akzeptieren der einen, möglichst in sich konsistenten Variante des Geschehens abzielt. Stattdessen erfordern sie eine permanente metafiktionale Haltung von der Spielerin, die bereit sein muss, von der monoperspektivischen Einheitslogik der Schrift auf die polyperspektivische Differenzlogik der digital-interaktiven Narration umzustellen. Die Fiktionalität des Computerspiels erfordert eine Rezeptionshaltung, die zusammengefasst werden könnte als ‚willing suspension of misbelief‘.

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Die ludische Kultur des Computerspielens Eine spieltheoretisch-kulturanthropologische Analyse am (Bei-)Spiel Zoo Tycoon 2 Stage 0: Intro Spiel ist auf eine fundamentale Weise mit dem Menschsein verbunden, es ist eine „primäre Lebenskategorie“, konstatierte Johan Huizinga in seinem kulturanthropologischen Werk Homo ludens und klassifizierte damit das Spiel als eine anthropologische Dimension. Wenn in diesem Beitrag ein kulturanthropologischer Zugang zum Phänomen des Spielens eingenommen wird, dann hat dieser seinen Ausgangspunkt in der Einsicht, dass Spielen eine elementare menschliche Lebensäußerung darstellt und in unserer Kultur einen bedeutsamen Raum einnimmt. In den letzten Jahren hat ein spezieller Typ von Spielen – nämlich jener, der mittels Computer, Konsolen und Handhelds gespielt wird – einen dominanten Platz in der Freizeitkultur von Kindern, Jugendlichen und zunehmend auch von Erwachsenen eingenommen, worauf u.a. die Ergebnisse verschiedener Nutzungsstudien hinweisen. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive kann in diesem Zusammenhang auf Marktforschungsdaten verwiesen werden, welche eindrucksvoll belegen, dass seit den Anfängen des Computerspielens in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die wirtschaftliche Bedeutung von Computerspielen enorm gestiegen ist; so haben die Umsätze der Computerspielindustrie mittlerweile jene der Filmindustrie übertroffen. Mit der zunehmenden Popularität von Computerspielen ging im wissenschaftlichen Bereich eine vermehrte Auseinandersetzung mit diesem Phänomen einher, wobei sich im angelsächsischen Raum bereits ein eigenes interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert: die ‚Digital Game Studies‘.     

Huizinga: Homo ludens, S. 11. Vgl. hierzu exemplarisch die Studie Spielplatz Deutschland. Vgl. beispielsweise die JIM- und KIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. Newman: Videogames, S. 3. Vgl. Aarseth: Warum Game Studies, S. 17 f.

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In den letzten Jahren ist auch innerhalb der (deutschsprachigen) Pädagogik ein vermehrtes Interesse an Computerspielen zu verzeichnen, wobei hier u.a. die Medienwirkungsforschung eine dominante Forschungstradition darstellt. So liegt gegenwärtig eine größere Anzahl an Untersuchungen zu positiven und negativen Effekten von Computerspielen auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen vor. In dieser Tradition werden computerbasierte Spiele zum einen aus bewahrpädagogischer Sicht als gefährlich (oder zumindest problematisch) für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen thematisiert und zum anderen aus einer technisch-funktionalen Perspektive für Unterricht und Lehre instrumentalisiert. So werden beispielsweise im Rahmen des ,Game-based Learning‘ Computerspiele gezielt für die Gestaltung von Lehr-/Lernprozessen herangezogen, in der Absicht, dass durch die Aktivität des Spielens vorab definierte Inhalte angeeignet und/oder Fähigkeiten erworben werden. In diesem Kontext liegt die Betonung auf dem Lernen, das Spielen selbst dient der ,Erfüllung‘ von pädagogischen Zielsetzungen. Im diesem Beitrag wird von den Annahmen ausgegangen, dass es sich bei Computerspielen – jenseits von pädagogischen Instrumentalisierungsversuchen – um ein sozio-kulturelles Phänomen handelt, welches in Hinblick auf kulturelle Lernprozesse untersucht werden kann. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie ein spieltheo­ retisch-kulturanthropologischer Zugang zum Phänomen Computerspiel/en konzeptualisiert werden kann, der das Spielen als kulturelle Handlung fasst und eine exemplarische Analyse durchgeführt. Abschließend werden unter Bezugnahme auf Überlegungen zum kulturellen Lernen nach Christoph Wulf erste Überlegungen zu pädagogischen Implikationen am (Bei-)Spiel Zoo Tycoon 2 (Blue Fang Games/Microsoft 2006) angedacht.

Stage 1: Spieltheoretisch-kulturanthropologischer Zugang zum Phänomen des Computerspielens Wenn im Zuge der vorliegenden Analyse ein kulturanthropologischer Zugang zum Phänomen des Computerspielens intendiert wird, dann wird hierbei ,das Spielen‘ in seinen humanen Verhaltens- und Handlungsweisen fokussiert, welches sich in einer Vielzahl von ,Archivprozessen‘ unserer    

Vgl. Kirsh: The effects of violent video games on adolescents; Gebel/Gurt/Wagner: Kompetenzbezogene Computerspielanalyse. Wulf: Anthropologie; Aarseth: Warum Game Studies. Wulf: Anthropologie. Den Begriff ,Archivprozesse‘ verwenden wir nicht im foucaultschen Sinn (Diskursanalyse), sondern beschreiben damit die Prozesshaftigkeit des Spielens in Abhängigkeit des kulturellen, historischen und medialen Kontexts, die es zu explorieren und analysieren gilt.

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Kultur äußert. Das Spiel stellt im Vollzug einer „nicht so gemeint[en] Alsob-Handlung“10 ein Archiv von Bedeutungen, von Fantasien, von Regeln, Prinzipien und Strukturen dar und kann als ein solches analysiert, reflektiert und interpretiert werden. Darüber hinaus vollzieht es sich eingebettet in einen spezifisch kulturellen und medialen Kontext und kann als Antwort auf besondere menschliche Bedürfnisse ludischer Praktiken gedeutet werden. In diesem Sinne soll hier von einer ,ludischen Kultur des Computerspielens‘ gesprochen und ein (Computer-)Spiel sowie das Computerspielen als Beispiel eines Archivs bzw. Archivprozesses in seinen Ausformungen, Spieldimensionen und Spielarten analysiert werden. Im Anschluss an den Pädagogen Hans Scheuerl performiert sich die ludische Kultur in drei spezifischen Dimensionen:11 In Form von Spielen (,games‘12) als innovative oder tradierte Vereinbarungs- und Regelgebilde; als Spieltätigkeit (,gameplay‘), in der Spiele (,games‘) den Strukturen nach praktiziert, variiert und performiert werden; und Spielen als Bewegung (,play‘), welche sich durch die Momente Freiheit, Ambivalenz, relative Geschlossenheit sowie die räumliche und zeitliche Begrenzung auszeichnet. Im Folgenden wird der methodische Zugang skizziert und theoretisch verortet. Hierzu wird in einem ersten Schritt der Analyse der soziologisch-spielanthropologische Ansatz nach Roger Caillois herangezogen, dessen These als eine Weiterführung klassischer Spieltheorien (Schiller, Fröbel, Spencer, Groos, Huizinga, Scheuerl, Batson etc.) gedeutet werden kann. Caillois13 postuliert, dass sich Spielen als triebgesteuertes humanes Handeln durch zwei einander entgegengesetzte Prinzipien auszeichnet: Auf der einen Seite herrscht das unkontrollierte, anarchische und launenhafte Prinzip der ,paidia‘ (,play‘) und auf der anderen Seite wird dieses spontane Tun mit dem gebieterischen, konventionellen und ordnenden Prinzip ,ludus‘ (,game‘) konfrontiert. Die Spielweise der ,paidia‘ zeigt sich als „spontane Manifestation des Spieltriebs“, als „exzessive Freude“,14 während ,ludus‘ diesen Trieb diszipliniert und das Spielen zur Herausforderung macht. Roger Caillois differenziert Spiele, über diese zwei Prinzipien des Spielens (,paidia-play‘ und ,ludus-game‘) hinaus, in sechs Spiel-Qualitäten und vier Elementarkategorien des Spiels.15 Die sechs formalen Qualitäten des Spiels charakterisiert Caillois wie folgt: Er unterscheidet Spiele, in denen festgelegte Regeln (a) die Handlung leiten, und jene, in denen diese nicht vorab 10 Huizinga: Homo ludens, S. 22. 11 Scheuerl: Zur Begriffsbestimmung von „Spiel“ und „spielen“, S. 44. 12 Die in der Klammer angeführten Begriffe ,game, gameplay und play‘ wurden von den AutorInnen beigefügt. Sie beziehen sich auf Überlegungen unterschiedlichster SpieltheoretikerInnen (vgl. exemplarisch: Adamowsky: Spielen und Erkennen – Spiele als Archive). 13 Vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen. 14 Ebd., S. 37. 15 Vgl. ebd.

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existieren, sondern im Kontext einer fiktiven Betätigung (b), die an den Alltag angelehnt ist, ausgehandelt werden. Für beide genannten Qualitäten des Spielens gilt, dass sie in einer freien Betätigung (c) vollzogen werden, dass ihr Tun abgetrennt durch Begrenzungen wie Zeit und Raum (d) organisiert ist und ihr Ergebnis und ihr Ausgang ungewiss (e) bleiben, sowie dass kein direkter Nutzen daraus folgt, wodurch die spielerische Tätigkeit unproduktiv (f) bleibt. Diesen sechs formalen Qualitäten des Spiels ordnet Caillois eine viergliedrige Kategorisierung der Spielarten zu: Agôn (Wettkampf), Alea (Glücksspiel), Mimikry (Verkleidung/Schauspiel) und Illinx (Rausch/Trance). Beide Spielweisen (,play/game‘) sind in den vier Kategorien des Spiels enthalten und äußern sich durch die Freude am Werfen eines Balls, durch die Steigerung der Leistung im Sport und durch den Rausch im Glücksspiel. Die Analyse nach Spielprinzipien, Spieleigenschaften und Spielkategorien kann nicht nur auf traditionelle Spiele angewandt werden, sondern auch auf Computer-, Video- und Konsolenspiele. Hierzu scheint jedoch ein gewisses ,mediales Update‘ von Nöten, damit die Spieltheorie Caillois’ die medialen Implikationen der digitalen Spiele des 21. Jahrhunderts zu fassen vermag. Aus diesem Grund empfiehlt Natascha Adamowsky16 eine Erweiterung dieser vier Elementarkategorien des Spiels (Agôn, Alea, Mimikry und Illinx) um eine fünfte Kategorie – das Experiment: „Die These ist, dass Experimentieren und Modellieren nicht nur im Rahmen eines bereits vorgegebenen Spiels stattfinden können, sondern dass auch das Entwerfen von Spielen dem Spiel nicht äußerlich ist.“17 Das spielerische Experimentieren gilt weder dem Wettkampf noch dem Glücksspiel, noch der Nachahmung, noch dem Rausch, sondern allein der Freude an der Weiterentwicklung und der Modellierung. Eine zweite Erweiterung dieser nun fünf Kategorien des Spiels betrifft die Elementarkategorie des Rausches (Illinx) im Spiel. Denn der durch körperliche Betätigung hervorgerufene Rauschzustand (z.B. durch Drehung) ist bei üblichen Spielkonsolen schwer zu erlangen.18 Und doch werden beim Computerspielen vielfach rauschähnliche Zustände beobachtet, die man als „flow“19 bezeichnen könnte. Durch die – den Spielstärken der Spielenden entsprechende – Balance zwischen Können und Anforderung verschmilzt die Aufmerksamkeit des Spielers mit den Strukturen des Spiels: „Die Spieler verschmelzen mit dem Spiel, sie gehen auf in der Spieltätigkeit (‚Flow‘),

16 Adamowsky: Spielen und Erkennen – Spiele als Archive. 17 Adamowsky: Computerspiele. 18 Die Ende letzten Jahres auf dem Markt erschienene Wii von Nintendo stellt hierbei eine Ausnahme dar. 19 Csikszentmihalyi: Finding Flow.

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haben Schwierigkeiten, aufzuhören und ‚vergessen‘ die Zeit.“20 Im Kontext unserer Analyse von digitalen Spielen wird in weiterer Folge vom Flow als Elementarkategorie neben Agôn, Alea, Mimikry und Experiment ausgegangen.21 Der hier entfaltete methodische Zugang wird im Folgenden am (Bei-) Spiel Zoo Tycoon 2 exemplarisch verdeutlicht, wobei zunächst eine deskriptive Beschreibung des Spiels erfolgt (2.1) und in weiterer Folge nach Spielkategorien (2.2) und nach kulturanthropologischen Dimensionen (2.3) analysiert wird.

Stage 2: Analyse des Spiels Stage 2.1: Zoo Tycoon 2 deskriptiv Im Folgenden wird das Spiel Zoo Tycoon 2 in Anlehnung an die Spieleigenschaften von Caillois22 beschrieben; hierbei beziehen wir uns zum einen auf Spielbeschreibungen23 und auf teilnehmende Beobachtungen von Spieler­ Innen. Ziel ist es, das Spiel (‚game‘) als Vereinbarungs- und Regelgebilde und in seiner inhaltlichen Dimension zu erfassen. Zoo Tycoon 2 (2006) ist eine Weiterentwicklung von Zoo Tycoon (Blue Fang Games/Microsoft, 2001), wobei das ‚gameplay‘ ident blieb, jedoch graphisch um eine 3D-Ansicht sowie um einige Features erweitert wurde. Beim Spiel Zoo Tycoon 2 handelt es sich in erster Linie um ein Wirtschaftssimulationsspiel, wobei das primäre Spielziel darin besteht, einen Zoo aufzubauen, diesen mit Tieren und Gehegen auszustatten und dabei einen möglichst großen Profit zu erwirtschaften, wobei die Zufriedenheit von BesucherInnen und Tieren zu berücksichtigen ist. Es gibt drei verschiedene Modi, das ‚game‘ zu spielen: als „freies Spiel“, in dem mit unbegrenztem Geldvolumen ein Zoo entworfen und verwirklicht werden kann; als „Herausforderung“, bei der mit geringem Budget Aufgaben in unterschiedlichen Zoos gemeistert werden müssen; und als „Kampagne“, in welcher der Zoo von Grund auf aufgebaut wird, indem mehrere Szenarien gemeistert werden und der Spieler die wirtschaftliche Führung und artgerechte Haltung

20 Fritz/Misek-Schneider: Computerspiele aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Fritz und Schneider-Misek unterscheiden hierbei noch zwischen der Frustrationsspirale (Flow durch den Wunsch der Überwindung) und der positiv-emotionalen Spielfolge (Wiederherstellung der „Lust“). Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. 21 Es stellt sich die Frage, ob nicht eine Neubestimmung und Ausdifferenzierung der Spielkategorien nach Caillois von Nöten wäre. 22 Caillois: Die Spiele und die Menschen. 23 Vgl. Handbuch Zoo Tycoon 2.

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der Tiere mit Hilfe des Zoo-Lexikons (2006) erlernt.24 Innerhalb dieser Möglichkeiten können die Spielenden auf unterschiedlichen Ebenen agieren: Sie können als ManagerInnen den Zoo führen, Tiere einkaufen bzw. auswildern, MitarbeiterInnen einstellen, Gehege gestalten und Gebäude errichten etc.; sie können jedoch auch als Tierpfleger und/oder Servicekraft selbst Hand anlegen; und sie können in einer dritten Ebene als BesucherInnen den Zoo durchwandern und nach Belieben Fotos erstellen und in ihrem Album speichern.25 Die Anlehnung an den Alltag bleibt dabei offensichtlich, wobei das Fachwissen um Tierhaltung umfassend erscheint und die Spielenden sich diese Kenntnisse aus dem Zoolexikon (2006) aneignen und umgehend in der Praxis des Zooalltags um- und einsetzen müssen. Trotzdem steht der ‚Spielspaß‘ im Vordergrund und die nötigen Wissenslücken werden in spielerischer Freiheit eingelöst. Zoo Tycoon 2 ist zeitlich und räumlich begrenzt, wobei ein Jahreszeitenrhythmus eingehalten wird und der Ausbau eines Zoos an einem gewissen (nicht fixierten) Punkt erschöpft scheint. Wie der Zoo gestaltet wird und welche Tierarten und Biome in den Zoo integriert werden, bleibt offen und der Phantasie der Spielenden überlassen. Die einzige Produktivität, die sich über das Spiel hinaus erstreckt, sind die Fotos der Tiere und die selbst entworfene Zoo-Anlage, wobei hierbei keine realen finanziellen Absichten erkennbar scheinen. Stage 2.2: Analyse nach Spielkategorien Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Dimension des ‚gameplay‘ (‚ludus‘), also jene Spielweise, bei der Spiele (‚games‘) den Strukturen nach praktiziert, variiert und performiert werden, in Bezugnahme auf die Spielkategorien nach Caillois analysiert. In einem zweiten Schritt wird die Untersuchung um kulturanthropologische Dimensionen erweitert, wobei hier die Dimension des ‚play‘ (‚paidia‘), also das Spielen als Bewegung in seiner individuellen, spontanen Manifestation, stärker in den Blick genommen wird. Im Zuge dessen wird nach Momenten kulturellen Lernens gefragt, die sich beim Spielen vollziehen. Im Sinne unseres Updates in Anlehnung an Caillois und Adamowsky wird das Spiel in Hinblick auf folgende fünf Kategorien analysiert: Wettstreit (Agôn), Zufall (Alea), Maskierung (Mimikry), Flow, Experiment/Modellieren. Die deskriptive Annäherung an das Spiel Zoo Tycoon 2 zeigt, dass bei diesem Spiel – das als Wirtschaftssimulation verkauft wird – die Kategorie der ‚Modellierung‘ bzw. des ‚Experimentierens‘ im Kontext des ‚gameplay‘ im Vordergrund steht: Dem Spieler, der sich in die Rolle eines Zoodirektors be24 Vgl. 2.3.4 Kontextuelle Dimension. 25 Vgl. 2.3.3 Mediale Dimension.

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geben kann, stehen in dieser Funktion verschiedene Elemente (Tiere, Landschaften, Gebäude, …) zur Verfügung, mit denen er seinen individuellen Zoo gestalten kann. Hierbei gibt es gewisse Vorgaben: zum Beispiel, dass sich manche Tiere nur in bestimmten ‚Umgebungen‘ wohl fühlen, was den Spielenden z.B. zu einer entsprechenden Gestaltung der Gehege veranlasst, oder dass BesucherInnen des Zoos Bedürfnisse haben, die befriedigt werden müssen. D.h. es gibt von Seiten des ‚games‘ gewisse Vorgaben, die im Zuge der Gestaltung des individuellen Zoos berücksichtigt werden müssen, welche durch permanente Rückmeldungen kommuniziert werden (z.B. „Ich habe Hunger.“ oder „Das Tier xy fühlt sich nicht wohl.“). Auf diese muss der Spielende entsprechend reagieren, um größtmögliche Zufriedenheit bei Tieren und BesucherInnen zu erreichen und einen ‚erfolgreichen‘, schönen und gut besuchten Zoo zu gestalten, worin u.a. der Reiz des Spiels liegt. Das Moment des Experimentierens kommt vor allem zum Tragen, wenn man nicht im freien Spiel einen Zoo gestaltet, sondern den Spielmodus „Herausforderung“ oder „Kampagne“ wählt und damit Vorgaben, Probleme und Herausforderungen bestmöglich lösen bzw. entsprechende Problemlösungsstrategien entwickeln muss. Bislang wurde jene Spielweise (‚gameplay‘) analysiert, die in der Struktur des Spiels angelegt ist (Modellieren/Experimentieren). Wie sich jedoch das Spielen (‚play‘) innerhalb dieser Strukturen entfaltet bzw. diese Strukturen aufbricht, wird erst durch eine Analyse der individuell-subjektiven Spielhandlung deutlich. Diese wird in einem nächsten Schritt aus kulturanthropologischer Perspektive an Hand einer medialen, leiblichen, kulturellen und perspektivischen Dimension analysiert. Stage 2.3: Analyse nach kulturanthropologischen Dimensionen 2.3.1 Perspektivische Dimension Ein besonderes Feature im Spiel Zoo Tycoon 2 stellt die Möglichkeit dar, im Spiel aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu agieren. Während der Manager sich um die Gestaltung und das Management des Zoos kümmert, nimmt er eine Vogelperspektive ein.26 Zugleich kann jeder beliebige Besucher oder Mitarbeiter des Zoos via Mouse-Klick aktiviert und auf dessen First-Person-View gewechselt werden27 und somit den Zoo aus dieser alternativen Perspektive erleben. Adam Levesque, der Creative Director und CEO von Blue Fang Games, beschreibt die Idee hinter dem „Zoo Guest Mode“ folgendermaßen:28 26 Siehe Abbildung 1. 27 Siehe Abbildung 2. 28 Levesque: Zoo Tycoon 2 Developer Diary.

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One of the things we heard over and over from the fans of Zoo Tycoon was that they wanted to get „closer to“ the animals. Because Zoo Tycoon was 2D, getting closer meant the animals would get blurry. Making Zoo Tycoon 2 3D solved that problem. Of course, it wasn’t enough just to „zoom“ the camera closer, we had to actually get down and view the animals from the guests’ perspective. Once we could walk around the zoo, we were hooked.

Abbildung 1

Abbildung 2

Die Implementierung dieser zweiten Perspektive veränderte das ‚gameplay‘ von Zoo Tycoon 2 elementar. Es eröffnet somit zwei neue Spielweisen, denn zum einen kann die Besucherin Fotos der Tiere schießen (siehe mediale Dimension) und zum anderen entstand dadurch die Möglichkeit der direkten Interaktion mit den Tieren als Pfleger oder Servicepersonal. Für den Spieler bedeutet dies, dass er auf unterschiedlichen Ebenen agieren und durch ein doppeltes Erlebnis den Zoo erfahren kann. Er kann den Zoo zunächst planen und errichten und dann seine Konstruktion selbst erkunden und bewundern. Dieses Feature eröffnet unterschiedliche Zugänge zum Spiel und erlaubt eine Kombination aus unterschiedlichen Spielhandlungen: So schildert ein Vater seine Überraschung, als seine siebenjährige Tochter in dem von ihm gemanagten Zoo begann die Tier zu pflegen, während er sich um die Finanzen kümmerte. Diese Kombination aus Wirtschaftsstrategie (Manager-View) und Agieren als Pfleger (First-Person-View) eröffnet wesentliche spielerische (‚play‘) Aspekte im ‚gameplay‘. 2.3.2 Mediale Dimension Mit der Frage nach der medialen Dimension von Computerspielen wird der Blick auf die Spielweisen gelenkt, welche Medien nahe legen bzw. eröffnen, und auf die medialen Praktiken,29 welche beim Spielen vollzogen werden. Im Folgenden wird beispielhaft auf den ‚Crossmedia-Effekt‘ des 29 Matussek: Mediale Praktiken.

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Spiels Zoo Tycoon 2 eingegangen, der von den Spielenden im ‚play‘ hergestellt wird. Bei der Version Zoo Tycoon 2 wurde auf Anregung der Spielenden das Feature TierpflegerIn und BesucherIn installiert.30 In einem Interview mit dem Lead Designer Adam Levesque erzählt dieser, dass die Macher des Spiels immer wieder von den Fans mit der Bitte konfrontiert wurden, dass sie den Tieren „näher“ sein wollen.31 Dieses Problem wurde einerseits durch die Umsetzung einer 3D-Grafik erreicht, anderseits durch die Möglichkeit, in die Rolle eines Tierpflegers bzw. eines Besuchers zu schlüpfen. Aus der Perspektive des Besuchers kann man laut Adams, nachdem man in der Rolle des Managers den Zoo gestaltet hat, herumspazieren und genießen, was man geschaffen hat. Aus der Überlegung heraus, dass die BesucherInnen nicht nur den Zoo betrachten, sondern auch etwas tun wollen, wurde von den Designern die Möglichkeit eingerichtet, Fotos von Tieren, der Umgebung etc. zu schießen und diese in einem Fotoalbum zu sammeln, um sie z.B. Freunden zu zeigen. Mittlerweile existieren verschiedene Foren zum Spiel Zoo Tycoon 2, in denen besonders gute, originelle und witzige Fotos der Spiel-Community bzw. einer Öffentlichkeit präsentiert werden und der eigene Zoo an Hand von Fotos vorgestellt und damit auch mit anderen verglichen werden kann. Hier zeigt sich eine Medienkonvergenz, die vom Spiel her zwar angelegt ist (z.B. indem man Fotos schießen und auf Datenträger speichern kann), diese wird aber erst durch die Spielenden des ‚games‘ Zoo Tycoon 2 im ‚play‘, nämlich im unstrukturierten Spielen, hergestellt: Es stellt kein notwendiges Handlungsmoment des Spiels dar, um z.B. das Spielziel zu erfüllen. D.h. die Spielenden haben durch ihr ‚play‘ das ‚game‘ Zoo Tycoon 2, welches von der Struktur nur im Einzelspielmodus gespielt werden kann, in ein ‚Online-Mehrspielermodus-Spiel‘ transformiert, indem sie über das Medium Internet Erfahrungen in Bezug auf Gestaltung des Zoos, Pflege der Tiere etc. austauschen. Dies wird an einem beispielhaften Dialog in einem Forum verdeutlicht. Der Spieler Kyle 4417 postet im Forum am 29. Dezember 2006 Folgendes32 und verdeutlicht das an einem Foto (siehe Abbildung 3): We have found Namia, and after a bribe of 100 dollars in their own money, the poaches gave her up to us.... Poor Namia was terrified of any human contact and was also in a cage with a width of no bigger than 3 feet.. Thankfully we are back home at the zoo, to avoid any human contact we have made a Solitary exhibit just for the time being, until Namia gets over her trauma. Namia is being personally cared for by me and in a few weeks she will have a new exhibit!33

30 31 32 33

Vgl. perspektivische Dimension. Vgl. Levesque: Zoo Tycoon 2 Developer Diary. Kyle‘s Zoo Of Exotic Animals! Ebd.

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Das heißt, der Spieler Kyle 4417 hat ein Tier aufgenommen und pflegt es nun gesund. Es wird deutlich, dass der Spielende mit dem Tier mitfühlt und ein Bedürfnis hat, sich mit anderen auszutauschen. Daraufhin postet der Mitspieler Kiger: „Yay^^ Hope she feels better. and i love how you added to the story by putting her in a solitary exhibit before you put her to the public“34. Es beginnt ein Spiel zwischen den beiden, indem Kiger mit seinem Posting auf Kyles Äußerungen reagiert. Sie gehen damit über den Einzelspielmodus hinaus und erweitern das Spiel um eine soziale und mediale Dimension. Einige Zeit später berichtet Kyle vom Genesungsprozess seines Schützlings und dokumentiert dies durch ein Bild:35 Thanks =) and you will be happy to know that she is now very energetic and happy, although the Picture I have of her is of her sleeping although it kind a looks like she has a smile on her face! Here is the Front View of her new exhibit, I do not have a back view but the rest of the walls are all brick, I wanted to still keep her a little bit in solitude.... she seems to like it that way so it will probably stay like that. Here is the Inside View of her exhibit, it is surrounded by trees and bushes, this also gives her a bit of privacy... The exhibit also has a very nice where the guests can see most of her exhibit from above.36

Abbildung 3



Abbildung 4

2.3.3 Leibliche Dimension Die Forderung der Spielenden „to want to get closer to the animals“ verweist auch auf eine leibliche Dimension des Computerspielens, wozu im Folgenden Überlegungen angestellt werden. Der Gebrauch von neuen Medien ist mit der Idee der Dematerialisierung und Entkörperung unserer Kultur verbunden.37 Sybille Krämer weist in diesem Zusammenhang darauf 34 35 36 37

Ebd. Vgl. Abbildung 4. Kyle‘s Zoo Of Exotic Animals! Vgl. Krämer: Verschwindet der Körper?, S. 50.

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hin, dass die Vorstellungen des Verschwindens des Körpers – etwa beim Computerspielen – zu kurz greift: „Was sich unter diesen Bedingungen vollzieht, ist nicht einfach die Auflösung des Körpers, vielmehr seine Aufspaltung in einen Leib und einen Datenkörper, seine Verdoppelung in einen physischen und einen semiotischen Körper“.38 Laut Krämer dürfen Leib und Datenkörper bzw. physischer und semiotischer Körper nicht als unabhängig voneinander gedacht, sondern müssen als miteinander verbunden gedacht werden. Was bedeutet dies für das Spielen von Zoo Tycoon 2? Die Möglichkeit, die Perspektive eines Tierpflegers einzunehmen, eröffnet den Spielenden Raum, mit ihren „Datenkörpern“ Tiere zu streicheln, zu füttern und zu umsorgen. Dies hat eine andere Qualität bzw. erfüllt andere Spielbedürfnisse als die Perspektive des Zoodirektors, was sich auch in einer spezifischen Spielweise (‚play‘) performiert.39 2.3.4 Kulturelle Dimension Mit der Frage nach der kulturellen Dimension im Spiel Zoo Tycoon 2 wird die Suche nach impliziten Bildern, Mythen und Ideen erst im Spielvollzug eröffnet. Hierbei soll die Ambivalenz der Aussagen und Deutungszusammenhänge erkennbar gemacht werden: Zum einen glänzt Zoo Tycoon 2 mit seinem modernen Verständnis der Tierhaltung und des Artenschutzes. Das Wohlergehen der Tiere steht hierbei im Vordergrund, so können z.B. Tiere aus Gefangenschaft gerettet oder gesunde Tiere ausgewildert werden. Darüber hinaus werden alle Abfälle recycelt und die Spielenden durch das Zoo­ lexikon umfassend in die Problemlage der Tiere und des Umweltschutzes eingeführt. Durch die Erweiterung des Spiels mit dem Paket Endangered Species können spezifische Artenschutzbereiche errichtet werden, was einen Beitrag zum Naturschutz darstellt. Das Bild, das in Zoo Tycoon 2 von zoologischen Gärten transportiert wird, entspricht nach Angabe der Entwickler den modernen Aufgaben eines Zoos, wobei Naturschutz, Artenschutz, Bildung, Forschung und Unterhaltung40 im Vordergrund stehen. Zum anderen werden im Spiel einige problematische Aspekte der Tierhaltung deutlich, was man am Zusatzpaket Marina Mania, bei dem die Haltung der Tiere auch auf Meerestiere ausgeweitet wird, gut veranschaulichen kann. In der Beschreibung des Spiels wird auf die enge Verflechtung mit dem und Unterstützung des WWF verwiesen: „Verantwortlich geführte Zoos können eine wichtige Rolle für einen Ausgleich der Bedürfnisse des Menschen und der Erhaltung von Tierarten und deren Lebensräume über-

38 Ebd. 39 Vgl. mediale Dimension. 40 Vgl. das Portfolio des Berliner Zoos.

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nehmen.“41 Das Spiel suggeriert zwar dadurch ein naturbewusstes und reflektiertes Bild der Tierhaltung, jedoch werden hier neue Erkenntnisse der Verhaltensbiologie zur artgerechten Haltung übersehen.42 Bei der Haltung der Tiere wird zwar auf deren natürlichen Lebensraum hingewiesen, der bei der Errichtung der passenden ‚Biome‘ berücksichtigt werden muss, gleichzeitig werden jedoch Orcas in kleinen Becken zum Erlernen von Show-Einlagen gezwungen. Diese Diskrepanz verdeutlicht, dass durchaus problematische implizite Bilder durch das Spiel transportiert und transformiert werden. Im Anschluss an die Analyse des Spiels vor dem Hintergrund dieser vier Dimensionen soll in einem Ausblick angedeutet werden, welche Momente kulturellen Lernens im Spiel vollzogen werden.

Stage 3: Rückblick und Ausblick In der vorliegenden Analyse wurde ein spieltheoretischer und kulturanthropologischer Zugang zu Spielen als Archivprozess und sozio-kulturellem Phänomen skizziert. Nach einer Verortung von zentralen Theorien zum menschlichen Spielen und der Exploration der angewandten Methode wurde am Exempel Zoo Tycoon 2 verdeutlicht, inwiefern Spiele/n in Form von ‚games‘, ‚gameplay‘ und ‚play‘ als kulturelle Praktiken zugänglich gemacht werden können. Hierbei konnte gezeigt werden, welche Spieleigenschaften Zoo Tycoon 2 aufweist, und durch eine Kategorisierung des ‚games‘ wurde ersichtlich, dass im Spiel Modellieren und Experimentieren im Vordergrund stehen. In einem weiteren Schritt wurden die Spielweisen, also das ‚gameplay‘, analysiert und die prägenden Einflüsse der Strukturen des Spiels auf dessen Vollzug entlarvt. Abschließend galt es das ‚play‘-Moment des Computerspiels als individuell-subjektive Spielhandlung anhand unterschiedlicher Archivprozesse zu interpretieren, wobei Beobachtungen, Forenanalysen und Interviews mit den Entwicklern herangezogen wurden. Diese Ergebnisse wurden aus einer kulturanthropologischen Perspektive in ihrer medialen, leiblichen, kulturellen und perspektivischen Dimension analysiert. Auf der Grundlage der Analyse von Spiel/en als kulturellen Archiven bzw. Archivprozessen, werden abschließend im Anschluss an Wulf43 erste fragmentarische Überlegungen zu Momenten kulturellen Lernens angestellt, die im Spiel angelegt sind und in den jeweiligen Spielweisen vollzogen werden. Unter kulturellem Lernen verstehen wir im Folgenden in Anlehnung an Wulf die Aneignung „praktischen Wissens“, d.h. von Bildern, Schemata, 41 Zoo Tycoon 2: Beiheft. Marina Mania, S. 3. 42 Vgl. u.a. Militzer: Wege zur Beurteilung tiergerechter Haltung bei Labor-, Zoo- und Haustieren. 43 Wulf: Anthropologie.

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Bewegungen etc., die den Einzelnen in seinem sozio-kulturellen Umfeld handlungsfähig machen.44 Kulturelles Lernen bezieht sich zum einen „auf den Umgang mit den materiellen Produkten der Kultur“ und zum anderen „auf die sozialen Verhältnisse und Handlungsformen, auf die Inszenierungen und Aufführungen des Sozialen“. Dieses Wissen wird im Rahmen von mimetischen Lernprozessen, d.h. sinnlichen und körperbezogenen Lernvollzügen, angeeignet, unterliegt in einem geringeren Maß als analytisches Wissen rationaler Kontrolle und stellt somit kein reflexives, bewusstes Wissen dar: Wie das Habitus-Wissen umfasst es [...] Handlungsformen, die für die szenische körperliche Ausführung sozialer Handlungen verwendet werden, ohne dass sie auf ihre Angemessenheit hin reflektiert werden. Sie werden einfach gewusst und für die Inszenierung der sozialen Praxis herangezogen.45

Werden digitale Spiele als Archive und das Spielen als Archivprozesse unserer Kultur gefasst, so lassen sich Momente kulturellen Lernens explorieren und werden spezifische pädagogische Implikationen deutlich. Denn in der mimetischen Handlung des Spielens werden Bilder, Bewegungen, Ideen und Ideologien gelernt, die für das Heranwachsen in der ludischen Kultur von Bedeutung sind.46 Kulturelles bzw. mimetisches Lernen liegt nach Wulf dem Begehren zugrunde, „kausale Beziehungen zwischen den Gegenständen der Welt begreifen und die kommunikativen Absichten anderer Menschen in Gesten, Symbolen und Konstruktionen zu verstehen“.47 Das Spiel Zoo Tycoon 2 stellt verschiedene Spielperspektiven zur Verfügung, die eingenommen werden können (Manager, Tierpfleger, Besucher). In diesen Rollen sind verschiedene Spielhandlungen (‚gameplay‘) strukturell angelegt. Die Einnahme einer bestimmten Perspektive bzw. die Ausgestaltung der Spielhandlung kann als ein Moment kulturellen Lernens identifiziert und untersucht werden. In einer bestimmten Rolle (Manager, Pfleger, Besucher), welche mit spezifischen Aufgaben und Verantwortungen verbunden ist, lernen die Spielenden in der Auseinandersetzung mit dem Spiel und anderen Spielenden, sich an der Inszenierung der Praktiken und Fertigkeiten einer sozialen Gruppe zu beteiligen und kommunikative Absichten, Gesten, Symbole etc. aus verschiedenen Perspektiven entsprechend zu deuten. Dieses kulturelle Lernen bezieht sich nicht auf Inhalte, sondern auf Handlungsformen, Schemata und Bewegungen.48

44 45 46 47 48

Vgl. ebd., S. 158 f. Ebd., S. 171. Vgl. ebd. Ebd., S. 157. Vgl. perspektivische Dimension.

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Auch die Ausgestaltung von medialen Praktiken des Spielvollzugs kann als ein Moment kulturellen Lernens begriffen werden. Spielen kann nicht unabhängig von medialen Praktiken, dem „situativen und atmosphärischen Kontext, dem Handlungs-, Erfahrungs- und Erlebnisgefüge“,49 in dem beispielsweise mit dem artifiziellen Medium Computer umgegangen wird, gedacht werden. Im Spielen experimentieren und erproben die Spielenden neue Gebrauchsweisen und Gestaltungsformen,50 die sich „nicht in der Bedienung von Apparaten erschöpft“.51 Zur Zeit wird in verschiedenen pädagogischen Feldern das ‚Game-based Learning‘ als Möglichkeit der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen entdeckt. In dieser Tradition wird das Spiel für pädagogische Zwecke instrumentalisiert und in pädagogischer Absicht genutzt. Der hier skizzierte Zugang ist als ein Versuch zu verstehen, einerseits das Computerspielen als ein kulturanthropologisches Phänomen zu fassen und zu analysieren und zum anderen das Verhältnis von Lernen und Spiel entgegen dem aktuellen dominanten Verständnis in der Pädagogik zu verstehen: nämlich Lernen als ein unhintergehbarer Bestandteil des Spielvollzugs.

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49 Matussek: Mediale Praktiken, S. 201. 50 Vgl. mediale Dimension. 51 Matussek: Mediale Praktiken, S. 201.

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Abbildungen (Fotos): Abbildung 1: http://www.armchairempire.com/images/previews/pc/zoo-tycoon-2/zootycoon-2-2.jpg [Stand: 01.02.2008]. Abbildung 2: http://www.cnwcentral.com/zoo-tycoon/screenshots/zt2.jpg [Stand: 01.02.2008]. Abbildung 3: http://www.cnwcentral.com/zoo-tycoon/screenshots/zt2.jpg [Stand: 01.02.2008]. Abbildung 4: http://www.dignews.com/admin/screenshoot/zoo_t_2_12.jpg [Stand: 01.02.2008].

Spielkonzepte im Literatur- und Sprachunterricht

Heinrich Kaulen

Spielmethoden ohne Spieltheorie? Zur Geschichte und aktuellen Konjunktur des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik Man kann klug und närrisch spielen. (Ernst Christian Trapp) Doch stets gilt, daß der Weg das Ziel ist, weil nach dem Spiel schon vor dem Spiel ist. (Robert Gernhardt)

Der Spielbegriff in der fachdidaktischen Diskussion In der Literatur- und Sprachdidaktik ist seit den 1980er Jahren, besonders im Umfeld des sogenannten handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterrichts, eine auffällige Renaissance spielerischer Konzepte und Methoden zu beobachten. Das Angebot an einschlägigen Verfahren und zugehörigen Publikationen ist selbst von Experten heute kaum mehr zu überblicken. Es reicht – um nur eine kleine Auswahl der Titel zu diesem Thema aus der fachdidaktischen Diskussion der letzten Jahrzehnte zu nennen – vom „Spielen mit Sprache“ und vom „Kreativen Schreiben“ über das „Darstellende Spiel“, das „Theaterspielen“, das „Rollenspiel“ und die „Szenische Interpretation“ bis zum „Spieltext“ und „Textspiel“,10 dem      

Trapp: Vom Unterricht überhaupt. In: Campe: Allgemeine Revision, T. 8, S. 127. Gernhardt: Später Spagat, S. 109. Vgl. allg. Kreuzer: Handbuch der Spielpädagogik. Steffens: Spielen mit Sprache; Piel: Sprache(n) lernen mit Methode. Brenner: Kreatives Schreiben; Schuster: Das personal-kreative Schreiben. Amtmann: Darstellendes Spiel; Krause: Darstellendes Spiel; Reiss/Susenburger/Wagner: Handreichungen zum Darstellenden Spiel; Barz: Darstellendes Spiel.  Beimdick: Theater und Schule; Lippert: Theaterspielen in der Schule; Schuster: Das Spiel und die dramatischen Formen; Lippert: Theaterspielen.  Eggert/Rutschky: Literarisches Rollenspiel; Kochan: Rollenspiel.  Stankewitz: Szenisches Spiel; Klein: Szenisches Spielen; Scheller: Wir machen unsere Inszenierungen selber; Schau: Szenisches Interpretieren; Scheller: Szenisches Spiel; Scheller: Szenische Interpretation. Vgl. auch Dauvillier/Lévy-Hillerich: Spiele im Deutschunterricht. 10 Kunz: Spieltext und Textspiel.

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Einsatz von Lernspielen und Planspielen und diversen anderen Konzepten eines ,spielerisch-kreativen‘ Umgangs mit Literatur. Der Begriff des ‚Spiels‘, der dabei zugrunde gelegt wird, bleibt aber trotz seiner geradezu inflationären Verwendung in vielen Fällen ausgesprochen unscharf und diffus. Nicht selten fehlt den einseitig methodisch ausgerichteten Konzepten sogar jegliche wissenschaftliche und theoretische Fundierung. Der Spielbegriff fungiert in diesen Fällen lediglich als modisches Schlagwort, das nach außen den Innovationsanspruch des gewählten Ansatzes markieren soll, bleibt aber selbst weitgehend unbestimmt und unreflektiert. Genau dies mag einer der Gründe für die bemerkenswerte Konjunktur des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik sein. Gerade seine Unschärfe und Offenheit lässt ihn als rhetorischen Integrationsbegriff für ganz heterogene Theoriekonzepte und Unterrichtspraktiken tauglich erscheinen. Auch die Tatsache, dass der Spielbegriff an der Schnittstelle der Diskurse unterschiedlicher Disziplinen – wie Philosophie, Anthropologie, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie oder Ästhetik – angesiedelt ist, trägt zu seiner großen Verbreitung bei, lässt sich doch damit der programmatische Anspruch auf eine Überschreitung enger Fächergrenzen und auf die Interdisziplinarität wissenschaftlicher Forschung verknüpfen. Als populäres Schlagwort kann der Terminus zudem auch darum fungieren, weil er mühelos an aktuelle Theoriekonstellationen wie Wittgensteins Philosophie des Sprachspiels, Bourdieus Analyse ästhetischer Distinktionsspiele oder die Rehabilitierung des Spielbegriffs bei Jean-François Lyotard, Jacques Derrida und anderen Leitfiguren der philosophischen Postmoderne anzuschließen ist.11 Die große Popularität von Spielpraktiken in der audiovisuellen Massenkultur der Gegenwart tut ein Übriges, um den Spielbegriff als innovativen und modischen Leitbegriff für die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Diskurse zu empfehlen. Wie unpräzise der Begriff in fachdidaktischen Kontexten häufig verwendet wird, zeigt der Umstand, dass dort nur selten ausführlicher auf die aktuellen Theorien und Kontroversen der kulturwissenschaftlichen Spielforschung Bezug genommen wird. Theoriebezogene Ansätze sind am ehesten noch dort anzutreffen, wo – wie etwa in der Theaterpädagogik und beim Darstellenden Spiel – ein Bewusstsein für die Verankerung des eigenen Konzepts in der Tradition, etwa des Schultheaters oder des Laienspiels, vorhanden ist. Doch das Interesse der Literaturdidaktik an systematischen und historischen Fragestellungen ist, von solchen Ausnahmen abgesehen, meist nur schwach ausgeprägt. Noch seltener kommt die prinzipielle Differenz zwischen der in den klassischen Spieltheorien vorausgesetzten Autonomie und Spontaneität des Spiels und den spezifischen Regularien des an11 Vgl. etwa Derrida: Die Struktur, S. 422-442.

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geleiteten Spiels in institutionalisierten Lernkontexten in ihren Blick. Unter den neueren Publikationen wird dieses Problem nur im Handbuch Praxis des Deutschunterrichts (2005) zumindest am Rande reflektiert. Dabei wird das Spielen im Deutschunterricht als ein „entdeckendes und soziales Lernen“ definiert, das als „didaktisch begleitetes/gefördertes Spielen“ einerseits von anderen Methoden des „zweckgebundenen“ Spielens, etwa von therapeutischen Spielpraktiken, andererseits vom Spielen als lebensweltlicher Alltagspraxis unterschieden werden muss.12 Welche besonderen Probleme mit dieser pädagogischen Instrumentalisierung des Spiels verbunden sind, wird allerdings auch in diesem Praxishandbuch nicht eingehender untersucht. Ebenso wenig wird nach den Konsequenzen gefragt, die daraus für die Begründung, die theoretische Konzeptionalisierung, die methodische Umsetzung und den Erfolg der schulischen Spielpraxis resultieren. Die Abstinenz der Literaturdidaktik in Blick auf spieltheoretische Forschungsansätze, systematische Grundsatzfragen und historische Perspektivierungen ist um so auffälliger, als zur selben Zeit in diversen Disziplinen der Kulturwissenschaften eine ebenso komplexe wie differenzierte Spieltheorie entwickelt worden ist, die aufgrund ihrer – in den Konzepten selbst meist nur ansatzweise entfalteten – pädagogischen Implikationen für die Literaturdidaktik eine ganze Reihe von fruchtbaren wissenschaftlichen Anschlussstellen bieten könnte. Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass die Literaturdidaktik hinter dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussionsstand zurückbleibt, wenn sie die Einsichten der Spielforschung weiterhin ignoriert oder nur in Ausnahmefällen selektiv zur Kenntnis nimmt. Ohne eine solche wissenschaftliche Fundierung müssen die Konzepte eines spielerischen Literaturunterrichts notwendig defizitär bleiben; im schlimmsten Fall werden sie bloße Anleitungen zu Spielmethoden ohne einen theoretisch entfalteten Spielbegriff. Notwendig wäre jedoch eine Systematisierung und entschiedene Historisierung der (fach-)didaktischen Spielkonzepte und -verfahren, also eine konzeptionelle Fundierung, die auf der Einsicht beruht, dass diese Verfahren keineswegs so neuartig sind, wie von ihren Verfechtern oft behauptet wird, sondern in nicht wenigen Fällen eine lange Vorgeschichte haben, die im Blick auf die in ihr implizit enthaltenen Problemstellungen und Lösungsansätze erst noch auszuloten und auf diese Weise für die aktuelle didaktische Diskussion fruchtbar zu machen wäre. Dazu möchten die hier vorgelegten Überlegungen einen ersten Beitrag leisten. Zunächst soll in einer historischen Problemskizze die – systematisch bislang nicht erforschte – Geschichte des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart entwickelt 12 Abraham [u.a.]: Praxis des Deutschunterrichts, S. 87 f.

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werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den entscheidenden Zäsuren im achtzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Im Anschluss daran sollen thesenhaft die Konsequenzen für die gegenwärtige Debatte über den Einsatz von Spielverfahren im Deutschunterricht diskutiert werden. Das Ziel ist dabei weder ein Ausgrenzungs- noch ein Legitimationsdiskurs für eine literaturdidaktische Spielpraxis, sondern deren kritische Reflexion im Licht der zuvor historisch erarbeiteten Problemstellungen.

Zur Geschichte des Spielbegriffs im Deutschunterricht: Die pädagogische Spielpraxis in der Tradition der Rhetorik, bei John Locke und den Philanthropisten Die Geschichte des Spielbegriffs im Deutschunterricht ist über weite Strecken die Geschichte einer Verdrängung. Dabei wird der pragmatischfunktionale Begriff des Spiels, wie er im achtzehnten Jahrhundert noch im Umkreis der rhetorischen Tradition und der Philanthropen anzutreffen ist, nach 1800 unter dem Einfluss des Neuhumanismus zunehmend auf den Begriff eines sublimierten „ästhetischen Spiels“ im Sinne von Moritz, Kant, Schiller, Hegel und Humboldt reduziert und damit um didaktisch relevante Dimensionen verkürzt. Nur in dieser restringierten Bedeutung wird der Spielbegriff seit dem neunzehnten Jahrhundert zunächst in der Gymnasialpädagogik und in der sich allmählich entfaltenden Literaturdidaktik adaptiert. Auch die Reformpädagogik nach 1900 hat diese nachhaltige Reduktion und Diskreditierung des pragmatischen Spielbegriffs aus dem Kontext der Aufklärungspädagogik trotz aller theoretischen Anstrengungen in der Unterrichtspraxis nur partiell zu revidieren vermocht. Erst die Rezeption der Reformpädagogik nach 1945 sowie die Debatten der letzten Jahrzehnte um den handlungsorientierten Literaturunterricht haben, wie oben gezeigt, zu einer in ihrem Ausmaß erstaunlichen Renaissance des Spielbegriffs geführt, ohne dass es jedoch zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dessen Vorgeschichte und zu einer auch nur annähernd vergleichbaren Rezeption der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung gekommen wäre. Das spielende Lernen außerhalb und innerhalb des Unterrichtssystems hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Dabei ist keineswegs nur an die Entwicklung des protestantischen und jesuitischen Schultheaters seit der Frühen Neuzeit zu denken, sondern generell an die Wertschätzung von Sprachund Schreibspielen in der rhetorischen Erziehung seit der Antike, die das europäische Bildungswesen bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachhaltig geprägt hat. Schon in der antiken Rhetorik gehört zur Praxis des verständigen Lesens und Schreibens ganz selbstverständlich auch der spielerisch-kreative Umgang mit Texten, sei es in Gestalt eigener Produktionen oder in der Umformung und Transformation vorgegebener Muster.

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Quintilian empfiehlt im ersten Jahrhundert nach Christus in der Institutio oratoria etwa das Umsetzen einer Vorlage in eine andere Gattung oder einen anderen Sprachstil und rät ausdrücklich dazu, sich ‚spielerisch‘ an Dichtungen zu versuchen („carmine ludere“).13 In Gestalt der Teutschen Oratorie wird dieses Konzept seit dem achtzehnten Jahrhundert von Gottsched und anderen für die Behandlung deutschsprachiger Texte fruchtbar gemacht. Gottscheds Vorübungen der Beredsamkeit (1754), die neben der freien Nacherzählung und der Variation des Gattungs- oder Versschemas ebenfalls freie Eigenproduktionen der Schüler kennen, sind im Kern nichts anderes als eine Adaption dieser Regeln der lateinischen Rhetorik für den Gebrauch an Schulen und Hochschulen im deutschsprachigen Raum. Der eigentliche Impuls für eine Aufwertung des Spielbegriffs geht in der Zeit der Aufklärung jedoch von Rousseau und Locke und der durch sie inspirierten philanthropistischen Erziehungsreform aus. Während Rousseau im Émile (1762) den unersetzlichen Eigenwert des kindlichen Spiels für die Bildung des Individuums wie für die Entwicklung der Zivilisation betont und damit dessen kulturelle Nobilitierung einleitet, entwirft John Locke bereits ein halbes Jahrhundert früher in seiner Abhandlung Some thoughts concerning education (1693) ein systematisches Erziehungskonzept, das auf dem durchgängigen Gebrauch der Spielmethode beruht. Als Leitidee fungiert dabei die Entwicklung eines sowohl altersadäquaten als auch „natürlichen“ Erziehungsverfahrens, das nach Möglichkeit ohne Zwang und negative Sanktionen auskommen soll und stattdessen ganz auf die Motivation und Eigenaktivität der Lernenden setzt. Deren natürlichste Erziehung aber liegt für Locke im kindlichen Spiel. Diesem ist deshalb der größtmögliche Freiraum zu verschaffen, sofern sich das mit dem „schuldigen Respekt“ vor den anderen verträgt.14 Die Kinder sollen ein intrinsisches „Verlangen nach dem Unterricht“ entwickeln können, sobald dieser für sie affektiv mit Gefühlen des „Vergnügens und der Erholung“ verknüpft ist. Dann wird das Lernen für die Lernenden am Ende selbst „zu Spiel und Erholung.“15 Locke geht sogar so weit, konkrete methodische Vorschläge zur Umsetzung eines spielerischen Lernunterrichts zu entwickeln. Wenn man wolle, dass die Heranwachsenden das Lernen selbst „als eine Art Spiel und Erholung“ ansehen können, dann darf es [...] ihnen nie als Aufgabe aufgezwungen oder zur Last gemacht werden. Man kann Würfel und Spielsachen mit Buchstaben darauf nehmen, um Kindern das Alphabet im Spiel beizubringen; und zwanzig andere Wege lassen sich finden, die ihrer besonderen Anlage gemäß sind, um diese Art des Lernens zum Zeitvertreib werden zu lassen. So kann man Kindern durch List die Kenntnis der 13 Quintilianus: Institutionis oratoriae, X, 5, 15. 14 Locke: Gedanken über Erziehung, S. 57. Vgl. dazu Weller: Die kindlichen Spiele. 15 Ebd., S. 187.

