Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert 9783412506407, 9783412505578, 9783412506797

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Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert
 9783412506407, 9783412505578, 9783412506797

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Horst Dieter Schlosser

DIE MACHT DER WORTE Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Revolution 1848/49: Straßenkämpfe in Berlin am 18./19. März 1848. (Barrikade in der Breiten Straße). Kreidelithographie, koloriert, zeitgenössisch. Künstler anonym. © akg-images.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Sara Zarzutzki, Düsseldorf Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz und Datenkonvertierung: Reemers Publishing Services, Krefeld Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50557-8  |  eISBN 978-3-412-50679-7

Für Charlotta

INHALT EINLEITUNG  Die Macht sprachlicher Symbole  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL 1  Deutsche Leitbilder des 19. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1  Das 19. Jahrhundert zwischen zwei großen Revolutionen  . . . . . . . . . . . . . . 19 2  Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3  Die nationalistische Verengung des Freiheitsbegriffs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4  Die Leitbildtrias deutscher Einheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 5  Brückenbegriffe oder Kennzeichnung nationaler Identität  . . . . . . . . . . . . . . 37 6  Konkurrierende Leitbilder für den künftigen Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

TEIL 2  Leitbildentwicklung im Rahmen der politischen Geschichte  . . . . . . 47 1  Der Deutsche Bund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2  Antimodernistische Leitbilder: Mittelaltersehnsucht – ­ Germanenmythos – ­Judenfeindschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3  Positionen der Freiheits- und Nationalbewegung im Vormärz  . . . . . . . . . . . . 98 4  Deutsche Revolutionen 1848/49 im Kampf um die Leitbilder  . . . . . . . . . . . . 139 5  1848 Freiheits- und Nationalbewegung kurz vor dem Ziel  . . . . . . . . . . . . . . 152 6  Preußens Griff nach der Reichsmacht 1849–66  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 7  Die Arbeiterbewegung zwischen „Klassenkampf“ und „Vaterland“  . . . . . . . 180 8  Frauenbewegung und die Leitbildvariante der Gleichberechtigung  . . . . . . . . 219 9  Spaltungen des politischen Liberalismus ab 1861  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 10  Der Norddeutsche Bund 1866–70  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 11  Deutsches Reich 1871–1918: Endgültige Etablierung   kleindeutscher Einheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 12  Reichseinheit und „Reichsfeinde“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 13  Die imperialistische Wende  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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|  Inhalt

14  Die Korrumpierung der Leitbilder im Ersten Weltkrieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 15  Eskalation der radikalisierten Leitbilder und die Krise   „deutscher“ Identität nach 1945  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

ZUSAMMENFASSUNG  Entwicklungslinien der Leitbildgeschichte  . . . . . 283 Quellen- und Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

EINLEITUNG 

Die Macht sprachlicher Symbole

Der Darstellung der Geschichte Deutschlands wie Europas, ja sogar der Welt im 19. Jahrhundert ist nach exzellenten Analysen gerade der jüngeren Zeit kaum noch etwas hinzuzufügen.1 Ob Fakten-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte: alles scheint gesagt zu sein. Und doch kommt dabei zumeist die Rolle der Sprache zu kurz. Gemeint ist nicht der Siegeszug des hochdeutschen Standards, der sogenannten Hochsprache, der sich zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Einigung auf verbindliche Normen einer deutschen Rechtschreibung um 1900 ereignet und der durchaus auch ein Politikum darstellt. Vielmehr erscheint häufig zu wenig beachtet, wie stark und manchmal sogar entscheidend ein bestimmter Sprachgebrauch auf die politische und soziale Entwicklung eingewirkt hat. Die Macht sprachlicher Symbole zeigt sich immer wieder, wenn durch sie das Bewusstsein ihrer Benutzer sogar bis hin zur Autosuggestion geprägt wird, wie man es noch im 20. Jahrhundert beim Zusammenbruch der beiden deutschen Diktaturen erfahren konnte: Je weiter sich die Realität von den einmal installierten ideologischen Deutungen entfernte, umso fester glaubten zumindest deren Hauptvertreter an die Überlegenheit ihrer Sprache über die Realität. Die sprachlichen Symbole von Leitbildern können also auch ein Eigenleben entfalten. Auch die Rangfolge einzelner Leitbilder kann sich verändern, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Dominanz von „Einheit“ gegenüber der Zielvorstellung von „Freiheit“ zeigen lässt. Selbst wenn die Politik ganz neue Leitbilder verfolgt, bleiben die zentralen sprachlichen Symbole davon vielfach unberührt. Ihr Charakter als (einstige) Schlüsselwörter wird dabei schlicht missbraucht – als rein sprachliche Fundamente für die Etablierung von Ideologien. Ob im Deutschen Bund, ob in den verschiedenen Reaktionen auf die Restauration, ob im Aufbruch der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung, ob in der Überhitzung von Nationalismus und Antisemitismus: ohne die Selbstvergewisserung der Akteure und ohne ihre Vorstellungen von Zukunft, die sich primär in gemeinsamen oder differenten, gar antagonistischen sprachlichen Sym-

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Erwähnt seien nur Nipperdey (2013), Osterhammel (2013), Wehler (1995–2006) und Winkler (2000).

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bolen dokumentieren, könnte die historische Entwicklung eigentlich nur als beliebige Folge von gedanken-, weil sprachlosen Aktionen erscheinen. Natürlich wird kein seriöser Historiker leugnen, wie sehr jeweils schon zeitgenössische sprachliche Urteile über die erfahrene Realität die Einschätzung der „objektiven“ Fakten geprägt haben, und er zieht daraus für seine nachträgliche Deutung oft genug Gewinn. Diese Funktion der Sprache kann im weitesten Sinn als deskriptiv, damit aber im Verhältnis zu den beschriebenen oder gedeuteten Sachen und Themen eher als nur sekundäre Kraft gesehen werden. Das gilt auch für die Fälle, in denen sich die Deutungen der Realität, ob schon zeitgenössisch oder erst in nachträglichen Interpretationen, auf bereits vorgegebene, traditionelle sprachliche Muster stützen. Doch schon dabei wird die eigentlich sekundäre Funktion der Sprache nicht selten zur primären Kraft einer Weltdeutung: Noch bevor die zu behandelnde Sache eine ihrer Spezifik angemessene sprachliche Definition erhalten kann, bestimmen vielfach tradierte Nominationen, die in ihrem Ursprung angemessen gewesen sein mögen, das Urteil auch über das Neue, indem sie – oft genug unbesehen, mitunter aber auch absichtsvoll – auf die Gegenwart übertragen werden. Der Übergang von der sekundären Funktion der Sprache zur primären Kraft, die realitätsbestimmend und sogar handlungsleitend sein kann, ist erst recht in all den Fällen erkennbar, wo es sich um eine wirklich neue Sprachgebung für ein bis dato noch unbekanntes oder unbeachtetes Phänomen handelt. Spätestens dann steht am Anfang nicht das sogenannte Faktum, sondern das Wort. Um diese abstrakten Überlegungen auf Themen des 19. Jahrhunderts zu beziehen, seien drei Beispiele aus einem eher politikfernen Bereich, dem der technischen Entwicklung, angeführt. In ihnen wird deutlich, dass Wörter einer Sachentwicklung eindeutig vorauseilen und ihr als entwicklungsleitende Perspektive dienen können: Telegraf, Telefon und Fernseher. Zwar gingen den beiden erstgenannten Innovationen technische Entwicklungen voraus, die diese Termini in ihrem sprachlichen Ursprung erklären: Als „Telegraph“ galt bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein optisches Übertragungssystem mittels Signalmasten, das zur schnelleren Übermittlung wichtiger Nachrichten unter anderem auch von Napoleon genutzt wurde. Als „Telephonium“ wurde eine akustische Übertragungstechnik bezeichnet, für die ein Franzose namens François Sudre 1828 eine eigene Musiksprache kreierte. Doch die in diesen Termini fixierte Idee, über sonst nur schwer zu überwindende Entfernungen hinweg in kürzester Zeit Informationen optisch bzw. akustisch zu übermitteln, wurde zum Kern eines

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Leitbilds für eine bei Nutzung der Elektrizität rasant entwickelte neue Technik.2 Und auch den „Fernseher“ gab es als Wort, das in Analogie zum „Fernsprecher“ gebildet wurde, bereits Jahrzehnte, bevor eine elektronische Übermittlung bewegter Bilder technisch überhaupt erst möglich war. Was sich in diesen Fällen semantisch ereignete, lässt sich modellartig auch auf andere Gegenstände übertragen, nicht zuletzt auf die Ideen, durch welche die politischen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurden: Von vorgegebenen Nominationen für politische und gesellschaftliche Themen werden bestimmte semantische Facetten akzentuiert, die als Leitbilder für erst in der Zukunft erreichbare Realitäten etabliert werden, andere Facetten werden vernachlässigt oder gehen ganz unter. Insofern ist Ideengeschichte in ihrem Kern stets auch Sprachgeschichte; denn sprachlose Ideen sind im doppelten Wortsinn undenkbar. Wohl am einleuchtendsten ist die These vom Vorrang der Sprache vor jeder Realität bei Utopien, weil sie eine zunächst nur sprachlich vorgestellte zukünftige Wirklichkeit vorführen. Aufs engste damit verwandt, wenn nicht gar selbst im eigentlichen Sinne utopisch, sind alle politischen und sozialen Programme, deren Spezifikum es ja gerade ist, über eine wie auch immer angemessene Beschreibung von Ist-Zuständen hinaus Ziele in der Zukunft, also SollZustände zu repräsentieren, die zunächst nur in Form sprachlicher Symbole existent sein können. Überflüssig zu sagen, dass auch politische Propaganda und kommerzielle Werbung vom Vertrauen in die Macht der Sprache leben. Trotz aller vorgängigen Realitätserfahrungen, die aber ebenfalls schon sprachlich, wenn auch meist noch unsicher und variantenreich, gefasst wurden, sind die politischen und sozialen Ideen des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunächst nur als sprachliche Symbole präsent. Sie kursieren in einem ersten Stadium häufig sogar nur als Schlagwörter und werden erst nach und nach mit jeweils eigenen pragmatischen Perspektiven verbunden und entwickeln sich so zu Schlüsselwörtern. Durch semantische Erweiterung oder Verengung entsteht dann oft eine ganze Bandbreite von Fahnen- und/oder Stigmawörtern. Trotzdem fungieren die einmal in Umlauf gesetzten Begriffe oftmals abseits ihrer pragmatischsemantischen Differenzierung weiterhin als Schlagwörter, unter die sich vielerlei subsumieren lässt.

2

Vgl. dazu: Schlosser, Horst Dieter (2002): Von „Annunciaphon“ bis „Zeitmaschine“. Sprach­ liche Überschreitungen schon vertrauter Technik. In: Sader, Jörg/Wörner, Anette (Hrsg.): Überschreitungen. Festschrift für Leonhard M. Fiedler. Würzburg: 223–236.

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Als prominentes Beispiel kann der Begriff „Freiheit“ gelten. Zwar hatte dieser Begriff bereits eine lange philosophie-, auch religionsgeschichtliche Vorgeschichte, die für die politische Praxis in Deutschland aber erst in dem Moment relevant wurde, als man – via sprachlicher Kommunikation – von seiner außerdeutschen Wirkung, in der Amerikanischen und Französischen Revolution, erfuhr. Noch bevor man die konkrete, die politische und soziale Deutung des Begriffs in der außerdeutschen Praxis kannte, versammelten sich unter dem Schlagwort „Freiheit“ und seinem semantischen Ableger „liberal“ alle möglichen Vorstellungen einer erwünschten Abkehr von tradierten Ordnungen – von einer Selbstbefreiung des Individuums bis zum revolutionären Umsturz. Auch die „Restauration“ als mögliche Gegenkraft wurde ihren Vertretern so recht erst von dem Augenblick an bewusst, als sie mit der Bedrohung ihrer jahrhundertelang sakrosankten Position konfrontiert wurden. Erst in der Konkurrenz der Leitbilder und ihrer Schlüsselwörter entstand und wuchs – auf beiden Seiten – ein Rechtfertigungsdruck, der Berufungen auf sehr unterschiedliche Traditionen nötig machte: auf restaurativer Seite die Betonung vor allem eines althergebrachten „Gottesgnadentums“ der Herrschenden, das bisher unangefochten gegolten hatte, auf Seiten der Opposition die Behauptung einer schon in der Vergangenheit, gar in prähistorischen Zeiten gültigen Werteordnung, die dem aktuellen Herrschaftssystem entgegenzusetzen wäre. Es ist gewiss kein Zufall, dass das 19. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ein Jahrhundert der „Bewegungen“, also kollektiver Bemühungen auf angestrebte Ziele hin wurde. Der Philosoph und Schriftsteller Ludolf Wienbarg sprach 1834 sogar vom „prophetischen Gefühl einer neubeginnenden Weltanschauung“. Das in der ersten Jahrhunderthälfte allmählich wachsende Selbstbewusstsein unterer Bevölkerungsschichten, insbesondere der lohnabhängigen Arbeiter, wurde zwar durch die außersprachlichen Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung zweifellos gefördert. Aber diese Erfahrungen hätten sich kaum mehr als in einem schon lange gepflegten Lamento artikulieren können, wenn diese Schichten nicht durch die vom Bürgertum betriebene Opposition gegen die traditionelle Herrschaftsordnung auf gesellschaftliche Strukturen aufmerksam gemacht worden wären. Dabei konnten auch die rechtlosen Schichten am unteren Rand der Gesellschaft für sich einen theoretischen Ort entdecken. Es bedurfte freilich auch hierbei des Gebrauchs sprachlicher Symbole, die diesen Ort näher bestimmten und ihn von den sozialpolitisch weniger hilfreichen Positionen der bürgerlichen Freiheitsbewegung abgrenzen ließen; am radikalsten war dabei zweifellos das begriffliche „Angebot“ des Marxismus.

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In ähnlicher Weise lässt sich die Entstehung der Frauenbewegung nachvollziehen, die zunächst auf eine sprachliche Differenzierung der in der Amerikanischen wie Französischen Revolution verkündeten „Menschenrechte“ zurückging. Deren Proklamation war nur ein sprachlich-symbolischer Vorgriff auf erwünschte politische und gesellschaftliche Zustände, in denen aber noch undifferenziert, de facto aber ausschließlich auf den Mann bezogen „der Mensch“ als Individuum in den Mittelpunkt gerückt wurde. Ohne diesen Vorgriff aber wäre ein frauenspezifisches Bewusstsein kaum entstanden. Schließlich war die imperialistisch eskalierende Verschärfung der National­ idee und ihre bis in einen Weltkrieg mündende Übersteigerung zunächst das Produkt einer Auseinandersetzung mit vorgängigen sprachlichen Symbolen, von „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“, die nach traditionellen partikularen Anschauungen von politisch-ethnischer Identität zu Gunsten einer „völkischen“, rassenideologisch begründeten Einheit zu einer geradezu tautologischen Trias verschmolzen. Dass dabei ethnische Minderheiten zunehmend in schlimmste Bedrängnis gerieten, war selbstverständlich mehr als ein „Kollateralschaden“. Die exzessive Abgrenzung gegen „Fremde“ war schon im 19. Jahrhundert der Sammelpunkt aller möglichen Klischees, an denen sich aber das letztlich seiner selbst keineswegs sichere Bewusstsein des „Eigenen“ emporranken konnte. Die Verengung des ethnischen Selbstbewusstseins der Deutschen erfuhr dabei seine scheinwissenschaftliche Legitimation durch eine horrende Metaphorisierung der zoologischen Rassennomenklatur. Ihr fiel schließlich alles „Undeutsche“, neben Juden auch Slawen und Romanen, zum Opfer, von nichtweißen „Rassen“ ganz zu schweigen. Gerade an diesem letzten Themenkomplex wird eine immer mögliche Verquickung von Motiven deutlich, die grundsätzlich auch für die Entwicklung aller bisher angedeuteten Leitbilder des 19. Jahrhunderts gilt. Und es soll auch keineswegs geleugnet werden, wie sehr an einer solchen Verquickung und daraus folgenden Differenzierungen außersprachliche Umstände beteiligt waren, die sich aber kaum jenseits der zeitgenössischen Kommunikation entwickeln konnten. In der Repräsentation der wesentlich sprachbasierten Leitbilder spielte überhaupt immer wieder auch das Außersprachliche eine große Rolle. Insbesondere das monarchische Beharren auf göttlicher Legitimation ging mit einem großen Aufwand zeremonieller und ritueller Formen einher, von kirchlichen Salbungen und Krönungen bis zum höfischen Gepränge bei öffentlichen Auftritten. Aber auch die Opposition entwickelte ihre eigenen Formen einer außer- und para-

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sprachlichen Selbstdarstellung, von Festen und Aufzügen über eine heute kaum noch nachzuvollziehende Gesangskultur bis zur intensiven Nutzung eigener Fahnen, ob bürgerlich in Schwarz-Rot-Gold oder „proletarisch“ in Rot. Diese Phänomene sollen in der folgenden Darstellung immer wieder mitbedacht werden, aber es darf dabei nie vergessen werden, dass die außersprachlichen Zeichen ohne ihre letztlich doch sprachliche Deutung sinnlos gewesen wären. Nach einem zunächst eher summarischen Überblick über die wichtigsten Leitbilder des 19.  Jahrhunderts und ihre Schlüsselwörter (Teil 1) soll die Geschichte der Leitbilder im Rahmen realpolitischer Entwicklungen dargestellt werden (Teil 2). Durch vielfache Vergewisserung der sprachlichen Impulse, mit denen politische und gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen, aber auch kritisch reflektiert wurden, soll die Bedeutung von Leitbildern, nicht zuletzt auch ihre jeweils konkrete Interpretation deutlich gemacht werden. Das erfordert eine mehr oder weniger ausführliche Erinnerung an wichtige Stationen der Realpolitik und an aufschlussreiche zeitgenössische Kommentare, ohne die eine Leitbildgeschichte allzu abstrakt erscheinen müsste. Dabei müssen auch literarische Zeugnisse – bis hin zum Kinderbuch – zu Wort kommen, sofern sie Aufschlüsse über die jeweilige Gestimmtheit der Gesellschaft bieten können. Gegen die These vom Vorrang sprachlicher Symbole für politische und soziale Entwicklungen könnte eingewendet werden, dass im 19. Jahrhundert wesentliche Impulse von sachkulturellen Innovationen ausgingen, die man – oberflächlich betrachtet – weit jenseits ideologischer Auseinandersetzungen und gleichsam als naturwüchsig, d.h. als nur vom Außersprachlichen gelenkt sehen könnte. Man denke an die enormen Fortschritte, die gerade im 19. Jahrhundert insbesondere auf den Gebieten der Naturwissenschaften, Technik und Medizin erzielt werden konnten und die für die Gesellschaft und Politik von größter Bedeutung waren. Auch wenn der Zusammenhang zwischen grundsätzlichen Überzeugungen und konkretem Tun auf diesen Gebieten im Einzelnen noch genauerer Untersuchung bedarf, fällt doch auf, wie viele der prominenten Wissenschaftler und Erfinder sich zugleich in den politischen Auseinandersetzungen engagierten, also keineswegs als „unpolitisch“ eingestuft werden können.3 Exemplarisch seien nur die Namen von Erfindern wie Werner Siemens oder Medizinern wie Rudolf Virchow genannt. Eine besonders enge Verbindung von wissenschaftlicher Theorie und praktischer Politik zu Gunsten nationaler Einheit ist etwa im Wirken von Friedrich 3

Grundsätzliche wie konkrete Zusammenhänge hat bereits Wehler (Bd. 3, 1995) beleuchtet.

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List (1789–1846) zu sehen. Er hat nicht nur wichtige Grundlagen für die Nationalökonomie in Deutschland geschaffen, von ihm stammte auch die Idee des Deutschen Zollvereins, mit dem die Handelsbeziehungen zwischen den Einzelstaaten des Deutschen Bundes koordiniert werden sollten – zumindest eine wichtige Stufe auf dem Weg zu einer nationalen Wirtschaftseinheit. Dieser Zollverein und seine Strukturen wurden bereits 1847 von führenden Liberalen als Modell dafür erwogen, wie man den Deutschen Bund im Sinne eines Nationalstaates neu etablieren könne. Im Norddeutschen Bund versuchte dann Bismarck, den Zollverein, in dem die süddeutschen Staaten bereits vertreten waren, für die größere politische Einheit zu nutzen. Friedrich List sah nicht zuletzt auch im Aufbau und in der Förderung eines umfassenden Eisenbahnsystems große Chancen für ein nachhaltiges Zusammenwachsen der deutschen Teilstaaten.4 Alle nach und nach realisierten Innovationen waren mithin alles andere als naturwüchsig, sondern folgten sehr wohl theoretischen, der Realität oft weit vorauseilenden Reflexionen. Der damit verbundene Zukunftsoptimismus verdichtete sich dabei in einem sprachlichen Symbol, das gleichsam zur Grundlage einer eigenen Ideologie wurde, die bis weit ins 20. Jahrhundert neue Entwicklungen auf den verschiedensten Sachgebieten, nicht zuletzt der Technisierung und Industrialisierung, mehr oder weniger unkritisch förderte: „Fortschritt“. Die Faszination, die von diesem Begriff weit über sachkulturelle Aspekte hinaus ausging, schlug sich allein schon in der Benennung der allerersten Programmpartei nieder, der 1861 gegründeten liberalen „Deutschen Fortschrittspartei“. Die Konzentration auf Leitbilder und Ideologien des 19. Jahrhunderts hat ihre Berechtigung darin, dass von ihnen in einem nicht unwesentlichen Umfang auch bis in die jüngste Gegenwart entscheidende Impulse für das politische Handeln ausgehen – sehr oft leider auch negativer Art, wie es sich in wieder zunehmender Fremdenfeindlichkeit, im fortlebenden Antisemitismus und Rassismus zeigt. Ihre nicht zuletzt in und durch Sprache vermittelten Begründungen sollen durch die hier vorgeführten historischen Analysen durchschaubarer gemacht werden.

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List, Friedrich (1833): Ueber ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems. Leipzig.

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TEIL 1  Deutsche Leitbilder des 19. Jahrhunderts

Die soziale und politische Entwicklung im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde entscheidend von Leitbildern bestimmt, die – sei es in enger Verbindung, sei es in Wechselwirkung oder in Konfrontation – in sprachlichen Symbolen als Schlüsselwörtern fassbar sind. Durchgängig galten die Zielbegriffe von politischer „Freiheit“ und nationaler „Einheit“; man könnte sie die „Urleitbilder“ des Jahrhunderts nennen. Anfangs wurden sie meist gemeinsam angestrebt, im Laufe des Jahrhunderts aber erhielten sie unterschiedliche Gewichtungen. Gleichsam Prämisse der anfänglich engen Verbindung war die Überzeugung, dass die Deutschen „ein Volk“ und „eine Nation“ seien und ein gemeinsames „Vaterland“ hätten. Beachtet man aber, dass es sich in zeitgenössischen Äußerungen zum Thema „Einheit“ oft nur um Beschwörungen eines angestrebten Ziels handelte, erweisen sich auch diese Begriffe als sprachliche Vorgriffe auf noch zu erreichende Zustände. Damit bekamen sie für die politische Praxis als Konkretionen des Einheitsziels einen je eigenen Leitbildcharakter, wobei sich ihre Beziehungen untereinander verändern konnten, wenn eine der Komponenten dieser Trias besonders dominant wurde. Mit der (scheinbaren) Erfüllung des Einheitsziels in der preußisch dominierten kleindeutschen Staatskonstruktion „Deutsches Reich“ 1871 schien die zukunftsweisende Kraft dieses Urleitbilds und seiner Schlüsselwörter an ihr Ende gekommen zu sein. Doch zeigte sich schon vorher, dass sich dieses Leitbild durch die Integration neuer Perspektiven wie denen der Rassenideologie und imperialistischer Ambitionen sehr wohl reaktivieren ließ, natürlich von seinen idealistischen Anfängen weit entfernt und mehr oder weniger nur noch als Propagandainstrument missbraucht, weswegen es selbst Bestandteil einer neuen Ideologie wurde. Was im Einzelnen systematisch und/oder durch Nachzeichnung historischer Vorgänge noch genauer dargestellt werden soll, sei an dieser Stelle schon angedeutet. Das Urleitbild „Freiheit“ bot ob seiner grundsätzlich offenen Semantik sehr verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die von unterschiedlichen politischen Kräften jeweils für sich beansprucht wurden. Das Streben nach nationaler Einheit geriet von der Jahrhundertmitte an mehr und mehr unter ein eigentlich partikulares, nämlich preußisches Machtziel, begünstigt durch den Ausschluss Österreichs aus einem gesamtnationalen Verbund. Entsprechend verengten sich

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die Vorstellungen von dem, was „deutsches Volk“, „deutsche Nation“ und „deutsches Vaterland“ sein sollten, und dies umso mehr, als die Rassenideologie auf deren Verständnis intensivsten Einfluss nahm. Damit einher ging aber auch eine Übersteigerung dieser Schlüsselwörter hin zu extremem Nationalismus und Imperialismus. Was 1848/49 nur gemäßigt „imperial“ als „Deutsches Reich“ bezeichnet worden war, wurde zum Inbegriff deutschen Weltmachtstrebens. Gleichsam als Kontrapunkt dieser Entwicklungen sind die Selbstbehauptungsstrategien der konservativen Kräfte zu sehen, die mit dem Zielbegriff der „Restauration“ ein eigenes Leitbild verfolgten und sich bis 1918 auf den Mythos des „Gottesgnadentums“ von Monarchen stützten. Dieses letztlich rückwärtsgewandte Leitbild stand in negativer Korrelation zum Leitbild „Freiheit“ der Opposition, scheint aber immer dann besonderen Auftrieb erhalten zu haben, wenn die realen Grundlagen monarchischer Macht gefährdet erschienen. Freilich orientierte sich auch die liberale Bewegung bei allem Fortschrittsoptimismus an rückwärtsgewandten Mythen, nicht zuletzt bei der Konstruktion einer aus germanischer, gar vorgeschichtlicher Zeit stammenden Werteordnung. Das Gesamtgefüge der genannten Leitbilder wurde, ebenfalls seit der Jahrhundertmitte, durch das Aufbegehren der bis dahin von der offiziellen Politik kaum oder gar nicht beachteten Unterschichten, die immerhin den allergrößten Teil der Gesellschaft ausmachten, in mehrfacher Hinsicht neu strukturiert. Die Arbeiterbewegung, die sich dieser Mehrheit und ihrer Probleme annahm, verweigerte sich dem Anspruch der schon etablierten sprachlichen Symbole, interpretierte sie neu oder ersetzte sie gar durch eigene Leitbilder, die freilich längst eine außerdeutsche Tradition hatten. Hier lebte noch einmal uneingeschränkt die Trias der Zielbegriffe der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ auf. Die ebenfalls in Frankreich aufgekommene Idee des „Sozialismus“ erschien dabei großen Teilen der Arbeiterbewegung als Verheißung eines gesellschaftlichen und politischen Idealzustands, in dem die Leitbilder von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ gleichsam ihre Vollendung fänden. Allerdings wurden schon im 19. Jahrhundert unter der Fahne des Sozialismus teilweise sehr verschiedenen Wege beschritten – von den Frühsozialisten über die Kommunisten bis zu reformbereiten Sozialdemokraten. Insofern fällt es schwer, eine allgemeingültige Ideologie des Sozialismus zu definieren. Am ehesten erscheint der Sozialismus von seinen Gegnern als eine einheitliche Bewegung wahrgenommen worden zu sein: als Gefahr für die bürgerliche Ordnung und den Staat. Tatsächlich ging vom „Kommunistischen Manifest“ als dem radikalsten Beitrag zur Theorie des Sozialismus eine objektive Bedrohung aus, da dieses Programm nicht nur allgemein politische und soziale Veränderungen anstrebte, die

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von der liberalen Mehrheit der Opposition erfolgreich verdrängt worden waren. Vielmehr waren in diesem Manifest alle Argumente zusammengefasst, die eine Herrschaft des Volkes als nur durch einen radikalen Bruch mit der alten Ordnung in Staat und Gesellschaft erreichbar erscheinen ließen.

1  Das 19. Jahrhundert zwischen zwei großen Revolutionen „Revolution“ als Programmbegriff

Das radikalste Mittel, die Vision von „Freiheit“, also ein Urleitbild in die Praxis umzusetzen, war und bleibt zweifellos eine Revolution, die sich nach 1789 beim politisch aktivsten Teil der Deutschen als eigenes Leitbild gegen das jahrhundertelang geltende „Gottesgnadentum“ der Fürsten etablieren konnte. Zwar sollte eine Revolution nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg in eine neue Ordnung sein, was sogar für den Anarchismus galt, der – ob nach gewaltloser oder gewaltsamer Überwindung tradierter Normen und Institutionen – eine bessere Gesellschaft etablieren wollte. Aber weil die Aussichten auf eine erfolgreiche Revolution in Deutschland nach 1849 in sehr weite Ferne rückten, konnte das sprachliche Symbol „Revolution“ schon für sich zum Programmbegriff werden. Die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts wird gleichsam umrahmt von zwei großen Revolutionen: von der Französischen Revolution 1789/92 und der russischen Oktoberrevolution 1917. Beide Vorgänge sind auf je eigene Weise Eckpunkte spezifischer historischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Die Französische Revolution eröffnete mit ihrem Umbruch von einer monarchischen zu einer republikanischen Staatverfassung eine in vielen Ländern, nicht zuletzt auch in Deutschland wirksam werdende generelle Neubesinnung auf eine gerechtere Machtverteilung in Staat und Gesellschaft. Die russische Oktoberrevolution war der vorläufige Schlusspunkt eines seit der Jahrhundertmitte geführten Kampfes um politische Partizipation der bis dahin von der offiziellen Politik ausgeschlossenen Volksschichten. Die leitenden marxistischen Ideen, deren Fundament die utopische, also nur sprachlich begründete Vorstellung von einer homogenen „Arbeiterklasse“ war, entwickelten sich nach dem Umsturz in Russland ihrerseits zu einem auch weltpolitisch machtvollen Faktor. Beide Umwälzungen erfüllen also in besonderer Weise Kriterien, mit denen Wende (2000)5 den Begriff „Revolution“ von sachlich oder regional begrenzten 5

Wende, Peter (2000): Große Revolutionen in der Geschichte. München: 10–14.

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Aufständen und Revolten sowie von Bürgerkriegen unterscheiden möchte. Seine wichtigsten Kriterien können für die Definition der französischen und russischen Vorgänge als Revolution in jedem Fall gelten: Es handelte sich jeweils um einen radikalen, mit Gewalt verbundenen Wechsel der politischen und sozialen Verhältnisse, und es ging jeweils um eine universelle Perspektive der Motive, die auf eine bessere Zukunft zielten, mit entsprechenden Wirkungen, die über den Ereignisort weit hinaus reichten. Als politischer Schlüsselbegriff wurde „revolution“ allerdings bereits im 17. Jahrhundert in England verwendet, ohne dass dort die genannten Kriterien in vollem Umfang erfüllt worden wären. Auch die zeitgenössischen Benennungen der französischen Vorgänge ab 1789 und ihrer Vorläufer in Nordamerika 1775–83 nahmen den Begriff bereits in Anspruch, bevor man sich der vollen Bedeutung des „revolutionären“ Handelns bewusst sein konnte. Auch die Loslösung der nordamerikanischen Kolonien von Großbritannien im Unabhängigkeitskrieg von 1775–83 mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 wird mit Recht als Revolution, als „Amerikanische Revolution“, verstanden, obwohl es sich nicht nur um einen einmaligen, zeitlich eng begrenzten Umsturz handelte, sondern um einen mehrjährigen Bürgerkrieg. Auf den Zusammenhang mit der Französischen Revolution und ihren ideellen Anspruch, der die regionalen Ereignisse in Nordamerika weit überstieg, ist noch einzugehen. Selbst die Französische Revolution lässt sich nicht auf ein einmaliges Ereignis, etwa die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789, die ohnehin eher symbolischen Charakter hatte, fixieren. Denn erst über drei Jahre später, im September 1792, wird das Königtum abgeschafft und der König, Ludwig XVI., wird erst 1793, vier Monate später, hingerichtet. Außerdem musste sich die Französische Revolution auch noch in einem Bürgerkrieg bis 1796 des katholisch-royalistischen Widerstands in der Vendée erwehren. Ebenso ist die russische Oktoberrevolution nur ein, wenn auch das wichtigste Glied einer Kette von umwälzenden Vorgängen, nicht zuletzt der vorangehenden „Februarrevolution“ 1917, die zur Abdankung des Zaren Nikolaus II. führte. Und auch hier folgte noch ein jahrelanger Bürgerkrieg zwischen den Bolschewiki, den „Roten“, und den Revolutionsgegnern, den „Weißen“, der erst 1922 die endgültige Etablierung der Sowjetunion möglich machte. Auch die Erhebung der Franzosen im Juli 1830 gegen den Bourbonenkönig Karl X. gilt – obwohl zunächst ein innerfranzösischer Vorgang – völlig zu Recht als Revolution, als „Julirevolution“, zumal sie weit über Frankreich hinaus erhebliche Wirkungen zeitigte. Dasselbe gilt für die französische „Februarrevolution“ von 1848. Sie führte in zahlreichen europäischen Ländern zu Erhebungen, nicht

Das 19. Jahrhundert zwischen zwei großen Revolutionen  |

zuletzt zur deutschen „Märzrevolution“. In dieser deutschen Revolution, eigentlich eine Kette verschiedener Erhebungen, wurde versucht, die Vielstaaterei zu überwinden und die staatliche Ordnung eines geeinten Deutschlands auf ein frei gewähltes Parlament zu gründen. Und schließlich waren auch der Sturz der deutschen Monarchen und die Begründung einer Republik 1918 eine Revolution, die „Novemberrevolution“, deren ursprüngliche Zielsetzung eine deutsche „Räterepublik“ war. Dass dieses Ziel dem einer parlamentarisch repräsentativen Republik unterlag, spricht nicht gegen den Begriff „Revolution“. Die meisten Revolutionen werden durch ihre faktischen Ergebnisse vom ursprünglich angestrebten Weg abgelenkt. Für die deutsche Geschichte war die Novemberrevolution 1918 aber in jedem Fall eine Epochenwende. Für unseren Zusammenhang ist indes wichtig, dass es sich beim Begriff „Revolution“ keineswegs nur um einen nachträglichen Kennzeichnungsversuch handelt, sondern primär um ein sprachliches Symbol, mit dem sich die Akteure bereits zeitgenössisch identifizierten und daraus für ihr weiteres Handeln entsprechende Konsequenzen zogen. Das Wort ging mithin als bewusstseinsprägender Begriff in Deutschland wie in anderen Ländern jeweils den revolutionären Taten voraus. Das kann und soll natürlich nicht bedeuten, dass mit einem sprachlichen Symbol allein, ohne Bodenhaftung in der realen Welt, etwas bewegt werden könne. Aber gerade ein Terminus wie „Revolution“ enthält unabdingbar Zukunftsperspektiven, ohne die politisches Handeln zum puren Aktionismus würde. In diesem Sinne sind nicht nur die beiden großen Revolutionen in Frankreich und Russland, sondern auch die „kleineren“ Umstürze dazwischen wichtige Orientierungspunkte für politische Zukunftsentwürfe, aber auch für die konservativen Versuche, ihnen entgegenzutreten. Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts jedenfalls ist seit 1789 von politisch- und sozial-revolutionären Ambitionen zumindest in Teilen der politisch aktiven Gesellschaft geprägt, die jedoch lange Zeit an der Überzeugung einer Mehrheit scheiterten, der politische und gesellschaftliche Fortschritt könne gleichsam evolutionär, durch „Reformen“ erzielt werden. Das gilt sogar für nicht unwichtige Teile der Arbeiterbewegung, der Marx und Engels in ihrem „Kommunistischen Manifest“ von 1848 eigentlich sogar eine Weltrevolution nahelegen wollten. Die Französische Revolution und die russische Oktoberrevolution waren in ihren über ihre Ursprungsorte weit hinausreichenden Wirkungen gleichsam Geburtshelfer für verschiedene politische Haltungen, die sich zu Ideologien verdichteten, wobei die Funktion der Sprache sowohl als Medium der Rezeption wie auch als Instrument künftigen politischen Handelns eine besondere Rolle

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spielte. Denn nicht nur ein durch Revolution schon erreichter neuer politischer und sozialer Zustand war gleichsam sekundär zu versprachlichen; vielmehr wurde durch Sprache eine erst noch zu schaffende, oft utopische Zukunft entworfen. Darin kam der Sprache vor jedem Handeln eindeutig eine Vorrangstellung zu. So wie die Französische Revolution in ihren Begründungen und Zielvorstellungen nicht vom Himmel gefallen ist, sondern einen längeren geistesgeschichtlichen, insbesondere gesellschaftstheoretischen und damit essentiell sprachlichen Vorlauf hatte, so ging auch der russischen Oktoberrevolution von 1917 eine längere theoretische Entwicklung vorauf, die nicht zuletzt auch von deutschen Theoretikern gefördert wurde. Aber es muss schon jetzt gesagt werden, dass sich bei der praktischen Umsetzung von Zielbegriffen durch unterschiedliche, auch wechselnde politische Gegebenheiten wie teilweise auch durch individuelle Positionen semantische, damit auch ideologische Differenzierungen und sogar Uminterpretationen ergaben. Man denke nur an die Gegensätze von Minderheits- und Mehrheitssozialisten in Russland, von Menschewiki und Bolschewiki. Und auch in Deutschland ging durch die Reihen der Befürworter der Französischen Revolution einerseits wie der dem Sozialismus zuneigenden Arbeiterbewegung andererseits ein bis heute spürbarer Riss zwischen Revolutionären und Reformern.6 Wie bei anderen Leitbildern behielt der Zentralbegriff „Revolution“ jedoch oft genug eine die ideologischen Differenzen überbrückende Kraft.