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Buchstaben vermitteln; sie lernen lesen, ohne gewahr zu werden, daß es etwas anderes als Zeitvertreib ist, und spielen sich in etwas hinein, für das andere geprügelt werden. Kindern sollte nichts als Arbeit oder als ernste Sache auferlegt werden; weder ihr Geist noch ihr Körper kann das vertragen.16

Bei Locke finden sich auch schon weitreichende Reflexionen zur Differenz zwischen dem freien und dem schulischen Spiel sowie zum Spannungsverhältnis von offenem Zwang bei der traditionellen Instruktionsmethode und impliziter Lenkung durch den Lehrer beim Einsatz der zwangloseren Spielpraktiken. Die deutschen Philanthropisten – allen voran Basedow, GutsMuths, Villaume und Trapp – ziehen aus Lockes Einsichten in der Mitte des Jahrhunderts die fälligen Konsequenzen, indem sie als erste das Spiel mit der größten Entschiedenheit zum didaktischen Instrument umfunktionieren: Basedow etwa glaubte an die Möglichkeit, fast alle Spiele der Kinder „lehrreich einzurichten“. So sollte den Schülern etwa Latein durch Versteck und Ratespiele beigebracht werden. Gutsmuths wiederum empfiehlt Kegel- und Zählspiele für den Rechenunterricht und „Blindekuh“ fürs Pflanzenerkennen.17

Die Schulen sollen, so lautet eine frühe Forderung Basedows, grundsätzlich in „lehrreiche Spielorte“ verwandelt werden, indem den spielerischen Elementen nach den Prinzipien von Locke in allen Bereichen der Erziehung konsequent Geltung verschafft wird. „Die Absicht war, nicht nur spielerisch zu lernen, sondern auch durch die Abwechslung den ganzen Unterricht als eine Art Spiel zu bestimmen.“18 GutsMuths tritt als Erzieher am Philan­ thropin in Schnepfenthal und in zahlreichen Büchern, besonders in seinem Standardwerk Spiele zur Erholung und Übung des Körpers und Geistes (1796), das die Spielpraxis der Philanthropen zu systematisieren und theoretisch zu legitimieren versucht, nicht nur für ein erstaunlich modern klingendes Konzept der Körper- und Bewegungserziehung ein und wird damit noch vor dem weitaus bekannteren ,Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn zu einem bedeutenden Pionier der Sportpädagogik. Er empfiehlt darüber hinaus auch „Spiele der Phantasie und des Witzes“, „der Aufmerksamkeit“, „des Gedächtnisses“, „des Geschmacks“ und „des Verstandes“, die der Übung historischer, geographischer, sprachlicher, mathematischer oder physikalischer Kenntnisse dienen sollen. Auch eine „orthographische Lehrstunde“ in spielerischer Form, „Nachsprechspiele“, pantomimische Inszenierungen sowie Erzählspiele („Das Geschichtemachen“) sind im pädagogischen Spielkonzept von GutsMuths bereits vorgesehen. Die Pflege spielerischer Freizeitbetätigungen ebenso wie die Betonung der körperlich-handwerklichen Arbeit sowie der Einsatz von Lern- und Unterrichtsspielen jeglicher 16 Ebd., S. 188. 17 Parmentier: Spiel, S. 932. 18 Lempa: Bildung der Triebe, S. 111.

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Art gehören nicht nur in Schnepfenthal zum Kernbestand des philanthropistischen Erziehungsprogramms. Villaume präsentiert in Campes Allgemeiner Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens 1787 ein ähnlich breit gefächertes Spektrum der gebräuchlichen Spielpraktiken, speziell im Bereich der „körperlichen Spiele“, wie GutsMuths.19 Ernst Christian Trapp liefert im selben Band die dazu gehörende theoretische Begründung, wenn er in der fälschlich verachteten „Spielmethode“ das geeignetste Instrumentarium erblickt, um das Lernen für die Schüler angenehm und vergnüglich zu machen.20 Auch an dem von Basedow 1774 gegründeten Dessauer Philan‑ thropin gilt das Spielen in sämtlichen Erscheinungsformen als wichtigstes Erziehungsmittel.21 Zudem kommt es im Zusammenhang der philanthropischen Erziehungsreformen zu einer Wiederbelebung des Schultheaters.22 Bei dem Versuch, alle von den Philanthropen in ihren Erziehungsanstalten praktizierten Spiele zu verzeichnen, werden im Jahr 1778 nicht weniger als 42 verschiedene Spiele gezählt.23

Die Umcodierung des Begriffspaars ,Spiel und Arbeit‘ um 1800 (Kant, Schiller, Hegel) und die Aufwertung des „ästhetischen Spiels“ Dass eine derart extensive Anwendung der von Locke propagierten Spielmethode, selbst in Fächern wie Mathematik oder beim Fremdspracherwerb im Lateinunterricht, bei vielen Beobachtern des zeitgenössischen Unterrichtswesens auf vehemente Kritik stoßen muss, liegt auf der Hand. Der satirische Roman Spitzbart (1779) von Johann Gottlieb Schummel, der mit seinen Kinderspielen und Gesprächen einige Jahre zuvor selbst einen wichtigen Beitrag zur Spielpädagogik seiner Zeit geleistet hat, ist nur eines der zahlreichen Indizien für die aufkommende öffentliche Debatte. Der Niedergang der philanthropischen Erziehungsbewegung setzt allerdings erst ein, als es nach 1789 im Gefolge der Französischen Revolution zu verstärkten Attacken von Seiten der kirchlichen Orthodoxie und konservativer Kreise auf die Bildungsreformer der Aufklärung kommt.24 Noch stärker wirkt sich 19 Campe: Allgemeine Revision. T. 8, S. 355-407. 20 Ebd., S. 92-141. 21 Stach: Theorie und Praxis der philanthropistischen Schule, S. 13-16; Overhoff: Frühgeschichte des Philanthropismus, S. 82 f. 22 Overhoff, S. 200 f. 23 Lempa: Bildung der Triebe, S. 121. Zur Bedeutung des Spielbegriffs im Unterrichtssystem der Philanthropen vgl. ferner Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus; Rammelt: J. B. Basedow, der Philanthropismus und das Dessauer Philanthropin; Hauck: Das Spiel in der Erziehung des 18. Jahrhunderts; Ulbricht: Das Spiel in der Pädagogik der Philanthropisten; George: Der Begriff des kindlichen Spiels als pädagogisch-psychologische Kategorie des Philanthropinismus. 24 Ebd., S. 217, S. 242.

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die semantische Umcodierung des Begriffspaars ‚Spiel und Arbeit‘ aus, die zur selben Zeit im Kontext des philosophischen Idealismus und des Neuhumanismus vorgenommen wird. Kant greift in seiner Pädagogik (1803) den Eudämonismus und (vermeintlichen) Utilitarismus des pädagogischen Konzepts von John Locke heftig an und dekretiert apodiktisch: „Die scholastische Bildung soll für das Kind Arbeit, die freie soll Spiel sein.“25 Mit der klaren Dichotomie von Alltagssphäre und Schulwelt, Spiel und Arbeit, Freiheit und Zwang wird der seit Aristoteles übliche Dualismus der beiden Bereiche wiederhergestellt und die Begriffshierarchie der Philanthropisten, die das Spiel konzeptionell über die Arbeit gestellt haben und auf eine Synthese von schulischem Lernen und zwanglosem Vergnügen zielten, geradezu auf den Kopf gestellt. Dem Spiel wird allenfalls noch als Erholung von der Arbeit vor und außerhalb der Schule, jedoch nicht mehr als Medium der „scholastischen“ Erziehung Bedeutung zuerkannt. Es sei „ein Wahn“, dass man aus den Knaben [...] alles spielweise zu machen sucht. Das tut eine ganz verkehrte Würkung. Das Kind soll spielen, es soll Erholungsstunden haben, aber es muß auch arbeiten lernen. [...] Und wo anders soll die Neigung zur Arbeit kultiviert werden, als in der Schule? Die Schule ist eine zwangsmäßige Kultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu gewöhnt, alles als Spiel zu betrachten.26

Noch weiter geht einige Jahre später Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), wenn er die „spielende Pädagogik“ – hier ist offensichtlich die reformerische Pädagogik der Aufklärung gemeint – mit dem polemischen Vorwurf in Misskredit bringt, sie leiste ungewollt nur der Infantilisierung von Kindern und Erwachsenen sowie der Preisgabe aller substantiellen Bildungsinhalte Vorschub: Die spielende Pädagogik nimmt das Kindische schon selbst als etwas, das an sich gelte, gibt es den Kindern so und setzt ihnen das Ernsthafte und sich selbst in kindische, von den Kindern selbst gering geachtete Form herab. Indem sie so dieselben in der Unfertigkeit, in der sie sich fühlen, vielmehr als fertig vorzustellen und darin befriedigt zu machen bestrebt ist, stört und verunreinigt sie deren wahres eigenes besseres Bedürfnis und bewirkt teils die Interesselosigkeit und Stumpfheit für die substantiellen Interessen der geistigen Welt, teils die Verachtung der Menschen [...].27

Allerdings ist die Abwertung des Spiels in schulischen Handlungskontexten, die der deutsche Idealismus um 1800 postuliert, nur die Kehrseite der mit ihr korrespondierenden Nobilitierung des Spielbegriffs im Bereich der Ästhetik. In der Kritik der Urteilskraft (1790) begründet Kant ein grundlegend neues Konzept von Kunst als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, das mit dem in der rhetorischen Tradition verankerten Verständnis der Kunst 25 Kant: Über Pädagogik, S. 729. 26 Ebd., S. 729-731. 27 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 175, S. 328.

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als Produkt handwerklicher Technik, deren Regeln von jedem erlernt und spielerisch gehandhabt werden können, nicht mehr kompatibel ist. In der Autonomieästhetik sind alle äußeren Zwecksetzungen und pragmatischen Interessen aus dem Bereich des Schönen ausgeschlossen. Die Rezeption des Kunstwerks vollzieht sich nicht mehr durch Nachahmung und eigenes Tun, sondern im Modus interesseloser Distanz als ein freies „Spiel der Vorstellungskräfte“, das seinen Zweck vollständig in sich selber trägt. Jeder operative Eingriff des distanzierten Betrachters ins Kunstwerk wäre ein Bruch mit den Spielregeln der Kunstautonomie, denn er müsste dessen Ganzheit und den Genuss, der in der rein kontemplativen Anschauung des Schönen um seiner selbst willen liegt, unwiederbringlich zerstören. Friedrich Schiller ist Kant, den Impuls seines Vorläufers aufgreifend und weiterführend, darin gefolgt. Auch bei Schiller entspricht die Überhöhung des Spielbegriffs zur Quelle aller Kunst und Kultur in den Briefen Über die ästhetische Erziehung (1795) die strikte Distanzierung von einem pragmatischen, pädagogisch operationalisierbaren Spielkonzept, wie es der spielerischen Erziehungspraxis der Philanthropen von Basedow bis GutsMuths und Trapp zugrunde liegt. Schiller gründet den Begriff des Spiels auf eine philosophische Anthropologie und situiert ihn innerhalb einer Theorie des Schönen. Dabei separiert er seine transzendentalphilosophische Ableitung des Spielbegriffs scharf von einer empirischen Untersuchung vergangener oder zeitgenössischer Spielpraktiken im weiteren Sinn, auch wenn diese in den kulturhistorischen Passagen seiner Schrift zumindest am Rande erwähnt werden.28 Der Spieltrieb, wie ihn Schiller definiert, ist als ein transzendentales Vermögen des Subjekts gedacht, nicht als eine empirische, physische oder soziale Fähigkeit. Gerade darin liegen die bahnbrechende Errungenschaft und die Innovationsleistung seiner Abhandlung. Schiller kann daher in der Eingrenzung des Spiels auf das Reich des Schönen auch keine „Einschränkung“ des „Erfahrungsbegriffs“ des Spiels, sondern umgekehrt nur eine systematische und transzendentalphilosophische „Erweiterung“ sehen.29 Eine allgemeine Theorie des Spiels als Element der sozialen und pädagogischen Praxis, erst recht die Funktionalisierung des Spielens zu unmittelbar erzieherischen Zwecken liegt gänzlich außerhalb dieser Perspektiven und ist von dieser Position aus theoretisch nicht mehr zu begründen. Jeder pädagogische Gebrauch des Spiels jenseits der Selbstbildung in Gestalt einer freien ästhetischen Erziehung muss im Gegenteil 28 Schiller geht in diesem Kontext im 15. Brief unter anderem auf die römischen Gladiatorenkämpfe, den Stierkampf, die Gondelrennen in Venedig und die beliebte Tierhatz ein – lauter Spielpraktiken, die im Vergleich zum ‚ästhetischen Spiel‘ vor seinen Augen keine Gnade finden können. Nur die antiken Wettkämpfe in Olympia lässt er gelten, weil sich auch in ihnen bereits jene schöne Individualität manifestiere, die im klassischen Kunstwerk zu ihrem vollendeten Ausdruck finde (Schiller: Über die ästhetische Erziehung, S. 616-618). 29 Ebd., S. 617.

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geradezu als Verrat der Autonomie des Schönen an niedere heteronome Zwecke und kunstfeindliche utilitaristische Intentionen erscheinen. Im Kontext der Debatte mit Goethe Über den Dilettantismus thematisiert Schiller 1799 die Grenzen, die aus dieser Sicht jeglicher Kunstproduktion von Liebhabern und Laien gesetzt sind. Wie bei Kant und Hegel münden solche Versuche, ob es sich um die Schreibpraxis von Amateuren oder um das Laientheater handelt, auch für ihn zwingend in einen schädlichen Dilettantismus, weil sie mit der Professionalisierung der Handlungsrollen (Autor, Darsteller, Kritiker, Leser) im Literatursystem, die sich seit dem achtzehnten Jahrhundert immer deutlicher abzeichnet, nicht zu vereinbaren sind und damit gegen die Gesetze des Schönen selbst verstoßen. Nur „wo das Subjektive für sich allein schon viel bedeutet“ – etwa beim Tanz oder in der lyrischen Poesie – seien die Grenzen nicht ganz so streng zu ziehen. Ansonsten aber gilt, dass der Dilettant seine subjektive Empfindung bei der Rezeption eines Kunstwerks mit dem objektiven Grund zur Hervorbringung von ästhetischen Gebilden verwechselt und unmittelbar aus dem „Empfindungszustand, in den er versetzt ist“, selbst etwas „hervorbringen“ will, „wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedächte.“30 Damit sind der Kunstproduktion von Laien außerhalb wie innerhalb von pädagogischen Handlungszusammenhängen enge Grenzen gezogen: Dilettantism überhaupt schwächt die Teilnehmung und Empfänglichkeit für das Gute außer ihm, und indem er einem unruhigen Produktionstriebe nachgibt, der ihn zu nichts Vollkommenem führt, beraubt er sich aller Bildung, die ihm durch Aufnahme des fremden Guten zuwachsen könnte. [...] Alle Dilettanten sind Plagiarii. Sie entnerven und vernichten jedes original Schöne in der Sprache und im Gedanken, indem sie es nachsprechen, nachäffen und ihre Leerheit damit ausflicken. [...] Kurz alles wahrhaft Schöne und Gute der echten Poesie wird durch den überhandnehmenden Dilettantism profaniert, herumgeschleppt und entwürdigt.31

Auch diese Überlegungen stehen wiederum im Rahmen von Überlegungen zur ästhetischen Theorie, hier einer Theorie des ästhetischen Schaffensprozesses, und sind, abgesehen von polemischen Randbemerkungen gegen den „unmittelbare[n] Übergang aus der Klasse und Universität zur Schriftstellerei“ und gegen die „durch eine modernere Studierart“ fälschlich geförderte „Belletristerei“ an der Universität,32 nicht direkt auf das pädagogische Handlungssystem um 1800 gemünzt. Die Aufgabe, aus seinem Konzept des ästhetischen Spiels die fälligen pädagogischen Konsequenzen zu ziehen, überlässt Schiller den Neuhumanisten wie beispielsweise dem Theologen und bayerischen Zentralschulrat Friedrich Immanuel Niethammer, 30 Schiller: Über den Dilettantismus, S. 1047. 31 Ebd., S. 1052. 32 Ebd., S. 1053.

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der in seinen einflussreichen Streitschriften am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Verbildung der Schüler durch die damals immer noch wirkungsmächtigen philanthropistischen Erziehungstheorien und Lehrpläne zu Felde zieht. Niethammer entwirft als Gegenkonzept das Modell eines Gymnasialunterrichts, der das Lernen auf der Linie von Kant bis Hegel „durchaus als ernstes Geschäft“, also nicht als „Lust“ oder Vergnügen, betrachten will und folgerichtig alle spielerischen Verfahren in den Hintergrund treten lässt.33 Ins Zentrum rücken stattdessen der hermeneutische Umgang mit den Zeugnissen des Hochkulturkanons von der Antike bis zur Gegenwart sowie die methodische Praxis des vom Lehrer gelenkten Unterrichtsgesprächs. Durch Literaturdidaktiker wie Robert Heinrich Hiecke wird diese hermeneutische Praxis mitsamt den dazu gehörigen textanalytischen Aufsatzformen einige Jahrzehnte später dann zur programmatischen Grundlage des Literaturunterrichts, zumindest an den weiterführenden Schulen, erhoben.34 Weil das Spiel im Kontext des Neuhumanismus nur noch als sublimiertes „ästhetisches Spiel“, das an den Umgang mit großen und vorbildlichen Werken geknüpft ist, ein legitimes und konstitutives Element institutionalisierter Bildungsprozesse darstellen kann, erscheinen die Philanthropisten seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehr und mehr als „biedere Aufklärer, die ihre Aufgabe nicht in der Förderung des Schönen und Wahren, sondern in der praktischen Lebensverbesserung sahen.“35 Repräsentativ dafür ist, neben dem oben zitierten Verdikt Hegels und den einschlägigen Äußerungen Niethammers, das Portrait, das Wilhelm von Humboldt im Herbst 1789 in seinem Tagebuch von Joachim Heinrich Campe als einem zwar liebenswerten, aber nur auf das Nützliche und Utilitaristische beschränkten Kopf entwirft.36 Noch weiter geht drei Jahre zuvor Karl Philipp Moritz, wenn er in seinem Roman Andreas Hartknopf (1786) in Gestalt des Weltreformators Hagebuck ein polemisches Portrait von Basedow skizziert und dabei gezielt, wie schon zuvor Schummel im Spitzbart, auch die schulische Spielpraxis der Philanthropisten aufs Korn nimmt. In satirischer Zuspitzung karikiert er dabei nicht nur die bei den Vertretern dieser Richtung so beliebten „Spaziergänge, Wettrennen, gymnastische[n] Übungen“, son33 Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus, S. 81 f. Zum Primat des Arbeitsbegriffs vgl. ebd., S. 239-249. 34 Hiecke: Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien. 35 Lempa: Bildung der Triebe, S. 237. 36 Ebd., S. 235. Dass keineswegs alle Intellektuellen in diese Polemik einstimmten, zeigen die anerkennenden Worte, mit denen Jean Paul im Vorwort zu seiner Levana die untergründigen Affinitäten zwischen seinem Erziehungskonzept und dem des Campeschen Revisionswerks bekennt, dessen Lektüre jedem Erzieher nur zu empfehlen sei und „dem kein Volk etwas Ähnliches entgegenzustellen“ habe (Jean Paul: Levana, S. 530). Zur historischen Bedeutung von Campes Pädagogik vgl. auch Kersting: Die Genese der Pädagogik.

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dern in einer besonders komischen Episode etwa auch eine „dramatische Uebung“ zu Klopstocks Messias, die wir bei nüchterner Betrachtung heute als literarisches Rollenspiel oder als szenische Textinterpretation charakterisieren würden.37 Noch wichtiger für das öffentliche Bild von Basedow ist später dann die sehr kritische Charakterskizze geworden, die Goethe in Dichtung und Wahrheit von ihm entwirft.38 In der Summe der einschlägigen Charakterisierungen und Polemiken entsteht, bei aller legitimen Kritik an den Einseitigkeiten der zeitgenössischen Spielpädagogik, ein Zerrbild der philanthropistischen Erziehungsreformen, das sich bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein als außerordentlich wirkungsmächtig erwiesen hat. Selbst die grundlegende Neuorientierung der Pädagogik in der Reformpädagogik um 1900 und in der Zeit nach 1968 hat daran kaum etwas zu ändern vermocht, weil der dezidierte Rationalismus der Aufklärer, ihr bürgerlicher Pragmatismus und ihr zum Teil sehr restriktives Konzept der Körper- und Sexualerziehung einer positiven Neubewertung ihrer Reformen und theoretischen Impulse im Wege standen.39 In kritischer Distanz zu dieser auffälligen Nicht-Rezeption für eine differenzierte und sachgemäße Auseinandersetzung mit dem Erbe der Aufklärungspädagogik zu plädieren, kann nicht heißen, den polemischen „Streit des Philanthropinismus und Humanismus“, um die treffende Formulierung von Niethammer zu benutzen, noch einmal, und womöglich mit vertauschten Fronten, neu auszufechten. Das Konzept des Neuhumanismus hat sich an den Gymnasien im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts auf breiter Front durchgesetzt, weil es offensichtlich das modernere, theoretisch stringentere und in dieser Zeit erfolgreichere gewesen ist. Insofern ist die Wirkungslosigkeit der philanthropistischen Spielpädagogik nach 1800 nicht nur der Polemik finsterer Aufklärungsgegner, sondern auch den konzeptionellen Schwächen dieses älteren Konzepts zuzuschreiben. Insbesondere haben es die Philanthropisten, abgesehen von ihren wichtigen und auch in der Folgezeit stark beachteten Beiträgen zur Bewegungserziehung, nicht vermocht, eine kohärente und systematische Spieltheorie für die wichtigsten Unterrichtsdisziplinen zu entwickeln und für diese Bereiche ein programmatisches Hauptwerk vorzulegen, das in der Theoriegeschichte eine markante Rolle spielen und die erforderliche Grundlegung für die von ihnen praktizierte Spielpraxis liefern würde. Der Stringenz und intellektuellen Brillanz der philosophischen Theorien auf dem Gebiet der Anthropologie und Ästhetik, die wir bei Denkern vom Rang eines Moritz, Kant 37 Moritz: Andreas Hartknopf, S. 26 f., 43-46 [Paginierung des Originals]. 38 Goethe: Dichtung und Wahrheit. III, 14, S. 24-30. 39 Zur kritischen Distanz der emanzipatorischen Pädagogik der 1970er Jahre zu den Erziehungsexperimenten des Philanthropismus vgl. Elschenbroich: Kinder werden nicht geboren, S. 157-200, sowie die affirmative Rezeption, die Niethammer – als Kontrahent der Philan‑ thropisten – bei Euler und anderen gefunden hat.

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oder Schiller vorfinden, haben die Philanthropisten nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Generell spielt die ästhetisch-literarische Bildung, die in der Kultur um 1800 in den Rang einer profanen Kunstreligion erhoben wird, in den konzeptionellen Überlegungen der Aufklärer, die auch in dieser Hinsicht den Gedanken Rousseaus und Lockes verpflichtet bleiben, nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Für das etablierte Erziehungssystem der Zeit, insbesondere für die Lateinschulen, sind diese Konzepte daher de facto nicht anschlussfähig. Noch viel weniger können sie es für das neu aufkommende Erziehungsideal des Neuhumanismus sein, der in der sprachlich-literarischen Bildung den Kern und das Fundament des gesamten weiterführenden Unterrichtswesens erblickt. Das an die Ästhetik des Idealismus anknüpfende Konzept der Neuhumanisten ist auch insofern das fortgeschrittenere, als es, im Unterschied zu dem in der rhetorischen Tradition verankerten Kunstverständnis der Philanthropisten, mit den neuen Entwicklungen kompatibel ist, die sich im Bereich des Ästhetischen selbst mit der Ausdifferenzierung eines autonomen Literatursystems, seiner Abspaltung von pragmatisch-lebensweltlichen Handlungsfeldern, der Professionalisierung der Handlungsrollen von Autor, Vermittler und Darsteller und der darauf basierenden Proklamierung der Kunstautonomie vollziehen. Und schließlich ist es nur auf der Basis dieser avancierten Ästhetik möglich, einen neuen Rezeptionsmodus der ernsthaften analytischen Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen zu entwerfen, der auf der elaborierten exegetischen Arbeit am Text beruht und damit methodische Standards definiert, die dem sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts allmählich etablierenden Literaturunterricht als Richtschnur und solides Fundament dienen können. Mit dem Erfolg dieses Konzepts an den Gymnasien gehen freilich dann auch für längere Zeit die produktiven Impulse verloren, welche die Spielpädagogik der Aufklärung für eine Erweiterung des Methodeninventars des Deutschunterrichts hätte bieten können.

Spielkonzepte im Deutschunterricht des neunzehnten Jahrhunderts und in der Reformpädagogik Mit der Etablierung des Neuhumanismus als neuem pädagogischen Leitkonzept ist es diesem, wie gezeigt, gelungen, das mit ihm um 1800 konkurrierende Theorieangebot der Philanthropisten nachhaltig zu diskreditieren und zu marginalisieren. In der Gymnasialpädagogik und Literaturdidaktik wird der Spielbegriff im gesamten neunzehnten Jahrhundert fast ausschließlich nur in der verkürzten Bedeutung des „ästhetischen Spiels“ adaptiert. Dem schöpferischen und kontemplativen Nachvollzug des autonomen Kunstwerks scheinen daher nun, neben der dominanten Texthermeneutik in Gestalt des Interpretationsgesprächs oder werkbezogener Aufsatz-

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formen, an den weiterführenden Schulen allenfalls noch Praktiken wie das Deklamieren und Rezitieren des dichterischen Wortes angemessen. Alle darüber hinausweisenden Ansätze der Spielpädagogik werden, vermittelt durch das Spielkonzept Friedrich Fröbels, in andere Bereiche des Bildungswesens, insbesondere in die Vorschulerziehung und die sich neu formierende ,Kindergarten‘-Erziehung, abgedrängt, in denen vorwiegend jene Textgattungen (wie Volkslied, Kinderlied, Märchen u.a.) tradiert werden, die noch der Ära der vorautonomen Kunstproduktion entspringen.40 Erst mit der Reformpädagogik um 1900 ist, trotz der stärkeren Orientierung am Erlebnis und Gefühl der Lernenden und der schroffen Ablehnung des aufklärerischen Rationalismus, in manchen Aspekten eine Reaktualisierung und Weiterführung des Spielbegriffs der Aufklärungspädagogik verbunden.41 Allerdings verläuft diese Rezeption keineswegs geradlinig; auch die Reformpädagogen verfügen nicht über einen einheitlichen, präzise definierten Spielbegriff. Während in der Arbeitsschule Georg Kerschensteiners und Lotte Müllers der Leitbegriff der zweckbezogenen „geistigen Arbeit“ auf den Spuren Kants geradezu als Kontrastmodell zum ungebundenen „Spielen“ fungiert,42 wird bei anderen Vertretern der Reformpädagogik, etwa bei Otto Karstädt, ein breites Spektrum spielerischer Verfahren in die Methodik des Deutschunterrichts, speziell an der Volksschule, integriert. Vor allem dort, wo – wie in der Kunsterziehungsbewegung und der sogenannten Erlebnispädagogik – antiintellektualistische Tendenzen vorherrschen, wird die kreativ-gestalterische und ästhetische Dimension des Spiels stark betont. Berthold Otto akzentuiert hingegen stärker das Erkenntnismoment des spielerischen Lernens und die damit verknüpfte Hoffnung auf eine Entdifferenzierung von Schule und Alltagswelt. Gelegentlich ist die ambivalente Haltung zum Spiel auch innerhalb eines einzelnen pädagogischen Konzepts zu beobachten: Maria Montessori etwa steht dem spontanen Spielen der Kinder als „circulus vitiosus der Nichtigkeiten“ einerseits ablehnend gegenüber,43 andererseits propagiert gerade sie zur Schulung der Sinne und der Motorik das durch fürsorgliche Betreuer gelenkte Spiel mit den dafür von ihr eigens erfundenen Spielmaterialien. Innerhalb des institutionalisierten Schulwesens haben sich all diese Reformbewegungen nur zögernd und vereinzelt durchgesetzt. Erst im Horizont einer ästhetischen Moderne, welche die Handlungsrollen im literarischen Feld reformuliert, das Verhältnis zwischen der Institution Kunst und der Alltagspraxis neu justiert und in vielen Avantgardeströmungen auf 40 Vgl. Fröbel: Theorie des Spiels, sowie Hoof: Handbuch der Spieltheorie Fröbels, und Heiland: Die Spielpädagogik Friedrich Fröbels. 41 Vgl. Scheuerl: Das Spiel. Bd. 1, S. 17-65. 42 Kerschensteiner: Der Begriff der Arbeitsschule, S. 51. 43 Scheuerl: Das Spiel. Bd. 1, S. 37.

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eine Demokratisierung der Kunstproduktion (durch Schreibbewegungen, Laienkunst, Amateurtheater u.a.) drängt, bilden sich neue Rahmenbedingungen, die wiederum einen veränderten Blick auf die seit langem diskutierten literarischen Spielverfahren erlauben. Seit dem Dominanzverlust des idealistischen Bildungsparadigmas und des Hochliteraturkanons in den 1960er Jahren werden die Anregungen der Reformpädagogik zum spielerischen Lernen in der Pädagogik und Fachdidaktik wieder stärker rezipiert. Sie haben mittlerweile, wie oben gezeigt, in breitem Maß Eingang in die Praxis zahlreicher Unterrichtsfächer – auch in die des Literaturunterrichts – gefunden.

Ausblick: Der Spielbegriff in der aktuellen Debatte um den handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht Die Popularität von Spielkonzepten in der gegenwärtigen Unterrichtspraxis kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine präzise und systematische Klärung des Spielbegriffs innerhalb der Fachdidaktiken immer noch aussteht. Trotz der langen Vorgeschichte hat die Didaktik bis heute nur selten ein Bewusstsein für die Traditionen entwickelt, in denen sie sich bei der Rezeption dieses Begriffs immer schon bewegt. Damit verstellt sie sich auch den Blick auf die Begründungsversuche, Problemstellungen und Lösungsvorschläge, die in dieser Tradition bereits angelegt und möglicherweise bis heute aktuell geblieben sind. Wenn die Literaturdidaktik Verfahren des spielerisch-kreativen Umgangs mit ihren Gegenständen sinnvoll in ihr Methodeninventar integrieren will, darf sie deren Vorgeschichte jedoch nicht länger ignorieren und ist zwingend auf den Theorietransfer mit anderen Disziplinen angewiesen, die sich wissenschaftlich mit dem Begriff des Spiels auseinandersetzen. Einige Fragen und Konsequenzen, die sich daraus für die aktuelle Diskussion um einen handlungsorientierten Deutschunterricht ergeben, sollen am Schluss dieses Beitrags zumindest thesenhaft skizziert werden. – Wenn der Spielbegriff nicht einfach zum rhetorischen Integrationsbegriff für gänzlich heterogene Theorien und Methoden werden soll, der als Äquivalent für jeden ,modernen‘, ,offenen‘ und ,schülerzentrierten‘ Unterricht verwendet werden kann, ist in Auseinandersetzung mit der Theoriebildung in der kulturwissenschaftlichen Spielforschung eine genauere systematische Klärung des Spielbegriffs unumgänglich. Nur diese schützt den Begriff vor einer Methodisierung, die unweigerlich mit einem Verlust an Präzision, Gegenstandsbezogenheit und wissenschaftlicher Geltungskraft verbunden ist und letztlich zur Verselbständigung des Spiels als einer beliebig operationalisierbaren Unterrichtsmethode führen muss. Wird das Spielen auf eine bloße Methodik reduziert, gerät

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mit der theoretischen Konzeptionalisierung aber gerade seine spezifisch didaktische Dimension aus dem Blick. – Um Äquivokationen zu vermeiden, ist genauer zu reflektieren, welche Konsequenzen mit dem Transfer des Spielbegriffs auf institutionalisierte pädagogische Handlungskontexte verbunden sind. Wesentliche Aspekte, die nach Einsicht der klassischen Spieltheorien von Huizinga und anderen konstitutive Elemente von Spielprozessen sind – wie Autonomie, Spontaneität, Selbstbestimmung, Zwanglosigkeit, Zwecklosigkeit, Offenheit oder Suspendierung des Realitätsprinzips –, sind in schulischen Zusammenhängen nicht oder nur in stark modifizierter Form gegeben. Einige Theoretiker haben daraus, wie Huizinga selbst, den Schluss gezogen, das pädagogisch funktionalisierte Spiel aus der Spieltheorie generell auszuschließen.44 Zweifellos ist die Differenzierung zwischen dem ästhetischen und dem pädagogischen Spielbegriff eine Errungenschaft, die nicht ohne Weiteres preisgegeben werden kann, schützt sie doch die behandelten Kunstwerke vor der Gefahr einer bloßen Funktionalisierung und Instrumentalisierung für ihnen eigentlich fremde Zwecke und trägt damit dem Moment von Freiheit Rechnung, das ihnen seit dem Aufkommen der Autonomieästhetik grundsätzlich zuerkannt wird. In pädagogischen Lernkontexten schaffen die eingeschränkte Autonomie der Lernenden, die Planung und Zielvorgabe durch die Lehrenden, die Notwendigkeit der Leistungsbewertung und Lernzielkontrolle sowie andere Kontextfaktoren neue und andere Bedingungen für das Spielen. Diese Differenz war, wie eine gründlichere Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen zeigen könnte, bereits vor dreihundert Jahren John Locke und den sich auf ihn berufenden Erziehungsreformern der Aufklärung bewusst, wird aber noch heute in manchen Methodenkonzepten ausgeklammert und ignoriert. Didaktische Spielkonzepte sind deshalb darauf zu prüfen, ob und wie weit sie diesen spezifischen Dimensionen der pädagogischen Spielpraxis hinreichend Rechnung tragen. – Schon seit den Kontroversen um die Spielpädagogik der Philanthropisten ist umstritten, ob die Integration spielerischer Verfahren in den Unterricht zu einer verbesserten Lernmotivation der Beteiligten und insbesondere auch zu kognitiven Erkenntnisfortschritten führen kann. Weil der Erfahrungsgewinn sich im Spiel oft nur implizit vollzieht und häufig gar nicht verbalisiert und begrifflich expliziert wird, ist er schwer 44 „Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr“, heißt es bei Huizinga: Homo ludens, S. 16. Auch Michael Parmentier vertritt die Auffassung, in pädagogischen Spielkontexten werde „den Kindern in bester Absicht ihr eigenes Medium, das Spiel, entfremdet und für andere, von außen gesetzte Zwecke funktionalisiert. Im Extremfall wird es zum bloßen Vehikel der Wissensvermittlung und Verhaltensmodifikation“ (Parmentier: Spiel, S. 944).

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zu beobachten und leistungsmäßig zu evaluieren. Manche Praktiken der systematischen Wissensvermittlung lassen sich auf spielerischem Weg nur schwer oder gar nicht erreichen. Wird das Spielen zur dominanten Unterrichtsform, drohen zudem ähnliche Motivationsverluste wie bei einer ebenso einseitigen Fixierung auf anders gelagerte didaktische Konzepte. – Weitere Probleme, die sich schon an der Geschichte des Spielbegriffs zwischen Philanthropismus und Reformpädagogik entwickeln lassen, betreffen die Spannung zwischen der Künstlichkeit schulischer Lern­ arrangements und der Alltagswelt der Schüler, die mit der in vielen Spielkonzepten programmatisch verankerten Entdifferenzierung von Alltag und Schule schwer zu vereinbaren ist, sowie die Konflikte, die sich hinsichtlich der Autonomie der Spielenden im Spannungsfeld zwischen Schüler- und Lehrerzentrierung ergeben. Nicht selten erweist sich die proklamierte Abwesenheit von Zwang und Fremdbestimmung nur als eine andere – allerdings verdeckte – Form impliziter Lenkung und Kontrolle in pädagogisch arrangierten Lernsituationen. Ernst Christian Trapp hat diesen Widerspruch schon 1787 auf die paradoxe, bei ihm indessen durchaus positiv gemeinte Formel gebracht, die Spielpädagogik lasse „dem Gezwungenen die Blumen, womit der süße Wahn von Freiheit ihm seine ehernen Ketten umwinden und so sein Auge täuschen hilft; es bleiben ja darum doch Ketten.“45 Die Dialektik von Freiheit und Zwang, die nach Kant für alle institutionalisierten Bildungsprozesse konstitutiv ist, wird also auch durch einen ‚spielerischen‘ Literaturunterricht nicht prinzipiell aufgehoben, sondern allenfalls auf den Planungsprozess des Lehrenden im Vorfeld des Unterrichts verlagert und dabei im besten Fall ein wenig entschärft. Im schlimmsten Fall jedoch dient das Spielverfahren nur als äußere Hülle, um den Heranwachsenden die eigentlichen Lehrziele des Erwachsenen interessanter erscheinen zu lassen, oder es verselbständigt sich zu einer rein funktionalistischen Methodik. - Auch wenn man nicht für eine Rückkehr zu einer normativen, an klassizistischen Idealen orientierten Literaturwissenschaft und -didaktik plädiert, muss sich die Spielpraxis im Deutschunterricht den Herausforderungen stellen, die mit dem Übergang zur Autonomieästhetik seit dem späten achtzehnten Jahrhundert verbunden sind. Die Ausdifferenzierung des Literatursystems und die damit verbundene Professionalisierung der Handlungsrollen auf der Ebene von Produktion, Rezeption und Vermittlung sind irreversibel. Sie haben neue Kriterien für einen adäquaten Umgang mit literarischen Texten etabliert, die den Vorläufern der Spielmethodik bis zum achtzehnten Jahrhundert noch unbe45 Campe: Allgemeine Revision, T. 8, S. 123.

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kannt gewesen sind. Hinter diese Standards darf auch ein Deutschunterricht, der an vielfältigen Aktivitäten der Schüler und an ebenso variationsreichen Praktiken des Umgangs mit Literatur interessiert ist, nicht einfach mehr zurückfallen, sofern er nicht weitreichende Ein­ bußen in seinem heuristischen Potential und in seiner Gegenstandsadäquatheit in Kauf nehmen oder durch eine simple Re-Rhetorisierung des Unterrichts gerade jenen Kritikern Vorschub leisten will, die in diesen Konzepten ohnehin nur einen Rückfall in die Zeit vor der Autonomieschwelle, einen fahrlässigen Dilettantismus und den Verlust aller intellektuellen Anforderungen erblicken. Dies gilt auch für die seit mehr als hundert Jahren im Deutschunterricht eingebürgerten Standards einer elaborierten hermeneutischen Textinterpretation einschließlich ihrer sozialhistorischen und kulturwissenschaftlichen Erweiterungen bzw. dekonstruktivistischen Gegenentwürfe. Spielerische Verfahren im Literaturunterricht stehen in einer Methodenkonkurrenz zu diesen Praktiken der kognitiven Texterschließung und historischen Kontextualisierung, können diese nicht ersetzen, sondern nur ergänzen und müssen den Nachweis erbringen, dass sie die Lernenden mit ihren spezifischen Mitteln zu Einsichten führen können, die den kritischen Vergleich mit diesen erprobten Verfahrensweisen des Literaturunterrichts nicht zu scheuen brauchen. Auch die Kenntnis der Spieltheorien und ihrer Geschichte kann der Fachdidaktik keine Patentrezepte für die Lösung der angeschnittenen Fragen liefern, die über die didaktische Legitimation von Spielpraktiken im Unterricht entscheiden. Sie kann aber dazu beitragen, die spezifischen Probleme und Chancen dieser Verfahren schärfer bewusst zu machen und genauer zu reflektieren, als dies ohne Kenntnis der einschlägigen Theoriekonzepte möglich ist. Nur so wird der handlungsorientierte Deutschunterricht auf Dauer der Gefahr entgehen können, mit Spielkonzepten ohne Spielbegriff zu operieren und zu einer bloßen Spielmethodik zu werden, welche über die zugrunde liegenden und implizit vorausgesetzten Prämissen, Intentionen und Theorien keine Rechenschaft geben kann.

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Spiele in ästhetischen Bildungsprozessen In den letzten Jahren ist das Spiel in seiner Bedeutung für die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart mehrfach gewürdigt worden. Kinderund Gesellschaftsspiele werden als Themen und Motive in Kunstwerke integriert; Künstler und Künstlerinnen übernehmen ihre Formen und Strukturen, verwenden Spielzeug als Material, agieren in der Spielerrolle, werden zu ihrer eigenen Spielfigur und beziehen den Betrachter ins Kunst-Spiel ein. Die Hochschätzung des vollendeten Werks tritt zurück hinter performative und ephemere Prozesse, die eine traditionelle Unterscheidung zwischen Kunst und Spiel hinfällig machen – das erstere ein dauerhaftes Produkt hervorbringe, das andere aber sich in der reinen Gegenwart der Spielhandlung erfülle. Michael Lüthi konstatiert: „Je mehr in der Moderne das Werk mit dem performativen Akt seiner Hervorbringung zusammenfällt, desto geringer wird die Trennschärfe zwischen Kunst und Spiel.“ Die Verlagerung des künstlerischen Interesses vom Werk zum Prozess rückt eine weitere Funktion des Spiels in den Vordergrund: die der organisierenden und generierenden Instanz im künstlerischen Schaffensprozess. Wie alle anderen Verbindungen zwischen Kunst und Spiel ist auch sie nicht grundsätzlich neu und nicht auf die Kunst des 20. Jahrhunderts beschränkt. Traditionell sind Spiele wichtige Ingredienzien der literarischen Imagination, als Motive wie als Handlungsstrukturen und generative Regelwerke. Zu den berühmtesten Beispielen zählen Schach und Tarot, die als Spiegel philosophisch-theologischer Systeme und historischer Gesellschaftsordnungen symbolische Welt-Miniaturen darstellen. Hier seien nur wenige Beispiele genannt: Das Tarotspiel ist Motiv wie Konstruktionsprinzip des Klingsohr-Märchens im Heinrich von Ofterdingen des Novalis; Italo Calvino verstand die Tarotkarten als „Konstruktionsmaschine für Erzählungen“. Eine Schachaufgabe liegt Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln zugrunde. Julio Cortázar gibt seinem Roman Rayuela. Himmel und Hölle „eine alternative Textspur“ vor, „in der die einzelnen Kapitel nach der Vorlage des von   

Vgl. u.a. Bätzner: Kunst und Spiel, sowie Schwerpunkte in Zeitschriften wie figurationen und KUNSTFORUM (vgl. Torra-Mattenklott: spiele/games, und Buchhart/Fuchs: Kunst und Spiel). Lüthi: Der Einsatz der Autonomie, S. 45. Calvino: Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen, S. 136. Näheres zu diesen und anderen literarischen Spielen vgl. Mattenklott: Spielregeln.

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Kindern praktizierten Hüpfspiels kombinatorisch miteinander verknüpft werden.“ Michael Chabon entwirft seinen phantastischen Roman Sommerland als kosmisches Baseballspiel. Auch das freie Kinderspiel wurde bereits vor 1900 als Impuls zur literarischen und künstlerischen Produktion entdeckt, als Victor Hugo in seinen Zeichnungen und Justinus Kerner in seinen Klecksographien auf das träumerische Experimentieren mit Tintenklecksen auf dem Löschblatt und in Schulheften zurückgriffen.

Kinderspiele in den Künsten des 20. Jahrhunderts Doch in kaum einer anderen Epoche gewinnen diese und andere Spiele eine vergleichbar große Bedeutung wie im 20. Jahrhundert, zuerst mit DADA und Surrealismus. Kinderbeschäftigungen und -spiele wie die Frottage und Collage, das Klecksen und das Reihumwandern einer Zeichnung oder eines Satzes, bis alle Spieler ihren Teil einem verdeckten, unbekannten gemeinsamen Ganzen angefügt haben, erleben beispiellose Karrieren in der Erwachsenenwelt: Die Collage wird zum dominierenden Gestaltungs- und Formprinzip aller Künste, Frottage, Klecksographie, Dekalkomanie und Dripping bieten dem wachträumenden Künstler produktive Strategien, die harmlos-heiteren Gesellschaftsspiele avancieren im ‚Cadavre Exquis‘ zum Gruppen-Laboratorium surrealistischer Findungs- und Erfindungskunst. Während beim Schach die abstrahierende Weltdarstellung und die mathematisch präzise Konstruktion, beim Tarot die narrative Struktur und die so suggestive wie evidente und unendlich auslegbare Symbolik faszinieren, versprechen diese Kinder- und Künstlerspiele mit dem Regime des Zufalls und der von ihm ausgelösten träumerischen Assoziationslust sowohl unvordenklich neue poetische Bildkombinationen zu ermöglichen als auch die produktiven Gründe des Unbewussten zu erschließen. Die den Spielen eigene Balance aus Zufall und Manipulation fasziniert und wird zu einer der wichtigsten Inspirationsquellen. Dass schließlich dem Würfeln, Caillois’ Spielkategorie ‚Alea‘, eine ausgezeichnete Rolle im Kunst-Spiel zukommt, liegt seit Mallarmés Un coup de dés auf der Hand. Aleatorische Verfahren werden um die Mitte des Jahrhunderts vor allem in Literatur und Musik eingesetzt und erfahren im digitalen Zeitalter durch die immens erweiterten Permutationsmöglichkeiten des Computers eine triumphale Renaissance. Sie geht einher mit einem gesteigerten Interesse an der frühneuzeitlichen    

Den Hinweis fand ich bei Krass: WortSpielZeug, S. 30. Chabon: Sommerland. Vgl. dazu Mattenklott: Bleistift, Tinte, Papier; Bittner: Wolken, Mauern und Schwämme; von Arburg: Dämonische Signaturen. Vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen.

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und barocken Tradition der Poesie-Maschinen. Den alten wie neuen Diskursen zu diesem Thema gilt eine reiche literatur- und medienwissenschaftliche Forschungsaktivität. Auch deshalb soll diese Spur hier nicht verfolgt werden – vor allem jedoch, weil der Würfel ein Spielrequisit, aber kein Spiel in der hier fokussierten Bedeutung ist. Besonders bei Spielen vom Typ des ‚Cadavre exquis‘ erhöht sich der Reiz der Balance zwischen Regel und Zufall durch ihren geselligen Charakter. Sie erschließen nicht nur die kreativen Potentiale des Individuums, sondern die einer spielenden Gruppe. Während der einsame Autor sich inmitten einer stummen Geister-Gesellschaft von Künstlern aller Epochen und seiner Gegenwart bewegt, stehen dem spielenden Surrealisten die imaginativen Repertoires und Erfindungen seiner Mitspieler ebenso unmittelbar zur Verfügung wie die Synergieeffekte aus den Funken der Zusammenstöße während der gemeinsamen Spielhandlung. Ähnlich wie in den Salons früherer Epochen fallen gesellige und literarische Spiele zusammen. Die wie locker auch immer miteinander verbundene Künstlergruppe ermöglicht ein zwangloses Geben und Nehmen und gestaltet Intertextualität als soziale Praxis. Der Eigensinn künstlerischer Individualität und auch die Notwendigkeit der Abgrenzung und Profilierung lassen dabei keine kollektive Nivellierung zu und konterkarieren Tendenzen zur erstarrenden Vereinsmeierei. Künstlergruppen sind daher – von wenigen zeitweise fast diktatorisch regierten abgesehen – eher dynamische Freundschaftsbünde mit allen Risiken solcher Beziehungen, als stabile und einengende Gemeinschaften.

Wie Regeln ins Stolpern kommen Zeitweilig scheinen die Regeln die Herrschaft anzutreten über das kunstvoll hergestellte Außer-Kontrolle-Geraten der Schreibspiele mit verdeckten Partien, der Dekalkomanien und Klecksographien. Ein später Zweig aus dem surrealistischen Stamm, entsprossen aus der entschiedenen Abgrenzung von der surrealistischen Vorliebe für den Zufall, ist die Gruppe ‚OuLiPo‘, die Werkstatt potentieller Literatur: Ouvroir de Littérature Potentielle. Gegründet wurde ‚OuLiPo‘ 1960 von dem mathematikbegeisterten Autor Raymond Queneau und dem Schachspieler und literaturbegeisterten Ingenieur François Le Lionnais. Anfangs als geheime Gesellschaft in enger Bindung an das 1949 ebenfalls von Queneau gegründete Collège de Pataphysique inszeniert, öffnete sich die Gruppe in den folgenden Jahren und ist inzwischen zu einer international bekannten und der literarischen Öffentlichkeit zugewandten Institution geworden. Das Interesse der Ouli

Ich verweise nur auf einige Titel: Schulze: Das aleatorische Spiel; Krass: WortSpielZeug; Cramer: Exe.cut[up]able statements.

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poten gilt der Herstellung von „littérature en quantité illimitée“ durch die Erfindung von ‚contraintes‘ – Einschränkungen, die auch als Spielregeln bezeichnet werden können. Doch auch die oulipotische Unterwerfung unter die strenge, oft mathematisch präzise Regel lässt sich immer wieder vom Zufall irritieren und provozieren – mit Lust und Absicht. Eine beliebte (oulipotische) Definition lautet: „Un auteur oulipien, c’est quoi? C’est ‚un rat qui construit lui-même le labyrinthe dont il se propose de sortir‘.“ Bliebe es allerdings bei der freiwilligen Konstruktion ihres Labyrinths, könnte die Tätigkeit der Ratte trübe und pedantisch erscheinen. Dank der Prise pataphysischer Ironie, ohne die keine oulipotische Aktivität auskommt, wird die Pedanterie jedoch vermieden bzw. ins Spiel gewendet. Claude Burgelin schreibt in seinem Aufsatz über die Ästhetik und Ethik von ‚OuLiPo‘: Un déboîtement, un bredouillement – et le sens titube ou se perturbe. Le ballet strictement réglé glisse vers une forme d’ébriété ou d’étrangeté. Il y a là une des réussites subtiles de l’Oulipo: l’art de transformer ce qui est au départ jeu constraint, aux règles fixes (game) en un jeu de liberté et de fantaisie (play).10

An Stelle der beiden hier verwendeten englischen Begriffe für das Spiel könnten auch die gesetzt werden, die Roger Caillois seiner Spieltheorie zugrunde legt. Er unterscheidet als zwei Pole des Spiels ‚‚ludus‘ und ‚paidia‘. Mit ‚Paidia‘ von griech ‚pais‘: ‚das Kind‘, bezeichnet er „die spontanen Manifestationen des Spieltriebes“,11 die frühesten in der Entwicklung des Kindes, sie entsprechen seinem elementaren Bedürfnis nach Bewegung und Lärm. ‚Paidia‘ steht für „Tumult und Ausgelassenheit“,12 ebenso wie für ‚müßige Träumerei‘.13‚Ludus‘ am anderen Pol steht für „das Vergnügen […], das man bei der Lösung einer absichtlich geschaffenen und willkürlich bestimmten Schwierigkeit empfindet, so daß schließlich der Reiz, sie zu lösen, keinen anderen Vorteil bringt als die eigene innere Befriedigung, sie bewältigt zu haben.“14 Die Bandbreite oulipotischer, absichtlich geschaffener und willkürlich bestimmter Schwierigkeiten, der Einschränkungen, ist groß. Viele sind Transformationsregeln: Buchstaben und Wörter in vorgegebenen oder selbst verfassten Texten werden nach festgelegten Prinzipien ausgetauscht, Texte werden nach bestimmten Regeln der Verschiebung, Ersetzung, Amplifikation (Addition) oder Wiederholung (Multiplikation) verwandelt.15 Ein genuin oulipotisches Verfahren ist die Übersetzung mathematischer For 10 11 12 13 14 15

Bénabou/Roubaud: Qu’est-ce que l’Oulipo? Burgelin: Esthétique et éthique de l’Oulipo. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 37. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 44. Ebd., S. 39. Eine Tabelle der Operationen liegt dem Band Ritte: Oulipo & CO bei.

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meln und Aufgaben in die Sprache, die Konstruktion eines Textes auf der Grundlage eines Algorithmus, z.B. ‚s+7‘: Jedes Substantiv eines Textes (als berühmtestes Beispiel wählte Georges Perec Goethes Gedicht Ein Gleiches – Über allen Gipfeln ist Ruh…) wird ersetzt durch das siebte, das ihm in einem bestimmten Lexikon folgt. Wird ein anderes Lexikon benutzt, entstehen neue Transformationen des Ausgangstextes. Mathematische Formeln geben zwar das Transformationsprinzip vor, aber da Sprache und Mathematik zwei grundverschiedene Systeme darstellen, kommt stets der unsystematische Zufall ins Spiel, z.B. über die Wahl des Lexikons und über die Wortbedeutung. Perec verwendet ein spanisch-deutsches Wörterbuch und ersetzt dem Algorithmus ‚s+15‘ folgend ‚Gipfeln‘ durch ‚Glasuren‘, ‚Ruh‘ durch ‚Ruß‘ und ‚Wipfeln‘ durch ‚Wissenschaften‘, ‚Hauch‘ durch ‚Hausmädchen‘ usw. Während dieselbe Operation, wenn sie systematisch korrekt durchgeführt würde, mathematisch immer stimmen würde, weil Zahlen Abstraktionen sind, sind Wörter referentiell auf ein Bezeichnetes hin, und wenn ein ‚Hauch‘ und ein ‚Hausmädchen‘, ‚Ruß‘ und ein ‚Wandkalender‘ zusammen kommen, so ist hier Pataphysik und nicht Mathematik im Spiel. Wir sind wieder bei jenen surrealistischen Imaginationen angelangt, die eine Nähmaschine und einen Regenschirm sich auf einem Seziertisch treffen lassen. Andere oulipotische Regeln bleiben im System der Literatur und greifen auf rhetorische Figuren und metrische Schemata zurück; viele variieren traditionelle Strophen- und/oder Reimschemata oder sind Erfindungen neuer lyrischer Formen wie ‚boule de neige‘: „Une boule de neige de longueur n est un poème dont le premier vers est fait d’un mot d’une lettre, le second d’un mot de deux lettres, etc…. Le nième vers a n lettres.“16 Einen beträchtlichen Anteil haben die bis in antike Traditionen zurückreichenden Sprachspiele des Abecedarius und des Akrostichon, des Lipogramms (Vermeidung eines Buchstabens), des Anagramms und des Palindroms (Spiegelwörter und -sätze) und die nicht minder alten Zitatspiele wie der Cento, ein Gedicht, das nur aus Versen anderer Autoren besteht. Daneben stehen eigensinnige Erfindungen einzelner Autoren wie Perecs autobiographische Spiele.17

OuLiPo als literarische Geselligkeit Oulipoten greifen gesellige Formen des Schreibens und die daraus resultierenden Wechselwirkungen und Überraschungen des Dialogs auf und sind auch insofern nicht so einsam wie die Ratte im Labyrinth. Oskar Pastior, 16 Das „Elfchen“, dieser populäre Superstar unter den Methoden des schulischen Kreativen Schreibens, ist die reduzierte Form eines Schneeballgedichts. 17 Vgl. Perec: Je me souviens.

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das einzige deutsche Mitglied von ‚OuLiPo‘, veröffentlichte neben einer gemeinsamen Anagrammfolge mit Georges Perec18 1988 mit Carl Hans Artmann, Makoto Ooka und Shuntaro Tanikawa die Ergebnisse einer mehrsprachigen, interkulturellen Renshi-Kettendichtung, zu der die Autoren sich im Berliner Literaturhaus getroffen hatten.19 Die stark formalisierte japanische Tradition der geselligen Renka-Poesie wird im Renshi zu freien, offenen lyrischen Formen modernisiert. Zwei und mehr Autoren treffen sich und dichten in vorgegebenen knapp gehaltenen Zeiträumen, indem sie jeweils Stimmungen und Spuren wie Worte, Motive, Metaphern der anderen aufgreifen und in neue eigene Gedichte transformieren.20 Über solche unmittelbaren Formen kooperativen Schreibens hinaus teilen die Oulipoten ihre Labyrinthkonstruktionen anderen mit und laden sie ein, eigene Lösungen zu finden. Es liegt nicht im Interesse ‚OuLiPos‘, geheime Strategien zur Verblüffung des Publikums zu entwickeln. Jeder kann die ge- und erfundenen Einschränkungen nutzen, sie erlauben jedem „inspiriert zu sein“. Heute sind sie im Internet zu finden. Paul Fournel, der die pädagogischen Aktivitäten einiger Oulipoten in Schreibwerkstätten (‚ateliers‘, ‚stages‘) vorstellt, schreibt: L’objectif de l’Oulipo, et ceci dès les premiers jours de son existence, n’est pas de produire de la littérature, mais bien d’explorer les moyens qui peuvent permettre d’être toujours inspiré, d’être toujours en situation de produire. […] L’objectif de l’Oulipo est simplement de faire comprendre aux participants à ses ateliers que l’écriture est possible ici et maintenant, que grâce aux bienfaits de la contrainte, on peut écrire comme en jouant.21

Oulipotische Regeln haben inzwischen in Frankreich Eingang in den Schulunterricht gefunden, einige sind auch bei uns in Vorschlägen für das Kreative Schreiben im Deutschunterricht zu finden.

Stille Post Ich möchte hier ein Spiel-Werk von elf Künstlerinnen vorstellen, das pataphysische wie oulipotische Züge trägt und das auf dem Prinzip geregelter Transformationen beruht.22 Ihm liegt das Kinderspiel Stille Post zugrunde, das im Kreis oder einer Reihe gespielt wird und das der Regel einer n18 Pastior/Perec: LA CLÔTURE. 19 Artmann/Ooka/Pastior/Tanikawa: Vier Scharniere mit Zunge. 20 Ein weiteres berühmt gewordenes Renshi fand 1999 in der Berliner Akademie der Künste statt. Teilnehmer waren ein weiteres Mal Makoto Ooka, außerdem Jürgen Becker, Inger Christensen und Adam Zagajewski. In Sinn und Form (1, 2000) findet sich neben dem Kettengedicht auch ein Beitrag von Klopfenstein über Renshi – Idee und Gestalt. 21 Vgl. Fournel: Les ateliers de l’OuLiPo, S. 26 f. 22 Vgl. die Dokumentation im Katalog: Haase: STILLE POST!

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fachen Transformation eines gegebenen Satzes folgt (n sei die Zahl der Spieler, hier 11). Die Kinderspielregel als produktive ‚contrainte‘ für elf haben die Künstlerinnen in elf einzelne Regeln differenziert und drei parallel laufende Spielrunden vereinbart.23 Die ersten beiden Regeln schreiben den Verlauf, die Spielzeit insgesamt (22 Wochen) und die jeder Spielerin (2 Wochen) detailliert und aufs Datum genau vor. Jede Akteurin gibt eine eigene Arbeit zum festgelegten Datum an die nächste weiter und empfängt ihrerseits eine (Regel 3, 6. 7). Nur die jeweils ersten, insgesamt drei, agieren ohne den Stimulus einer fremden Arbeit. Damit auch sie nicht ohne jeden Impuls den besonders schwierigen Anfang setzen müssen, gilt für sie die Aufgabe, etwas aus dem Wort ‚post/Post‘ zu machen (Regel 4 und 5). Die anderen reagieren in jeder der drei Runden auf eine andere Mitspielerin (Regel 8). Die jeweiligen Paare müssen über ihre Aktivitäten schweigen (Regel 6). Die Regeln 9-11 geben an, wie die Übergabe der Arbeiten zu erfolgen hat: „1:1“, „d.h. das Ergebnis einer Arbeitsphase wird im Original weitergegeben.“ (Regel 9) Regel 10 bestimmt die Begrenztheit der Vermittlung, „d.h. die abgebende Akteurin erklärt nichts, sondern stellt hin, spielt oder liest vor.“ Regel 11 fixiert die Form eines Übergabeprotokolls, das von jedem „Transformationspaar“ verfertigt wird. Es ist „als Text mit drei Fragen und max. 10 Sätzen für die Antwort zu verfassen.“ Das Regelwerk wird in der Form dreier konzentrischer Kreise visualisiert.24 Das Diagramm erinnert an andere Kinderspiele wie Himmel – Hölle oder Schusterschnecke. Es hüpfen aber nicht elf Spielerinnen von Kästchen zu Kästchen, sondern drei gegebene ‚Sätze‘ durchlaufen in dreimal wechselnder Reihenfolge die elf künstlerischen Positionen der beteiligten Künstlerinnen. Bereits vor aller Ausführung und ohne Kenntnis individueller Realisierungen ist die geometrisch klare und arithmetisch einfache Spielregel als Konzept elegant und charmant. Bei längerem Hinsehen beginnt die Kreiskonstruktion zu rotieren (kleine Pfeile geben die Rotationsrichtung vor) und verwandelt sich in eine Fensterrose oder Sonne junger Frauenblüte. Kaum dass die Betrachterin umhin kann, allein aus den Namen – Vera, Sandra, Barbara, Elvira, Jasmina, Julia, Kathrin Th. und Kathrin B., Margit, Kirsten und Dagmar – und ihren in den drei Kreisen wechselnden Positionen einen kleinen Roman zu erlesen. (Am Ende wird ein solcher Schlüsselroman als Brief- und Tagebuchkonvolut und als hermetisch geschlossenes Objekt in neun Büchern tatsächlich vorliegen.)25 Doch übersteigt die Komplexität des Projekts in mancher Hinsicht ein einfaches Romanspiel. Der Schein der flächigen Kreiskonstruktion täuscht – tatsächlich sind die Aktivitäten, für die die Abfolge der Felder steht, keineswegs auf die Linien eines Schreibheftes 23 Ebd. S. 9. Dort auch die folgenden Zitate. 24 Ebd. S. 11. 25 Jäger: Alice träumt – Elfentagebuch in neun Teilen (ebd. Runde 3. 3.11).

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oder Zeichenpapiers beschränkt. Die Spielerinnen kommen aus den verschiedensten künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Disziplinen. Sie bewegen sich in virtuellen und realen Räumen, entwerfen Klänge, spielen Geige und Klavier, gestalten Landschaften und bauen Häuser, malen, zeichnen, collagieren, filmen, schreiben und montieren. Sie flüstern einander nicht ein paar Worte ins Ohr wie die Kinder, die Stille Post spielen, sondern sie transferieren virtuelle oder reale Pakete. Wenn am Ende alle ausgepackt worden sind, bewegen wir uns in einer bizarren Raumordnung diverser materieller und immaterieller Objekte und Klänge. Davor aber liegen 22 Wochen, die wir uns als eine nicht weniger bizarre Folge von 3 x 11 Überraschungen, Enttäuschungen, Entsetzen, Hilflosigkeit, Lachen, Albernheit, Widerwillen und Ermüdung, von blitzenden Einfällen und trotzigen Lähmungserscheinungen vorstellen können. Das Regelwerk setzt Bedingungen oder ‚contraintes‘: den Beginn mit ‚post/Post‘, die Zumutung, auf ein gegebenes Werk mit einem eigenen zu reagieren, das Zeitlimit von zwei Wochen, in denen die eigene Arbeit entstehen muss, die lakonische Übergabezeremonie, das Wahren des Geheimnisses in Hinblick auf das Empfangene und das Weitergegebene. Diese Einschränkungen öffnen kreative Spielräume. Sie entlasten weitgehend von Entscheidungen über den Zeitrahmen – die Transformation muss mitten im Arbeitsalltag innerhalb von zwei Wochen vollzogen werden, sie kann nicht auf einen beliebigen späteren Termin verschoben werden. Auswege sind verbaut. So sehr die knappe Zeit bedrängt, so sehr vermag sie von blockierenden Ansprüchen an uns selbst zu befreien und dadurch Kreativität freizusetzen – eine Erfahrung, die seit dem Beginn der Schreibbewegung in den späten siebziger Jahren zahlreiche Teilnehmer von Schreibwerkstätten gemacht haben und die auch das Renshi prägt. Das fremde Werk als Impuls oder Aufgabe mag befremden, vielleicht gar enttäuschen und ärgern, gleichwohl erleichtert es den sonst so schwierigen Anfang. Es setzt Assoziationen frei, legt Spuren, die verfolgt werden können, oder provoziert Widerspruch, Ironisierung, vielleicht gar symbolische Zerstörung. Im Kinderspiel Stille Post geben die Spielerinnen gehorsam weiter, was sie gehört haben, oder schmuggeln rebellisch wider besseres Hören eigene Wortbildungen ein. Das Schummeln gehört zum Spiel; die heimliche Durchbrechung der Regel begleitet sie wie der pataphysische Schatten den strengen oulipotischen Algorithmus. Nichts langweiliger, als wenn am Ende der Stillen Post das erste Wort unverwandelt wieder auftaucht! Auch für das KünstlerinnenProjekt sind Rezeptionsautomatismen gefährlich. Sie würden das eintönige Klipp-Klapp des allzu Vertrauten produzieren, daher sind Störmanöver nötig, aber sie dürfen das Spiel nicht aus dem Takt bringen. Die Spielerinnen nehmen sich die Freiheit und setzen eigene Akzente, die sie manchmal wie Kennmarken durch alle drei Runden verfolgen. So legen sie eine persönliche, eigensinnige Spur im Spiel der Responsen und Übersetzungen. In der

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STILLEN POST wandert z.B. eine Spielfigur namens Alice durch die drei Runden, durchläuft seltsame Metamorphosen und verschwindet auch wieder, wenn ihr Name bei einer Spielerin keine assoziative Resonanz auslöst. Innerhalb der strengen Regel ist also Platz für den Eigensinn des Spieler-Subjekts, und das durchaus nicht nur, wenn es bewusst aufbegehrt. Die knappe Zeit mobilisiert zusammen mit der Vorgabe neben den kognitiven und professionell-routinierten Handlungsstrategien die un- und vorbewussten Reservoirs der Einbildungskraft: das Unberechenbare und Unregulierbare, das Vage und Träumerische. Dadurch wird das automatisch ablaufende Spielprogramm de-automatisiert, das Regelwerk verkommt nicht zum reibungslosen Abschnurren von Handlungs- und Produktionssequenzen. Aus dem scheinbar mit den eigenen Intentionen und Interessen Unvereinbaren springt unter dem Druck der Regel der Funken des Einfalls. Entzündet er sich in der Collage durch die zufällige oder provozierte Annäherung des Diversen, so übernimmt hier die im Voraus formal festgelegte Begegnung mit den Artefakten der Mitspielerinnen – wie bereits in den surrealistischen Spielen – die Rolle des blinden Zufalls. Reibungen entstehen durch die eigensinnigen Individuen, durch die unterschiedlichen Traditionen und Diskurse der einzelnen Künste, durch die gegen einander widerspenstigen Materialien, Medien und Erscheinungsformen. Das Künstlerinnen-Spiel STILLE POST ist ein Programm oder eine Maschine zur Produktion von Kunstgebilden, die am Ende in einer Ausstellung auch der Öffentlichkeit gezeigt wurden, und es ist ein Roman in zweiter Dimension – die Erzählung von einem diffizilen und fragilen kollektiven Schaffensprozess und damit eine Gestalt gewordene Reflexion über kreatives Arbeiten und seine fördernden und blockierenden Bedingungen. Die Zeitraffung durch die vereinbarte Spieldauer lässt wie unterm Vergrößerungsglas erkennen, dass das künstlerische Schaffen ein Geben und Nehmen, ein wechselseitiger Inspirations- und Abstoßungsprozess ist. Was sich in Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte in ungleich größeren Zeitabschnitten vollzieht, ereignet sich hier im schnellen Schlagabtausch. Verschiedene Formen des reagierenden Agierens werden gleichsam exemplarisch durchgespielt. Sein Spektrum reicht von der Integration des fremden Gebildes in das eigene, über die mimetische Aneignung mit minimaler Verschiebung und Variation bis zum selektiven Herausgreifen einzelner Motive, die vergrößert, verdichtet, verwandelt in die eigene Material- und Formensprache oder in andere inhaltliche Kategorien übersetzt werden. Die begrenzte, überschaubare Dauer ermöglicht, dass jede Spielerin eine so rasche Resonanz auf die eigene Arbeit bekommt, wie sie in der ‚Echtzeit‘ der Kunstwelt sonst kaum möglich ist. Werden die fremden Produkte ins Eigene transformiert, so kehrt am Ende auch das eigene verwandelt zurück und steht nun in einem neuen Licht da, das unerwartete, ungeplante, unerkannte Züge beleuchtet. Wie das Kinder- und Gesellschaftsspiel auf

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Wiederholung angelegt ist – „Noch mal!“ – bieten die Transformationen neue Impulse für weitere Spielrunden.

Schnittmusterstrategie und STILLE POST als didaktische Modelle Eine der Künstlerinnen der STILLEN POST, die Architektin Dagmar Jäger, hat parallel zum Spiel an ihrer inzwischen abgeschlossenen Dissertation gearbeitet, die den Titel trägt: Schnittmuster-Strategie. Eine dialogische Entwurfslehre für Architektur, Design und Kunst.26 Die Arbeit zeigt Dagmar Jäger als vermutlich maßgebliche Initiatorin und spiritus rector des Künstlerinnenspiels. Sie stellt eine mehrfach im Hochschulunterricht erprobte Lehrkonzeption für die architektonische Entwurfslehre vor und fundiert sie in Spieltheorien, Wahrnehmungspsychologie, Hermeneutik und Kreativitätsforschung. Das didaktische Prinzip der ‚Schnittmusterstrategie‘ besteht in einem Unterrichtsprogramm, das nicht wie ein konventioneller Lehrveranstaltungsplan Inhalte in ihrer Abfolge zusammenfasst, sondern einem Spielfeld ähnelt, auf dem die Lehrende Stationen, Knotenpunkte und Aufgaben festgelegt hat und auf dem die Studierenden/Spielenden gleichwohl eine Vielzahl individueller Entscheidungsmöglichkeiten finden. Das Programm kann als übergeordnete Spielregel bezeichnet werden, aus der sich wiederum eine Vielzahl untergeordneter Regeln entfalten. Es wird kombiniert mit der Stimulation von Kindheitserinnerungen, die dazu betragen, das Potential unund vorbewusster Emotionen und innerer Bilder disponibel zu machen. Dazu kommen Begegnungen mit traditionsreichen Bauten und historische Studien im Sinn einer gelenkten „Wissensaufladung“27 und Traditionsaneignung. Am Anfang steht ein Ausschnitt aus einem Schnittmusterbogen, d.h. ein willkürlich ausgewähltes graphisches Gebilde.28 Auf der Grundlage seiner Geraden und Kurven, seiner gepunkteten und durchgezogenen Linien wird ein erster Entwurf skizziert, der dann in mehreren Schritten vorgegebene zeichnerische, kolorierende, collagierende oder abstrahierende Transformationen erfährt, in den Kontext einer vorgegebenen Raumsituation eingebettet wird, sich dadurch mit Realitätspartikeln anreichert und mit Kenntnissen historischer Bauten „aufgeladen“ wird. Zwischen den individuellen Arbeitsphasen führen Gespräche die Studierenden zusammen. Dabei werden sie zur verbalen Auseinandersetzung mit den eigenen und den 26 Jäger: Schnittmuster-Strategie. 27 Ein Terminus von Dagmar Jäger. 28 Freilich ist dieser schräg anmutende Einstieg nicht ganz willkürlich, denn das Schnittmuster zielt auf die Herstellung eines Kleidungsstücks, die architektonische Skizze auf das Gebäude, Kleid und Haus aber sind als dem menschlichen Leib unterschiedlich nahe Schutzhüllen verwandte Phänomene. Schnittmuster und Entwurfsskizze sind zweidimensionale generative Abstraktionen der plastischen und räumlichen Gebilde Kleid und Haus.

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fremden Arbeiten verpflichtet, und die subjektive Imagination wird durch „dialogische Assoziation“ stimuliert, die ihrerseits nach Spielregeln abläuft; die Gruppenarbeit vermittelt neue Impulse.29 Ist die STILLE POST ein im Ablauf vergleichsweise einfaches gemeinsam konzipiertes Spiel von annähernd gleichaltrigen bzw. in ähnlicher Phase der Berufskonsolidierung befindlichen Künstlerinnen,30 so hat Dagmar Jäger als Lehrende im Rahmen des universitären Unterrichts für ihre Studierenden eine höchst komplexe Spielstrategie entworfen, die sie in ihrem Buch an mehreren Unterrichts- und Programmvarianten exemplifiziert. Die didaktische Konzeption kann hier nur stark vereinfacht umrissen werden. Ihre wichtigsten Merkmale sind – das sorgfältig erarbeitete Lehrprogramm, das gleichwohl für spontane Variationen offen ist und im Verlauf Zufallendes (z.B. Gastvorträge zur „Wissensaufladung“) integriert; – die Einführung in spielerische Verfahren der Ideenproduktion mittels der Stimulation künstlerischer Kreativität durch gestalterische Aufgaben, vor allem in der Form variationsreicher Transformationsregeln; – die Lenkung der Aufmerksamkeit einerseits auf architektonische Traditionen als Inspirationsquellen, – andererseits auf subjektive Raumerfahrungen, vor allem in der Kindheit; – die Förderung des individuellen Eigensinns im gleichen Maß wie des geregelten Dialogs, der für jeden die Assoziationswelten und Imaginationsreservoirs der anderen zugänglich macht; – der mehrfache Wechsel der Perspektiven und Handlungsformen zugunsten einer spannungsreichen Dramaturgie des Unterrichts. Auch die STILLE POST impliziert ein didaktisches Modell. Das hat die Jury des Karl-Hofer-Preises, des interdisziplinären Kunstpreises der Universität der Künste Berlin, erkannt, die 2006 den elf Künstlerinnen den Preis zusprach. Der ist nämlich mit der Aufgabe oder Ehre verbunden, eine Lehrveranstaltung an der Universität zu halten. Die Gruppe STILLE POST hat diesen Schritt in die Lehre vollzogen und bietet seit dem Sommersemester 2007 ein auf drei Jahre angelegtes interdisziplinäres Studienprogramm Künstlerische Transformationsprozesse an, das (nach Maßgabe der begrenzten Teilnehmerzahl) für alle Studierenden der UdK offen ist. Jeweils zwei Künstlerinnen aus der Gruppe STILLE POST leiten eine Lehrveranstaltung, die anderen Mitglieder partizipieren durch Mitarbeit anlässlich spezifischer Situationen im Unterrichtsverlauf. Inzwischen liegt

29 Vgl. Jäger: Schnittmuster-Strategie, Teil 1, S. 115 ff. 30 Die elf Künstlerinnen hatten sich im Rahmen eines Mentoring-Programms der Universität der Künste Berlin kennengelernt.

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ein erster Erfahrungsbericht vor.31 Den Autorinnen ist daran gelegen, die Folge künstlerischer Transformationen innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens, im „Übersetzungsvorgang von einer Arbeit zur nächsten und die gezielte Einbindung mehrerer unterschiedlicher Disziplinen“ als „eine besondere künstlerische Praxis“ auszuweisen.32 Tatsächlich fügen sich ihre Verfahren in die anfangs nur in groben Zügen skizzierte ludistische Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ein bzw. führen sie weiter. An dieser Stelle soll jedoch die didaktische Konzeption im Vordergrund stehen. Die Künstlerinnen haben Lehrinhalte und Lehrziele sorgfältig durchdacht und die Rahmenbedingungen festgelegt. Nach der Wahl eines Semesterthemas – ein demnächst zur Bebauung anstehendes städtisches Brachland, ein Ort „im Übergang“ – musste ein „Transformationsmodell“ ausgearbeitet und dazu die „Anzahl, Dauer und Form der Transformationsschritte“ festgelegt werden. Die „Übergabemodalitäten und Restriktionen“ mussten konstruiert werden.33 Dazu kamen die übliche Vorbereitung auf die Vermittlung theoretischer Grundlagen und Überlegungen zur Passung von Thema und Verfahren der interdisziplinären Transformation.34 Die Unterrichtsbeschreibung dieser ersten Lehrveranstaltung nach dem Prinzip der STILLEN POST belegt, dass trotz des sorgfältig vorbereiteten Spielprogramms die Studierenden nicht nur als ausführende Produzenten von Objekten, Texten, Gebilden, Performances und ihren Transformationen aktiv wurden, sondern auch selbst, einmal eingeführt in das Spielkonzept, neue Regeln erarbeiteten, die ihrerseits den Charakter künstlerischer Handlungen trugen und zur Komplexität der verschiedenen Transformationsreihen beitrugen. Sie entwickelten Übergaberituale auf der Basis von Losverfahren und Kinderspielen (‚Flaschendrehen‘), populären Bräuchen (‚Zuwerfen des Brautstraußes‘) und der narrativen Muster von Kriminalund Detektivgeschichten – so die ‚Schließfachmethode‘, der zufolge Arbeiten in Bibliotheksschließfächern deponiert und deren Codes und Schließfachnummern durch anonyme Botschaften übermittelt wurden.35 Auf diese Weise werden kleine Erzählstrukturen in die Transformationsreihen eingefügt, die den erzählerischen Charakter des gesamten Prozesses unterstreichen und verdichten. Als Erzählung identifizieren nicht nur, wie die Autorinnen nahelegen,36 die Rezipienten die Reihen der Gebilde, die am Ende allen sichtbar werden, sondern bereits die Akteure des Spiels selbst, die das vorgegebene Programm narrativ ausgestalten. 31 32 33 34 35 36

Hufschmid/Schild: Bericht zur Konzeption. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 13 f. „In der Vorstellung der BetrachterInnen wird ein narratives Skript erzeugt, das die Einzelarbeiten inhaltlich verkettet […]“ (ebd., S. 23).

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Anregungen für den Unterricht Die hier vorgestellten didaktischen Spielmodelle bieten Anregungen für die Gestaltung von unterschiedlichen Lehr-/Lernprozessen im Bereich ästhetischer Bildung, sei es im Schulunterricht der Fächer Bildende Kunst, Musik, Literatur, Theater, sei es in der außerschulischen Bildungsarbeit und in der universitären Lehre. Je nach Ausgangsdisziplin lassen sich unterschiedliche Themen und Genres wählen; im Literaturunterricht mit dem Schwerpunkt Kreatives Schreiben ist z.B. eine Kettendichtung nach dem Prinzip ‚Renshi‘ ebenso realisierbar wie das Verfassen eines Gruppenromans, für den die narrativen Strukturen des STILLE POST-Spiels besonders gute Voraussetzungen bieten.37 ‚Wissensaufladung‘ und Traditionsaneignung gehören selbstverständlich dazu wie das Überschreiten traditioneller Grenzen zwischen den Künsten: So liegt beim Roman die Integration von Bildern und anderen Medien nahe. Interdisziplinarität und Intermedialität sind grundlegende Bestandteile der Modelle. Die mehrfachen Aufforderungen zum intermodalen und -medialen Wechsel, die Provokationen zum Heraustreten aus den gängigen Schablonen und stereotypen Denk- und Handlungsformen durch die Inszenierung des Zufalls und die überraschenden Wendepunkte verhindern das Verharren im Vertrauten und reibungslos zu Bewältigenden. Auch lenken sie die Aufmerksamkeit weg von der verbreiteten Fixierung auf Inhalte und Meinungen hin zu Formen und Strukturen und fördern damit spezifisch ästhetische Lern- und Erkenntnisprozesse. Voraussetzung für solche Projekte ist ein flexibler Umgang mit der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit, deren Eckdaten gleichwohl von Anfang an fixiert werden, wenn sie nicht ohnehin durch institutionelle Vorgaben festgelegt sind. Innerhalb des gesamten Zeitrahmens muss für die Transformationsschritte und Dialoge Zeit sein, sie darf jedoch nicht beliebig dehnbar sein. Punktgenauigkeit gehört wie das Spiel mit Zahlen und mathematischen Formeln zur ästhetischen Gestalt der Modelle. (Ihnen haftet damit etwas Märchenhaftes an; nicht zufällig spielen sie auch mit dem Motiv der letzten Frist, die zugleich die einzig richtige zur Lösung der Aufgaben und Rätsel ist.) Vereinbarungen über die Termine des Austauschs müssen eingehalten werden, sonst kommt das Ganze in ein Stolpern, das künstlerisch nicht mehr produktiv ist. Von der Lehrperson fordert ein solches Projekt, abgesehen vom Entwurf und der sorgfältigen Planung des Spielprogramms, beides: ein hohes Maß an Vertrauen in die automatisierten Abläufe und Offenheit für die möglichen und wünschenswerten Abweichungen und Neuerfindungen der spielenden Gruppe. Die Lernenden wiederum müssen Regeln akzeptieren und sich aneignen, um sie produktiv 37 Experimente mit Gruppenromanen habe ich in den achtziger Jahren durchgeführt (vgl. Mattenklott: Im Labyrinth der Begegnungen).

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weiter zu entwickeln. Herausgefordert zur selbständigen Arbeit, werden sie zugleich durch das Programm geleitet – eine ideale Mischung aus ‚vorbereiteter Umgebung‘ und selbst organisiertem Lernen und Arbeiten.38 Spiele gehören zu den Integrationsphänomenen unserer pluralistischen Gesellschaft. Jedes Kind spielt nicht nur spontan, wobei es für sich selbst seine Regeln erfindet, es lernt auch früh Regelspiele kennen, ob in Bildungsinstitutionen und in der Familie, ob zuweilen noch traditionell im Rahmen spontaner Kinderspielgemeinschaften im Stadtviertel oder Dorf. Schach und andere Strategiespiele, Würfel- und Kartenspiele in ihren vielfältigen interkulturellen Varianten sind in allen Altersstufen und Bevölkerungsschichten präsent. Die Massenmedien vermitteln eine Vielzahl von Spielen zwischen Entertainment und Sportveranstaltung. Vielleicht fördern manche Computerspiele durch ihre inszenierte virtuelle Gewalthaftigkeit reale, physische Gewalttätigkeit, aber auf jeden Fall ermöglichen sie die Einübung in komplexe Regelsysteme, in das kalkulierende Spiel mit dem Zufall, in den Umgang mit Spielfiguren und in narrative Handlungsstrukturen, die aus Märchen, Fantasy, Detektiv-, Kriminal- und Abenteuerroman abgeleitet sind. Dieses gemeinsame Spielrepertoire und die vielfältigen Spiel-Erfah­ rungen, die jede/r in eine Lerngruppe mitbringt, bieten gute Voraussetzungen für einen Unterricht, der auf einem Regelwerk basiert und die eigene ästhetische Aktivität fördern will. Die Delegation der Lehr-Autorität an die Spielregel, die Entlastung durch festgelegte Schritte, die Impulse, die von den Arbeiten der Mitschüler bzw. -spieler ausgehen, das Miteinanderspielen (einander zuhören, hinschauen, aufeinander reagieren), dazu die Freiräume für den individuellen und experimentellen Ausdruck und das selbständige Handeln – dies alles sind große pädagogische, psychologische und fachliche Vorzüge des Transformationsspiels. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass der zeitlich abgesteckte Spielrahmen es den Lernenden erlaubt, die Zeit, die sie mit dem Spiel verbringen werden, nicht nur in abstrakten Wochen-, Monats- oder Semesterangaben zu überschauen, sondern sie von vornherein als Gestalt wahrzunehmen. Der Grundriss des Unterrichts ist ein geordnetes Spielfeld; im Fall der STILLEN POST sind es die rotierenden Kreise. Er ist auch als Schachbrett, als Diagramm für Mühle, Hüpfspiel, Monopoly oder Mensch-ärgere-dichnicht vorstellbar, um nur einige Beispiele zu nennen. In jedem Fall bildet er eine Figur mit ihren Symmetrien, statischen und dynamischen Linien, geometrischen Formen, ihren Bewegungsmustern und Haltepunkten – ein ästhetisches Gebilde. Der Lernende verliert sich nicht, wie Adolf Reichwein über den traditionellen Unterricht schreibt, „auf der endlosen Straße eines 38 Die hier vorgestellten aus der künstlerischen Praxis abgeleiteten Modelle haben manche Gemeinsamkeit mit der didaktischen Konzeption des „Selbst organisierten Lernens“, jedoch ist ihre Sprache eine davon grundsätzlich verschiedene.

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‚punktuellen‘ Unterrichts“, noch fühlt er sich „in seinem Könnensbewußtsein durch die Bilder eines ungruppierten und ungeformten Einzelwillens erdrückt“.39 Die Spielstruktur ist sinnlich wahrnehmbar und orientierend, aber abstrakt genug, um eigenen Phantasien Raum zu lassen und Eingriffe in das Regelwerk zu ermöglichen. Mit ihr wird der Unterricht selbst zur Kunstform. Den Inhalten künstlerischer Lehre auf welchem Niveau auch immer bleibt ihre didaktische Gestaltung nicht mehr äußerlich. Mit gutem Recht lässt sich dann von ‚Lehrkunst‘ sprechen.40

Literatur Arburg, Hans-Georg von; Gamper, Michael; Stadler, Ulrich (Hg.): „Wunderliche Figuren“. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001. Arburg, Hans-Georg von: Dämonische Signaturen aus dem Tintenfaß. Justinus Kerners Klecksographien und die ‚Zufallsbilder‘ der Natur. In: Hans-Georg von Arburg; Michael Gamper; Ulrich Stadler (Hg.): „Wunderliche Figuren“. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001, S. 43-67. Artmann, Carl Hans.; Ooka, Makoto; Pastior, Oskar; Tanikawa, Shuntaro: Vier Scharniere mit Zunge. Renshi-Kettendichtung. München 1988 [unter Mitwirkung der Übersetzer Hiroomi Fukuzawa und Eduard Klopfenstein]. Bätzner, Nike; Kunstmuseum Liechtenstein (Hg.): Kunst und Spiel seit DADA. Faites vos jeux! Katalog. Ostfildern-Ruit u.a. 2005. Becker, Jürgen; Christensen, Inger; Ooka, Makoto; Zagajewski, Adam: Renshi. In: Sinn und Form 1, 2000. S. 82-94. Bénabou, Marcel; Roubaud, Jacques: Qu’est-ce que l’Oulipo?, http://www.oulipo.net/oulipiens/O [Stand: 02.03.2008]. Berg, Hans Christoph; Schulze, Theodor: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied u.a. 1995. Bernhart, Toni; Gröning, Gert (Hg.): Hand Schrift Bild. Berlin 2005 [= Paragrana Beiheft 1]. Bittner, Jörg: Wolken, Mauern und Schwämme. Leonardo und die natürlichen Hilfsmittel visueller Kreativität. In: Hans-Georg von Arburg; Michael Gamper; Ulrich Stadler (Hg.): „Wunderliche Figuren“. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001, S. 17-41. Buchhart, Dieter; Fuchs, Mathias (Hg.): Kunst und Spiel I. In: KUNSTFORUM 176, 2005, S. 39-143. – Kunst und Spiel II. In : KUNSTFORUM 178, 2005-2006, S. 36-155. Burgelin, Claude: Esthétique et éthique de l’Oulipo. In: L’oulipo – La literature comme jeu. Magazine littéraire 398, 2001, S. 36-39. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Wien 1982. Calvino, Italo: Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen. München 21984. Chabon, Michael: Sommerland. Aus dem Amerikanischen von Reiner Pfleiderer. München, Wien 2004. Cramer, Florian: Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts. Diss. Berlin 2006 [im Druck: erscheint München 2009].

39 Reichwein: Schaffendes Schulvolk, S. 205. 40 Vgl. u.a. Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts; Berg/Schulze: Lehrkunst; Mattenklott: Grundschule der Künste, S. 53-96.

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Vom Spielen und Lernen 1. Was ist Spiel? Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist all diesen gemeinsam? – Sag nicht, „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘“ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! […] Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – „Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff ?“ – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?

Nimmt man sich nur wenige Minuten Zeit und notiert, was einem spontan zum Thema ‚Spiel‘ einfällt, wird deutlich, wie umfangreich und facettenvoll die Kategorie Spiel ist. Aspekte, die immer wieder bei einem kurzen Brainstorming oder einer ‚stillen Schreibassoziation‘ zum Thema genannt werden, sind beispielsweise: Wettbewerbscharakter, Kommunikation und Interaktion, Spaß und Unterhaltung, Wissen und Lernen, Glück und Zufall, Regeln und Ziel. Diese spontan geäußerten Aspekte verweisen bereits auf wesentliche Aspekte des Spiels. Selbstverständlich sind die hier genannten Aspekte nur als Merkmale einzelner Spiele zu sehen und müssen keineswegs verbindlich für alle Spielformen gelten. Wie komplex die Bedeutung des Begriffs ‚Spiel‘ ist und welch weites Feld der Ausdruck ‚Spiel‘ abdeckt, zeigt sich schon darin, dass  



Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 56 ff. Schweigende Schreibassoziation: Malt einen [...] Assoziationsigel auf große Plakate und beschriftet diesen mit euren Gedanken und Einfällen. – Legt ein Plakat auf einen Tisch, um den ihr im Kreis herumlaufen könnt. Jeder von euch nimmt sich einen Stift. Geht um den Tisch herum und schweigt dabei! Keiner sagt ein Wort! Bringt schreibend – bei absolutem Schweigen – in Form von Wörtern, Sätzen, Fragen, Versen, Zeichnungen, Symbolen alles zum Ausdruck, was euch zu den Begriffen im Assoziationsigel einfällt (vgl. Jentges: Literaturkartei: Die Physiker, S. 60). Vgl. hierzu auch die Ergebnisse einer ähnlichen Befragung von Mogel: Psychologie des Kinderspiels, S. 3 ff.

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der deutsche Begriff ‚Spiel‘ im Gegensatz beispielsweise zum Englischen nicht zwischen ‚game‘ und ‚play‘ unterscheidet. Allein im Universalwörter­ buch des Dudens finden sich zwölf Bedeutungsvarianten des Begriffs ‚Spiel‘; bei Grimm sind es auf insgesamt 106 Seiten zu den beiden Wörtern „Spiel“ und „spielen“ jeweils 27 Lesarten. Die Vielzahl der Spieltypen, -arten, -mittel usw., die im Deutschen unter dem Oberbegriff ‚Spiel‘ zusammenzufassen sind, vermittelt einen Eindruck von der Unmöglichkeit einer interdisziplinären Definition des Spiels oder auch nur der Bestimmung einzelner Merkmale der Kategorie Spiel. Während es unerreichbar scheint, eine wissenschaftlich begründete und zutreffende grundsätzliche Definition für Spiel aller Art aufzustellen, wird Spiel im alltäglichen Leben sofort als solches erkannt, wobei meist intuitiv beurteilt wird, was Spiel ist und was nicht. Spiel ist zwar ein vielschichtiges, aber auch ein überall zu findendes und allgemein bekanntes Phänomen, über das jeder gewisse Vorkenntnisse und Erfahrungen besitzt. Zwischen unserem oft mühelos intuitiven Begreifen dessen, was Spiel ist, und den Schwierigkeiten der Wissenschaft, diese Erscheinung endgültig zu klären, besteht eine Diskrepanz. Miller (1973, 88) demonstriert anhand einer Beobachtung von Zoobesuchern, die übereinstimmend ein bestimmtes Verhalten der Tiere als Spiel bezeichnen, dann aber, nach dem Grund ihrer Einordnung befragt, oft keine Erklärungen geben können, daß es vielleicht doch von der Wissenschaft bisher noch wenig berücksichtigte Signale gibt, die die Botschaft ‚this is a play‘ Mitspielern und Zuschauern vermitteln.

Offensichtlich sind wir – unabhängig von allen wissenschaftlichen Schwierigkeiten hierbei – in der Lage, ein Spiel als solches zu erkennen, aber Kriterien für diese Einordnung zu benennen, fällt uns schwer. In Anbetracht der Komplexität der Erscheinung ‚Spiel‘ und der Mehrschichtigkeit und Uneinheitlichkeit wissenschaftlicher Definitionsansätze und Theorien zum Spiel, kann es in einem didaktisch-orientierten Beitrag nur von Nutzen sein, den Blick auf Erscheinungsformen des Spiels zu richten, die tatsächlich für den 

  

„Ein kleines Kind kann spielen, indem es die Rolle einer Reihe verschiedener ‚signifikanter Anderer‘ spielt, aber solange es die Struktur der Regeln des Spiels nicht durchschaut hat, die das Spiel (game) zu dem macht, was es ist, solange es sich nicht im Sinne der ‚Schiedsrichterperspektive‘ [...] verhalten kann, spielt es nur (play), es spielt aber noch kein Spiel (game).“ (Moore und Anderson, zitiert bei Kleppin: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 10) – Allerdings wird ‚play‘ auch für die Bezeichnung szenischer Spielformen benutzt, die durchaus an Regeln gebunden sein können. Klippel zählt dann auch Spiele, die die Übernahme oder Gestaltung einer Rolle erfordern (Rollenspiele), und solche, die mit dem gestaltenden und experimentierenden Umgang mit Materialien verknüpft sind (experimentierend-gestaltende Spiele), zu den ‚weniger stark regelgebundenen Spielformen‘ des ‚play‘ (Klippel: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 93). Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Zehnten Bandes erste Abtheilung (X, I), S. 22752385. Kleppin: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 4 f. Steinhilber schreibt hierzu: „Liest man zehn Spieltheoretiker, so hat man nahezu ein Dutzend Spieldefinitionen mit jeweils unterschiedlichem theoretischen Hintergrund.“ (Steinhilber: Didaktik des Spiels im Fremdsprachenunterricht, S. 7).

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Einsatz von Spielen im Unterricht in Betracht kommen. Hierzu sei nochmals die Unterscheidung zwischen ‚play‘ und ‚game‘ im Englischen angesprochen, denn wie schon Klippel anmerkt, ist ein Teil der in der deutschsprachigen Spielforschung herrschenden Begriffsunklarheit auf diese im Deutschen fehlende Unterscheidung zurückzuführen: Schon die englische Lexikondefinition zu beiden Begriffen deutet den wichtigen Unterschied an: „games … organized play according to rules, usually competitive“; „play … any activity done for the pleasure it gives“ (Garmonsway 1972). Die Bedeutung der Spielregeln ist beim ‚game‘ ungleich größer als beim ‚play‘. Da die Frage der unterschiedlichen Begriffsinhalte von ‚play‘ und ‚game‘ auch in der englischsprachigen Fachliteratur bisher kaum beachtet wurde, ist diese Beziehung schwierig zu skizzieren. Für die Behandlung der im Unterricht verwendeten Spielformen ist eine Abgrenzung zwischen freiem und Regelspiel jedoch von größter Bedeutung. Während sich die Kinderspielforschung in überwiegendem Maße mit ‚play‘ beschäftigt, falls überhaupt eine begriffliche Festlegung getroffen wird, ist für den geplanten Einsatz in der Schule hauptsächlich das Regelspiel wichtig.

Nicht nur für den Einsatz in der Schule, sondern generell für den Einsatz von Spielen im Unterricht, ist die Spielform ‚game‘ relevant. Gemeint sind Formen des Regelspiels, die Wettbewerbscharakter haben, sowohl Wissen einbeziehen als auch einen Glücks- bzw. Zufallsfaktor beinhalten, die Kommunikation und Interaktion berücksichtigen, die Spaß machen und unterhalten sollen und natürlich neben einem Spielziel ein unterrichtliches Lernziel verfolgen. Aber auch Formen des ‚play‘ können im unterrichtlichen Kontext zum Einsatz kommen, nämlich im Sinne von Rollen-, Improvisations- und szenischen bzw. In-Szene-setzenden-Spielen. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die genannten Formen des ‚play‘ im unterrichtlichen Kontext immer auch Regeln einbeziehen werden und müssen, so dass es sich auch hier durchaus um Formen des ‚game‘ bzw. Mischformen von ‚game‘ und ‚play‘ handelt, wie auch in dem diesen Beitrag abschließenden Unterrichtsvorschlag zu sehen sein wird.

2. Spiel in kulturhistorischen und spieltheoretischen Auseinandersetzungen Hinsichtlich der Einstellung der Spielenden dem Spiel bzw. der Spielform – insbesondere aber auch dem Spiel als Lernaktivität – gegenüber stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus kulturhistorischen und spieltheoretischen Betrachtungen für den Einsatz von Spielen im Unterricht ergeben. Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit verfolgt, es wird lediglich  

Klippel: Spieltheoretische und pädagogische Grundlagen des Lernspieleinsatzes im Fremdsprachenunterricht, S. 48. Zur Begrifflichkeit vgl. Jentges: Von Physikern, alten Damen und Mitmachern, S. 518 ff.

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versucht, die grundlegenden Positionen zu Möglichkeiten und Grenzen des Spiels spezifiziert für dessen Einsatz im Unterricht herauszuarbeiten. Spiele gibt und gab es in allen Epochen und Kulturen.10 Man denke beispielsweise an eines der berühmtesten Brettspiele, das Schachspiel, aus der arabischen Kultur,11 das Senet-Spiel12 der Ägypter, das als Ursprung des Backgammons anzusehen ist, das aus China stammende Mah-Jongg,13 das ostasiatische Spiel Go14 und die afrikanischen und arabischen MancalaSpiele.15 Als aktuelles Beispiel könnte das 1998 in Großbritannien erstmals ausgestrahlte, inzwischen in über 100 Länder exportierte und überaus erfolgreiche Fernsehquiz ‚Who Wants to Be a Millionaire‘ (‚Wer wird Millionär‘) genannt werden. Ein kurzer Blick in kulturhistorische Betrachtungen zum Spiel vermag weiter zu illustrieren, dass es nicht nur Spiele, sondern auch Auseinandersetzungen mit dem Spielverhalten der Menschen immer und überall gab bzw. gibt. Huizinga und Elkonin weisen beispielsweise auf die variierende Bedeutung des Begriffs in den unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen hin.16 Bei den Griechen ist Spiel eine kindliche Handlungsweise, die sich sinngemäß als Sich-Kindereien-Hingeben übersetzen lässt.17 Das Griechische zeigt hierbei einen Zusammenhang, der aus germanischen Sprachen nicht bekannt ist: Aus der griechischen Wortwurzel pais (= Kind) entfalten sich zum einen paidia, was Spiel bedeutet, und zum anderen paideia, mit der Bedeutung Erziehung bzw. Bildung.18 In der hebräischen Tradition bedeutet 10 Roberts/Arth/Bush: Spieltypen und Gesellschaftsformen, S. 76. 11 Aus dem Persischen, vgl. schah = König. 12 Bei dem im alten Ägypten verbreiteten Senet-Spiel versuchten zwei Spieler das Ende des Spielplans (mit drei Mal zehn Feldern) als Erster mit allen Spielsteinen zu erreichen. Die Römer übernahmen das Spielprinzip, welches sich im Laufe der Zeit zum Backgammon wandelte. 13 Mah-Jongg ist ein altes chinesisches Gesellschaftsspiel mit Spielsteinen, aus denen bestimmte Bilder zusammengestellt werden müssen. Der Name des Spiels (ma-tsiang) bedeutet übersetzt ‚Spatzenspiel‘ und ist die Bezeichnung eines auf einem Spielstein abgebildeten Vogels, eines Sperlings. 14 Das besonders in Japan beliebte Brettspiel ist ein Strategiespiel, dessen Grundidee die Er­ oberung möglichst großer Gebiete ist. 15 Mancala (von arab.: naqalah = bewegen) ist der Oberbegriff für bestimmte Spiele, die, meist von zwei Personen, vor allem in Afrika und Asien gespielt werden. Charakteristisch ist, dass bei ihnen Spielstücke, die in Mulden liegen, umverteilt werden. Im englischen Sprachraum heißen diese Art Spiele auch Pit and Pebble Games (dt.: Gruben-und-Kieselstein-Spiele) oder Count and Capture Games (dt.: Zählen-und-Fangen-Spiele). In Deutschland werden sie traditionell als Bohnenspiele bezeichnet. 16 Huizinga geht sehr ausführlich auf die verschiedenen Bezeichnungen für Spiel im Griechischen, im Sanskrit, im Chinesischen, bei den Indianern, im Japanischen und in den semitischen, romanischen und germanischen Sprachen ein (vgl. Huizinga: Homo Ludens, S. 37ff.). 17 Vgl. u.a. auch Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 10. 18 Vgl. u.a. Podewils: Vorbemerkung, S. 7 sowie Vonessen: Vom Ernst des Spiels, S. 23.

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die (aus der Wurzel la’ab stammende) Bezeichnung sahab: zu scherzen und zu lachen, ähnlich das Arabische la’iba, das neben Spielen im Allgemeinen auch Zum-Narren-Halten umfasst.19 Bei den Römern bedeutet Spiel (ludus) Freude und Heiterkeit. Das Mittelhochdeutsche meint mit spilen zunächst eine Tanzbewegung, nachfolgend auch Scherz treiben und Vergnügen.20 Im Laufe der Zeit begann man in europäischen Sprachen viele Handlungen des Menschen als Spiel zu bezeichnen, in der Regel solche, die nicht schwere Arbeit sind sowie Freude und Vergnügen bereiten.21 Natürlich ist auch das Kinderspiel bereits aus der Antike überliefert, so spielten griechische Kinder z.B. Tauziehen und Königsein und die Kinder der Römer haben Blinde Kuh gespielt.22 Platon23 hat sich veränderndes Kinderspiel mit gesellschaftlicher Entwicklung in Verbindung gebracht. Er wollte einen Zusammenhang zwischen der Erziehung zur Spielfähigkeit und der Stabilität staatlicher Gesetze erkannt haben. So heißt es bei ihm, daß die Kinderspiele beim Erlaß von Gesetzen von entscheidendem Einfluß sind, ob diese bleibende Dauer haben oder nicht. Denn wenn ihre Ordnung so festgelegt ist, daß immer dieselben Leute auf dieselbe Weise an denselben Spielen teilnehmen […], so gibt das auch den Gesetzen über ernstere Dinge einen ruhigen Fortbestand.24

Die Kinder sollten im Spiel die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft verinnerlichen. Veränderungen bei den Spielen weisen für ihn auf gesellschaftliche Umstrukturierungen hin und dürften deshalb nicht bagatellisiert werden.25 Bereits Platon sieht also im Spiel der Kinder dessen Sozialisationscharakter, es wird mit erzieherischen Funktionen und somit zur geistigmoralischen Entwicklung des Menschen eingesetzt. Auch Aristoteles setzte sich mit den sozialen und erzieherischen Werten des Spiels auseinander. Er erkannte im Spiel Erholungswert und in Ambivalenz zur Arbeit seine heilenden Kräfte: „Das Spiel ist eine Art von Erholung, und der Erholung bedürfen wir, weil wir nicht ununterbrochen arbeiten können.“26 Hier findet sich also der Gedanke, dass Arbeit mit Mühe und Anstrengung gleichzusetzen ist, Spiel jedoch der Unterhaltung und somit der Erholung dient. Er folgert, „daß man dem Spiele nur mit Beobachtung der rechten Zeit seiner Anwendung Raum geben darf, indem man 19 20 21 22 23

Vgl. Huizinga: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 45. Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 865. Vgl. Elkonin: Psychologie des Spiels, S. 22. Vgl. Huizinga: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 39. Von Platon in seinem Dialog Phaidros überliefert ist übrigens eine Geschichte, in der es heißt, die Menschen verdankten das Spiel dem göttlichen Kulturbringer Theuth, der neben Zahlen und Rechnen, Geometrie und Schrift auch die Spiele erfunden habe (vgl. Platon: Phaidros, S. 258 (274c)). 24 Platon: Die Gesetze, S. 272 (797A). 25 Vgl. ebd., S. 272 ff. (797A-798D). 26 Aristoteles: Nikomachische Ethik X,6, zitiert bei Vonessen: Vom Ernst des Spiels, S. 20.

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es wie eine Medizin gebraucht“.27 Dieser Gedanke von Aristoteles findet sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem monothematischen Erklärungsansatz zum Spiel, der so genannten Erholungstheorie, bei Julius Schaller (1861)28 und Moritz Lazarus (1883)29 wieder. Diese Deutung des Spiels beschreibt vor allem das Spiel als unterhaltende Tätigkeit von Erwachsenen und weniger das Kinderspiel.30 Aristoteles differenziert dann auch zwischen dem Spiel der Kinder und dem der Erwachsenen, indem eingeräumt wird, dass Kindern eine ‚kurzweilige Beschäftigung‘ wie das Spiel angemessen sei.31 Erziehung oder gar Bildung vermittelt mit Hilfe von Spiel schließt er jedoch aus: „Beim Lernen spielt man nicht. Lernen tut weh“32 und thematisiert hiermit weiter einen Gegensatz nicht nur von Spiel und Ernst bzw. Arbeit, sondern auch von Spiel und Lernen, der über die Jahrhunderte hinweg von verschiedensten Positionen aufrecht gehalten wird. Der römische Lehrmeister Quintilian befasste sich bereits im ersten Jahrhundert nach Christi mit Spielen im Kontext von Lernen. Er entwickelte eine Art Programm zum frühen Lesenlernen und begann mit dem Üben des Alphabets. „Quintilian riet auch, den Kindern Buchstaben aus Elfenbein oder in Form von Backwerk zu geben […], damit sie sich daran spielerisch das Aussehen der Buchstaben einprägen könnten.“33 Schon Quintilian setzt seine Spielmaterialien mit Wettkampfcharakter ein. Er veranstaltete Wettbewerbe und Ausscheidungskämpfe, bei denen es 27 Aristoteles: Nikomachische Ethik X,6, zitiert bei Retter: Einführung in die Pädagogik des Spiels, S. 8. 28 Schaller deutet in seiner Abhandlung Das Spiel und die Spiele Spiel als lustbetonte und erholsame Tätigkeit, die im Gegensatz zum Ernst des Lebens, zur Arbeit, stehe. „Schaller vertrat die These, daß bei Ermüdung des ganzen menschlichen Organismus dem Schlaf die Funktion der Erholung zukomme; wenn aber nur einzelne Bereiche ermüdet seien, das Spiel diese Funktion besitze“ (Retter: Einführung in die Pädagogik des Spiels, S. 8). 29 Wie für Schaller ist Spiel auch für Lazarus Erholung und Lustgewinn. In seinem Buch Über die Reize des Spiels sieht er dieses als eine „freie, ziellose, ungebundene sich selbst vergnügte Tätigkeit, [welche] zu sich selbst zurückkehrt, zu keinem Ziele hinstrebt“ (Retter: Einführung in die Pädagogik des Spiels, S. 9). 30 Noch vor Schaller und Lazarus greift auch der englische Philosoph John Locke 1693 den Aspekt der Erholung und Zerstreuung durch das Spiel auf, allerdings präzisiert auf das Kinderspiel (vgl. u.a. Hering: Spieltheorie und pädagogische Praxis, S. 11; Scheuerl: Das Spiel: Theorien des Spiels, S. 16 ff.). Locke bringt das Spiel allerdings auch zum Lernen ein, er begründet: „For a Child will learn three times as much when he is in tune, as he will with double the Time and Pains, when he goes awkwardly, or is drag’d unwillingly to it. If this were minded as it should, Children might be permitted to weary themselves with Play, and yet have Time enough to learn what is suited to the capacity of each Age“ (Locke: Some Thoughts Concerning Education, S. 113, zitiert bei Klippel: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 61). 31 Vgl. Retter: Einführung in die Pädagogik des Spiels, S. 9. 32 Aristoteles: Nikomachische Ethik X,6: 1339a, 28, zitiert bei Vonessen: Vom Ernst des Spiels, S. 20. 33 Giebel: Lernen für die Schule oder fürs Leben, S. 3.