2  Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort „Freiheit, die ich meine“

„Freiheit“ kann – nicht erst seit der Adaption der zentralen Losung der Französischen Revolution – als eins der Urleitbilder der politischen und sozialen Entwicklung im Deutschland des 19.  Jahrhunderts gewertet werden. Bereits die Amerikanische Revolution hatte ihre – zunächst noch schwachen – Auswirkungen auf das politische Denken in Deutschland. Aber auch diese Revolution war – abgesehen von den spezifischen handelspolitischen und militärischen Zielen im Unabhängigkeitskrieg – eingebettet in den weiteren Zusammenhang der europäischen Aufklärungsdiskurse. Die amerikanische Umsetzung der darin 6

Selbst in der heutigen SPD werden immer wieder einmal – wenn auch gemäßigte – Flügelkämpfe ausgetragen.

Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort  |

entwickelten Ideen und Ideale in die politische Praxis, insbesondere durch die Formulierung von Grundrechten in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, wurde dann zum Vorbild für die Französische Revolution. Aber auch die Einrichtung einer Republik mit Gewaltenteilung und freien Wahlen war für die Franzosen vorbildgebend. Europa, auch Deutschland, war sehr wohl, auf passive wie aktive Weise, von den Ereignissen in Nordamerika tangiert. Passiv durch den Soldatenhandel, durch den zahlreiche Deutsche von ihren Fürsten, allen voran von Hessen-Kassel, als Söldner auf britischer Seite in die Kämpfe gegen die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung geworfen wurden. Aktiv durch viele Militärs, nicht zuletzt Preußen, die sich der Sache der Amerikaner zur Verfügung stellten und dabei auch wichtige Positionen in der Kontinentalarmee einnehmen konnten. Der Prominenteste war der preußische Offizier Friedrich Wilhelm von Steuben (1730–94), der als Generalinspekteur der amerikanischen Armee entscheidend zum Sieg im Unabhängigkeitskrieg beitrug. Unter der Hand, mit stillem Einverständnis Friedrichs II., stellte Preußen den Amerikanern sogar Waffen zur Verfügung. Die bedeutendste personelle Verbindung zwischen den amerikanischen und französischen Ideen stellte zweifellos der Franzose Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette (1757–1834) dar. Auch er kämpfte als General auf amerikanischer Seite, wurde dann aber, 1789, Mitglied der französischen Generalstände und legte den ersten Entwurf der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor, den er zusammen mit dem amerikanischen Politiker Thomas Jefferson (1749–1826), zeitweilig Diplomat in Paris, erarbeitet hatte. Die deutschen Reaktionen auf die umwälzenden Entwicklungen in Nordamerika waren zunächst gespalten. Der Göttinger Historiker und bedeutende Publizist August Ludwig Schlözer (1735–1809) etwa stellte sich in der Auseinandersetzung der nordamerikanischen Kolonien mit England trotz seiner sonst vertretenen Forderung nach politischer Partizipation des Volkes auf die britische Seite. Die Nachrichten über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und darin insbesondere die Feststellung, dass „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ zu den „unveräußerlichen [Menschen-]Rechten“ zu zählen haben, weckten dagegen bei vielen begeisterte Zustimmung. Bereits am 5. Juli 1776 veröffentlichte der „Pennsylvanische Staatsbote“ in Philadelphia die erste deutsche Übersetzung, in der das Original mit „Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“ wiedergegeben wird. Und bereits sieben Wochen später, am 24. August, war auch in Deutschland selbst der Text der Unabhängigkeitserklärung erstmals in einer Zeitung zu lesen.

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Auf welche allgemeinere Disposition insbesondere der Begriff der Freiheit traf, lässt sich exemplarisch an Bekundungen des Dichters und Journalisten Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–91) nachweisen. Seiner antiabsolutistischen und sozialkritischen Äußerungen wegen wurde Schubart 1777 sogar für zehn Jahre im Kerker der Festung Asperg inhaftiert. Schon zum Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs 1775 dichtete er sein „Freiheitslied eines Kolonisten“7, in dem er seine Opposition gegen den Absolutismus eindeutig zum Ausdruck bringt. Konkret eifert er, durch den Mund eines deutschen Siedlers in Amerika, gegen den „gier’gen Britten“, die englische Kolonialmacht, und gegen den Soldatenhandel der Fürsten. In der zweiten Strophe heißt es: Die Göttin Freiheit mit der Fahn‘ (der Sklave sah sie nie), Geht, Brüder, seht! Sie geht voran! O blutet für sie!

Allgemein bekannt wurde dieser Text durch seinen Abdruck in Schubarts Zeitschrift „Teutsche Chronik“ Nr. 64, 1775. Mehr als ein Jahrzehnt vor der Französischen Revolution und vor ernsthaften Bestrebungen, aus ihr auch für die deutschen Verhältnisse konkrete Konsequenzen zu ziehen, tritt mithin „Freiheit“ in Deutschland als politisches Fahnenwort auf, das sich auf die Staats- und Regierungsform bezieht, während ein älteres Verständnis unter politischer Freiheit unter anderem die „Freiheit des Staates“, seine Unabhängigkeit gegenüber anderen Staaten meinte. Vom Anspruch der Restaurationstheorie Karl Ludwig von Hallers abgesehen, dass es naturrechtlich begründet ein soziales Oben und Unten von Mächtigeren und Schwächeren geben müsse und dabei den Schwächeren Abhängigkeit und „Dienstbarkeit“, den Mächtigeren aber und nur diesen „Freyheit“ zukomme, sei hier noch abgesehen (Teil 2, 1.3). Doch überschneidet sich die neue politische Bedeutung auch zeitgenössisch mit einem noch nicht im engeren Sinne politischen Aufbegehren gegen gesellschaftliche Konventionen und Einschränkungen des individuellen Lebens. Weniger direkt als bei Schubart, gleichwohl von ähnlich gestimmter Kritik an den Zwängen der herrschenden sozialen Ordnung, war die zeitgenössische literarische Epoche, der Schubart selbst verbunden war: der „Sturm und Drang“ (ca. 1765–85). Der Epochenname verdankt sich dem Titel eines Dramas Friedrich 7

Schubart, Christian Friedrich Daniel (o.J.): Gedichte. Leipzig: 193 f.

Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort  |

Maximilian Klingers von 17768, das kaum zufällig in Amerika als einem Land spielt, in dem sich (deutsche) „Originalgenies“, von europäischen Konventionen befreit, ihren Gefühlswallungen hingeben können – auch dies freilich eine Wirkung der Aufklärungsideen von „Freiheit“, die als Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung bis in die Gegenwart reichen. Durch die Französische Revolution hat die Attraktivität von „Freiheit“ als allgemeines, oft verschiedene Zukunftshoffnungen integrierendes Fahnenwort in Deutschland zunächst eine neue, außergewöhnliche Schubkraft erhalten. Auch in der zentralen französischen Losung „liberté – egalité – fraternité“ stand ja „Freiheit“ an erster Stelle. Während die revolutionäre Begriffstrias als ganze in Deutschland keineswegs uneingeschränkt weitergalt, kam „Freiheit“ eine bis weit ins 20. Jahrhundert wirkende Bedeutung zu, nicht zuletzt im Kalten Krieg als Kampfbegriff gegen den Kommunismus, aber auch bei genereller Abgrenzung gegen jede Form von Sozialismus.9 Schon sehr früh hatte kein Geringerer als Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) in zahlreichen Gedichten die Franzosen ob ihres Freiheitswillens bewundert, beispielsweise in der 1790 geschriebenen Elegie „Sie, und nicht wir“10: Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freyheit Gipfel erstieg, Beyspiel strahlte den Völkern umher: Frankreich war’s! ...

Klopstock war denn auch einer der ersten, denen die Französische Republik 1792 per Gesetz die Würde eines französischen „citoyen“, also gleichsam eine zweite Staatsbürgerschaft verlieh. Auch Friedrich Schiller wurde diese Ehrung zuteil. Eindruck hatte nicht zuletzt eine Pariser Aufführung seiner „Räuber“ gemacht, auch war der Appell des Marquis Posa an König Philipp im „Don Karlos“ von 1787 „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ ein deutliches Zeugnis seiner politischen Haltung gewesen. Auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) reihte sich 1793 mit seiner Schrift „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie unterdrückten“ und weiteren Veröffentlichungen zunächst in die Schar der Bewunderer der Französischen Revolution. 8 9 10

Klinger hatte seinem Drama ursprünglich den Titel „Wirrwarr“ geben wollen. Man denke an bundesdeutsche Wahlkampfparolen wie „Freiheit statt Sozialismus“. Klopstock, Friedrich Gottlieb (1994): Oden. Stuttgart: 112 f.

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Zahlreiche Deutsche, die man „Pilger der Freiheit“ nannte, zog es nach Paris, wo sie die neue republikanische Ordnung erleben wollten, darunter der Schriftsteller Georg Forster (1754–94). Wie andere auch vertrat Forster in Deutschland sogar die radikalen Ideen der französischen „Jakobiner“, der Anhänger von Robespierre. Es entstanden etliche deutsche Jakobinerclubs, die am stärksten in Südwestdeutschland vertreten waren. Bei allen Differenzen im Einzelnen waren sich die deutschen Clubs einig in der Forderung, die Fürstenherrschaft abzuschaffen. Einen kurzlebigen politischen Erfolg hatten die Mainzer Jakobiner unter Führung von Georg Forster, aber auch unter dem Druck der französischen Besatzungsmacht, als sie 1793 die erste Republik auf deutschem Boden, die „Mainzer Republik“, ausriefen. Bis in den Vormärz hinein ließen sich aufs Ganze gesehen dank eines relativ abstrakten Freiheitsbegriffs und damit eines politisch mehr oder weniger unbestimmten „Liberalismus“ kaum Unterschiede zu anderen politischen, insbesondere „demokratischen“ Akzentuierungen des französischen Vorbilds erkennen. Im engeren Sinne revolutionäre Ambitionen, gar Handlungen waren mehr oder weniger die Ausnahme. Große Teile der deutschen Freiheitsbewegung wollten zwar liberal sein, gaben aber zunächst Reformen den Vorzug. Wie allgemein, zwischen Pathos und Naturromantik schwankend, der Begriff der Freiheit aufgefasst werden konnte, geht aus dem vielgesungenen Lied Max von Schenkendorfs „Freiheit, die ich meine“11 aus dem Jahre 1813 hervor. Die letzte, fünfte Strophe versäumt indes nicht, eine besondere Beziehung zwischen „Freiheit“ und „deutscher Art“ herzustellen: Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild! Freiheit, holdes Wesen, gläubig, kühn und zart, hast ja lang‘ erlesen dir die deutsche Art.

Die unterschiedlichen Akzentuierungen von „Freiheit“, politische Orientierung einerseits und individuelle Ansprüche andererseits, durchziehen – nie ganz 11

In zahlreichen Liederbüchern, u.a. in: Böhme, Franz Magnus (Hrsg.) (1895): Volksthümliche Lieder der Deutschen. Leipzig: 95 f.

Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort  |

konfliktfrei – die weitere Geschichte. Neben dem politischen Zielbegriff reklamieren selbst politisch denkende Autoren für sich nicht zuletzt die Ungebundenheit des Individuums, wie es sich, wiederum exemplarisch, an zwei Autoren nachweisen lässt. Der wahrlich nicht unpolitische Ferdinand Freiligrath (1810– 76) verkündete 1844 seine Haltung im Vorwort seiner Sammlung von Zeitgedichten „Ein Glaubensbekenntniß“: „Kein Leben mehr für mich ohne Freiheit!“ Und weit über jede konkrete Revolutionserwartung hinaus erhoffte sich Heinrich Heine (1797–1856) nichts weniger als sein individuelles „volles Freiheitsrecht“. Die verschiedenen Akzentuierungen des Freiheitsverständnisses können freilich nicht ohne weiteres gegeneinander ausgespielt werden. Dessen Bandbreite verdankt sich bereits der Geschichte einer ausgedehnten philosophischen Diskussion des Begriffs, die weit hinter die Französische Revolution zurückreicht. Auch die politisch praktischen Folgerungen selbst in den im 19. Jahrhundert entstehenden Parteien, die sich als Freunde der Freiheit, als „liberal“ verstanden, schlossen die Ansprüche des Individuums stets ein. Konflikte konnten, ja mussten immer dann auftreten, wenn die individuellen Freiheitsrechte auf Kollektivierungen trafen, die forderten, dass Individuen eine homogene Gruppe bilden sollten. Das beginnt schon mit der zu Beginn der Freiheitsbewegung proklamierten Kollektivierung des Deutschen schlechthin, so sehr sie aus historischen wie politischen Gründen auch nachvollziehbar war. Die vorerst stärkste kollektivistische Vereinnahmung der Individuen wird dann allerdings die marxistische Vorstellung von homogenen „Klassen“ ergeben. Dass irgendwann, in einer klassenlosen Gesellschaft, die „freie Entwicklung eines Jeden“ möglich werde, war natürlich Utopie pur (Teil 2, 7.2). Den vorläufigen Endpunkt der Unterdrückung des Individuums zu Gunsten eines Großkollektivs stellte die totalitär gelenkte „Volksgemeinschaft“ unseligen Angedenkens dar: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ – eine Parole, die bereits die HJ zu verinnerlichen hatte. Unter den Schriften, die einen programmatischen Anspruch im Sinne des zeitgenössischen Liberalismus erheben konnten, müssen die des aus Lausanne stammenden, in der französischen Politik mehrfach aktiven Autors Benjamin Constant (1767–1830) genannt werden. Nach anfänglicher Begeisterung für die Französische Revolution wandte er sich schon bald gegen den Fanatismus der Jakobiner und stellte sich Napoleon zur Verfügung, publizierte aber 1814 in Hannover eine Streitschrift gegen ihn: „De l’esprit de conquête et de l’ursupation“ („Vom Geist der Eroberung und der widerrechtlichen Machtergreifung“). In weiteren Werken, etwa in „Principes de politic“ („Prinzipien der Politik“), warnt er indes auch vor dem Irrglauben, dass Demokratie allein Tyrannei verhindern

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könne. Er tritt selbstverständlich für die Freiheit des Individuums ein und plädiert für Privateigentum und wirtschaftliche Freiheit. Constant kann schon durch seine persönliche Positionierung als einer der Kronzeugen für die bei der Mehrheit der Liberalen lange Zeit geltende Grundüberzeugung gelten, dass der menschliche Fortschritt nicht durch Revolutionen, sondern durch geduldiges Vertrauen in evolutionäre Kräfte gewonnen werden könne. So sehr man indes auf der politischen Ebene des 19. Jahrhunderts nach einer fest abgrenzbaren Ideologie des „Liberalismus“ fahndet, so oft trifft man auch auf den Dissens zwischen verschiedenen Richtungen. Die Geschichte der parteiorganisierten Liberalen ist eine Geschichte von Spaltungen (Teil 2, 9). Unter der Fahne der „Freiheit“ konnten sich schon anfangs sehr verschiedene Kräfte versammeln. Eine gewisse, aber ebenfalls noch auslegungsbedürftige Einigung darüber, was „liberal“ sei, kam erst gegen Ende des Vormärz zustande, als der republikanisch gesinnte Flügel der Opposition das Fahnenwort „demokratisch“ für sich beanspruchte und sich damit von den bisherigen Kampfgefährten trennte, die nun allein das Attribut „liberal“ vertreten mussten. Angesichts des lange Zeit mehr oder weniger vagen Gebrauchs des Fahnenworts „Freiheit“ nimmt es kaum wunder, wenn selbst in der Opposition gegen die etablierte Ordnung Zweifel an der Berechtigung von „liberal“ als eines ernsthaften Schlüsselbegriffs artikuliert werden konnten. 1834 veröffentlichte etwa Ludolf Wienbarg unter dem Titel „Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet“ 24 Vorlesungen, die er als Dozent in Kiel gehalten hatte. Darin opponiert er insgesamt gegen das als überlebt gewertete „altdeutsche“ Geistesund Gesellschaftsleben. Womöglich denjenigen überraschend, der von einem Vertreter des vom Deutschen Bund verfolgten „Jungen Deutschland“ eine eindeutige politische Frontstellung erwartet hätte, verwahrt sich Wienbarg schon in der Einleitung zu seinen Vorlesungen aber auch gegen die zu seiner Zeit bereits gängige Unterscheidung von „liberal“ und „illiberal“: Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte [!] Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse ...

1840 nimmt Hoffmann von Fallersleben in einem seiner Gedichte mit dem Titel „Die liberalen Modegecken“ (Teil 2, 3.7) auch ein leeres Freiheitsgeschrei ironisch aufs Korn, da er bei allzu vielen angeblichen Freiheitsfreunden eher ein Interesse an Modefragen entdeckt. „Liberal“ als Kennzeichnung von Freiheitsliebe wie auch der Ruf nach „Freiheit“ selbst standen mithin schon im Vormärz

Die nationalistische Verengung des Freiheitsbegriffs  |

im Verdacht, als bloße Schlagwörter missbraucht zu werden. Das hinderte aber überzeugte Liberale nicht, ihr Leitbild gegen illiberale Ausdeutungen des Wunsches nach nationaler Einheit ins Feld zu führen, wie noch an Stimmen aus dem Reichstag des Norddeutschen Bundes gezeigt werden soll.

3  Die nationalistische Verengung des Freiheitsbegriffs „Wo jeder Franzmann heißet Feind“

Die deutsche Begeisterung für das Vorbild Frankreich erfuhr allerdings schon früh zwei herbe Dämpfer. Zum einen durch die revolutionären Exzesse, mit der Robespierre in Paris 1793/94 eine Schreckensherrschaft aufgerichtet hatte mit Guillotinierungen nicht nur zahlreicher Repräsentanten des Ancien Régime, darunter des Königs Ludwig XVI. und seiner Gemahlin Marie Antoinette, sondern auch von prominenten Mitstreitern der Revolution wie Georges Jacques Danton. Damit wurde in Deutschland sehr viel Sympathie für die Franzosen verspielt. Schließlich endete aber auch Robespierre 1794 unter dem Fallbeil. Zum anderen enttäuschte Frankreich die deutschen Bewunderer durch seine Abkehr vom republikanischen Ideal hin zu einer neuen Monarchie unter Napoleon (I.), der sich als erfolgreicher Feldherr 1799 zum diktatorisch regierenden Ersten Konsul aufschwang und 1804 selbst zum Kaiser krönte. Napoleons Kampf gegen die übrigen europäischen Mächte war tatsächlich nur noch bedingt vom Wunsch der Revolutionsanfänge bestimmt, die freiheitlichen Ideen möglichst in ganz Europa zu verbreiten. Bei den Deutschen wie bei anderen betroffenen Völkern rückte jenes französische Expansionsstreben, das sich bereits in früheren Eroberungskriegen Frankreichs manifestiert hatte, ins Zentrum kritischer bis ablehnender Haltungen. Das Bestreben, auch in den deutschen Territorien das Prinzip politischer Freiheit und eine demokratisch-republikanische Ordnung durchzusetzen, erhielt durch diese Expansionspolitik eine für die weitere deutsch-französische Geschichte problematische Einengung. „Freiheit“ wurde sehr bald auch als Befreiung von französischer Besatzung und kultureller Dominanz verstanden, und man definierte die Kämpfe von 1813–15, mit denen die Franzosen wieder aus Deutschland verdrängt wurden, als Befreiungs-, gar als „Freiheitskriege“. Fichte ist einer der prominentesten Zeitgenossen, die von einer Zustimmung zur Französischen Revolution zu einer entschieden antifranzösischen Position wechselten, dies allerdings nicht zuletzt auch unter seinen Erfahrungen mit der

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französischen Besatzungsmacht. Seine öffentlichen „Reden an die deutsche Nation“, im Winter 1807/08 im französisch besetzten Berlin gehalten und 1808 im Druck erschienen12, enthalten sich zwar – unter französischer Kontrolle verständlich – direkter Angriffe auf die Franzosen, doch waren Hinweise auf eine „Sklaverei“, teils abstrakt formuliert, teils hinter einem historischen Rückgriff versteckt, für das zeitgenössische Publikum deutlich genug, so in der 8. Rede: Wo ist Sklaverei außer in der Nichtachtung, und der Unterdrückung eines ursprünglichen Volkes ... Sklaverei hießen ihnen [den Germanen] alle jene Segnungen, die ihnen die Römer eintrugen, weil sie dabei etwas anderes, denn Deutsche, weil sie halbe Römer werden müßten.

Fichtes philosophische und historische Herleitung eines spezifisch deutschen Nationsbegriffs – er spricht mehrfach auch von „Deutschheit“ – sowie in ihren pädagogischen Folgerungen für eine „neue Nationalerziehung“ lassen im Übrigen keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass die Deutschen gegenüber den anderen „neueuropäischen Nationen“ eine einzigartige Stellung einnähmen. Hier wird eine der Wurzeln für eine Deutschtumsideologie erkennbar, die noch und gerade nach 1918 ihre unselige Rolle spielen wird. Und Fichte gibt dabei auch seine Sympathie für eine republikanische Verfassung zu erkennen, etwa in der 7. Rede: Die Deutsche Nation ist die einzige unter den Neu-Europäischen Nationen, die es in ihrem Bürgerstand schon seit Jahrhunderten durch die That gezeigt hat, daß sie eine Republikanische Verfassung zu ertragen vermöge.

Ein Jahr später, 1809, verfasste Heinrich von Kleist – bewusst an eine für beide Kirchen wichtige und inhaltlich maßgebliche Textsorte anknüpfend – seinen nationalistischen „Katechismus der Deutschen“13, dessen 4. Kapitel „Vom Erzfeind“ überschrieben ist. Darin beginnt der Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn wie folgt: Vater: Wer sind deine Feinde, mein Sohn? Sohn: Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen. Vater: Ist sonst niemand, den du hassest? Sohn: Niemand, auf der ganzen Welt. 12 13

Fichte (2008) Kleist, Heinrich von (1978): Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3. Berlin/Weimar: 389–401.

Die nationalistische Verengung des Freiheitsbegriffs  |

Der Historiker und Schriftsteller Ernst Moritz Arndt (1769–1860), der Napoleon sogar mit dem Antichrist gleichsetzte, folgte 1815 Kleists Vorbild mit seinem „Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann“14, worin so deutliche Worte stehen wie Wer aber für den Tyrannen [Napoleon] ficht und gegen Gerechtigkeit das mordische Schwert zieht, dessen Name ist verflucht bei seinem Volke und sein Gedächtnis blüht nimmer unter den Menschen.

Schon 1813 hatte Arndt in seinem Lied „Was ist des Deutschen Vaterland?“, kongenial mit Kleists Franzosenhass, gedichtet: Das ist des Deutschen Vaterland, wo Zorn vertilgt den wälschen15 Tand, wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Deutsche heißet Freund. (8. Strophe)

Arndt setzte seine antifranzösische Agitation bis an sein Lebensende fort, etwa in seinem „Kriegslied gegen die Wälschen“ von 1859. Aus Kleists „Erzfeind“ wurde der „Erbfeind“ Frankreich, eine Charakterisierung des Nachbarlandes, die zur unheilvollen Konstante des politischen und mentalen Selbstbewusstseins der Deutschen wurde und letztlich erst im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963, dem Elysée-Vertrag, ihr Ende fand. Mit mindestens gleicher Intensität wie Arndt vertrat der in Studium und Beruf wenig erfolgreiche Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) die antifranzösische Position. Die von ihm 1810 bei Berlin, zunächst als geheimer „Deutscher Bund“, ins Leben gerufene Turnbewegung, die ihm den Titel „Turnvater Jahn“ eintrug, war von vornherein als Versuch angelegt, die Jugend auf einen Kampf gegen die französische Besatzung vorzubereiten. Bereits 1808 hatte er in seiner Schrift „Deutsches Volksthum“ für eine volkliche Einheit der Deutschen plädiert, 14

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Arndt, Ernst Moritz (1815): Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann. Köln; „Was ist des Deutschen Vaterland“, in: Meisner, Heinrich (Hrsg.) (1894): Gedichte von Ernst Moritz Arndt. Leipzig. Bd. 2: 18-21. Schon seit dem Mittelalter war „wälsch/welsch“ gegen Angehörige eines romanischen Volks gerichtet, bei Arndt und anderen speziell gegen Franzosen; das Wort „Franzmann“ hielt sich bis in den Ersten Weltkrieg.

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wobei ihm die Rückbesinnung auf die Werte der „Muttersprache“, frei von aller „Fremdsucht“ besonders wichtig war. Unabhängig von der durch die Realpolitik begründeten Distanzierung von den Franzosen stieß aber auch die französische Revolutionsparole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ als ganze in Deutschland immer wieder auf erhebliche Vorbehalte, und zwar keineswegs nur bei den ohnehin jeglicher Revolution Fernstehenden. Jacob Grimm etwa, nicht eben als Vertreter der Restauration verdächtig, argumentierte in der Paulskirche gegen Missverständlichkeiten in den Begriffen „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“. Die Forderung nach Gleichheit wurde für den bürgerlichen Teil der Gesellschaft, obgleich er sich in Frankreich mit dieser Forderung von feudaler und klerikaler Herrschaft emanzipiert hatte und man in Deutschland damit dasselbe anstrebte, in dem Augenblick kritisch, in dem die unteren Schichten gesellschaftliche und politische Gleichstellung einforderten. Folgerichtig beschwor die Arbeiterbewegung, genauer 1873 der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“, die ganze Parole, „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“.

4  Die Leitbildtrias deutscher Einheit „ein Volk – ein Vaterland – eine Nation“

In politischer Hinsicht wurde „Freiheit“ vornehmlich auf ein Gesamtkollektiv bezogen und nicht mehr nur auf die Unabhängigkeit eines Staates gegenüber anderen Staaten oder gar nur auf einzelne soziale Gruppen, wie etwa der traditionelle Begriff „teutsche Freiheit“ oft jeweils nur Privilegien einzelner Stände gemeint hatte. Damit kam das „Volk“ als ganzes ins Spiel, das nicht mehr nur Objekt von Herrschaft, sondern politisch handelndes Subjekt sein sollte, wie es sich schließlich im Verfassungsprinzip der Volkssouveränität niederschlug; zeitgenössisch sprach man von „Volkshoheit“. Schon die Amerikanische Revolution hatte in ihrer Verfassung von 1776 den neuen Souverän gleich am Beginn mit „We the People“ hervorgehoben. Zwar war und blieb „Volk“ weiterhin Bezeichnung für eine beliebige Vielzahl von Menschen oder in monarchischer Perspektive für das Kollektiv der Untertanen, wurde nun aber in mehrfacher Hinsicht semantisch erweitert und aufgewertet. Den entscheidenden Anstoß zu dieser Entwicklung hatte Jean-Jacques Rousseau (1712–78) gegeben: mit seinem politisch-theoretischen Hauptwerk von 1762 „Du Contract Social ou Principes du Droit Politique“ („Der Gesell-

Die Leitbildtrias deutscher Einheit  |

schaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“). Rousseaus Theorie wurde sowohl in der Amerikanischen wie in der Französischen Revolution richtungweisend. Gewehre und Kanonen allein hätten nur ein zielloses Spektakel bewirkt. Mit der politischen Aufwertung von „Volk“ paarte sich in der Frühromantik gleichsam eine neue kulturelle Wertschätzung des Volkes, die in Deutschland vor allem durch Johann Gottfried Herder (1744–1803) und seine Idee gefördert wurde, dass das Volk eine eigene kreative Kraft besitze, die imstande wäre, „Volkspoesie“, insbesondere „Volkslieder“ hervorzubringen – eine Kraft, die Herder im Übrigen zunächst noch jedem Volk, keineswegs nur dem deutschen zugestand. Diese kosmopolitische Perspektive schwand jedoch – ähnlich wie der Freiheitsbegriff gleichzeitig verengt wurde – unter dem Eindruck des deutschen Leidens an der französischen Hegemonie mehr und mehr. Fichte konstruierte schließlich 1807/08 – nun schon in Abwendung von seiner anfänglichen Franzosenbegeisterung – in seinen „Reden an die deutsche Nation“ einen Volksbegriff, dem letztlich nur noch die Deutschen entsprechen konnten. „Der Deutsche“ – Fichte formuliert in der 4. Rede auch „der Deutsche an und für sich“ – habe auf Grund seiner Bodenständigkeit eine „größere Reinheit seiner Abstammung“, und er habe eine von Anbeginn gebrauchte „lebendige Sprache“, während die übrigen Völker, auch die von den Germanen (er meint wohl eher: Indogermanen) ebenfalls abstammenden, „eine nur an der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache“ hätten. Die Deutschen seien mit diesen Eigenschaften ein „ursprüngliches“ oder „Urvolk“, und Fichte ist sogar überzeugt, daß nur der Deutsche [...] wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig ist. (8. Rede)

Hier wie an vielen anderen Stellen von Fichtes „Reden“ wachsen „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“ bereits zu einer Dreieinigkeit mit einem problematischen Ewigkeitsanspruch zusammen, der staatliche Ansprüche übersteigt: Volk und Vaterland [...] als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit, und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann, liegt weit hinaus über den Staat, im gewöhnlichen Sinne des Wortes. (8. Rede)

Diese fragwürdige „Ewigkeitsperspektive“ hat den Begriffen „deutsch“ und „Deutschland“ im 19. Jahrhundert geradezu mythische Qualitäten vermittelt, die

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zuletzt jeden „normalen“ Nationalismus weit hinter sich ließen. „Deutschland, Deutschland über alles“ eines Hoffmann von Fallersleben war dagegen geradezu noch harmlos. Eins der Kultbücher der Jugendbewegung des völkischen Autors Hermann Burte verkündete 1912 bereits im Titel den Ewigkeitsanspruch: „Wiltfeber, der ewige Deutsche“. „Ewiges Deutschland“ wurde schließlich ab 1933 zum Titel zahlreicher Veröffentlichungen, etwa eines Dramas von Kurt Kluge (1933), eines Gedichtbandes von Hugo Distler (1934) oder eines „deutschen Hausbuchs“, das ab 1939 in mehreren Auflagen erschien. In jedem Fall hatten sich im 18./19. Jahrhundert in wenigen Jahrzehnten auch die Vorstellungen von „Vaterland“ und Patriotismus verändert, fort von einer auf größere und kleinere Territorien konzentrierten Haltung, einem „Landespatriotismus“, hin zu einer die ganze Nation umfassenden Loyalität. Ein wichtiger Impuls zu diesem Wandel ist sicher auch vom Patriotismus der Französischen Revolutionäre ausgegangen, in deren „Marseillaise“ von 1792 unterschiedslos alle Franzosen aufgerufen werden: „Allons enfants de la Patrie!“ Doch bereits 1770 hatte Klopstock in seinem „Vaterlandslied“16 ein deutsches Mädchen – übrigens ausdrücklich als blond und blauäugig charakterisiert – singen lassen: Mein gutes, edles, stolzes Herz Schlägt laut empor Beym süssen Namen: Vaterland! So schlägt mirs einst beym Namen Dess Jünglings nur, der stolz wie ich Aufs Vaterland, Gut, edel ist, ein Deutscher ist.

Exemplarisch für das kurz zuvor noch allgemein geltende, partikulare Patriotismusverständnis kann beispielsweise der Name der 1765 in Hamburg gegründeten „Patriotischen Gesellschaft“ gelten, die bis heute Projekte zu Gunsten eines Stadtstaates verfolgt. Auch der konservative Deutsche Bund schloss sich nur bedingt dem weiter gefassten, politisch „verdächtigen“ Verständnis von „Vaterland“ an. So versah er in seiner „Bundesakte“ von 1815 etwa in Art. XVIII.2.b die Befugnis von Untertanen, in einem anderen Bundesland einen Zivil- und Militärdienst aufzunehmen, mit dem Vorbehalt: „so fern keine Verbindlichkeit zu Militairdiensten gegen das bisherige Vaterland im Wege stehe“. Und die 16

Klopstock, Friedrich Gottlieb (1798): Oden. Bd. 1. Leipzig: 299–301.