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Sieger und Plazierte gab,34 in seinen Klassen. Er geht davon aus, dass ein Wettkampf den Lerneifer stärkt und mehr Spaß macht als Belehrungen durch Erwachsene. Ähnliche Gedanken zum Einsatz von Lernspielmaterial finden sich später z.B. auch bei Erasmus von Rotterdam35 und Comenius.36 Quintilian will den Kindern Lust am Lernen vermitteln und somit motivieren, den Anreiz zu lernen sucht er in der kindlichen Welt und findet ihn im Spiel. Diese Position wird z.B. von den Philanthropen wieder aufgegriffen, die den Spieleinsatz beim Lernen ebenfalls mit Motivation und Lernerleichterung begründen. Bei ihnen findet sich auch ein Gedanke, der bereits von Comenius aufgegriffen wurde, nämlich dass das Spiel der Schaffung von Lernsituationen dient, in denen quasi nebenbei gelernt wird.37 So sehen auch Philanthropen wie Salzmann, Trapp und GutsMuth im Kinderspiel nicht nur eine Form der Unterhaltung gegen Langeweile, die den Unterricht erleichtern kann, das Spiel soll darüber hinaus die Kinder unbemerkt zum Lernen führen.38 Dieser kursorische Überblick lässt deutlich werden, wie heterogen die Auffassungen über das Spiel in der Kulturgeschichte waren, und zeigt gleichzeitig, dass Spiel bei Menschen aller Kulturen beobachtet werden kann. Spiel kann somit als eine wesentliche und elementare Verhaltenseigenart des Menschen gesehen werden.39 Darüber hinaus zeigt sich, dass das Spiel, insbesondere das Kinderspiel, schon früh nicht nur mit erzieherischen Aspekten, sondern auch mit denen der Lernförderung in Verbindung gebracht wird und bereits hier in Form eines Wettbewerbscharakters auftritt. Außerdem verweisen schon die drei hier ausführlicher dargestellten Positionen aus der Antike (Platon, Aristoteles und Quintilian) auf grundle34 Quintilian weist übrigens auch darauf hin, dass die Wettbewerbe wiederholt werden, damit sich „Besiegte“ nicht entmutigt oder frustriert fühlen (vgl. Giebel: Quintilian – Ein römischer Schulmeister im Licht der modernen Pädagogik, S. 5). 35 Erasmus von Rotterdam berichtet von einem mit Buchstaben bemalten Bogen und ebenfalls mit Buchstaben bemalten Pfeilen, die er von seinem Vater erhielt, der ihn damit auf ein Ziel schießen ließ, das zunächst aus griechischen, danach aus lateinischen Buchstaben bestand. „Traf der Knabe und nannte er den Buchstaben, erhielt er außer der Belobung eine Kirsche oder sonst etwas, das Kindern Freude macht. Ein solches Spiel ist noch nutzbringender, wenn man zwei oder drei Spielgenossen, die einander gewachsen sind, zu gemeinsamen Wettstreit hinzuzieht; denn in diesem Fall macht sie die Hoffnung zu siegen oder die Furcht zu unterliegen aufmerksamer und reger“ (Erasmus: Ausgewählte pädagogische Schriften, S. 152, zitiert bei: Grond: Lernspielmaterialien für die Vorschulerziehung, S. 18). 36 Comenius entwickelte ein aus fünf Würfeln bestehendes Würfelalphabet, das „vom Erlernen der Einzelbuchstaben und -laute zum Zusammensetzen von Silben und Wörtern [führt]. Eine spielerische Komponente gewinnt das Würfelspiel durch den Wettstreit beim Einsatz in der Kindergruppe“ (Grond: Lernspielmaterialien für die Vorschulerziehung, S. 19). 37 Vgl. Klippel: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 63 ff. sowie S. 89. 38 Vgl. u.a. Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 12; Scheuerl: Das Spiel: Theorien des Spiels, S. 24 ff.; Klippel: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 63 ff. 39 Vgl. u.a. Fell: Die neue Spiel-Geselligkeit, S. 143; Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 14.

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gende Gedanken zum Spiel, die sich in den verschiedensten Ansätzen und Theorien zum Spiel von der Antike bis zur Gegenwart40 verfolgen lassen. Es muss unterschieden werden zwischen dem Kinderspiel, das unter verschiedensten Gesichtpunkten41 schon seit der Antike als eine dem Kind angemessene Tätigkeit angesehen bzw. akzeptiert wird, und der Thematisierung des Spiels Erwachsener, das durchaus mit negativen Akzenten belegt sein kann. Bei den Römern warnt beispielsweise Juvenal vor der Grausamkeit der Kampfspiele und der Begierigkeit des Volkes, diese zu sehen. Längst schon, seitdem wir unsere Stimmen niemandem mehr verkaufen, hat es [das Volk] jegliches Interesse von sich geworfen; denn einst verlieh es Befehlsgewalt, Rutenbündel, Legionen, alles sonst, jetzt hält es sich zurück und wünscht ängstlich nur zwei Dinge, Brot und Spiele.42

40 Einen sehr kurzen Abriss über Definitionsversuche zum Spiel und Spieltheorien findet man bei Hansen/Wendt (Sprachlernspiele, S. 10 ff.), die darauf verweisen, dass „neben einer Vielzahl monofunktionaler Erklärungen nur selten Versuche einer umfassenden und ausführlichen Definition“ zu finden sind. Zusammenhängende Spieltheorien werden erstmals im 19. Jahrhundert bekannt (vgl. Kilp: Spiele für den Fremdsprachenunterricht, S. 66), wobei die Spieltheorien aber bis heute nur als mehrere, sich gegenseitig ergänzende Denkmodelle zu sehen sind (vgl. Flitner: Spielen-Lernen, S. 23 f.). Über die wichtigsten Spieltheorien des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Klippel (Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 9 ff.) einen Überblick zusammengestellt; spieltheoretische Ansätze seit den sechziger Jahren beschreibt u.a. Hering (Spieltheorie und pädagogische Praxis, S. 20-50; vgl. auch Hansen/Wendt: Sprachlernspiele, S. 11 ff.). Eine historische Darstellung ausgewählter Spieltheorien von der Antike bis hin zu den verschiedenen Spieldeutungen des 20. Jahrhunderts findet sich bei Elóide Kilp. Der Schwerpunkt liegt auf der phänomenologischen Perspektive; neben einer zusammenfassenden Beschreibung liefert sie eine Zusammenfassung der Merkmale des Spiels. Einen guten Überblick über pädagogische Spieltheorien bieten Scheuerl (Das Spiel: Theorien des Spiels sowie Das Spiel: Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen) sowie Retter (Einführung in die Pädagogik des Spiels), für einen Überblick philosophischer Spieltheorien sei auf Grätzel (Der Ernst des Spieles) verwiesen. 41 Verwiesen sei hier neben der bereits erwähnten Erholungstheorie auch auf die Kräfteüberschusstheorie von Herbert Spencer, der Ende der sechziger bzw. Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Spiel unter psychologischen Aspekten beobachtete. Er deutet Spiel als Folge eines Kraftüberschusses beim Kind, als Dramatisierung des Tuns der Erwachsenen. Demgegenüber meint der amerikanische Psychologe Stanley Hall 1904 in seiner Rekapitulationstheorie, der Mensch durchlebe im Spiel primitive Entwicklungsstadien und reagiere sie in dieser Weise ab. Das Spiel befähige Kinder, diese Stadien in abgekürzter Form zu durchlaufen und somit die Entwicklung der gesamten menschlichen Kultur in abgekürzter Form zu rekapitulieren. Harvey A. Carr, ebenfalls amerikanischer Psychologe, meint 1902 in seiner Katharsistheorie, dass Spiel in einer Abreaktion unsozialer Triebe begründet liege, während Carl Groos, Entwicklungspsychologe und Philosoph, 1896/1899 seine Vorübungstheorie aufstellt. Er sieht im Spiel eine Möglichkeit, die mangelnde Instinktausstattung des Menschen auszugleichen. Spiel habe insofern besondere Bedeutung für die kindliche Entwicklung (vgl. u.a. Retter: Einführung in die Pädagogik des Spiels, S. 10 f; Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 13 f.). 42 Juvenal: Satiren, S. 207 ff.

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Auch Tertullian hat in seiner Schrift De spectaculis (Über die Spiele) die Begeisterung des römischen Volkes für die circenses, die (Zirkus)spiele, vor allem aus christlicher Sicht, aufs Stärkste kritisiert.43 Ferner lassen sich auch für Spielverbote zahllose Belege in der Geschichte finden, hier sei lediglich auf ein von Renner genanntes Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum aus dem Spätmittelalter verwiesen. Die Bauern wurden zur Arbeit verpflichtet und durften sich keinerlei Spielen hingeben, um sich nicht vom Arbeiten abhalten zu lassen. Das Spiel war den Herrschenden vorbehalten, denen Arbeit entehrend schien. Ihre Spielform waren Turniere, durch die sie sich auf den Krieg vorbereiteten. […] Volksprediger drohten mit Höllenstrafen, Geistliche warnten das Volk vor dem schlechten Treiben. Die Geistlichkeit wandte sich gegen die Auswüchse des Spiels, das nur zu Gewalt und Streit führe. […] Wer gegen die überall erlassenen Polizeiverordnungen und Spielverbote verstieß, mußte mit drakonischen Strafen rechnen. Im Jahr 1362 verbot man in Straßburg allen, auch den Kindern, das Spiel. 1447 wurden dort Geldspiele mit Turm bei Wasser und Brot bestraft.44

Hier zeigt sich ganz deutlich der bereits genannte, immer wieder in den Mittelpunkt gestellte Gegensatz von Spiel und Arbeit. Darüber hinaus weisen schon die drei antiken Positionen auf zwei Momente hin, die auch Friederike Klippel in ihrer Auseinandersetzung mit spieltheoretischen und pädagogischen Grundlagen zum Lernspieleinsatz im Fremdsprachenunterricht herausarbeitet. Sie bezieht sich hierbei vor allem auf neuere Positionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Zum einen die Einschränkung auf kindliches Spiel, zum anderen der Zwang zur Rechtfertigung spielerischen Lernens. Zwar erkennt man allenthalben an, daß das Spiel ein alle Menschen betreffendes Phänomen sei, doch will man zumeist nur Kindern gestatten, durch Spiele zu lernen. Sicherlich hängt dies mit der alten Gegenüberstellung von Spiel und Arbeit zusammen: Kinder spielen – Erwachsene arbeiten. Auch das zweite Moment ist hiermit verknüpft. Lernen ist im Verständnis vieler Pädagogen mit Arbeit verbunden, deshalb schließen sich Spiel und Lernen ebenso aus wie Spielfreude und Lerneffektivität. Schon Locke begründet seine Vorschläge zum spielenden Lernen damit, daß der Zögling im Spiel mehr lerne, als wenn er dazu gezwungen werde. [Daher] müssen Zweifel an der Wirksamkeit spielerischer Lernformen ausgeräumt werden. Man erwartete vom Spiel, daß es 43 Ihre Warnungen wurden jedoch lange nicht gehört. „Die Kampfspiele wurden immer grausamer und die Menschen immer begieriger, sie zu sehen. Im Jahre 107 n. Chr. mussten allein im Colosseum in Rom 10.000 Gladiatoren gegeneinander antreten. Erst Ende des 4. Jh. n. Chr. gab es keine Gladiatorenkämpfe mehr. Kaiser Konstantin hatte den Zusammenhang zwischen der Verrohung des Volkes und den ‚Spielen‘ erkannt und sie im Jahre 326 verboten“ (Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 10 f.). 44 Kurze Zeit später finden sich allerdings gegenteilige Belege, wie auch Renner berichtet: „Mit dem durch den Welthandel entstehenden steigenden Wohlstand der oberen Schichten eroberte sich das Spiel wieder einen festen und gesicherten Platz. Feste und Spiele gehörten wieder zum Alltag. Das ging sogar soweit, dass 1534 in Basel ein Erlass erging, dass wenigstens während der Gottesdienste nicht gespielt werden solle.“ (Renner: Spieltheorie und Spielpraxis, S. 11).

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im Bereich des Leistungserwerbs mit traditionellen Unterrichtsmethoden konkurrieren kann und zusätzlich Gewinne in bezug auf Motivation und Sozialverhalten bringt. Diese Erwartungshaltung illustriert das immer noch bestehende Misstrauen gegenüber lustbetonten Tätigkeiten in der Schule. Die Vorstellung, daß Lernen eine ernste Angelegenheit sei und daß Arbeit mit Mühe verbunden ist, verhindert weitgehend […] die Ansichten jüngerer Spieltheoretiker45 über den ähnlichen Charakter von Spiel und Arbeit, dessen Hauptunterschied wohl überwiegend in der Einstellung des Handelnden und nicht in den Merkmalen der Tätigkeit selbst begründet liegt […].46

Es zeigt sich also, dass in spieltheoretischen Positionen über die Jahrhunderte hinweg bis heute das Lernen mit Spielen schon für Kinder umstritten ist, dies muss in noch größerem Maße für den Unterricht mit Jugendlichen (oder gar Erwachsenen) angenommen werden. Der Grund hierfür ist in der bereits bei Aristoteles beschriebenen Annahme zu finden, dass das unterhaltende Spiel einen Gegensatz zur anstrengenden Arbeit darstelle und darüber hinaus Lernen nicht mit Spaß, sondern mit Anstrengung und somit mit Arbeit gleichgesetzt wird. Die Befürworter des Lernspieleinsatzes sehen in ihm eine Chance, Kinder durch lustvolles Lernen zu motivieren und auch die Lerneffizienz zu steigern. Darüber hinaus werden mit Spielen, wie schon bei Platon, sozialisierende Aspekte verbunden. Dies gilt auch für die neuere Spielpädagogik,47 die verstärkt soziale Ziele verfolgt und den Lernspieleinsatz auf dieser Basis begründet.48 Diese erzieherischen Funktionen beim Spieleinsatz können aber nur begrenzt für einen im fachlichen Sinne lerneffizienten, unterrichtlichen Einsatz gelten. Ein lustvolles und motivierendes Lernen allerdings sollte immer und selbstverständlich auch im schulischen Rahmen wünschenswert sein. Doch selbst wenn dies durch den Einsatz von Spielen gelingen würde, können die oben von Klippel genannten Zweifel nur ausgeräumt werden, wenn nachgewiesen ist, dass der Leistungserwerb mit Spielen mit traditionellen Unterrichtsmethoden ‚konkurrieren kann‘.

45 Gemeint ist hiermit die beispielsweise von Portele (Arbeit, Spiel und Wettbewerb) und SuttonSmith (Forschung und Theoriebildung im Bereich von Spiel und Sport) vertretene Position, dass eine Abtrennung von Spiel und Arbeit nicht aufrechterhalten werden könne, da beide Begriffe kulturabhängig seien und somit bestimmte Wertungen erführen. Jede Tätigkeit könne sowohl Spiel als auch Arbeit sein und die Haltung des Tätigen zu seiner Tätigkeit bestimme stärker deren Definition als Spiel oder Arbeit als deren Inhalt (vgl. Portele: Arbeit, Spiel und Wettbewerb, S. 118 f.). 46 Klippel: Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht, S. 90. 47 Ebd., S. 95 ff. 48 Ebd., S. 109.

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3. Einstellungen zum Spiel und Lernerfolg In einer von mir durchgeführten, breit angelegten (VP > 100) Untersuchung zur Lerneffizienz von Spielen49 zeigten die Untersuchungsergebnisse, dass kurzfristig mit Spielen besser gelernt wurde; in einer Gruppe sogar signifikant. Mittel- und langfristig blieben die Lernerfolge ohne Signifikantsniveau.50 Bei diesen durchaus positiven, den Spieleinsatz im Unterricht unterstützenden Ergebnissen, die im Übrigen auch die Ergebnisse von Steinhilber51 bestätigen, muss natürlich einschränkend erwähnt werden, dass die Ergebnisse ausschließlich von solchen Personen stammen, die Spielen gegenüber aufgeschlossen waren. Keiner der Beteiligten äußerte in der zu Beginn der Untersuchung durchgeführten Befragung zu Einstellungen dem Spiel gegenüber Bedenken gegen das Spiel als Lernform.52 Bei allen Teilnehmenden kam ein gewisses Interesse oder zumindest eine gewisse Neugierde dem Spiel gegenüber, wie beispielsweise die Aussage des folgenden Versuchsteilnehmenden bestätigt, zum Ausdruck: Ich muss erwähnen, dass man in Finnland beim Unterricht gar keine Sprachspiele spielt, sondern unsere Unterrichtsmethoden irgendwie zielbewusster sind; hauptsächlich werden Grammatikprobleme und semantische Probleme, daneben auch Wörter betont. Man glaubt nicht daran, dass man Sprachen effektiv genug schon von Anfang an lernen kann, wenn man spielt. Deswegen finde ich diesen Kurs so interessant, weil ich keine Vorstellung habe, was ‚Spielend Deutsch Lernen‘ bedeutet. Das Wort Spielen hat im Deutschen mehrere Bedeutungen und wenn ich an

49 Es handelt sich um eine Untersuchung im Bereich Deutsch als Fremdsprache, die im Rahmen von universitären Lehrveranstaltungen für ausländische Studierende an der PhilippsUniversität Marburg in den Jahren 2000 bis 2002 mit über 100 Teilnehmenden durchgeführt wurde, bei der verschiedene Spiele, Spielformen und spielerische Übungen, also sowohl Formen des (regelhaften) ‚play‘ als auch des ,game‘ eingesetzt und in der für Wortschatzvermittlung – basierend auf ‚game‘ -Spielformen – quantitative Ergebnisse erfasst wurden. 50 Was also negativ formuliert bedeutet, dass die zunächst deutlich besseren Lernerfolge mit Spielen sich nicht dauerhaft bestätigten, denn der Vorsprung des mit Spielen mehr Gelernten reduziert sich langfristig. Für genaue Angaben zu den Lerninhalten und Lernerfolgen (Rohzahlenmaterial, statistische Berechnung, Überprüfung von Listeneffekten usw.) und zur Diskussion der Ergebnisse sowie den eingesetzten Materialien, dem Unterrichtsverlauf usw. (vgl. Jentges: Effektivität von Sprachlernspielen, S. 57 ff.). 51 Steinhilber: Didaktik des Spiels im Fremdsprachenunterricht. 52 Die Lehrveranstaltung wurde von allen Teilnehmenden und somit auch von allen an der Untersuchung beteiligten Personen freiwillig besucht. Es war weder eine verpflichtende noch eine Pflichtveranstaltung; es bestand lediglich die Möglichkeit, für die Teilnahme einen ‚Schein‘ und insofern ECTS-Punkte für die Lehrveranstaltungen zu erhalten. Dies hätten die Teilnehmenden jedoch auch in jeder anderen universitären Lehrveranstaltung erhalten können. Durch Titel und Art der Ankündigung muss davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmenden generell eine positive Einstellung zu Spiel und dem Einsatz von Sprachlernspielen hatten. Es würde wohl niemand, der Spiele als Lernform und Vermittlungsweg ablehnt, freiwillig eine Lehrveranstaltung mit dem Titel ‚Spielend Deutsch lernen‘ besuchen.

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‚Spielen‘ in diesem Kontext denke, denke ich Szenisches Spiel. Deswegen bin ich aus Neugier im Kurs. (Anonymes Teilnehmendenzitat)53

Auch die Frage nach ihrer Motivation für die Teilnahme an der Lehrveranstaltung lässt auf positive Assoziationen zum Spiel schließen, wie die folgenden Beispiele zeigen: Finde es super, dass es ein solches Seminar gibt, wo man auch „spielend“ Deutschland näher kennen lernen kann, da Zuhause der Unterricht mehr auf langweilige Theorie und Texte basiert. (Anonymes Teilnehmendenzitat) Ich will mein Deutsch verbessern, aber möchte keinen langweiligen oder anstrengenden Sprachkurs besuchen. Wenn ich mit Spielen lernen kann, ist das bestimmt nicht langweilig und macht Spaß. (Anonymes Teilnehmendenzitat) Durch Spiele kann viel gelernt werden, sie sind ein pädagogisches Werkzeug. Ich will selbst Lehrerin werden. Ich hoffe also, ich verbessere nicht nur mein Deutsch, sondern bekomme auch Anregungen für meinen eigenen Unterricht. (Anonymes Teilnehmerzitat)

Die hier genannten Aspekte, die für den Besuch der Lehrveranstaltung ausschlaggebend waren, wurden immer wieder angegeben. Am häufigsten wurden die Aspekte: Lernen mit Spaß, keine Langeweile und geringe Anstrengung genannt. Aber auch Neugier und z.B. didaktisch-methodische Anregungen wurden mehrfach angesprochen. Darüber hinaus haben die Teilnehmenden auch erwähnt: Abbau von Sprechängsten, neue Leute kennen lernen. Würden nun aber solch positive Lernergebnisse beim Spieleinsatz im Unterricht auch erzielt werden können, wenn Teilnehmende nicht nur nicht an den Einsatz von Spielen im Unterricht gewöhnt sind, sondern ihnen auch kritisch oder gar negativ gegenüberstehen? Eine solche Haltung lässt sich immer wieder dokumentieren, so ist beispielsweise in der erst 2004 erschienenen Fernstudieneinheit zum ‚Spielen im Unterricht‘ nachzulesen: Wir nehmen einfach einmal an, dass Sie gern spielen. Weiter nehmen wir an, dass Sie auch im Fremdsprachenunterricht gern spielen würden. Sie haben jedoch Bedenken – die Ihnen vermutlich auch oft von den Lernenden selbst, deren Eltern, Ihren Kollegen oder Vorgesetzten entgegengebracht werden –, dass in der knapp bemessenen Unterrichtszeit Spiele keinen oder nur wenig Platz haben dürfen, sollen, können …“54

Hier bestätigen sich noch heute existierende Vorurteile gegen den Spieleinsatz im Unterricht. Weiter heißt es: Spiele sollten vor allem Spaß machen und den Unterricht in einer Atmosphäre ablaufen lassen, die frei ist von Angst, Zeit- und Notendruck. Wir wollen Sie ermutigen, den Einsatz von Spielen zu Ihrer eigenen Sache zu machen und die Spielziele 53 Dieses und die folgenden anonymen Teilnehmendenzitate aus der Untersuchung wurden – falls nötig – auf sprachlicher Ebene leicht überarbeitet, die inhaltlichen Aussagen blieben davon selbstverständlich unberührt. 54 Dauvillier/Lévy-Hillerich: Spiele im Deutschunterricht, S. 5.

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Spaß, Empathie, Zusammenarbeit und Kommunikation zu erreichen. Wie Sie sehen werden, haben Spiele aber auch sprachliche Lernziele.55

Wenn die hier genannten Spielziele gleich Lernziele sind, darf es jedoch nicht verwundern, wenn Bedenken gegen das Spiel im Unterricht geäußert werden. Denn wenn die Ziele eines Spiels im Unterricht „Spaß, Empathie, Zusammenarbeit und Kommunikation“ sind und erst in einem Nachsatz „auch sprachliche“, also inhaltliche bzw. fachimmanente Lernziele, genannt werden, haben die Bedenkenträger Recht. Dass schulisches Lernen nach Möglichkeit Spaß machen soll, versteht sich von selbst, wenn aber der Spaß vor dem Lernen steht, ist dies kein fachlicher Unterricht mehr. In diesem Fall haben Spiele wirklich nur den Einsatz als Pausen- und Lückenfüller oder als Belohnung, wie es auch von Stellfeld56 beobachtet wurde, verdient. Belege dazu, dass Sprachlernspiele bis heute sowohl aus Sicht von Lernenden als auch von Lehrenden in solcher Form eingesetzt werden, finden sich zu genüge. Kleppin z.B. schreibt diesbezüglich über die Haltung ihrer Studenten: „Sprachlernspiele werden zunächst nicht als Übungstyp akzeptiert, sondern eben als ‚Spiel, das zwar Spaß macht, bei dem man aber nichts lernt‘ (sinngemäße Äußerung von Studenten am Anfang der Deutschkurse)“.57 Kirst schreibt 2001 zum Einsatz von Computerspielen im Deutschunterricht: Selten können sich alle meine Schüler länger als 15-20 Minuten auf die Abarbeitung einer Übung konzentrieren. Sie machen das aber gerne, wenn sie wissen, dass sie am Ende der Stunde oder nach der Lösung einer gestellten Aufgabe – in einem von mir vorgegebenen Rahmen – spielen dürfen. Für die letzten Minuten einer Unterrichtsstunde akzeptiere ich auch ein Spiel wie „JumpOver“ oder ein „Memory“-Spiel. Denn diese Spiele fördern logisches Denken bzw. die Konzentration. Und beides ist eine wichtige Grundlage für erfolgreiches Lernen.58

Sicher schadet die Förderung logischen Denkens auch im Deutschunterricht nicht, aber warum wird ein Memoryspiel, auch wenn es um ein interaktives Spiel geht, auf die Förderung logischen Denkens reduziert und nicht zum inhaltlichen Lernen genutzt? Warum wird ein solches Spiel nur in den letzten Unterrichtsminuten eingesetzt, wird somit zum Lückenbüßer oder Pausenfüller degradiert? Und warum werden Spiele als Belohnung für eine längere Übung eingesetzt, könnte nicht die eigentliche Übung als Lernspiel gestaltet werden? Hier zeichnet sich deutlich eine Position ab, die vermuten lässt, dass noch heute viele Lehrende den Spieleinsatz nicht ernst nehmen und eine Haltung, die die angebliche und wohl noch immer in den Köpfen vieler Lehrender verankerte Diskrepanz zwischen Spielen und Lernen in der Ge55 56 57 58

Ebd., S. 5. Stellfeld: Zu Schreibspielen als Sprachlernspiele im Fremdsprachenunterricht, S. 49 ff. Kleppin: Zur Durchführung von Sprachlernspielen, S  143. Kirst: Mit „Schneem@nn“ und „Mobility“ spielend am Computer lernen, S. 42 f.

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staltung des Unterrichts widerspiegelt. Kein Wunder also, dass auch viele Lernende nach Jahren eines Unterrichts ohne Spieleinsatz oder gar eines solchen, der Spiele ausschließlich dann einsetzt, wenn es nicht um fachliche Lerninhalte geht, diese Bedenken übernehmen. Letztlich ist es mehr als unwahrscheinlich, dass Lernenden das Lernen gelingt mit Hilfe eines Mediums, das nicht als Lernmittel akzeptiert wird. Hierzu sei nochmals auf die bereits erwähnte, von mir durchgeführte Untersuchung verwiesen. Ein höchst interessanter und durchaus aussagekräftiger Punkt ist, dass die Gruppe, für die langfristige Behaltensleistungen vorlagen, im Vergleich zur Gesamtgruppe bessere Lernerfolge und kurzfristige Behaltensleistungen im Spiel hatte, die das Signifikanzniveau erreichten. Dieses Ergebnis lässt die Interpretation zu, dass die vorliegenden Langzeitergebnisse von Studierenden stammen, die besonders gut mit Spielen gelernt haben. Hier muss also ganz deutlich von einer ‚natürlichen Selektion‘ der Versuchsteilnehmenden gesprochen werden.59 Offensichtlich haben Studierende, die besonders gut mit Spielen gelernt haben, nicht nur an der Lehrveranstaltung weiter teilgenommen, sondern dies auch regelmäßiger und konstanter getan. Welches genau die einzelnen Gründe waren, die bei den anderen Studierenden zum Abbruch der Lehrveranstaltung oder zu einer weniger konstanteren Teilnahme führten, sei dahin gestellt. Fest steht jedoch, dass die Gruppe der Studierenden, die dauerhaft und konstant an der Lehrveranstaltung teilgenommen hat und von der somit langfristige Ergebnisse vorlagen, eine Teilgruppe der Gesamtgruppe ist, die vergleichsweise besonders gut mit Spielen gelernt hat. Das heißt, dass die langfristigen Ergebnisse nicht nur solche von Personen sind, die Spielen gegenüber offen sind, sondern, die tatsächlich gut mit Spielen lernen. Die hier gemachten Beobachtungen verweisen deutlich darauf, dass nicht alle Lernenden gleich gut mit Spielen lernen. Lernprozesse sind nun einmal immer von vielen Faktoren abhängig. Berücksichtigt werden müssen ganz individuell für jeden einzelnen Lernenden, welcher Wahrnehmungs- und Lerntyp sie/er ist, in welcher Lerntradition sie/er bzw. ihr/sein Lernen „sozialisiert“ wurde, welche kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen und motivatorischen Hintergründe ihr/sein Lernverhalten beeinflussen und vor allem auch, welche Einstellung sie/er der Lernaktivität gegenüber hat.

59 Dies ist für eine solche universitäre Lehrveranstaltung vollkommen normal. Studierende besuchen zu Beginn des Semesters verschiedene Veranstaltungen und entscheiden sich dann für oder gegen die eine oder die andere. Gründe hierfür können z.B. mehr oder weniger nette Kommilitoninnen im Seminar, gute oder schlechte räumliche Bedingungen, Sympathie oder Antipathie (ob nun auf persönlicher oder fachlicher Ebene) für die Seminarleiterin sein. Entscheidende Gründe hierfür dürften vor allem Interesse am Thema der ersten Sitzungen bzw. des Lehrveranstaltungsprogramms und in diesem Fall wahrscheinlich an der didaktischmethodischen Vermittlungsweise von Lerninhalten sein.

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Würde sich aber die Einstellung dem Spiel als Lernmedium gegenüber ändern, wäre dieses im Unterrichtsalltag präsenter? Würden dadurch auch Lernerfolge beim Spieleinsatz gesteigert? Oder würde der Spaß am Spiel, wie Shakespeare es annimmt, durch einen regelmäßigen Einsatz verloren gehen: „Wenn alle Tage im Jahr gefeiert würden, so würde Spiel so lästig sein wie Arbeit“?60 So stellt sich die Frage, ob das Lernen mit Spielen, würden wir jeden Tag so lernen, genauso lästig wie manche ‚traditionelle‘ Lernform empfunden würde, oder, ob die Freude am Lernen im Spiel beibehalten bliebe, das Lernen also nicht als ‚lästig‘ empfunden, sondern Spiel lediglich bewusster61 als Lernform wahrgenommen würde.

4. Spielerische Elemente für den Umgang mit Literatur im Deutschunterricht Abschließend seien einige Anregungen aufgeführt, wie ein spielerischer Umgang mit literarischen Texten im Unterricht aussehen kann. Hierzu möchte ich einige Aktivitäten vorstellen, die einen Einstieg in eine In-Szene-setzende Arbeit mit literarischen Texten eröffnen. Bei den Aktivitäten handelt es sich also um regelhafte Formen des ‚play‘. Die hier vorgeschlagenen Aktivitäten wurden von mir u.a. mit den Lerngruppen, in denen ich die Effektivitätsuntersuchung zum Einsatz von Spielen im Unterricht durchgeführt habe, erprobt und weiterentwickelt. Um möglichst konkrete Vorschläge zu präsentieren, möchte ich diese am Beispiel eines Textauszuges aus dem Kaukasischen Kreidekreis62 von Bert Brecht vorstellen, die Ak60 Shakespeare: König Heinrich IV, S. 154. 61 Das als zentral angesehene Argument für den Einsatz von Spielen im Unterricht ist der Punkt des unbewussten Lernens, sozusagen: man kann etwas lernen, ohne es zu bemerken. Es drängt sich also die Frage auf, ob Lernende vielleicht zu wenig bewusste Lernanstrengung beim Spiel aktivieren. Wenn Lernende klarer wissen, sie lernen jetzt, setzen sie vielleicht von selbst alle möglichen Strategien ein, um das Gelernte zu behalten. Sie können vielleicht ihren bevorzugten Eingangskanal aktivieren, indem sie sich einen Merkvers basteln als auditive Typen oder ein interaktives Bild als visuelle oder sie könnten es sich als haptische Typen aufschreiben usw. Damit entwickeln sie eine ganz andere Ausgangsposition für ihr Langzeit-Behalten. Wenn sie spielen, tun sie vielleicht weniger, um bewusst zu lernen. 62 Für den Stoff seiner Dramen benutzt Brecht oft literarische Vorlagen, die er zu seinen Zwecken umarbeitet. Dies ist auch beim Kaukasischen Kreidekreis der Fall. Das Thema der Frauen, die beide beanspruchen, die richtige Mutter zu sein, existiert schon in der Bibel. Der weise Salomo bietet an, das Kind mit einem Schwert zu zerschneiden und erkennt die wahre Mutter daran, dass sie ihr Kind nicht verletzen möchte. Brecht bezieht sich auf eine chinesische Variante des Stoffes, das Singspiel von Li Hsing Tau aus dem 13. Jahrhundert, die er 1925 in der Version von Klabund kennen lernt. In Brechts Stück ist die Kreidekreis-Episode Teil eines längeren und komplexeren Theaterstücks mit mehreren Handlungssträngen. In der Rahmenhandlung geht es darum, wie die Entscheidung über einen Streit um die Nutzung eines Stückes Land gefällt werden soll. Während die ursprünglichen Besitzer des Tals wie

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tivitäten lassen sich allerdings leicht auf andere, insbesondere dramatische bzw. dialogische Texte übertragen. 4.1 Spielerisch Brechts episches Theater in Szene setzen Trotz aller Modernität (insbesondere verglichen mit klassischen Dramen) weisen Brechts Stücke Elemente auf, die heutigen Lernenden nur über Umwege als aktuell zu vermitteln sind. So spielen die Handlungen in einer Zeit, die, auch wenn noch keine 100 Jahre vergangen sein mögen, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, die seither stattgefunden haben, vor allem jüngeren Lernenden ungewöhnlich, wenn nicht gar exotisch, erscheinen muss. Brechts bewusst eingesetztes Verfremden und Historisieren, beispielsweise den produktionsorientierten Streit von Bauern um ein Stück Land im Kaukasus oder ein von der Mutter zurückgelassenes Kind in Grusinien, erleichtert Lernenden den Zugang zu Brechts Stoffen nicht unbedingt. Dies ist nur in Gegenüberstellung oder Übertragung möglich, die hier, natürlich über die Thematisierung des Verfremdungseffekts im epischen Theater, geleistet werden muss, um Lernenden einen Zugang und einen Bezug zu den Themen zu eröffnen. Auch scheint auf den ersten





eh und je hier Ziegen züchten wollen, halten Obstbauern den Anbau von Obst für effektiver. Die Kolchosen sehen sich das Stück vom Kreidekreis an. Das Spiel im Spiel: Im Land Grusinien herrschen große Klassenunterschiede und soziale Spannungen. Am Ostersonntag bricht ein Aufstand aus. Der Gouverneur wird hingerichtet und seine Frau muss fliehen, sie lässt ihren kleinen Sohn Michel zurück. Die Küchenmagd Grusche ist mit dem Soldaten Simon verlobt. Am Tag des Aufstandes findet sie das Kind und flieht mit ihm in die Berge. Panzerreiter sind hinter dem Kind her, denn Michel ist Erbe des Gouverneurs und soll getötet werden. Grusche versucht, Michel an einem Bauernhof auszusetzen, damit er etwas zu essen und ein neues Heim bekommt, aber die Leute wollen ihn nicht. Aus Notwehr muss sie einen Panzerreiter niederschlagen. Grusche rettet sich und das Kind, indem sie über einen gefährlichen Gletschersteg entkommt. Sie gelangt an den Hof ihres Bruders und ist eine Weile in Sicherheit, aber dessen Frau ist geizig und will Grusche nicht dort behalten. Auf Anraten ihres Bruders, der Bedenken gegen „ihr“ uneheliches Kind hat, heiratet sie einen angeblich todkranken Bauern, um einen Vater für Michel zu haben. Sobald der Krieg vorüber ist, fühlt sich der Bauer plötzlich wieder kerngesund, denn er hat sich nur krank gestellt, um nicht kämpfen zu müssen. Nach Kriegsende kommt die Gouverneursfrau zurück. Sie sucht das Kind, weil sie nur über Michel die Erbschaft ihres Mannes antreten kann. Der Fall kommt vor Gericht. Als Richter ist der arme Dorfschreiber Azdak eingesetzt worden, der unwissentlich am Tag des Aufstandes den gestürzten Großfürsten als Flüchtling bei sich aufgenommen und somit gerettet hat. Asdak nimmt von den Reichen und begünstigt mit seinen Entscheidungen die armen Leute. Im Fall Grusche entscheidet er mit der Kreidekreisprobe: Die Frau, die Michel aus dem Kreis zu sich ziehen kann, soll gewinnen. Grusche lässt das Kind los, um ihm nicht weh zu tun. Azdak entscheidet daraufhin, dass sie die richtige Mutter ist und Michel behalten darf. Er löst auch ihre Schein-Ehe mit dem Bauern, so dass sie jetzt den zurückgekehrten Simon heiraten kann.

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Blick heute alles anders zu funktionieren, wie Brecht es in seinen Stücken beschreibt: Grusche wäscht im Fluss, man feilscht um den Preis der Herberge, rissige Hände entlarven Grusche als Dienstbotin, sie muss wegen des Kindes heiraten usw. Parallelitäten zur heutigen Lebenssituation der Lernenden und ggf. auch zu Realitäten in Deutschland herzustellen, kann recht aufwändig werden, ist allerdings notwendig, um die Bedeutung und Aktualität der Stücke zu vermitteln. Für den Einsatz der Brecht’schen Stücke im Unterricht ist es wesentlich, den Lernenden Freiraum zu geben, ihre eigenen Erfahrungen mit einzubringen und Übertragungen auf heutige Lebensräume zu ermöglichen. Ingo Scheller macht für Der gute Mensch von Sezuan z.B. den Vorschlag: Damit das gesellschaftliche System Sezuans durchschaubar und nicht nur exotisch gesehen wird, wird der Ort des Geschehens ins heutige Ruhrgebiet verlegt, etwa ins Randgebiet der Stadt Essen, wo aufgrund von Zechenstillegungen die Arbeitslosigkeit in einigen Stadtteilen ein Ausmaß angenommen hat, daß sie die Wohn- und Lebensbedingungen wesentlich beeinflußt. Mieten können nicht mehr gezahlt werden, die Obdachlosigkeit (vgl. die achtköpfige Familie) nimmt zu, der Kleinhandel (hier: Tabakladen) und das Handwerk (der Schreiner) gehen pleite. Neben den wenigen Arbeitsmöglichkeiten vor Ort (hier: die Kalkfabrik) bleibt vielen nur Gelegenheitsarbeit (Wasserverkäufer), Kleinkriminalität und Prostitution. Lediglich Hausbesitzer (Mi Tzü, Shu Fu) und Leute, die Ladenketten besitzen (der Barbier), können sich hier auch ökonomisch gut halten, sind allerdings auch auf die Unterstützung durch die Polizei angewiesen (Polizist). Treffpunkt und Aufenthaltsort der Arbeitslosen ist der Kiosk (Tabakladen) an der Straßenecke. Gegenüber liegen das Geschäft des Barbiers, die Teppichhandlung (wo eigentlich nur noch alltägliche Gebrauchsgegenstände verkauft werden) und der Bäckerladen. Die Hausbesitzerin Mi Tzü wohnt gleich um die Ecke.“63

Bezüglich des Kaukasischen Kreidekreises könnte man annehmen, dass der Streit um das Tal heutzutage vielleicht eher eine ökologische und weniger eine produktivitätsorientierte Dimension hätte, Gründe für die Flucht der Gouverneursfrau und das damit einhergehende Zurücklassen des eigenen Kindes wäre in der Lebenswelt der Lernenden wahrscheinlich eher im privaten als im militärisch-politischen Bereich zu finden. Brechts Verfremdungen und Historisierungen könnten also im Unterricht das selbstständige Erarbeiten und Verstehen der Lernenden eher erschweren. Wichtig ist jedoch zu thematisieren, dass diese als bewusst eingesetzte Mittel des epischen Theaters Funktionen haben. Den Lernenden sollten also bei der Arbeit mit Brechts epischem Theater verschiedene Optionen eröffnet werden: – Das Einbringen von eigenen Lebenserfahrungen und persönlichem Weltwissen.

63 Scheller: Wir machen unsere Inszenierungen selber II, S. 87.

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– Die von Scheller vorgeschlagene Vereinfachung und Übertragung, um Geschehen und Systeme durchschaubar zu machen. – Der Anspruch des Autors Brecht an sein Publikum, die abgebildete Welt durch Distanz, Verfremdung und Historisierung als eine veränderbare und sich verändernde wahrzunehmen und hierdurch auch Urteile und Meinungen zu ermöglichen Brecht lädt den Zuschauer oder Leser ein, die Theaterstücke kritisch und distanziert zu betrachten und über die dargelegten Thesen zu reflektieren. Seine Dramen sind als experimentelle Lehrstücke konzipiert. Sie eignen sich daher sehr gut zum Ausprobieren, Umformen, kreativen Durchdenken und natürlich zum In-Szene-Setzen. Brechts episches Theater ist mehr als nur das intellektuelle Verstehen eines Textes. Es ist intellektuelle und physische Interpretation, Interaktion einer Gruppe von Menschen. Es ist Aufführung, Spiel und Unterhaltung – vor einem Publikum. Brechts episches Theater ist wie jedes andere Theaterstück nicht zum Lesen, sondern zur Aufführung geschrieben. Ein solches Aufführen oder In-Szene-Setzen fordert viele verschiedene Aktivitäten, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie die Zusammenarbeit vieler Personen, was ideal in Lernsituationen genutzt werden kann, so dass Literaturunterricht nicht als leidiges Vorlesen, Analysieren und Interpretieren wahrgenommen wird, sondern die In-Szene-Setzung des Textes (in Ausschnitten und in seinem gesamten Umfang) das Ziel wird, das jedoch nur über eine intensive und emotionale, somit aber auch analytische und interpretative Auseinandersetzungen mit dem Text gelingen kann. Im Folgenden soll anhand einiger konkreter Übungsvorschläge dargestellt werden, wie man die hier genannten positiven Aspekte des spielerischen In-Szene-Setzens von Brechts epischem Theater nutzen kann und vor allem, wie ein erster Zugang zu seinen Stücken aussehen kann. Wie kann die konkrete Arbeit mit Brechts epischem Theater im Unterricht aussehen? Die folgenden Übungsvorschläge versuchen in kürzester Zeit, ohne Vorkenntnisse in der Theaterarbeit, mit einfachen Mitteln einen Einstieg ins In-Szene-Setzen zu ermöglichen. Es geht bei den Übungen weniger darum, mit dem eigentlichen Werkinhalt bekannt zu machen, sondern vor allem, den Lernenden die Möglichkeit zu eröffnen, ihre eigene dramatische Kreativität frei zu entfalten. Lernziele sind, auf Brechts episches Theater neugierig zu machen, Spannung zu erzeugen und Interesse zu wecken, aber auch auf die Textsorte und Arbeitsform einzustellen. Durch das kleinschrittige Experimentieren mit Mini-Szenen in Kleingruppen sollen die Lernenden zum einen Hemmungen verlieren, zum anderen aber vor allem die Erfahrung machen, wie viel Freude der Literaturunterricht durch das In-Szene-Setzen von Texten machen kann, wie vielfältig die eigenen Interpretationsmöglichkeiten sind und wie sich hierdurch eigene Zugänge zu ästhetischer Literatur eröffnen.

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Die hier ausgewählte und in bearbeiteter, leicht gekürzter Fassung vorgelegte Szene64 zählt sicherlich nicht zu den Schlüsselszenen des Kaukasischen Kreidekreis (vgl. Anhang: AB 3). Die Szene wurde bewusst aus dem Gesamtkontext des Stückes herausgenommen und unter den Aspekten Spielbarkeit und verarbeitete Themen/Konflikte ausgewählt. Es handelt sich um die Szene, in der Grusche mit dem Kind über den gefährlichen Gletschersteig flieht. Sie ist auf der Flucht vor den Panzerreitern und trifft an dem morschen und unsicheren Gletschersteg auf mehrere Händler, die ihr schließlich helfen. Es handelt sich also zunächst um eine Flucht- bzw. Verfolgungssituation, dann um eine Verhandlungssituation (Grusche muss erreichen, dass die Händler ihr über den Steg helfen, ohne zu viel von der Gefahr, in der sie sich befindet, preiszugeben) und schließlich um eine Situation, in der jemandem in Not (ob zu Recht oder zu Unrecht) von Fremden (Händler) gegenüber der Obrigkeit (Panzerreiter) geholfen wird. Die hier genannten Themen sind mit Sicherheit Situationen, die sich auf die Lebenserfahrung von Lernenden übertragen lassen, wodurch Bezüge zu deren persönlichen Erfahrungen hergestellt werden können. Durch die kontextlose Vorwegnahme der Szene wissen die Lernenden nach dieser Einstiegssequenz, vorausgesetzt, das Stück wird weiter behandelt, einige wesentliche Details über Grusche: Sie nimmt sich des Kindes an, sie gerät dadurch in große Schwierigkeiten und ist sogar bereit, für das Kind ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Hiermit werden einige grundlegende Aspekte für die Stückerarbeitung bezüglich der Hauptfigur Grusche vorweggenommen, gleichzeitig wird aber nicht die gesamte Vorgeschichte antizipiert. Es handelt sich also um Elemente, die zum einen Erleichterung bei der Texterarbeitung liefern können, zum anderen aber nicht die Spannung vorwegnehmen. 4.2 Aktivitäten für den Unterricht Aktivität 1: Sei still! Die Lernenden erhalten jeweils ein Kärtchen, auf dem ein der Szene entnommener Ausruf steht. Hierzu wurden folgende Ausrufe ausgewählt: „Sei still.“, „Geh weg.“, „Das tu ich nicht.“, „Ich probier´s.“, „Das kannst du nicht.“, „Ruf nicht.“ (vgl. Anhang AB 1) Jeder Ausruf ist mehrfach auf den Kärtchen enthalten, allerdings mit verschiedenen Satzzeichen. Lernende, die den gleichen Ausruf gezogen haben, arbeiten zusammen und überlegen sich, wie sie „ihren“ Ausruf un64 Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, S. 51 ff.

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terschiedlich betonen können, indem sie auf die Satzzeichen achten (! = Ausruf, ? = Frage, :) = fröhliche, positive, ruhige Aussage, :( = negative, traurige, wütende Aussage). Sie probieren in den Gruppen ihre Ausrufe mit unterschiedlicher Intonation aus. Als Hilfe können sie sich Situationen für ihre Interpretationen der Ausrufe ausdenken. Nach kurzem Proben stellen die Gruppen ihre Interpretationen im Plenum vor. Das Plenum äußert Vermutungen, ob es sich um eine Aussage, einen Ausruf, eine Frage handelt. Aktivität 2: Stille Fragen für eine freundliche Passantin Die Lernenden erhalten wiederum Kärtchen, auf denen insgesamt vier verschiedene, der ausgewählten Szene in Übertragung entsprechende Situationen beschrieben sind. Eine Rolle ist die der freundlichen Passantin, die versucht, zu helfen. Die Anweisung für diese Rolle lautet: „Sie gehen auf der Straße spazieren, Sie haben Zeit. Aber heute begegnen Ihnen einige Leute, die Schwierigkeiten haben. Bitte versuchen Sie, diesen Leuten zu helfen. Finden Sie heraus, was das Problem dieser Leute ist. Denken Sie daran: Sie sind ein freundlicher und höflicher Mensch.“ Die „Schwierigkeit“ der anderen Rollenkarten ist, dass die Rollen gespielt und nicht gesprochen werden sollen, weshalb die restlichen drei Rollenkarten alle die folgende Anweisung enthalten: „Leider haben Sie eine starke Entzündung der Stimmbänder und können deshalb NICHT sprechen. Versuchen Sie dennoch, Auskunft zu bekommen.“ Die weiteren Anweisungen der Passanten-Rollenkarten lauten: – „Sie sind Polizist. Sie suchen eine Frau, die ein Kind entführt hat. Fragen Sie den nächsten Passanten, ob er sie gesehen hat.“ – „Sie sind eine Mutter mit einem kleinen Kind. Sie müssen dringend zu Ihrem Bruder in eine 200 km entfernte Stadt. Sie haben den letzten Zug verpasst. Fragen Sie den nächsten Passanten, wie Sie noch heute zu Ihrem Bruder kommen.“ – „Sie haben einen Polizisten zusammengeschlagen. Jetzt werden Sie von der Polizei verfolgt. Bitten Sie den nächsten Passanten, die Polizisten aufzuhalten.“ (vgl. Anhang AB 2) Aktivität 3: Die Stimme erproben In Kleingruppen wird einer von vier Teilen der Szene (Grusche und Michel auf dem Gletschersteg) bearbeitet (vgl. Anhang AB 3). Zunächst geht es darum, aus dem bearbeiteten und gekürzten Textausschnitt, der hier sowohl ohne markierte Figurenrede als auch ohne Markierung der Regieanweisungen vorliegt, sinnvolle (und somit wahrscheinlich annähernd die ursprünglichen) Dialoge zu entwickeln. Hierdurch sind die Lernenden gezwungen, sich ganz genau mit dem Text auseinanderzusetzen. Die selbst entschlüsselten Dialoge werden dann mehrmals mit verteilten Rollen gelesen. Die Lernenden sind danach aufgefordert, mit der Lautstärke zu variieren. In einem ersten Durchgang flüstern sie, in einem zweiten schreien sie bzw. sprechen sehr laut. Der

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dritte Durchgang erprobt die Sprechgeschwindigkeit. Der Text wird zunächst übertrieben langsam gesprochen, danach wird das Sprechtempo stark erhöht, so dass die Leser extrem schnell sprechen. Aktivität 4: Gestik und Mimik erproben Die Kleingruppen arbeiten weiter an den Teilszenen und setzen sie pantomimisch um, ohne auch nur ein Wort zu benutzen. Die Gruppen sollten dies mehrmals mit wechselnden Rollen machen, um ein größeres Spektrum an gestischen Interpretationsmöglichkeiten zu erhalten. Hat jeder Lerner jede Rolle seiner Kurzszene einmal pantomimisch gespielt, wird die Pantomime nur für eine Rolle von nur einem Lerner vorgespielt. Die anderen imitieren die vorgeführte Pantomime. Das geschieht abwechselnd, so dass jeder mindestens einmal Vorspieler ist. Nach dem Spiel mit der Sprechgeschwindigkeit werden nun auch die Gesten extrem verlangsamt umgesetzt, also Bewegungen in Zeitlupe ausgeführt. In einem zweiten Durchgang wird das Tempo stark erhöht, so dass sich die Spieler extrem schnell bewegen, wie im Zeitraffer. Aktivität 5: Die Generalprobe Mit den erprobten Hilfsmitteln versuchen die Gruppen, ihre Szene im Plenum vorzustellen. Sie können wählen, ob sie eine besonders übertriebene Präsentationsform vorführen möchten, die wahrscheinlich sehr lustig wird, oder eine ihrer Meinung nach dem Text besonders angemessene. Die Gruppen bekommen hierzu genügend Zeit für Proben. Aktivität 6: Der Handlungsort Die Szenen werden im Plenum präsentiert. Die zuschauenden Lerner diskutieren nach jeder Kurzszene über die dargestellte Situation. Was passiert in der Szene und wo könnte diese Szene stattfinden? Sie versuchen, ihren – sich vorgestellten Handlungsort – möglichst genau zu beschreiben. Helfende Fragen hierzu wären beispielsweise: „Wie ist das Wetter? Scheint die Sonne? Oder ist es nass, kalt? In welchem Land, zu welcher Zeit spielt das? Ist es Morgen oder Abend? Sind wir in einem Raum oder im Freien? Wie sieht die Umgebung aus? Gibt es andere Menschen im Hintergrund?“ Nach der Ideensammlung zum Handlungsort der einzelnen Szenen im Plenum beginnen die Gruppen, ihre Szene noch einmal zu inszenieren, dieses Mal allerdings mit einem konkreten Handlungsort. Hierbei können die Gruppen auf Ideen aus dem Plenum oder auf eigene Ideen zurückgreifen. Es bietet sich an, dass jeweils zwei Gruppen für diese Aktivitäten zusammen arbeiten. Wichtig ist, dass sie den Handlungsort möglichst genau darstellen. Lernende, die keine Sprecherfunktion übernehmen, können hierbei als Statisten fungieren, um den Ort deutlicher zu machen.

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Aktivität 7: Akustik In einem weiteren Schritt überlegen sich die Gruppen, welche Geräusche während der Szene, an ihrem ausgewählten Handlungsort, zu hören sind. Sie versuchen, diese Geräusche nachzuahmen und in ihre Inszenierung einzubauen. Aktivität 8: Die erste Aufführung Im Plenum werden die Szenen so erneut dargestellt. Um bereits diese erste Aufführung realer zu machen, könnten die Gruppen auf den Einsatz einzelner Requisiten und Kostüme zurückgreifen, dies macht die Inszenierung sofort lebendiger. Oft lassen sich hierzu leicht alltägliche Gegenstände im Klassenraum umfunktionieren. Hilfreich ist auch, den Klassenraum als kleines Theater zu gestalten, also eine Bühne frei- bzw. umzuräumen und die Stühle als Zuschauerraum anzuordnen, auch dies macht die Aufführung „echter“. Die zuschauenden Lernenden versuchen jetzt, den dargestellten Handlungsort möglichst genau zu erraten. Abschließend können die Erfahrungen der Lernenden im Plenum ausgetauscht werden.

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Anhang: Arbeitsblätter AB 1: Sei still! Sei still!

Sei still?

Sei still. 

Sei still. 

Geh weg!

Geh weg?

Geh weg. 

Geh weg. 

Das tu ich nicht!

Das tu ich nicht?

Das tu ich nicht. 

Das tu ich nicht. 

Ich probier’s!

Ich probier’s?

Ich probier’s. 

Ich probier’s. 

Das kannst du nicht!

Das kannst du nicht?

Das kannst du nicht. 

Das kannst du nicht. 

Ruf nicht!

Ruf nicht?

Ruf nicht. 

Ruf nicht. 

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AB 2: Stille Fragen für eine freundliche Passantin

Zeichnungen: Martin Peers 2001.

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AB 3: Szenen bauen Die Situation: DER SÄNGER: Als Grusche Varanadze, verfolgt von den Panzerreitern An den Gletschersteg kam, der zu den Dörfern am östlichen Abhang führt Sang sie das Lied vom morschen Steg, wagte sie zwei Leben. Es hat sich ein Wind erhoben. Aus der Dämmerung ragt der Geltschersteg. Da ein Seil gebrochen ist, hängt er halb in den Abgrund. Händler, zwei Männer und eine Frau, stehen unschlüssig vor dem Steg, als Grusche mit dem Kind kommt. Jedoch fischt ein Mann mit einer Stange nach dem hängenden Seil. Personen: Grusche, mehrere Händler (für Abschnitt 1-3) Abschnitt 1 Laß dir Zeit, junge Frau, über den Paß kommst du doch nicht. Aber ich muss mit meinem Kleinen nach der Ostseite zu meinem Bruder. Muß! Was heißt muß! Ich muß hinüber, weil ich zwei Teppiche in Atum kaufen muß, die eine verkaufen muß, weil ihr Mann hat sterben müssen, meine Gute. Aber kann ich, was ich muß, kann sie? Andrej fischt schon seit zwei Stunden nach dem Seil, und wie sollen wir es festmachen, wenn er es fischt, frage ich. horcht: Sei still, ich glaube, ich höre was. laut: Der Steg ist nicht ganz morsch. Ich glaube, ich könnt es versuchen, daß ich hinüberkomm. Ich würd das nicht versuchen, wenn der Teufel selber hinter mir her wär. Warum, es ist Selbstmord. Abschnitt 2 ruft laut: Haoh! Ruf nicht! zur Händlerin: Sag ihm, er soll nicht rufen. Aber es wird unten gerufen. Vielleicht haben Sie den Weg verloren unten. Und warum soll er nicht rufen? Ist da etwas faul mit dir? Sind sie hinter dir her? Dann muß ich’s euch sagen. Hinter mir her sind die Panzerreiter. Ich habe einen niedergeschlagen. Schafft die Waren weg! Die Händlerin versteckt einen Sack hinter einem Stein. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Zu den anderen: Wenn sie die zu fassen kriegen, machen sie Hackfleisch aus ihr! Abschnitt 3 Geht mir aus dem Weg, ich muß über den Steg. Das kannst du nicht. Der Abgrund ist 2000 Fuß tief. Nicht einmal, wenn wir das Seil auffischen könnten, hätte es Sinn. Wir könnten es mit den Händen halten, aber die Panzerreiter könnten dann auf die gleiche Weise hinüber. Geht weg! Rufe aus einiger Entfernung: „Nach dort oben!“ Sie sind ziemlich nah. Aber du kannst nicht das Kind auf den Steg nehmen. Er bricht beinah sicher zusammen. Und schau hinunter. Grusche blickt in den Abgrund. Von unten kommen wieder Rufe der Panzerreiter. 2000 Fuß. Aber diese Menschen

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sind schlimmer. Du kannst es schon wegen dem Kind nicht. Riskier dein Leben, wenn sie hinter dir her sind, aber nicht das von dem Kind. Es ist auch noch schwerer mit dem Kind. Abschnitt 4 Personen: Grusche, mehrere Händler, Panzerreiter Vielleicht muß sie wirklich hinüber. Gib es mir, ich versteck es, und du gehst alleine auf den Steg. Das tu ich nicht. Wir gehören zusammen. Zum Kind: Mitgegangen, mitgehangen. […] Ich probier‘s. Das heißt Gott versuchen. Rufe von unten. Ich bitt euch, werft die Stange weg, sonst fischen sie das Seil auf und kommen mir nach. Sie betritt den schwankenden Steg. Die Händlerin schreit auf, als der Steg zu brechen scheint. Aber Grusche geht weiter und erreicht das andere Ufer. Sie ist drüben. die auf die Knie gefallen war und gebeten hat, böse: Sie hat sich doch versündigt. Die Panzerreiter tauchen auf. Der Kopf des Gefreiten ist verbunden. Habt ihr eine Person mit einem Kind gesehen? Während der zweite Mann die Stange in den Abgrund wirft: Ja. Dort ist sie. Und der Steg trägt euch nicht. Holzkopf, das wirst du mir büßen. Grusche, auf dem andern Ufer, lacht und zeigt den Panzerreiter das Kind. Sie geht weiter, der Steg bleibt zurück. Wind. Aus: Brecht: Der kaukasische Kreidekreis. S. 51 ff.

Marcus Steinbrenner

Mimetische Annäherung an lyrische Texte im Sprach-Spiel des literarischen Gesprächs Kein Reden wird je wiederholen, was das Stammeln mitzuteilen weiß. (Martin Buber)

Ein Beispiel 11 (Wär ich wie du. Wärst du wie ich. 12 Standen wir nicht 13 unter einem Passat? 14 Wir sind Fremde.) (5. Strophe des Gedichts Sprachgitter von Paul Celan) Daniel: Ja ich stell mir da was ganz was anderes vor . standen wir nicht unter einem WIND irgendwie n bisschen als beFREUNdet . wir sind BEIde FREMde das hier zum Beispiel das standen wir nicht unter einem Passat wir sind FREMde . s klingt irgendwie so als ob ihr das nich . verSTEHT ihr das nich wir sind FREMde so klingt das.

Dieser Beitrag stammt von einem Schüler der dritten Klasse einer Grundschule, mit der ich ein Gespräch zu dem Gedicht Sprachgitter von Paul Celan führte. Die SchülerInnen kannten das Wort „Passat“ nicht, weshalb ich versuchte mit „Der Passat ist auch ein Wind“ weiterzuhelfen, worauf einzelne dann mehrmals „Standen wir nicht unter einem Wind“ wiederholten. Auf meine Frage „Könnt ihr euch da drunter was vorstellen?“ antwortete ein Schüler: „Ja das kann doch jeder“. Auf diese Äußerung reagierte Daniel mit seinem Beitrag: „Ja ich stell mir da was ganz was Anderes vor“. 



Das vollständige Gedicht und Hinweise zur Transkription finden sich am Ende des Aufsatzes. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei den Schülerinnen und Schülern, deren Lehrerinnen und Lehrern und bei den Studierenden, mit denen ich Gespräche zu Sprachgitter führen konnte, bedanken! Die Namen wurden verändert und anonymisiert. 1961 führte Dankmar Venus ein Gespräch zu Sprachgitter in einer 4. Grundschulklasse und veröffentlichte Gesprächsauszüge in der Zeitschrift Westermanns Pädagogische Beiträge. Dies führte zu einer heftigen Auseinandersetzung, die literaturdidaktische Grundfragen berührte und weitere Lehrerinnen und Lehrer zu eigenen Unterrichtsversuchen motivierte, die sie teilweise ebenfalls in der Zeitschrift veröffentlichten. Venus’ Versuch war ein Anstoß für mich, das Gedicht Sprachgitter auszuwählen.

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Zunächst wiederholt er noch einmal die Frage „Standen wir nicht unter einem WIND“ und leistet dann eine Übertragung: „Unter einem Wind stehen“ könnte „befreundet sein“ bedeuten. Seine Unsicherheit und sein tastendes Vorgehen wird an den Worten „irgendwie“ und „n bisschen“ deutlich, wobei er jedoch „Freund“ stark betont. Nach einer kurzen Pause zitiert er den nächsten Vers des Gedichts, wobei er das Wort „beide“ ergänzt und „beide Fremde“ betont. Damit bringt er vielleicht zum Ausdruck, dass die „Freundschaft“ gerade auch darin besteht, dass „BEIde FREMde“ sind, dass die Fremdheit also für beide etwas Verbindendes hat. Dann wiederholt er noch einmal die zwei Verse des Gedichts, wobei er nun wieder „Passat“ anstelle des von mir angebotenen und sicher vertrauteren Wortes „Wind“ verwendet und nochmals das Wort „Fremde“ betont. Nachdem Daniel die Verse auf diese Art nachgesprochen hat, versucht er ihren „Klang“ noch zu verdeutlichen: „VerSTEHT ihr das nich wir sind FREMde so klingt das“ für ihn. Er spricht nicht beschreibend über den Klang, sondern „schlüpft in die Rolle“ des lyrischen Ichs, versucht den Klang nachzuahmen und spricht dabei die Hörer direkt mit „verSTEHT ihr das nich“ an, wobei er die Worte „versteht“ und „Fremde“ fast schon emphatisch betont. Damit bringt er zum Ausdruck, dass sich der Sprecher des Gedichts (und/oder er selbst) unsicher ist, ob er von den Angesprochenen in diesem Fremdsein verstanden wird – und wiederum ist es möglicherweise gerade das, was ihn mit dem Anderen („Wir sind Fremde“) gegenüber den vielleicht unverständigen Angesprochenen und Zuhörenden („Versteht ihr das nich“) verbindet. Hier handelt es sich nicht um ‚zwingende‘, sondern um mögliche Lesarten der Schüleräußerung (und des Gedichts) im Sinne einer ‚maieutischen Hermeneutik‘, die das Potential der Äußerung entfalten und zur Sprache bringen will. Dass „Fremde“ hier zusammen mit „Freundschaft“ gedacht und ausgesprochen werden kann, zeigt Spuren der Ambivalenz dieses Begriffs und einer wichtigen Sinndimension des Gedichts. Drei Aspekte der Äußerung möchte ich besonders hervorheben: Der Schüler – spricht Worte und Wendungen aus dem Gedicht nach – diese „fließen“ in sein eigenes Sprechen ein, wobei er versucht den Klang, den sie für ihn haben, nachzuahmen, – er stellt Übertragungen, Ähnlichkeitsbeziehungen und Analogien her und – geht dabei suchend und tentativ vor. 

So kritisiert Jean Bollack an literaturwissenschaftlichen Interpretationen, dass sie „Wir sind Fremde“ „trotz aller Verwendungen des ‚Wortes‘ im Werk nur noch als eine den Liebenden versagte Nähe interpretieren, wobei, wenn man sich an den Wortlaut hält, es gerade im Gegenteil die Fremdheit ist, die sie vereinigte“ (Bollack: Paul Celan über die Sprache, S. 285). – Damit ebnet Bollack die Ambivalenz der Fremdheit jedoch in vergleichbarer Weise ein.

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Dies sind für mich Kennzeichen eines ‚mimetischen Sprechens‘, das für mich eine wichtige Form der Annäherung an literarische Texte darstellt.

1. Analyse und Mimese als „literaturdidaktische Zielalternative“ Ulf Abraham arbeitet in seiner Habilitationsschrift StilGestalten (1996) zwei Kategorien heraus, in die sich methodische Verfahren im Literaturunterricht einordnen lassen: Ein Unterkapitel trägt den Titel Analyse oder Mimese? Zur Entfaltung einer literaturdidaktischen Zielalternative. In einem ersten Zugriff und im Anschluss an Abraham lassen sich diese beiden Kategorien wie folgt unterscheiden: Analyse ist gekennzeichnet durch folgende Aspekte: – Zergliedern des Textes in einzelne Elemente – Benennen der einzelnen Teile mit möglichst eindeutigen, objektiven Begriffen; klassifizieren und einordnen – Herausarbeiten von allgemeinen Merkmalen und Strukturen, die der Text mit anderen Texten gemeinsam hat (Gattungs-, Epochen-, Stilmerkmale u.a.) – Distanz, Vorherrschen einer „objektivierenden Einstellung“ – Die mediale Schriftlichkeit der Texte ist dabei eine wichtige Voraussetzung, da sie es ermöglicht, einzelne Elemente des Textes zu fixieren, zu isolieren und genau zu betrachten (Abraham spricht hier vom „optischen Paradigma der Textrezeption“). Mimese lässt sich durch folgende Aspekte kennzeichnen: – Nachvollzug des Textes durch Nachsprechen, Nachschreiben, Nachgestalten und Nachspielen – Bildung von Analogien, Ähnlichkeitsbezügen und Übertragungen – Anknüpfen an das individuell Bedeutsame – Stärker von der unmittelbaren, ganzheitlichen Textwirkung ausgehend, Oszillieren zwischen Text und Leser, „Verstricktsein“ in und mit dem Text – Der Klang des Textes, sein ‚Ton‘, das Hören und Sprechen spielen dabei eine wichtige Rolle (Abraham spricht hier vom „akustischen Paradigma der Textrezeption“). Analyse und Mimese werden hier als Kategorien verwendet, d.h. zur Bezeichnung einer Klasse oder Gruppe, in die etwas eingeordnet werden kann, zum Beispiel unterrichtliche Verfahren oder literaturdidaktische Positionen. In diesem Sinn dienen Kategorien dazu, unsere Wahrnehmung zu strukturieren und unseren Blick für Gemeinsamkeiten, Unterschiede und spezifische Merkmale und Funktionen zu schärfen. Sie stellen keine trennscharfen binären Oppositionen dar und es bestehen fließende Übergänge. Die Gegenüberstellung dient nicht dazu, eine Kategorie gegen die andere

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auszuspielen, wie dies lange Zeit in den Grabenkämpfen zwischen den Vertretern analytischer und produktiver Verfahren der Fall war – eine ohnehin problematische Alternative, da jede Textrezeption produktiv ist und viele ‚produktive Verfahren‘ auch stark analytische Züge aufweisen (z.B. die Verfahren nach Günter Waldmann). Die mit den Kategorien Analyse und Mimese verbundenen Verfahren und Zugangsweisen haben ihre je spezifischen Funktionen, Chancen und Risiken. Beide Kategorien sind in diesem Sinn ambivalent und stehen nicht per se für eine ‚gelingende Textrezeption‘. Im Idealfall ergänzen und bedingen sich Analyse und Mimese gegenseitig und werden gerade in ihren Widersprüchen produktiv. Zur Klärung der Kategorie Mimese hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrunds werde ich zunächst das Bedeutungsspektrum des Mimesisbegriffs etwas entfalten. Im Anschluss daran konturiere ich ein ‚mimetisches Sprechen‘ als Form der mimetischen Annäherung an lyrische Texte und stelle schließlich das ‚Heidelberger Modell‘ des Literarischen Unterrichtsgesprächs vor – ein Format, das mimetische Textbezüge im Gespräch ermöglichen kann.

2. Mimesis als Zugang zu Welt, Sprache und Schrift Ein eindeutiger Begriff, eine trennscharfe Definition von Mimesis wäre ein Widerspruch in sich selbst. Als philosophischer und anthropologischer Grundbegriff verweist Mimesis auf allgemeine Darstellungs- und Ausdrucksformen menschlicher Handlungen, die sich an vorgegebenen Mustern und Modellen orientieren. Diese Formen unterliegen einem geschichtlichen Wandel und werden je unterschiedlich interpretiert. Die Theoriebildung kann deshalb nur untersuchen, wie sich Mimesis in unterschiedlichen theoretischen und praktischen Formationen zeigt und gezeigt hat und dabei einen Begriffsrahmen entwickeln, der wiederum selbst erst die theoretische Betrachtung und historische Reflexion ermöglicht und vertieft. Christoph Wulf und Gunter Gebauer leisten in ihren Arbeiten eine umfassende historische Rekonstruktion und Bestandsaufnahme des Mimesisbegriffs und insbesondere Christoph Wulf versucht ihn in seinen jüngsten Arbeiten in seiner Bedeutung für Lern- und Bildungsprozesse auszuloten. Ausgehend von ihren Arbeiten möchte ich hier insbesondere 8 Aspekte hervorheben, die m.E. für sprachlich-literarische Lern- und Bildungsprozesse von Bedeutung sind. 

Vgl. hierzu die Arbeiten des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen an der FU Berlin, Teilprojekt B5: Die Hervorbringung von Lernkulturen in Ritualen und Ritualisierungen. Mimesis, praktisches Wissen und soziales Handeln.

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(1) Der griechische Ursprung des Begriffs: Mimesis als Nachahmung, Darstellung und Ausdruck: Der Begriff Mimesis gehört zur Wortgruppe ‚mimos‘ (Schauspieler, Schauspiel), ‚mimeisthai‘ (nachahmen, darstellen, ausdrücken) und ‚mimetikos‘ (das Nachzuahmende, etwas zur Nachahmung Fähiges). Die Wortgruppe entstand im 5. Jh. v. Chr. Eine vor allem für Platon bedeutsame Begriffsverwendung hat ihren Ursprung vermutlich in den dionysischen Kulten: Mimesis als eine Ausdrucksform, die durch Tanz, Gebärden und Laute etwas zur Darstellung bringt. Seit seiner Entstehung verweist der Begriff so auf Nachahmung, Ausdruck und Darstellung gleichermaßen. Vor allem die Übersetzungen (lat. imitatio, frz. imitation, engl. imitation, dt. Nachahmung) haben diese Bedeutungsvielfalt des griechischen Begriffs stark eingeschränkt. (2) Mimesis als anthropologischer Grundbegriff: Schon Aristoteles weist darauf hin, dass das Nachahmen selbst dem Menschen angeboren ist: „Es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch durch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat“. Diese besondere Fähigkeit zur Mimesis ist in anthropologischer Hinsicht an die Frühgeburt des Menschen und seine dadurch bedingte Angewiesenheit auf Lernen, seine residuale Instinktausstattung und den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion gebunden. (3) Mimesis und Lernen: Viele Lern- und Erziehungsprozesse verlaufen über die Mimesis von Vorbildern. Schon im vorsprachlichen Alter werden Wahrnehmungsfähigkeit und Motorik über mimetische Prozesse gebildet. Insbesondere das Lernen der Sprache ist ein in hohem Maße mimetischer Prozess, in dem es immer schon Vorausgehendes gibt, das nachgeahmt und dabei gemäß der eigenen Individualität gestaltet wird. In einem weiteren Sinn ist die Mimesis von Überliefertem die Grundlage für kulturelles Lernen überhaupt, das nach Helmut Peukert „als verflüssigende Resubjektivierung und innovatorische Rekonstruktion kultureller Objektivationen“ begriffen werden kann.

   

Vgl. Erhart: Mimesis. Aristoteles: Poetik, S. 11. Vgl. Wulf: Mimesis, S. 1016. Neuerdings wird dies auch neurowissenschaftlich begründet (vgl. Lauer: Spiegelneuronen). Peukert: Reflexionen am Ort der Verantwortung, S. 21.

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(4) Mimesis als Nachahmung – mit dem Potential kreativer Neuschöpfung: Mimesis ist mehr als bloße Imitation und Reproduktion von Vorgegebenem. In der mimetischen Aneignung von Vorgegebenem gestaltet die Einbildungskraft des Rezipienten den Nachahmungsprozess mit, so dass im Nachahmenden das Vorgegebene eine neue Qualität gewinnen kann. Das Vorgegebene wird nicht nur reproduziert, sondern in einer spezifischen Weise dargestellt, wobei der Nachahmende immer auch etwas von sich selbst ausdrückt.10 Wenn sich mimetische Aneignung auf sprachliche oder bildliche Erzeugnisse bezieht, die selbst in einem mimetischen Verhältnis zu anderen stehen, können diese Prozesse besonders intensiv sein. Dies gilt insbesondere für die ästhetische Erfahrung mit Kunst. (5) Ästhetische und soziale Dimension von Mimesis:11 Mimesis hat neben einer ästhetischen auch eine soziale Dimension: Soziales Handeln wird vor allem mimetisch gelernt. In Familie, Schule und Betrieb werden die in diesen Institutionen verkörperten Werte, Einstellungen und Normen über mimetische Prozesse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verinnerlicht und inkorporiert. Dabei wird eine Beziehung zu anderen Menschen und deren Handeln hergestellt. Man sieht sie handeln und ist dabei durch den sozialen Kontext mit ihnen verbunden. Man erlebt, wie sie ihr Handeln inszenieren und aufführen, nimmt an ihren Handlungen teil, erfährt deren Ziele, deren Sinn und die zugrundeliegende Haltung. Dem mimetischen Erlernen sozialen Handelns liegt ein Begehren zugrunde, wie die anderen zu werden, zu dem der Wunsch nach Erzeugung von Differenzen hinzukommt. Darin ist die Dynamik sozialen Handelns begründet. Sie drängt gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz und erzeugt damit Energien, welche die Inszenierungen und Aufführungen von Handlungen vorantreiben. Soziale und insbesondere rituelle Arrangements machen es möglich, dieses Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuhandeln. Solche Arrangements haben oft eine ludische Komponente – diese bezeichnet einen spielerischen Ernst, der gewisse Grenzen setzt und wahrt und auf diese Weise Regelkonformität mit Freiräumen verbindet. Im rituellen Handeln ergeben sich Spielräume für spontanes und kreatives Handeln, bei dem Sozialformen praktiziert, mimetisch angeeignet und  Vgl. Wulf: Mimesis, S. 1015. 10 Dies lässt sich auch an der eingangs angeführten Äußerung aufzeigen: Daniel ahmt die Verse des Gedichts nach, er stellt sie dabei in einer spezifischen Weise dar und bringt damit sein Verständnis und auch etwas von sich selbst zum Ausdruck. Auf keinen Fall kann hier von bloßer Reproduktion und auch nicht von beliebigem Assoziieren gesprochen werden. 11 Vgl. Gebauer/Wulf: Mimetische Weltzugänge; Wulf: Zur Genese des Sozialen.

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zugleich auch modifiziert und transformiert werden können. So besteht ein enger „Konnex zwischen mimetischem Lernen, Ritual und Spiel“.12 Durch die soziale Mimesis von und in Ritualen und Ritualisierungen wird praktisches Wissen (Bourdieu) erworben. Praktisches Wissen ist habituelles Wissen im Sinne einer Haltung, die sich wesentlich über Ritualisierungen bildet. Sie ist das Ergebnis von Erfahrungen, die aus früherem Handeln stammen und zum Ausgangspunkt künftiger Handlungen werden. (6) Sinnlichkeit und Körperlichkeit von Mimesis:13 Mimetische Prozesse sind sinnlich. Mimesis ist ursprünglich eine körperliche Handlung, die sich zuerst in oralen Kulturen entfaltet. Mimetische Handlungen beziehen auf dieser Stufe den ganzen Körper des Vortragenden und die Beteiligung seiner Zuschauer ein. Sie sind gekennzeichnet durch Rhythmus, Gesten und Laute. Mimesis hat den Charakter des Zeigens, in ihrer Geschichte kommt sie immer wieder auf dieses Gestische zurück. Das ursprünglich rhythmische Agieren, die Performanz mit einer stark betonten körperlichen Komponente, wird im Lauf der Zeit unterschiedlich akzentuiert: als Mal- oder Schreibhandlung, als Herstellen mit den eigenen Händen, als Erzeugen von Tönen beim Sprechen oder Spielen eines Instruments, beim lauten Lesen, schließlich beim leisen Lesen, das kaum noch merkliche physische Züge besitzt. Aber es bleibt immer ein körperlicher Rest in mimetischen Handlungen. In dieser Beteiligung der Sinne und des Körpers und in der personalen Beziehung auf das Ich des Handelnden und die anderen liegt die wesentliche Differenz der Mimesis zu rein kognitiven Erkenntnisweisen. Selbst als versprachlichte Mimesis ist sie ein ‚zeigendes Sprechen‘: Der Rezipient nimmt das Zeigen so wahr, dass er aufgefordert wird, bestimmte Dinge oder Vorgänge als etwas zu sehen. Mit dem Körperlich-Sinnlichen der Mimesis hängt das Performative zusammen als eine Aktualisierung, eine Aufführung des mimetisch Gezeigten. Daher realisiert sich Mimesis oft als ein performativ-aktionistisches Sprechen.14 (7) Mimesis, Sprache und Schrift: In der anthropologischen Sprachauffassung Walter Benjamins verlagert sich der Ort mimetischen Verhaltens im Verlauf des Zivilisationsprozesses immer stärker in den ‚unsinnlichen‘ Bereich der Sprache und der Schrift:

12 Vgl. Gebauer/Wulf: Mimetische Weltzugänge, S. 101 ff. und Wulf: Bildung im Ritual, sowie ders.: Lernkulturen im Umbruch. 13 Vgl. Wulf u.a.: Zur Genese des Sozialen, S. 67-84. 14 Vgl. Gebauer/Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, S. 13 f., S. 431 f.

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Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen oder Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, dass dies die Stationen wurden, über welche jene mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang fand. Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit.15

Zugänglich werden diese unsinnlichen Ähnlichkeiten durch den Akt des Lesens. Mit Hilfe seines mimetischen Vermögens kann der Leser dabei die Abstraktionen der Schrift wieder auflösen, konkretisieren und versinnlichen. Dazu dienen ihm seine Einbildungskraft und die von ihr entworfenen Bilder und Vorstellungen, die die Schrift notwendig ergänzen. Die Entwicklung und Verbreitung der Schrift bedingen auf der einen Seite Abstraktions- und Entsinnlichungsprozesse, führen aber gleichzeitig zu einer Entwicklung und Transformation des mimetischen Vermögens, so dass in unserer Kultur auch (und nach Auffassung Benjamins gerade) im Medium der Schrift und im Akt des Lesens mimetische Erfahrungen gemacht werden können.16 (8) Der offene und unverfügbare Charakter von Mimesis: Mimesis widersetzt sich der harten Subjekt-Objekt-Spaltung und kann einen nicht-instrumentellen Zugang zu anderen Menschen oder Gegenständen und eine sonst nicht erreichbare Nähe ermöglichen. Mimetische Prozesse vollziehen sich unabhängig vom Wert der vorgängigen Welt – so kann Anähnlichung auch an Erstarrtes und Lebloses, an destruierte Umwelten, verfestigte Herrschaftsstrukturen oder primitiven Sprachgebrauch stattfinden. Mimesis eines Vorbilds ist immer die Herstellung eines vorab nicht determinierbaren Verhältnisses zwischen dem Vorbild und einem sich mimetisch darauf beziehenden Menschen. Das Ergebnis ist von den jeweiligen Bedingungen des Vorbilds und des sich mimetisch zu ihm Verhaltenden abhängig und daher nur unzulänglich voraussagbar. Ihr ‚offener und unverfügbarer Charakter‘ unterscheidet Mimesis von eher zielgerichteten und ergebnisorientierten Imitationsprozessen. In mimetischen Prozessen lässt sich ein Individuum von einem Gegenstand oder anderen Menschen in Bann ziehen, setzt sich einem Prozess der Anähnlichung aus und kann dabei auch in Gefahr geraten, sich an das Vorbild oder die Bezugswelt zu verlieren.

15 Benjamin: Über das mimetische Vermögen, S. 213. Hier bezeichnet Benjamin das Spiel als „Schule“ des mimetischen Vermögens (S. 210). 16 Vgl. hierzu Stierle: Walter Benjamin und die Erfahrung des Lesens.

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3. „Mimetisches Sprechen“ zu lyrischen Texten In Gedicht und Gespräch charakterisiert Hans-Georg Gadamer das Lesen und Verstehen von Gedichten als mimetischen Prozess. Beim Verstehen in der Form eines „sich fortentwickelnden Gesprächs“ zwischen Text und Leser gilt es „mit der Sprache selber mitzugehen – so wie man es eben tut, wenn man im Gespräch ist“.17 Am ‚Ende‘ dieses Prozesses steht nicht das sichere Bewußtsein, die Sache nun verstanden zu haben, mit dem man sonst einen Text hinter sich läßt. Es ist umgekehrt: Man kommt immer tiefer hinein, je mehr Bezüge von Sinn und Klang einem ins Bewußtsein treten. Wir lassen den Text nicht hinter uns, sondern lassen uns in ihn eingehen. Wir sind dann in ihm darin, so wie jeder, der spricht, in den Worten, die er sagt, darin ist und sie nicht in einer Distanz hält, wie sie für den gilt, der Werkzeuge anwendet, sie nimmt und weglegt.18

Im Sinne Gadamers übersetzt der Verstehende den poetischen Text nicht in eine zweite, formalisierte Metasprache, die sich dadurch vom Text entfernt, sondern er lässt sich durch sein Lesen und Sprechen in den Text „eingehen“ und hält ihn nicht in einer Distanz, wie es bei einer instrumentell gebrauchten Metasprache der Fall wäre. Die hier angesprochenen Bezüge von Sinn und Klang bringt Gadamer an anderer Stelle noch deutlicher zum Ausdruck: So bleibt die letzte Aufgabe jedes Lesers, einen Text wieder zum Sprechen zu bringen. [...] Lesen heißt immer, etwas sprechen lassen. Die bloßen stummen Zeichen bedürfen ihrer Artikulation und Intonation, um das zu sagen, was sie sagen wollen. [...] Lesen bedeutet immer, den Klang und Sinn des Textes erstehen zu lassen. An diesem Grundphänomen des Sprechenlassens von Text, an der Grundstruktur der Sinneinheit von Rede, ist auf keine Weise vorbeizukommen. [...] An dieser Vollzugsweise hängt das, was man die Sangbarkeit eines Gedichtes nennen darf. Es ist kein wirkliches Singen. Es ist eher ein Meditieren, aber auch dies ist wie Gesang. Gesang kann man nur im Mitsingen wirklich vollziehen. So kann man auch ein Gedicht nur so erfahren, daß es auf seine Weise ein Lied ist und daß man den Mitvollzug seines Sprechens sich aussprechen läßt.19

Ich lasse die durchaus auch metaphorische Charakterisierung des Lesens und Verstehens von Gedichten hier für sich sprechen. Deutlich wird, dass es sich für Gadamer um mimetische Prozesse handelt, wenn er selbst diesen Begriff auch nicht verwendet. In scharfem Gegensatz dazu charakterisiert Ulf Abraham das Reden über Texte im Deutschunterricht. Es erwecke beim Schüler häufig den Eindruck, das Auf-den-Begriff-Bringen von Stilmitteln und Stilfiguren sei Textrezeption. Die Irritation, auf die gerade die ‚stilbildenden Strategien‘ eines Textes angelegt 17 Gadamer: Gedicht und Gespräch, S. 344. 18 Gadamer: Text und Interpretation, S. 53. 19 Gadamer: Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan, S. 312.

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sind, wird so eher neutralisiert als ernst genommen; ebenso wie die Germanistik seit dem späteren 19. Jahrhundert auf die verstörenden Wirkungen der Literatur reagierte, indem sie sie nach Machart und Stil als werk-, autor-, epochen-, gattungs- und neuerdings textsortentypisch klassifizierte, so tut auch eine dieser Wissenschaftlichkeit folgende und sie methodisch verkürzende Ein-und Zuordnungsdidaktik alles, um ihren Schülern die Ordnung der Dinge gerade nicht fragwürdig zu machen.20

Eine einseitig kognitiv-zerlegende Grundhaltung, ein einseitiges Streben nach Klassifikation und Einordnung, die schon zur Gewohnheit gewordene Rede von den ‚sprachlichen Mitteln‘ – all das führe zur ‚Hintanhaltung‘ (Horst Rumpf) jener Affekte Lernender, die gerade beim literarischen Text nicht zuletzt mit seinem Ton zu tun haben. Ein Mittel-Zweck-Denken in Begriffen von Autorintention und Aussageabsicht, selbst für alltagsweltliche Kommunikationssituationen problematisch und gelegentlich stark verständnisverkürzend, ist erst recht eine schreckliche Vereinfachung literarischer Kommunikationsprozesse [...]. Der Schüler als ‚Behandler‘ eines Textes wird dazu erzogen, als neutraler Beobachter von Aussageabsichten und Stilwirkungen ‚subjektive‘ (und damit verwerfliche) Identifikationsimpulse, Regungen der Sympathie oder Antipathie mit Figuren, aber auch sein Affiziertsein vom Ton des Textes in der analytischen Rede von seiner Sprachbemitteltheit zu ersticken. [...] Die vorherrschende Stilmittelanalyse, sowohl pädagogisch-didaktisch als auch textwissenschaftlich fragwürdig, dient einem Erwerb von Interpretationsmacht über Texte, die letztlich auch eine Verfügungsmacht über die analysierenden Schüler ist.21

Ausgehend u.a. von dieser harten und so wohl vor allem auf die Sekundarstufe II bezogenen Kritik wurden im literaturdidaktischen Diskurs dann vor allem andere Formen des Schreibens im Unterricht modellhaft entwickelt, die sich mit dem Attribut mimetisch charakterisieren lassen. In ihrer Habilitationsschrift von 1996 konturiert Elisabeth Paefgen das literarische Schreiben zu literarischen Texten mit Bezug auf Roland Barthes als ein assoziatives, essayistisch suchendes und fragmentarisches Schreiben. Es „kreist“ assoziativ um den literarischen Ausgangstext und ist nicht fixiert auf ein ‚End-Ergebnis‘, vielmehr steht der Prozess des Schreibens als solcher im Mittelpunkt, den Paefgen als heuristisches Problemlösen versteht.22 Das Attribut heuristisch ist auch für die von Karlheinz Fingerhut konzipierten Schreibformen zentral. Er konturiert sie als assoziativ, „streunend“, „nicht an die Entwicklung logisch stringenter Beweisgänge und überzeugender Belege gebunden“, in einem „Modus des Sprechens in Bildlichkeit, Metaphorizität und Andeutungen“ und nicht der „Klarheit, Diskursivität und Argumentation“.23 Heuristisches Schreiben ist für Fingerhut „Ausdruck eines suchenden Verstandes“, es zielt primär auf Akkomodation im Sinne 20 21 22 23

Abraham: StilGestalten, S. 224. Ebd., S. 224 f. Vgl. Paefgen: Schreiben und Lesen. Fingerhut: L-E-S-E-N, S. 120 f.

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einer „Selbst-Anpassung des Schreibenden an den vorgegebenen Text“ und trägt damit deutlich mimetische Züge.24 Zum Sprechen über literarische Texte existieren bislang weder ein vergleichbarer Diskurs noch Modelle, die die Form des Sprechens selbst und das Sprechen als Prozess thematisieren. Der Terminus ‚mimetisches Sprechen‘ findet sich bislang so nur bei Horst Rumpf, der in Bezug auf Wagenscheinsche Unterrichtsgespräche von einer „teilnehmenden“, „bildhaften“, „mimetisch-nachdenklichen Sprache“ spricht. Diese stellt nicht Tatbestände fest, unabhängig von einem Sprecher oder einer einmaligen Situation, sie vibriert förmlich von der Nachdenklichkeit in einem Gespräch zwischen Menschen, die bemüht sind, ein merkwürdiges Phänomen zu verstehen. [...] Sie schmiegt sich, einfühlend, in den Prozess einer dramatischen Auseinandersetzung ein – sie hat nicht registrierend informierenden, sondern mimetisch vergegenwärtigenden Charakter.25

An anderer Stelle charakterisiert er sie als Sprache, die im imaginären Zeigefeld statthat, die auf Klang, Gebärde, Andeutung setzt und die im Gespräch mit seinen situativen Komponenten verwurzelt bleibt. In der nicht ausformulierte Anspielungen möglich sind, in die Mundartliches hineinspielt, die auf syntaktische Gerundetheit keinen Anspruch erhebt. Eine Sprache, gebunden an hier und jetzt entstehende Ideen, Imaginationen, Vergleiche.26

Merkmale ‚mimetischen Sprechens‘ Ein ‚mimetisches Sprechen‘ lässt sich, wie eingangs aufgezeigt, auch in literarischen Gesprächen beobachten. Ich stelle im Folgenden Merkmale und Kennzeichen eines solchen Sprechens zusammen, die ich an Transkripten von literarischen Gesprächen mit SchülerInnen unterschiedlichen Alters und mit Studierenden erarbeitet habe. Die Auflistung ist ein Entwurf aus einem Arbeitsprozess und stellt einen Versuch dar, ‚mimetisches Sprechen‘ mit einer Konstellation anderer Begriffe und sprachlicher Merkmale genauer zu fassen. Der Terminus selbst ist kein in der Sprachwissenschaft bzw. Gesprächsanalyse eingeführter Begriff. Die Liste hat heuristischen Charakter. Sie stellt einen allgemeinen begrifflichen Rahmen auf mittlerem Abstraktionsniveau dar, der immer wieder ‚textnah‘ an konkreten und individuellen Gesprächsbeiträgen und -ausschnitten angewendet und dabei weiterentwickelt wird. Die Merkmale sind nicht als ‚harte‘, umkehrbare Kriterien im Sinne einer taxonomischen Klassifikation konzipiert – sie sollen im Sinne von „Familienähnlichkeiten“ (Wittgenstein) aufgefasst werden. Zunächst folgt eine Reihe eher allgemei24 Fingerhut: Kafka für die Schule, S. 21. 25 Rumpf: Staunkraft und Sprache, S. 60. 26 Rumpf: Das Verstehen und sein lebensweltliches Fundament, S. 119.

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ner Attribute ‚mimetischen Sprechens‘, anschließend eine Reihe sprachlicher Merkmale im engeren Sinn. ‚Mimetisches Sprechen‘ kann charakterisiert werden als – nachvollziehend, teilnehmend, mitgehend – Worte und Wendungen aus dem Gedicht werden nach-gesprochen, diese ‚fließen‘ in das eigene Sprechen ein – assoziativ – Bedeutungen werden nicht definitorisch mit dem Geltungsanspruch einer genauen Entsprechung übertragen, sondern es werden eher Ähnlichkeitsbezüge/Analogien im Sinne eines analogen Verstehens hergestellt – fragmentarisch, skizzenhaft – in Form von unvollständigen Sätzen, Andeutungen und Vermutungen, häufigen Neuansätzen – suchend, fragend, tentativ; auf Entdeckung ausgerichtet, heuristisch – das Sprechen als Prozess wird selbst zum Erkenntnisakt; dabei äußern TeilnehmerInnen auch immer wieder ihre Irritation und ihr ‚Nicht-Verstehen‘ – bildlich, metaphorisch – sprachliche Bilder des literarischen Textes werden übernommen und teilweise weiterentwickelt – expressiv – häufig wird eine subjektive Bedeutung artikuliert, d.h. eine Bedeutung, die der Text für den Rezipienten in der aktuellen Gesprächssituation und/oder vor dem eigenen Lebenshintergrund gewinnt – affektiv – Affektivität zeigt sich in einem erregten und emotionalem ‚Ton‘; oft wird zudem nicht nur über die Bedeutung eines Textes gesprochen, sondern auch darüber, was der Text auf einer affektiven Ebene auslöst – sinnlich – der Klang des Textes, sein ‚Ton‘, das Vorlesen, Hören und Sprechen des Textes spielen eine wichtige Rolle, häufig wird der Klang auch explizit thematisiert („das klingt/hört sich so an wie“) Sprachliche Merkmale eines ‚mimetischen Sprechens‘ im engeren Sinn: – Verwendung der Frage‑ oder Hypothesenform – Verwendung von Modalpartikeln, die die Satzaussage relativieren/abschwächen (vielleicht, aber, auch etc.) und ihr einen tentativen Charakter geben – Verwendung von sprachlichen Bildern/Metaphern – Herstellung von Assoziationen/Ähnlichkeitsbezügen – Verwendung des Konjunktivs – Markierung der Subjektivität der Äußerung („also das ist jetzt meine Meinung“, „für mich bedeutet das“) – Markierung eines persönlichen Bezugs auf einer semantischen Ebene („wenn ich total aufgeregt bin, ist manchmal auch mein Mund voll und nix kommt raus“) – Markierung eines persönlichen, affektiven Bezugs („wenn ich das höre, bekomme ich richtig Angst“)

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– Markierung der Irritation und des Nicht-Verstehens. Solche Markierungen können explizit verbal vorgenommen werden, sie können sich aber auch an ‚Begleiterscheinungen‘ dieses Sprechens zeigen. Hier sind u.a. drei zu nennen: – Unterbrechungen im Redefluss, Satzabbrüche, häufiges Neuansetzen, stockendes Sprechen – Markante, emphatische oder ungewöhnliche Betonungen – Häufung von ‚Füllwörtern‘ (ähm, hm, etc.) In dieser Aufzählung finden sich eine ganze Reihe allgemeiner Merkmale von Mündlichkeit und Performativität. Überhaupt kann das Gespräch über einen literarischen Text als eine produktive Verschränkung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit beschrieben werden, bei der im Medium der Mündlichkeit sowohl der literarische Text als auch das eigene Sprechen „in Fluss geraten“, (wieder) verflüssigt werden (Peukert) und ineinander „übergehen“. ‚Mimetisches Sprechen‘ zu literarischen Texten kann im Sinne Humboldts auch als eine Form „rednerischen Sprachgebrauchs“ bestimmt werden, dem ein besonderes sprachbildendes Potential zukommen kann und der eine notwendige Ergänzung des pragmatisch-instrumentellen Sprachgebrauchs darstellt.27

4. Das ‚Heidelberger Modell‘ des Literarischen Unterrichtsgesprächs als Format, Ritual und Sprach-Spiel Die Gesprächsäußerungen, mit denen ich arbeite, stammen überwiegend aus literarischen Gesprächen zu Gedichten der modernen Lyrik, die im Rahmen eines Forschungsprojekts der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Leitung: Prof. Dr. Gerhard Härle) an unterschiedlichen Schulen und an der Hochschule geführt wurden. In den Gesprächen wurde das ‚Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs‘28 erprobt, das im Sinne eines Formats bzw. eines Rituals Orientierung stiftet, Sinn verbürgt und durch Regeln und Routinen einerseits Freiheitsgrade eingrenzt, aber gerade dadurch jene Sicherheit und Struktur schaffen kann, die mimetische Annäherungen ermöglicht.29 Ein wichtiger Ansatz zur Begründung und Konzeptualisierung literarischer Gespräche ist die Spracherwerbstheorie Bruners. Familiäre Erzähl- und Vorlesegespräche können im Anschluss an Bruner als Formate beschrieben werden, als eingespielte, standardisierte Ablaufmuster

27 Vgl. Steinbrenner: Freiheit und Bindung. 28 Grundlegend hierzu Härle: Literarische Gespräche im Unterricht. 29 Vgl. Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert: Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch.

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von Handlungs- und Redeaktivitäten zwischen Kind und Erwachsenem.30 Formate als verabredete Ereignisse, die sprachlich geschaffen und immer wieder herbeigeführt werden können, haben für den Sprach- und damit auch Literaturerwerb eine zentrale Bedeutung. ‚Lernen im Format‘ weist folgende Kennzeichen auf: – Es beruht auf Regeln und Routinen, z.B. in Form von wiederkehrenden kanonischen Sprachhandlungen oder eingespielten Ablaufmustern. Durch Regeln und Routinen werden Freiheitsgrade eingegrenzt, damit ein Maximum an Verarbeitungskapazität zur Erfassung und Benennung neuer und offener Bedeutungselemente frei bleibt. – Es bedarf einer stabilen Beziehung, einer „warme[n] und unter­ stützende[n] Atmosphäre“, in der der Novize sich verstanden und als Person akzeptiert fühlen kann.31 – Es herrscht eine Asymmetrie hinsichtlich des Wissens der Partner. Der Erwachsene dient als kompetenter Anderer, als Modell, Vorbild und Gerüst. Er ist die konstante Person, an der sich die Lernenden orientieren können. Er unterstellt den Lernenden, Gesprächspartner im vollwertigen Sinn zu sein und schafft auf diese Weise einen kommunikativ-affektiven Sog – eine Zone der nächsten Entwicklung. – Formate betten Äußerungen immer auch in eine kulturelle Matrix ein, die durch sie zugleich (voraus)gesetzt und geschaffen wird. Die Lernenden werden dabei nicht auf Sprachkenntnisse hin trainiert, sie lernen vielmehr Sprache als Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft mit ihren spezifischen Regeln, Normen und Themen zu gebrauchen. Es ist erstrebenswert und möglich, an diese Strukturen anzuknüpfen und sie für schulische Lehr-Lern-Prozesse fruchtbar zu machen. Das Gesprächsleitungskonzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI) liefert dafür produktive Ansätze.32 Für die Rolle des Gesprächsleiters bietet die TZI mit dem Begriff der ‚partizipierenden Leitung‘ ein differenziertes Modell: Partizipierende Leitung heißt, dass sich die Lehrperson nicht nur in ihrer Funktion als Gesprächsleiter, sondern auch als Teilnehmer mit ‚echten‘ – das heißt, ihre eigenen Einstellungen, Wahrnehmungen und Fragen artikulierenden – Beiträgen in das Gespräch einbringt. Auf diese Weise wird sie personal präsent und erfüllt ihre Funktion als kompetenter Anderer, als Modell, Vorbild und Gerüst im beschriebenen Sinn. Gerade ein menschlich greifbares, personales Gegenüber ist wesentliche Voraussetzung einer

30 Vgl. Bruner: Wie das Kind sprechen lernt, S. 131. 31 Ebd., S. 69. 32 Zur TZI allgemein: Matzdorf/Cohn: Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion. Zur Nutzung für das literarische Unterrichtsgespräch: Härle: Lenken – Steuern – Leiten sowie Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert: Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch.

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affektiv besetzten und mimetische Lern- und Erwerbsprozesse fördernden Kommunikation.33 Wichtige Formen, Strukturen und methodische Elemente ‚literarischer Gespräche‘ sind darüber hinaus: – Der Sitzkreis – er kann zwischen Kollektivität und Individualität vermitteln. Er konzentriert und verdichtet die Bedeutsamkeit der Handlungsprozesse und schafft wechselseitige Inszenierungs- und Beobachtungsmöglichkeiten – Der feste und explizit vereinbarte zeitliche Rahmen des Gesprächs – Explizit vereinbarte oder implizit geltende, durch Nachahmung praktizierte und bisweilen thematisierte Gesprächsregeln und –normen – Gestaltete Übergänge, gestalteter Beginn und Abschluss – Vorlesen des literarischen Textes zu Beginn, daran anschließend häufig eine Phase des ‚stillen Lesens‘ in der Gruppe – macht den Text v.a. auch in seiner Klangdimension präsent – Rahmung des Gesprächs durch ‚Runden‘ zu Beginn und zum Abschluss, in der jeder die Gelegenheit erhält, sich zu äußern; ggf. weitere Phasierung des Gesprächs durch Leitungsimpulse oder weitere Gesprächsrunden – Offenheit für die Beteilung aller – auch für die Beteiligung der Lehrerin/des Lehrers im Sinne einer ‚partizipierenden Leitung‘ Diese bewusst einfachen Formen geben dem Gespräch eine Gestalt und Form, die im Sinne Christoph Wulfs als Ritual mit ludischem Charakter beschrieben werden kann, das als Modellsituation in besonderem Maß ‚mimetisches Lernen‘ ermöglicht: „In diesen Inszenierungen verbinden sich Aisthesis und Ausdruck, Handeln und Verhalten zu einem sozialen Geschehen, das zur Nachahmung und Mitwirkung auffordert“.34 Zur Charakterisierung des Handelns in Ritualen verwendet Wulf ebenfalls die Metapher des „Fließens“:35 Mimesis in ritualisierten Handlungen kann eine spezifische 33 Vgl. Gebauer/Wulf: Mimetische Weltzugänge, S. 135. – Dies gilt insbesondere für das soziale Feld der Literatur und der literarischen Kommunikation, die Kämper-van den Boogaart als ein ‚Spiel‘ bezeichnet. Effekt dieses Spiels und gleichzeitig Bedingung für eine aktive Teilnahme ist eine ‚illusio‘ im Sinne Bourdieus: „die Bereitschaft für den Glauben“, „dass die im Umgang mit literarisch codierten Texten zustande kommenden Erfahrungen, Leistungen und Produkte wichtig – und auf keinen Fall ‚beliebig‘ – sind. Dies wird wohl nur erfahren, wenn sie die Wichtigkeit an anderen, die in solchen Erfahrungszusammenhängen stecken, d.h. das Spiel engagiert spielen, ablesen können. Und wenn sie im Spiel bleiben sollen, erfordert dies eine Kommunikation, die von ihren Teilnehmern als für sich und für andere bedeutsam erfahren wird“ (Kämper-van den Boogaart: Leseförderung oder Literaturunterricht, S. 20). Eine solche Bereitschaft stellt eine Haltung dar, wie sie vor allem durch soziale Mimesis in Ritualen erworben werden kann. 34 Wulf: Ritual, S. 1035. 35 In vergleichbarer Weise spricht die TZI hier von einer „dynamischen Balance“ (Matzdorf/ Cohn: Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion, S. 74 f.).

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„Qualität des Fließens“ erzeugen, die Intensität vermittelt und eine wichtige Voraussetzung für kreative Tätigkeiten bildet. Das literarische Gespräch kann Mimesis in Bezug auf – die anderen TeilnehmerInnen und deren sprachliches und soziales Verhalten – die Form des Gesprächs mit ihren spezifischen Regeln und Normen – den Leiter/die Leiterin und deren Verhalten und Haltung – den literarischen Text und seine ästhetische Sprache ermöglichen – und auf diese Weise eine für Lern‑ und Bildungsprozesse besonders fruchtbare „Konvergenz von sozialer und ästhetischer Mimesis“.36 Auch in diesem Sinn stellt das „Reden über poetische Sprachwerke“ ein „Modell sprachverständiger Intersubjektivität“ dar (Hubert Ivo).

5. Gesprächsbeiträge aus Literarischen Gesprächen zu Sprachgitter37 Der Vers „Wär ich wie du. Wärst du wie ich“ hat die SchülerInnen in den Gesprächen besonders angesprochen. So sagt Anna, Schülerin einer 5. Realschulklasse: Wenn wär ich wie du dass zwei Menschen gleich sind und dann isch man ja nix mehr BeSONderes dass jeder Mensch dann ANders is

Nach einem Zitat folgt eine Übertragung und eine Schlussfolgerung. Dieser Gedanke wird kurz darauf von einem anderen Schüler weitergeführt: Kadir: Äh vielleicht wär es so wenns wenn ich wie du oder du wie ich wär dann ma/ jeder Mensch hat ja eine an/ eine andere GeWÖH/ Gewöhnlichkeit der tut ja was anderes dann wär dann konnte der andere vielleicht nich machen der und der eige/ also wenn wenn ich du wär zum Beispiel oder Sie dann könnt ich ja nich machen was Sie gem/ was Sie machen (Leiter: Hm) verste/ verstehn Sie also dafür steht hier dann am Ende Wir sind Fremde (Leiter: Hm) dafür

Kadir ist Nicht-Muttersprachler und es fällt ihm in dieser Situation nicht leicht, sein Verständnis zu artikulieren. Auch sein Beitrag besteht aus Teilen mit Zitatcharakter, Übertragungen und Schlussfolgerungen. Dabei findet auch eine beispielhafte Übertragung auf sich selbst und eine direkte Ansprache des Gesprächsleiters statt. Bemerkenswert ist, dass Kadir dabei zu einer originellen, dialektischen Formulierung für „Individualität“ kommt: „jeder Mensch hat ja eine an/ eine andere GeWÖH/ Gewöhnlichkeit“, dass er die konjunktivische Konstruktion versteht und ausgehend von ihr innerhalb der Strophe einen Bezug zu „Wir sind Fremde“ herstellt: Eben weil eine Identität nicht möglich ist, sind wir Fremde. Diese Erkenntnis 36 Wulf: Mimesis, S. 1027. 37 Die Beispiele und Kommentare stammen mitten aus einem Arbeitsprozess und stellen keine fertigen Ergebnisse dar.