Die Leitbildtrias deutscher Einheit  |

Erlaubnis zum Wechsel von einem deutschen Bundesstaat zu einem anderen wird in der Bundesversammlung sogar unter dem Stichwort „Freyheit zur Auswanderung“ verhandelt. Noch 1866 wird der Großherzog von Hessen-Kassel (Kurhessen) Friedrich Wilhelm, nachdem er von preußischen Truppen gefangen gesetzt worden war und ins preußische Stettin verbracht werden sollte, in einem Aufruf an seine Untertanen vom 23. Juni formulieren: „Im Begriff, in die über mich verhängte Kriegsgefangenschaft ins Ausland [!] abgeführt zu werden ...“17 Gleichwohl war auch dem Deutschen Bund der weiter gefasste Begriff von „Vaterland“ keineswegs ganz fremd. Bereits in seiner Rede zur Eröffnung der ersten Sitzung der Bundesversammlung am 5. November 1816 sprach der präsidierende österreichische Gesandte Johann Rudolf von Buol-Schauenstein von „Gesammtvaterland“ und sogar von „unserem deutschen Vaterland“. Für ihn ist die „uns alle einigende Sprache“ ein wesentliches Element „nationeller“ Gemeinsamkeit. Auch in weiteren Sitzungsbeiträgen bis zum Ende 1866 wurde immer wieder einmal das „deutsche Vaterland“ bemüht, freilich ohne die Emphase und ohne die politische Einheitsperspektive wie auf Seiten der Opposition. Eine bis 1914 wirkende Gegenposition zur Vaterlandsidee nahm dagegen die Arbeiterbewegung ein, die in wesentlichen Teilen der grundsätzlichen Feststellung von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ folgte, dass Arbeiter gar kein Vaterland hätten, sondern sich angesichts globaler Unterdrückung international organisieren müssten. Die antisozialistische Agitation Bismarcks griff diesen Gedanken geradezu dankbar auf, indem sie Sozialisten als „vaterlandslose Gesellen“ diskriminierte. Von diesem Makel versuchte sich die SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu befreien, indem ihre Reichstagsfraktion feierlich erklärte, „in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“ lassen zu wollen. Der in der Romantik noch emanzipatorisch verstandene Begriff „Volk“ erfuhr im 19. Jahrhundert in der Konzentration auf das „deutsche Volk“ eine immer stärkere Einengung, bis er schließlich mit dem Nationalismus verschmolz. Erst recht durch seine rassenbiologische Definition als genetische Einheit kam diesem Begriff ein so hoher Eigenwert zu, dass er zuletzt sogar gegen den Staat als Ordnungsgefüge ausgespielt werden konnte. Man war nun nicht mehr „nur“ deutsch, man war „völkisch-deutsch“. Bei dem Verkünder des deutschen Germa17

Zit. nach: Beilage der Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 50 (1866): 380. Die Grußformel „An mein getreues Volk“ stand freilich im Widerspruch zur extremen Unbeliebtheit dieses Monarchen und seiner Vorgänger. Im Text schreibt er im Übrigen – wie 1813 schon der Preußenkönig und noch Kaiser Wilhelm II. – „Mein Volk.“

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nentums Houston Stewart Chamberlain18 waren Rasse, Volk und Nation faktisch bereits eine geradezu tautologische Einheit (Teil 2, 2.3). Wie wenig man sich auf monarchischer Seite selbst in Zeiten der Not auf Neudefinitionen von „Vaterland“ und „Volk“ einlassen wollte, hatte exemplarisch der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. zum Krieg gegen die Franzosen 1813 gezeigt. Bereits im Titel des Texts, „An Mein Volk“19, übergeht der Monarch die von der Nationalbewegung angestrebte Würde eines neuen Souveräns, des Volkes, durch das obendrein groß geschriebene Possessivpronomen „Mein“. Diese Form „sprachlicher Besitzergreifung“ wird auch von anderen Monarchen gepflegt, fügt sich aber auch konsequent in die übliche Großschreibung ihrer Selbsttitulierungen „Ich“ und „Wir“ bis 1918. Im Aufruf von 1813 wird die ständische Gliederung des preußischen Staates nicht in Frage gestellt, wohl aber erwartet der König ein ständeübergreifendes Engagement: „Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden ...“ Nach jahrhundertelanger politischer und sozialer Differenzierung der Deutschen in unterschiedlichen Territorien, in „Stämmen“ mit je eigenen kulturellen Traditionen und in verschiedenen „Ständen“ offenbarten die frühen Berufungen auf „ein Volk“, „ein Vaterland“ und „eine Nation“ eine unübersehbar utopische Perspektive. Entsprechendes gilt natürlich für die Forderung, ein über die traditionellen Territoriumsgrenzen hinaus reichendes „Nationalbewusstsein“ – auch „Volksgeist“ genannt – als geistige und mentale Basis deutscher Einheit zu entwickeln. Hier wurden sprachliche Symbole bemüht, deren Realitätsgehalt erst noch geschaffen werden musste. Dass die politische Entwicklung von der Jahrhundertmitte an die ursprüngliche Leitbildtrias in ihren einzelnen Komponenten semantisch differenzierte, soll noch gezeigt werden. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass etwa die von Preußen und der Mehrheit der Paulskirchen-Liberalen forcierte Konzentration auf einen kleindeutschen Staat, also ohne Österreich, letztlich alle drei Hochwertbegriffe auf ein politisch-praktisches Ziel einengte. Die parallele Bildung von „Nationalversammlungen“ 1848, in Frankfurt für ganz Deutschland, in Berlin nur für Preußen, ließ bereits die Bruchlinien der weiteren Entwicklung des Nationalgedankens erkennen. Noch am 19. März 1849 formulierte aber der demokratische Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung August Rühl, immer noch den Vollsinn des Begriffs „Nation“ und die Einheit mit Österreich 18 19

„Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“, 1. Auflage 1899. U.a. in: www.documentarchiv.de/nzjh/preussen/1813/an-mein-volk_friedrich-wilhelmIII-aufruf. html, letzter Zugriff: 12.11.2014.

Brückenbegriffe oder Kennzeichnung nationaler Identität  |

im Sinn, dass „das heiligste Urrecht der deutschen Nation, sich selbst zu bestimmen“, sei.20 Gleichwohl blieben „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“, als einzelne Komponenten wie in ihrer besonderen Verbindung, während des ganzen Jahrhunderts – wenn auch unter sich verändernden realpolitischen Bedingungen – Zielbegriffe.21 Auch und nicht zuletzt die Verquickung von „Volk“ mit der rassischen Perspektive hatte fern jeder wissenschaftlich seriösen Nachweisbarkeit die Qualität einer Utopie – allerdings mit den schrecklichsten Folgen.

5  Brückenbegriffe oder Kennzeichnung nationaler Identität „deutsch“ – „Deutschland“

Bis zum endgültigen Sieg über Napoleon kämpften auch und nicht zuletzt republikanisch Gesinnte auf der Seite von Fürsten, und diese ließen sich eine solche Unterstützung sehr wohl gefallen, dachten aber nicht im entferntesten daran, nach einem Sieg die Macht zu teilen. Entgegen der monarchisch orientierten Minderbewertung von „Volk“ hatte sich auch das preußische Volk mit freiwilliger Unterstützung aus allen Bevölkerungsschichten ab 1813 tatsächlich für den Kampf gegen Napoleon gewinnen lassen. Die Grenzen zwischen preußischem Patriotismus und gemeindeutschem Nationalbewusstsein waren dabei kaum noch klar zu ziehen. Vor allem bei den freiwillig Kriegsdienst Leistenden, den „Freiwilligen Jägern“ bzw. „Freikorps“, stand die Befreiung ganz Deutschlands, also nicht nur Preußens, im Vordergrund. Die Freiwilligentruppe des in preußischem Dienst stehenden Mecklenburgers Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow (1782–1834), das „Lützow’sche Freikorps“, war sogar von vornherein für Nichtpreußen gebildet worden und wurde dementsprechend nicht auf den preußischen König vereidigt, sondern auf das staatsrechtlich noch gar nicht verfasste „Vaterland“ als ganzes.22 Theodor Körner (1791–1813), selbst Angehöriger dieses Freikorps, nannte diese Truppe in einem Lied von 1813 „Lützows wilde verwegene Jagd“23 – eine 20 21 22 23

Wigard (1848/49) Bd. VIII: 5901. Die Alliteration von „Volk“ und „Vaterland“ wurde nach 1933 in der Dreierformel „Führer, Volk und Vaterland“ gleichsam vollendet. Keubke, Klaus-Ulrich/Poblenz, Uwe (2009): Die Freikorps Schill und Lützow im Kampf gegen Napoleon. Schwerin. U.a. in: Körner, Theodor (1893): Werke. Bd. 1. Leipzig/Wien: 103 f.

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Jagd, die auf die „fränkischen [= französischen] Schergen“ unternommen wurde, und er feierte „die deutsche Jagd auf Henkersblut und Tyrannen“. Die schwarzen Uniformen mit roten Applikationen und gold-gelben Messingknöpfen regten in der am 12. Juni 1815 in Jena gegründeten sogenannten Urburschenschaft24 mit dem bezeichnenden Namen „Teutonia“ zumindest eine Vorform der Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold an.25 1817 trugen die Jenaer zum Wartburgfest eine rot-schwarz-rote Fahne mit einem goldenen Eichenzweig verziert. Schwarz-RotGold wurde jedenfalls mehr und mehr zum Erkennungszeichen der Freiheitsund Nationalbewegung, als Trikolore ganz deutlich auf dem Hambacher Fest von 1832. Und schließlich hing die schwarz-rot-goldene Fahne 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche und 1848 sogar vom Turm des Wiener Stephansdoms. Die Nationalfarben waren das wichtigste außersprachliche Symbol, das die sprachlichen Forderungen der Einheitsbewegung optisch begleitete und sogar ersetzen konnte. Im Übrigen nahm die Jenaer Urburschenschaft gegen die traditionell territorial organisierten Studentenvereinigungen, die „Landsmannschaften“, bewusst Mitglieder aus allen deutschen Landen auf, womit sie ein deutliches Zeichen für eine deutsche Einheit setzen wollte.26 Im schon zitierten Aufruf Friedrich Wilhelms III. von 1813 werden die Untertanen zwar auch als „Deutsche“ angesprochen, doch erst an zweiter Stelle; sie sollten sich zuvörderst als Preußen und als „Mein treues Volk“ verstehen. An dieser „Rangfolge“ änderte sich auch nichts, als sich die durch den Wiener Kongress in ihren alten, vorrevolutionären Rechten weitgehend bestätigten, fast ausschließlich monarchisch geprägten Territorien zu einer Föderation zusammenschlossen, die „Deutscher Bund“ heißen sollte. Das Adjektiv „deutsch“ war unter diesen Umständen aber letztlich nur ein Brückenbegriff, der die vorrangig territorial definierten Staatsangehörigkeiten und die entsprechend orientierten partikularen Patriotismen überspannte. Die angeblich gemeinsame deutsche Geschichte war über weite Strecken nur die Summe oft stark divergierender Territorialgeschichten gewesen. Für die Überzeugung der Nationalbewegung, dass es eine von Anbeginn an klare Kontinuität des „Deutschen“ gegeben habe, ließen sich eigentlich keine überzeugenden 24 25 26

„Burschen“ war die zeitgenössische Bezeichnung von Studenten. Dazu u.a.: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (1991): Deutsche Wappen und Flaggen. Symbole im demokratischen Staat. München. Wesselhöft, Robert: Geschichte der Jenaischen Burschenschaft. In: Malettke, Klaus (Hrsg.) (1992): Darstellung und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 14. Heidelberg: 233–362.

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Beweise erbringen. Umso aggressiver wurde diese Überzeugung vertreten, womit offenbar auch jeder mögliche Selbstzweifel überstimmt werden sollte. In dieser Verdrängung liegt sicherlich einer der tieferen Gründe für die Abwertung alles Nichtdeutschen, die schon in Fichte einen ihrer prominenten Zeugen gefunden hatte. Freilich hatte man, allerdings auch erst seit dem späten Sieg des Hochdeutschen über die jahrhundertelang dominierenden Dialekte und Regionalsprachen, ein gemeinsames Idiom, das aber als alle verbindendendes Kulturgut „Muttersprache“ über alle Maßen gefeiert wurde. Dabei waren bis ins 20. Jahrhundert für die allermeisten unterhalb der gebildeten Schichten Dialekte die „Muttersprachen“ im eigentlichen Sinne. Von den vielen, oft auch häufiger zitierten Lobgesängen auf die deutsche Sprache sei nur ein Beispiel gegeben. Es stammt von dem ansonsten als politischer Autor weniger engagierten Ludwig Uhland (1787–1862). 1817 dichtete er sein Lied „Die deutsche Sprachgesellschaft“27, das vorrangig die Förderung und Pflege der deutschen Sprache thematisiert, in dessen 6. und 7. Strophe es aber heißt: Sie [die Sprache] diene nie am Hofe Als Gauklerin und Zofe, Das Lispeln taugt ihr nicht. Sie töne stolz, sie weihe Sich dahin, wo der Freie Für Recht, für Freiheit spricht. Wenn so der Sprache Mehrung, Verbesserung und Klärung Bei dir vonstatten geht, So wird man sagen müssen, Dass, wo sich Deutsche grüßen, Der Atem Gottes weht.

Auch das Wort „Deutschland“ war letztlich nur ein die Realitäten gnädig übersehender Zielbegriff. Auch später konnte er in Alleinstellung kein staatsrechtlicher Terminus werden; die westdeutsche Staatsgründung von 1949 konnte „Deutschland“ nur mit dem präzisierenden Zusatz „Bundesrepublik“ in Anspruch nehmen: „Bundesrepublik Deutschland“. Zwar konnte Hoffmann von Fallersleben 1841 in seinem „Lied der Deutschen“ noch den geografischen Umriss von „Deutschland“ 27

Uhland, Ludwig (1980): Werke. Bd. 1, München: 59–60.

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mit „von der Maas bis an die Memel / von der Etsch bis an den Belt“, also inklusive des Südtiroler, mithin österreichischen Flusses Etsch, andeuten, doch mit der Ausgrenzung Österreichs wurde „Deutschland“ nur noch „kleindeutsch“ denkbar und gebräuchlich. Die Befürworter eines einheitlichen, alle Deutschen umfassenden Staates anstelle der traditionellen Vielstaatlichkeit plädierten von Anfang an für eine gemeinsame, nationale Identität, die durch das Wort „deutsch“ gekennzeichnet sein sollte. Dass die viel berufene Gemeinsamkeit aller Deutschen die latenten wie offenen Spannungen zwischen den beteiligten Akteuren aber keineswegs überwinden konnte, war nicht nur eine Folge der immer wieder vertretenen Sonderinteressen der Regierungen deutscher Teilstaaten. Die Ohnmacht der Vision einer homogenen „deutschen“ Identität wurde vielmehr schon in der Paulskirche deutlich und eskalierte schließlich in der Spaltung zwischen liberalem Bürgertum und Arbeiterbewegung. Immerhin diskutierte die Frankfurter Nationalversammlung bei ihrer Grundrechtedebatte zur deutschen Staatsbürgerschaft 28 sehr eingehend, wie man „deutsch“ und „Deutscher“ verstehen solle, ohne „nicht deutsch sprechende“ Einwohner zu diskriminieren – eine Vorform aktueller Integrationsdebatten. Und man verstand sich im Verfassungsentwurf von 1849 schließlich zu sehr offenen Regelungen, wenn es um die Frage nach „deutscher“ Identität ging: § 131: Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das deutsche Reich bilden. § 132: Jeder Deutsche hat das deutsche Reichsbürgerrecht. Die ihm kraft dessen zustehenden Rechte kann er in jedem deutschen Lande ausüben. […]

Und auch den Reichsbürgern nichtdeutscher Herkunft sollte in jeder Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren: § 188: Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volksthümliche Entwickelung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege.

Solche liberalen Positionen setzten sich aber nicht durch, insbesondere Preußen diskriminierte sehr bald auf vielfältige Weise seine Minderheiten, zuvörderst die 28

31. Sitzung: Wigard (1848). Bd. I: 727 ff.

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Polen. In der zweiten Jahrhunderthälfte erhielt „deutsch“ insgesamt, vor allem in der Konkurrenz mit anderen europäischen Nationalismen, aber ganz besonders unter dem Eindruck einer angeblich rassenbiologisch begründeten Sonderstellung, eine immer stärkere mentale und politische Schlüsselposition, die dem Wort „deutsch“ schließlich sogar eine mythische Weihe verlieh. Der heiße Wunsch der National- und Freiheitsbewegung war ein gemeinsamer Staat für alle Deutschen in einer „großdeutschen“ Lösung, die Österreich einschließen sollte. Bereits Friedrich Ludwig Jahn schwärmte von einem „Großdeutschland“, das sogar auch die Schweiz, Holland und Dänemark umfassen sollte.29 Die Hauptstadt „Teutonia“, namensgleich mit der Jenaer Urburschenschaft, sollte nach Jahn in Thüringen errichtet werden – ein fantasievoller Vorgriff auf Hitlers und Albert Speers Vision eines neuen Berlins als „Welthauptstadt Germania“. Jahns Traum blieb wie diese großspurige Anmaßung unerfüllt. Ob in der Paulskirchenverfassung von 1849 für ein „Deutsches Reich“, ob im 1871 gegründeten wilhelminischen Reich, ob im Staat der Weimarer Republik – es wurden nur kleindeutsche Lösungen verwirklicht, also unter Ausschluss von Österreich. Auch nach der preußisch-deutschen Staatsgründung „Norddeutscher Bund“ (1866/67) und „Deutsches Reich“ (1871) blieb die Hoffnung auf eine gesamtnationale Einheit sehr wohl virulent. Ihr hingen vor allem links-liberale Kreise an. In der Arbeiterbewegung überwog sogar bis zuletzt das Streben nach einem großdeutschen Staat, freilich als Republik. Noch im März 1919, vor dem Verbot einer Vereinigung von Deutschland und Österreich in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain, demonstrierte man in Wien mit der Parole „Es lebe die grossdeutsche Republik“. Peinlicherweise gelang ein (gerade mal knappe sieben Jahre existierendes) „Großdeutschland“ ausgerechnet unter Hitler: durch den „Anschluss“ Österreichs 1938, wobei dieser politische Akt im Wesentlichen nur eine geostrategisch günstige Ausgangsbasis für den längst geplanten Krieg schaffen sollte.30 „Großdeutschland“ wurde in jedem Fall zu einem wichtigen Element der Deutschtumsideologie. Mit der Rückbesinnung auf eine die ganze Nation umfassende Identität ging eine Verherrlichung des Deutschen einher, als Bezeichnung sowohl eines besonderen Nationalcharakters als auch des einzelnen Angehörigen dieser Nation im kollektivierenden Singular „der Deutsche“. Neben „Deutschheit“ und „Deutsch29

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Der Wunsch, Dänemark und die Niederlande einzubeziehen, konnte sich davon ableiten, dass diese beiden Königreiche wegen zugehöriger Regionen auf deutschem Boden bereits auch Mitglieder des Deutschen Bundes waren. U.a.: Schlosser (2013): 270; 276 f.

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tum“ wurde schon, wie bereits bemerkt, von Fichte „der Deutsche an und für sich“ kreiert, aber auch der erste Präsident der Bundesversammlung des Deutschen Bundes Buol-Schauenstein kollektivierte 1816 die Deutschen, wenn er vom „Deutschen als Menschen“ mit besonderen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten sprach: Im Deutschen als Menschen [...] liegt schon das Gepräge und der Grundcharakter desselben als Volk. [...] Im Deutschen als Mensch liegt Liebe zu den Wissenschaften [...] Er liebt die Künste, er ist erfinderisch, gewerbsam, auch Handelsgeist führt ihn selbst in die entferntesten Gegenden der Erde.

Eine Vorrangstellung vor anderen Nationen mochte Buol-Schauenstein damit aber noch nicht verbinden, sein Lob hätte tatsächlich auch einem anderen Volk gelten können. Die um sich greifende Selbstüberhebung aber sah schließlich alles Nichtdeutsche weit unter sich. Gut war nur, was „deutsch“ war. Noch bevor dieses Vorurteil im Nationalsozialismus seine schrecklichen Blüten trieb, spottete Kurt Tucholsky: „Deutsche, esst deutsche Zitronen!“31 Eine „pangermanische“ Steigerung erfuhr das Nationalitätsattribut gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Zielsetzung und Selbstbezeichnung des „Alldeutschen Verbandes“, der gleichsam als Gegenstück zum Panslawismus jede politische Grenze überschreitend alle Deutschen für ein größeres Reich vereinnahmen wollte. Im 19. Jahrhundert gingen die Sprachformen für die Nationalitätsbezeichnung zunächst jedoch noch munter durcheinander. Neben „deutsch“ wurde – wie schon in einigen der hier zitierten Belege dokumentiert – auch „teutsch“ benutzt, das seinen Ursprung einer frühneuzeitlichen Kontamination, also einer Verschmelzung von „deutsch“ und „teutonisch“ verdankt.32 In etlichen Fällen hat man allerdings den Eindruck, dass die Variante „teutsch“ vor allem dann benutzt wird, wenn der Autor damit eine Altehrwürdigkeit der bezeichneten Sache evozieren will. Über die Wortform „teutsch“ machte sich jedoch, nach vorgängiger Kritik von Jacob Grimm, auch Hoffmann von Fallersleben in seinem Gedicht „Die T-Deutschen“33 lustig. Dem Dichter Ferdinand Freiligrath verdanken wir 31 32 33

Meist in der Form „Deutsche, esst deutsche Bananen!“ kolportiert. Vgl. Lau, Thomas (2010): Teutschland. Eine Spurensuche im 16. Jahrhundert. Darmstadt. Hoffmann von Fallersleben [Heinrich] (1840/41): Unpolitische Lieder. 2 Bde. Bd. 1. Hamburg: 20.

Konkurrierende Leitbilder für den künftigen Staat  |

dagegen sogar Wortbildungen wie „gegendeutsch“ und „undeutsch“, welch letztere noch bis 1945 eine unselige Karriere machen sollte. Besonderer Wertschätzung erfreute sich in Teilen der Freiheits- und Nationalbewegung alles, was als „altdeutsch“ bezeichnet werden konnte: „altdeutsche Freiheit“ / „Sitte“ / „Treue“ / „Tugend“ etc. Gegen die sonstige Fortschrittlichkeit der antifeudalen Opposition war diese Wertschätzung natürlich Kennzeichen einer rückwärtsgewandten, antimodernistischen Einstellung, die überdies wie die häufigen Berufungen auf angeblich „germanische“ Ideale auf einer historisch fragwürdigen Rekonstruktion vergangener Zeiten und Zustände beruhte (Teil 2, 2.2).

6  Konkurrierende Leitbilder für den künftigen Staat „Republik“ und/oder „Reich“

Beim Wunsch nach staatlicher Einheit wurde sehr früh auch die Frage bedeutsam, wie deren politische Ordnung beschaffen sein sollte. Amerikanische wie Französische Revolution hatten als Staatsform eindeutig eine demokratische Republik vorgegeben. Dieser Zielvorstellung stand in Deutschland indes nicht nur der monarchisch verfasste Deutsche Bund mit all seinen mächtigen Selbsterhaltungsstrategien entgegen. Bereits der Terminus „Republik“ war für die restaurativen Kräfte ein Schreckwort, weil mit ihm die Vorstellung verbunden war, dass die bestehende Ordnung zu Gunsten einer Herrschaft des Volkes radikal beseitigt werden sollte. Aber auch jene liberalen Kräfte, die auf gleichsam evolutionäre Veränderungen, letztlich auf Reformen des Bestehenden setzten und einen abrupten Wechsel von der Fürstenherrschaft zu einer Republik für Revolution hielten, schreckten davor zurück. Ein solcher Wechsel war tatsächlich nur durch eine Revolution, die Novemberrevolution von 1918, möglich. Die entschlosseneren Teile der Oppositionsbewegung aber, insgesamt jedoch eine Minderheit, hatten sich schon von Anfang an für die Republik-Idee stark gemacht. Unter diesem Dissens zerbrach schließlich die ursprünglich gemeinsame, „gesamtliberale“ Einheit der Opposition. Frühere Republikversuche hatten freilich jeweils keine lange Lebensdauer und erschienen als Vorbilder nicht eben tauglich. Nicht nur auf Initiative deutscher Jakobiner, sondern auch unter dem Druck der französischen Besatzungsmacht wurde 1793 in Mainz, wie schon erwähnt, die erste bürgerlich-demokratische Republik, die „Mainzer Republik“, gegründet, die sogar einen Anschluss an

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Frankreich anstrebte. Dieser „Freistaat“ – so die noch heute in den Bundesländern Bayern, Sachsen und Thüringen gültige deutsche Variante zu „Republik“ – wurde nach seiner Gründung am 17. März 1793 bereits vier Monate später, am 23. Juli, von preußischen Truppen beseitigt. 1797 wurde noch einmal eine größere deutsche Republik ausgerufen, die das gesamte linksrheinische Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation umfassen sollte, die „Cisrhenanische Republik“, die aber, obwohl unter französischer Besatzung stehend, nicht zustande kam, jedoch selbst bei einem dauerhafteren Erfolg angesichts ihrer Gründungsbedingungen für deutsche Freiheitskämpfer kein akzeptables Vorbild hätte sein können. Napoleon schließlich instrumentalisierte 1806 die Idee einer Lösung deutscher Gebiete aus dem Reich durch die Gründung des „Rheinbunds“, der freilich wieder nur eine Konföderation deutscher Fürsten war, die sich unter Napoleons Protektorat zu einem Militärbündnis mit Frankreich zusammenschlossen. Trotz mancher Modernisierungen in Verwaltung und Justiz scheiterte der Versuch, eine gemeinsame Verfassung durchzusetzen. Mit Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 endete auch dieses Bündnis. Ähnlich kurzlebig blieben Versuche deutscher Aufständischer 1848/49, im Vorgriff auf eine gesamtdeutsche Lösung im Südwesten eine Republik zu installieren. Darauf wird in Teil 2 einzugehen sein. Der Gründung außerdeutscher Republiken als moderner Einheitsstaaten, die direkt oder indirekt die Französische Republik zum Vorbild nahmen, war zwar auch keine lange Lebensdauer beschieden – so die „Batavische Republik“ in den Niederlanden (1795–1806) und die Schweizer „Helvetische Republik“ (1798– 1803) –, waren aber gleichwohl für die Attraktivität der Republikidee in Teilen der deutschen Freiheits- und Nationalbewegung von Bedeutung. In der Frankfurter Nationalverfassung wurden freilich alle Versuche, den neuen Staat als Republik zu organisieren, überstimmt. Deutschland sollte eine konstitutionelle Monarchie mit einem erblichen Kaisertum werden. Dazu passte sehr wohl auch die Namensgebung für diesen Staat: „Deutsches Reich“, womit sprachlich – wenn auch ohne imperialistischen Anspruch – „imperiale“ Assoziationen in Kauf genommen wurden. Mit der halbwegs terminologischen Kontinuität zum 1806 untergegangenen „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ wollte man freilich den weiter gefassten, letztlich heilsgeschichtlich begründeten Anspruch des alten Reiches und schon gar nicht dessen absolutistische Strukturen übernehmen. Trotzdem wurde bei den Verfassungsberatungen auch die Meinung geäußert, dass das „Reich“ der Paulskirchenverfassung eine Art Wiederbelebung des alten

Konkurrierende Leitbilder für den künftigen Staat  |

Reiches sein könne. Denn in einem „Amendment“, einer Zusatzerklärung zur ersten Lesung, hieß es: „Das deutsche Reich oder das Reich deutscher Nation“ habe „weder durch die Kronentsagung seines letzten Wahlkaisers [Franz II.], noch durch den von den deutsche Fürsten und freien Städten zu Wien am 8. Juni 1815 […] aufgerichteten Bund, seinen rechtlichen Fortbestand einbüßen können …“ Gemeint war der Deutsche Bund, der „seiner Natur nach nur die Ordnung eines Zwischenregiments gebildet“ habe.34 Wie dem auch sei, der Reichsgedanke wurde auch nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung sogar offiziell weitergepflegt. Der preußisch dominierte Sonderbund von 1849/50, die „Erfurter Union“, übernahm den Staatsnamen „Deutsches Reich“ und stattete seine zentralen Institutionen mit dem Bestimmungswort „Reich“ aus – gemessen an dem im Vergleich zum PaulskirchenReich auf einen Bruchteil reduzierten Umfang der neuen Union – eine (allerdings kaum absichtslose) Anmaßung. Der ebenfalls auf die Interessen Preußens zugeschnittene „Norddeutsche Bund“ von 1866/67–70 verzichtete zwar auf diesen Staatsnamen – er betonte in der Benennung seiner Institutionen verbal den Bundesgedanken, etwa in „Bundespräsidium“ und „Bundeskanzler“ –, nannte sein Parlament aber immer noch demonstrativ „Reichstag“. Die staatliche Fortsetzung des Norddeutschen Bundes wurde 1871 dann endgültig „Deutsches Reich“ genannt mit vielen terminologischen Konsequenzen für die Namen seiner Institutionen. Die Fürstenvertretung, gleichsam die Länderkammer, bewahrte indes in der Benennung als „Bundesrat“ einen Rest föderalen Staatsverständnisses. Die Beibehaltung des Terminus „Bundespräsidium“ für das Staatsoberhaupt hatte keinerlei politisch-praktische Bedeutung mehr; die Reichsverfassung machte unmissverständlich klar, dass damit nur der preußische König als „Deutscher Kaiser“ gemeint war. Das mit der Paulskirchenverfassung ins Leben gerufene Leitbild „Deutsches Reich“, das bis 1945 seine Wirkung tat, verengte sich – nicht zuletzt durch den Ausschluss Österreichs aus der deutschen Binnenpolitik – mehr und mehr auf die Vorstellung von einem Staat, der zwar nur kleindeutsch war, aber eine Großmacht mit vor allem preußischer Prägung sein sollte. Von dieser Vorstellung, die im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem sich immer mehr steigernden Nationalismus radikalisiert wurde, wollte man sogar dann nicht lassen, als 1918/19 die alte Ordnung endlich von einer Republik abgelöst wurde. Die zunächst nur verbal „imperiale“ Assoziation des Staatsnamens der Paulskirche hatte sich inzwischen zu einem faktischen Imperialismus 34

Wigard (1848/49) Bd. VIII: 5796.

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entwickelt. Auch die Weimarer Republik behielt den von einer Mehrheit der Deutschen tief verinnerlichten Staatsnamen „Deutsches Reich“ bei, erklärte aber in Artikel 1 ihrer Verfassung, die Demokraten gleichsam beschwichtigend: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Damit wurde ein die ganze Weimarer Zeit bestimmender politischer und mentaler Zwiespalt grundgelegt.35 Die nach 1918 immer aggressiver werdende „Reichs“-Ideologie, die mit republikanischen Vorstellungen absolut nichts mehr zu tun haben wollte, erfuhren in Hitlers Vision von einem „Germanischen Reich Deutscher Nation“ und in der mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 verkündeten Parole „Ein Reich – ein Volk – ein Führer“ ihre größtmögliche Steigerung.

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Vgl. dazu: Schlosser (2003): 7–16.

TEIL 2  Leitbildentwicklung im Rahmen der politischen Geschichte

1  Der Deutsche Bund 1.1  Der Deutsche Bund und die Ideologie der Restauration 48 |  1.2  Karl Ludwig von ­Hallers allgemeines Naturgesetz 52 |  1.3 „Gottesgnadentum“ als monarchisches Machtsymbol 55 |  1.4 Hans Christoph Ernst von Gagerns vermittelnde Position 58 |  1.5 Die Karlsbader Beschlüsse 1819 und die Folgen 62 |  1.6 Die Wiener Schlussakte 1820 65 |  1.7 Die Restauration im Spiegel ihres Sprachgebrauchs 68

Obgleich die Fürsten die Unterstützung aller Volksteile, insbesondere der Freiwilligenverbände, bei der Überwindung Napoleons gern in Kauf genommen hatten, lag ihnen jeder Gedanke fern, ihre Führungsrolle bei der künftigen politischen Gestaltung Deutschlands und Europas mit diesem Teil der aktiven Kämpfer für die Befreiung von französischer Herrschaft zu teilen oder gar ganz auf eine solche Führungsrolle zu verzichten. Lagen doch die Zukunftsvisionen der Freiheits- und Nationalbewegung weit über Napoleons Entmachtung hinaus im Ziel, die deutsche Vielstaatlichkeit zu Gunsten einer einheitlichen Staatsnation zu überwinden und die traditionellen monarchischen Machtstrukturen wenn nicht ganz zu beseitigen, so doch zumindest durch eine Volksvertretung einzuhegen. Dabei musste es zwangsläufig zu einer Konfrontation der Leitbilder kommen, die auf beiden Seiten zu einer immer schärferen Demonstration der jeweiligen Position führte. So trug die 1815 von den Fürsten ins Leben gerufene staatliche Konstruktion namens „Deutscher Bund“, jenes Intermezzo zwischen dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich und dem 1871 ausgerufenen Deutschen Reich (mit seiner Vorstufe des Norddeutschen Bundes ab 1866/67), ganz entschieden zur Radikalisierung der antifeudalen Haltungen bei. Wie umgekehrt die Opposition der Freiheits- und Nationalbewegung gegen die Fortsetzung der monarchischen Ordnung in dieser neuen Konstruktion die Fürsten im Deutschen Bund zu immer entschiedenerer Behauptung ihrer Positionen im Sinne einer gottgewollten Ordnung zwang. Die gut fünfzig Jahre, in denen der Deutsche Bund die politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland bestimmte, sind darum von einer permanenten Auseinandersetzung um die zukünftige Gestaltung Deutschlands bestimmt.