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scheint ihm besonders wichtig zu sein, denn er wiederholt sie noch einmal und fragt beim Leiter direkt nach, ob er sie auch verstanden hätte. In der Folge gab es dann noch mehrere Beiträge, die den Vers „(Wär ich wie du. Wärst du wie ich“ auf persönliche Erfahrungen übertrugen. Im Gedicht Sprachgitter wird Sprache selbst thematisiert – u.a. als eine Gitterstruktur, in der die Worte die Stäbe des Gitters bilden. Diesem Gedanken sind auch etliche GesprächsteilnehmerInnen auf der Spur. Ein Beispiel aus einer dritten Grundschulklasse: Thomas: Also SPRACHgitter vielleicht verBINden sich die Wörter mit ei/ damit sich die ganzen WÖRter irgendwie verbinden die lassen sich miteinander verbinden irgendwie weil wie wenn man SPRACHgitter Gitter besteht ja meistens aus Stäben also Gitter und dann könnte man auch die Gitter zusammenmachen und so mit verbinden

Thomas ist mitten in einem Denkprozess. Dies wird an den vielen Brüchen und Neuansätzen und seinen abwägenden Formulierungen deutlich. Zentral ist für ihn das Wort „verbinden“ – Wörter, die sich verbinden. Das von ihm entworfene ‚Bild‘ ist allerdings noch nicht fertig oder abgerundet. So bleibt unklar, ob sich die Wörter zu einem Gitter verbinden, oder ob die Wörter selbst Gitter sind. Aber zumindest eine Spur in Richtung einer Thematisierung von Sprache wird gelegt. Dieser Gedanke wird von einem anderen Schüler aufgegriffen und auf die Sprache des Gedichts selbst und den Vers: „(Wär ich wie du. Wärst du wie ich“ bezogen. Im Mittelpunkt steht jetzt aber nicht das Verb „verbinden“, sondern das Partizip „geteilt“: Jan: Ja SPRACHgitter . äm s bedeutet auch vielleicht spricht man hm . zum Beispiel wär . ich . wie . du ((betont „geteiltes“ Sprechen der Wörter)) zum Beispiel hier ((zeigt auf das Papier)) wär . ich . wie . du irgendwie vielleicht spricht man . irgendwie so geTEILT auseinandergeteilt weil des is ja keine WAND sondern des sind VIEReckige Gitter oder . STÄbe sind ja nicht geteilt und nicht verbunden

Ausgehend vom Wort Sprachgitter entwickelt Jan den Gedanken, dass man „geteilt“ spricht. Als Beispiel zitiert er einen Vers des Gedichts, den er betont „geteilt“ spricht und zwar genau den, der auch nur aus einsilbigen Worten besteht. Diese sprachliche Form und auch die Konjunktivformen „Wär – Wärst“ scheinen die Kinder stark anzusprechen. Im Hintergrund sprechen unterschiedliche Schüler sie mehrmals nach und betonen dabei vor allem die Form „wärst“, die ihnen noch sehr unvertraut ist. Am Schluss des Beitrags versprachlicht Jan wohl seine Assoziation eines viereckigen Gefängnisfensters mit einzelnen Stäben – ein Bild, wie man es häufig in Comics findet und das er hier auch in Zusammenhang mit dem „Geteilt“-Sprechen von Sprache bringt. Auf jeden Fall scheint Jan und auch die anderen Schüler­ Innen in den Folgebeiträgen das Problem von „geteilt“ und/oder „verbunden“ zu beschäftigen. Zunächst meldet sich noch einmal Thomas zu Wort: Thomas: Auf jeden Fall steht fest damit die Wörter sich verbinden lassen

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Dann macht Peter eine vergleichbare Entdeckung, wobei er sowohl die Strategie als auch die Wendung des „Geteilt-Sprechens“ von Jan nachahmt: Peter: Hier ich GUCK hier is es SPRACH – GITter und hier is es hier is es wär . ich . wie . du . WÄRST . du . wie . ich (L: Hm) Des is geTEILT . wenn überall da so LÜcken sind dann kann man des auch geTEILT sprechen

Vielleicht sind die Schüler hier einer Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der Spur. Das Kompositum „Sprachgitter“ wird zusammen geschrieben, aber ‚geteilt‘ gesprochen. Der Vers „(Wär ich wie du. Wärst du wie ich“ wird im mündlichen Sprachgebrauch sicher nicht mit so ausgeprägten Lücken gesprochen, wie es die Schüler hier, ausgehend von den ‚Lücken‘ zwischen den Worten im schriftlichen Text, erproben. Sprache lässt sich mit der Metapher des Gitters charakterisieren und die Gliederung, die die Schrift vornimmt, stimmt nicht mit der Gliederung der gesprochenen Sprache überein. Diesen Gedanken sind die Schüler auf der Spur, was auch daran deutlich wird, dass ein Schüler im Hintergrund mehrmals das Kompositum „Flimmertier“ spricht, bei dem diese Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ebenfalls zum Tragen kommt. Die Schüler erproben in dieser Situation vielleicht auch ein ‚ästhetisches Prinzip‘, und zwar, dass es bei einem Gedicht durchaus Sinn macht, sprachliche Besonderheiten wie die Einsilbigkeit der Wörter und die dadurch bedingte ‚Lückenhaftigkeit‘ oder auch die Dopplung der Konjunktive bewusst und betont nachzusprechen. Beide Aspekte werden an dieser Stelle allerdings nicht vertieft, da ich als Gesprächsleiter in der Situation selbst diese Dimensionen nicht erfasst habe – ein Grundproblem beim Versuch, Schüleräußerungen ad hoc im Gespräch zu verstehen. Dies war ebenso der Fall bei einer weiteren Entdeckung von Thomas: Thomas: Wie ein Spiegel

Mit dieser Formulierung beschreibt er treffend das Konstruktionsprinzip des Verses „Wär ich wie du. Wärst du wie ich“. In einem Gespräch von Studierenden an der Hochschule wird „Sprache als Gitter“ wie folgt thematisiert: Tabea: Was mir jetzt spontan dazu einfällt . ähm wir ham . grad eben du hattest gesagt äh die Stäbe die erinnern an GITter . wenn jetzt die ÜBERschrift SPRACHGITter heißt dann verbind ich DAmit dass SPRAche eben ein GITter stellen kann . das eben . versucht wird durch . AUgen-BLIcke zu durchBREchen . also äh wenn ein Augenrund zwischen den Stäben SICHTbar wird dann bedeutet das ja dann gibts noch ne Möglichkeit DURCH . zuSCHAUen . sch/das SPRACHgitter wird vielleicht durchBROchen . das würde MIR dann auch erklären eben warum die STÄbe in der ersten Verszeile gleich .. DAstehen ohne jetzt n äh direkten BeZUG herstellen zu lassen ..

Sprache wird als Gitter gesehen und ein Bezug zum ersten Vers hergestellt, der teilweise zitiert wird. Die Möglichkeiten des Sprechens und des „Augenblicks“ werden thematisiert.

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Sandra: Ja . also DIE Idee die find ich jetzt . auch ganz GUT . ähm . das würde bei/bei MIR auch erklären ich hab mir ja am Anfang [= in der Anfangsrunde] SPRACHgitter ausgesucht und dann gesagt dass es eigentlich nur zu der letzten Strohe passt . und dann PASST das eigentlich jetzt für mich DOCH ganz GUT . äh . wie du eben gesagt hast . dass . die beiden anscheinend nich miteinander reden KÖNnen oder WOLLN ich weiß es NICH weil da ein SPRACH-GITter besteht und . sie können trotzdem miteinander REden . durch ihre Blicke also errätst du die SEEle . (bestätigendes Mhm als Einwurf) durch . einfach nur durch Schauen kann man sich praktisch auch verständigen . so versteh ich das jetzt

Sandra übernimmt die Deutung und bindet dabei einen weiteren Vers: „Am Lichtsinn/errätst du die Seele“ in abgewandelter, vereinfachender Form ein. Daniela: Aber dann diese Iris traumlos und trüb also so n trüber Blick is ja dann wieder auch kein SPREchender Blick also vielleicht ist der BLICK auch . zwar DA aber vielleicht auch irgendwie nicht unbedingt sprechend

Daniela widerspricht auf der Grundlage einer Textstelle „Iris traumlos und trüb“ und problematisiert auch die Möglichkeiten des Blicks. Sandra: Doch grad desWEgen sprechend find ich also wenn sich jemand in die Augen schaut der wässrige . trübe Augen hat das sagt ja . ALles . also für MICH wär das der is unheimlich TRAUrig dem geht es nich gut ich weiß ja nich was zwischen den beiden . die sich da anschauen grade IS . also . für MICH würde das UNheimlich VIEL sagen ..

Sandra widerspricht wiederum Tanja und erweitert dabei ihre erste Lesart „einfach nur durch Schauen kann man sich praktisch auch verständigen“ um den Aspekt, dass sich gerade Trauer besonders gut am Blick der Augen zeigt. Isabel: Aber das Mundvoll SCHWEIgen deutet für mich auch da drauf HIN dass ja im Prinzip was DA is wo man drüber reden KANN . oder/oder müsste/ (andere Teilnehmerin: oder müsste) MÜSSte aber DOCH nich KANN . (Bestätigung: Mhm) und das . das is dann schon ALLes gesagt durch die Augen oder den Blick von dem ANdern den man dann DEUten kann

Isabel bezieht den Vers „Mundvoll Schweigen.“ noch in die bereits entwickelte Deutung mit ein und findet für ihn eigene Worte. ‚Mimetisch‘ ist auch die sprachliche Interaktion mit einer anderen Teilnehmerin: Gegenseitig verstärken sie sich in der Formulierung des Wortes „müsste“, das Isabel, nachdem es von einer anderen Teilnehmerin geäußert wurde, noch einmal betont spricht. In diesen Beiträgen werden mit der Sprache des Gedichts vor allem die Grenzen der „Sprache als Gitter“ und die Möglichkeiten von „Augen-Blicken“ thematisiert. Die Ambivalenz des Gedichts, die Grenzen und Möglichkeiten des Sprechens und vor allem des Schweigens kommen auch in folgenden Gesprächsausschnitten aus einem anderen Gespräch zur Sprache: Peter: Also . w/wenn wir jetzt mal bei dem BISherigen Verständnis bleiben . ähm macht äh die Ü/Überschrift Sprachgitter schon irgendwo SINN weil die beiden ja

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miteinander REden sollten . die Menschen um dies jetzt da GEHT . es aber nich TUN . weil in dem Mund wie . ZUgegittert is (7Sec.) ((Blätter werden über den Tisch gezogen)) Du bist SEHR .. anderer Meinung Renate

Peter versucht das bisherige Gespräch zusammenzufassen, wobei eine negative Deutung dominiert: Die Redenden können sich im Medium der Sprache nicht mehr verständigen. Am Blick von Renate sieht er, dass sie anderer Meinung ist und fordert sie indirekt auf, diese zu äußern. Renate macht einen ersten Ansatz: Renate: Hm ich GLAUB ja . ich glaub nich dass die miteinander reden SOLLten . ich glaub das ham die schon gemacht (3Sec.) Janina: Ich glaub eigentlich AUCH dass das . ABgeschlossen is . UN noch so n Lachen hinterher also (Bestätigungen: mhM) irgendwie . Eva: Aber es gibt doch auch so BeZIEhungen wo man einfach merkt das bringt jetzt EH nix mehr zu reden wo alles schon (Janina: JA) voll verFAHren is vielleicht so verGITtert oder so kompliziert . dass es EH . dass ma/ dass man das gar nimmer SCHAFFT das alles aufzuLÖsen .

Janina und Eva bleiben bei einer negativen und einseitigen Deutung. Auffallend ist hier auch die vom Gedicht angestoßene Verwendung der Adjektive „verGITtert“ durch Eva und schon zuvor „ZUgegittert“ durch Peter. Die Beziehung scheint abgeschlossen und Verständigung nicht mehr möglich – dem widerspricht allerdings Renate: Renate: Ja aber dieses dicht/ DICHT beieinander am Schluss das is das deutet für mich NICHT auf so was . AUSsichtsloses und hat eh kein Sinn mehr hin sondern das kann ja auch mal irgendwann (Janina: mHM) eben kann man doch auch mal zurückGUcken auf was . und es is gut SO . oder also . mit all der Traurigkeit die das vielleicht mit sich bringt aber es is oKAY . und

Ausgehend vom Vers „dicht beieinander, die beiden“ präzisiert Renate ihre Lesart. Sie entwirft die Situation einer Art von Rückblick der durchaus nicht aussichtslos oder sinnlos ist. Eva: Ja meinst du jetzt im Sinne von verGESsen und wir fangen neu AN oder (Renate: NEIN) einfach wir lassens GANZ .

Eva fragt nach und bringt dabei wieder eine vereinfachende, binäre Lesart ins Spiel (neu anfangen – es ganz sein lassen). Renate: N/ NEE von HINnehmen es WAR mal so so isses NIMmer aber irgendwie . (Peter: ja manchmal zum Beispiel) KANN n Schweigen auch mal ganz SCHÖN sein und ein gemeinsames Lachen nach hinten . also die sin/ es is einfach dieses DICHT beieinander ja (Peter bestätigend: mhM mhM) das is für MICH . ich bin nich DICHT beieinander mit jemand mit dem ich noch voll im Clinch lieg oder de/ wo ich noch so n KAMPF hab . da geh ich doch eher auf ABstand . dicht beieinander is für mich was .. Nähe ((kurzes verlegenes Lachen))

Der Lesart Evas widerspricht Renate energisch und präzisiert ihre eigene Lesart eines ambivalenten Rückblicks. Die Wendung „dicht beieinander“ scheint sie sehr anzusprechen und sie fügt sie mimetisch in ihr eigenes Sprechen ein: „ich bin nich DICHT beieinander mit jemand mit dem ich

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noch voll im Clinch lieg“. Nach einer längeren Pause charakterisiert sie am Ende zusammenfassend mit dem Substantiv „Nähe“ die Beziehung, wie sie nach ihrer Lesart in der letzten Strophe des Gedichts gestaltet wird. Zumindest Peter scheint ihr nun dabei auch zuzustimmen. Vielleicht vergleichbar sprach eine Schülerin einer fünften Realschulklasse in der Schlussrunde eines Gesprächs zu dem Gedicht von „schweigender Liebe“.38

Anhang Verwendete Transkriptionszeichen39 . .. (4sec) BeTOnung (...) (dass man) (Janina: Ja) große Ungewiss/ ((xxx)) ((xxx)) [...]

kurze Pause längere Pause Pause von ca. vier Sekunden Dauer Versalien = Betonung unverständliche Äußerung vermuteter Wortlaut Unterbrechung durch eine andere Teilnehmerin vermuteter Wort‑ oder Konstruktionsabbruch (hier statt: große Ungewissheit) andere akustisch wahrnehmbare Handlungen, z.B. ((räuspert sich)) ((lachen)) Beschreibung praktischer Handlungen, z.B. ((steht auf)) ((nimmt Blatt Papier)) Auslassungen in der Transkriptwiedergabe

38 Werner Wögerbauer spricht in Bezug auf das Gedicht Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt (ebenfalls aus dem Gedichtband Sprachgitter) auch von einem „wissenden Lächeln“ – dieses „ist auf Sprache bezogen, als ein schweigsamer Ausdruck eines sprachlichen Wissens. Ein solches Schweigen läßt sich nicht als ein pathologisches und pathographisches ‚Verstummen’ angesichts eines übermäßigen, überwältigenden Leidens verstehen, sondern als eine in der Verschwiegenheit aufgefangene Sprache“ (Wörgerbauer: Begegnung, west-östlich, S. 61). Jean Bollack bringt Sprachgitter in einen engen Zusammenhang mit der Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (vgl. Bollack: Dichtung wider Dichtung, S. 370 ff.). 39 In Anlehnung an Becker-Mrotzek/Vogt: Unterrichtskommunikation, S. 185.

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Marcus Steinbrenner

Das Gedicht Sprachgitter40

SPRACHGITTER

1

Augenrund zwischen den Stäben.

2 3 4

Flimmertier Lid rudert nach oben, gibt einen Blick frei.

5 6

Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb: der Himmel, herzgrau, muß nah sein.

7 8 9 10

Schräg, in der eisernen Tülle, der blakende Span. Am Lichtsinn errätst du die Seele.

11 12 13 14

(Wär ich wie du. Wärst du wie ich. Standen wir nicht unter einem Passat? Wir sind Fremde.)

15 16 17 18 19

Die Fliesen. Darauf, dicht beieinander, die beiden herzgrauen Lachen: zwei Mundvoll Schweigen.



Paul Celan

40 Entstehung und Erstdruck des Gedichts: 1957. Zitiert wird nach: Celan: Die Gedichte, S. 99 f.

Mimetische Annäherung an lyrische Texte

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Spielerei oder ernstzunehmende Texterschließung? Möglichkeiten und Probleme des ,Gestaltenden Interpretierens‘ 1. Die Bedeutung des Spiels für die Pädagogik Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht. Schlägt man das Lemma ‚Spiel‘ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft nach, so findet man es in der Kurzexplikation definiert als „zweckfreies, aber regelgeleitetes Tun; dadurch Modell für die Produktion und Rezeption von Literatur.“ Beim ,Gestaltenden Interpretieren‘, das als Methode des spielerischen Umgangs mit literarischen Texten in schulischem Kontext von Bedeutung ist, steht beides im Vordergrund, nämlich die Kreation, das Produkt einerseits sowie die Rezeption andererseits: Inwiefern kann Schülern ein spielerischer respektive produktiver Umgang mit literarischen Texten dazu verhelfen, ein tieferes Verständnis für diese zu erlangen? Die anthropologische Prämisse, dass alle Menschen – insbesondere Kinder und Jugendliche – spielen, ist der Ausgangspunkt für das pädagogische Interesse am Spiel: Der Mensch ist ein Spieler – homo ludens –, so die These von Johan Huizinga, dessen Spieltheorie Stefan Matuschek als eine „Sozio­logie der Kulthandlungen“ versteht. Subsumiert man das ‚Gestaltende Interpretieren‘ also unter den Spielbegriff Huizingas, so impliziert die spielerische Umgehensweise mit Texten für Schüler zunächst ein Entgegenkommen in Bezug auf ihre Neigung, Freu   

Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (23. Brief), S. 643. Anz: Art. Spiel, S. 469-472. Begriffe wie ‚Lernende‘, ‚Schüler‘ etc. werden im Folgenden in ihrer generischen Bedeutung ohne geschlechtsspezifischen Zusatz verwendet. Die weibliche Form wird selbstverständlich immer mitgedacht. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 2.

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de an dem zu haben, was sie tun. Huizingas Spielbegriff geht von einer für das ‚Gestaltende Erschließen‘ unabdingbaren Voraussetzung aus: Das Spiel sei eine freiwillige Handlung, die gleichwohl innerhalb festgesetzter Grenzen und somit unbedingt bindender Regeln verrichtet werde und gleichzeitig ein Gefühl der Spannung und Freude impliziere. Vor allem Letzteres ist es, was diversen spielerischen Methoden des Umgangs mit Literatur innerhalb der Didaktik zu einem enormen Aufschwung verholfen hat, wobei – und das soll im Folgenden kritisch betrachtet und reflektiert werden – die von Huizinga geforderten Grenzen und Regeln zunehmend in den Hintergrund geraten und infolgedessen das Spiel vor der eigentlichen Intention mit Blick auf das ,Gestaltende Interpretieren‘ zum Selbstzweck wird. Dieser Missbrauch einer potentiell fruchtbaren Methode für den Deutschunterricht resultiert in erster Linie aus beinahe traumatischen Erfahrungen, denen Deutschlehrer während ihrer Ausbildung zunehmend ausgesetzt sind, indem sie täglich mit Schlagworten wie ,Schülerzentrierung‘ und ,Kreativem Unterricht‘ konfrontiert werden, wobei das traditionelle Unterrichtsgespräch geradezu als archaische bzw. vorgestrige und damit eo ipso inhumane Methode verteufelt wird, die lediglich eine Selbstinszenierung der Lehrkraft bezwecke und die Schüler aus dem Blick verliere. Daraus resultiert, dass Lehrer in der Ausbildungssituation unter dem Druck stehen, um jeden Preis spielen zu müssen, ohne die Interpretation mittels des Spieles zu integrieren. Die folgenden Ausführungen sollen einerseits verdeutlichen, dass im Unterrichtsalltag eine Kombination dieser Schein-Dichotomien von Spiel und Ernst, also spielerischer oder analytischer Interpretation, nicht nur sachgerecht und angemessen, sondern vor allem im Sinne von Schülern ist. Andererseits sollen sie nachdrücklich darauf hinweisen, dass die Universitäten im Hinblick auf die Lehrerausbildung noch nicht den richtigen Zugang gefunden haben, jenseits von didaktischen Moden eine solche praxistaugliche, produktionsorientierte Literaturdidaktik zu entwickeln, die dem Anspruch einer Interpretation genügt.





In Bezug auf die Institution Schule ist das Adjektiv ‚freiwillig‘ sicherlich ein Ansatzpunkt für die Diskussion, inwiefern das ‚Gestaltende Interpretieren‘ überhaupt mit der Spieltheorie in Verbindung gebracht werden kann, denn für Schüler wäre solch ein Umgang mit literarischen Texten zwar spielerisch und damit mit Spaß und Freude verbunden, gleichwohl aber keinesfalls freiwillig! Huizinga: Homo Ludens, S. 113-115.

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2. Das ,Gestaltende Interpretieren‘ im Kontext der Produktionsorientierung 2.1 Definition Die Methode des ‚Gestaltenden Interpretierens‘ versteht sich als Teil des produktions- und handlungsorientierten Unterrichts und wird in der EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen; Beschluss der Kultusministerkonferenz) gleichberechtigt neben dem ‚Untersuchenden Erschließen‘ (Textanalyse) und dem ,Erörternden Erschließen‘ als Abituraufgabe aufgeführt. Ein Blick in die aktuellere didaktische Literatur offenbart das Konzept des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts als Gegenposition zu der im Unterrichtsgespräch vorherrschenden konventionellen Textanalyse und Interpretation, wobei es sich hierbei, und das soll im Folgenden deutlich gemacht werden, lediglich um einen scheinbaren Widerspruch handelt, denn Analyse und Gestaltung müssen in der Unterrichtspraxis notwendigerweise im Zusammenhang stehen. Der Unterrichtsschwerpunkt bei der Produktionsorientierung soll demnach auf der produktiven Selbsttätigkeit der Schüler liegen, eine Abkehr vom lehrerzentrierten „kulturschmatzenden Literarästhetentum“ bewirken und Phantasie, Aktivität sowie die Interpretations- und Schreibkompetenz der Schüler fördern. Als eine ergänzende didaktisch-methodische Variante zeitgemäßen Literaturunterrichts nennt bspw. Spinner die „produktiven Verfahren“, da er den handlungsorientierten Deutschunterricht nicht absolut setzen möchte, gleichwohl aber für unverzichtbar erklärt und daher als integralen Bestandteil des Deutschunterrichts versteht.10 2.2 Literaturwissenschaftlicher und pädagogischer Hintergrund Der produktionsorientierte Unterricht11 fußt auf dem theoretischen Fundament der Rezeptionsästhetik, wonach das Lesen als kreativ-ästhetische Re

Die konventionelle Textanalyse und -interpretation verlangt die Reflexion von Erzählverhalten, rhetorischen Mitteln etc. und deren Bedeutung für den Inhalt des Textes.  Nach Haas/Menzel/Spinner ist das aktive Handeln mit einem Text für viele Schüler leichter als das Sprechen darüber, was dazu führt, dass sich jeder Lernende am Vorgang der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text beteiligen könne (vgl. Haas/Menzel/Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, S. 17-25).  Waldmann: Grundzüge von Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts, S. 99. 10 Spinner: Kreativer Deutschunterricht, S. 96. 11 Die verschiedenen Formen der kreativen Verfahren lassen sich in vier übergeordnete Kategorien einteilen: 1. Textproduktive Verfahren (Restaurieren und Antizipieren), 2. Szenische Gestaltungen (z.B. Darstellung einer Textsituation als lebendes Bild), 3. Visuelle Gestaltungen (z.B. Bilder zu einem Text zeichnen), 4. Akustische Gestaltungen (z.B. einen Text vertonen).

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zeption und diese wiederum als kommunikatives Handeln verstanden wird, da der Leser stets aktiv an der Sinnbildung von Texten teilhat. Neben der Förderung von Kreativität, Individualität und gesellschaftlicher Handlungskompetenz ist besonders die Synthese von kritischem, also analysierendem, und imaginativem, also identifikatorischem Lesen als übergeordnetes Lernziel festgelegt worden. Gleichwohl steht die Produktionsorientierung in einem engen Verhältnis zum Schreibunterricht, weil das Produkt des Handelns idealiter in einer dem Text adäquaten Textsorte besteht. Textvorlage und schülereigenes Produkt ergeben funktionell eine für die Interpretation und Analyse fruchtbare Differenzerfahrung zwischen dem Erfahrungsbereich der Schüler und den Intentionen des Textes und helfen dem Schüler überdies, seine Schreibkompetenz am Modell stil- wie formbildend zu erweitern. 2.3 Kritik Die Kritik an den produktiven Verfahren, auf die bei der Auswertung der Schülerbeispiele noch näher eingegangen wird, zielt im Wesentlichen auf die Gefahr einer Verabsolutierung von Methoden unter Vernachlässigung der inhaltlichen Lernziele. Zudem wird kritisiert, die Produktionsorientierung leiste einer unreflektierten Subjektivierung von Leseeindrücken durch die kontraproduktive und von den genuinen Intentionen diametral entgegen gesetzter Förderung der ‚Spaßkultur‘ Vorschub. Darüber hinaus sieht man von bildungsbürgerlicher Seite die Autonomie des Kunstwerks speziell durch die Methoden des Umschreibens und Ergänzens angetastet. Schließlich tritt das abstrakte Denken und das Erfassen allgemeiner Zusammenhänge zugunsten konkreter, individueller Situationserfahrung in den Hintergrund. 2.4 Beurteilung der Schülertexte Ein Grund für den Widerwillen vieler Kollegen, die Methode des ‚Gestaltenden Interpretierens‘ einzuüben und zu einem Bestandteil der Klausuren zu machen, ist die Unsicherheit, die im Hinblick auf die Bewertungskriterien besteht. Der Ansatz ist ja nun gerade über die Individualität des Schülers definiert, wie kann ein Schülerprodukt also für gut oder weniger gut befunden werden? Ohne Frage sind die Kriterien, die ausschlaggebend für eine traditionelle Textanalyse sind, transparenter, dennoch gibt es auch gut nachvollziehbare Kernkriterien, die für die Gestaltungsaufgabe in Anschlag gebracht werden und mit den Schülern geübt werden müssen. Im Gegensatz zum Kreativen Schreiben, das der Schreibdidaktik zugeordnet wird, ist

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die Produktionsorientierung literaturdidaktisch ausgerichtet. Die Schülertexte müssen immer einen Bezug zur Literatur, den Referenzrahmen, als inhalts- und stilbildender Vorlage aufweisen, den das kreative Schreiben12 entbehrt. Nur so ist eine Beurteilung zu rechtfertigen. Literaturadäquate Produkte der Schüler unterliegen im Wesentlichen folgenden Beurteilungskriterien: – Bezug zur Textvorlage (detailgetreue inhaltliche Kenntnis; Figurenperspektive etc.) – Kohärenz der Darstellung – Angemessene sprachlich-stilistische Umsetzung – Originalität, Imagination, Einfühlung Letzterer Aspekt ist sicherlich der diffuseste, denn zu beurteilen, wie originell ein Schülertext ist, obliegt doch sehr stark dem individuellen ästhetischen Werturteil. Im Anschluss soll ein Blick auf zwei konkrete Schülertexte geworfen werden, die innerhalb einer Unterrichtsreihe zu einerseits E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und andererseits Georg Büchners Woyzeck in einer 12. Klasse entstanden sind.

3. Grau ist alle Theorie… Nach Erfahrungen an verschiedenen Schulen, in der Ausbildungssituation sowie als nunmehr ausgebildete Lehrkraft, kommt man nicht selten zu dem Schluss (und das recht frühzeitig), dass die aktuelle Didaktik zumeist fälschlicherweise vom ‚funktionierenden‘ Schüler ausgeht. Möchte man kostbare Schulstunden nicht darauf verwenden, Schüler in komplizierten Methoden und Verfahren zu trainieren, greift man im Zweifelsfall lieber auf das traditionelle Unterrichtsgespräch mit dem Ziel der Textanalyse zurück, weil einem der Inhalt meist über die Methode geht und wohl auch Gründe dafür geltend gemacht werden könnten, dass zu viel und zu häufige Methodenvielfalt auch Diffusität und Ineffizienz bedeuten kann. Methodenvielfalt erfordert hohe Kompetenzen seitens der Schüler: Sie müssen sich selbstständig organisieren, eigene Ideen entwickeln, sich untereinander abstimmen und austauschen. In einer funktionierenden Gruppe allerdings lernt man durchaus die Chancen und Vorteile von kreativen Verfahrensweisen schätzen und freut sich, wenn ein Schüler, der im Deutschunterricht analytisch 12 Der produktionsorientierte Unterricht verfolgt durch die Anwendung kreativer Verfahren kognitive Ziele und kann deshalb scharf abgegrenzt werden von der Methode des ‚Kreativen Schreibens‘, deren Verfechter vielmehr einem verstärkten Ausdrucksbedürfnis der Jugendlichen gerecht werden wollen und daher keine Interpretation eines literarischen Textes anstreben.

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eher wenig reüssiert,13 durch eine gestalterische Aufgabe eine Chance hat, sich zu beweisen. Die Anforderungen des ‚Gestaltenden Interpretierens‘ sind letzten Endes solche, die die traditionelle Textanalyse betreffen. Es empfiehlt sich daher in vielen Fällen, kreative und gestalterische Aufgaben als Vertiefung von Analyse und Interpretation ergänzend hinzuzuziehen, sodass Ergebnisse aus der vorangegangenen Analyse nochmals reflektiert und in eine andere formale und stilistische Gestaltung überführt werden bzw. aktiv angewendet werden. Auf diese Weise erreichen die Schüler im günstigsten Fall ein tieferes Textverständnis. Eine andere Variante wäre, die Analyse durch eine kreative Aufgabe vorzubereiten. Denkbar wäre z.B., sich zunächst in die Motive und Verhaltensweisen eines Charakters aus dem eigenen Erfahrungsbereich einzufühlen (durch einen Tagebucheintrag zum Beispiel), bevor man die literarischen Mittel analysiert, durch die der Autor eine bestimmte Wirkung evoziert. Die vorliegenden Beispiele zeigen die Zusammenfassung der Analyseergebnisse in kreativer Form. E.T.A. Hoffmans Der Sandmann sowie Büchners Woyzeck sind notwendiger Bestandteil des hessischen Rahmenlehrplans. Besonders Hoffmanns Erzählung eignet sich aufgrund der zentralen Ambivalenz, die den Text strukturiert und die er bis zum Schluss nicht auflöst, für Aufgaben des ‚Gestaltenden Interpretierens‘. Die beigefügten Schülertexte stellen lediglich einen Ausschnitt aus einem Briefwechsel zwischen Spalanzani und Coppola dar, der insgesamt sieben Seiten umfasst und nahezu auf die gesamte romantische Erzählung aus dem Jahre 1817 rekurriert. Die genaue Aufgabenstellung lautete: „Nach dem Tod Nathanaels und dem Verschwinden Spalanzanis taucht in einer Schublade des Professors der gesamte Briefwechsel zwischen ihm und Coppola auf. Verfassen Sie mindestens drei Briefe dieses Briefwechsel von jedem Briefpartner.“ Die oben genannte, von Hoffman angelegte Ambivalenz besteht in der Frage, ob Coppelius ein schlichter bürgerlicher Advokat oder tatsächlich der Sandmann sei. Variiert wird diese die Spannung auslösende Frage nur noch durch die Erweiterung, ob Coppelius und Coppola nicht doch ein und dieselbe Person seien. Damit in Zusammenhang steht der Wahnsinn des Protagonisten Nathanael, über den Hoffmann ebenfalls keinen Aufschluss gibt: Ist Nathanael wahnsinniges Opfer seines Kindheitstraumas bzw. seiner eigenen überreizten Phantasie, oder ist der Sandmann nicht doch vielmehr als äußere Macht zu verstehen? Die Schüler zeigten in diesem Fall 13 Siehe die Arbeit von Bastian im Anhang: Bastian ist ein sehr einseitig naturwissenschaftlichmathematisch begabter Schüler, dessen Aufsätze eher kryptisch und unstrukturiert sind. Offenbar ist er aber gut darin, sich einzufühlen und (mit Einschränkungen) einen bestimmten Stil zu imitieren. Die Schülerarbeit liegt unkommentiert und unkorrigiert vor, um eine gewisse Offenheit im Hinblick auf die Bewertung durch Außenstehende zu gewährleisten.

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nahezu geschlossen eine deutliche Nähe zur rationalistischen Deutung: Dieser Mann ist eindeutig verrückt. Der vorliegende Schülertext impliziert eine Deutung, die einige der vielen im Text verstreuten Zufälle aufgreift, die wiederum Claras rationalistischer Weltsicht widersprechen: Ist es Zufall, dass genau jenes Zimmer, welches für Nathanael bezugsfertig ist, nachdem sein altes Quartier abgebrannt ist, gegenüber von Olimpias Zimmer liegt? Wie kann Coppelius Nathanaels Todessturz bereits ankündigen? Der Schülertext bietet die Deutung an, dass es zwischen Spalanzani und Coppola eine Verschwörung gegeben haben könnte: Plan ist, Nathanael durch den perfiden Einsatz des Automaten in den Wahnsinn zu treiben. Blickt man nun auf die vorher genannten Bewertungskriterien zurück, so kann der vorliegende Text durchaus als sehr gute Arbeit betrachtet werden. Die Schüler schaffen ein recht authentisches Stilimitat und flechten adäquate Beschreibungen von Nathanaels Charakter mit ein. Die unbedingte Korrelation zwischen Kreativität und analytischen Fähigkeiten sowie die Einhaltung des Referenzrahmens wird hier deutlich: Die Schüler verfügen über eine detailgetreue Textkenntnis und haben die dem Text inhärente Ambivalenz reflektiert und einen Ansatz zu deren Auflösung formuliert. Was aber ist nun in diesem Fall der Vorteil der gewählten Methode gegenüber einem Lehrer-Schüler-Gespräch als vorbereitende Methode der klassischen Textinterpretation? Zunächst sicherlich die Tatsache, dass die Schüler sich auf diese Weise eines angemessenen sprachlich-stilistischen Ausdruckes bedienen müssen und somit lernen, verschiedene Stilebenen zu trennen – eine Fähigkeit, über die viele Schüler (aber auch Studenten!) erfahrungsgemäß noch nicht verfügen. Im günstigsten Fall geht damit eine Erweiterung des Wortschatzes einher. Darüber hinaus ist durch diese kreative und sehr spielerische Herangehensweise gewährleistet, dass die Schüler sich sehr viel eingehender mit den Eigenschaften der einzelnen Figuren beschäftigen und durch eine kreative Eigenleistung zu einem Interpretationsergebnis kommen. Nicht zuletzt kann eine solche Aufgabe auch als Ergebnissicherung dienen, welche die erarbeiteten Ergebnisse in kreativer Form zusammenfasst. Die Briefform ist eine für Schüler sehr transparente und leicht umsetzbare Art der Darstellung. Die Formalia wie An- und Abrede beachten Sie üblicherweise, sodass strukturell keine zu großen Hürden entstehen. Verlangt man hingegen einen inneren Monolog aus der Perspektive einer fiktiven Figur, so sieht das Ergebnis sicherlich anders aus. Das Konzept des inneren Monologes kann keinesfalls vorausgesetzt werden, woraus folgt, dass bei Einübung von gestalterischen Aufgaben unbedingt gleichzeitig Stil- und Gattungskonventionen mit vermittelt werden müssen. Aus diesem Grund ist die Mittelstufe mit vielen Aufgaben dieser Art tendenziell überfordert, soweit sie sich auf komplexere erzählerische Vermittlungsstrategien beziehen.

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Das Beispiel einer kreativen Aufgabe zu Woyzeck ist vor allem deshalb interessant, weil es sich bei dem Verfasser um einen Schüler handelt, der in Deutschklausuren grundsätzlich im unteren Dreier- oder oberen Viererbereich abschneidet, denn er schafft es selten, einen Gedanken zu Ende zu führen und einen Text kohärent zu strukturieren. Die genaue Aufgabenstellung lautete: „Woyzeck wurde verhaftet und des Mordes an Marie angeklagt. In der Untersuchungshaft fasst er Mut, einen ausführlichen Brief an seinen Verteidiger zu schreiben. Es ist ein Versuch, sich seiner Lebenssituation bewusst zu werden und seine Sicht der Dinge niederzuschreiben“ und bildete den Abschluss der Unterrichtsreihe. Der Schüler stilisiert Woyzeck als ein Opfer der Gesellschaft und versucht, dessen beinahe aphasisches Sprachverhalten abzubilden. Dies gelingt ihm nicht durchgängig, denn er verwendet die Fremdwörter „Melancholie“ und „schizophren“, die Woyzeck wohl noch niemals gehört haben, und wenn, dann sicherlich nicht behalten haben dürfte. Der Schüler interpretiert die Tat Woyzecks als die eines verstörten, gequälten Menschen, der seine Triebe nicht kontrollieren kann und schließlich auf eruptive Weise vom passiven zum aktiven Menschen wird. Der Verfasser hält sich auch insofern an den Referenzrahmen, als er Woyzecks pseudo-philosophische Reflexionen14 sowie Szene 23 der Studienausgabe15 einbezieht, in der Woyzeck Maries Ermordung verdrängt und sich teils davon distanziert, teils jedoch auch schuldig fühlt. Diesen letzten Aspekt hat der Schüler allerdings unberücksichtigt gelassen, was in diesem Fall auf mangelnde Textkenntnis zurückzuführen ist und sich in der Bewertung daher in geringem Maße sanktionierend auswirken müsste. In diesem Fall liegt der Vorteil der spielerischen Interpretation der Schuldfrage (in der Stunde vorher wurde das Clarus-Gutachten besprochen) deutlich auf der Hand: Der Schüler hat Schwierigkeiten bei der traditionellen Aufsatzform, kann aber auf diesem Wege eine adäquate Interpretationsleistung erbringen. Auch hier liegt eine, wenn auch mit Abstufungen im Vergleich zu dem Briefwechsel über Hoffmanns Erzählung, angemessene sprachliche Darstellungsweise vor, die mit einer sehr guten Erfassung von Woyzecks Charakter korreliert. Mit ersterem haben Schüler erfahrungsgemäß große Schwierigkeiten, da sie meist nicht in der Lage sind, verschiedene Stilebenen zu trennen. Fazit: Aufgaben zum ‚Gestaltenden Interpretieren‘ ergänzen und sichern Ergebnisse der Textanalyse, sie sind jedoch keinesfalls als Substitution zu verstehen! Wenig analytisch begabte Schüler können durch solch ein kreatives Verfahren einen alternativen Weg zur Interpretation beschreiten 14 „Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.“ (Büchner: Sämtliche Werke, S. 164) 15 Büchner: Woyzeck, S. 39.

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und grundsätzlich gilt, dass das Verständnis der Verhaltensweisen einzelner literarischer Figuren durch die Eigenleistung der Schüler vertieft werden kann. Unbestritten ist jedoch, dass auch Aufgaben dieser Art für schwächere Schüler eine hohe Anforderung darstellen, also keineswegs ein leichter Ausweg aus den Mühen der Textinterpretation sind. Unbestritten ist auch, dass die Operatoren des Analysierens und Interpretierens als Hintergrundfolie für das ,Gestaltende Interpretieren‘ beherrscht werden müssen, sodass das Spielerische nicht im Unverbindlichen und Subjektiven sein Ziel hat, sondern methodisch-didaktisch in dem Zweck, um mit Schiller zu sprechen, den Menschen ästhetisch zu machen.

4. Folgerungen für die Praxis der Literaturinterpretation an Schule und Hochschule Es liegt auf der Hand, was Deutschlehrer ihren Schülern für ein mögliches Germanistikstudium vermitteln sollten. Hochschullehrer erwarten, neben der unrealistischen Forderung eines breiten literarischen Kanonwissens, von den Studienneulingen ein Basiswissen an literaturwissenschaftlichem Begriffsinstrumentarium und die Fähigkeit, dieses im konkreten Fall auch anwenden zu können. Um dies zu gewährleisten, würde ‚Spiel‘ im Kontext der Institution Schule also auf keinen Fall als zweckfrei definiert werden dürfen; es müsste vielmehr die Betonung auf der Zweckdienlichkeit liegen, sodass das Potential im Hinblick auf schulische Bewertung bzw. Aneignung des Interpretationsinstrumentarium durch die Schüler dieser Aufgabenform vollends ausgeschöpft werden kann. Im Einzelfall sind Schüler also vor allem dann den Anforderungen des Germanistikstudiums nicht gewachsen, wenn eine zu stark in Richtung des Spielerischen neigende Schulpraxis möglicherweise den analytischen Zugang später erschwerte. Es ergibt sich als methodisches Problem im Folgenden die Frage, ob und inwieweit die Annahme der einschlägigen Didaktiken berechtigt ist, dass auf kreativ-gestalterischem Wege ein tieferes Textverständnis erreicht wird? Diese Frage kann man definitiv bejahen. Die Betrachtung der beiden Schülerbeispiele zeigt einen Interpretationsansatz, der für sich genommen inhaltlich und formal gelungen ist. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der spielerische Umgang mit Literatur nicht zum Selbstzweck bzw. nicht zweckfrei wird. Die zeitgenössische Didaktik geht ebenfalls davon aus, dass die Vorteile der genannten spielerischen Verfahrensweisen für alle Schüler gleichermaßen gewinnbringend sind. Diese Annahme ist entschieden zu verneinen. Die beigefügten Schülertexte wurden von Jugendlichen eines staatlichen Internats für besonders leistungsstarke Schüler verfasst. Die dortige Klientel ist ungewöhnlich belesen und hat somit z.B. ein differenzierteres Stilemp-

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finden als ein Schüler eines durchschnittlichen bundesdeutschen Gymnasiums. Produktive Aufgaben werden von letzteren Schülern daher häufiger weniger überzeugend bearbeitet. Die umgekehrte Abhängigkeit, nämlich die der Schulen von den Universitäten, scheint jedoch weniger evident: Was genau müssen Lehramtskandidaten mit der speziellen Ausbildung für das gymnasiale Lehramt aus der Hochschule mit in die Ausbildung nehmen? Fachwissen, ist die erste offensichtliche Antwort, die dem Befragten vermutlich einfällt. Dies wird als selbstverständlich angenommen und obliegt schließlich jedem Studierenden selbst. Es fehlt den Lehramtsanwärtern aber durchgängig an Kenntnissen bezüglich didaktisch-methodischer Vermittlung hinsichtlich des Umgangs mit literarischen Texten, u.a. auch im Hinblick auf die gestalterische Interpretation. Hört man ältere Kollegen von ihrem Studium berichten, so erfährt man, dass es offenbar eine Zeit an den Universitäten gab, wo basale Grundfertigkeiten in Proseminaren unterrichtet wurden. Die Lehramtsstudenten lernten, mit Operatoren umzugehen, die ihnen im Schulalltag jeden Tag begegnen würden: „Analysieren und interpretieren Sie…“, „Erörtern Sie, inwiefern…“, „Nehmen Sie begründet Stellung zu…“. Der heutige Lehramtsstudent begegnet diesen Anweisungen zum ersten Mal im Referendariat, ergo: Er hat es bis dahin niemals selbst erprobt.16 Schaut man sich in verschiedenen Kollegien um oder beobachtet seine Referendarsmitstreiter, wird schnell deutlich, dass hier durchaus Bedarf bestanden hätte oder besser: bestünde. Damit geht einher, dass nicht nur im universitären Bereich der Didaktik die schulischen Rahmenpläne bekannt sind, sondern auch in den Fachwissenschaften. Wenn die Vorbereitung der Schüler seitens der Deutschlehrer auf die Hochschulreife fachkundig und zufrieden stellend verlaufen soll, so ist die erforderliche Voraussetzung hierfür eine Ausbildung, die den Lehrern ebendies auch ermöglicht. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Hochschulen Studierende unterrichteten, die bereits auf wesentliche analytische und interpretatorische Fertigkeiten zurückgreifen können. Geht man nun davon aus, dass das ‚Gestaltende Interpretieren‘ ein spielerischer Umgang mit Literatur ist, der schließlich jedoch in eine profunde und ernstzunehmende Texterschließung münden soll, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Spielbegriff Huizingas u.a. und der genannten Methode. Wie ausgeführt, darf die 16 Angesichts des Primats der Wissenschaftlichkeit ist das sicher heikel, aber im Lichte der vorgetragenen Gedanken wäre vielleicht darüber nachzudenken, ob der Möglichkeit solcher kreativ-schriftstellerischen Erschließung von Texten auch im Studium Raum gegeben werden müsste, z.B. in einer Art Analysekurs mit Eigenkreativität, vielleicht auch mit parodistischer Intention anhand der literarischen Kategorie der Parodie. Eine Einübung der Stilvarianten, Genres etc. könnte durch Aufgaben wie o.g. gewährleistet werden, d.h. ohne den Fokus primär auf die Interpretation zu legen.

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gestaltende Texterschließung keinesfalls zweckfrei eingesetzt werden. Auch das Postulat der Freiwilligkeit hat in der Institution Schule keine Bedeutung, genau genommen schließen sich Freiwilligkeit und Schule für Schüler per definitionem aus. Wenn also Zweckgebundenheit und Zwang in Anschlag gebracht werden müssen, kann und sollte die Methode des ‚Gestaltenden Interpretierens‘ nicht unter der Spieltheorie subsumiert werden – nicht, wenn in Schule und Hochschule gleichermaßen eine sachgerechte und adäquate Ausbildung stattfinden soll.

Literatur Anz, Thomas: Art. Spiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Berlin, New York 2003. S. 469-472. Büchner, Georg: Sämtliche Werke. Hg. von Paul Stapf. Berlin, Darmstadt 1963. Büchner, Georg: Woyzeck. Hg. von Burghard Dedner. Stuttgart 1999. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998. Haas, Gerhard; Menzel, Wolfgang; Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch 123, 1994, S. 17-25. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1987. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Theoretische Schriften. Bd. 8. Hg. von Rolf Peter Janz u.a. Frankfurt a.M. 1992, S. 556-676. Spinner, Kaspar H.: Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition. Selze 2001. Waldmann, Günther: Grundzüge von Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts. In: Norbert Hopster (Hg.): Handbuch „Deutsch“. Sekundarstufe I. Paderborn, München, Wien u.a. 1984, S. 98-135.

Anhang Briefwechsel zwischen zwischen Coppola und Spalanzani (dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Konrad Hessler, Patrick Eser und Bastian Harnischmacher, Abiturjahrgang 2008 der Internatsschule Schloss Hansenberg in Geisenheim) Verehrter Professor Spalanzani, werter Landsmann, nach langen Jahren wende ich mich wieder einmal an Euch. Ich hörte, Ihr seiet wieder nach Deutschland gezogen, so richte ich meinen Brief denn auch an die alte Adresse. Ich schäme mich, dass ich Euch nicht schon früher kontaktierte, doch Zeit und Umstände hielten mich davon ab, zu tun, was ich schon seit Jahren hätte tun sollen. Umso mehr fühle ich mich schuldig, als ich Euch, da ich nach langen Jahren wieder Kontakt zu Euch aufnehme,

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gleich bitten muss, mir in einer Angelegenheit beizustehen, die für mich von äußerster Wichtigkeit ist. In der Hoffnung, Euch mit den folgenden Ausführungen nicht zu ermüden, habe ich mir erlaubt, Euch einen groben Überblick über die Sache zu geben. Mehr als zehn Jahre ist es wohl her, da verkehrte ich, wie Sie – werter Spalanzani! – wohl wissen, in der Gesellschaft als der Advokat Coppelius. Wie Ihnen ebenfalls bekannt ist, betrieb ich zu dieser Zeit Forschungen auf Gebieten, die in diesem Brief nicht ausgesprochen werden sollen. Als ich des Nachts einen meiner Gefolgsleute aufsuchte, bei dem ich des Öfteren zu Mittag aß, begab es sich, dass dessen Sohn – ein widerliches kleines Biest von nicht einmal 12 Jahren, möchte ich meinen – uns bei der Durchführung unserer Versuche beobachtete. Als ich dies aufdecken konnte, gelang es mir nicht, den unerwünschten Zeugen zu beseitigen, ebenso wenig wie den Vater, der schon seit längerem Skrupel bekommen hatte und sich mit dem Gedanken trug, auszusteigen. Um einer Verfolgung durch die Behörden zu entgehen, musste ich damals fliehen. Wenige Jahre später kehrte ich zurück, und diesmal gelang es mir zumindest, den Vater auszuschalten, doch vom Sohn fehlte auch damals noch jede Spur. Er weiß um meine Identität, Spalanzani! Er muss ausgeschaltet werden! Ihr fragt Euch sicher in diesem Moment, warum ich Euch von der Begebenheit berichte. Ich hörte, zu Euren Studenten zähle ein junger Mann namens Nathanael. Wie Ihr in diesem Moment wohl ahnen werdet, handelt es sich bei diesem jungen Mann um eben jenen Knaben, der mich damals bei der Durchführung meiner Experimente beobachtete. Da Ihr somit über eine Möglichkeit verfügt, Kontakt zu ihm aufzubauen, möchte ich Euch um Unterstützung bitten. Da der Junge, wie ich gehört habe, Anzeichen von Geistesverwirrtheit zeigt, ist es mein Plan, diese seine Eigenschaft weiter auszubauen und in ihm selbst schließlich den Drang zu wecken, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich hoffe auf Eure Beziehungen und Unterstützung. Hochachtungsvoll, Giuseppe Coppola Hersteller von Gläsern, Brillen und Okularen Spalanzani an den Glasmacher Coppola Welch wunderlicher Zufall, dass ihr mich gerade jetzt anschreibet, um mich um Hilfe zu bitten. Ich verstehe euer Anliegen und bin bereit, einem alten Freund behilflich zu sein. Allerdings fordre ich von euch im Gegenzug auch eine Hilfeleistung. Aber von vorne – Ich kenne den jungen Herren, der euch ein Dorn im Auge scheint, flüchtig von Begegnungen in der Universität. Von mir vertrauten Studenten hörte ich aber, dass dieser Mensch ein ganz wundersam verträumter und leichtgläubiger sei.

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Nun schlage ich euch vor, ein Experiment an dem Herrn auszuführen. Die Hauptrolle hierbei soll eine Erfindung meinerseits spielen, eine ganz wunderbare, wenn ich anfügen darf. Sie – es ist eine sie – heißt Olimpia und ist ein sprechendes und laufendes Automat, welches in Zukunft die Welt revolutionieren wird. Diese Olimpia ist äußerlich makellos und gerade gut genug, um den jungen Herrn zu verführen. Er soll Tage mit ihr verbringen und eine Liebe zu ihr entwickeln, ehe wir den Spuk auflösen, sie als Automaten enttarnen und ihn in die tödlichen Abgründe des Liebeskummers werfen. Allerdings ist mein Automat noch nicht perfekt genug; und hierbei kommt ihr ins Spiel. Um ihr eine Seele einzuflößen und sich bewegen zu können, benötigt das Automat noch ein Paar Augen, zu deren Herstellung ich bislang noch nicht fähig war. Da ich aber weiß, dass ihr „Augenspezialist“ seid, könntet ihr mir bei der Herstellung dergleichen helfen. Ich setze eure Augen ein, das Automat funktioniert und ich ernte den vollen Ruhm. Dafür stelle ich euch das Automat zur Verfügung; ich werde es als meine Tochter ausgeben. Ich werde sie in mein Studierzimmer setzen, wo der Herr sie sehen könnte, wenn er von der Straße schaute. Vielleicht wäre es euch möglich ihm eine gute Perspektive zu verschaffen; so würde ihre Eleganz die volle Wirkung entfalten. So verbleibe ich, Massimo Spalanzani

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Mein Text bin ich Szenische Darstellung und kreatives Schreiben In der schulischen Praxis ist eine starke Orientierung an traditionellen Formen des Deutschunterrichtes im Umgang mit Texten zu beobachten. Beschreibung, Bericht, Inhaltsangabe, Nacherzählung, Erörterung und Interpretation bestimmen bisher zu einem großen Teil den Alltag. Im szenischen Spiel hingegen sowie im spontanen, freien, textungebundenen oder textgebundenen produktiven Schreiben können die Schüler denkend, fühlend und handelnd ihre Kreativität einsetzen, um zu einem authentischen Schreibstil zu gelangen und auch vorgegebenen Gestalten neue Formen zu geben. Schüler können sich im szenischen Umgang mit literarischen Texten Welten erschließen, die sie zu einem lesend-reflektierten Umgang mit sich selbst auffordern. Die Distanz zum Text ergibt die Fähigkeit des Gegenteils: die Nähe. Die erfahrbare Wechselbeziehung zwischen Rezipienten- und Produzentenrolle sowie der szenischen Darstellung und Präsentation ist eine Möglichkeit, die auf der Suche nach Identität dazu dient, sich selbst aus der Distanz zu betrachten. Zudem werden eine Orientierung an der Schreibsituation und eine Einfühlung in das eigene Schreibziel gewonnen, was ein wesentliches Element des Schreibprozesses beim Vertiefen eigener Texte ist. Kreatives und freies Schreiben, Schreibprojekte und das Schreiben mit neuen Medien werden die Schreibmotivation wecken, da das Schreiben nicht mehr losgelöst ist von persönlichen Belangen. Nicht die Fixierung auf das fertige Produkt steht im Vordergrund, sondern der Schreibprozess und der Entwicklungsstand des Einzelnen. Textproduktion wird dann zum Balanceakt, denn erst wenn der kognitive Zugang zu dem Thema gefunden ist, können die Ideen in einen Text gegossen werden. Durch Instruktion und Konstruktion wird dabei Schreibkompetenz entwickelt. Der Reichtum innerer Vorstellungen stimuliert und weckt das Bedürfnis nach eigener Sprache, provoziert zur Anwendung eigener Wortmalerei. Die kreative Auseinandersetzung mit einem Text beinhaltet hier zwei Schwerpunkte: Auf der einen Seite steht das szenische Verfahren durch szenisches Herangehen und Spiel als Vorbereitung für eigene, kreative Textarbeit und Textproduk

„Für die vielfältigen Formen szenischen Spiels gibt es keine eindeutige Terminologie. In

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tion, und auf der anderen Seite vollzieht sich damit verbunden auch eine weitere Entwicklung der Persönlichkeit. In einem ersten Schritt habe ich mit den Schülern der 8. Klasse einer Freiburger Schule die Ballade Der Zauberlehrling von Goethe erarbeitet und die szenische Gestaltung entwickelt. In dieses Projekt waren Theaterpädagogen der Städtischen Bühne Freiburg mit eingebunden. In einem zweiten Schritt sollen Studierende eines Süskind-Seminars der Pädagogischen Hochschule Freiburg mit den Schülern dieser Klasse Versionen des kreativen Schreibens erproben. Grundlage dieser Veranstaltungen sind Textausschnitte des Romans Das Parfum von Patrick Süskind. Hier begegnet dem Schüler eine Welt von Gerüchen, die auf verschiedenste Art und Weise Anlass und Anregung zum kreativen Schreiben geben soll. In meinem Beitrag befasse ich mich zuerst mit dem szenischen Herangehen an einen Text als Vorbereitung für die kreative eigene Textproduktion und der damit verbundenen Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung durch Selbsterfahrung. Im Weiteren stelle ich die Frage: Lust oder Frust?, die sich mit den Herausforderungen, die sich bei der szenischen und kreativen Arbeit stellen, beschäftigt. Im letzten Teil meines Beitrages berichte ich über die didaktischen Erfahrungen meiner Arbeit als Referendar.

Das szenische Herangehen an einen Text Das szenische Verfahren, an einen Text heranzugehen, ermöglicht eine emotionale, imaginative und sinnliche Texterfahrung. Es ist eine ‚tätige‘ Interpretation und dient dem Erweitern und Ergänzen analytischer Verfahren. Spiel ist stets auch verbunden mit der Fähigkeit und der Förderung des Textverstehens. Zusätzlich dient es der Wahrnehmungsschulung. Es fördert sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung. Balladentexte als Spiel bedeuten Ausdrucksschulung. Die sprachliche und gestische Ausdrucksfähigkeit im Hinblick auf Präsentationsfähigkeit wird geschult. Das Theaterspiel fördert zusätzlich die Fähigkeit zur Empathie und Toleranz. Szenische Übungen erfordern situationsbezogene und kreative Problemlösungsstra-





theoretischen und praktischen Spielvorschlägen begegnen uns die unterschiedlichsten Bezeichnungen.“ (Thurn: Mit Kindern szenisch spielen, S. 13) In der Literatur findet sich keine eindeutige Definition des Begriffs ‚Persönlichkeitsentwicklung‘. Zusammenfassend lassen sich unter diesem Begriff jedoch folgende Intentionen pädagogischen Handelns subsumieren: Etablierung und Stabilisierung einer Ich-Identität, Aufbau von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, Aufbau eines Selbstkonzeptes, Selbstwahrnehmung und soziale Integration. Die wesentliche Kraft des Theaterspiels liegt in dem Schaffen von Spielräumen, um selbst kreativ handelnd aktiv werden zu können.

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tegien. Außerdem wird die Fähigkeit zu reflektierter Kommunikation entwickelt und gefördert. Zudem muss der Schüler Eigenverantwortung und selbstgesteuertes Lernen zeigen. Szenische Verfahren fördern daher auch die Fähigkeit, sich zu engagieren, mit anderen zu kooperieren, und somit die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu intensivieren. Durch diese Ganzheitlichkeit erlangen die Schüler in einigen Schritten Schlüsselkompetenzen, die sie zu einer Handlungskompetenz führen, welche für ihre spätere eigene kreative Textproduktion wichtig ist. Schreiben kann auch als Möglichkeit erfahren werden, sich der eigenen Wünsche, Träume und Gefühle bewusst zu werden und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Reaktionen anderer, konzentriert auf das Eigene, sich in Erinnerung versenkend, um Zeit und Raum zu vergessen. Spielen und Schreiben bedeuten auch Umgang mit den eigenen Bedürfnissen, Verletzungen und Verdrängungen. Dies sind Möglichkeiten, sich seines Selbsts zu vergewissern und Identität zu gewinnen. In der zuerst angestrebten szenischen Erarbeitung eines gegebenen Textes bleibt dem Schüler immer die Möglichkeit, erste Schritte der Selbstreflexion, -erfahrung und -vergewisserung zu gehen. Er kann Klarheit über sich selbst gewinnen, hat Zeit sich selbst zu erleben und kann seine Individualität entfalten.

Spiel mit dem Text und Persönlichkeitsentwicklung durch Selbsterfahrung Persönlichkeitsentwicklung findet hier in erster Linie bei der Förderung des Selbstbewusstseins und des Selbstvertrauens, der Selbsterfahrung und der sozialen Integration statt. Je nach Schüler variiert dabei die Gewichtung der einzelnen Bereiche. Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein sowie sprachliche Kompetenz und Kommunikationskompetenz werden durch die Methode des szenischen Spiels gefördert und stehen in engem Zusammenhang. Im Rahmen eines Spielablaufs erhält der Schüler als Individuum die Möglichkeit, eine Darstellungssicherheit zu gewinnen, wie sie in normalen Alltagserfahrungen oft nicht gegeben und für die anschließende eigene Texterstellung und Darbietung äußerst wichtig ist. Es scheint, als ob sich durch das Spiel vor der Gruppe die Aufmerksamkeit eher nach innen lenkt, obwohl das Spiel eher nach außen gerichtet ist.

 

Vgl. Freud: Der Dichter und das Phantasieren. Im Mittelpunkt der pädagogischen Überlegungen stehen die Aspekte der Förderung von Kreativität, Selbstbewusstsein, Selbsterfahrung, Selbstsicherheit und selbst bestimmtem Handeln.

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Jedes Spiel ist automatisch eine Form der Selbstpräsentation. Durch eine unmittelbare Beurteilung kann der Schüler in seiner Aktion positiv verstärkt werden. Die Forschung über das Selbst oder die Identität hat eine sehr lange Tradition. Im Zentrum stehen dabei meist die Fragen und die Antworten einer Person auf die Frage: Wer bin ich? Die Antworten können dabei in verschiedene Kategorien eingeteilt werden, wie zum Beispiel auf physikalische Merkmale: Ich bin groß; auf soziale Identität: Ich bin Germanist; auf Eigenschaften und Dispositionen: Ich bin großzügig; und auf Fertigkeiten, Werte und Interessen: Ich schreibe gerne Gedichte. Eine Möglichkeit besteht darin, das Selbst von der kognitiven Seite her zu betrachten. Da das Selbst als Konstrukt gesehen wird, welches vom Individuum verstanden werden muss, wird heute anstatt vom Selbst oder der Identität meist vom Selbstkonzept gesprochen. Dabei führen wir heute eine kontroverse Debatte darüber, ob Menschen ein einziges oder aber mehrere Selbst-Komponenten haben. Nach wie vor besteht Uneinigkeit darüber, wie stabil oder flexibel ein Selbstkonzept ist. Immer wieder tauchen auch Diskussionen darüber auf, inwieweit das Selbst wahrheitsgetreu oder illusionär ist.10 Ein weiteres Argument ist die affektive Komponente des Selbst, in der sich die wahrgenommene Diskrepanz zwischen Ideal- oder Soll-Selbst zeigt. So wurde auch gezeigt, dass die Beziehung zu anderen Menschen die Selbst

Szenisches Spiel ist notwendigerweise verbunden mit einer Selbstpräsentation. Dabei kommt es jedoch nicht auf das schauspielerische Talent des Einzelnen an. Voraussetzung ist lediglich die freie Entscheidung von jedem Schüler, aktiv am Geschehen teilzunehmen, da er seine Hemmungen überwindet und sich auf das Spiel einlässt. In manchen Phasen galt auch die Regel, dass nur der Schüler sprechen durfte, der entweder, wie im Blitzlicht, den Redestift hatte, oder im ‚Scheinwerferlicht‘ stand. Dadurch entstand eine Rededisziplin. Eine Strukturhilfe signalisierte dem Schüler deutlich, wann er oder sie aktiv werden durfte. Als Schutzraum diente das Klassenzimmer.  Alle Mitschüler äußerten sich spontan, ohne verletzende oder abwertende Kommentare abzugeben. Jeder Stundenabschluss wurde deutlich positiv hervorgehoben. So erfuhr jeder Schüler, dass das Sprechen vor einer Gruppe nicht mit störenden oder beängstigenden Emotionen verbunden sein muss.  Vgl. Baumeister: The self in social psychology.  Vgl. Linville; Carlston: Social cognition of the self. In den meisten modernen Theorien werden mehrere Dimensionen des Selbstkonzeptes genannt. So haben wir eine zeitliche Dimension, die zwischen past, present und futur selves postuliert. Eine bewertende Dimension unterscheidet zwischen eher positiven, eher negativen und ambivalenten Selbstkonzepten (vgl. Linville: Self-Complexit). Baumeister hingegen differenziert zwischen einer privaten, einer öffentlichen und einer kulturellen Dimension (private, public und cultural selves) (vgl. Baumeister: Identity). 10 Ein anderer wichtiger Forschungszweig fokussiert den bewertenden, affektiven Aspekt des Selbst, der als Selbstwertgefühl bezeichnet wird. Anzunehmen und allgemein akzeptiert ist, dass Menschen nach einem hohen Selbstwertgefühl streben und dieses ein fundamentales Motiv der Menschen ist, um in sozialen Gruppen überhaupt funktionsfähig zu sein (vgl. Leary: Self-esteem as an interpersonal monitor).

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bewertung eines Individuums beeinflussen kann.11 Wir wissen heute aus einem motivationalen, zieltheoretischen Blickwinkel heraus, dass für die Selbstdefinition eines Menschen Ziele wichtig sind, um einem Identitätsziel näher zu kommen. Der Mensch eignet sich verschiedene Symbole an, die von der Umwelt wahrgenommen und als Indikatoren der angestrebten Selbstdefinition registriert werden. Je stärker das Unvollkommenheitsgefühl einer Person bezüglich ihrer angestrebten Selbstdefinition ist, desto mehr bemüht sie sich, wichtige Symbole dieser Selbstdefinition zu realisieren. Rücken wir nun den Schüler und seine kreative Kraft im Deutschunterricht in das Zentrum des Interesses, so unterliegt dieser auch einem sozialen Vergleichs- und Reflexionsprozess. Wenn in einem Leistungsbereich, der für die Selbstdefinition eines Individuums wichtig ist, ein anderer Schüler bessere Leistungen erbringt, dann setzt ein sozialer Vergleichsprozess ein, bei dem sich das Individuum bedroht fühlt. Dies ist oft mit einem Gefühl von Eifersucht gekoppelt, findet aber nur dann statt, wenn der Vergleichsschüler dem Individuum relativ nahesteht. Ist die Vergleichsperson unbekannt oder unbedeutend für das Individuum, dann findet kein sozialer Vergleich statt und es entsteht keine direkte Bedrohung. Ein Schüler, dessen erfolgreichstes Schulfach Deutsch ist, wird eifersüchtig und fühlt sich bedroht, wenn ein Freund aus seiner Klasse bessere Leistungen erbringt als er selbst. Wird die bessere Leistung aber nicht von dem Freund, sondern von einem Schüler einer anderen Klasse erbracht, bleibt der soziale Vergleich aus und es entsteht keine Bedrohung. Etwas anderes ist es, wenn die Leistungsdimension für den Schüler unbedeutend ist und eine andere, ihm nahestehende Vergleichsperson bessere Leistungen auf diesem Gebiet erbringt. In diesem Fall reflektiert der Erfolg der Vergleichsperson auf den Schüler und er kann sogar davon profitieren. Er ist stolz auf die andere für ihn wichtige Person und „sonnt sich in seinem Ruhm“.12 Auch hier kann das Selbstwertgefühl gesteigert werden.13 Da szenisches Spiel und kreative Schreibprozesse immer individuelle Prozesse sind und ihr Bedeutungsgehalt einer Leistungsdimension entspricht, die nicht unbedingt in einem Katalog gefasst werden muss, entfällt die Bedrohung des Selbstwertes im sozialen Vergleich. 11 Vgl. Tesser: Self-evaluation maintenance and the perception of friends and strangers. 12 „basking in the reflected glory“ (Cialdini: Überzeugen im Handumdrehen). 13 Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen in einem für ihr Selbstkonzept wichtigen Leistungsbereich eher bereit sind Fremden zu helfen als ihren Freunden, um damit die direkte Bedrohung von einer besseren Leistung der ihnen nahe stehenden Person abzuwenden. Eine Möglichkeit, der Bedrohung des Selbstwertes zu entkommen beziehungsweise sich im Ruhm anderer zu sonnen, ist, wenn der Bedeutungsgehalt der Leistungsdimension und damit die Wichtigkeit des sozialen Vergleiches geändert wird oder aber die Nähe zur Vergleichsperson variiert (vgl. Pleban/Tesser: The effects of relevance and quality of another’s performance on interpersonal closeness).

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Lust oder Frust? Kreative szenische Arbeit als Herausforderung Kreative Arbeit mit Worten und Texten bedeutet eine Herausforderung. Dabei ist klarzustellen, welche Merkmale von Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die Situation als Herausforderung angesehen wird. Dabei stellt sich immer die Frage, ob diese Herausforderung als Stress oder Bedrohung empfunden wird oder ob die Herausforderung als eine Beziehung zwischen Umwelt und Individuum definiert wird. Der Hauptunterschied zwischen Bedrohung und Herausforderung liegt im möglichen Gewinn, der in einer herausfordernden Situation gegeben ist, während eine Bedrohung durch drohenden Verlust gekennzeichnet ist. Die Möglichkeit eines Gewinns oder Wachstums und der angenehmen Gefühle wie Eifer, Aufregung und Hochstimmung sowie der Situation, hoffnungsvoll und voller Zutrauen zu sein, steht dem Gefühl von Kontrolle und Anstrengung gegenüber. Manchmal interagieren diese Prozesse miteinander. Dabei ist es notwendig, dass der Schüler die Größe seiner eigenen Fähigkeit ungefähr einschätzen kann. Wenn er eine Aufgabe, die hohe Anstrengung erfordert, meistern kann, so wird er die Situation nicht als Bedrohung erleben. Sie wird zu einem Gewinn und verspricht Wachstum, obwohl gleichzeitig auch die Minderung des Selbstwertgefühls droht, wenn die Situation nicht gemeistert werden kann und der Text oder die szenische Darstellung nicht gelingen. Es hängt davon ab, wie groß die Person ihre eigenen Fähigkeiten einschätzt, um die Situation erfolgreich zu meistern. Dies hängt auch mit Bewältigungsstrategien zusammen, mit problemorientierten und emotionsorientierten Bewältigungsversuchen.14 Wenn ein Schüler in einer herausfordernden Situation mit Ausdauer, positivem Denken und Humor reagiert, so wird die Chance höher sein, dass seine Darstellung oder sein Text gelingen, als wenn er mit feindseligen Reaktionen, Fatalismus und sozialem Vergleich reagiert. Er kann Elemente der stressvollen Situation, die jede Phase szenischer Darstellung oder kreativen Schreibens mit sich bringt, auf seine Art positiv werten. Gleichzeitig wird er als Repräsentant seines Textes in dieser Situation mehr die Fähigkeit haben, sich ‚selbst‘ wahrzunehmen, als die Aufgabe als stressend oder bedrohlich zu betrachten. Die Wartezeit bis zum Ergebnis bedeutet für jeden Darbietenden potentiell stresserhöhende Zeit, da er nicht weiß, ob er sein Ziel erreicht hat und dafür eine Belohnung erhält. Denn auch die Belohnung bedeutet für ihn das Erreichen eines Zieles. Hieraus ergibt sich folgende Hypothese: Die kreative und persönliche Art und Weise eines Schülers, einen Text szenisch darzustellen oder schreibend zu erstellen, bedeutet eine herausfordernde Situation, die schwierig zu bewältigen ist und durch die 14 Vgl. Lazarus/Folkman: Stress, appraisal, and coping.

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Möglichkeit gekennzeichnet wird, ein wichtiges Ziel zu erreichen. Hierbei kann es sich um ein Lernziel oder ein Leistungsziel handeln, welches durch persönliche Bedürfnisse und Verpflichtungen definiert wird.15 Wenn Fähigkeiten und Anforderungen nicht ausgeglichen sind, wird entweder Langeweile oder Angst entstehen. Für einen Schüler entsteht Langeweile nur dann, wenn seine Fähigkeiten überwiegen und er unterfordert wird, Angst dagegen nur dann, wenn die Anforderungen an ihn zu groß sind. Neben diesem Gleichgewicht von Anforderung und Fähigkeit muss der Schüler noch andere Bedingungen erfüllen, um ein Flow-Erleben herbeizuführen.16 Dies sind: eine geänderte Zeitwahrnehmung, Aufmerksamkeit und Kontrolle. So bedeutet das Gelingen eines Textes nicht nur die Herausforderung und Abhängigkeit von den eigenen Fähigkeiten, sondern auch, dass die Einschätzung einer Situation als anspruchsvoll und die Einschätzung der Höhe der eigenen Fähigkeiten zusammenwirken, um eine Aufgabe als Herausforderung annehmen zu können. Daraus ergibt sich, dass die Produktion oder Darstellung eines (eigenen) Textes gekennzeichnet ist durch die herausfordernde Situation und die wahrgenommene Fähigkeit, diesem Anforderungsniveau zu entsprechen. Dabei müssen die Fähigkeiten den Anforderungen nicht nur entsprechen, sondern können diese auch übersteigen.17 Positive Gefühle, Motivation und erhöhte Aktivation habe ich bei meinen Schülern im Zusammenhang mit der Herausforderung, einen Text selbst zu verfassen, herausgefunden. So stellte ich fest, dass Schüler, die die Erarbeitung eines eigenen Gedichtes als Herausforderung einschätzten, von weniger Stress berichteten, sich bei der Produktion mehr anstrengten und bessere Leistungen zeigten und eine erhöhte Aktivierung aufwiesen, als diejenigen, die die Erarbeitung nicht als eine Herausforderung annahmen. Hier wurde die Bedeutung der Herausforderung sichtbar, da negative Einflüsse reduziert und positive bei den Bewältigungsversuchen verstärkt wurden. Alle Schüler fühlten sich bei kontrollierbaren Aufgaben angenehm herausgefordert und motiviert. Dies waren Aufgaben zur Produktion eines Gruppengedichtes mit vorgegebenen Stichworten. Dadurch standen den 15 Vgl. Dweck/Leggett: Social-Cognitive aproach to motivation and personality. 16 ‚Flow-Erleben‘ bedeutet (neben Verschmelzung von Handlung und Aufmerksamkeit von außen, d.h. gleichzeitig Verlust von Selbstaufmerksamkeit), intrinsische Motivation und eindeutiges Feedback. Somit ist ein Gleichgewicht von Fähigkeit und Herausforderung eine Vorbedingung, um Flow erleben zu können. Aus diesem Grund bin ich auch der Meinung, dass der Weg, zuerst einen gegebenen Text zu be- oder zu erarbeiten, gleichgültig in welcher Form, der richtige Weg ist (vgl. Csikszentmihalyi: Optimal experience). 17 Dabei entstanden bei amerikanischen Schülern eher positive Gefühle, wenn die Fähigkeiten größer als das Anforderungsniveau eingeschätzt wurden, bei italienischen Schülern dagegen entstanden positive Gefühle bei ausgeglichenen Anforderungen und Fähigkeiten (Tomaka: Cognitive and physiological antecedents of threat and challenge appraisal).

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Handelnden Mittel zur Verfügung. Aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen vermute ich, dass Situationen mit konsistenter Bewertung oder klaren Maßstäben von den Schülern eher als Herausforderung wahrgenommen werden. Eine Situation ist nur dann kontrollierbar, wenn eine Handlung auch zum erwünschten Ergebnis führt. Dies ist nur möglich, wenn ein Schüler auch weiß, was er tun muss und an welchen Bewertungsmaßstäben er sich orientieren kann, um ein Ergebnis zu erreichen. Bei einer freien, kreativen Schreibaufgabe hingegen werden Bewertungsmaßstäbe nicht festgelegt, und der Schüler weiß nicht, welche Leistung zum gewünschten Ergebnis führt. Eventuell kann dies dann als Bedrohung wahrgenommen werden. In dieser Situation scheint es mir wichtig, die Interaktion von Schüler und Umwelt und deren jeweilige Beiträge bei der Bewertung einer Aufgabe zu reflektieren. Sicher ist, dass nicht die Merkmale der Umwelt oder die Reaktionen des Individuums an erster Stelle stehen, sondern deren Beziehung zueinander. Beide wirken aufeinander ein, sodass dieser Prozess geprägt ist von Dynamik. Stressoren, die auf eine Person einwirken, können nur wirken, wenn diese den Stressor als solchen wahrnimmt und interpretiert. Dabei darf auch im kreativen Schreibprozess der Schüler nicht sich selbst überlassen werden. Er benötigt Unterstützung bei der Bewältigung seiner Aufgaben.18

Selbsterfahrung mit Texten und szenisches Gestalten als Vorbedingung In dem von mir gewählten Bereich „Erste Selbsterfahrung mit Texten anhand von Balladen im szenischen Spiel“, im dramatischen Gestalten sowie im Spiel mit Sprache werden die körperlichen und sprachlichen Ausdrucksmittel der Schüler ebenso angesprochen wie der Bereich der Emotionalität, der Kreativität, der Fantasie und der Selbsterfahrung. Soziale Kompetenzen werden erprobt und gefestigt. Die Schüler erfahren Darstellungs-, Gestaltungs- und Mitsprachemöglichkeiten. Sie erleben sich als gleichberechtigtes und wertvolles Mitglied einer Gruppe. Die Annahme, dass szenisches Spiel sich auch im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung aufgrund der gemachten Selbsterfahrung einsetzen lässt, hat sich bestätigt, messbar ist diese Einschätzung aber nur in der Subjektivität des Betrachters und in den weiterführenden Schritten, Texte kreativ zu gestalten und selbst zu erstellen. Es wurden Möglichkeiten gezeigt, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl aufzubauen und die Kommunikation zu fördern. Es müssen jedoch auch die Grenzen der Möglichkeiten durch szenisches Spiel erkannt werden. 18 Vgl. Tusch: Hilfen bei Stress und Belastung.

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Dieses kann nur dann positiv zu einer Textauseinandersetzung beitragen, wenn die Schüler auch außerhalb dieses Rahmens in einem ganzheitlichen Prozess, in einem durchweg kreativen Unterrichtsgeschehen gefördert werden. Aus Sicht der Schüler waren alle Beteiligten erfolgreich. Die Motivation, die Lust und die Freude waren hoch und werden nun genutzt, um diese in einem weiteren Schritt auf das nächste Projekt der kreativen Textproduktion zu übertragen. In dem bereits durchgeführten Projekt lassen sich die fachlich-kognitiven, methodischen,19 sozialen20 und emotionalen21 Ziele nicht immer klar voneinander trennen. Oberstes Ziel des Projektes war es, dass die Schüler die Möglichkeit zur freien Selbstentfaltung hatten und durch Selbstwahrnehmung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden konnten, die sie als Basis für eine weitere kreative Erarbeitung von Texten benötigen.

Praxisorientierte Annäherung an den Balladentext (Der Zauberlehrling) Die Wahrnehmungsfähigkeit, Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein der Schüler zu fördern, geschah zum einen durch die Ausgestaltung der Rolle durch den Schüler selbst. Nur die äußeren Rahmenbedingungen der Rolle sind durch den Balladentext vorgegeben, den Rest musste der Schüler selbst entwickeln. Zum anderen war die Funktion des Lehrers dabei auf Motivation und Ermutigung reduziert sowie auf dezente Hinweise, dass der Schüler selbst die Verantwortung für seine Spielrolle übernimmt. Er 19 Ein wichtiges methodisches Ziel war, dass die Schüler ihre Ballade selbst auswählten und in möglichst selbständigem Engagement die Projektinitiative aufgriffen. Die Interaktionsformen wurden nicht gestört und alle Schüler nutzten die Zeit sinnvoll. Soziale und individuelle Prozesse, die während des Ablaufs auftraten, ließen eine Weiterentwicklung deutlich erkennen. Spannungen und Konflikte waren zu lösen und im Vordergrund stand die reale Situation von Selbstdarstellung anhand des Balladenstoffes. Ein lebendiges Bild entstand durch offene Lernformen, die auf die lokale Situation und die Teilnehmer Rücksicht nahmen. 20 Die sozialen Ziele bestanden darin, dass die Schüler zielgerichtet kommunizieren sollten. Im Blitzlicht hat sich dabei die „Redestiftmethode“ bewährt. Alle Schüler haben sich so verhalten, dass die Gruppe im Aufwärmtraining und bei den Übungen zur Körperselbstwahrnehmung nicht schwerwiegend gestört wurde. Jeder Einzelne übernahm die Verantwortung zum Gelingen des Vorhabens. Ob allerdings jeder Schüler deutlich seine eigenen Stärken und Fähigkeiten bei der Selbstdarstellung seiner Persönlichkeit hat wahrnehmen können, und zwar auf Grund der Selbsterfahrung, ist nicht bewertbar. 21 Emotionale Ziele wurden dadurch erreicht, dass die Schüler sich mit ihrer Arbeit identifiziert haben und Spaß daran hatten. Es ist den Schülern gelungen, sich in eine andere Rolle hin­ einzubegeben und sich selbst darzustellen, auch wenn einige Schüler dies mit „gemischten Gefühlen“ und einem „komischen Gefühl im Bauch“ getan haben.

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bekam natürlich Entscheidungshilfen angeboten, sodass er die Möglichkeit hatte auszuwählen. In diesem Sinne hat der Lehrer als Dramaturg in Erprobungsphasen eingegriffen oder sich, wie die Theaterpädagogen, als Dialogpartner oder Konfrontationsfigur zur Verfügung gestellt. In einer Rolle finden die Schüler auch Orientierung und Sicherheit bezogen auf die Wörter, die gesprochen werden. Jeweils im Anschluss an Übungen mit gesprochener Sprache habe ich mit den Schülern begonnen, die Ballade zu rappen. Ich konnte eine spontanere und freiere verbale Ausdrucksfähigkeit der Schüler beobachten. Über den Sprechakt hinaus entwickelte sich eine gestische und mimische Fähigkeit, die die Kraft einer Aussage betonen ließ und den Schülern auf diese Weise erweiterte Ausdrucksmöglichkeiten aufzeigte. Gerade im Dialog zwischen Zauberlehrling und Meister waren beachtliche Erfolge nur mit den Ausrufen „Ja“ oder „Nein“ zu beobachten. Spielend wurden Wörter erprobt und stimmliche Varianz eingesetzt. Auch in den Phasen des Aufwärmtrainings erfuhren die Schüler in kleinen Übungen, über welche verschiedenen Möglichkeiten des Stimmeinsatzes sie verfügen. Die einfachste Übung: alle schreien so laut sie können. Erst in der Gruppe, dann der Reihe nach. Ein Wettbewerb, wer am lautesten schreien kann, motiviert die Schüler. Der Zweck dieser Übung liegt lediglich darin, dass die Schüler eine Barriere überschreiten und damit „enthemmt“ werden. Die Selbsterfahrung im szenischen Spiel führt auch zur Etablierung und Stabilisierung der sozialen Integration innerhalb einer Schülergruppe und dient der Vorbereitung auf schriftliches, kreatives Schreiben und der Erstellung und Präsentation eines eigenen Textes. Bereits in dieser Texterprobungsphase war das Hauptmedium der Schüler selbst. Mit für die Schüler unbekannten Aufwärmübungen begann die praxisorientierte Arbeit zum szenischen Spiel anhand des Balladentextes, den die Schüler ausgewählt hatten. Das zentrale Anliegen war, die Schüler neugierig zu machen und sie von Anfang an an eine neue Art des Sichselbstwahrnehmens heranzuführen und einen Motivationseffekt zu erzielen.22 Die geschlechtsspezifische Gruppenfindung war adoleszent, altersentsprechend. Eine weitere Gruppenbildung fand statt, in der sich die Hochmotivierten und Wenigmotivierten trafen, wobei die Hochmotiviertengruppe eher feminin und die Wenigmotiviertengruppe eher maskulin in ihrer Zusammensetzung war. Bei der Partnerarbeit wurde darauf geachtete, dass diese, wenn möglich, nicht geschlechtsspezifisch, sondern gemischtgeschlechtlich war. Die Gruppen arbeiteten harmonisch und motiviert. Das Aufwärmtraining, die Körperarbeit und die Wahrnehmungsaufgaben wur22 Die Balladensammlung wurde bewusst ungeheftet und unsortiert zur Verfügung gestellt, damit die Schüler nicht durch eine Reihenfolge hätten beeinflusst werden können. Die zeitliche Strukturierung war als ‚Fahrplan‘ für die Schüler ersichtlich. Auf einem Plakat konnten sie ihre Ideen einbringen. So hatten sie zu diesem Plan einiges beizutragen.

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den aufgenommen und umgesetzt, ohne dass es dabei zu größeren Störungen kam.23 Ich selbst hatte mir vorgenommen, mich zurückzuziehen und das Geschehen aus der Ferne zu beobachten, keine invasive Intervention vorzunehmen, mich mit responsiven Interventionen zurückzuhalten, aufmerksam zuzuhören, aber nur, wenn unbedingt nötig, einzugreifen. Ein Fixpunktefahrplan sollte als Leitfaden für das schrittweise Vorgehen dienen. Dieser Fahrplan sollte nicht einzig und allein einer „Zielerreichung“ dienen, sondern der Weg war bereits das Ziel. Der erste Fixpunkt: ein Gespür für Körperwahrnehmung entwickeln, Raumerfahrung sammeln und eine Balladenauswahl treffen. Das Grundmotiv dieser Übung war, Sensibilität für den eigenen Körper zu wecken und zwischen Ruhe und Aktivität abzuwechseln. Im Anschluss an diese Körperwahrnehmungsübungen kamen dann individuellere Aufwärmübungen. Alle Schüler setzten sich auf den Boden und versuchten sich in verschiedene Situationen hineinzudenken. Dabei sollte es jedem Schüler gelingen, ein Klima körperlich so nachzuvollziehen, dass er frieren oder schwitzen konnte. Ein Motiv war das Erleben von Vorstellungsbildern und imaginären Situationen. Damit soll erreicht werden, dass diese Erfahrung auch auf einen Text, den der Schüler später selbst produziert, übertragen wird. Der zweite Fixpunkt: Zur Raumerfahrung, zur Körpererfahrung und zum Erleben der sozialen Kontaktaufnahme kamen Vorstellungsbilder und imaginäre Situationen. „Wie fühlst du dich?“, war die wesentliche Frage. Die Textrekonstruktion und das Finden des logischen Ablaufs waren erste Auseinandersetzungen mit dem Text. Mein dritter Fixpunkt war das Erreichen der Einzeldemonstration, die als ‚Rumpelstilzchenübung‘ erfüllt werden sollte. Während sich der Schüler bisher überwiegend in der Gruppe demonstrativ darstellen konnte, sollte er nun den Spruch: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“, alleine sprachlich und gestisch präsentieren, da der geschriebene Text später ebenfalls als Gruppen- oder Einzelprodukt vorgestellt werden muss. Anhand dieses einfachen Textbeispiels kann gezeigt werden, wie ein Text durch Erforschung seines Klangs erarbeitet werden kann und welche Körperhaltung zu bestimmten Klangfärbungen passt. Was geschieht, wenn Schüler die Lautstärke verändern, flüstern anstatt zu schreien, welche Wirkung hat ein Tempowechsel und welche Laute werden verändert? Klingt 23 Auch wenn kreative Darstellung, bzw. kreatives Schreiben als Gruppenprozess, zum Beispiel in Gruppengedichten, erprobt wird, bedeutet dies, dass jedes Ich sich selbst verkörpert und der Textbezug die größere Bedeutung hat als der Gruppenbezug. In der Diskussion steht dabei auch der narzisstische Bezug gegenüber gruppendynamischen Prozessen. Es geht auch nicht um einen ästhetischen Prozess an sich, sondern letztlich um die Identität des Einzelnen und der Gruppe sowie um äußere und innere Persönlichkeitsstrukturen.

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eine tiefe Stimme bedrohlicher als eine hohe oder umgekehrt? Was bewirken Pausen während des Sprechens? Der vierte Fixpunkt bestand in der Verbindung der verschiedenen Elemente – Körperarbeit, Sprecharbeit und Textarbeit. Im diesem Schritt übertrugen die Schüler die gemachten Erfahrungen auf die Ballade. Dazu bewegten sie sich durch den Raum und sprachen den Text im Gehen. Somit konnte sich der Eine oder Andere, der den Text noch nicht auswendig gelernt hatte, in der Gruppe ‚verstecken‘. Bei der nächsten Übung zeigte sich allerdings doch, dass einige den Text nicht beherrschten. Die Übung bestand darin, dass sich die Schüler im Gehen jeweils ein Wort aus der Ballade, in der richtigen Reihenfolge, zuriefen. Dies wurde in unterschiedlichen Lautstärken, variierenden Geschwindigkeiten und Betonungen durchgeführt. Dabei erhielt der Refrain eine besondere Bedeutung, da dieser gerade für die leistungsschwachen Schüler einfacher zu bewältigen war. Die Verbindung der verschiedenen Elemente – Körperarbeit, Sprecharbeit und Textarbeit – war erreicht. Mein fünfter und sechster Fixpunkt bestand darin, dass die Schüler den Balladentext rappen und die szenische Darstellung mit Körper- und Stimmeinsatz im Rollenspiel üben sollten. Hier zeigte sich, dass die Bandbreite der Bereitschaft zur Selbstdarstellung sehr groß war. Diese war auch verbunden mit dem „Sich selbst präsentieren“. Es ging nun nicht nur darum, einen Vortrag oder ein Projekt zu präsentieren, sondern sich selbst darzustellen. Dies bedeutete eine große Herausforderung. Dabei hatten viele, wie sie mir leise zuflüsterten, ein „mulmiges Gefühl im Bauch“ – obwohl wir uns in einem geschützten Raum, dem Klassenzimmer, und noch nicht im Theater, in der Öffentlichkeit, befanden. Die Stunde endete damit, dass ich ihnen den gerappten Text,24 der vor allem die Jungen begeisterte, vorspielte. Absolut motiviert hörte ich die Schüler auf dem Weg in die nächste Unterrichtsstunde rhythmisch gehend noch den Balladentext rappen: „Walle! Walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe.....“ Ich freute mich sehr darüber, dass die Gestaltung des Balladentextes immer intensiver durch die Schüler erfolgte und der Text immer mehr zu einem „eigenen Text“ wurde. Eine weitere, intensivere Auseinandersetzung mit dem Text erfolgte nun in einem Theaterworkshop am Freiburger Stadttheater in Zusammenarbeit mit Theaterpädagogen/Schauspielern. Eine Theaterpädagogin begann mit sprachlichen und körperlichen Aufwärmübungen und Wortspielen, wie z.B. ein Wort aus dem Zauberlehrling laut und deutlich auszusprechen und dazu rhythmische Bewegungen im Kreis auszuführen, verbunden mit Freezeübungen. In dieser Arbeit näherten sich die Schüler körperorientiert dem Text. 24 Vgl. Oppermann: Rap trifft Klassik.

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Eine wichtige Säule dieses Projektes, einen Text so anzunehmen, dass er zum eigenen, erfahrbaren Text wird, war die Kooperation zwischen Schule und Theater. Dabei sollten die Schüler erfahren, wie ein „Profi“ an einen Text herangeht und wie dieser Text durch seine Darstellung, auch auf einer Bühne, Lebendigkeit erhält. „Erstellt“ haben die Schüler in diesem projektorientierten Arbeiten „sich selbst“, denn nur so kann der Schritt zum „kreativen Selbst-, selbst erarbeiteten Text“ gelingen. Kreativ bearbeitet haben die Schüler im ersten Schritt die klassische Ballade des Zauberlehrlings, indem sie diese rappend auf die Bühne brachten und sich mit der spielerischen Darstellung des Themas beschäftigten. Die Videokamera dient auf hervorragende Art dazu, die Selbstwahrnehmung zu fördern. Indem die Schüler sich selbst von außen betrachten können, ist es ihnen möglich, sich und ihre Fähigkeiten in Beziehung zu anderen Schülern zu setzen. Sie sehen sich und ihre spielerische Tätigkeit nicht abgegrenzt von der Gruppe, sondern erkennen den übergeordnet szenischen Zusammenhang. Indem die Schüler sich selbst nach ihrem Spiel betrachten, treten sie in Distanz zur Aktivität, so wie sie auch in Distanz zu ihrem eigenen Text treten sollen. Eine kognitive Form der Betrachtung ergänzt ihr Handeln.25 In einer medial geprägten Welt muss einer Verarmung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit entgegengewirkt werden. Sprachlosigkeit darf nicht in der Unfähigkeit enden, seine Gefühle und Wünsche zu artikulieren oder aus Hilflosigkeit in Gewalt und Aggression zu münden. Szenische Darstellung eines Textes, das Spiel mit Wörtern und kreatives Schreiben erhöhen die Ausdrucksfähigkeit, können Ventil sein und der Kompensation dienen und mitunter auch eine therapeutische Wirkung erzielen. Das Wahrnehmungspotential,26 mit allen Sinnen die Welt einzufangen, zu tasten, zu schmecken, zu riechen, zu hören und zu sehen, wird durch kreativen Unterricht gefördert, das Imaginationspotenzial der Träume, Erinnerungen, Fantasien und Intuitionen geweckt sowie Welterfahrung, Orientierung und unbewusste Sinneswahrnehmungen werden gesteigert. In der begrifflichen Verarbeitung der Welt wird die Distanz zwischen inneren und äußeren Eindrücken, Ordnungen zu entwerfen und logische Schlüsse zu ziehen, erfahrbar gemacht. 25 Die Überlegung, die Balladen nicht sofort im kreativen Schreibprozess zu bearbeiten, sondern in einem ersten Schritt im darstellenden Spiel zu verwenden, war richtig. Dabei war es mir allerdings sehr wichtig, einen Schwerpunkt zu setzen: die Selbsterfahrung in der Ausein­ andersetzung mit einem vorgegebenen Text. Die literarische Beschäftigung mit dem Balladenstoff nimmt nur eine untergeordnete Position ein. 26 Die Wahrnehmungspotentiale unserer Schüler sind heute erheblich eingeschränkt und verkümmert. Einseitig überlastet sind die Augen, das Organ, das am einfachsten zu täuschen ist (vgl. Behrendt: Das Dritte Ohr).

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Magische Buchwelten und phantastische Sprachspiele Zur Ästhetik und Didaktik gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteratur 0. Einleitung Jetzt ist es passiert, musste ich immer wieder denken,

jetzt steckst du mitten in einer Geschichte, so wie du es dir immer gewünscht hast, und es ist schrecklich.

Phantastische Kinder- und Jugendliteratur spielt – wie Phantastik generell – ein ästhetisches Doppelspiel mit hoher literarparodistischer Potenz. Gerade innerhalb jener Romane, die als Gegenwelt das Buch materialisieren und zum Hort merkwürdiger Wesen aus Mythen, Märchen und Prosa erheben, spielt diese Reflexion des eigenen Mediums eine ebenso zentrale Rolle wie die an der Oberfläche aufscheinenden Abenteuergeschichten zwischen zwei Welten, einer, die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und einer, die naturphilosophisch-magischen Spielregeln gehorcht. Betrachtet man die Forschungsliteratur zu diesem Gegenstandsfeld, so ist zweierlei augenfällig. Erstens scheint es keine Einigkeit darüber zu geben, was Phantastik eigentlich ist, und zweitens gibt es wenig Transfers zwischen literaturtheoretischen und literaturdidaktischen Bemühungen um diese Literatur. Während literaturtheoretische Beiträge zur Phantastik ihre Thesen fast ausschließlich am Beispiel eines an Erwachsene adressierten Textkorpus explorieren, tendieren gerade deutschsprachige literaturdidaktische Beiträge immer noch oft dazu, das Textkorpus selbst, vor allem aber seine formal­ ästhetischen Charakteristika vorschnell zu Gunsten entwicklungspsychologischer oder anthropologischer Argumentationen außer Acht zu lassen, und begründen dies mit einem von den Autoren ebenfalls intendierten, literaturdidaktisch dann auch nicht mehr so relevanten zweiten Adressaten, dem erwachsenen Leser nämlich, dem das reflexive Sprachspiel zugedacht sei. Es versteht sich von selbst, dass so eine literaturtheoretisch möglichst versierte Sichtung möglicher Referenztexte weitestgehend unterbleibt. Wenn

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gleich die heutige Verlegerpraxis diesen Stimmen Recht zu geben scheint, indem sie von bestsellerverdächtigen Romanen, etwa der Harry Potter Serie oder aktuell auch dem Roman Die Bücherdiebin, eine Jugendausgabe und eine Erwachsenenausgabe gleichzeitig bewerben, soll hier dennoch das prinzipielle Eingangsparadox zunächst ausgehalten und nicht vorschnell aufgelöst werden. Es lässt sich als den Essay perspektivierende und strukturierende Frage wie folgt formulieren: Kann das literaturdidaktische Interesse an dieser Kinder- und Jugendliteratur den paradoxalen Sachverhalt methodisch auf­ lösen, dass ausgerechnet eine Literatur Vexierspiegel kompakten literaturtheoretischen Wissens bereithält, die die literarischen Kompetenzen der primär intendierten Leserschaft in der Regel überschreiten dürfte? Die vorläufige Beantwortung erfolgt nun gleichsam „eulenwendend“ in einem Dreischritt.

1. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur als multimedial wirksames Doppelspiel „This is the land of Narnia,“ said the Faun, „[...] And you-you have come from the wild woods of the west?“ „I-I got in through the wardrobe in the spare room.“ Phantastische Kinder- und Jugendliteratur erzählt wie selbstverständlich vor allem auch von Abenteuern zwischen Welten aus Logik und Magie.  

Lewis: Chronicles of Narnia. Bd. 2, hier zitiert nach: Willis (Hg.): Wizards, S. 155. Literaturdidaktisch spielt diese Literatur eine Art Vorreiterrolle, da Anna Krüger an ihr unter der von ihr stammenden Bezeichnung ‚fantastische Abenteuergeschichten‘ bereits 1952 unter dem Titel Das Buch – Gefährte eurer Kinder ihre Thematisierungswürdigkeit auch innerhalb von Unterrichtskontexten demonstrierte (vgl. dazu: Tabbert: Phantastische Kinder und Jugendliteratur, S. 188). Bis heute nimmt die phantastische Literatur, hoffähig geworden in den siebziger Jahren, den Hochzeiten der ‚Kommunikativen Wende‘ also, nicht nur innerhalb literaturwissenschaftlicher, sondern vor allem innerhalb literaturdidaktischer Publikationen eine wichtige, kontrovers diskutierte Rolle ein. Oft wird ein eher (entwicklungs)psychologischer Zugang gewählt, wie der Titel Die Phantasie der Kinder – entwicklungspsychologische Überlegungen zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur eines Beitrags von Meißner aus dem Jahre 1993 bereits verrät. Einen anthropologisch, ethnologischen Zugang wählte dagegen Haas in etlichen seiner literaturdidaktischen Publikationen. Dabei lehnt er sich an den Begriff des ‚Wilden Denkens‘ von Lévi Strauss an, um so, etwa auch 2001 am Beispiel der Harry Potter Serie, den Einsatz phantastischer Kinder und Jugendliteratur im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht als ausgesprochen fruchtbar darzustellen. Insgesamt kann man sagen, dass innerhalb literaturdidaktischer Publikationen die Legitimation kaum je auf der Basis einer Strukturanalyse der entsprechenden Literatur gewonnen wird, sondern immer mehr die emphatischen Fähigkeiten, denn die ästhetischen Kompetenzen der intendierten adoleszenten Rezipienten im Zentrum des Interesses stehen, versteht man unter ästhetischen Kompetenzen auch und vor allem ein Wissen, wie erzählt wird. Da gerade Blockbusters des

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Sie erzählt von adoleszenten Helden, die den Rezipienten – gleich welchen Alters – zur bedingungslosen Identifikation einladen. Sie erzählt von Heranwachsenden zudem, die häufig moralisch zu reifen und überhaupt eine individuelle Entwicklung gleich den Protagonisten aus Bildungsromanen zu erleben scheinen, obwohl sie doch eigentlich allesamt nur papierene „Figuren in einem Buch“ sind und „vollziehen, wozu [sie] erfunden.“ Vor allem aber werden diese Helden in einen oft märchenhaften Kampf gegen das schlechthin Bedrohliche oder Böse involviert und wenden nahezu immer, gelegentlich mit Hilfe mythischer Wesen, magischer Praktiken oder Gegenstände, schließlich alles zum Guten. Sie entwickeln währenddessen einen sagenhaften Mut, wenngleich sie zu Beginn der Handlung nicht selten familiäre und oder schulische Außenseiter sind, eher schwache Wesen voller Komplexe, die noch dazu, gemessen an den gängigen Kriterien, weder schön noch besonders erscheinen. Dies ist beispielsweise das Los von Bastian Balthasar Bux, der mit seinem Namen das onomatopoetische Spiel der Unendlichen Geschichte mit eröffnet, der Geschichte also, der er entstammt. Fiktionseröffnende Unscheinbarkeit ist aber auch das Schicksal des titelgebenden Harry Potter aus den Romanen der Autorin J.K. Rowling. Der Zauberlehrling trägt einen Allerweltsnamen wie im Märchen und ist zugleich allerdings auch jemandem ähnlich, von dessen Ungeheuerlichkeit in früheren Zeiten eher die Sagen gekündigt hätten, sprengt er doch als mit einer Narbe gezeichneter Überlebender eines bis dahin immer tödlichen Fluches die Gesetzmäßigkeiten des „selbstverständlich Wunderbaren“.

 



Genres Phantastik dazu neigen, ihre Verfahren auf der Ebene der (filmischen) Narration spielerisch schwindelig zu drehen, kann davon ausgegangen werden, dass dies den Rezipienten eine Lust ist. Obwohl statistisch nachgewiesen ist, dass Phantastik zu den Lieblingsgenres der Kinder und Jugendlichen zählt, müssen Abraham und Kepser in ihrer Einführung in die Literaturdidaktik noch 2005 festhalten, dass diese Literatur in der Unterrichtspraxis immer noch deutlich seltener als realistische KJL behandelt wird (vgl. dort, S. 125). Ende: Die Unendliche Geschichte, S. 109. Ende: Unendliche Geschichte. – Zunächst wird das onomatopoetische Spiel direkt auf der ersten Seite mit einer anderen, spiegelbildlich präsenten und namentlichen Alliteration eröffnet, nämlich mit dem Namen des Inhabers eines Antiquariates, der Karl Konrad Koreander heißt (vgl. S. 5). Auf S. 7 folgt dann jedoch bereits Bastians Name. Die Namenlosigkeit respektive das Tragen eines, wenn überhaupt, dann höchst alltäglichen Allerwelts-Vornamens und die Selbstverständlichkeit des Wunderbaren sind zwei von der Märchenforschung immer wieder angeführte Kriterien der sogenannten Volksmärchen (vgl. etwa die Veröffentlichungen von Lüthi und Rölleke, aber auch den von der evangelischen Akademie Baden herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Das selbstverständliche Wunder). Phantastische KJL und die im deutschsprachigen Raum sogenannten Kunstmärchen der Romantik, die im französischen und angelsächsischen Raum früh schon als Phantastik theoretisiert wurden, erweitern dagegen den Spielraum um die Sphäre des „Wunderlichen“ (E.T.A. Hoffmann), so dass das Wunderbare zwar thematisch bleibt, aber weder fiktionsimmanent noch vom Standpunkt des Rezipienten aus als selbstverständlich erscheint. Die hier im Zentrum des Interesses stehende Literatur, die das Buch selbst zum Gegenschauplatz macht als komplexe Märchen beschreiben zu wollen, wie dies Neuhaus in seinem Beitrag Märchen

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Wohnt Harry Potter zu Beginn der Handlung noch in einer Kammer unter der Treppe, derart am Rande der familiären Struktur, dass man ihn auch gelegentlich als ‚männliches Aschenputtel‘ bezeichnete, so wird am Ende dann alles gut und diese Botschaft gar im allerletzten Band im allerletzten Satz festgehalten: „All was well.“ Für derartige Protagonisten phantastischer Abenteuergeschichten gilt, dass sie selbst mehr als gelegentlich eine nicht allzu entfernte Ähnlichkeit zu ihnen vorauseilenden Romanfiguren aufweisen und sich zu ihnen gerne merkwürdige Wesen aus Märchen, Mythen und Prosa gesellen. Zusammen steigern sie gerade in ihrer leicht variierten Vertrautheit nicht nur bei Kindern die Leselust und lassen sich ganz offensichtlich weder von Autoren als deren vermeintlichen Erfindern noch von Buchdeckeln begrenzen, sondern überschreiten Grenzen der Epochen und Kulturen ebenso leicht wie sie Romanschlusssätze überwinden. Im Gegensatz zu anderen zauberhaften Geschichten gilt so für die phantastische Kinder- und Jugendliteratur, wie für die Phantastik generell, dass sie vor allem auch ein hoch komplexes und eng geknüpftes Netz aus im weitesten Wortsinne literarischen Zitationen und ästhetischen Verfahren darstellt. Bastian Baltasar Bux weist seinerseits eine entfernte Ähnlichkeit zu Heinrich von Ofterdingen auf, jener melancholischen Figur aus dem gleichnamigen Roman von Novalis, der es von der blauen Blume träumte. Meggie nun, die weibliche Heldin der unlängst abgeschlossenen Tintentrilogie von Cornelia Funke, ist ihrerseits ganz zweifellos Bastian Baltasar Bux wesensverwandt, wie auch die Struktur des Romanzyklus ein nicht erreichtes Formvorbild in der Unendlichen Geschichte hat. Bereits im ersten Band der Harry Potter Serie, der in seiner deutschen Übersetzung treffender Weise Harry Potter und der Stein der Weisen heißt, wirkt der Zaubererkosmos, der eindeutig naturphilosophischen Vorstellungen von der Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos verpflichtet ist, unter anderem deshalb so überzeugend, da neben Paracelsus auch Flamel erwähnt wird, zwei geschichtlich bezeugte widerspenstige Gelehrte ihrer Zeit, die auch außerhalb dieses phantastischen Buches mit dem Stein der Weisen in Verbindung gebracht wurden und teilweise noch werden. So gelingt es überzeugend eine Welt der Wissenschaft und des Heilens zu generieren, die in der frühen europäischen Neuzeit eine der Alchemie noch recht verpflichtete Epoche zum Vorbild hat.

 

2005 vorschlägt, greift entschieden zu kurz und opfert zudem noch einige sich wissenschaftlich vielfach bewährte Differenzierungen, etwa die in (Volks)Märchen und Phantastik ganz ohne Not. Vgl. dazu auch Wünsche: Volksmärchen, Kunstmärchen, Phantastische Literatur, S. 107-127. Rowling: Harry Potter and the Deathly Hallows, S. 607. Vgl. hierzu: Benzenhöfer/Wünsche: Die Alchemie in „Harry Potter und der Stein der Weisen“, S. 49-53.