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1.1  Der Deutsche Bund und die Ideologie der Restauration „Theorie des natürlich-geselligen Zustand“

Die deutschen Fürsten waren zunächst zwar noch von keiner Revolution im Inneren betroffen, mussten sich aber schon sehr früh mit Folgen der französischen Entwicklung und damit eben doch mit der Drohung einer Revolution im Inneren auseinandersetzen. Zunächst musste man sich gegen eindringende französische Revolutionstruppen zur Wehr setzen, welche die neuen republikanischen Ideen über die französischen Grenzen zu tragen versuchten, erst recht gegen die Feldzüge Napoleons, die tief ins Reichsinnere drangen. Nach der österreichisch-bayerischen Niederlage 1800 im 2. Koalitionskrieg musste 1803 im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss das linke Rheinufer, vom Oberbis zum Mittelrhein, an Frankreich abgetreten werden – ein in den deutschfranzösischen Beziehungen bis ins 20. Jahrhundert nachwirkendes Trauma. Bereits die Entschädigungen der Reichsstände, die dabei Teile ihres Herrschaftsgebiets verloren, veränderten traditionelle politische und soziale Strukturen nachhaltig. Ähnlich umwälzend wirkten die Säkularisation geistlicher Herrschaften und die Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit kleinerer weltlicherer Herrschaften durch die sogenannte Mediatisierung.36 Erst 1815 gelang es, Napoleon endgültig zu besiegen und Frankreichs kontinentaleuropäische Hegemonie zu brechen. Damit aber waren die weiterreichenden Wirkungen der französischen Umwälzungen aber noch keineswegs beseitigt. Nach Napoleons erster Abdankung und seiner Verbannung nach Elba im März 1814 und der Wiedereinsetzung der Bourbonen-Monarchie in Frankreich kamen vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 im „Wiener Kongress“ die Vertreter von rund zweihundert europäischen Staaten und Herrschaften zusammen, um über die Neuordnung Europas zu beraten. Es konnte und sollte keine simple Rekonstruktion der vorrevolutionären bzw. vornapoleonischen Zustände, etwa durch Beseitigung aller territorialen Veränderungen seit 1792, erfolgen. Das System der von Napoleon geschaffenen Staaten, unter anderem das Königreich Westphalen, wurde freilich weitgehend zerschlagen. Auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sollte nicht neu erstehen. An seine Stelle trat der föderativ verfasste Deutsche Bund, in dem 36

Entschädigungsfragen, die nicht zuletzt auch die ehemaligen Bediensteten linksrheinischer Herrschaften betrafen, beschäftigten noch lange nach 1815 die Frankfurter Verhandlungen des Deutschen Bundes.

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Österreich als Präsidialmacht und Preußen dominieren sollten. Bei wichtigen Verhandlungen blieben die Großmächte Österreich, Preußen und Russland wohlweislich unter sich und bestätigten sich gegenseitig ihre aktuellen geopolitischen Interessen, nicht zuletzt bei der Aufteilung Polens. Der Quasi-Epochenname „Restauration“ für die Zeit zwischen 1815 und 1866 war das politische Grundprinzip schon der allgemeinen Verhandlungen in Wien wie dann auch der Politik des 1815 gegründeten Deutschen Bundes. Die Idee und damit auch der Begriff einer „Restauration“ angeblich natürlicher Verhältnisse im Staatswesen wurde von dem Schweizer Staatsrechtler und -theoretiker Karl Ludwig von Haller (1768–1854) in seinem sechsbändigen Hauptwerk „Restauration der Staats-Wissenschaft“ entwickelt. Dabei ging es Haller – wie er schon im vollständigen Titel seines Werks zu erkennen gibt – um die Wiederanerkennung eines „natürlich-geselligen Zustands“ mit all seinen sozialen Unterschieden gegen die „Chimäre des künstlich-bürgerlichen“ Zustands. Damit waren die seiner Meinung nach falschen Staatsvorstellungen gemeint, die sich, von angeblich „pseudo-philosophischen“ Theorien angeregt, über die Französische Revolution in der zeitgenössischen Demokratiebewegung ausgebreitet hätten (Teil 2, 1.2). Grundsätzlich war damit schon vorgeprägt, was sich späterhin als Gegensatz zwischen einer „organisch“ verstandenen und einer angeblich intellektualistischen, „kalten“ mechanistischen Ordnung im Staat, zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ niederschlagen wird – eine deutliche Fernwirkung einer bereits im Ursprung theoriesprachlich ausgefochtenen Leitbildkontroverse. Hallers Restaurationstheorie, auf ein angebliches Naturgesetz gegründet, verlängerte letztlich aktuelle Wunschvorstellungen der Mächtigen in die Vergangenheit, stand damit aber bereits im Widerspruch zu neuen Sachverhalten der Gegenwart. Weder die Nichtwiederherstellung des alten Reiches noch die föderative neue Staatskonstruktion mit Betonung der Souveränität der deutschen Einzelstaaten und auch nicht die keineswegs vollständig rückgängig gemachten Veränderungen der politischen Landkarte durch Napoleon ließen sich mit der rückwärtsgewandten Utopie im Sinne Hallers in Einklang bringen. Die Grundfesten der althergebrachten Ordnung waren in jedem Fall erschüttert. Dabei war der absolutistisch autokratische Charakter früherer Herrschaftsformen keineswegs unberührt geblieben. Nicht zuletzt die Forderung des Deutschen Bundes, seine Mitgliedstaaten sollten Verfassungen – wenn auch unter ausschließlicher Beteiligung der „Landstände“ – einführen, war ein Hinweis darauf, dass es in der politischen Entwicklung kein einfaches Zurück mehr geben konnte. Insofern hatte das Leitbild „Restauration“ wegen seiner Differenz zur

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aktuellen Realpolitik von vornherein ideologischen Charakter, der aber auf unheilvolle Weise die Fürsten „legitimierte“, alles zu verfolgen, was die monarchische Autorität hätte in Frage stellen können. Bereits im Ersten Pariser Friedensvertrag mit Frankreich von 1814 war in Art. VI (2) festgelegt worden: „Die Deutschen Staaten bleiben unabhängig, und durch ein Föderativ-Band unter einander verknüpft.“ Und das Gründungsdokument des Deutschen Bundes, die „Deutsche Bundesakte“ von 1815, deren Allgemeine Bestimmungen in die Wiener Kongressakte integriert wurden, stellte in ihrer Präambel fest, dass eine „feste und dauerhafte Verbindung der souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands“ herzustellen sei, welche „die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands, und die Ruhe und das Gleichgewicht Europens“ gewährleisten solle. Dieses politische Gebilde sollte konsequenterweise, wie in der Eröffnungssitzung des Deutschen Bundes am 5. November 1816 ausdrücklich festgestellt wurde, kein Bundesstaat, sondern ein „Staatenbund“ sein. Mehr oder weniger undiskutiert blieb dabei die Inanspruchnahme der von der Nationalbewegung für ihre Ziele heftig reklamierten Leitbilder „deutsch“ und „Deutschland“, die im Deutschen Bund letztlich nur im Sinne von Brückenbegriffen bemüht wurden. Denn sie schwebten gleichsam nur über der machtpolitisch zementierten Vielstaatlichkeit. Die Betonung der Souveränität der Einzelstaaten war sowohl ein Reflex der Erfahrungen, die man mit den französischen, insbesondere mit den napoleonischen Versuchen gemacht hatte, einzelne Teile Deutschlands unter die Oberhoheit Frankreichs zu bringen, bedeutete aber zugleich einen Bruch mit der Vergangenheit, in der die deutschen Regionalmächte zumindest formal als Glieder des einen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegolten hatten und eigentlich keine eigene Souveränität beanspruchen konnten. Die Sorge um die „Ruhe und das Gleichgewicht Europens“ aber war der Hauptzweck dieser Neuordnung Deutschlands, nachdem sich das alte „Römische Reich“ als politisch nicht mehr lebensfähig erwiesen hatte. Nicht zuletzt Ruhe, auch die deutsche „innere Ruhe“ lag – nach all den Gefährdungen und Einbußen althergebrachter Ordnung im Gefolge der Französischen Revolution – den Bundespartnern besonders am Herzen. Der ab 1804 österreichische Kaiser Franz I. (bis 1806 aber noch als römischdeutscher Kaiser „Franz II.“) hielt im Deutschen Bund selbstverständlich an seiner Herrschaft über einen multiethnischen Staat mit seinen großen nichtdeutschen Anteilen, nicht zuletzt mit Ungarn, Böhmen und Italienern, fest. Bei der vom Paulskirchenparlament 1848/49 zunächst angestrebten Gründung eines großdeutschen Reiches unter Ausschluss nichtdeutscher Volks- und Landesteile

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stand dann der österreichische Widerstand gegen eine Ausklammerung eben dieser nichtdeutschen Herrschaftsanteile im Wege. Dem Deutschen Bund gehörten anfangs aber auch an der englische König wegen seiner Personalunion mit Hannover sowie der dänische König wegen Personalunion mit den Herzogtümern Holstein und Lauenburg – insgesamt eine Konstruktion, die in mehrfacher Hinsicht das genaue Gegenteil des von der Opposition angestrebten einheitlichen Nationalstaates war, der auch eine volkliche Einheit sein sollte. Immerhin tauchte auch in den Beratungen der Bundesversammlung immer wieder einmal der Begriff „deutsche Nation“ auf, womit aber noch keinerlei Berufung auf einen deutschen Nationalstaat verbunden war; hier schlug sich noch die letztlich vorrevolutionäre Deutung von Deutschland als „Kulturnation“ nieder. Auch der alte Reichsname mit seinem Zusatz „deutscher Nation“ hatte keine Staatsnation gemeint, sondern folgte nur einem ursprünglichen Gebrauch von „Nation“ als Kennzeichnung einer regionalen Herkunft, hier der deutschen, vor allem der Habsburger Inhaber der Reichsmacht. Alles, was in Deutschland und Österreich bis 1848 unter Berufung auf das Leitbild der Restauration politisch und gesellschaftlich durchgesetzt wurde, stieß naturgemäß auf den Widerstand von nationalgesinnten Verfechtern von Freiheit und Demokratie, unter denen „Restauration“, neben dem schon vor 1848 gebrauchten Begriff „Reaction“, zum Stigmawort wurde. Als solches wurde es über das 19. Jahrhundert hinaus zum Kampfbegriff gegen vielerlei Formen des Festhaltens an alten Normen. Zwar hatte die „Bundesakte“ in Art.  XIII bestimmt: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung Statt finden“, doch war eine solche Verfassung – wenn sie denn eingeführt wurde – von einer repräsentativen Demokratie noch meilenweit entfernt. Eine „landständische Verfassung“ war eine verfassungsrechtliche, vom jeweiligen Monarchen gestattete Mitwirkung von Ständen und Volksvertretungen, die aber das „monarchische Prinzip“ selbstverständlich nicht außer Kraft setzen durfte. Dennoch war diese Verfassungsform sehr wohl ein erster – wenn auch bescheidener – Schritt fort von absolutistischer Willkürherrschaft, und wer sie forderte, konnte sich bereits als „Demokrat“ verstehen, wie der Bundesratsgesandte Hans Christoph Ernst von Gagern in einem grundsätzlichen Vortrag vor der Bundesversammlung noch erklären wird. Die Bandbreite der inhaltlichen Ausgestaltung der vom Deutschen Bund geforderten Verfassungen war außerordentlich groß. Wie „Landstände“ zustande kommen konnten, geht beispielsweise aus der am 23. Februar 1818 der Bundesversammlung mitgeteilten Information des Herzogtums Nassau hervor:

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Die Landstände Unsers Herzogthums sind zusammengesetzt aus Mitgliedern der Herrenbank und Landesdeputirten, welche in abgesonderten Sitzungen sich versammeln. Die Mitglieder der Herrenbank werden von Uns auf Lebenszeit, oder erblich ernannt, die Landesdeputirten aber von den Vorstehern der Geistlichkeit und der höheren Lehranstalten, von den begütertsten Landeigenthümern und von den Inhabern größerer Gewerbe [...] erwählt.

Die Verfassung, die der Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 1816 erlassen hatte, garantierte als erste und vorerst einzige sogar Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wovon in anderen Verfassungen nichts zu lesen war. Diese Fortschrittlichkeit trug Carl August seitens der übrigen Fürsten allerdings verdeckte bis offene Feindschaft ein. Freilich erinnerte Nassau in besagter Sitzung 1818 unter anderem auch an ein Edikt, wonach im Herzogtum bereits 1814 „auch die vormalige Freyheit des Buchhandels und der Druckerpreßen [...] zum Vortheile deutscher Schriftsteller und Verleger“ den Untertanen zurückgegeben worden sei. Anderthalb Jahre später hätte der Deutsche Bund auch dieser „vormaligen Freyheit“ ohnehin ein jähes Ende bereitet.

1.2  Karl Ludwig von Hallers allgemeines Naturgesetz „daß der Mächtigere herrsche“

Wenn zunächst auch nur von außen, aber doch von allgemeiner Bedeutung kam dem Selbstverständnis des Deutschen Bundes wie seiner einzelnen monarchischen Mitglieder das schon erwähnte opulente Werk des Schweizers Karl Ludwig von Haller „Die Restauration der Staats-Wissenschaft“ entgegen. Hierin wurde den Fürsten durch eine penible kritische Auseinandersetzung mit der tradierten philosophischen Entwicklung des Staatsgedankens „bewiesen“, wie sehr ihre Herrschaft und damit ein soziales Oben und Unten einem von Gott legitimierten Naturgesetz entspräche. So schreibt Haller schon im ersten Band unter anderem: Gleichwie aber die Natur diese Bande der Menschen durch Verschiedenheit der Kräfte und wechselseitige Bedürfnisse knüpft: so schaffet sie auch nothwendiger Weise in jedem derselben Herrschaft und Abhängigkeit, Freyheit und Dienstbarkeit, ohne welche jene Verbindungen gar nicht bestehen könnten. Sie macht die einen Menschen abhängig, die andern unabhängig, die einen dienstbar, die anderen frey. Oder ist etwa das unmündige

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Kind, der Arme, der Schwache, der Unwissende und Rathsbedürftige nicht durch seine Natur abhängig [...]? der Mächtige, der Reiche, der Weise nicht durch seine Natur frey [...]? So herrschet noch heute der Vater über sein Weib und seine Kinder, der Herr über seine Diener ...37

Und im 13. Kapitel „Vom Ursprung aller Herrschaft nach einem allgemeinen Naturgesez“, erklärt Haller dieses „allgemeine Naturgesez: daß der Mächtigere herrsche“, und er unternimmt es, die allgemeine Geltung dieses Gesetzes „durch die ganze Schöpfung hindurch“ nachzuweisen.38 Schon in seiner Einleitung nennt er die Herrschaft des Stärkeren „ein natürliches Gesez der Gerechtigkeit und Liebe“.39 Im Hinblick auf das Selbstbewusstsein der Fürsten wird er sehr deutlich, wenn er ankündigt zu beweisen, „daß die Unabhängigkeit [der Mächtigen] oder die Fürstliche Gewalt nur das höchste Glüksgut sey“40, was er dann im 19. Kapitel genauer ausführt. Es gab auch im Umkreis Metternichs selbst sehr wohl Denker, die den Widerstand der Mächtigen gegen liberales und nationales Aufbegehren theoretisch zu rechtfertigen verstanden. Dazu zählten der Kant-Schüler Friedrich von Gentz (1764–1832)41, seit 1809 der engste Berater Metternichs, und der Philosoph Adam Heinrich Müller von Nitterdorf (1779–1829)42. Gentz hatte sich schon ab 1791 – zunächst positiv – mit den Ursachen und Ideen der Amerikanischen wie der Französischen Revolution befasst, vollzog dann aber bald unter dem Eindruck der französischen Entwicklung eine konservative Wende, etwa mit seiner Übersetzung einer Schrift des französischen Monarchisten Jean-Joseph Mounier unter dem Titel „Entwicklung der Ursachen, welche Frankreich gehindert haben, zur Freiheit zu gelangen“ (1794). Auch Mounier selbst war zunächst ein eifriger Verfechter der Revolutionsideen gewesen; insbesondere hatte er die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aktiv vertreten. Gentz plädierte fortan entschieden für die Erhaltung der alten monarchischen Traditionen, die ihm als Garantie gegen außen- wie innenpolitische Gefahren durch Kriege und Revolution galten. Als Urheber der 37 38 39 40 41 42

Haller (1817): Bd. 1: 338. (Kursive = Sperrung i. Orig.). Ebda.: 342 ff. (Kursive = Sperrung i. Orig.). Ebda.: XLV. Ebda.: XLIX. Dazu u.a.: Zimmermann, Harro (2012): Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik. Paderborn. Dazu u.a.: Koehler, Benedikt (1980): Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart.

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Zensurbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse von 1819 wurde Gentz neben Metternich zur bevorzugten Zielscheibe der Freiheits- und Nationalbewegung. Adam Müller gilt als Hauptvertreter der Politischen Romantik, deren Grundgedanken sich vor allem in zwei seiner Schriften aus dem Jahr 1809 niedergeschlagen haben: „Von der Idee des Staates“ und „Die Elemente der Staatskunst“. Er opponierte zuletzt – obwohl damals selbst noch im preußischen Staatsdienst stehend – sogar gegen die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg. In einer für den König verfassten Anklageschrift bezichtigte er Hardenberg gar revolutionärer Tendenzen, womit er sich aber nicht durchsetzen konnte. 1813 wechselte er in österreichische Dienste, wo seine konservative Haltung willkommener war. Auf preußischer Seite konnte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zu einem „Staatsphilosophen“ avancieren, obwohl diese Zuschreibung auch nicht entfernt an die Bedeutung und Fülle seiner philosophischen Theorie heranreicht. Der Titel „Staatsphilosoph“ wird auch nicht dem Wandel seiner politischen Einstellung gerecht, da der gebürtige Schwabe 1790 als Theologiestudent im Tübinger Stift mit seinen Freunden Hölderlin und Schelling zunächst auf eine Revolution auch in Deutschland gehofft hatte. Die konservative Wendung ergab sich für ihn aus seiner Theorie der Dialektik der Geschichte. Darin ging es ihm um eine „Versöhnung“ des Individuums mit der historischen Realität, deren möglichst umfassende Beschreibung er zur Grundlage seiner weiteren Erklärungsmodelle machte. Sein Schüler Karl Marx wird diesen Ansatz in den „FeuerbachThesen“ 1845 grundsätzlich kritisieren mit dem Satz „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber drauf an sie zu verändern“. Hegel sah in allen historischen Erscheinungen einen „Weltgeist“ als das eigentliche Subjekt der Geschichte walten, der über einen dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese die Idee der Sittlichkeit und Freiheit immer vollkommener zum Ausdruck bringe. Mit dieser geschichtsoptimistischen Grundeinstellung wurde er – auch über die Befreiungskriege hinaus – zum Bewunderer Napoleons und zu einem Verteidiger der „fürstlichen Gewalt“. Nach einigen preußischen Vorbehalten gegen ihn wird er 1818 endlich doch an die Berliner Universität berufen und als Kronzeuge einer Philosophie angesehen, die den preußischen Staat als aktuelle Vollendung des Geschichtsprozesses legitimiere.43

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Vgl. dazu u.a.: Löwenstein, Julius (1927): Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluss im 19. Jahrhundert. Berlin.

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1.3  „Gottesgnadentum“ als monarchisches Machtsymbol „Im Namen der allerheiligsten Dreieinigkeit“

Sehr viel nachdrücklicher als das allgemeine Leitbild „Restauration“ wirkte sich im monarchischen Selbstverständnis der Mythos vom „Gottesgnadentum“ der Fürsten aus. Seit dem Mittelalter verstanden christliche Herrscher ihre Macht als von Gott, von „Gottes Gnaden“ (lat. „Dei gratia“) verliehen und damit jeder diesseitigen Erörterung entzogen. Dabei handelte es sich – wegen seines transzendentalen Anspruchs zweifellos mit größter Wirksamkeit – letztlich nur um ein sprachliches Symbol, das für die rein weltlichen Interessen von Herrschern stand – also um ein Machtsymbol. So lange die große Mehrheit der Untertanen, in kirchlichem Gehorsam erzogen, diesen Anspruch für berechtigt hielt, so lange wurde daran auch nicht gerüttelt. Das änderte sich grundsätzlich, aber zunächst nur im Rahmen eines theoretischen Diskurses, als durch die Aufklärungsphilosophie der monarchischen Autokratie die Volkssouveränität entgegengesetzt wurde. Die Berufung der Freiheitsbewegung auf Volkssouveränität stellte dann auch in der Praxis den schärfsten Widerspruch zum tradierten Herrschaftssystem dar. Es ist darum nicht verwunderlich, dass gerade im 19.  Jahrhundert jede Betonung des Gottesgnadentums seitens eines Herrschers weit mehr als eine nur rituelle Floskel war. Überdies war der monarchische Anspruch auf eine jenseitige Legitimation auch in den Wahlsprüchen – gleichsam den Hausideologien – einzelner Fürstenhäuser verankert. So pflegte etwa Preußen seit 1701 den Wahlspruch „Gott mit uns“, der auch für das Kaiserreich ab 1871 galt und sogar die Revolution von 1918 überstand; selbst die deutsche Wehrmacht verkündete ihn bis 1945 auf den Koppelschlössern ihrer Soldaten. An mindestens zwei Ereignissen lässt sich die Schärfe der Auseinandersetzungen um das sprachliche Symbol „von Gottes Gnaden“ erkennen. 1848 schaffte die preußische Nationalversammlung zwecks Demonstration ihres politischen Anspruchs, das Volk zu vertreten, das Gottesgnadentum des preußischen Königs ab. Kaum hatte die preußische Gegenrevolution obsiegt und die Berliner Nationalversammlung zum Scheitern verurteilt, wurde es wieder eingeführt. Im Jahr darauf, als die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anbot, wies er diese Krone brüsk zurück mit dem Argument, sie sei nicht von „Gottes Gnaden“ verliehen.44 44

Vgl. Brunner (1980); Flor (1991).

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Wie wenig sich das durch den Mythos vom Gottesgnadentum gestützte monarchische Selbstbewusstsein von konstitutionellen Einschränkungen beeindrucken ließ, zeigen zwei Äußerungen von Wilhelm I., der sich 1861 in Königsberg als Nachfolger seines Bruders selbst krönte. Bei dieser Gelegenheit betonte er einen Tag vor der Zeremonie, am 17. Oktober, vor Mitgliedern beider Häuser des Landtags: Die Herrscher Preußens empfangen ihre Krone von Gott. Ich werde deshalb morgen die Krone vom Tische des Herrn [dem Altar] nehmen und Mir auf Mein Haupt setzen. Das ist die Bedeutung des Königtums von Gottes Gnaden, und darin liegt die Heiligkeit der Krone, welche unantastbar ist.45

Fast nur beiläufig gedenkt Wilhelm dabei der parlamentarischen Gegebenheiten, indem er erklärt: „Die Krone ist mit neuen Institutionen umgeben. Sie sind nach denselben berufen, der Krone zu raten.“ Und während der Krönungsfeier, am 18. Oktober, erklärt er – noch undeutlicher auf die „neuen Institutionen“ eingehend: Von Gottes Gnaden tragen Preußens Könige seit 160 Jahren die Krone. Nach dem durch zeitgemäße Einrichtungen der Thron umgeben ist, besteige Ich ihn als König.46

Wie zumindest der radikale Flügel der Freiheitsbewegung über das Gottesgnadentum dachte, hat Georg Büchner 1834 im „Hessischen Landboten“ (Teil 2, 3.4) mehr als drastisch formuliert, nachdem er die Leiden der Untertanen schonungslos offen gelegt hatte: Das alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen: ‚diese Regierung sei von Gott‘. Diese Regierung ist nicht von Gott, sondern vom Vater der Lügen. Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit …

Auch andere Berufungen auf eine göttliche Rechtfertigung der monarchischen Herrschaftsform und ihrer aktuellen Politik müssen als Demonstrationen gegen aufkommende Zweifel an der gottgewollten Ordnung gewertet werden. Die „Bundesakte“ des Deutschen Bundes vom 8. Juni 1815 beanspruchte für ihre 45 46

Zit. nach: Oncken (1897): 71 f. – Dort auch die folgenden Zitate Wilhelms I. Acht Jahre später hätte er gern das inzwischen seitens der Opposition entwertete „von Gottes Gnaden“ lieber durch „aus Gottes Gnade“ ersetzt; Oncken (1897): 72.

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Bestimmungen bereits eingangs einen göttlichen Auftrag: „Im Namen der allerheiligsten und untheilbaren Dreieinigkeit“. Auch die Gründungserklärung der kurze Zeit später, am 26. September 1815, besiegelten „Heiligen Allianz“ zwischen Russland, Österreich und Preußen wurde fast gleichlautend eingeleitet47, und sie bezog ihren Anspruch, ein „heiliges“ Bündnis zu sein, zusätzlich aus der Verpflichtung, „die gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu begründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt“. Bis 1918 wird das Gottesgnadentum monarchischer Gewalt in Verlautbarungen der Herrscher in der traditionellen Form von „Wir48 von Gottes Gnaden Kaiser / König / Fürst ... von ...“ immer wieder beschworen. Noch zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 werden sich der österreichische wie der deutsche Kaiser zur Legitimation ihrer Entscheidungen auf die „(göttliche) Vorsehung“ berufen – ein Anspruch, den schließlich sogar Hitler als eine Art „neuer Monarch“ in zahlreichen seiner Äußerungen erheben wird. Die Sakralisierung weltlicher Gegenstände kommt literarisch – bei aller sonstigen Säkularisation – bereits im 18. Jahrhundert auf, wird aber im 19. Jahrhundert geradezu demonstrativ auch im antimonarchistischem Bürgertum und schließlich sogar in der Arbeiterbewegung trotz fortschreitender Entchristlichung übernommen – offenbar in der Absicht, den Anspruch auf „Ewigkeitswerte“ nicht den Inhabern politischer und sozialer Macht zu überlassen. Vor diesem Hintergrund war „Restauration“ nicht einfach nur ein Terminus für eine formale Rückkehr zu alten Verhältnissen, sondern stand im Verständnis ihrer Vertreter für eine ideologisch, weil religiös hochaufgeladene Überzeugung von einer „richtigen“ Weltordnung, die es mit allen Mitteln zu bewahren bzw. wiederherzustellen galt. Alles, was unter diesem komplexen Leitbild ins Auge gefasst oder realisiert wurde, stand – selbst bei eindeutigen Modernisierungsschritten – unter dem generellen Anspruch einer Rückkehr zu gottgewollten Bedingungen – ein wahrhaft rückwärtsgewandtes Leitbild.

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Einzige Abweichung: statt „allerheiligsten“ heißt es „heiligen“. Der Pluralis Majestatis wurde auch in der 3.  Person des Verbs gewahrt, wenn es etwa hieß „Majestät haben geruht“.

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1.4  Hans Christoph Ernst von Gagerns vermittelnde Position „Demokratie“ – im Dienst von „Freyheit und Ordnung“

Auch die politischen Akteure des Deutschen Bundes selbst hatten einiges zur theoretischen Grundlage ihrer Politik zu sagen. Die erste Sitzung der Bundesversammlung am 5. November 1816 wurde, wie bereits erwähnt, mit einer Rede von Johann Rudolf von Buol-Schauenstein, österreichischer Gesandter und erster Präsident der Versammlung, eingeleitet, in der er unter anderem ausführte: Unsere Obliegenheit wird es seyn, diesen heiligen doppelten Zweck: Achtung für die mehreren Volksstämme und mehreren selbstständigen deutschen Regierungen und gleiche Achtung für das uns alle umfassende Band der Nationalität zu entwickeln, zu erstreben.49

Dabei sprach er immerhin auch von „Gesammtvaterland“ und „unserem deutschen Vaterland“; allerdings vermied er den Begriff „Nation“ und wählte stattdessen den „weicheren“ Terminus „Nationalität“, der nur eine ethnische und kulturelle, aber keine politische Zugehörigkeit zu einem Volk meinte. Hiermit wurde aber an prominenter Stelle immerhin die grundsätzliche Spannung des Deutschen Bundes zwischen der politischen Differenzierung in deutsche Teilstaaten und der Orientierung an einer gesamtdeutschen Identität angesprochen. Diese Identität wurde auch in Buol-Schauensteins mehrfacher Charakterisierung des „Deutschen als Menschen“ in seiner Liebe zu Wissenschaft und Kunst sowie eines gemeinsamen „hohen religiösen Sinns“ berufen. Besonders aufschlussreich ist ein grundsätzlicher Vortrag des königlich-niederländischen Gesandten, des Freiherrn Hans Christoph Ernst von Gagern50, der in der Bundesversammlung 1815–18 ein Mandat für das Großherzogtum Luxemburg wahrnahm. Diesen Vortrag hielt er zum Schluss der 44. Sitzung der Bundesversammlung am 17. Juli 1817.51

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Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 1 (1816): 16. – „Nationalität“ bedeutet hier so viel wie „Kulturnation“, womit der „verdächtige“ Begriff einer politisch verfassten „Nation“ umgangen werden konnte. 1766–1852. Vater des späteren Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung Heinrich von Gagern; Fendler, Kurt: Hans Christoph von Gagern. In: Baumann, Kurt (Hrsg.) (2001): Pfälzer Lebensbilder Bd. 96. Speyer. Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 3. (1817): 502–510.

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Gagern will sich darin zu „Zweck und Richtung“ des Bundes und seiner Versammlung, aber auch zum „Zustand unsres gesammten Vaterlandes“ äußern. Dabei verkennt er durchaus nicht die Unzulänglichkeiten des Bundes und will sich „keineswegs scheuen, die Hand auch an die schadhaften Stellen zu bringen“. Das „Unvollständige, Unvollendete, Unreife vieler Dinge“ sei nicht zu leugnen. Er sieht sogar „Gährungsstoff im Vaterlande“. „Echte und gesunde Maxime, [...] wie sie der Geist der Geschichte ausspricht, wie sie die andern großen Nationen um uns her bereits praktisch verfolgen, [sind] bey uns noch roh, Gegenstand der Controverse.“52 In der Hoffnung, dass sich auch in Deutschland der „Geist der Geschichte“ durchsetzen werde, schwingt ein geradezu Hegel’sches Zutrauen in den vernünftigen Gang des „Weltgeistes“ mit. Vorerst aber habe man es mit „republikanischen Irrthümern“ und „demagogischen Ausschweifungen“, mit einer wahren „Umwälzungslust“ zu tun, vor allem, wenn dabei „Fürst und Volk als an sich entgegengesetzte Begriffe“ hingestellt würden.53 Darin ist er sich mit Buol-Schauenstein einig, der im Jahr zuvor zwei „Hauptverirrungen“ beklagt hatte, die durch die Französische Revolution ausgelöst worden seien: neben der „Verhöhnung des Systems des politischen Gleichgewichts im gegenseitigen Verkehr freyer Völker“ die „demokratischen Auswüchse“.54 Die „Befeindung des Adels“ schmerzt Gagern außerordentlich. Die Demagogen würden Eigentum und Bildung mit Ansprüchen der Geburt verwechseln. Dass Eigentum und Bildung schon immer etwas mit sozialer Herkunft zu tun hatten, liegt außerhalb des Gesichtskreises des Vortragenden. Den Gefährdungen der vom Deutschen Bund grundgelegten Ordnung könnte man, so Gagern, sicher leichter steuern, wenn man sich bewusst machte, dass es „in Deutschland ein großer politischer Fehler [sei], der sich selbst straft, wenn man die öffentliche Meinung so ohne Zügel, oder diese Zügel im Winde flattern läßt.“55 Das ist bereits ein Vorgriff auf die „Karlsbader Beschlüsse“, die zwei Jahre später der öffentlichen Meinung die passenden „Zügel“ anlegen werden. Aber 1817 spielt Gagern zunächst einmal die Gravamina der Freiheitsbewegung herunter: „Was man in Frankreich mit triftigen Gründen wünschte und erreichen wollte“, sei in Deutschland „entweder allmählich schon so geworden“ oder habe dazu „eine billige und direkte Tendenz“.56 Die Gleichheit vor dem 52 53 54 55 56

Ebda.: 503. Ebda.: 505. Ebda.: Bd. 1 (1816): 12. Ebda.: Bd. 3. (1817): 503. Ebda.: 505.

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Gesetz etwa brauche nicht mehr blutig erstritten zu werden. Oder der Zugang zu Ämtern sei „dem ausgezeichneten Verdienst [erg.: auch außerhalb des Adels] keineswegs verschlossen“; die höchsten Stellen seien nachweislich von Bürgerlichen besetzt. Ferner werde eine gleiche Besteuerung angestrebt, und die Aufwertung des Bauernstandes sei bereits im Gange. Neben allen kritischen Hinweisen auf konkrete Mängel in der gegenwärtigen Konstruktion des Bundes – von Gagern beklagt unter anderem, dass der Auftrag der Bundesakte zur Einrichtung von Verfassungen noch keineswegs überall erfüllt sei – sieht er das Bündnis aber insgesamt positiv. Er nennt den Deutschen Bund sogar eine „große politisch-sittliche Anstalt“.57 Der Bund habe letztlich seinen Zweck in sich selbst; denn „das wesentlichste dieser Union [ist] nichts anderes, als eben diese Union“. Das liest sich zunächst wie die Bestimmung eines unverbindlichen und letztlich unpolitischen Selbstzwecks. Doch die sofort angeschlossene Formulierung, „diese Union [wird] geregelt, durch die Klugheit und Einsicht der Höfe“, macht dann doch die politische Dimension der Aussage deutlich: Dadurch, dass sich die „Höfe“ mit ihren Eigeninteressen überhaupt entschlossen hätten, sich zusammenzutun, sei bereits ein keineswegs selbstverständlicher, hoher Zweck erreicht worden. Eine Verbeugung vor den Monarchen, ihrer Klugheit und Einsicht durfte dabei natürlich nicht fehlen. Die wichtigsten Potentaten, die Gagern namentlich nennt, der österreichische Kaiser Franz I., der preußische König Friedrich Wilhelm III. und der bayerische König Maximilian I. Joseph58 seien ein besonders gutes Vorbild. Darum gebührt auch ihnen das reinste Anerkenntniß, wenn sie ihr eigenthümliches Interesse nicht immer voransetzen, den Bundeserfordernissen sich anschließen, oft das erste Beyspiel geben.59

Nachdem Gagern der Monarchie und Aristokratie gegen allfällige Unterstellungen, wie er meint, Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, bekennt er sich – nur vordergründig überraschend –, „nicht minder auch Demokrat“ zu sein. Doch er grenzt sich sogleich gegen seiner Meinung nach falsche Auffassungen ab. Sein Demokratiebegriff sei „nicht regellos und stürmisch“, sondern solle „der Freyheit und der Ordnung“ dienen. In diesem Sinne sieht er das „demokratische Princip“ 57 58 59

Ebda.: 504. Gagern nennt sie aus rhetorischen Gründen nur bei ihren „einfachen“ Namen: Franz, Friedrich Wilhelm und Maximilian. Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 3 (1817): 504.