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Als Beispiel für mythische Figuren schließlich, die sich weniger der genuinen Autorenphantasie und mehr dezidierten Recherchen und Überschreibungsverfahren verdanken, sei hier der Faun aus dem diesen Abschnitt meines Essays einleitenden Zitat herausgepickt. Seine antik mythischen Konnotationen werden ironisiert und erweitert, wenn er im zweiten Band der sieben Bände umfassenden Chronicles of Narnia als Mr. Tumnus auftaucht, dessen Bibliothek unter anderem ein Buch mit dem Titel „Is Man a Myth?“ enthält. Abermals literarisch etwas anders in Szene gesetzt wurde der Faun kürzlich im 2005 erschienenen, zweiten Band Tintenblut der Trilogie von Cornelia Funke. Hier nun sind sowohl die antiken, als auch die phantastischen Konnotationen des Fauns assoziativ gegenwärtig. Gleich vielfach präsent bringen Faune, umgeben von Nixen, Feuerelfen, Badern, Alchemistenpulver und mancherlei anderen kopierten literarischen Figuren und (Kon)Texten, jetzt als „Wortsamen“ der vorlesebegabten Figur mit dem bezeichnenden Namen „Orpheus“ den Sänger „Tudur“ zur „Tollheit“.10 Diese bestsellerverdächtigen Romane für Kinder und Jugendliche ermöglichen ganz offensichtlich durch die durchaus trivialen, aber spannenden Abenteuer hindurch Einblicke in tradierte literarische und literaturwissenschaftliche Spielzüge und – so die These des vorliegenden Essays – sie eignen sich gerade deshalb besonders zur Vermittlung ästhetischer Kompetenzen, die von der Empathie mit den leidenden Figuren zum lustvollen Formbewusstsein fortzuschreiten versteht.11 Denn die Basis des jeweils ungeheuer komplex organisierten Geschehens ist eine vergleichsweise einfache, aber umso wirkungsvollere Struktur, die zudem den Adoleszenten heutzutage aus differenten Medien bereits vertraut ist. Das dualistische Schema, das Nikolajeva 1988 in ihrem Beitrag Magic Code als konstitutives Merkmal phantastischer Kinder- und Jugendliteratur mit ihrer These von den zwei Welten und unterschiedlichen Übergängen beschrieb, ermöglicht ganz offensichtlich auch ein angemessen doppelbödiges Spiel.12 Einerseits wird eine spannungsreiche, von Detail zu Detail Lewis, zitiert nach Willis: Wizards, S. 156. Die Chronicles of Narnia erschienen erstmals von 1950-1956. Ihr Autor Lewis studierte klassische Philologie in Oxford und war – ganz wie sein Freund Tolkien – selbst Universitätsprofessor. 10 Funke: Tintenblut, S. 325 und 326. 11 Dies ist kein Plädoyer dafür, die klassische Textanalyse gleichsam hinten herum wieder in den Deutschunterricht zu bitten, sondern der Versuch, nicht nur Inhalte, sondern auch Strukturen und Formen als Impulse eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichtes ernst zu nehmen. Dem liegt die Vermutung zu Grunde, dass die von Anz in seinem Beitrag Literatur und Lust (S. 10) geäußerte Überzeugung, der gemäß „Analyse- und Genussfähigkeit im Umgang mit Kunst sich keineswegs ausschließen müssen“, auch für literarische Handlungen von Kindern und Jugendlichen Geltung beanspruchen kann. 12 Nikolajeva: Magic Code, S. 25 ff.. Bei aller Uneinigkeit darüber, ob Phantastik eine eigenständige Gattung sei, was vor Nikolajeva Todorov 1970 in seinem gattungstheoretischen Beitrag vorschlug und Durst 2007 in Rekurs und Erweiterung von Todorov zu zeigen sucht, 

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zauberhafter werdende und nicht wirklich neue Geschichte erzählt, die vielleicht tatsächlich zur Regression einlädt, worauf gerade innerhalb didaktischer Kontexte gelegentlich immer noch warnend verwiesen wird. Andererseits reflektieren die zahlreichen Anspielungen auf differente kulturelle Archive, vor allem auf unterschiedliche literarische Motive, Themen und Traditionen das höchst komplexe ästhetische Spiel, dem sie sich selbst verdanken und das zu erkennen eine recht hohe literarische Kompetenz voraussetzt. Renate Lachmanns Zwischenbilanz, erhoben ausschließlich auf der Basis von Phantastik für Erwachsene, gilt auch in vollem Umfang für jene Phantastik, die sich – primär – an Kinder und Jugendliche richtet. „Man kann [...] behaupten, dass die Phantastik als Fiktionshäresie operiert, indem sie mit den Regeln spielt, die eine Kultur für ihren Fiktionsdiskurs geltend macht.“13 Die vermeintlich oder tatsächlich tolkieninspirierte, sogenannte Unterhaltungsliteratur vom Deutschunterricht auszuschließen, bedeutet demnach gerade jene Literatur nicht zu thematisieren, mittels derer die Selbstbezüglichkeit als Besonderheit des ästhetischen Sprachgebrauchs besonders eindringlich thematisiert werden könnte. 14 Noch einmal potenziert wird diese Form literarischer Selbstbezogenheit in jenen Sonderfällen phantastischen Erzählens, in denen das Buch selbst zum Hort phantastischer Wesen und Regeln wird. Die Jugendromane Die Unendliche Geschichte, Tintenherz, Tintenblut und Tintentod erheben das vermeintlich selbe Buch, das die realen Leser jeweils mit ihnen in der Hand halten, zur magischen Gegenwelt einer auf den ersten Seiten der Romane je spezifisch explorierten fiktiven Welt.15 oder ob Phantastik eher eine Struktur darstelle, wie Schmitz-Emans anführt, oder ob man nahezu in Analogie zu Phonemen und Morphemen von Phantasmenen zu sprechen habe, was Lachmann mit ihren Veröffentlichungen zu diesem Thema 1995 und 2002 nahe legt, so herrscht dennoch weitestgehend Einigkeit über die Bedeutung des Dualismus und der damit einhergehenden Ambivalenz für das phantastische Erzählen. Schon in Todorovs Beitrag ist der Weltendualismus in der Unschlüssigkeit des impliziten Lesers präsent. 13 Lachmann: Exkurs, S. 97. Etwas anders, doch durchaus mit Lachmanns These kompatibel, pointiert Durst in seinem gattungstheoretischen Beitrag die parodistische Potenz von Phantastik, die unter anderem darin begründet liegt, dass dieses Genre „die Verfahren des Erzählens in ihrer immanenten Wunderbarkeit offenbart.“ (Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 393) Gemeint ist hier, dass alle Erzählverfahren, also auch die sogenannt realistischen von dieser Wunderbarkeit betroffen sind. 14 So etwa Tabbert in seinem insgesamt nicht ganz unproblematischem literaturdidaktischen Überblicksbeitrag, der Phantastik nur dann als Unterrichtsgegenstand zulassen will, wenn es sich um „ich-stärkende“ Kinderbücher vom Typ Pippi Langstrumpf handelt und „tolkieninspirierte Jugendbücher“ aus verschiedenen Gründen der Privatsphäre der Schüler überlassen will (Tabbert: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur, S. 198). Die Bemühungen um die komplexen ästhetischen Verfahren dieser Literatur sind innerhalb deutschsprachiger didaktischer Publikationen immer noch eher marginal. 15 Etwas variiert und raffinierter noch inszeniert, generiert das Buch-im-Buch Motiv im Jugendroman Sofies Welt von Jostein Gaarder eine philosophieliterarische Selbstreferentialität. Ein ähnliches Spiel liegt auch in Zafóns 2001 im spanischen Original erschienenen La sombra

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Diese erinnert in ihrer Logik und Gewöhnlichkeit zwar irgendwie an die gegenwärtig existenten europäischen Alltagswelten, ist allerdings auffällig frei von Multimedia und Internet. Das Buch-im-Buch-Motiv wird in dieser Literatur einerseits durch entsprechende stilistische Mittel zum materialisierten Gegenschauplatz der zunächst explorierten fiktiven Welt, ein Gegenschauplatz zumal, der die Figuren unvermittelt mit der bis dahin für unmöglich gehaltenen Lebendigkeit des Schriftarchivs konfrontiert. Damit scheint die Geschichte dieses Mediums zwischen Produktion und Rezeption, Textualität und Intertextualität durch die spannungsgeladenen Szenen hindurch auf, ermöglicht also neben der identifizierenden wörtlichen Lesart noch eine allegorische und eine poetische Lektüre, die von Todorov noch beide als vom ‚fantastischen Diskurs‘ ausgeschlossenes Drittes definiert wurden.16 Doch der Irritation wird hiermit noch nicht Einhalt geboten. Denn der Anspruch, den diese sogenannte Schemenliteratur an den Rezipienten stellt, wird dadurch noch erhöht, dass sie, wenn nicht ‚codeswitching‘, so doch ‚medienswitching‘ genauso gut und gerne praktiziert wie selbstreferentielle Schaueinlagen, die Literatur und in ihr und mit ihr Sprache teilweise aus ihrer arbiträren Zwangslage befreit. Dadurch also, dass diese Literatur in nahezu alle anderen Medien variierend transponiert wird, steigert sich die Komplexität des ästhetischen Spiels mit den eigenen Spielregeln ein weiteres Mal. Neben den zahlreichen filmischen, teilweise sehr freien Adaptionen der Unendlichen Geschichte und den begonnenen Verfilmungen der Romane Tintenherz, Tintenblut und Tintentod arrangiert beispielsweise die im Februar 2007 in den deutschen Kinos präsentierte amerikanische Produktion Stranger Than Fiction ein komisches, doch nicht weniger selbstreferentielles Einbrechen literarischer Regeln und Verfahren in die Alltagswelt eines korrekten und zahlenverliebten Angestellten der Finanzverwaltung.17 Seine alltägliche Biografie wird plötzlich von der Stimme einer auktorialen Erzählerin kommentiert, die seinen baldigen Tod ankündigt. Mithilfe eines Literaturprofessors, dargestellt von Dustin Hoffman, der zunächst durch ein Ausschlussverfahren die relevante Geschichte ermittelt, in dem Charakdel viento vor. Der Roman, 2005 ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel Der Schatten des Windes erschienen, sei hier neben dem umseitig näher behandelten Kinofilm Stranger Than Fiction als Beispiel dafür angeführt, dass sich auch außerhalb der KJL dieses Muster momentan großer Beliebtheit erfreut. Er kann auch als Beispiel dafür fungieren, dass der Transfer zwischen Literatur für Erwachsene und Literatur für Jugendliche weit fortgeschrittener ist, als jener zwischen der Forschungsliteratur zu diesen beiden different adressierten Literaturen, zitiert Funke doch in ihrem Roman Tintenblut unter anderem auf Seite 111 aus diesem Buch für Erwachsene. 16 Vgl. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, das Kapitel „Der fantastische Diskurs“ und S. 69 ff. 17 Zu den Verfilmungen der phantastischen KJL vgl. etwa Necknig: Wie Harry Potter, Peter Pan und die Unendliche Geschichte auf die Leinwand gezaubert wurden.

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teristika phantastischer (Jugend)Literatur aufgezählt und als nicht in Frage kommend ausgeschlossen werden, kann die Autorin des Buches, das den von Will Ferell dargestellten Steuerbeamten okkupierte, ermittelt und kontaktiert werden. „Ein so surrealer und selbstreferentieller Plot“ scheint medienübergreifend das Markenzeichen für Phantastik zu sein.18 Natürlich steht diese Lust an ästhetischer Selbstbetrachtung schlussendlich nicht einer glücklichen Wende am Ende, also einem filmischen Happy End im Wege. Doch vor der Erfüllung eher banaler Zuschauererwartungen, wonach alles gut zu werden hat, steht auch hier, wie etwa auch in der Harry Potter Serie, ein so komisches, so irritierendes Verwechselspiel gewohnter Perspektiven. Die Frage, die sich daraus nahezu automatisch ergibt, ist die danach, inwieweit heutiger Literaturunterricht Kompetenzen, die sich aus anderer Medienbenutzung, etwa dem Kinobesuch oder dem Computerspiel, ergeben, hinreichend bedenkt und etwa bei der Ausbildung von Lesekompetenz und ästhetischer Kompetenz angemessen mit einbezieht.19 Zusätzlich zu dieser hier nur an einem Beispiel skizzierten Multimedialität, tendiert phantastische Literatur aber auch noch zu medieninternen Grenzgängen, in dem sie sich beispielsweise selbst in fingierten Lexika und Sachbüchern einerseits als wirklich zu autorisieren und andererseits ein weiteres Mal zu überschreiben sucht. In ihrem Beitrag Alte Mythen-Neue Mythen weist Monika Schmitz-Emans dies unter anderem am Beispiel der die Harry Potter Romane begleitenden Fiktionen im Gewande des Sachbuches mit den Titeln Phantastische Tierwelten & wo sie zu finden sind und Quidditsch im Wandel der Zeiten nach.20 Dort spürt sie auch der damit einhergehenden Tendenz zur multimedialen Inszenierung am Beispiel eines Videospieles zu Tolkiens Herr der Ringe nach, wodurch die „Ankoppelung des Imaginären an die Welt des Spielers in eine wiederum neue Phase“ trete.21 Ein Fazit daraus lautet: Neu sind nicht die Geschichten Bilbos, Frodos, Bastians und Harry Potters. Neu sind nicht die Mythen und Legenden entlehnten Ausstattungsstücke. [...] Die literarischen Techniken des Fantasy- Genres sind auch und gerade hinsichtlich der Einbeziehung von Mythischem Fortsetzungen der romantischen Literatur. Neu sind die medialen Rahmenbedingungen aktueller Mythopoiesis.22 18 http://www.cineman.de/movie/review/Stranger Than Fiction 19 Vgl. hierzu Abraham/Kepser: Einführung in die Literaturdidaktik, vor allem S. 46-94. 20 Schmitz-Emans: Alte Mythen-Neue Mythen, S. 203 f. Dies ist zugleich der einzige mir bekannte Beitrag mit hohem literaturtheoretischen Anspruch, der Geschichten, die an kindliche oder jugendliche Adressaten gerichtet sind, in seine Überlegungen mit einbezieht. 21 Ebd., S. 206. 22 Ebd., S. 217. Die fundamentale Bedeutung der romantischen Literatur für die gegenwärtige phantastische KJL wird auch in didaktischen Beiträgen immer wieder betont, z.B. Tabbert (Phantastische Kinder- und Jugendliteratur) oder Ewers (Romantik). Die oft bemühte Ursprungsmetaphorik (Tabbert z.B. spricht von der Romantik als Wiege dieser Literatur) verkennt, dass, wie Schmitz-Emans anführt, diese Art der Geschichten über weitaus ältere Schriftzeugen verfügt.

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Paradoxerweise wird so ausgerechnet eine Literatur zum Vexierspiegel kompakten literaturtheoretischen und kulturhistorischen Wissens, deren kindliche oder jugendliche Adressaten – zumindest auf dem klassischen Weg der Buchlektüre – noch nicht genügend literarästhetische Kompetenzen erlangt haben dürften, um den identifizierenden Genuss an dem letztendlich wohlgeordneten fiktiven Kosmos, der über all das verfügt, was die Rezipienten in ihren gesellschaftlichen Umwelten zunehmend vermissen müssen, kombinieren zu können mit dem Genuss daran, die komplexen text- und medienübergreifenden Narrationen durchschauen zu können, die solche zauberhaften Abenteuer entstehen lassen. Ambivalenz, Performanz und die Ausstellung jener Verfahren, die Literatur generell auch zu einem Spiel mit sich selbst, den eigenen Regeln und Modalitäten und weniger zu dem authentischen Ausdruck der Phantasie eines Autors werden lassen, geraten deshalb, gelegentlich auch mit dem Hinweis darauf, dass sie eine zweite, den Heranwachsenden nicht zugängliche Lesart eröffnen, oft ins Abseits didaktischer Erschließung.23 Vom Standpunkt einer Literaturdidaktik aus, die jene literarischen Kompetenzen mit zu berücksichtigen sucht, welche längst vor Eintritt in die Schule mittels anderer Medien erlangt werden, lohnt sich allerdings die Überlegung, ob und wie Didaktisierungen gerade am medienreflexiven Diskurs phantastischen Erzählens ansetzen können. Basis dafür ist ein weites, alle Medien mindestens als Umfeld integrierendes Literaturverständnis, das Literatur vor allem als kulturelle Praxis, als Handlungsfeld begreift und Literaturdidaktik als integrative Kulturwissenschaft definiert.24 Wenn Literatur zugleich Handlungs- und Gegenstandsfeld kultureller Praxis ist, sollte es in nicht freizeitlichen Lernkontexten vor allem darum gehen, Heranwachsenden Techniken und Verfahren (audiovisuellen) Erzählens als Teil des kulturellen Gedächtnisses und Handlungsraumes so zu vermitteln, dass sie in die Lage versetzt werden, neben ihrer schulexternen, identifizierenden und konsumierenden Praxis auch Gefallen an dem distanzierten und reflektierten Umgang mit Literatur im weitesten Wortsinne zu finden. Dazu aber eignen sich besonders jene Bestseller und Blockbuster, die auf der Ebene der Fiktion ihr Medium noch einmal ausstellen und die man exemplarisch an gedruckter Literatur behandeln kann, die das Buch im Buch ausstellt und zwar vor dem Hintergrund möglichst zahlreicher ande23 In seiner Todorov kritisch erweiternden gattungstheoretischen Erörterung weist Durst (Theorie der phantastischen Literatur) für die Phantastik, jedoch ohne Berücksichtigung der Kinder- und Jugendliteratur, gerade anhand dieser Aspekte die ästhetische Qualität dieser oft unterschätzten Gattung nach. 24 Vgl. dazu Abraham/Kepser: Einführung in die Literaturdidaktik Deutsch, S. 8: „Literaturdidaktik beschäftigt sich folglich mit der wissenschaftlichen Erschließung des kulturellen Handlungsfeldes ‚Literatur‘ in Bezug auf vergangene gegenwärtige und zukünftige Lehr/ Lernkontexte.“

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rer Beispiele von medialer Selbstreferenz, etwa des Films im Film und des (Computer)Spiels im (Computer)Spiel.

2. Von Buch zu Buch Meine lieben Primarschülerinnen aus dem schönen Niederbipp bei Solothurn, im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek und erst danach, also an dritter und letzter Stelle, kommen wir, wir Menschen und die Dinge. Nomina ante res!25

Bücher stehen wieder hoch im Kurs, mal als unheimliche, dann wieder als heimliche Helden der Literatur, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb phantastischer (Kinder- und Jugend-)Literatur. Unheimlich etwa, weil sie den Tod selbst als Zeugen und Erzähler ihrer Bedeutung für ein kleines Mädchen beanspruchen können, spielen sie eine überlebens-wichtige Rolle in dem 2008 auf Deutsch erschienenen Roman Die Bücherdiebin des australischen Autors Markus Zusak.26 Ganz im Sinne des auf Borges zurückgehenden Ausspruches, demgemäß man sich die Bibliothek als Paradies vorstellen kann, wird dieses Wohnzimmer aller Literaturen etwa in der realistischen, 2001 publizierten Novelle Fräulein Stark des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann in Szene gesetzt. Der Stiftsbibliothekar Katz hat ein Motto, das sich durch die gesamte Prosa wie ein roter Faden zieht und das sein postpubertärer Neffe, der zugleich die Sinnlichkeit des Buches und die der Frauen kennen und schätzen lernt, in der weiter oben zitierten Passage seinem eigentlichen Objekt der Begierde, den Primarschülerinnen, kalauernd vor die Füße wirft: ‚Nomina ante res!‘ Innerhalb der im Folgenden im Zentrum des Interesses stehenden Kinder- und Jugendliteratur aber wird nicht nur behauptet, dass die Bücher ein lebendig Wesen seien und Wörter vor den Dingen rangierten, sondern die der primären Welt entgegengesetzte sekundäre Welt wird als ein Reich aus Druckerschwärze und Lettern inszeniert. Damit wird zugleich ein prominentes Motiv frühromantischer Poesie variiert. Heinrich blieb mit Freuden bei den Büchern, und dankte ihm innig für seine Erlaubnis. Er blätterte mit unendlicher Lust umher. Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der lateinischen und italienischen zu haben schien. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich, ohne daß er eine Silbe davon verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. er erschrak und glaubte zu träumen, aber beim wiederholten Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde 25 Hürlimann: Fräulein Stark, S. 65 f. 26 Zuzak: Die Bücherdiebin. Vgl. da besonders S. 44 ff. „Die Bedeutung des Buches“.

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die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte. Allmählich fand er auf den anderen Bildern die Morgenländerin, seine Eltern, den Landgrafen und die Landgräfin von Thüringen, [...] Er sah sein Ebenbild in verschiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er sich größer und erhabener vor [...]. Die letzten Bilder waren dunkel und unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches schien zu fehlen. Heinrich war sehr bekümmert, und wünschte nichts sehnlicher, als das Buch lesen zu können.27

An exponierter Stelle lässt Novalis seinen titelgebenden Helden Heinrich von Ofterdingen in jenem Text, in dem die blaue Blume zum Symbol romantischer Poesie und Poetik wird, sich selbst in einem Buch begegnen. Thematik und Fluss des bisherigen Erzählens spiegeln sich und boykottieren damit für den Moment die Exploration der epischen Handlungskonstellation. Vom Einsiedler, aus dessen Bibliothek dieses Buch stammt, erfährt Heinrich dann wenig später, es „ist ein Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worin die Dichtkunst in ihren mannigfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird.“28 Die Buchmetapher, fester Bestandteil einer naturphilosophischen Tradition, die die Natur als Buch versinnbildlicht und von der prinzipiellen ‚Lesbarkeit der Welt‘29 zumindest für (alchemistisch) Eingeweihte kündet, erlangt hier eine literaturhistorisch bedeutsame und typisch romantische Variation. Sie wird zum Symbol der nur infinitesimal und fragmentarisch entschlüsselbaren Seelennatur des ‚Dichters‘ und als solche zur Voraussetzung wahrer Poesie, die ihrerseits dann natürlich auch immer nur approximativ aufflackern kann. Man kann diese Passage in der Tat als Keimzelle oder vielleicht besser Ausgangsmodul heutiger multimedialer Inszenierungen eigener systemischer Produktionsund Rezeptionsbedingungen begreifen, in denen das Medium sich selbst oder das Buch als erstes revolutionäres Speichermedium noch einmal auf der Ebene der Fiktion ausstellt.30 Allerdings wird der metaphorische Sinn heutzutage zunehmend ambivalenter und damit die Frage danach unentscheidbarer, ob sich gelungene Literatur deutlicher den Kommunikationssystemen und deren Regeln oder mehr den Kommunikanten und deren Talenten verdanke, ihre Lebensgeschichte authentisch zu ästhetisieren. 27 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, S. 90 f. 28 Ebd., S. 92. 29 Titel des Buches von Hans Blumenberg, in dem er der Buchmetaphorik wissenschaftshistorisch nachspürt. 30 In etwas anderer Absicht weist Schmitz-Emans in ihrem Beitrag Alte Mythen – Neue Mythen aus dem von Corina Caduff und Ulrike Vedder herausgegebenen Sammelband Chiffre 2000 darauf hin, dass „Endes Kernidee des Buchs im Buch ... an Heinrich von Ofterdingen (1802) von Novalis“ erinnert (ebd., S. 212). Als Beispiel eines Films im Film sei hier auf die Actionparodie Last Action Heroe verwiesen. Shrek I, II und III lassen die filmische Märchenparodie und Filmsatire jeweils in den ersten Sequenzen aus einem Buch entrollen. Vgl. dazu auch meinen in Fußnote 6 erwähnten Beitrag Volksmärchen, Kunstmärchen, Phantastische Literatur, in dem ich dieses Filmbeispiel ausführlicher analysiere.

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In der Erzählung The Door in the Wall von H.G. Wells wird das Buch als unvollständiger Spiegel der Lebensgeschichte seines Lesers inhaltlich leicht variiert, aber deutlich anders motiviert. Der Icherzähler erinnert sich nun an eine frühkindliche Erinnerung seines mittlerweile verstorbenen Freundes, nach der dieser durch die Tür in der Mauer, also von der Fiktion erster Stufe zur Fiktion zweiter Stufe, gelangt sein soll. Unklar aber bleibt, ob es diese Tür, die eine fiktiv-sinnliche und eine fiktiv-übersinnliche Welt zugleich abgrenzt und verbindet, jemals tatsächlich gegeben hat. Allein der Erzähler kommt irgendwann zu der Überzeugung, dass es sie immerhin für seinen Freund wirklich gegeben haben muss. Sie führte mich zu einem Sitzplatz auf der Galerie, ich stand neben ihr und wollte in ihr Buch sehen, als sie es auf ihrem Schoß öffnete. Es klappte auf. Sie zeigte darauf, und ich sah es mir staunend an, denn in den lebenden Seiten des Buches sah ich mich; die Geschichte handelte von mir, und alles kam darin vor, was mir seit meiner Geburt zugestoßen war...Es war wunderbar für mich, denn die Seiten jenes Buches enthielten keine Bilder, sondern wirkliches Geschehen.31

Hier wird eine Kindheitserinnerung, deren Seinsmodalität selbst dem sich Erinnernden nicht ganz klar ist, von einem Dritten erzählt. Im Verlaufe stellt sich heraus, dass diese Tür dem Heranwachsenden wiederholt erschien, er sie aber nie wieder durchschritt. Neben einer psychoanalytischen respektive im weiteren Sinne psychologischen Deutung eröffnet sich auch eine literaturtheoretische. Intendierter Weise unentscheidbar bleibt, ob literarästhetische Verfahren Erinnerungen rekonstruieren oder konstruieren, ob die Ästhetik des Spiels der Anthropologie des Spiels folgt oder vorangeht, ob literarische Rede Weihe simuliert, Simulation also zum Hauptcharakter des Spiels zählt oder transportiert, Dichtung also tatsächlich metaphysischen Sphären angehöre. Für Letzteres etwa votiert Huizinga noch in seinem kulturhistorisch bedeutenden Beitrag Homo Ludens, wenn er Literatur als rituelles Spiel und den Begriff Spiel wie den Begriff Geist als kulturschaffende Kräfte definiert wissen will.32 Die hier knapp skizzierten ‚lebenden Seiten‘, die das Buch zum Ort ‚wirkliche[n] Geschehen[s]‘ machen, in das der Betrachter allerdings nicht mit Haut und Haaren hineingezogen wird, weisen deutlich voraus auf die gegenwärtige Hochkonjunktur des Buches als Gegenschauplatz phantastischen (audiovisuellen) Erzählens mit intendiertem jugendlichen Adressaten. Natürlich denkt man auch und gerade an die vielen sich bewegenden Abbilder auf Gemälden und Photographien der zauberhaften Harry Potter 31 Wells: Die Tür in der Mauer, S. 21. 32 Huizinga: Homo Ludens, vor allem S. 7 und S. 35, wo es unter anderem heißt: „In dieser Sphäre des heiligen Spiels sind das Kind und der Dichter zusammen mit dem Wilden zu Hause.“ Wells phantastische Erzählung fungiert dagegen, ganz im Sinne Lachmanns, eher als Fiktionshäresie, ist also nicht affirmativ, sondern ambiguitär.

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Welt, die mittlerweile auch zu einem festen Bestandteil diverser Werbespots avancierte. Doch während sowohl bei Novalis, als auch bei Wells die Buchwelt ganz offensichtlich das Leben der jeweiligen Subjekte beherbergen, also in gewisser Weise eine recht narzisstische Nabelschau ermöglichen, verhält sich die Sache innerhalb gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteratur noch einmal vertrackter. In Michael Endes Roman Die Unendliche Geschichte taucht die Figur Bastian Balthasar Bux – wenn auch zögerlich – tatsächlich in die Buchabenteuer Phantásiens ein, nachdem er dem Dialog zwischen Atréju und der kindlichen Kaiserin den Weg entlas: „Vielleicht möchte er kommen und weiß nur nicht, wie er es anstellen soll.“ „Er braucht nichts zu tun“, antwortete die Kindliche Kaiserin, „als mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß. Das würde schon genügen.“33 Zunächst impliziert diese Passage, betrachtet man sie vor dem Hintergrund der dann folgenden Handlung, den fiktionsimmanent gesetzten Autor Bastian als Urheber der Geschichte, dessen Held er wird, denn nur er soll ja den neuen Namen wissen, durch den die Geschichte Phantásiens vor dem Untergang, also dem endgültigen Schweigen (der Worte), bewahrt werden kann. Allerdings war die Geschichte in der Geschichte irgendwie ja schon immer da, zum Beispiel als Buch, das auf eben diesen Jungen als Leser, Co-Produzent und Figur angewiesen ist, um nicht vergessen zu werden. Bastian wird, sobald er auch als Figur involviert ist, phönixartig er selbst und zugleich ein anderer sein, der noch dazu die Erinnerung an sein bisheriges Leben mit jedem ausgesprochenen Wunsch zunehmend verliert. Hinzu kommt, dass sich jedes Kapitel in alphabetischer Reihenfolge aus den Buchstaben selbst dreht und diese sprachmagische Inszenierung mittels zahlreicher performativer Sprachspiele potenziert wird, von denen eines dieses Verfahren selbst als Herstellungsverfahren aller literarästhetischer Produktion noch einmal reflektiert: Wenn du einmal nachdenkst, dann mußt du zugeben, daß alle Geschichten der Welt im Grunde nur aus sechsundzwanzig Buchstaben bestehen. Die Buchstaben sind immer die gleichen, bloß ihre Zusammensetzung wechselt. Aus den Buchstaben werden Wörter gebildet, aus den Wörtern Sätze, aus den Sätzen Kapitel und aus den Kapiteln Geschichten.34

Die Unendliche Geschichte ist auch ein Beispiel für den ungeheuren Schub, den dieses Genre in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebte und ein zentraler Bezugstext der jetzt vollständig vorliegenden Tintentriologie von Cornelia Funke. Tintenherz, Tintenblut und Tintentod führen den Leser ebenfalls in eine Welt hinter den Buchstaben. In diesen Romanen wird, anders als in der Unendliche[n] Geschichte, der durch Benutzung des dualistischen Schemas eröffnete Grenzverkehr zwischen 33 Ende: Die Unendliche Geschichte, S. 170. 34 Ebd., S. 367.

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zwei fiktionalen Welten allerdings in beiden Richtungen zelebriert. Figuren aus der letteralen Welt, die etwa Namen tragen wie Capricorn, Mortola, Basta oder Staubfinger, Figuren also aus der Tintenwelt des fiktiven Autors Fenoglio, erobern einerseits, teilweise sehr brutal die Alltagswelt bibliophiler Menschen, die sich mit Haut und Haaren und teilweise professionell dem Buch verschrieben haben. Erwähnt seien hier der Buchbinder und Buchres­ taurator Mo, auch Zauberzunge genannt, seine Tochter Meggie, seine zeitweise im Buch Tintenherz verschollene Frau Resa und die Büchersammlerin Elinor. Andererseits gelangen diese Figuren in die Welt der Buchstaben, also in das auf der Ebene der Fiktion noch einmal ausgestellte Buch Tintenherz, und zwar Kraft mehr oder weniger ausgezeichneter Vorleser. Neben dem erwähnten Vater der kindlichen Hauptfigur Mo, mit dem Taufnamen Mortimer und dem auf seine Begabung hinweisenden Zusatz „Zauberzunge“, seien hier seine Tochter Meggie, Darius und Orpheus, der ab dem zweiten Band eine zentrale Rolle übernehmen wird, erwähnt. Diese Romane der Autorin Cornelia Funke verdanken sich selbst einer technisch alles andere eher als brillanten palimpsestischen Collage, die allerdings gelegentlich auch zum Gegenstand der Narration wird. „Die Geschichten gehen immer weiter, sie enden ebenso wenig mit der letzten Seite, wie sie mit der ersten beginnen.“35 Die allen Bänden der Trilogie angefügten Verzeichnisse über die Herkunft der die einzelnen Kapitel einleitenden Zitate suggerieren wohl intendierter Weise einerseits, dass die literarische Urheberschaft der Autoren immer zweifelsfrei sei und damit eine mögliche philologische Recherche von der Mündung hin zur Quelle möglich, auch, dass die Literatur der Anderen fein säuberlich von der eigenen Literatur abgrenzbar sei. Sie werden in dieser Hinsicht jedoch funktionalisiert, um die eine Seite des doppelbödigen Sprachspiels auszuleuchten. Literatur soll als individuell schöpferische Erfindung erscheinen, als Dichtung gar, mit sprachmagischen Qualitäten. Davon zeugt einerseits schon das dem ersten Band als Motto vorangestellte Gedicht Engführung von Paul Celan, das selbstverständlich gleich aus vielen guten Gründen heraus derart neu kontextualisiert, wenn nicht betrifft, so doch zumindest nachhaltig irritiert. Andererseits finden sich aber im Roman selbst, vor allem im Zusammenhang mit der Figur des fiktiv gesetzten Autors Fenoglio, weitere, in diese eben beschriebene Richtung zielende Zuschreibungen. „Verzweifelt? Na und? Ich bin auch verzweifelt!“ gab Fenoglio [Fiktiver Autor des Romans Tintenherz] zurück. „Meine Geschichte ertrinkt im Unglück und die hier“, – er hielt seine Hände entgegen,– „wollen nicht mehr schreiben! [...] Aber was ist ein Dichter, der die Worte nicht mehr liebt? Diese Geschichte frisst mich, sie zermalmt mich, mich, ihren Schöpfer!“36 35 Funke: Tintenblut, S. 57. 36 Ebd., S. 677 f.

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Bei genauerem Hinsehen allerdings erweisen sich die Quellenverzeichnisse, die viele Bezüge verschweigen, als Teil einer Intertextualität, ganz im Sinne von Julia Kristevas häufig bemühter Feststellung: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“37

3. Didaktische Problematisierung Je weiter ich in der Lektüre kam, desto mehr erinnerte mich die Erzählweise an eine dieser russischen Puppen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrer selbst in sich bergen.38 An (literatur)didaktisch fundierten Beiträgen zur phantastischen Kinderund Jugendliteratur fehlt es nicht. Ihr Potential gerade innerhalb handlungsund produktionsorientierter Lehr- und Lernkontexte ist bekannt, auch innerhalb jener Publikationen, in denen ihr literarischer Wert nicht allzu hoch geschätzt wird, auch wenn die Praxis des Deutschunterrichts, besonders in höheren Klassenstufen und Schulformen, diese Texte oft zugunsten anderer Texte ausspart oder doch nur am Rande behandelt. In niedrigeren Klassenstufen findet diese Literatur allerdings doch etwas öfter Eingang in die Klassenräume. Nicht ganz unproblematisch erscheint mir jedoch die häufig zu beobachtende Tendenz sie dann als Beispiel für die Gattung ‚Märchen‘ heranzuziehen. Zwar lässt sich trefflich über Sinn und Unsinn der Differenzierungen in Volksmärchen – Kunstmärchen streiten. Die Annahme einer Phantastik als eigenständiger Gattung erscheint mir allerdings trotz aller Abgrenzungsproblematiken wichtig, um über genügend Kategorisierungsmöglichkeiten zu verfügen, und sie scheint mit dem Beitrag von Volker Durst durchaus eine theoretische Grundlage zu besitzen, die auch auf die Kinder- und Jugendliteratur auszudehnen ist.39 Das Besondere der hier vorgestellten Romane, die das Buch im Buch materialisieren, scheint ja gerade darin zu liegen, dass sie differente Gattungsspezifika zugleich benutzen und überbieten oder postmodern gewendet dekonstruieren: keine Grenzüberschreitung ohne Grenzen, seien sie auch noch so labil. Hält man an der Bezeichnung phantastische Literatur fest und definiert diese nicht primär über Themenkataloge oder die dualistische Struktur, 37 Zitiert nach Allkemper/Eke: Literaturwissenschaft, S. 153. 38 Zafón: Der Schatten des Windes, S. 12. 39 Neuhaus plädiert in seinem bereits erwähnten Beitrag dafür, die Differenz Volksmärchen – Kunstmärchen aufzugeben und von komplexen und weniger komplexen Märchen zu sprechen. Unter diese Gattung subsumiert er neben Funkes Tintenherz auch Endes Unendliche Geschichte, die für Nikolajeva ja bereits ein von ihr strukturell untersuchter Prototyp phantastischer KJL darstellt.

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sondern in Anschluss an Durst vor allem über ihre literarische Parodierungspotenz, so scheint eine Erweiterung ihrer Didaktisierung zumindest diskussionswürdig.40 Es gilt zu fragen, ob die entsprechenden kinder- und jugendliterarischen Texte nicht auch unter dem Primat des ästhetischen Spiels auf der Basis eines zu erkundenden Repertoires an textuellen Regeln Eingang in das kreative Schreiben und andere handlungs- und produktionsorientierte Kontexte deutlicher finden könnten als bisher. Dort werden sie im deutschsprachigen Raum immer noch oft eher als selbst nicht grammatisch und rhetorisch thematisiertes Stimulans der Phantasie der mit ihnen umgehenden Schüler genutzt. Die andere, hier vorgeschlagene Fokussierung ermöglicht vielleicht eher eine deutlicher an rhetorischen Verfahren interessierte Vorgehensweise, ohne die das doppelbödige Spiel phantastischer Literatur nicht denkbar wäre. Die gemeinsame Recherche und Archivierung literarischer Motive und dualistischer Verfahren diesseits und jenseits des Mediums Buch am Beispiel der Phantastik ließe einen Thesaurus wachsen, aus dem sich Geschichten wie von selber schreiben und filmen ließen. So könnten die vorwiegend mit dem Medium Film gewonnenen literarischen Kompetenzen deutlicher berücksichtigt werden in einem an der Selbstreferenz des sprachlichen und audiovisuellen Materials interessierten kulturellen Teilhandlungsfeld Deutschunterricht. Die sich nun zum Ende neigende Reise nach dem schönen Panama, das haben Reisen zu dieser literarischen Topographie so an sich, wollte weder das Rad neu erfinden, noch andere wissenschaftlich Reisende und deren Reiseziele ins Unrecht setzen. Sie wollte einzig „Literatur als eine Art Spiel begreif[en]“ und dabei die „Zusammenhänge von Literatur und Lust“ als Lust am Wirbelsturm der Formen konkretisieren, einer Lust am wie zudem, von der bereits Kinder handelnd befallen werden können.41

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Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. München 2000. Ewers, Hans-Heino: Romantik. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinderund Jugendliteratur. Stuttgart, Weimar 2002, S. 99-128. Funke, Cornelia: Tintenherz. Frankfurt a.M., Wien, Zürich 2003. Funke, Cornelia: Tintenblut. Frankfurt a.M., Wien, Zürich 2005. Funke, Cornelia: Tintentod. Frankfurt a.M. 2007. Haas, Gerhard: Phantastik und die Rückseite des Mondes. Erscheinungsweise, Formen und Funktionen phantastischer Literatur. In: Willi Fährmann (Hg.): Spurensuche 12. Mythen, Mächte und Magie. Harry Potter oder die Frage nach dem Woher und Wohin in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Essen 2001, S. 7-35. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 202006. Hürlimann, Thomas: Fräulein Stark. Frankfurt a.M. 2001. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon in zwei Bänden. Stuttgart 2004. Lachmann, Renate: Exkurs: Anmerkungen zur Phantastik. In: Miltos Pechlivanos; Rieger, Stefan Rieger; Wolfgang Struck; Michael Weitz (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1995, S. 224-229. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a.M. 2002. Lewis, Clive Staples: The Lion, the Witch and the Wardrobe. In: Jennifer Schwamm Willis (Hg.): Wizards. Stories of Mischief, Magic and Mayhem. New York 2001, S. 149-160. Lewis, Clive Staples: Das Wunder von Narnia. Moers 82005. Lewis, Clive Staples: Der König von Narnia. Moers 82005. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart, Weimar 91996 [bearbeitet von Heinz Rölleke]. Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Tübingen 112005. Meißner, Wolfgang : Die Phantasie der Kinder – entwicklungspsychologische Überlegungen zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Günter Lange; Wilhelm Steffens (Hg.): Literarische und didaktische Aspekte der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Würzburg 1993, S. 25-40. Necknig, Andreas Thomas: Wie Harry Potter, Peter Pan und Die Unendliche Geschichte auf die Leinwand gezaubert wurden. Frankfurt a.M. 2007. Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen 2005. Nikolajeva, Maria: Magic Code – The use of magical patterns in fantasy for children. Göteburg 1988. Novalis [Friedrich von Hardenberg]: Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman. Stuttgart 1987. Schmitz-Emans, Monika: Alte Mythen-Neue Mythen. Lovecraft, Tolkien, Ende, Rowling. In: Corinna Caduff; Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, S. 203-220. Schwamm Willis, Jennifer (Hg.): Wizards. Stories of Mischief, Magic and Mayhem. New York 2001. Stranger Than Fiction: http:/www.cineman.de/movie/review/Stranger Than Fiction [Stand: 12.03.2008]. Tabbert, Reinbert: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltmannsweiler 2000, S. 187-200. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972. Wells, Herbert George: Die Tür in der Mauer. Augsburg 2000 [zuerst 1896]. Wünsche, Marie-Luise: Volksmärchen, Kunstmärchen, Phantastische Literatur: Eine literaturwissenschaftliche Lektüre. In: Helga Arend; André Barz (Hg.): Märchen – Kunst oder Pädagogik? Baltmannsweiler 2009, S. 107-129 [Schriftenreihe Ringvorlesungen der Märchen-Stiftung Walter Kahn 9].

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Marie-Luise Wünsche

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Juliane Stude

Spontane Sprachspiele unter Vorschulkindern als Erwerbskontext für metasprachliche Fähigkeiten 1. Sprachspiele als Untersuchungsgegenstand der Spracherwerbsforschung Gegenstand des vorliegenden Beitrages ist die Frage, inwieweit spontane Sprachspiele einen wirksamen Kontext für den Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten bereitstellen. Mit spontanen Sprachspielen sind Aktivitäten gemeint, in denen Kinder Sprache nicht primär als Mittel inhaltsorientierter Kommunikation einsetzen, sondern vorübergehend zum Objekt spielerischer Handlungen erheben. Beispiele hierfür sind etwa frühe Lautvariationsspiele von Kleinkindern oder das Erfinden von Geheimsprachen und Wortspielen im Vor- und Grundschulalter. Anhand zweier Transkriptausschnitte, die einem umfangreichen Korpus von in Alltagsroutinen des Kindergartens audioaufgezeichneten Kind-Kind-Interaktionen entnommen sind, möchte ich exemplarisch aufzeigen, wie Vorschulkinder spontane Sprachspiele interaktiv organisieren und mit welcher Funktion sie dabei metasprachliche Äußerungen einsetzen. Wie unten skizziert wird, stellen spontane Sprachspiele gleich in zweifacher Hinsicht ein relevantes Untersuchungsfeld für die linguistische Spracherwerbsforschung dar. Dennoch ist bis heute – insbesondere im deutschsprachigen Raum – eine gewisse Zurückhaltung bezüglich einer empirischen und systematischen Untersuchung von Sprachspielen festzustellen. Die sich durch die Beschäftigung mit Sprachspielen eröffnenden Forschungsperspektiven sind m.E. die folgenden: 



Vgl. Andresen: Sprachspiele, S. 119-133; Garvey: Play. Ein weiterer Kontext, in dem Kinder Sprache zum Objekt ihrer Handlungen erheben und dies zudem metakommunikativ kommentieren, sind Rollenspiele. Die Bedeutung von Rollenspielen für die sprachliche Ontogenese wurde bereits an mehreren Stellen herausgearbeitet (vgl. z.B. Andresen: Interaktion, Sprache und Spiel; Andresen: Role play, S. 387-414; Bose: Kindlicher Sprechausdruck; Corsaro: Script Recognition, S. 1-19; Nelson & Gruendel: „At Morning It’s Lunchtime”, S. 73–94). An dieser Stelle beschränke ich mich jedoch auf Sprachspiele. Eine ausführliche Beschreibung des Korpus findet sich in Stude: Kinder sprechen über Sprache, i.V.

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A. Die Untersuchung von Sprachspielen liefert Einblicke in die kindlichen Vorstellungen von Sprache. In Sprachspielen variieren Kinder Sprache: Sie segmentieren Wörter, erfinden neue Konstruktionen, bilden Reime oder experimentieren mit der Arbitrarität von Sprache. In all diesen Tätigkeiten demonstrieren sie ihr Wissen über den Aufbau und die Verwendung ihrer Umgebungssprache. Vor diesem Hintergrund können Sprachspiele als „Fenster zu entstehender Sprachbewußtheit“ dienlich sein. Das in Sprachspielen zum Ausdruck gebrachte kindliche Wissen über Sprache kann alle linguistischen Ebenen betreffen oder anders ausgedrückt: Sprachspiele können auf allen Sprachebenen vollzogen werden. Für das Vorschulalter zeigen Studien die Tendenz auf, dass die pragmatische und semantische Seite von Sprache die beliebtesten Objekte für spielerische Handlungen darstellen, während Manipulationen auf syntaktischer Ebene deutlich seltener zu beobachten sind. B. Die Untersuchung von Sprachspielen ermöglicht Einsichten in die Spezifika von Kind-Kind-Interaktionen und eröffnet damit den Blick auf einen (bislang wenig beachteten) natürlichen Erwerbskontext des kindlichen Spracherwerbs. Auf die Bedeutung des Spiels allgemein (sowie von Sprachspielen im Besonderen) für die kindliche Entwicklung haben bereits mehrere Autoren aufmerksam gemacht. Grundlegend für die Analyse solcher Sprachspiele ist die Unterscheidung zwischen der Perspektive des spielenden Kindes einerseits und der Funktion des Spiels für den Entwicklungsprozess andererseits. Zudem ist von Interesse, wie Kinder Sprachspiele innerhalb ihrer Peergruppe selbständig organisieren und strukturieren. Für ErwachsenenKind-Interaktionen konnte für das diskursive Erwachsenenverhalten eine erwerbsunterstützende Funktion für die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes nachgewiesen werden (scaffolding). Welche interaktiven Praktiken lassen sich aber für Kind-Kind-Interaktionen beobachten? Damit einhergehend stellt sich die Frage, inwieweit sich die Kommunikationskultur unter Kindern insgesamt von der unter Erwachsenen unterscheidet.10 Typische Be     

Andresen: Sprachspiele, S. 119-133. Eine Definition des Begriffs Sprachbewusstheit findet sich in Abschnitt 2. Gemeint sind die Ebenen ‚Phonetik/Phonologie‘, ‚Semantik‘, ‚Syntax‘ und ‚Pragmatik‘. Garvey: Play. Vgl. z.B. Andresen: Interaktion, Sprache und Spiel; Wygotski: Das Spiel, S. 430-465. „Indem das Kind in der Situation des Spielvollzuges Freude an dem augenblicklichen Tun empfindet und damit eigene Wünsche und Bedürfnisse erfüllt, können die Prozesse, die es dabei durchläuft, Fähigkeiten entstehen lassen, die für seine Entwicklung […] bedeutsam sind. Aber das Kind spielt nicht, um diese Fähigkeiten zu erwerben.“ (Andresen: Sprachspiele, S. 14).  Hausendorf/Quasthoff: Sprachentwicklung und Interaktion. 10 Die Beantwortung dieser Frage ist allein schon unter methodischen Gesichtspunkten alles andere als trivial, denn „wenn wir die Regeln beschreiben, nach denen Kinder (sprachlich) handeln, dann ist eine solche Beschreibung immer auch geleitet von den Regeln unseres

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standteile kindlicher Sprachspiele sind z.B. das gezielte Brechen bzw. Ironisieren der Normen Erwachsener.11

2. Der Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten Geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, inwieweit Sprachspiele einen förderlichen Kontext zur Hervorbringung metasprachlicher Fähigkeiten bereitstellen können, ist zunächst zu klären, was unter jenem Fähigkeitsbereich zu verstehen ist. Metasprachliche Fähigkeiten – hier aufgefasst als Teilfähigkeiten kommunikativer Kompetenz – ermöglichen es, im Gespräch explizit auf Sprache und ihre Verwendung Bezug nehmen zu können. Der Versuch einer genauen Begriffsbestimmung metasprachlicher Fähigkeiten hat in den letzten Jahren eine außerordentlich große terminologische Vielfalt hervorgebracht. Auf eine inhaltliche Differenzierung der miteinander konkurrierenden Begriffe kann hier nicht näher eingegangen werden.12 Nach wie vor konträr wird insbesondere die Frage beantwortet, ob metasprachlicher Sprachgebrauch an das Vorhandensein von Sprachbewusstheit gebunden ist. Andresen/Funke definieren Sprachbewusstheit als die Bereitschaft und Fähigkeit [...], sich aus der mit dem Sprachgebrauch in der Regel verbundenen inhaltlichen Sichtweise zu lösen und die Aufmerksamkeit auf sprachliche Erscheinungen als solche zu richten.13

Eine solche Auffassung von Sprachbewusstheit weist eine deutliche Analogie zur obigen Beschreibung spontaner Sprachspiele auf. Zum einen ist gemeinsames Bestimmungsstück, dass Sprache ihre Transparenz verliert und für einen gewissen Zeitraum zum Gegenstand der Betrachtung wird, zum anderen können sowohl Sprachspiele als auch Sprachbewusstheit auf alle linguistischen Ebenen gerichtet sein.14 Welche Erkenntnisse liegen nun aber bisher zum Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten vor? Als weitgehend gesichert kann angesehen werden, dass die Emergenz metasprachlicher Fähigkeiten bereits im Vorschulalter anzusiedeln ist, ihre Weiterentwicklung aber bis ins Schulalter und darüber hinaus andauert.15 Empirische Belege erster metapragmatischer Äußerungen finden sich bereits bei Zweijährigen, explizite Kommentare zu

11 12 13 14 15

eigenen Handelns, von unseren Sinngebungen, Interpretationsmustern und unseren Rationalitätsmaßstäben.“ (Biere: Kommunikation unter Kindern, S. 58). Katriel: Ritualized sharing, S. 305-320. Es sei aber auf folgende Überblicksdarstellungen verwiesen: Techtmeier: Metakommunikation, S. 1449-1463; Tiittulla: Metadiskurs; Wehr: Meta-Sprache. Andresen/Funke: Entwicklung sprachlichen Wissens, S. 439. Cazden: Play, S. 4. Clark: Awareness of language, S. 17-43; Januschek u.a.: Ontogenese metasprachlicher Handlungen, S. 37-69.

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pragmatischen Verstößen werden ebenfalls bereits im Vorschulalter beobachtet.16 Darüber hinaus konnte aufgezeigt werden, dass Initiierungen von metasprachlichen Gesprächssequenzen innerhalb von Erwachsenen-Kind-Interaktionen überwiegend durch die Erwachsenen erfolgen.17 Insbesondere in institutionell eingebetteten Diskursen wie Erzieher/innen-Kind-Interaktionen ist das Thematisieren von Sprache und deren Verwendung zudem eng an Kontexte gebunden, in denen Kinder ermahnt werden.18 Dem Kind wird dabei eine nur eingeschränkte produktive Beteiligung an metasprachlichen Diskursen ermöglicht. In einem stärkeren Ausmaß als Erwachsenen-Kind-Interaktionen erweisen sich dagegen KindKind-Interaktionen als geeignet für das erste Erproben metasprachlicher Äußerungen.19 Vor allem in Situationen, in denen Kinder eine dominante Rolle innerhalb der Peergroup etablieren möchten, lässt sich beobachten, dass sie ihr Rollenverständnis mit der Übernahme erwachsenentypischer metasprachlicher Äußerungen markieren. Diese imitierenden Verfahren implizieren die Verwendung metasprachlicher Termini, die sich erwerbsbezogen innerhalb der Zone der nächstfolgenden Entwicklung einordnen lassen.20

3. Interaktive Strukturierung von Sprachspielen Am Beispiel der beiden folgenden Ausschnitte soll nun vorgestellt werden, welche Mittel Kinder zur interaktiven Strukturierung spontaner Sprachspiele einsetzen. Beispiel 1 gibt eine Unterhaltung dreier Jungen wieder, die während des Freispiels auf dem Bauteppich aufgezeichnet wurde. Beispiel 1 (Dateiname: 83_S5) Sprecher: Paul (P) 4;8 David (D) 6;9 Philipp (Ph) 5;8 01 02 03 04 16 17 18 19 20

P: D: Ph:

UND, KAUF:ST du AUch von mIr? [na KLAR[nee aber nIcht von deine Alte OMmi;

Bates: Language; Becker: Spontaneous Metapragmatic Comments, S. 457-467. Aukrust: Talk about talk, S. 177-201. Stude: The acquisition of metapragmatic abilities, S. 199-220. Ebd. Stude: Kinder sprechen über Sprache, i.V.

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05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

D: P: Ph: ?: D: Ph: ?: Ph: P: D: Ph: D: Ph: ?: D: Ph: D: D: Ph: D: Ph: D: ?: D: ?: D:

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(---) ((Lachen)) seine oma [lebt [oder HAST du dein altes (boot). oder deine alte OPpa [( ) [der OPpa voller KOPpa [eine Oppa] ist auf dein KOPF [ ] macht [( ) [!SOLL! ich dir was, (1.0)wEIßte was mein pa.h=pa ist? LANG wie ne bOhnenstange, und mein opa ist dIck wie ne kartOffel. ((5.5 sec. Lachen)) DAS war jetzt gUter witz;= =Ey soll ich dir was sagen= =DAS war jetzt nen GUter witz; SOLL ich dir was sAgen? ist so so so (--) so dÜnn wie n !ZWEIG!, und mein OPpa ist !SO! DICK wie n KOPF. BOA; und und meine oma ist so dick wie ne s wie ne= =wie ne FETte sau. (na wie ne) ((Lachen)) GANZ genAU; wIE ne dicke sau, und mein opa ist so DÜNN wie n[a:rsch [wie n bOhn wie ähmeine bOhne voller AA. nee; [wie n wie n [((Lachen)) (ein wat?) soll ich dir SAgen wie? [ja[wie der wie derSO dünn wie der schwAnz eines SCHWEInes.

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In diesem Ausschnitt lassen sich gleich mehrere sprachspielerische Handlungen beobachten, deren Übergänge von den Kindern fließend gestaltet werden. Auffällig dabei ist der ansteigende Grad an Kooperativität: Während die Sprecherbeiträge anfangs isolierte Sprachspielhandlungen enthalten, sind die Kinder zum Ende hin mit der gemeinsamen Konstruktion eines Sprachspiels beschäftigt. Gegenstand des sich zu Beginn des Ausschnitts vollziehenden Rollenspiels der Kinder ist offenbar das gegenseitige Abkaufen von – vermutlich fiktiven – Gegenständen (vgl. Pauls Frage „KAUF:ST du AUch von mIr?“). Erwidert wird diese Frage von David mit einem „na KLAR“ (Z. 03), womit er hervorhebt, dass eine bejahende Antwort an dieser Stelle den sozialen und kommunikativen Erwartungen für den Fortgang des Kaufgesprächs entspricht. Philipp dagegen bricht diese Erwartung, indem er das Kaufangebot mit Verweis auf Pauls „Alte OMmi“ (Z. 04) ablehnt. Das Brechen von Höflichkeitskonventionen (hier durch das Beleidigen von dem Gesprächsgegenüber nahestehenden Personen) wird an dieser Stelle mit einem Lachen honoriert, woraufhin Philipp mit dem Nachtrag „oder deine alte OPpa“ das gleiche Prinzip ein zweites Mal anwendet. David bringt nun mit einer Reimkonstruktion („der OPpa voller KOPpa“, Z. 11) eine neue Ausrichtung in die sprachspielerischen Handlungen ein, die die lautliche Seite von Sprache in den Vordergrund stellt, was von den anderen Kindern jedoch nicht weiter fortgeführt wird. Stattdessen knüpft Paul mit seinem Redebeitrag (Z. 16-18) nochmals an das Brechen pragmatischer Konventionen an. Die hochgradige Formelhaftigkeit der von ihm angestellten Vergleiche ermöglicht ihm das Produzieren einer längeren Diskurssequenz, die zum einen ein mehrere Sekunden anhaltendes, beifallartiges Lachen auslöst. Zum anderen zieht sie eine positive Bewertung in Form eines metasprachlichen Kommentars von David („DAS war jetzt nen GUter witz“, Z. 22) nach sich. Mit diesem Kommentar nimmt der Sprecher innerhalb dieser Interaktion erstmals explizit auf einen Vorgängerbeitrag und dessen sprachspielerische Qualität Bezug. Die durch Pauls formelhaften Beitrag etablierte Struktur (deren Grundgerüst folgende Komponenten beinhaltet: „mein x ist so y wie z und mein a ist so b wie c“) wird im Fortgang wiederholt von den Kindern aufgegriffen und dient als Rahmen zur Aufrechterhaltung der Interaktion. Der antizipierbare Verlauf des Sprachspiels ergibt sich dabei „nicht dadurch, dass ein Akteur die Handlungen des anderen ganz oder teilweise imitiert, sondern dadurch, dass bestimmte Ereignisse über längere Zeiträume hinweg wiederholt inszeniert werden.“21 Im Gegensatz zu den vorherigen sprachspielerischen Handlungen gehen die Kinder nun aber kooperativ bei der Ad-hoc-Erzeugung geeigneter Vergleiche vor, d.h. sie ergänzen sich gegenseitig mit ihren Einfällen (vgl. 21 Lang/Andresen: Entstehung von Sprachbewusstheit, S. 126 f.

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Z. 28, 34 und 37), ebenso wie sie eigene Beitrage oder die der anderen evaluieren und kommentieren („BOA“ Z. 26, „GANZ genAU“ Z. 31, „soll ich dir SAgen wie“ Z. 42). Betrachtet man vor diesem Hintergrund nochmals die sequenzielle Position des ersten metasprachlichen Kommentars von David (Z. 22), so liegt dessen Funktion offenbar in dem In-Gang-Bringen des darauffolgenden kollektiven Sprachspiels. Im zweiten Beispiel handelt es sich um eine Interaktion beim Mittagessen, an der wiederum drei Jungen aktiv teilnehmen. Ohne eigenen Redebeitrag sitzen darüber hinaus noch zwei weitere Kinder (André 4;0, Hannah 4;3) mit am Tisch. Beispiel 2 (Dateinname: 80_S3 ) Sprecher: Philipp (Ph) 5;6 Ben (B) 5;7 Paul (P) 4;6 Erzieherin (E1) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Ph: B: ?: B: Ph: P: Ph: E1: B: Ph: B: Ph: ?: B: P: Ph: P: B: P:

(--) ähm SACH zum andré, (1.7) sag (---)sAg zum andré,= =der is=n SCHWEInearsch. (-)