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bereits in der Kaiserwürde enthalten, also in keinem ernsthaften Gegensatz zum monarchischen Prinzip. Dass beides immer wieder gegeneinander ausgespielt werde, beklagt er mit folgenden Worten: Denn das ist es eben, worin wir zurück sind; der unverständige und schädliche Antagonism in Deutschland, den ich befeinde, daß schon das Wort: Aristokratie den Ohren der einen so ein Greuel ist, als den andern: Demokratie.60

Im abschließenden Urteil über die Bedeutung des Bundes schwingt sich von Gagern zu einem hymnischen Lob auf: „Deutschlands Ehre und Hoheit [...] stehn jetzt hoch in Europa“. Das dürfe man nicht „durch Auflösung der Bande des Bundes, oder durch Vernachlässigung auf das Spiel setzen.“ Man habe schließlich „Unabhängigkeit und festen Frieden und die Mittel, sie zu behaupten“, gewonnen, ebenso Selbstbewusstsein („Selbstgefühl“) und „freye Entwicklung“. Die Grenzen des Bundes seien sicherer geworden, die Streitkräfte könnten nun eine „ächte Freyheit“ garantieren und sicherstellen, daß die rohe Schaar der Krieger Wohnung und Familienglück nicht mehr entweiht; daß die Mutter heiterer das Kind unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angst entladen, einen Sklaven zu erziehen, sondern im Vorgefühl, dass sie einen freyen Mann dem Vaterlande darbringen wird.61

In seinen Grundgedanken komprimiert dieser Vortrag, was Gagern ein Jahr zuvor im dritten Band seines Werks „Die Resultate der Sittengeschichte“62, der den Titel „Demokratie“ trägt, vor allem in Auseinandersetzung mit Rousseau bereits ausführlich erörtert hatte. Der wertende Vergleich von Monarchie und Demokratie fiel auch dort zu Gunsten der Monarchie aus, ohne freilich das „demokratische Princip“ zu verdammen. Gagern empfand für die Ziele der Französischen Revolution sehr wohl Sympathie; so erklärt sich auch seine Bemerkung im Vortrag von 1817 „Was man in Frankreich mit triftigen [!] Gründen wünschte und erreichen wollte ...“ Aber er sieht doch im monarchischen Prinzip des Deutschen Bundes die sicherere Garantie für Freiheit und Ordnung und einen evolutionären Fortschritt. Bemerkenswert 60 61 62

Ebda.: 508. Ebda.: 510. Gagern, Hans Christoph von (1808–47): Die Resultate der Sittengeschichte. 9 Bde. (verschiedene Erscheinungsorte); Bd. 3 (1816): Frankfurt a. M.

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bleibt bei diesem konservativen, der Restauration verpflichteten Bekenntnis Gagerns mehrfache Berufung auf Deutschland als „Vaterland“. Hier überschreitet er, ganz offensichtlich aus persönlichster Überzeugung, die patriotische Begrenztheit, die von den meisten Bundesgliedern immer noch gepflegt wurde, so wie er 1848 auch das Zusammentreten der Nationalversammlung in Frankfurt begrüßte.

1.5  Die Karlsbader Beschlüsse 1819 und die Folgen „Revolutionäre Umtriebe und demagogische Verbindungen“

Die grundsätzliche Angst vieler deutscher Höfe vor einem revolutionären Umsturz, aber auch konkrete aktuelle Ereignisse wie das Auftreten von Studenten und Professoren auf dem Wartburgfest 1817 und ein spektakulärer politischer Mord veranlassten den Deutschen Bund, Maßnahmen zum Schutz seiner politischen Ordnung zu ergreifen. So entwarf im August 1819 im böhmischen Karlsbad eine Ministerrunde unter Vorsitz des österreichischen Außenministers und späteren Wiener Staatskanzlers Clemens Wenzel Fürst von Metternich (1773–1859) eine Gesetzesvorlage, die mit ihren Abwehrmaßnahmen gegen die nationale und liberale Bewegung tiefe Einschnitte in das gesellschaftliche Leben bedeuten sollte. Die sogenannten Karlsbader Beschlüsse wurden am 20. September 1819 vom Bundestag einstimmig angenommen, und zwar – eigentlich gegen das föderative Prinzip – für alle Bundesstaaten verbindlich. Einige Staaten unterließen es freilich, die Bestimmungen in Kraft zu setzen. Juristisch wurden die Beschlüsse in vier Gesetzen fixiert: in einem „Untersuchungsgesetz“, in einem „Preßgesetz“ (= Presse-/Druckgesetz), einem „Universitätsgesetz“ und in einer „Executionsordnung“. In Mainz wurde eine „Centralkommission“ eingerichtet, deren Aufgaben in Art. 2 des „Untersuchungsgesetzes“ wie folgt definiert wurden: Der Zweck dieser Commission ist gemeinschaftliche, möglichst gründliche und umfassende Untersuchung und Feststellung des Thatbestandes, des Ursprungs und der mannigfachen Verzweigungen der gegen die bestehende Verfassung und innere Ruhe, sowohl des ganzen Bundes, als einzelner Bundesstaaten, gerichteten revolutionären Umtriebe und demagogischen Verbindungen, von welchen nähere oder entferntere Indicien bereits vorliegen, oder sich in dem Laufe der Untersuchung ergeben möchten.63 63

Quelle u.a.: www.heinrich-heine-denkmal.de/karlsbad3.shtml, letzter Zugriff: 3.2.2015.

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Damit begann eine systematische Jagd auf alles, was nur irgendwie im Verdacht stand, gegen die geltende Ordnung und die „innere Ruhe“ zu verstoßen – letztlich ein Generalverdacht, der sich gegen jedes freie, vor allem gegen jedes gedruckte Wort richtete. Ausnahmslos wurden alle Druckwerke unter strenge Kontrolle gestellt; in ihnen hätten ja „demagogische“, gar revolutionäre Inhalte verbreitet werden können. Insbesondere Publikationen, die regelmäßig erschienen, also Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Einzelpublikationen, die weniger als zwanzig Bögen (320 Seiten) umfassten, wurden der Vorzensur unterworfen; im „Preßgesetz“, Paragraph 1, wurde sie als „vorgängige Genehmhaltung“ umschrieben. Etliche kritische Autoren publizierten darum bewusst Texte mit mehr als zwanzig Bogen (manchmal mit sehr „großzügiger“ Füllung der Seiten), weil sie dann erst der ebenfalls eingerichteten Nachzensur unterlagen. Georg Herwegh etwa veröffentlichte 1843 gegen die Zwanzig-Bogen-Klausel bis dahin unveröffentlichte Texte bereits unter dem Titel „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz“. Die besonders beargwöhnten Universitäten und Schulen mit ihrem Lehrpersonal sollten ständig durch „landesherrliche Bevollmächtigte“ kontrolliert werden. Universitäts- und andere Lehrer, die sich „durch erweisliche Abweichung von ihrer Pflicht oder Ueberschreitung der Grenzen ihres Berufs, durch Mißbrauch ihres rechtmäßigen Einflusses auf die Gemüther der Jugend“ missliebig gemacht hätten, sollten ihres Amts enthoben werden und sollten auch an keiner anderen deutschen Lehranstalt mehr beschäftigt werden. Ebenso sollte einem Studenten, der von einer Universität verwiesen worden war, auch jede andere deutsche Universität verschlossen bleiben. Im Zuge dieser Verfolgungsmaßnahmen erhielten zahlreiche Professoren Berufsverbot. Auch die Turnplätze wurden verboten, die im Sinne Jahns als Trainingsstätten für nationale und liberale Gesinnung galten. Den Burschenschaften wurde – wenn sie nicht je nach Bundesstaat ganz verboten waren – jede politische Betätigung untersagt. Die meisten Oppositionellen, die mit liberalen bis revolutionären Manifestationen an die Öffentlichkeit traten, waren tatsächlich Mitglieder einer Burschenschaft. So auch der Student Karl Ludwig Sand, der am 23. März 1819 den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August von Kotzebue ermordete; Kotzebue wurde für einen russischen Spitzel gehalten. Dieser Mord war einer der wichtigsten Auslöser für die „Karlsbader Beschlüsse“, zumal Sand nach seiner Hinrichtung landauf, landab als Märtyrer der Freiheitsbewegung gefeiert wurde. Die systematische Verfolgung aller vermeintlichen und tatsächlichen Gegner der herrschenden politischen Ordnung galt den Kritikern als Teil des

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„Metternich’schen Systems“64, worunter man nicht nur die von Metternich maßgeblich geprägte europäische Neuordnung insgesamt verstand, sondern konkret auch die Verfolgungsmaßnahmen, die von zahlreichen Spitzeln, verschleiernd „Konfidenten“ genannt, unterstützt wurden. Die sogenannte Demagogenverfolgung lähmte unvermeidlich das Geistesleben der Zeit insgesamt. Die Unterdrückung von Gedanken, die dem Selbstverständnis des Deutschen Bundes hätten zuwiderlaufen können, und das verordnete Schweigen sind für diese Phase deutscher Geschichte genauso aufschlussreich wie das, was noch mehr oder weniger unbehindert geäußert werden konnte. Mit einigem Recht kann man die als „Biedermeier“ bezeichnete bürgerliche Kultur vor 1848, insbesondere in der Literatur und Malerei mit ihrer Tendenz zur Idylle, auch als Reaktion auf die politischen Repressionen verstehen. Die politisch entmündigten Bürger zogen sich oft in harmlos wirkende Zirkel zurück. Es entstanden zahlreiche Wander- und Gesangsvereine, „Liederkränze“, in denen dann doch, wenn auch getarnt, die freiheitlichen Ambitionen zum Ausdruck kommen konnten, etwa im 1821 gedichteten Lied „Im Krug zum grünen Kranze“ von Wilhelm Müller.65 Es handelt sich dabei nur scheinbar um ein Wanderlied: Zwei Wanderer begegnen sich, die einander eigentlich fremd sind, aber auch wortlos, schon durch Blickkontakt ihre innere, offensichtlich politische Gemeinsamkeit erkennen. In Strophe 3 und 4 heißt es: Ich tät mich zu ihm setzen, ich sah ihm ins Gesicht. das schien mir gar befreundet und dennoch kannt‘ ich’s nicht. Da sah auch mir ins Auge der fremde Wandersmann und füllte meinen Becher und sah mich wieder an.

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Bleyer (2014). Zahlreiche Textausgaben, u.a. in Böhme (Anm. 11): 238 f.

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In der letzten, der 5. Strophe fällt dann auch das Erkennungswort „Vaterland“, und der Fremde ist in Wahrheit ein „Herzbruder“: Hei! Wie die Becher klangen, wie brannte Hand in Hand. ‚Es lebe die Liebste deine, Herzbruder im Vaterland!‘

Poetische Winterbilder dieser Zeit stehen oft symbolisch für die politisch erstarrte Gesellschaft. Heinrich Heine wird sein zeitkritisches Versepos von 1844 nicht ohne Bedacht „Deutschland. Ein Wintermärchen“ nennen. Doch die Freiheits- und Nationalbewegung erstarrte keineswegs ganz, und sie konnte auch öffentlich, dann meist unter einer Tarnung, hervortreten. Der Deutsche Bund hatte also immer wieder einen Anlass, seine Abwehrhaltung gegen die „revolutionären und demagogischen Umtriebe“ zu bekräftigen. Das „Wartburgfest“ (Teil 2, 3.1) hatte bereits 1817 deutliche politische Tendenzen zu erkennen gegeben, die durch die Karlsbader Beschlüsse zwei Jahre später unterbunden werden sollten. Mit den rebellischen Reaktionen in Deutschland auf die französische „Julirevolution“ hatten sich 1830/31 mehrere Bundesstaaten herumzuschlagen. Das „Hambacher Fest“ von 1832 ging für die Mächtigen im Bund noch einmal glimpflich aus. Aber schon der „Frankfurter Wachensturm“ 1833 und der spektakuläre Protest der „Göttinger Sieben“ 1837 waren Alarmzeichen für die auf „innere Ruhe“ bedachte Föderation.

1.6  Die Wiener Schlussakte 1820 „zur Erhaltung der innern und äußern Sicherheit“

Wesentliche Punkte einer rechtlichen Ausgestaltung der „Bundesakte“ von 1815 wurden außer durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 in der „Schluß-Acte der über Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes zu Wien gehaltenen Ministerial-Conferenzen“, kurz: „Wiener Schlussakte“, vom 8. Juni 182066 geklärt. Dabei definierte sich der Bund in Art. I ausdrücklich als völkerrechtliches Subjekt:

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Text u.a. in: www.documentarchiv.de/nzjh/wschlakte.html, letzter Zugriff: 11.4.2016.

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Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souverainen Fürsten und freien Städte, zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten, und zur Erhaltung der innern und äußern Sicherheit.

Sympathisch kann erscheinen, dass der Bund als „Gesammtmacht“ wie schon in Art. II seiner Bundesakte nun in Art. XXXV noch einmal ausdrücklich alle außenpolitischen Maßnahmen, sei es Krieg, Friedensschluss oder ein Bündnis, ausschließlich „zu seiner Selbstverteidigung, zur Erhaltung der Selbstständigkeit und äußern Sicherheit Deutschlands, und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen Bundes-Staaten“ vornehmen will. Tatsächlich gelang es dem Deutschen Bund zwischen 1815 und 1866, also über fünfzig Jahre, jeden Krieg zu vermeiden. Art. XXXVI sicherte den Beistand des Bundes zu, wenn ein einzelner Bundesstaat bedroht oder angegriffen würde. Einseitige Unterhandlungen mit einem Feind waren einem einzelnen Bundesglied freilich verboten (Art. XLVIII). Eine im konkreten Fall äußerst prekäre Situation konnte die Bestimmung von Art. XLVI hervorrufen, wonach sich der Bund neutral verhalten wollte, wenn ein Bundesstaat, „der zugleich außerhalb des Bundes-Gebiets Besitzungen hat, in seiner Eigenschaft als Europäische Macht einen Krieg [beginnt], so bleibt ein solcher, die Verhältnisse und Verpflichtungen des Bundes nicht berührender Krieg dem Bunde ganz fremd.“ Insgesamt bekräftigte dieses Dokument die politisch restaurative Grundhaltung der Föderation. Außer in den vier freien Städten Lübeck, Frankfurt am Main, Bremen und Hamburg galt weiterhin uneingeschränkt das monarchische Prinzip; in den freien Städten gab eine bürgerliche Oberschicht, die „Patrizier“, den Ton an. Zwar wurde in Art. LIV den Bundesstaaten noch einmal die Einrichtung landständischer Verfassungen gemäß Art. XIII der Bundesakte eingeschärft, aber die Schlussakte mahnte in Art. LIX sogleich auch: Wo die Oeffentlichkeit landständischer Verhandlungen durch die Verfassung gestattet ist, muß durch die Geschäfts-Ordnung dafür gesorgt werden, daß die gesetzlichen Grenzen der freien Aeußerung [...] auf eine die Ruhe des einzelnen Bundesstaats oder des gesammten Deutschlands gefährdende Weise nicht überschritten werden.

Bereits in Art. XXV sorgte sich die Schlussakte um mehr als um staatsgefährdendes Reden. Es geht darin um die „Aufrechterhaltung der innern Ruhe und Ordnung in den Bundesstaaten“. Sie stehe zwar den Regierungen allein zu. Als Ausnahme kann jedoch gelten, wenn bei einer Gefährdung der inneren

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Sicherheit des gesamten Bundes die Pflicht der Bundesglieder zu gegenseitiger Hilfeleistung zu beachten und die Mitwirkung des Bundes als ganzen gefordert ist zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Ruhe, im Fall einer Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die Regierung, eines offenen Aufruhrs, oder gefährlicher Bewegungen in mehreren Bundesstaaten.

Nach Art. XXVI steht dieses Interventionsrecht aber unter dem Vorbehalt, dass die bedrohte Regierung nicht (mehr) in der Lage ist, sich selbst zu helfen. Auch darf die Intervention nicht länger dauern, als die bedrohte Regierung es für nötig hält. Auch in dieser Hinsicht nimmt man die Souveränität der Einzelstaaten durchaus ernst. Interventionen wurden jedoch ab 1849, insbesondere zur Niederschlagung der badischen Revolutionsversuche ziemlich häufig. Die für souverän erklärten Einzelstaaten gaben insofern freilich einen wesentlichen Teil ihres Selbstbestimmungsrechts auf, als sie den einmal geschlossenen Bund nicht mehr aus eigenen Stücken verlassen durften. Art. V der Schlussakte sagte nämlich ausdrücklich: „Der Bund ist als ein unauflöslicher Verein gegründet, und es kann daher der Austritt aus diesem Verein keinem Mitgliede frey stehen.“ Darüber setzte sich 1866 Preußen in seinem Konflikt mit Österreich rigoros hinweg, als der preußische Gesandte beim Deutschen Bund Karl Friedrich von Savigny (1814–75) am 16. Juni 1866 in der Bundesversammlung den Austritt Preußens erklärte und damit das endgültige Aus des Bundes einläutete. Nachdem die Bundesversammlung zu Gunsten der Frankfurter Nationalversammlung am 13. Juli 1848 offiziell ihre Arbeit eingestellt hatte, war der Bund schon im Jahr darauf zwar wiederbelebt worden, allerdings zunächst ohne Beteiligung Preußens und anderer Staaten. Preußen hatte im sogenannten Dreikönigsbündnis von 1849 zusammen mit Hannover und Sachsen ohne Beteiligung Österreichs versucht, ein eigenes Bündnis, die „Erfurter Union“, ins Spiel zu bringen (Teil 2, 6.1). Nachdem Preußen im Mai 1851 dem Bund wieder beigetreten war, belastete der Konflikt zwischen Preußen und Österreich die zweite Phase der Bundesgeschichte mehr und mehr, bis er schließlich 1866 endgültig eskalierte. Die Absicht Preußens, die Dominanz Österreichs zu brechen, ja es ganz aus der deutschen Politik auszuschalten, war also frühzeitig erkennbar. Das Urleitbild einer deutschen Einheit konnte unter diesen Umständen nur noch in einem sehr eingeschränkten, kleindeutschen Sinne wirksam bleiben.

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1.7  Die Restauration im Spiegel ihres Sprachgebrauchs

Auch wenn oder gerade weil sich die Auseinandersetzung des Deutschen Bundes mit den Ideen der Freiheits- und Nationalbewegung vorrangig in repressiven Maßnahmen niederschlug, zeugt doch einiges davon, dass die wiederhergestellten alten Herrschaftsordnungen unter einen zuvor nicht gekannten Legitimationsdruck geraten waren. Allein die auffällig häufige Betonung, dass das monarchische Prinzip einem göttlichen Willen entspräche, verrät ungewollt, dass alte Selbstverständlichkeiten bereits in Frage gestellt waren. Gleichwohl – und das belegt die eigenständige, sogar autosuggestive Kraft der Sprache – hielt man auf Seiten der Herrschenden unbeirrt an dem einmal gewählten sprachlichen Symbol des Gottesgnadentums als machtpolitischem Leitbild fest, bis es 1918 im Gefolge der militärischen Niederlage seinen Glanz endgültig einbüßte, in konservativen Kreisen aber seine deutlichen mentalen Spuren hinterließ und 1933 den Übergang in die Diktatur mit einem sakrosankten „Führer“ erleichterte. Ein Reflex des Wunsches, mehr auf die Untertanen einzugehen, war immerhin die Forderung nach Einführung von (wenn auch nur landständischen) Verfassungen in allen Bundesstaaten. Sogar ein „demokratisches Prinzip“ – freilich mit gehörigen Einschränkungen – konnte nicht mehr ohne weiteres pauschal verteufelt werden. Ebenso konnten weitere sprachliche Symbole der Opposition nicht mehr ganz übergangen werden, etwa wenn von ganz Deutschland als „Vaterland“ (z.B. als „Gesammtvaterland“) die Rede war. In formaler Hinsicht folgte der Sprachgebrauch in der Bundesversammlung sehr wohl der Maxime des Deutschen Bundes, altehrwürdige Traditionen zu wahren oder wiederherzustellen. Ein Spezifikum war, dass laut den Protokollen der Frankfurter Verhandlungen nicht Individuen miteinander kommunizierten. Die Gesandten der Bundesstaaten wurden nur in den Teilnehmerverzeichnissen zu Beginn eines Protokolls namentlich genannt, ausgenommen Mitteilungen, wonach ein Gesandter X von einem Gesandten Y abgelöst wurde. Die Teilnehmer verstanden sich jeweils nur als Sprachrohr ihrer Regierung, weswegen ihre Beiträge grundsätzlich nur unter dem Namen ihres Staates (etwa „Preußen: ...“, „Kurhessen: ...“ u.ä.) protokolliert wurden. Entsprechend förmlich nehmen sich die Beiträge aus, die jeweils als offizielles Statement eines Staates vorgetragen werden. Das ließ natürlich keinerlei Lebendigkeit einer Debatte zu. Kontroversen wurden bis auf die Schlussphase des Bundes nur selten sichtbar oder wurden möglicherweise in (nichtprotokollierten) „vertraulichen“ Sitzungen verhandelt, in denen es wahrscheinlich etwas munterer zugegangen ist. Wie Mitglieder der Bundesversammlung auch sprechen konnten, wenn sie einmal mehr oder

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weniger persönliche Ansichten vortrugen, lässt sich beispielsweise an der Eröffnungsansprache von Buol-Schauenstein oder am Vortrag von Hans Christoph Ernst von Gagern zeigen, obgleich auch diese Reden von Rücksichten auf die offiziellen Stilnormen geprägt sind. Die Berufung auf die eigentlichen Urheber von Beiträgen, die Könige, Fürsten und andere Herrschaften, erforderte eine ständige verbale Verbeugung vor diesen Autoritäten wie „Allerhöchster Hof “, „allergnädigster Herr“ oder „Hochfürstliche Durchlauchten“, jeweils mit peinlicher Beachtung des jeweiligen Ranges der Benannten. Das setzt sich im Textverlauf auch in verweisenden, deiktischen Formulierungen wie „Allerhöchstdieselben“, „Allerhöchstdero“ oder „Höchstihre“ fort. Das entsprach der Tradition der höfischen Kommunikation, die auch für den diplomatischen Verkehr maßgeblich war. Selbst Abstimmungen konnten „verehrlich“ genannt werden. Solche „Byzantinismen“ wurden auch „Commisionen“ (Ausschüssen) zuteil, wenn sie mit Attributen wie „hochansehnlich“ oder „hochpreislich“ versehen wurden. Auch der Bundesversammlung selbst wurde ein besonderer Rang – freilich unter den „Allerhöchsten“ oder „Höchsten“ als den eigentlich Mächtigen stehend – eingeräumt, wenn sie als „hohe Bundesversammlung“ oder als „hoher deutscher Bundestag“ angesprochen wurde; die Umschreibung späterer Parlamente als „hohes Haus“, etwa in der Paulskirche, hat hier wohl ihren Ursprung. „Eingaben“ einzelner Bürger oder Kommunitäten, die im Paulskirchenparlament als „Petitionen“ bezeichnet werden, befleißigten sich entsprechend des höfischen Stils, etwa wenn „um gnädigste Verfügung“ gebeten wird. Anträge des vorsitzenden österreichischen Gesandten, des „Präsidiums“, wurden noch halblateinisch als „Anträge des Präsidii“ bezeichnet. Überhaupt spielten dem Lateinischen folgende Termini, der traditionellen Kanzlei- bzw. Juristensprache entlehnt, eine wichtige Rolle. Da ist von „Proposition“ (Vorlage), „Retorsion“ (Erwiderung), „Subsistenz“ (Gewährleistung der Versorgung), „Supplikanten“ (Bittsteller) oder „Sustentation“ (Aufwand/Unterhalt) die Rede. Gesandte werden nicht ausgewechselt, sondern „substituiert“. Aus der alten Rechtssprache stammten auch deutsche Begriffe wie die „Austrägal-Instanz“, „-entscheidung“ oder „BundesAusträgal-Ordnung“. Bei „Austräg“ handelte es sich um einen traditionellen juristischen Terminus für „Ausgleich/Vermittlung“. Anstelle von simplen „Abstimmungen“ konnten auch „Umfragen“ unter den Teilnehmern stattfinden, die ebenfalls zu „Beschlüssen“ führten. Aber selbst dabei kommt es zu protokollarisch umständlichen Formulierungen wie „Die Mehrheit der Stimmen vereinigte sich zu dem Beschluß ...“ Die Syntax wird insgesamt von zahlreichen Partizipialkonstruktionen und schwerfälligen Funkti-

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onsverbgefügen beherrscht, etwa „in Anregung/Antrag/Vollziehung ... bringen“, „in Bedacht nehmen“, „in Betracht kommen“, „einer Prüfung unterziehen“ oder „einen Vortrag erstatten“. Wohl nicht nur schriftlicher Vorformulierung verdanken sich die grundsätzlich hochkomplexen Konstruktionen der einzelnen Sätze; die Beiträger waren in diesem Sprachstil sehr wohl auch sonst bestens geübt. Obgleich willkürlich herausgegriffen kann folgender Satz einer Wortmeldung von „Preußen“ am 2. März 1818 durchaus als exemplarisch gelten: Bey der besonderen Theilnahme, welche des Königs von Preußen Majestät dem Fortgange landständischer Einrichtung im Umfange Deutschlands widmen, haben Sie aus der, der Bundesversammlung mitgetheilten Verordnung der Großherzoglich Mecklenburgischen Höfe vom 28. November v. J. nur mit Vergnügen den Standpunkt ersehen können, bis zu welchem dieser Gegenstand in den beyderseitigen Landen vorgerückt ist, in welcher Gesinnung demnach Allerhöchstdieselben Ihr [!] vollkommenes Einverständnis erklären lassen, daß nach dem in Uebereinkunft mit den Ständen hinzugefügten Antrage, der Inhalt gedachter Verordnung von Seiten des Bundes dahin garantirt werde, daß alle Bestimmungen derselben, in welchen auf den Bund Bezug genommen ist, jederzeit aufrecht erhalten werden sollen.

Dieser Sprachgebrauch ist einer der beiden Pole, freilich ein sehr extremer, zwischen denen sich die Schriftsprache im 19. Jahrhundert allmählich einfacheren, wenn man so will: demokratischeren Stilnormen annähert. Den anderen Pol kann man in der Figurensprache naturalistischer Dramen am Ende des Jahrhunderts sehen, in der selbst die untersten Schichten der Bevölkerung einschließlich ihres Dialektgebrauchs zu Wort kommen. Eine Annäherung des offiziellen Sprachgebrauchs an Normen der Alltagssprache lässt sich zwar schon im 19. Jahrhundert beobachten, erfährt aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren vorläufigen Höhepunkt. Insgesamt spiegelt – und fördert dieser Wandel letztlich die Demokratisierung der Gesellschaft, weil nun nicht mehr nur die „Allerhöchsten“ zu Wort kommen. Das Leitbild „Restauration“ verblasste nach 1866 zwar, nachdem es zuvor schon durch den zunehmenden Konstitutionalismus mehr und mehr an den Rand gedrängt worden war. Auf eigene Weise trug die Spezifik preußischer Politik zu dieser Entwicklung bei, so reaktionär sich diese auch verhielt. Das mit ihm aufs engste verbundene Element, das sprachliche Symbol des „Gottesgnadentums“, überlebte diesen Prozess jedoch und wurde bis 1918 zum eigentlichen Schlüsselwort monarchischer Ideologie.

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2 Antimodernistische Leitbilder: Mittelaltersehnsucht – G ­ ermanenmythos – ­Judenfeindschaft 2.1  Die Idealisierung des Mittelalters 72 |  2.2  Die Rekonstruktion des Germanentums 74 | 2.3  Der Weg zum arisch-germanischen Rassenwahn 84 |  2.4  Vom Antijudaismus zum Rassenantisemitismus 90 |  2.5  Kompensationsversuche für Defizite der Gegenwart 97

Eine ideologische Konstante des deutschen Nationalismus, die der Kompensation von grundlegenden Defiziten bei der zugegebenermaßen schwierigen Bestimmung einer gesamtnationalen Identität diente, waren die Versuche, in einer oft nur fiktiv bestimmten Vergangenheit positive Anhaltspunkte zu finden. Die Positionen, die aus der Rekonstruktion angeblich idealer Zustände in Geschichte, ja sogar Vorgeschichte gewonnen wurden, konnten dabei bis zu aggressiven Einstellungen und Taten eskalieren. Sie trugen wegen der oft extremen Distanz zwischen ihren rein sprachlichen Konstruktionen und den tatsächlichen historischen Gegebenheiten schon von vornherein die Wesenszüge von Ideologien. Dass die Restauration und die ihr folgenden politischen Ordnungen mit ihrem zentralen Ideologem vom „Gottesgnadentum“ der Monarchen ein antimodernistisches Leitbild vertrat, ist kaum verwunderlich. Sie war in erster Linie an der Bewahrung des Althergebrachten interessiert. Dass sich aber ausgerechnet über die Freiheits- und Nationalbewegung mit ihrem Anspruch auf eine bessere Zukunft von Staat und Gesellschaft im Selbstbewusstsein der Deutschen ein ebenfalls rückwärts orientiertes Leitbild etablieren konnte, überrascht auf den ersten Blick denn doch. Die Gründe – und Abgründe dieser Entwicklung bedürfen indes eines genaueren Blicks. Bei aller bürgerlichen Begeisterung über den politischen Erfolg von 1871, von der Vielstaaterei zu einer (wenngleich auch nur kleindeutschen) staatlichen Einheit zu gelangen, waren vor allem die weiterbestehenden kulturellen Divergenzen zwischen den deutschen Regionen nicht zu übersehen, die auch eine Folge der Vielstaatlichkeit waren und die immer wieder auch als „Stammesunterschiede“ thematisiert wurden. Auf der Suche nach einer nationalen Identität der Deutschen, nach einem die Territoriumsgrenzen überschreitenden Nationalbewusstsein wurden verschiedene Akzente gesetzt, deren Gemeinsamkeit aber die Überzeugung war, man könne in der Vergangenheit finden, was man in der Gegenwart offenbar nicht finden konnte. Auch waren Verlustgefühle zu kompensieren, die sich nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches sehr wohl eingestellt hatten – ein wichtiges Motiv für das Aufblühen „vaterländischer“ Geschichtsforschungen.

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2.1  Die Idealisierung des Mittelalters „die wiedererblühte Ehre des vaterländischen Alterthumes“

Ein wichtiger Akzent lag auf der Suche nach gelungenen Höhepunkten der „deutschen“ Geschichte. Dass damit eigentlich keine nationale Gemeinsamkeit zu begründen war, wurde dabei indes verdrängt. Denn solche Höhepunkte waren nur ohne Rücksicht auf deren jeweiligen historischen Kontext zu bestimmen, und es konnte daraus lediglich eine ziemlich beliebige Aneinanderreihung isolierter historischer Fakten entstehen; denn eine homogene deutsche Geschichte hatte es nicht gegeben. Beispielsweise waren die Leistungen Friedrichs des Großen, auf die man sich berief, in Wahrheit Höhepunkte der preußischen Geschichte, mit denen sich die historischen Gegner Preußens kaum identifizieren konnten. Selbst nach der Herstellung der deutschen Reichseinheit 1871 bestand man etwa in Bayern darauf, ein eigenes „Vaterland“ zu haben. Das Barbarossa-Gedenken konnte an den Konflikt des Stauferkaisers mit den Welfen erinnern, ein Konflikt, der mit der preußischen Annexion des Welfenkönigreichs Hannover 1866 gleichsam aktualisiert wurde. Wenn man sich auf Karl den Großen berief, musste man ausblenden, dass dieser Kaiser als historische Größe in gleicher Weise wie für Deutschland auch für Frankreich stand, also kein „deutscher“ Kaiser sein konnte. Die Verehrung von Martin Luther hatte ihre Verwurzelung im protestantischen Teil Deutschlands, stieß aber in katholischen Regionen auf wenig Gegenliebe. Ähnliches wäre für die Berufung weiterer Zeugen einer angeblich historischen Kontinuität der Deutschen zu sagen. Allerdings wollte sich auch der Deutsche Bund über den „Ewigkeitswert“ seines monarchischen Prinzips hinaus historischer Wurzeln vergewissern, wie seine Unterstützung der „Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde“ bewies. Diese Gesellschaft war 1819 vom Reichsfreiherrn vom und zum Stein, dem preußischen Reformer, gegründet worden und hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Gesamtausgabe aller mittelalterlichen Quellen zur deutschen Geschichte, der „Monumenta Germaniae Historica“ (MGH), zu erarbeiten. Daraus ist bis heute tatsächlich eine Vielzahl von maßgeblichen Texteditionen entstanden – eine wohltuend seriöse Annäherung an das Mittelalter. Die populäre Mittelalterbegeisterung wurde aber in besonderem Maße durch die Romantiker gefördert.67 Deren Verdienst war es zwar, das lange Zeit gel67

Dazu u.a.: Höltenschmidt, Edith (2000): Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn; Strack, Friedrich (1987): Zukunft in der Vergangenheit? Zur Wiederbelebung des

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tende Klischee vom Mittelalter als schlechthin „dunkles Zeitalter“ zu erschüttern, doch trug die romantische Verklärung mehr zur Nivellierung von historischen Brüchen und Gegensätzen im angeblich idealen Zeitalter bei. Ein Kennzeichen undifferenzierter Mittelalterbegeisterung war die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende „Burgenromantik“, die in die oft zu Ruinen verfallenen historischen Bauten allerlei ideale Vorstellungen von ritterlichem Leben, von Minnesang und Turnieren, hineingeheimniste. Bei der oft „kreativen“ Rekonstruktion von Burgen, vor allem am Mittelrhein, bemühte man sich, mittelalterliche Bauformen wenigstens nachzuahmen. Dabei kam es im Übrigen auch zu den im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebten historisierenden Maskeraden, die sich auch in der Kleidung niederschlugen. Einen Höhepunkt solcher Maskeraden stellte noch 1934/36 das bekannte Hitlerbild „Der Bannerträger“ von Hubert Lanzinger dar, das den „Führer“ in der Rüstung eines spätmittelalterlichen Ritters zeigte. Freilich gab es in der Opposition auch Gegner solcher Mittelalternostalgie. Über die Verklärung der Vergangenheit machte sich etwa Heine mehrfach lustig, und Ludolf Wienbarg erklärte 1834 unmissverständlich: „Das Mittelalter hat sich überlebt, sein Geist ist ein Schatten der Geschichte, der auf verwitterten Ruinen einherwandelt.“ 68 Ein prominenter Akt der Rekonstruktion der Vergangenheit war die Vollendung des Kölner Doms als Sinnbild nationaler Einheit zwischen 1842 und 1880. Über dreihundert Jahre hatte man an diesem Bauwerk nicht weitergearbeitet; die Zeit der Hochgotik war inzwischen längst vorbei. 1814 aber forderte in einem öffentlichen Aufruf der katholische Historiker und Publizist Joseph von Görres (1776–1848) den Weiterbau. In diesem Jahr war auch einer der mittelalterlichen Originalpläne für die Westfassade wiedergefunden worden, ein zweiter Plan wurde 1816 von dem Kunsthistoriker Sulpice Boisserée (1776–1848) entdeckt, der wie Görres die Vollendung forderte und förderte. An der Grundsteinlegung für den Weiterbau 1842 nahm sogar der preußische König Friedrich Wilhelm IV. teil, und Preußen beteiligte sich auch an der Finanzierung der Bauarbeiten. Görres würdigte die Absicht, den Bau tatsächlich zu vollenden, als „die wiedererblühte Ehre des vaterländischen Alterthumes“.69 Allerdings nahmen ver-

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Mittelalters in der Romantik. In: Ders. (Hrsg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um1800. Stuttgart: 252–281. Wienbarg, Ludolf (1834): Ästhetische Feldzüge: 30. Görres, Joseph von (1842): Der Dom von Köln und das Münster von Strasburg. Regensburg: 4. – Am Kölner Festakt konnte Görres nicht teilnehmen; er war in Preußen Persona non grata.

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schiedene Kreise auch kritische Positionen zum Weiterbau ein. Anhänger einer Republik fürchteten, dass mit dem Kölner Dom ein Symbol für eine Verfestigung monarchischer Herrschaft errichtet würde, Katholiken kritisierten, dass ein Sakralbau einem politischen Zweck unterliegen sollte, und Protestanten wehrten sich gegen die Finanzierung einer katholischen Kirche. Erkennbares Motiv aller dieser Bemühungen um den Erhalt von Vergangenem oder dessen Rekonstruktion war, wie gesagt, in zurückliegenden Zeiten etwas zu finden, was in der Gegenwart noch fehlte, insbesondere das allgemeine Bewusstsein, eine Nation zu sein. Dieses Motiv wurde im Verlauf des Jahrhunderts umso stärker, je mehr sich die Gegenwart durch den sozialen Wandel, den Industrialisierung, Landflucht und Urbanisierung vorantrieben, veränderte. Dabei wurde aber nicht nur das Mittelalter zum Symbol des Widerstands gegen die bedrohlich erscheinenden Modernisierungstendenzen stilisiert.

2.2  Die Rekonstruktion des Germanentums „Germanenschwert – Germanenfaust“

Der auf Dauer noch wichtigere, zugleich bedenklichere Akzent, die Vergangenheit zum Vorbild für Gegenwart und Zukunft zu stilisieren, ging von dem Theorem aus, die Deutschen seien ein „ursprüngliches“, ein „Urvolk“. Das hatte unter anderem schon 1808 Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ behauptet. Aber auch der erste Präsident der Bundesversammlung Buol-Schauenstein hatte 1816 die Deutschen zum „Urstamm“ erklärt. Begriffe wie „Deutschheit“ und „Deutschtum“ wurden gleichsam zum Gütesiegel für die Besonderheit dieses „Urvolks“, das – wiederum nach Fichte – auf Grund seiner (angeblichen) Bodenständigkeit eine „größere Reinheit seiner Abstammung“ als andere Nationen habe – ein geistiger Vorgriff auf die später geforderte „Rassereinheit“. Ein Versuch, den Deutschen über isolierte Höhepunkte ihrer Geschichte hinaus ein Idealbild aus ihrer Vergangenheit zu zeigen, stützte sich schon frühneuzeitlich auf eine Darstellung, die von außen gekommen war: von dem römischen Autor Publius Cornelius Tacitus. Seine „Germania“ war Mitte des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt worden, und die Humanisten entnahmen ihr zahlreiche Informationen über die Germanen, die selbst keine direkten schriftlichen Zeugnisse ihrer Stammesverfassung, Religion, ihrer Sitten und Gebräuche hinterlassen hatten. Die deutschen Humanisten konzentrierten sich dabei auf alles, was davon für die Deutschen abzuleiten war. Damit aber wurde unkritisch unter-

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stellt, dass die Deutschen, die ja immer noch auf ehemals germanischem Boden lebten, direkte Nachkommen der Germanen, ja sogar immer noch selbst Germanen seien. Deutschland war „Germania“. Gestützt wurde und wird diese Deutung außer in der lateinischen Benennung Deutschlands als „Germania“ durch Fremdbezeichnungen wie engl. „Germans“ für die Deutschen70 oder russ. „Germania“ für Deutschland. Im 19. Jahrhundert griff man die Idealisierungen germanischer Zustände bei Tacitus, die wohl mehr als Sittenspiegel für die Römer gedacht waren, begierig auf, so die Sittenstrenge der Germanen und – für die Freiheitsbewegung wichtig – den germanischen Freiheitswillen. Seit der Rezeption der „Germania“ gab es eine Reihe weiterer Wiederentdeckungen von Texten, die nun wirklich deutschen Ursprungs in historisch fassbarer Zeit waren. Darunter war nicht zuletzt das „Annolied“ aus dem 11. Jahrhundert, das erstmals das Wort „deutsch“ als Bezeichnung für die Menschen verwendete, die in „deutschen“ Landen leben. Bis dahin war „deutsch“ nur der Name für eine nichtlateinische Sprache gewesen, die das Volk sprach (ahd.„diutisk“ = svw. dem Volk gemäß/ volkssprachlich). Zwar war damit der Begriff „deutsch“ als Volksname geboren, aber angesichts der territorialen Zersplitterung konnte er gleichsam nur als Brückenbegriff für die in auch kulturell sehr unterschiedlichen Regionen Lebenden dienen, die sich in erster Linie als Preußen, Österreicher, Böhmen, Badener, Bayern, Mecklenburger usw. mit je eigenen Patriotismen verstanden. Als ein auf eine nationale Einheit orientiertes Schlüsselwort aber war „deutsch“ im frühen 19. Jahrhundert zunächst nur ein Zielbegriff, eine Vision, der sich die politische Realität nur allmählich und nicht ohne Brüche und Einschränkungen annäherte. Das Interesse an Überlieferungen wie der des „Annolieds“ wuchs zwar, war aber bis ins späte 18. Jahrhundert von einer historisch kritischen Betrachtung oft noch weit entfernt. Je weiter sich jedoch die Suche nach solchen Überlieferungen in grauen Vorzeiten verlor, desto fantasievoller konnte man deren Bedeutung für die Gegenwart bestimmen oder aktuelle Erfahrungen, aber auch Wunschvorstellungen als bereits in der Vergangenheit erfüllt „entdecken“. Das konnte im 18. Jahrhundert sogar so weit gehen, dass man den Germanen eine Kirchenverfassung andichtete, in der es sogar schon Superintendenten gegeben haben soll. Zwei literarische Ereignisse des 18. Jahrhunderts, im wahrsten Sinne des Wortes ausschließlich sprachlich gegründete Fiktionen, förderten den fantasievollen Umgang mit der Vergangenheit. Durch sie wurde dem seit der Renaissance weithin gültigen kulturellen Vorbild der mediterranen Antike eine ganz neue Orientierung zur Seite gestellt: die Zuwendung zur nordeuropäischen 70

Interessanterweise werden im Englischen die (historischen) Germanen „Teutons“ genannt.

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Überlieferung. Ein Auslöser für diese in Westeuropa ungemein wirkmächtige Richtung war die Veröffentlichung eines angeblichen Heldenepos aus keltischer Überlieferung, die 1760 als „Gesänge des Ossian“ in englischer Sprache veröffentlicht wurden. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Erfindung des schottischen Dichters James Macpherson, was der literarischen Welt trotz früher Zweifel an der Echtheit der Texte lange Zeit verborgen blieb. Ab 1768 wurden zahlreiche Ausgaben des „Ossian“, auch auf Deutsch, herausgegeben. Der zweite Impuls zu Gunsten einer nicht mehr antiken, nun genauer nordisch-germanischen Orientierung kam von einer Ausgabe der „Lieder eines Skalden“ durch den Dichter Heinrich Wilhelm von Gerstenberg 1766. Das lyrische Ich tritt darin in der Gestalt eines germanischen Sängers, des „Skalden“, auf. Die davon angestoßene Bewegung übernahm für diese literarische Rolle allerdings mehr die keltische Benennung „Barde“, woraus aber, auch für die Gestaltung germanischer Themen und germanischer Mythologie, zahlreiche „Bardendichtungen“ entstanden. Klopstock etwa gab seinen einschlägigen Texten sogar einen eigenen Gattungsnamen: „Bardiet“. Ein solches Bardiet war beispielsweise sein Drama „Hermanns Schlacht“ (1769), in der es um die Vernichtung römischer Legionen unter Varus im Jahre 9 n. Chr. durch die Cherusker unter ihrem Anführer Arminius geht. Ein Drama gleichen Namens wird 1808 Heinrich von Kleist verfassen. Kleists Drama wurde nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Friedland/Ostpr. von 1807 geschrieben. Man hat darin lange Zeit einen Aufruf zum Endkampf gegen Napoleon im Sinne der Varusschlacht gesehen. Aber auch wenn ein direkter Zeitbezug inzwischen angezweifelt wird, so gilt doch weiterhin, dass die historische Schlacht in der zeitgenössischen Überzeugung zum Symbol des deutschen Widerstands gegen die Franzosen wurde. Arminius, dessen germanischer Name unbekannt ist, aber schon im Umkreis von Luther in „Hermann“ eingedeutscht worden war, wurde bereits in der frühen Tacitus-Rezeption zum „Befreier Germaniens“ vom römischen, d.h. päpstlichen Joch stilisiert. Der für die modernen Verhältnisse umgedeutete Cheruskerfürst aber löste im 19. Jahrhundert einen wahren Arminius-Hermann-Kult aus.71 So schmückte sich etwa der Mitbegründer der Jenaer Urburschenschaft Heinrich Hermann Riemann mit dem Beinamen „Arminius“. Sein Kommilitone 71

S. dazu: Unverfehrt, Gerd: Arminius als nationale Leitfigur. In: Mai/Waetzoldt (1981): 315– 340. – Derzeit erfährt dieser Kult eine bedenkliche Wiederbelebung seitens rechtsradikaler Kreise, wie sich allein schon aus Internetangeboten von einschlägigen Haut- und Wandtatoos ersehen lässt.

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Georg Ludwig Rödiger forderte auf dem Wartburgfest 1817 die Anwesenden auf, zugleich „der Hermannszeit und der letzten Heldentage“ zu gedenken, womit er den Germanenkampf und den jüngst beendeten Befreiungskrieg in unmittelbare Verbindung brachte. „Hermann der Cherusker“ wurde geradezu selbstverständlich auch mit Denkmälern verschiedener Art gefeiert. Wie im doppelten Wortsinn „aufgesetzt“ die dabei präsentierten Hermann-Bilder waren, zeigt sich in der Darstellung des Sieges über Varus im Giebelfries der germanophil „Walhalla“ genannten Ruhmes- und Ehrenhalle für die Zeugen historischer „deutscher“ Größe bei Donaustauf in der Nähe von Regensburg (errichtet 1831–42). Der Bau selbst ist einem antiken Tempel, genauer dem Parthenon in Athen, nachgebildet. Innen aber vereinnahmte man auch Helden von Goten und Vandalen. Den gleichen Synkretismus kann man im größten Hermann-Denkmal entdecken, das 1838–75 im Teutoburger Wald72 errichtet wurde und zeitweilig sogar das weltweit höchste Denkmal überhaupt war: Die Hermann-Figur ruht auf einem Sockel, der an einen antiken Rundtempel erinnert. „Germania“ wurde zur Nationalallegorie, die in zahlreichen Illustrationen präsentiert wurde, so im Innenraum der Paulskirche 1848/49 auf der Präsidiumsseite, aber auch in Denkmälern, so auf dem Niederwalddenkmal bei Rüdesheim. Sogar der politische Katholizismus schmückte eine von 1870–1938 publizierte Tageszeitung mit diesem Namen: „Germania – Zeitung für das Deutsche Volk“, in dem gegen Ende des Jahrhunderts indes auch antisemitische Artikel Platz fanden. Zuletzt sollte „Germania“ der Name für Hitlers „Welthauptstadt“ Berlin werden. Eine ebenfalls in die „deutsche“ Vorgeschichte greifende Variante war „Teutonia“. So nannte sich die Jenaer Urburschenschaft und nach ihr noch andere Burschenschaften, aber auch mancher Sportverein. Und der „Turnvater“ Jahn träumte, wie bereits erwähnt, schon sehr früh von einer Hauptstadt des geeinten Deutschland, die „Teutonia“ heißen sollte. Noch vor jeder profunden Analyse der germanischen Mythologie spukten in manchen germanophilen Köpfen einzelne ihrer Elemente. So schwor etwa der Mitorganisator des Hambacher Fests von 1832, der Journalist Philipp Jakob Siebenpfeiffer, in einer Rede „bei Thuisko, dem Gott der freien Deutschen“. Solche Entlehnungen führten nach und nach, ganz besonders in der NS-Zeit, gar zu einer neuen „germanisch-deutschen Religion“. Doch auch die zeitgenössische

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Dort vermutete man lange den Ort der Varusschlacht. Inzwischen scheint jedoch gesichert, dass die Schlacht bei Kalkriese in der Nähe von Bramsche (Landkreis Osnabrück) stattgefunden hat.

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wissenschaftliche Beschäftigung konnte dazu beitragen, dass Germanentum und Deutschtum in eins gesetzt wurden. Ein prominentes Beispiel sind die Arbeiten von Jacob Grimm, der mit seinen sprach- und rechtshistorischen Analysen der unhistorischen Vorstellung von einer Kontinuität zwischen vorzeitlichen und modernen Befunden sehr wohl Vorschub leistete. Exemplarisch sei seine „Deutsche Mythologie“ von 183573 erwähnt. Zwar versucht er darin, mit bewundernswerter Ausführlichkeit und Akribie, die spärlichen Reste der tatsächlich deutschen mythologischen Überlieferung durch Vergleich mit der sehr viel reicheren nordischen Überlieferung in ein umfassenderes, gemeingermanisches und oft darüber hinaus sogar indoeuropäisches Licht zu rücken. Das Ergebnis jedoch, das die gesicherten deutschen Befunde dabei sehr weit übersteigt, nennt er schon im Titel seines Werks eine „deutsche Mythologie“. Grimm ist sich nach Ausweis seiner ausführlichen Vorrede zur zweiten Ausgabe von 1844 des Überlieferungsbruchs durch die Christianisierung sehr wohl bewusst, spricht aber von der Zeit vor der Christianisierung als von „unserem heidenthum“, auch ist von „unserer heidnischen mythologie“ die Rede, was eben doch den Schluss nahelegt, dass Grimm die Germanenzeit als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte gesehen haben möchte. Bei ihm ist auch sonst im Gebrauch der Wörter „germanisch“ und „deutsch“ keine eindeutige Differenzierung zu erkennen.74 Am Ende der Vorrede von 1844 widmet er alle seine Werke der „gegenwart […], die ich mir nicht denken kann, ohne dass unsere vergangenheit auf sie zurückstrahlte“75 – ein entlarvender Bildbruch: Die Vergangenheit strahlt auf die Gegenwart zurück!? Auch einer wissenschaftlichen Zentralinstitution für die deutsche Geschichte, dem 1852 in Nürnberg gegründeten „Germanischen Nationalmuseum“ lag – und liegt heute noch im Namen – eine Verwechslung von „germanisch“ und „deutsch“ zu Grunde. Nicht nur reicht die Sammel- und Forschungstätigkeit dieses Museums bis in die Gegenwart, ist also von „germanischen“ Zeiten mehr als entfernt. In einer noch 2015 präsentierten, inzwischen gelöschten Fassung der Homepage dieser Einrichtung konnte man vielmehr auch lesen: „Der Namensbestandteil ‚germanisch‘ verweist auf den ‚germanischen Kulturraum‘, also die Gebiete, in denen früher einmal [!] deutsch gesprochen wurde.“ Man konnte nur ahnen, was damit gemeint war, die Formulierung aber stellte de facto das historische Verhältnis von germanisch und deutsch auf den Kopf. 73 74 75

Drei Auflagen: jeweils 2 Bde. Göttingen 1835–54. 4. Aufl.: 3 Bde. Berlin 1878. Die mangelnde Unterscheidung hat u.a. auch dazu geführt, dass selbst noch jüngere sprachhistorische Darstellungen die deutsche Sprachgeschichte mit der gotischen Sprache beginnen lassen. Deutsche Mythologie (21844) Bd. 1: XLI.

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Auch die Märchen- und Sagensammlungen von Jacob Grimm und seinem Bruder Wilhelm waren von dem Motiv geleitet, Überlieferungen zu bewahren, die der Suche nach einem gemeinsamen „Volksgeist“, nach nationaler Identität nützlich sein könnten. Darin war man sich mit den Romantikern einig, die sich ebenfalls mit überlieferten Märchen und Sagen beschäftigten, sie allerdings auch kreativ zu einer eigenen Kunstgattung weiterentwickelten, oder die sich auf „Volkslieder“ konzentrierten und solche, wenn sie denn nicht ganz dem erwünschten „Volkston“ entsprachen, notfalls selbst anpassten, wie für die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“76 nachweisbar. Die Fixierung auf Deutsch-Germanisches als historische und mentale Grundlage eines nationalen Selbstbewusstseins führte zur Begründung der „Germanistik“ als einer Wissenschaftsrichtung, die nicht nur wie heute eine philologische Disziplin meinte, sondern auch eine Richtung der Rechtswissenschaft, die sich bis dahin vor allem der römischen Rechtstradition gewidmet hatte, nun aber die germanisch-deutsche Überlieferung in den Mittelpunkt stellen sollte.77 Beiden von Jacob Grimm geleiteten „Germanistentagen“ 1846 und 1847 blieben die „Romanisten“ angesichts der „germanistischen“ Vorurteile konsequenterweise fern. Mit am schärfsten brachte Joseph Victor von Scheffel (1826–86) den Widerwillen gegen das Römische Recht in dem seinerzeit vielzitierten Gedicht „Römisch Recht gedenk ich deiner“ in seinem „Trompeter von Säckingen“ (1854) zum Ausdruck. Darin heißt es unter anderem: Sind verdammt wir immerdar, den großen Knochen zu benagen den als Abfall ihres Mahles uns die Römer hingeworfen? Soll nicht aus der deutschen Erde Eignen Rechtes Blum‘ entsprossen, Waldes duftig schlicht kein üppig Wuchernd Schlinggewächs des Südens? Traurig Los der Epigonen!

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Arnim, Achim von/Brentano, Clemens (Hrsg.) (1806–08): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. 3 Bde. Heidelberg. Vgl. Engster, Hermann (1986): Germanen und Germanisten. Germanenideologie und Theoriebildung in der deutschen Germanistik und Nordistik von den Anfängen bis 1945 in exemplarischer Darstellung. Frankfurt a. M.; Landau, Peter (1999): Prinzipien des germanischen Rechts als Grundlage nationalistischer und völkischer Ideologien. In: Fürbeth (1999): 327–342.

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Allerdings gelang es den Germanisten der Rechtswissenschaft nicht, bei der Abfassung der ersten Vereinheitlichung des deutschen Privatrechts, des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“ (BGB), das 1900 eingeführt wurde, deren römisch-rechtliche Grundlegung zu verhindern. Das Interesse an germanisch-deutscher Kontinuität fahndete insbesondere nach Belegen, die das „Heldische“ der Germanen bewiesen. Dass die Helden der Vorzeit grundsätzlich tragische Figuren waren und aus ihren Kämpfen keineswegs immer als Sieger hervorgingen, stattete die Germanenideologie bis 1945 bei allem sonstigen Zukunftsoptimismus mit einem fragwürdigen Zug ins Nekrophile aus: Erst durch einen Opfertod wurde man „Held“. Eine besondere Rolle spielte in dieser Hinsicht die im 19. Jahrhundert immer wieder bemühte Nibelungensage. Ihre hochmittelalterliche Fassung im „Nibelungenlied“ sollte sogar zum „Nationalepos“ erhoben werden, um endlich den klassischen Epen Homers etwas „Deutsches“ an die Seite stellen können.78 Dabei konnte die eigentlich verstörende Tatsache, dass dieses Epos in einem Blutrausch endet, noch zu einem besonderen Fixpunkt der germanisierenden Gegenwartsdeutung werden. Richard Wagners Adaption der Nibelungensage samt Götterdämmerung tat das Ihre, diese „germanische“ Perspektive zu popularisieren und zu instrumentalisieren. Das preisgekrönte Modell des Architekten Wilhelm Kreis für eine Art Standarddenkmal zu Ehren des ersten Reichskanzlers, einen Bismarckturm79, erhielt 1899 den Namen „Götterdämmerung“ – eine vieldeutige Anspielung auf den Untergang der Götterwelt. Nach Bismarcks Entlassung 1890 konzentrierte sich die deutsche Außenpolitik unter Wilhelm II. auf das Verhältnis zu Österreich-Ungarn. Am 29. März 1909 beschwor der Reichskanzler von Bülow in einer Reichstagsrede die politische Unterstützung Wiens ausdrücklich als Beweis deutscher „Nibelungentreue“ – eine Treue, die es 1914 möglich machte, dem österreichischen Verbündeten für seinen Vergeltungsschlag gegen Serbien, faktisch aber auch für alle folgenden kriegerischen Weiterungen einen verhängnisvollen Blankoscheck auszustellen. Hätte man die Überlieferung des Nibelungenstoffs als Maßstab politischen Handelns wirklich ernstgenommen, hätte man auch den gemeinsamen Untergang erahnen können. Selbst die SPD nahm den zentralen Helden der Nibelungensage für sich in Anspruch, freilich als „roten Siegfried“, wie er in einer Bild78 79

Vgl. dazu: See, Klaus von (1991): Das Nibelungenlied – ein Nationalepos? In: Heinzle/Waldschmidt (1994): 43–110. Von diesem Typ wurden 47 Türme gebaut; insgesamt aber entstanden bis 1934 neben zahlreichen anderen Denkmälern 240 Türme zu Ehren Bismarcks.

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postkarte zur Reichstagswahl von 191280 dargestellt wurde: Rot gewandet steht der Held über dem getöteten Drachen. Darunter kann man – zum Bildmotiv nicht eben passend – lesen: „Aus der Tiefe stieg das Volk empor und rechnete ab.“ Wie sehr die Germanenideologie die Erfahrungen mit der Technisierung von militärischen Auseinandersetzungen ab 1914 durch Giftgas, Flugzeuge, Panzer und U-Boote überlagern konnte, wird im Ersten Weltkrieg in der Verwendung von Versatzstücken aus der germanischen Überlieferung deutlich. In einer Propagandaillustration zu Kriegsbeginn, die auf Bildpostkarten verbreitet wurde, reichen sich ein Germanenkrieger und ein moderner Soldat mit Pickelhaube brüderlich die Hand. Darunter liest man unter anderem: „Germanenschwert, Germanenfaust – Auf unserer Feinde Schädel saust.“ Im Februar/März 1917 musste sich freilich das deutsche Heer aus der Picardie und dem Pas-de-Calais zu einer vorbereiteten nordöstlicher gelegenen Befestigungslinie, die kaum zufällig „Siegfried-Stellung“ genannt wurde, zurückziehen. Der Rückzug erhielt den Namen „Unternehmen Alberich“ – eine durchaus interpretationsbedürftige Anspielung auf den Zwergenkönig der Nibelungensage. Vielleicht ging es dabei nur um Alberichs Tarnkappe, weil die Rückzugsaktion vor den Alliierten sorgfältig verborgen wurde. Alberich ist der Sage nach aber auch der Hüter des Nibelungenschatzes, den er schließlich Siegfried ausliefern muss. Mit dem Geländeverlust wurde jedoch dem Feind und nicht dem deutschen Siegfried etwas überlassen … Auf die Stimmigkeit der Benennungen kam es aber offenbar nicht an. Der Name „Siegfried-Stellung“ berief in jedem Fall einen germanischen Helden, der bei Ausblendung seines tragischen Endes offenbar nur als Sieger vorstellbar war. Da lag denn auch die Assoziation zu einem „Sieg-Frieden“ nahe, an den manche deutschen Politiker gegen alle Realitäten bis zuletzt glauben wollten. Noch die letzten deutschen Verteidigungssysteme 1945 gegen die Rote Armee an Oder und Neiße wurden „Nibelungenstellung“ genannt. Ernsthafte sagenkritische Erwägungen sind mit Sicherheit nicht angestellt worden. Hauptsache war, dass der Mythos vom Deutschen als fortlebendem Germanen irgendwie bestätigt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts war auch das Alltagsleben längst von reichlich beliebig verwendeten germanischen Reminiszenzen umstellt: von Illustrationen auf Schokolade-Sammelbildern über „nordi-

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Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Dokument Do 88/2821.

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sche“ Rezepte bis hin zur Benennung von Dosen für Grammophonnadeln nach dem nordischen Meeresgott Ægir.81 So unsympathisch der Alberich der Sage auch erscheinen mag, die mit seinem Namen 1917 verbundenen Begleiterscheinungen des Rückzugs finden in seiner überlieferten Gestalt wahrlich keine Begründung. Über vierhundert von den Deutschen aufgegebene Ortschaften wurden ohne militärische Notwendigkeit systematisch zerstört. Alle Wohnstätten und zivilen Einrichtungen wurden niedergebrannt und/oder gesprengt. Am zerstörten Rathaus von Péronne brachte man zu allem Überfluss ein großes Holzschild an, das die zynische Aufschrift trug: „Nicht ärgern, nur wundern!“82 Die von der Propaganda wie auch von prominenten deutschen Intellektuellen vertretene These, Deutschland sei auch im Krieg „Hüter der Humanität“, wurde schon in den Kriegsanfängen Lügen gestraft: durch die Missachtung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs, durch das sogenannte Strafgericht in Löwen, bei dem unter anderem die international renommierte Universitätsbibliothek niedergebrannt wurde, durch Massaker an der Zivilbevölkerung, Misshandlungen und Deportationen und durch den von deutschen Wissenschaftlern in Gang gesetzten Giftgaseinsatz.83 Bis zum Ende des Krieges konnte die deutsche Armee den alliierten „Tanks“ außer erbeuteten Exemplaren infolge extremen Materialmangels nur zwanzig Eigenproduktionen mit der Typenbezeichnung „A7V“ entgegensetzen, von denen man sich aber mehr als durchschnittliche Leistungen erwartete. Neben der technischen Typenbezeichnung gab man dem deutschen Panzer nämlich den Namen des obersten germanischen Gottes: „Wotan“ – womit wohl dessen übernatürliche Kräfte auf den Stahlkoloss übertragen werden sollten. Noch im Zweiten Weltkrieg kam unter anderem ein Ferngeschütz zum Einsatz, das dem Gewittergott Thor gewidmet wurde. Die „wahre“, die traurige Geschichte Siegfrieds wurde nach 1918 dann doch einmal ernstgenommen – das aber zur Begründung einer folgenschweren Lüge. Nachdem die von der Front heimkehrenden Truppen als „im Felde ungeschlagen“ begrüßt worden waren, erklärte Hindenburg 1919 in einem Reichstagsausschuss, die Verhinderung eines deutschen Sieges und der Waffenstillstand seien 81

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Zernack, Julia/Schulz, Katja (2012): Wie die nordischen Götter und Helden bis heute fortleben. Ein Blick in die Edda-Sammlung des Instituts für Skandinavistik. In: Goethe-Universität Frankfurt (Hrsg.): Forschung Frankfurt. H. 3/2012: 30–37. Cabanes/Duménil (2013): 259 (mit Foto). Vgl. u.a.: Schlosser, Horst Dieter (2014): Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Sprache. In: Der Sprachdienst. H. 2/14: 43–50.

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Folge eines „Dolchstoßes“ gewesen.84 Das hieß: die deutsche Armee sei wie weiland Siegfried durch den treulosen Hagen von Tronje durch innere Feinde hinterrücks zu Fall gebracht worden. Die Behauptung Hindenburgs war insofern von besonderer Perfidie, als er selbst wie auch sein Stellvertreter in der Obersten Heeresleitung Ludendorff die Reichsregierung angesichts der aussichtslosen Lage gedrängt hatten, möglichst rasch einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Die „Dolchstoßlegende“ aber wurde für Deutschnationale und Nationalsozialisten zum Kern ihres Kampfes gegen die „Novemberverbrecher“, die das Deutsche Reich durch einen angeblich völlig unbegründeten Waffenstillstand den Kriegsgegnern ausgeliefert hätten. Die Germanenideologie blieb über 1918 hinaus eine Konstante des deutschen Nationalbewusstseins, bis sie unter dem NS-Regime schrecklichste Folgen zeitigte. Fast noch harmlos erscheint die „Blut-und-Boden“-Politik, die ein „urgermanisches“ Bauerntum bereits im Nebel der Vorgeschichte verwirklicht sehen wollte. Ihre Vorstellungen hatten sich schon vor 1914 entwickelt, gehören also zum germanophilen Fundus des 19. Jahrhunderts. Die NS-Terrortruppe der SS verstand sich als „Germanenorden“, der Hitlers Vision von einem „Germanischen Reich Deutscher Nation“ bis an den Ural erfüllen sollte. Zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 ließ sie in einem ihrer „Leithefte“ verlauten: Was aber den Goten, Warägern und allen einzelnen Wanderern aus germanischem Blut nicht gelang – das schaffen jetzt wir, ein neuer Germanenzug, das schafft unser Führer, der Führer aller Germanen. […] jeder von uns ein germanischer Kämpfer.85

Aber auch die nekrophile Grundierung der Idee vom germanischen Helden feierte im Nationalsozialismus ihre besonderen Höhepunkte. 1934 wurde der Volkstrauertag in „Heldengedenktag“ umbenannt, Kriegerdenkmäler wurden zu „Heldendenkmälern“. Gefallene Soldaten wurden in „Heldengräbern“ oder auf „Heldenfriedhöfen“ bestattet. Die HJ lernte früh in ihren Liedern, dass sie sich dem Heldentod weihen sollte. „Deutschland, sieh uns, wir weihen dir den Tod als kleinste Tat“, hieß es in einem HJ-Lied von Hans Baumann.86 Der monströse Untergang der Nibelungen musste sogar noch dafür herhalten, die Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad, als „großes Heldenopfer“ zu heroi84 85 86

Lobenstein-Reichmann, Anja (2002): Die Dolchstoßlegende. Zur Konstruktion eines sprachlichen Mythos. In: Muttersprache 112: 25–41. Zit. in: Schlosser (2013): 53. Ebda.: 111 f. – Dieser NS-stramme Poet mutierte nach 1945 zum harmlosen Kinderbuchautor.

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sieren – so von Goebbels formuliert. Und Göring sah in dieser Katastrophe quasi eine Wiederholung des Endes der Nibelungen in Etzels Halle. Seine Ausführungen dazu vor Wehrmachtsangehörigen sind denn auch schon zeitgenössisch als „Nibelungen-Rede“ bezeichnet worden. Der NS-Heldenkult war in Wahrheit ein Totenkult, dessen „germanische“ Attitüde etwa bei der Beisetzung Hindenburgs im Denkmal von Tannenberg 1934 einen besonders sinnfälligen Ausdruck fand. Hitler rief dem toten Reichspräsidenten, einst Chef der Obersten Heeresleitung, nach: „Toter Feldherr, geh nun ein in Walhall!“ Die nekrophile Gestimmtheit, Todes- und Untergangssehnsüchte, die sich durch die germanisierende Heldenverehrung in das Leitbild vom Deutschen als „ewigem Germanen“ gleichsam subkutan einnisten konnten, war eigentlich eine ungewollte Nebenwirkung der Germanenideologie – allerdings eine mit fragwürdigsten Wirkungen. Die Anfänge dieser Ideologie, so rückwärtsgewandt sie auch war, hatte ja durchaus eine bessere Zukunft im Sinn. Eine idealisierte Vergangenheit sollte über die Brüche der deutschen Geschichte, über deren negative Folgen für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung und ihre Kultur und auch über die Unsicherheiten der Gegenwart hinweghelfen und dabei das weithin fehlende gemeinsame Nationalbewusstsein hervorbringen. Die Orientierung an der Vergangenheit war insofern ein spezifisch deutscher Kompensationsversuch, den andere Nationen in dieser Form nicht nötig hatten.

2.3  Der Weg zum arisch-germanischen Rassenwahn „Die Ungleichheit der Menschenracen“

Auch die im 19. Jahrhundert aufkommende Rassenideologie, insbesondere der Rassenantisemitismus, ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie die Sprache, genauer ein bestimmter Wortgebrauch, vor jeder Überprüfung von Realitäten das Denken und bald auch das konkrete Handeln lenkt. Die wichtigsten Elemente dieser Ideologie sind rein sprachliche Konstrukte. Die Kompensationsbemühungen der Deutschen zwecks Herstellung eines gemeinsamen nationalen Bewusstseins litten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter einem fundamentalen Makel. Die Betonung eines gemeinsamen Deutschtums ging von vornherein mit dessen Überschätzung einher, die ihren besonderen Akzent in der Abgrenzung gegen die Franzosen erhielt, dabei aber – wie bei Fichte, Kleist, Ernst Moritz Arndt und vielen anderen – einen geradezu universellen Anspruch auf die Überlegenheit des Deutschen über alle anderen

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Nationen erhob. Nationalistische Übertreibungen auf Seiten der Franzosen können dies nur teilweise entschuldigen. Bereits 1815 hat der jüdisch-deutsche Schriftsteller Saul Ascher (1767–1822) die „Germanomanie“ als Kompensationsversuch charakterisiert.87 Unter anderem schreibt er: Wir wollen nun einmal unsern Germanomanen, die den Mund immer so voll von echter Deutschheit nehmen, die in der Deutschheit das Ding kat‘ exochén [griech. sovielwie „als das Eigentliche“] sehen, die von dem deutschen Urvolk, von der deutschen Ursprache, von der Integrität, welche man Deutschland zu erhalten verpflichtet ist, nie genug sprechen können, den Standpunkt der vorhandenen Staaten und Regierungen unter die Augen bringen und sie fragen: woher sie für Deutschland eine abgerundete, geschlossene und selbständige Verfassung hernehmen wollen.

Die Behauptung, das Germanisch-Deutsche stünde über allem, diskriminierte, etwa in der Wendung gegen das Römische Recht, auch europäische Kulturtraditionen insgesamt. Die Bemühungen um das Leitbild „Nation“ wuchsen sich im Laufe des Jahrhunderts zum Nationalismus mit besonderer deutscher Prägung aus. Die Radikalisierung des Leitbilds „Deutsches Reich“ zu einem Schlüsselwort für Imperialismus ist bereits an früherer Stelle thematisiert worden. Die Verschärfung des nationalen Hochmuts ging von einer fundamentalen naturwissenschaftlichen Wende aus, die in ihrem Ursprung allerdings keineswegs deutsch war. Mit seinem 1859 veröffentlichten Buch „On the Origin of Species“ („Über den Ursprung der Arten“) revolutionierte Charles Darwin (1809–82) die Vorstellungen von der Entstehung und Weiterentwicklung der Arten. Seine Evolutionstheorie sah eine stete Höherentwicklung von Lebewesen, die sich im „struggle of life“, im „Kampf ums Dasein“, wie man im Deutschen sagte88, vollziehe. Der biologische Fortschritt ereigne sich vor allem durch „natürliche Selektion“.89 Ein Neffe Darwins, Francis Galton (1822–1911), wendete im Rahmen seiner Forschungen zu Erbanlagen das Theorem der „natürlichen Selektion“ zur Mög87 88 89

Ascher Saul (1815): Die Germanomie. Skizze zu einem Zeitgemälde: digital: http://gutenberg. spiegel.de/buch/die-germanomie, letzter Zugriff: 17.4.2016. Bis ins 20. Jahrhundert wird „Kampf ums Dasein” in Deutschland ein äußerst beliebtes Schlagwort sein. Diese Hauptthesen waren bereits im vollständigen Titel der Erstausgabe enthalten: „Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favored Races in the Struggle of Life”. Bereits 1860 erschien eine erste, allerdings unzuverlässige deutsche Übersetzung, die 1876 von der sehr viel authentischeren des Zoologen Julius Victor Carus abgelöst wurde.

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lichkeit, die Höherentwicklung der Menschen durch eine aktive Selektion, durch „eugenics“90, d.h. durch Förderung der besten Erbanlagen, zu unterstützen. Dabei hatte er vor allem eine genetische Verbesserung der englischen Nation im Blick. Doch er unterschied nicht nur allgemein zwischen guten und schlechten Erbanlagen bei Individuen, sondern auch zwischen höheren und niederen Rassen, wozu er unter anderem auch die „Neger“ zählte. Auf Grund ihrer genetischen Determination aber ließen weder die Individuen mit minderwertigen Erbanlagen noch die niederen Rassen insgesamt eine Höherentwicklung zu und sollten entsprechend zurückgedrängt werden. Galton wurde dadurch zum Mitbegründer des sogenannten Sozialdarwinismus, der weit über England hinaus strahlte, so auch auf Deutschland. Der Terminus „Rasse“, zunächst ein rein zoologischer Begriff, war zwar bereits vor dem 19. Jahrhundert auch zur Typologisierung von Menschen verwendet worden. In etwa zeitgleich mit Darwins Veröffentlichungen jedoch wurde er von einem französischen Geschichtsphilosophen als Kriterium für eine Rangeinteilung der verschiedenen menschlichen Populationen eingeführt. Diesen folgenschweren Schritt hatte der Franzose Joseph Arthur Graf Gobineau (1816–82) mit seinem „Essai sur l’inégalité des races humaines“ (1853–55) unternommen. In seinem vierbändigen Werk versuchte Gobineau zu beweisen, dass die „arische Rasse“ allen anderen überlegen sei. Nicht erst die deutsche Übersetzung, „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen“, die erst 1898–1901 erschien, sondern bereits das Original hatte großen Einfluss auf deutsche Intellektuelle, unter anderem auf Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Die begeisterte Aufnahme der Theorie von Gobineau fand denn auch Niederschlag in der Gründung deutscher Gobineau-Vereine. Seit Gobineau irrlichterte der Begriff „Rasse“ durch die Diskurse der zweiten Jahrhunderthälfte. Mal wurde er als biologischer Terminus gebraucht, mal war er nur eine Metapher, die indes schnell wieder als seriöser Fachterminus missverstanden und missbraucht werden konnte. In diesem semantischen Nebel bewegten sich dann auch die Begriffe „Herrenrasse“ und „Herrenmensch“, die Nietzsche aufbrachte, obwohl er von sich behaupten konnte, dass er die gängige Rassentheorie ablehne. Erst eine verkürzende Interpretation seiner Philosophie vereinnahmte Nietzsche – erst recht im Nationalsozialismus – als Zeugen für die Ideologie vom Herrenmenschentum der arischen bzw. germanischen Her-

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Im Deutschen wurde daraus der Begriff „Eugenik“, der erst nach 1945 durch „Humangenetik“ ersetzt wurde – ein in mancher Hinsicht bloßer Etikettenwechsel.

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renrasse.91 Die Idee, die Deutschen seien ein „Herrenvolk“, wurde schließlich im Kolonialismus des Kaiserreichs dominant. „Herrenvolk“ wurde nicht zuletzt zum Zentralbegriff des „Alldeutschen Verbands“. Der ursprünglich linguistische und völkerkundliche Terminus „arisch“ für die Verwandtschaft indo-iranischer Sprachen und ihrer Sprecher war von Gobineau gleichsam nach Westen verlagert und dabei gleichzeitig zum Kriterium einer genetischen, rassenbiologischen Gemeinsamkeit der „Arier“ erklärt worden. Diese wissenschaftlich absolut inakzeptable Verwandlung eines sprachwissenschaftlichen Begriffs in ein anthropologisches Unterscheidungsmerkmal wurde also von einem Franzosen vorgenommen. Die gedankliche Brücke, über die ein Franzose gehen konnte, lag darin, dass zeitgenössisch neben den meisten europäischen Sprachen auch das Französische zu den „indo-arischen“ Sprachen gezählt wurde.92 Unter der Ausschließlichkeit, mit der dann „arisch“ als „germanisch“ und „deutsch“ gedeutet wurde, brauchte Gobineau also noch nicht zu leiden! Die spätere, wissenschaftlich ebenso unhaltbare Behauptung von Rassekundlern, die „Arier“ stammten ursprünglich aus Norddeutschland und Skandinavien, erweiterte die Gleichsetzung von „arisch“ und „germanisch“ um die Kennzeichnung „nordisch“, was die rassenpolitische Handhabung dieser Begriffstrias außerordentlich „flexibel“ machte. Dass Gobineau aber zugleich die (von ihm erfundene) „arische Rasse“ als allen anderen Rassen überlegen deklarierte, begründete die breite Zustimmung der als „Arier“ Ausgezeichneten zu seinen Thesen. Die Brücke, über die dann das „Arische“ und seine sprachliche wie volkliche Überlegenheit ins deutsche Denken geholt werden konnten, hatte ihre Stützpfeiler in den übersteigernden Bewertungen des Deutschen zu Beginn des Jahrhunderts. Damit aber war nicht nur eine Verquickung verschiedener Fachdisziplinen, von Biologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte, begründet, sondern auch eine folgenreiche semantische Unschärfe im Begriff „Rasse“. Diese Unschärfe machten sich alle jene zunutze, die – wenn sie biologisch, etwa mit anthropologisch messbaren Daten wie Körperbau, Haar- und Augenfarbe, nicht weiterkamen – auch Werte wie Charakterstärke, Willenskraft und hochkulturelle Leistungen zu Rassemerkmalen des (fiktiven) „Ariers“ erklärten, wie umgekehrt „Nichtarier“ auch ohne biologische „Beweise“ wegen ihrer angeblichen moralischen und geistigen Defizite ins Abseits gedrängt werden konnten. 91 92

Vgl. dazu: Schank, Gerd (2000): „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche. Berlin/New York; Wenzel, Mario: Germanische Herrenrasse. In: Benz (2010). Bd. 3: 107. Dieser Terminus wurde in der Sprachwissenschaft später durch „indogermanisch“ bzw. „indoeuropäisch“ ersetzt.

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Schon an dieser Stelle muss ein prominentes Zeugnis für die Unterstellung erwähnt werden, dass Nichtdeutsche, insbesondere Juden gar kein tieferes Verständnis für echte Kultur haben können: Richard Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“, zunächst 1850 unter einem Pseudonym, 1869 in einer erweiterten Broschüre unter seinem Namen veröffentlicht. Darin spricht er Juden jegliche Originalität ab und verstand sich sogar selbst als Opfer einer „umgekehrten Verfolgung“.93 Wagner aber wurde in seinen Opern zum publikumswirksamen Verkünder des Mittelalter- und Germanenmythos. Den vorläufigen Höhepunkt einer Verschärfung der Ideologie, dass die Deutschen als Germanen bzw. als Arier die Krone der menschlichen Entwicklung seien, bildete ein deutsches geschichtsphilosophisches Werk in der Tradition von Gobineau: „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“, das 1899 erschien und mehrere Auflagen und sogar eine „Volksausgabe“ erfuhr. Autor war der später naturalisierte Engländer Houston Stewart Chamberlain (1855–1927)94, der von Gobineaus Ideen fasziniert war. Von diesem Werk sagte Kaiser Wilhelm II. einmal, die Lektüre habe ihn eigentlich erst zum Deutschen gemacht. Schon in seiner „Allgemeinen Einleitung“ schreibt Chamberlain – gegen Rankes Prophezeiung, das 19. Jahrhundert werde ein „Jahrhundert der Nationalität“ sein – dass dieses Jahrhundert vielmehr ein Jahrhundert der Rassen [ist], und zwar ist das zunächst eine notwendige und unmittelbare Folge der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens. [...] Die wissenschaftliche Anatomie hat die Existenz von physisch unterscheidenden Merkmalen zwischen den Rassen erwiesen.95

Danach hätte man erwarten können, dass nun auf der Grundlage „anatomischer“ Einsichten eine Analyse des Jahrhunderts und seiner kulturellen Grundlagen erfolgt, aber es geht Chamberlain um nichts weniger als um die nördlichen Europäer als Träger der Weltgeschichte. „Von Anfang an entwickelte sich ihre Eigenart im Kampf gegen fremde Art.“96 Hier bereits verlässt Chamberlain die „harten“ 93 94

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S. dazu: Scholz, Dieter David (2013): Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Darmstadt. Ausführliche Darstellung bei: Lobenstein-Reichmann, Anja (2008): Houston Stewart Chamberlain. Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Berlin. – 1908 heiratete Chamberlain eine Tochter Richard Wagners. Chamberlain (1899): 29; Kursive = Sperrung i. Orig. Ebda.: 8.

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biologischen Fakten, erst recht wenn er alle kulturellen Leistungen der Geschichte, zumindest deren Wiederbelebung für die Angehörigen der germanischen Rasse reklamiert: „... erst durch die Geburt der Germanen wurde die Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich.“97 Geradezu abenteuerlich mutet unter anderem seine Beweisführung an, dass die Renaissance keine originär italienische Entwicklung gewesen sei. Kernstück dieser Argumentation sind die Behauptungen: „... je weniger germanisch ein Land, um so uncivilisierter ist es“98, und kurz davor heißt es: „Germanisches Blut, und zwar germanisches Blut allein [...] war hier [bei der Erschaffung einer neuen Kultur] die treibende Kraft und das gestaltende Vermögen“. Die im Zitat zunächst ausgesparte Klammer aber beweist, dass der Begriff „Rasse“ außerordentlich flexibel eingesetzt werden konnte. Chamberlain erklärt in diesem Klammerzusatz nämlich, was er unter germanischem Blut versteht: „in meiner weiten Auffassung einer nordeuropäischen slavokeltogermanischen Rasse“! Diese terminologische Beliebigkeit machte den Rassegedanken besonders gefährlich, weil es nun vom jeweils aktuellen politischen Bedürfnis abhing, wer rassisch rein sei. „Blut“ aber ist bereits hier eine mystische Größe, der auch nichtphysische Werte und Unwerte zugemessen werden können. Die semantische Flexibilität des Rassebegriffs bot in der Folge der sogenannten Rassenhygiene eine Spielwiese für irrationales Handeln aller Art. Nur kurz verwiesen sei auf das Werk des seinerzeit führenden Rassenhygienikers Alfred Ploetz, „Grundlinien einer Rassen-Hygiene“, aus dem Jahr 1895, in dessen erstem Teil mit dem Titel „Die Tüchtigkeit unsrer [!] Rasse und der Schutz der Schwachen“ sich Ploetz als Vordenker der NS-Euthanasie-Morde erweist: Schwächlichen oder missgestalteten Neugeborenen solle ein „sanfter Tod“ bereitet werden, „sagen wir durch eine kleine Dose Morphium“, erwachsene Behinderte solle man an die Stelle bringen, „wo man hauptsächlich Kanonenfutter braucht“.99

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Ebda.: 9 f. Ebda.: 693. Zitate 144 bzw. 147. – Ploetz gilt auch als Erfinder des Wortes „Humanitätsduselei“. – Vgl. u.a.: Klaucke, Ralph (1998): Eugenik und Rassenhygiene als medizinische Wissenschaften. In: Schlosser, Horst Dieter (Hrsg.): Mit Hippokrates zur Organgewinnung? Medizinische Ethik und Sprache: 97–106.

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2.4  Vom Antijudaismus zum Rassenantisemitismus „Die Juden als Juden passen nicht in diese Staaten hinein“

Schon für Chamberlain waren die Begriffe „Rasse“, „Volk“ und „Nation“ zu einer geradezu tautologischen Einheit zusammengewachsen. Mehr und mehr galt dabei die genetische, die „völkische“ Einheit als Fundament der Abgrenzung der Deutschen gegen alles Nichtdeutsche, auch „Undeutsche“ genannt, wozu alle anderen, die „minderwertigen Rassen“ degradiert wurden: Romanen, Slawen – am frühesten die Polen – und nicht zuletzt Juden, von der Degradierung der Nichteuropäer vorerst zu schweigen. Für Gobineau war „arische Rasse“ noch so viel wie die „weiße Rasse“, zu der sich auch die Juden zählen durften. Aber spätestens mit der Verengung von „arisch“ auf „germanisch“ und „deutsch“ und erst recht mit der Festlegung auf eine genetische Definition dieser beiden Begriffe war es mit dieser freundlichen Inklusion vorbei. Daraus ergab sich das zuletzt tödliche Gegensatzpaar „arisch : jüdisch“. Der absolute Tiefpunkt irrationaler, pseudobiologischer Argumentation aber wurde 1927 erreicht: mit der Definition der Juden als „eine instinktverbundene parasitäre Gegenrasse“ durch den Antisemiten Arno Schickedanz. Dessen abstruse Ideen, insbesondere der Begriff der „Gegenrasse“, wurden von dem NS-Chefideologen Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) teilweise sogar wörtlich übernommen.100 Zu den Konstanten der populären Diskriminierung im späten 19. Jahrhundert, die zur Erfindung der „Gegenrasse“ führte und die ebenfalls noch bis 1945 propagandistisch weiter gepflegt wurde, zählte überhaupt die „biologische“ Verunglimpfung der Juden als „Parasiten“, „Schädlinge“, „wucherndes Ungeziefer“, „Trichinen“ usw., die auszurotten seien.101 Der Antisemitismus hatte freilich sehr alte Vorläufer, die hier nur angedeutet werden können. Die Wurzeln lagen im religiösen Gegensatz zwischen Christen und Juden, wobei die christliche Mehrheit die in der Diaspora lebenden jüdischen Minderheiten ihre Übermacht immer wieder aufs schrecklichste spüren ließ. Der religiös begründete Judenhass, der sogenannte Antijudaismus, kannte auch keine Konfessionsgrenzen. Zu den gemeinsamen Klischees, die von Theologen und höchsten Kirchenführern vertreten wurden, zählte bis weit ins Schickedanz, Arno (1927). Sozialparasitismus im Völkerleben. Leipzig. Dazu: Bein, Alexander: „Der jüdische Parasit“ – Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13. 1965: 121–149. 101 Ausführlich ebda. 100

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20. Jahrhundert etwa die historisch wie theologisch absurde Behauptung, die Juden seien „Gottesmörder“, weil sie den Tod Jesu Christi, des Gottessohns, verschuldet hätten. Katholischerseits unterfüttert wurde diese Position durch Ammenmärchen von jüdischen Ritualmorden an Christenkindern, von Hostienschändungen und ähnlichen Verbrechen gegen das Christentum. Martin Luthers Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) wirkte ebenfalls bis ins 20. Jahrhundert. Selbst der spätere Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer sah unter ausdrücklicher Berufung auf Luther die Juden unter einem „Fluch“ Gottes. 102 Luthers Spruch „Trau keinem Wolf auf wilder Heiden / Auch keinem Juden auf seine Eiden…“ wurde immer wieder zitiert. Um 1900 wurde dieser Spruch in der Variante „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid / Trau keinem Jud auf seinen Eid“ auf Klebemarken für die private Briefpost massenhaft verbreitet.103 Er war in der langen Zwischenzeit ganz offensichtlich zum „Volksgut“ geworden, bis er 1936 zum Titel eines „Bilderbuchs für Groß und Klein“ von Elvira Bauer wurde, das im „Stürmer-Verlag“ des Julius Streicher erschien.104 Die darin enthaltenen Darstellungen des „typisch Jüdischen“, angeblich gemeinsame körperliche Besonderheiten, vorrangig die Physiognomie, und die moralische Verkommenheit der Juden, die noch im Zentrum des rassekundlichen Schulunterrichts der NS-Zeit stehen sollten, hatten ihren keineswegs intelligenteren Vorläufer in einem Vortrag Achim von Arnims (1781–1831) zur Gründung der Berliner „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“ 1811, eines der wichtigsten Romantikerzirkel, der zu seinen Mitgliedern so illustre Namen wie Brentano, Chamisso, Eichendorff und Fouqué zählte. Unter dem Titel „Über die Kennzeichen des Judenthums“105 bietet Arnim ein Kompendium übelster Gehässigkeiten, um zu begründen, warum kein Jude Mitglied der „Tischgesellschaft“ werden dürfe. Juden gebühre bestenfalls „ein Fußtritt“. Für manchen prominenten Vertreter der Nationalbewegung war Feindschaft gegen Juden durchaus mit den Visionen von Freiheit und Gleichheit vereinbar. Zwei Beispiele: Ernst Moritz Arndt schrieb in seiner Schrift „Ein Blick aus der Zeit in die Zeit“ 1814:

Schlosser (2013): 348; vgl. Kaufmann, Thomas (2014): Luthers Juden. Stuttgart. Belege in der Frankfurter Ausstellung „Angezettelt. Antisemitismus im Kleinformat“, 2014. 104 Es erschien in mindestens sieben Auflagen und wurde mit etwa 100.000 Exemplaren in Kindergärten und Vorschulen verteilt. 105 Arnim, Achim von (1992): Schriften. Frankfurt a. M.: 362–387. 102 103

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Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehret werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandtheilen rein zu erhalten wünsche.106

Arndt ließ bis an sein Lebensende nicht von derlei antisemitischen Äußerungen. Oder Hoffmann von Fallersleben offenbarte seine antijüdische Obsession unter anderem in seinem Gedicht „Emancipation“ von 1840107, dessen zweite Strophe wie folgt lautet: O Israel, von Gott gekehret, Hast du dich selbst zu Gott gemacht, Und bist, durch diesen Gott belehret, Auf Wucher, Lug und Trug bedacht.“

Fichte ging bereits 1793 so weit, dass er im Judentum Europas einen „mächtigen, feindselig gesinnten Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht“108, sah. Viele Juden hielten über das Ende ihres Ghettodaseins hinaus an engen Familienbanden und -traditionen fest, bildeten also festere Gemeinschaften, als man sie in der Mehrheitsgesellschaft gewohnt war. Die Sprache, die von Juden intern überwiegend gesprochen wurde, das Jiddische, weckte zusätzlichen Argwohn.109 Es ist kein Zufall, dass schon früh aus der Umschreibung des Jiddischen „wie Mausche (= Moses) sprechen“ ein Synonym für „verschleiern“ und „betrügen“ geworden war: „mauscheln“. Eine bewusste Abschließung nach außen wurde auch in den „fremden“ religiösen Riten der Juden gesehen. Es war daher ein Leichtes, die Gesamtheit jüdischer Individuen sprachlich zu kollektivieren, als „die Juden“ oder auch im kollektivierenden Singular „der Jude“ zu umschreiben – und das, obwohl sich viele Juden, nicht zuletzt durch Übertritt in eine der christZit. nach: von Westphalen (1962): 15 f. Werke. Bd.  4: 207. – Zum Antisemitismus Hoffmanns: Ortmeyer, Benjamin (1991): Argumente gegen das Deutschlandlied. Köln. 108 Fichte, Johann Gottlieb (1793): Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution. Danzig: 121. 109 Das preußische „Emanzipations-Edikt“ von 1812 (§ 2) hatte für offizielle Dokumente, insbesondere für Verträge, das Jiddische verboten. Auch der Gebrauch der hebräischen Sprache und Schrift war untersagt worden. 106 107

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lichen Konfessionen, bemühten, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, zu „assimilieren“. Manchen Familien gelang diese Akkulturation so vollkommen, dass sie erst unter der NS-Verfolgung auf schmerzliche Weise wieder an ihre jüdischen Wurzeln erinnert wurden. Ein besonderer Angriffspunkt wurde im 19. Jahrhundert nach der bürgerlichen Gleichstellung die – gemessen an ihrem geringen Bevölkerungsanteil von gerade einmal ein Prozent – überproportionale Beteiligung von Juden an bestimmten Berufen. Bereits traditionell waren Juden im Geldhandel stark vertreten, da sie, vom kirchlichen Zinsverbot ausgenommen, schon früh im kleinen wie großen Rahmen als Geldverleiher und Finanziers arbeiteten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die antijüdische Verfolgungstheorie vom „internationalem Finanzjudentum“, das die Welt unterjochen wolle. Außer im Finanzwesen betätigten sich Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großer Zahl als Selbständige auch in Berufen, die sozial hoch angesehen waren: als Unternehmer, als Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten; auch der Anteil an Wissenschaftlern war hoch. Die Mehrheit der Juden gehörte zudem dem reichen Mittel- und Großbürgertum an, was bei Nichtjuden Sozialneid auslösen konnte. Nipperdey110 hat ausführlich die Motive des außerordentlichen Aufstiegsstrebens von Juden gedeutet. Sie waren gerade in Erinnerung an ihre lange Zeit extrem eingeschränkten Lebensbedingungen und die Beschränkung ihrer Erwerbsmöglichkeiten sehr viel stärker erfolgsorientiert als die meisten anderen Deutschen und erzielten dadurch vor diesen einen deutlichen „Modernitätsvorsprung“. Für die schwere Wirtschaftskrise 1873, das jähe Ende des Gründerbooms, wurde in weiten Kreisen wegen ihrer Unterstützung einer liberalen Wirtschaftspolitik neben den Politikern der Fortschrittspartei die jüdische Geschäftswelt verantwortlich gemacht und dabei die Politik der Judenemanzipation insgesamt angegriffen. Nicht erst die Nazis propagierten Parolen wie „Kauft nicht bei Juden!“; gerade diese tauchte bereits 1893 auf Siegelmarken für den privaten Gebrauch auf. 111 Und immer häufiger wurde gefordert, Juden aus Deutschland zu vertreiben. Selbst der Begründer des Zionismus, der Österreicher Theodor Herzl (1806– 1904), sah eine „Lösung der Judenfrage“ nur noch in der Gründung eines eigenen, europafernen Staates, etwa in Argentinien oder in Palästina.112

Nipperdey (2013) Bd. 1: 397 ff. Ausstellungsbelege 2014 (wie Anm. 103). 112 Herzl, Theodor (1896): Der Judenstaat; Pieper, Ernst (2004). 110 111

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Dass Deutschland „judenrein“ bzw. „judenfrei“ sein solle, wurde auch von prominenten Zeitgenossen ausdrücklich geteilt, etwa von Theodor Fontane.113 Gediegene Hotels wie der „Kölner Hof “ am Frankfurter Hauptbahnhof rühmten sich um 1900 in ihrer Werbung, „judenfrei“ zu sein; im Restaurant dieses Hotels prangte auch unübersehbar ein Schild „Jüdischer Besuch verboten“.114 Während staatliche Regelungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – vom österreichischen „Toleranzpatent“ Josephs II. von 1782 über das preußische „Emanzipations-Edikt“ von 1812 bis zum Gesetz über die Religionsfreiheit des Norddeutschen Bundes von 1869 – den Juden die bürgerliche Gleichstellung erwirken wollten, wuchs in breiten Kreisen die antijüdische Stimmung. Jeder offizielle Schritt zu Gunsten der Juden löste – in Deutschland wie in Österreich – jeweils eine neue Welle von antijüdischen Pamphleten aus.115 Die ursprünglich vor allem religiös begründete Judenfeindschaft, der Antijudaismus, war längst durch einen rassenbiologisch begründeten und von ökonomischen Motiven gesteuerten säkularen Judenhass zwar nicht ganz verdrängt, aber verschärft worden. Den Begriff „Antisemitismus“ mit seiner säkularen, also nicht mehr religiösen Definition hat der politische Journalist Wilhelm Marr mit seiner Schrift von 1879 „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet“ in Umlauf gebracht. Marr gründete im selben Jahr auch eine der ersten Organisationen zur Sammlung der Judengegner: die „Antisemitenliga“. Sie war zwar nur kurzlebig, doch fügten sich ihre antisemitischen Parolen erfolgreich in die allgemein verbreitete antijüdische Grundstimmung ein, die selbst in Unterhaltungszeitschriften wie „Die Gartenlaube“ mit Serientiteln wie „Die soziale Frage ist heute wesentlich JudenFrage“(1874/75) durchschlug, ähnlich wie die antisemitische Agitation des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker (1835–1909). Dieser hatte 1878 eine „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ gegründet. Aber schon 1881 verzichtete die Stoecker-Partei vor dem Hintergrund der Sozialistenverfolgung auf den Anspruch, eine „Arbeiterpartei“ zu sein, und konzentrierte sich fortan als „Christlich-Soziale Partei“ auf antisemitische Propaganda. Nach Misserfolgen bei Wahlen ging diese Partei in der „Deutschkonservativen Partei“ auf, in der Stoecker aber, zuletzt als deren Reichstagsabgeordneter, inhaltlich großen Einfluss hatte. Seine Positionen gegen Juden und SozialdemoS. dazu: Schlosser (2013): 20. Ausstellungsbeleg 2014 (wie 103). 115 Eine wahre Fundgrube für solche Publikationen bietet eine Sondersammlung der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek. 113 114

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kratie schlugen sich auch im Parteiprogramm der Deutschkonservativen von 1892 nieder, und sie blieben – weit über 1918 hinaus – in großen Teilen der Protestanten wirksam. Hier lag einer der Ursprünge für die aberwitzige Gleichsetzung von Judentum und Sozialismus, die sich nach 1917 zur rechtsextremen Tautologie von Judentum und Bolschewismus auswuchs. Aber Stoeckers Ideen hatten zuvor auch schon auf den Berliner Hof eingewirkt, zunächst auf Prinz Wilhelm, der 1888 als Wilhelm II. Kaiser wurde und bis zu seinem Lebensende 1941 antisemitische Überzeugungen pflegte, zuletzt gegen die Juden sogar Gas für wünschenswert hielt.116 Wie eine zunächst nur verbale Hassagitation handlungsleitend werden kann, erwies sich während des ganzen Jahrhunderts in einer Reihe von pogromartigen Übergriffen gegen jüdische Mitbürger, die jeweils im Anschluss an antisemitische Hetzkampagnen einsetzten. Nach einer Agrarkrise kam es schon 1819 zu antisemitischen Exzessen, ebenso 1830 nach dem Zusammenbruch der Baukonjunktur. In der Silvesternacht 1880 folgten auf eine große Antisemitenversammlung in Berlin pogromähnliche Krawalle. Am 18. Februar 1881 brannte in Neustettin eine Synagoge nieder, was man in einem nachfolgenden Prozess den Juden selbst anlasten wollte … Auch wenn es im Kaiserreich nicht, wie immer wieder gefordert wurde, zu umfassenden offiziellen Maßnahmen gegen Juden kam, schlug sich der Antisemitismus sehr wirkungsvoll darin nieder, dass gegen sie auf verschiedenen Ebenen soziale Schranken aufgerichtet wurden. Sie waren de facto vom Offizierkorps ausgeschlossen, das im preußisch-deutschen Militärstaat eine außerordentlich wichtige Rolle spielte117. Trotzdem zogen 1914 hunderttausend Juden voller patriotischer Begeisterung in den Krieg, auch in der Hoffnung auf mehr soziale Anerkennung. Auch höhere Beamtenlaufbahnen waren ihnen weitgehend versperrt. Vereine und studentische Verbindungen, insbesondere die Burschenschaften, blieben ihnen verschlossen, ebenso etliche Gruppen der Jugendbewegung.

Röhl, John C. G. (1994): Wilhelm II.: „Das Beste waere Gas!“ In: ZEIT-Online: http://www. zeit.de/1994/48/wilhelm-ii-das-beste-waere-gas/seite-6, letzter Zugriff: 22.9.2015. 117 1916, mitten im Krieg, initiierten Antisemiten eine „Judenzählung“ im Heer, um eine angebliche Minderbeteiligung jüdischer Soldaten statistisch nachzuweisen. „Drückeberger“ und „Kriegsgewinnler“ wurden zu diskriminierenden Schlagwörtern. Dazu: Rosenthal, Jacob (2007): „Die Ehre des jüdischen Soldaten“ – Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt a. M./New York. 116

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Dass der Antisemitismus in der öffentlichen Debatte aber auch nicht unwidersprochen blieb, soll abschließend an drei Beispielen gezeigt werden: Zum einen an der Kritik, die ein Aufsatz des Historikers Heinrich von Treitschke hervorrief, zum anderen am Engagement des Historikers Theodor Mommsen gegen den Antisemitismus und drittens an der Positionierung der Sozialdemokraten. Unter dem Titel „Unsere Aussichten“ hatte Treitschke (1834–96) am 15. November 1879 in den „Preußischen Jahrbüchern“ einen Rückblick auf die Außen- und Innenpolitik des Deutschen Reiches veröffentlicht. Gegen Ende dieses Texts argumentierte er gegen die „nationale Sonderexistenz“ der deutschen Juden, durch die er die nationale Einheit bedroht sah. Dabei formulierte er unter anderem „Die Juden sind unser Unglück“ – eine These, die sich später das NSHetzblatt „Der Stürmer“ als ständiges Motto zu eigen machen sollte. Es folgte eine heftige öffentliche Auseinandersetzung um Treitschkes Position, die sich als „Berliner Antisemitismusstreit“ bis 1881 hinzog.118 Darin bezog schließlich Theodor Mommsen (1817–1903), seinerzeit neben Treitschke der bedeutendste deutsche Historiker, eindeutig Stellung gegen seinen Kollegen, wobei er den Antisemitismus nun seinerseits zur nationalen Gefahr erklärte. Auch Mommsens Gegenargumente konnten aber letztlich nicht verhindern, dass Treitschke vor allem in Akademiker- und Studentenkreise immer mehr als Kronzeuge für die Berechtigung des Antisemitismus berufen wurde. Mommsen wiederum war es auch, der 1890 die Gründung eines „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ anregte. Zumindest in Berlin gelang es den Antisemiten vorerst nicht, in Wahlen die Liberalen als Verteidiger der Judenemanzipation zu überflügeln. Mit einer ganz eigenen Argumentation bezog 1893 die SPD auf ihrem Kölner Parteitag Stellung gegen den Antisemitismus. Sie sah in ihm einen einseitig gegen jüdische Kapitalisten konzentrierten Kampf, während die Sozialdemokratie den größeren Zusammenhang zu berücksichtigen habe: den Kampf gegen die Kapitalistenklasse insgesamt. Das „jüdische Ausbeuterthum“ – hier schlägt natürlich die gängige Wortwahl durch – sei nur ein Teil dieser Klasse. In einem längeren Referat unter dem Titel „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ hatte August Bebel am 27. Oktober 1893 die Historie des Antisemitismus dargestellt und einleitend eine Resolution formuliert, die der Parteitag dann auch annahm. Darin heißt es unter anderem: 118

S. dazu: Krieger, Karsten (Hrsg.) (2003): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. 2 Bde. München.

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Die Sozialdemokratie bekämpft den Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwicklung der Gesellschaft gerichtete Bewegung, die jedoch trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihren Willen schließlich revolutionär wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, daß nicht blos der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und daß nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann.119

2.5  Kompensationsversuche für Defizite der Gegenwart

Ob Stilisierung des Mittelalters als Idealepoche oder Überhöhung eines vielfach nur erdachten Germanentums – schon diese Ideologien gehen von sprachlichen Konstruktionen aus, die einer kritischen Überprüfung der darin behaupteten „Realitäten“ nicht hätten standhalten können. Aber man muss darin vor allem die Versuche sehen, das Fehlen einer eigenen, gar demokratischen Tradition zu kompensieren und die mentale Überforderung der Menschen durch die unübersehbare Modernisierung im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung abzufedern. Was früher einmal – angeblich – gegolten hatte, sollte Fundament einer für die Gegenwart und Zukunft tauglichen nationalen Selbstbestimmung werden. Mit der Frage nach einer gemeindeutschen Identität jenseits aller regionalen kulturellen und mentalen Eigenständigkeiten war der Versuch aufs engste verbunden, eine möglichst wissenschaftlich gesicherte Definition des Deutschen schlechthin zu finden. Dabei bot sich ab Mitte des Jahrhunderts die Rassentheorie als neue Wissenschaft an. Für die Entstehung dieser Theorie insgesamt und erst recht für die deutsche Variante wird die Macht der Sprache und einzelner ihrer Symbole überdeutlich. Denn von diesem Konstrukt gingen Impulse für das politische Handeln aus, das von einem leider „normalen“ und keineswegs nur deutschen Antisemitismus über die menschenverachtende Überhöhung der eigenen, der „germanisch-arischen Rasse“ bis hin zur „Herrenrasse“ in die zuletzt massenmörderische Unterdrückung von allem, was als „rassefremd“ galt, münden wird. Die Juden als schon jahrhundertelang unterdrückte Minderheit erhalten dadurch bereits im 19. Jahrhundert einen noch prekäreren Status: als „Rassefeinde“. Schließlich konnten sie sogar schließlich zur „Gegenrasse“ erklärt werden.

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Bebels Resolution und Rede in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1893: 223–237.

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3  Positionen der Freiheits- und Nationalbewegung im Vormärz 3.1  Das Wartburgfest von 1817 99 |  3.2  Das Hambacher Fest von 1832 103 |  3.3  Der Frankfurter Wachensturm 1833 110 |  3.4  Der „Hessische Landbote“ 1834 112 |  3.5  Die Protestation der „Göttinger Sieben“ 1837 114 |  3.6  Das sogenannte Junge Deutschland 117 |  3.7 Politische Lyrik im Vormärz 124 |  3.8  Der Aufbruch in eine neue öffentliche Kommunikation 137

Der „Vormärz“, die Zeit nach Gründung des Deutschen Bundes (1815) bis zur „Märzrevolution“ 1848120, stellte für die Zukunft zentraler Leitbilder der Opposition eine entscheidende Phase kritischer Prüfung und Konkretisierung dar. Auch wenn es bis 1848 so gut wie keine einheitliche Linie für das Vorgehen, erst recht keine zentrale Lenkung der Opposition gab und vieles nur als abstrakte Vision artikuliert wurde, begründete die Summe aller Manifestationen, einschließlich der eher zurückhaltenden Positionen, die nur Reformen anstrebten, eine immer stärkere allgemeine Politisierung, die durch eine wachsende Zahl von Zeitungen und Zeitschriften zugleich gespiegelt und gefördert wurde. Die Presse wurde in dieser Zeit zum Massenmedium. Dabei dürfen aber die zahlreichen Journale nicht übersehen werden, die mit teilweise harmlos klingenden Titeln für die Verbreitung der neuen politischen Ideen sorgten. So trug etwa Heinrich Laube ab 1832 seine revolutionären Ansichten in der „Zeitung für die elegante Welt“ vor, oder Karl Gutzkow publizierte seine Beiträge mit Kritik am politischen, sozialen und religiösen Zustand Deutschlands unter anderem im Cotta’schen „Morgenblatt für gebildete Stände“. Ein wichtiger Umschlagplatz für gedruckte Informationen waren vor allem in Berlin „Lesecabinette“, in denen zensierte, aber auch unzensierte Zeitungen zur Verfügung standen. Nicht zu vergessen die illegal verbreiteten Flugblätter und Flugschriften, aber auch tagespolitischen Lieder, die insbesondere mit der „Märzrevolution“ 1848 eine besondere Funktion erhielten. Durch sie gelang die schnellste Kommunikation über tagesaktuelle Ereignisse und deren politische Kommentierung. Die traditionellen Ordnungen galten dem politisch aktiven Teil der Bevölkerung grundsätzlich als überlebt, an ihre Stelle sollte unbedingt etwas Neues treten, wie immer es im Konkreten auch aussehen würde. Die sprachlichen Symbole, insbesondere das Leitbild „Freiheit“, blieben dabei unverzichtbare Fahnenwörter, konnten aber auch – wie selbstkritische Stimmen feststellen mussten – zu bloßen Schlagwörtern absinken. Die Schlüsselwörter des Leitbilds 120

Der Begriff „Vormärz“ ist natürlich erst nachträglich aufgekommen und wird oft auf einen engeren Zeitraum, etwa auf die Jahre nach 1830 oder erst nach 1840, angewendet.

Positionen im Vormärz  |

deutscher Einheit, „Volk“, „Vaterland“, „Nation“, waren nach wie vor Begriffe, die für eine noch nicht erreichte, aber heftig herbeigewünschte Realität standen. Das weite Spektrum der oppositionellen Positionen im Vormärz reichte von gemäßigten Stellungnahmen, in denen beim Wartburgfest von 1817 sogar noch gefordert wurde, die Fürstenwürde als „das Heiligste zu ehren und zu achten“, bis zu direkten Aufforderungen zum revolutionären Umsturz, der in einem Fall, dem „Frankfurter Wachensturm“ von 1833, auch versucht wurde. In der politischen Lyrik wird „Revolution“ immer häufiger als unabdingbare Zukunftsperspektive beschworen. Einzelne Stimmen der Opposition distanzieren sich dagegen ausdrücklich von den Ideen der Französischen Revolution, so auf dem Hambacher Fest 1832 oder in der Rechtfertigungsschrift zur „Protestation“ der Göttinger Sieben 1837. Für die Zeit bis 1848 ist der häufige Ruf nach „Einigkeit“, gerade im Hinblick auf die stark divergierenden Vorstellungen von der angestrebten staatlichen Einheit und ihrer sozialen Ordnung, geradezu kennzeichnend.

3.1  Das Wartburgfest von 1817 „unser gemeinsames Streben, Ein Volk zu werden“

1817, zwei Jahre nach Gründung des Deutschen Bundes und zwei Jahre vor den Karlsbader Beschlüssen, lud die Jenaer Burschenschaft zum 18.  Oktober zu einer Feier auf der Wartburg bei Eisenach, zum sogenannten Wartburgfest. An dieser historischen Stätte sollte des 300. Jahrestags des Reformationsbeginns von 1517, der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen, und des 4. Jahrestags der Völkerschlacht bei Leipzig von 1813 gedacht werden. Beide Gedenkanlässe waren für sich gesehen politisch keineswegs anstößig, den Studenten aber galten sie als historische Daten nationaler Befreiung, einerseits einer religiösen und geistigen, andererseits einer politischen Befreiung durch die militärische Überwindung Napoleons. Der Einladung folgten Studenten, auch Professoren von zwölf deutschen Universitäten. Die Zahl der Beteiligten lag zwischen 500 und 700, die studentischen Teilnehmer machten aber immerhin etwa ein Achtel aller Studierenden in Deutschland aus. Es beteiligten sich im Übrigen auch etliche Polen, die ebenfalls gegen Unterdrückung, in ihrem geteilten und politisch entrechteten Land, demonstrierten. Das Staatsministerium von Sachsen-Weimar-Eisenach hatte das Treffen genehmigt. Der Großherzog Carl-August, Goethes Freund und Gönner, musste

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sich wegen des Verlaufs des Treffens und seiner Folgen von Metternich als „Altbursche“ beschimpfen lassen, aber auch der preußische König reagierte empört. Carl August wurde unter anderem gezwungen, die Zeitung der Jenaer Burschenschaft zu verbieten und die beteiligten Professoren verhören zu lassen. Allerdings war es am Rande des Festes auf dem benachbarten Wartenberg zu einer inoffiziellen Aktion gekommen, als Teilnehmer in Anlehnung an die Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle durch Luther (1520) Bücher, die als reaktionär galten, aber auch militärische Symbole als Zeichen feudaler Unterdrückung verbrannten.121 Teilnehmer war auch Karl Ludwig Sand, der zwei Jahre später den Dichter Kotzebue ermorden wird. Schon die politischen „Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober“, die im Anschluss an das Treffen als Programm zusammengefasst wurden, mussten die Repräsentanten des Deutschen Bundes alarmieren. Dieses Programm wurde überdies durch Abschriften in ganz Deutschland bekannt.122 Oberster Grundsatz war: „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.“ Daraus leiteten sich weitere Forderungen nach Einheit auf allen Ebenen ab, sogar sehr konkret die Vereinheitlichung von Maßen, Gewichten und Münzen. Geradezu selbstverständlich wurde die Abschaffung der „geheimen Polizei“ verlangt. Aus dem Grundsatz „Freiheit und Gleichheit ist das Höchste, wonach wir zu streben haben“, ergab sich auch die Forderung nach der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Es müsse eine Volksvertretung geben, vor der sich Minister zu verantworten hätten. Aber am monarchischen Prinzip wurde trotzdem nicht gerüttelt, auch wenn die Monarchie als konstitutionelle in eine Verfassung eingebunden sein sollte. Denn – so wird ausdrücklich formuliert – „die Fürstenwürde ist das Erhabenste auf Erden und darum für das Heiligste zu ehren und zu achten“. Es blieb dabei natürlich ein Widerspruch zu anderen Forderungen, nicht zuletzt der nach Abschaffung der Geburtsvorrechte. Die Reden selbst, die am 18. Oktober gehalten wurden, waren nach heutigem Verständnis weniger revolutionär. Auch einer der mitanwesenden Jenaer Professoren, Jakob Friedrich Fries, äußerte sich in seinen Beiträgen sehr allgemein. Schon die Begrüßungsrede, die der Jenaer Theologiestudent Heinrich Hermann (alias

Die Liste der Bücher und Gegenstände, darunter auch Hallers „Restauration der Staats-Wissenschaft“ in: Maßmann (1817): 37 ff. 122 Dazu: Wessel, Klaus (Hrsg.) (1954): Das Wartburgfest der Deutschen Burschenschaft am 18. Oktober 1817. Eisenach; Krauß, Jutta (2011): Das Wartburgfest der deutschen Burschenschaft. Regensburg: 32 f. 121

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„Arminius“) Riemann, ein Mitbegründer der Jenaer Burschenschaft123, hielt, war sehr moderat und politisch wenig konkret: Riemann will die „Sprache eines Herzens“ sprechen und keine rhetorisch kunstvolle Rede vortragen. Dafür sind seine Worte eher gefühlsbetont, er beschließt sie obendrein mit einem Gebet, einem Segen und mit „Amen“. Schon in der Einladung hatten die Organisatoren für „unser gemeinsames Streben, Ein Volk zu werden“, den Segen des Himmels erfleht. Die Losung „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben“ und erst recht die Formulierung „Ein Volk zu werden“, manifestieren, wie sehr „ein Deutschland“ und „ein Volk“ noch keine Realität sind, sondern Wünsche an die Zukunft darstellen. Wie in anderen Reden findet freilich die französisch-revolutionäre Maxime der „fraternité“ auch bei Riemann ihren Widerhall. Er charakterisiert die Teilnehmer als „Brüder“, auch als „freie Brüder“. Er benutzt dabei ebenso die Schlüsselbegriffe „Freiheit“ und „Vaterland“, auch „Deutsches Vaterland“, doch konkrete Wege zu einer politischen Neuordnung zeigt er nicht auf. Eher scheint er noch zu hoffen, dass die deutschen Fürsten selbst ihre „vaterländische“ Pflicht erkennen und wahrnehmen. Wie schon im 18. Jahrhundert werden dem religiösen Sprachgebrauch lexikalische Elemente entlehnt, um dem eigentlich diesseitigen Gegenstand eine höhere Weihe zu verleihen. Riemann beschwört etwa den „heiligen Willen Eures Gemüthes für des Vaterlandes Wohl“. Auch dem Versammlungsort, der Wartburg, spricht er in der Umschreibung „die heiligen Mauern“ den Status der Heiligkeit zu – insgesamt einer der Belege für die Sakralisierung weltlicher, bürgerlicher Ansprüche gegen die gleichzeitig geltenden monarchischen Berufungen auf eine transzendental begründete Autorität. Sehr viel expressiver, wenn auch kaum konkreter war die Rede eines anderen Theologiestudenten, Georg Ludwig Rödiger, die am Abend des 18. Oktober gehalten wurde.124 Im Pathos dieser Rede klingt gleichsam der Stil des Sturm und Drang nach, etwa in Formulierungen wie „Kaum aufgedonnert zum Licht der Sonne, gähnt die Nacht des Grabes wieder auf; doch uns soll sie nicht verschlingen. Aber es ist hohe Zeit, daß die Jünglinge gedenken der Hermannszeit und der letzten Heldentage, und sich aufraffen mit Begeisterung.“125 Kieser (1818): 104 ff. – S. auch: Maßmann (1817); Wesselhöft, Robert: Geschichte der Jenaischen Burschenschaft. In: Malettke (wie Anm. 26): 233–362. 124 Kieser (1818): 114 ff. 125 Ebda.: 124. – „Hermannszeit“ spielt an auf den Germanenführer „Hermann“ (= Arminius), der die Römer besiegte, „Heldentage“ auf die Befreiungskriege 1813–15. 123

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Ein solcher Sprachstil entspringt freilich keiner nur-individuellen Motivation, sondern ist, nicht nur bei Theologen, die Folge einer sehr langen Einübung in öffentliche Rede nach dem Muster von Predigten. Die Predigt war jahrhundertelang die einzige öffentliche Textsorte, die Breitenwirkung haben konnte. Daneben gab es mangels Gelegenheiten für Bürger so gut wie keine anderen rhetorischen Vorbilder, an denen man sich hätte orientieren oder die man selbst hätte praktizieren können. Bei Rödiger und anderen Rednern entdeckt man inhaltlich auch Belege für die frühe Überbewertung des neu gewonnenen Begriffs von „Deutschtum“, bei Rödiger heißt es wie schon bei Fichte „Deutschheit“: Was ist aber das Deutsche, was wir wollen in Sprache und Sitte? Nicht das gedankenlose Prunken mit Tugenden, die so mehr abbleichen, als man sie nach außen kehrt, nicht der leere Klang des Namens. Ungesucht entfaltet sich das Volksthümliche, wie eine unsichtbare Blume; das Volk hat dabei nur das schöne Lob, daß es das Natürliche in seiner Kraft und Keuschheit bewahre. Suchen wir daher nicht in Büchern auf, was volksthümlich sei, sondern machen wir uns unabhängig von fremder modischer Bildung und von dem unseligen Hang, alle Schattirungen menschlichen Thuns und Wesens in unserm Vaterlande bunt zu wiederholen, und seien so lebendige Vorbilder der Deutschheit, die nicht blos auf der Haut sitzt, sondern im Mark des Lebens.126

Hier wird – aus dem zeitbedingt verständlichen Streben, sich von politischer und kultureller Fremdbestimmung erst einmal zu befreien – die Besinnung auf das Eigene so sehr betont, dass bei sich steigernder Konzentration auf das Eigene, auf die „Deutschheit“, auf Dauer das Fremde, alles Nichtdeutsche notwendigerweise abgewertet werden musste, ja die Besonderheit des Eigenen, die angeblich sogar „im Mark des Lebens“ verankert ist, gründet sich mangels nachvollziehbarer positiver Bestimmungen mehr und mehr auf die Abgrenzung gegen das Nicht-Eigene. Das ist die Kehrseite des Nationalgedankens, der zunächst noch fortschrittlich war, als er die engen Grenzen innerer, „provinzieller“ Spaltungen überwinden wollte. Alles in allem aber geht es um Beschwörungen einer erst noch zu erreichenden nationalen Zukunft.

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Ebda.: 123 (.Kursive = Sperrung i. Orig.)

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3.2  Das Hambacher Fest von 1832 „Deutschlands Wiedergeburt“

Die von den Karlsbader Beschlüssen verordnete „innere Ruhe“ hielt äußerlich mehr oder weniger bis 1830. Im Juli dieses Jahres jedoch löste wieder einmal ein revolutionäres Ereignis in Paris eine auch Deutschland erfassende europäische Kettenreaktion aus. In der sogenannten Julirevolution von Paris wurde der letzte Bourbone auf dem Thron, König Karl X., gestürzt und durch den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe von Orléans ersetzt. Gegenstand der Erhebung waren die immer häufigeren Verstöße Karls gegen die geltende Verfassung, die er zuletzt sogar ganz aufheben wollte. Louis-Philippe wurde am 4. August 1830 als „König von Gottes Gnaden und dem Willen des Volkes“ inthronisiert – eine spektakuläre Gleichrangigkeit religiöser und demokratischer Legitimation. Diese liberale Wende stimulierte die Polen, im sogenannten Novemberaufstand gegen die russische Herrschaft zu rebellieren. Der Süden der Niederlande erhob sich gegen die Herrschaft des Nordens und konstituierte sich als eigener Staat „Belgien“, der sich dabei eine außerordentlich freiheitliche Verfassung gab. Belgien, insbesondere Brüssel, wurde darum auch für politisch verfolgte Deutsche zu einem bevorzugten Zufluchtsland. Unruhen und Aufstände gab es ebenso in italienischen Staaten, sogar im Kirchenstaat, und nicht zuletzt in mehreren Staaten des Deutschen Bundes, wobei wie in Frankreich auch soziale Motive eine wichtige Rolle spielten. Dort wie hier wurden erstmals auch Angehörige des bis dahin kaum in Erscheinung getretenen „Vierten Standes“ aktiv. Wie weit die französischen Ereignisse zu einer zunächst noch sehr unspezifischen Politisierung vieler Deutscher führten, beweisen manche der Unruhen, die aus inhaltlich sehr begrenzten Anlässen entstanden, etwa der Aufruhr der Berliner Schneider im September 1830. Er wurde von polizeilichen Willkürmaßnahmen gegen einige Zunftgenossen ausgelöst, entwickelte sich dann aber zu einer Demonstration für Freiheit und Gleichheit, bei der es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht kam. Deswegen wird dieser Aufruhr auch immer wieder einmal „Schneiderrevolution“ genannt.127 Im Spätsommer 1830 waren auch im Herzogtum Braunschweig neben politischen Gründen im engeren Sinne soziale Motive, insbesondere die Folgen einer Missernte und Arbeitslosigkeit, Auslöser der Rebellion gegen den extrem autori127

Mieck, Ilja: Von der Reformzeit zur Revolution (1806–1847). In: Ribbe, Wolfgang (Hrsg.) (1987): Geschichte Berlins. Bd. 1. München: 405 ff.

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tär und verschwenderisch regierenden Herzog von Braunschweig Karl II. Am 7. September 1830 wurde das Schloss zu Braunschweig niedergebrannt und der Herzog zur Flucht in die Schweiz gezwungen. Nach längeren Auseinandersetzungen um Karls Abdankung, die auch im Deutschen Bund verhandelt wurde, trat sein Bruder Wilhelm am 20. April 1831 auch offiziell die Nachfolge an.128 Die 1832 eingeführte „Neue Landschaftsordnung“ bestätigte indes weitgehend den altständischen Zuschnitt der Staatsverfassung. Auch im Kurfürstentum Hessen hatten sich soziale Probleme in zahlreichen Unruhen entladen, was am 15. September 1830 zur dringenden Forderung der Kasseler Bürgerschaft an den Kurfürsten Wilhelm II. führte, die Landstände einzuberufen. Wilhelm ging, um eine Eskalation zu vermeiden, darauf ein, und es gelang dem Landtag in relativ kurzer Zeit, eine Verfassung auszuarbeiten, die bereits am 5. Januar 1831 verkündet werden konnte. Innerhalb des Deutschen Bundes galt sie damals als die liberalste.129 1831 musste im Königreich Sachsen bei mehreren Unruhen sogar Militär eingesetzt werden, so in Leipzig, aber auch in der Hauptstadt Dresden. Dort hatte sich ein politischer „Bürgerverein“ gebildet, der einen radikal-demokratischen Verfassungsentwurf mit dem Titel „Constitution, wie sie das sächsische Volk will“ proklamierte. Wie aufgeheizt die Stimmung war, lässt sich an einer Warnung auf dem Titelblatt erkennen: „Und wird sie [die „Constitution“] nicht gewährt, so pochen wir mit den Flintenkolben an.“ Unabhängig davon hatte aber der altständische Landtag eine moderatere Verfassung beraten, die König Anton der Gütige schließlich akzeptierte und die am 4. September 1831 in Kraft trat. Durch sie wurde Sachsen eine konstitutionelle Monarchie.130 Die nicht nur politisch, sondern auch sozial und kulturell höchst disparate Situation Deutschlands war von vornherein ein großes Hemmnis, zu einem für das ganze Land gültigen Programm einer grundlegenden Umgestaltung zu gelangen. Dies ist auch der Grund, warum sich schon auf der Wartburg 1817 die Forderungen nach einem politischen Wandel vielfach in wenig konkreten rhetorischen Aufschwüngen erschöpften. Zunächst wichtiger als ein konkreter Fahrplan für ein neues Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt sicher die geistige Deeters, Walter (1977): Karl II., Herzog von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 11: 226. 129 Starck, Christian (2007): Die kurhessische Verfassung von 1831 im Rahmen des deutschen Konstitutionalismus. Kassel. 130 Matzerat, Josef (2005): „Letzte landständische Pflicht“ – Die sächsische Verfassungsfeier des Jahres 1831. In: Landtagskurier Freistaat Sachsen 3/2005. Dresden: 16–18. 128

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Selbstvergewisserung und eine Gemeinschaftserfahrung der Teilnehmer, die aus allen deutschen Regionen131 gekommen waren und teilweise zum ersten Mal selbst wahrnehmen konnten, dass es politische Haltungen und Zukunftsvisionen gab, die über die zahlreichen innerdeutschen Grenzen hinweg galten. In gewisser Weise gilt dies auch für das sehr viel größere Fest der Freiheitsund Nationalbewegung, das am 27. Juni 1832 an der Schlossruine von Hambach bei Neustadt an der Haardt Tausende Männer und Frauen, wiederum aus vielen deutschen Teilstaaten, aber auch Polen, Franzosen und Engländer versammeln konnte. In der Einladung eines der Organisatoren, des Journalisten Johann Georg August Wirth (1798–1848), hieß es denn auch: „Kommet Alle herbei zu friedlicher Besprechung, inniger Erkennung, entschlossener Verbrüderung für die großen Interessen, denen ihr eure Liebe, denen ihr eure Kraft geweiht.“132 Die Programmschrift nannte die Zusammenkunft zunächst noch vorsichtig „Maifest“; der vorgebliche Volksfestcharakter sollte einem Verbot vorbeugen. Die Einladung sprach davon, dass kein Siegesfest, sondern vorerst nur „ein Fest der Hoffnung“ zu feiern sei, weil „für den Deutschen [...] die grossen Ereignisse noch im Keim“ lägen. Nicht gilt es [das Fest] dem Errungenen, sondern dem zu Erringenden, nicht dem ruhmvollen Sieg, sondern dem mannhaften Kampf, dem Kampfe für Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscher Nationalwürde.133

Allein solche zunächst nur rhetorischen Visionen, die sich im zentralen Motto von „Deutschlands Wiedergeburt“ verdichteten – man zeigte sie neben vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen und Schärpen auf einem eigenen Banner – bewogen die bayerische Regierung der Rheinpfalz („Rheinbaiern“134) zu allerlei Versuchen, das Fest zu verhindern bis hin zur Anordnung, dass Fremden der Zugang zur Stadt Neustadt und Umgebung verboten sei, oder zu dem Plan, die Schlossruine rechtzeitig von Militär besetzen zu lassen. Dabei ging es, als am 27. Mai dann doch eine machtvolle Prozession mit rund 30.000 Teilnehmern135 Offenbar um die offiziellen Namen der Bundesstaaten zu vermeiden, mit deren Nennung man womöglich die restaurativen Strukturen des Deutschen Bundes anerkannt hätte, wird immer wieder nur von „deutschen Gauen“, „Stämmen“ und „Bruderstämmen“ gesprochen. 132 Wirth (1832). Bd. 1: 6. 133 Ebda.: 5. 134 1816 hatte Österreich die linksrheinischen Gebiete des „Rheinkreises“ an Bayern abgetreten. 135 Schon am Tag zuvor hatte sich u.a. Ludwig Börne eingefunden. Auch weitere bekannte Schriftsteller wie Fritz Reuter nahmen am Hambacher Fest teil. 131

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den Schlossberg erreichen konnte, bis auf eine Ausnahme in keiner Rede und in keinem der zahlreichen Lieder um konkrete Umsturzpläne, sondern um zwar inbrünstig vorgetragene, aber doch noch sehr allgemein gehaltene Hoffnungen auf eine bessere deutsche Zukunft. Bereits in der Eröffnungsrede des Arztes und Botanikers Philipp Hepp wurde formuliert, was während des Festes in unzähligen Variationen, in weiteren Reden und Grußadressen, wiederholt wurde: Nur Einheit des Willens und des Handelns bei allen deutschen Stämmen, Erstarkung und Kräftigung des Volksgeistes und bei jedem Einzelnen der Entschluß für die heilige Sache des Vaterlandes jedes Opfer zu bringen, sind darum die Mittel – die Schmach zu tilgen, die auf unserem Vaterlande lastet.136

Hepp schloss seine Rede mit den Hochrufen „Es lebe Deutschlands Einheit! Deutschlands Freiheit – und durch sie, Deutschlands Wiedergeburt!“137 Er hätte durchaus Grund und Anlass gehabt, auf „Deutschlands Freiheit“ konkreter einzugehen. Denn er war Vorsitzender des Neustädter Zweigs des „Preß- und Vaterlandsvereins“138, der sich zu Recht Sorgen um die Pressefreiheit in der Rheinpfalz machte. Aber es ging eben zunächst einmal um eine emotionale Werbung, um „heilige Begeisterung“ für die nationale Sache oder – um einen anderen Redner zu zitieren – für „die heilige Sache des theuern teutschen Vaterlands“. Es gab kaum einen Aspekt der nationalen Selbstbesinnung auf diesem Fest, dem nicht das Attribut „heilig“ zugesprochen worden wäre. Das war gleichsam das bürgerliche Pendant zum Anspruch der Fürstenbündnisse Deutscher Bund und Heilige Allianz, im Einklang mit der „allerheiligsten“ bzw. „heiligen Dreieinigkeit“ zu stehen.139 Die Inanspruchnahme transzendentaler Autorität für höchst irdische Themen war, wie bereits bemerkt, schon im 18. Jahrhundert – gegen alle sonstige Säkularisation – in Schwung gekommen und wurde noch im 20. Jahrhundert traktiert. Aber bürgerliche Redner waren, wie schon anlässlich des Wartburgfests gesehen, auch wenn sie keine Theologen waren, insgesamt von dem bis dahin dominierenden Stil von Predigten geprägt. Emotionalisierung wie Pathos waren darin Wirth (1832). Bd. 1: 30. Ebda.: 31. – Bereits 1817 hatte Heinrich Hermann Riemann das Treffen auf der Wartburg ein „Wiedergeburtsfest des freien Gedankens“ genannt. 138 Offizieller Name „Deutscher Vaterlandsverein zur Unterstützung der Freien Presse“, am 21.2.1832 auf Anregung von Johann Georg Wirth gegründet. 139 Dazu: Teil 2, 1.2. 136 137

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normal und wurden gern in weltliche Rede übernommen. Das konnte sogar zu Nachahmungen biblischen Sprachgebrauchs führen, wie unter anderem schon in der zweiten Rede des Hambacher Fests nachzuweisen ist. Sie wurde von dem Mitorganisator des Fests, dem Journalisten Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789– 1845) gehalten. Darin gibt dieser eine ausführliche Deutung des Festgedankens, den er in der Einladung selbst schon kurz formuliert hatte. Aber auch in dieser schwungvollen, von poetischen Bildern überquellenden Exegese des Feiermottos „Deutschlands Wiedergeburt“ geht es um nicht viel anderes als um eine letztlich pauschale Gegenüberstellung der schmachvollen Situation aristokratischer Unterdrückung und den hochfliegenden Hoffnungen auf eine Befreiung des Vaterlands. Die Herrschaft der Monarchen gilt Siebenpfeiffer als „sündenvolle Nacht“, die der „Gottesfunke der Liebe zum Vaterland, zur Freiheit“ besiegen wird. Einer biblischen Prophezeiung ähnlich leitet der Redner die Ankündigung einer besseren Zukunft mit dem Satz ein: „Und es wird kommen der Tag, der Tag des edelsten Siegstolzes.“140 Der Mitinitiator des Fests, Wirth, Anreger und Mitbegründer des „Preß- und Vaterlandsvereins“, leitet in seiner Rede einen Fluch über alle Verräter, womit er vornehmlich die Könige meint, mit der Redeformel Jesu „Wahrlich, ich sage euch ...“ ein.141 Er spricht vom „Reich der Finsternis“ und vom „gottbegeisterten Kampf für das Vaterland, für unser angebetetes, dreimal herrliches Deutschland“. Ein späterer Redner, Karl Heinrich Brüggemann, wird das Hambacher Treffen zum „Auferstehungsfest meines Volkes“ erklären. Indes wird in keinem Beitrag näher erläutert, welche nationalpolitisch akzeptable Epoche der deutschen Geschichte einer „Wiedergeburt“ oder „Auferstehung“ würdig gewesen wäre, war die deutsche Geschichte doch nach Überzeugung der Opposition jahrhundertelang von Fürsten, also von grundsätzlich als „Unterdrücker“ Verachteten geprägt gewesen. So ernsthaft Anleihen bei einem religiösen Sprachgebrauch auch vorgetragen werden: zum kirchlich verfassten Christentum gingen einzelne Redner deutlich auf Distanz; denn sie beargwöhnten mit einigem Recht die Nähe insbesondere der katholischen Kirche zur politischen Restauration. Spanien sei – so etwa Wirth anlässlich einer Tour d’Horizon durch die politischen Verhältnisse in Europa – unter das „Messer fanatischer Priester“ geraten, Jesuiten sind ihm gleich verhasst wie Aristokraten. Siebenpfeiffer macht aus seiner Einstellung zum Papsttum kein Hehl, wenn er gelegentlich der Erwähnung Frankfurts feststellt, diese Stadt sei „der Sitz des Bundestags, der Sitz des politischen Vatikans, 140 141

Wirth (1832). Bd. 1: 37. Ebda.: 43.

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aus welchem der Bannstrahl herabzuckt, wo irgend ein freier, ein deutscher Gedanke sich hervorwagt“.142 Der seit der Reformation in protestantischen Kreisen gepflegte Gegensatz Deutschland kontra Rom lässt dagegen Martin Luther, wie schon auf der Wartburg 1817, zum gefeierten Verfechter nationaler Interessen erscheinen. Siebenpfeiffer lässt am Ende seiner Rede außer „das freie, das einige Deutschland“ auch die „Polen, der Deutschen Verbündete“, danach die „Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten“ hochleben – zumindest eine Verbeugung vor den Gästen, den Polen, die auf diesem Fest selbst noch mehrfach zu Wort kommen, und vor den Franzosen, „Franken“ genannt. Ziemlich unsensibel lässt Wirth in seinen anschließenden Versuch, einen – im Übrigen weitsichtigen – Überblick über Entwicklungsmöglichkeiten eines von der Restauration befreiten Europas zu geben, antifranzösische Töne einfließen, die sich auf die negativen Erfahrungen mit der Expansionspolitik Frankreichs stützen. Die „Begierde nach dem linken Rheinufer“ sei „der großen Mehrheit des französischen Volkes doch so sehr zur andern Natur geworden ...“ Er zieht aus seinen Überlegungen den um die Solidarität aller freiheitsliebenden Europäer besorgten Festteilnehmern schockierenden, aber keineswegs unrealistischen Schluss: „Von Frankreich haben wir daher in dem Kampfe um unser Vaterland wenig oder keine Hülfe zu erwarten.“143 Spontan ergriff nach Wirths Ausführungen einer der französischen Gäste, Lucien Rey aus Straßburg, auf Französisch das Wort und wies die Argumentation Wirths entschieden zurück144 – eine letztlich peinliche Unterbrechung des Hambacher Unisonos deutscher Selbstreflexion. Es muss der Spekulation überlassen bleiben, welche Gefühle bei anwesenden Franzosen das neben vielen anderen Gesängen begeistert gesungene Lied von E. M. Arndt „Was ist des Deutschen Vaterland?“ ausgelöst hat, worin es ja doch hieß: „Das ist des Deutschen Vaterland, / wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / wo jeder Franzmann heißet Feind ...“ Derlei Misstöne wurden von der Woge allgemeiner Begeisterung für die Freiheitsparolen offenbar leicht hinweggespült. Aber Arndts Lied wurde auch bei vielen anderen Gelegenheiten begeistert weitergesungen und noch im Paulskirchenparlament 1848 unter allgemeiner Zustimmung hoch gelobt. Wirth selbst hatte seine Rede auf Schloss Hambach dann doch noch mit einem

Ebda.: 35. Ebda.: 45. 144 Ebda.: 49–54, mit deutscher Übersetzung. 142 143

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auch die Franzosen besänftigenden dreifachen „Hoch“ auf das „conföderirte republikanische Europa!“ beendet – auch dies natürlich nur eine Zukunftsvision. So deutlich auf Hambach artikuliert wurde, wogegen man sei, so unpräzise waren auch hier die Vorstellungen, wie konkret man die Umgestaltung Deutschlands angehen wollte. Zum Abschluss seines Berichts über das Hambacher Fest nennt Wirth zwar einige Möglichkeiten, durch die Presse, öffentliche Reden oder „andere erlaubte Belehrungsmittel die öffentliche Meinung aller deutschen Volksstämme zu gewinnen“145, aber die Hoffnung auf „Einwilligung der Regierenden zur Durchführung der Reform“ und die Konjunktivform weiterer Äußerungen zur politischen Zukunft sind nicht gerade ein Zeichen von selbstsicherer Entschlossenheit. „Wir wollen keine Revolution“, hatte denn auch einer der Redner, der Kaufmann Friedrich Deidesheimer, ausdrücklich erklärt.146 Immer wieder einmal war nur von „Reform“, von „deutscher Reform“, auch von einer „Grundreform“ die Rede. Zur moderaten Haltung dieser Rede passt denn auch der abschließende „Wahlspruch“ Deidesheimers: „Es lebe die Freiheit – Es lebe die Ordnung“.147 Insofern fiel ein Frankenthaler Bürger namens Becker mit seinem Beitrag gleichsam aus dem Rahmen, als er unverhohlen erklärte: Es bleibt klar, daß nur die Waffen der Bürger vor solchem Unheil [das von den Herrschenden ausgeht] das Vaterland bewahren, daß nur bewaffnete Bürger competente Richter gegen Laune und Willkür seyn würden: – Die Deutschen sind Sklaven, seitdem der Bürger keine Waffe mehr trägt.148

Auch beim Versuch, am nächsten Tag, dem 28. Juni, im kleineren Kreis aus zuvor gewählten Abgeordneten einen „Nationalconvent“ als mögliche Gegenregierung zu bilden, wurde der Vorschlag „loszuschlagen“ abgelehnt. Aber schon die Kritik an den herrschenden politischen Zuständen war für die Behörden Grund genug, die Veranstalter strafrechtlich zu belangen. Die Organisatoren und manche der Redner wurden verhaftet oder zur Flucht ins Ausland gezwungen. Per Bundesgesetz wurden am 5. Juli 1832 die Vereins- und Versammlungsfreiheit wieder aufgehoben und die liberale Presse verboten. Der Preß- und Vaterlandsverein arbeitete jedoch im Untergrund weiter.

Ebda. Bd. 2: 100. Ebda. Bd. 1: 84. 147 Ebda.: 85. 148 Ebda.: 87. 145 146

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Das Hambacher Motto von Deutschlands „Wiedergeburt“ war nur eine von vielen verbalen Varianten des weitverbreiteten Wunsches, eine bessere politische Zukunft möge die (angeblich) bessere Vergangenheit wieder in ihr Recht setzen, die alte deutsche Herrlichkeit möge „wiedererstehen“. Büchners „Hessischer Landbote“ wird zwei Jahre später für diese Hoffnung sogar diese (pseudo)biblische Formulierung finden: … daß der Allmächtige, der aus der Einöde ein Paradies schaffen kann, auch ein Land des Jammers und des Elends wieder in ein Paradies umschaffen kann, wie unser teuerwertes Deutschland war, bis seine Fürsten es zerfleischten und schunden.

Worin aber bestand in der deutschen Vergangenheit ein solches „Paradies“, das es wert war, wiederhergestellt zu werden? Diese Frage konnte von den Freiheitsaktivisten nie überzeugend geklärt werden; stattdessen schossen vielfach historisch unhaltbare Spekulationen ins Kraut, die aber von großer Wirkung auf die Formierung des deutschen Nationalbewusstseins waren.

3.3  Der Frankfurter Wachensturm 1833 „Es lebe die Freiheit! Zu den Waffen!“

In einigen der vielerorts stattfindenden Sympathiekundgebungen für die „Hambacher“, die zur Tarnung oft ebenfalls als Feste organisiert waren, wurden dann tatsächlich Pläne für einen gewaltsamen Sturz der verhassten Strukturen des Deutschen Bundes geschmiedet. Auftrieb erhielten diese Kräfte durch eine Entschließung des Stuttgarter Burschentags zu Weihnachten 1832, dass ein revolutionärer Umsturz für die Einheit und Freiheit Deutschlands in jedem Fall und bald erfolgen müsse. Nicht zuletzt in Reaktion auf die verschärften Verfolgungsmaßnahmen des Deutschen Bundes nach dem Hambacher Fest entschloss sich eine Gruppe von etwa fünfzig Aufständischen, hauptsächlich Burschenschafter aus Heidelberg, Göttingen, Erlangen und Würzburg, in Frankfurt am Main, dem Sitz der Bundesversammlung, eine bewaffnete Aktion zu wagen, in der Hoffnung, damit eine allgemeine Volkserhebung auszulösen (Teil 2, 2.2).149 Ihr erstes Ziel war die 149

Dazu: Schmidt (2011); Schenk, Hans: Der Frankfurter Wachensturm. In: Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (1998): Hessen 1848. Zur Vorgeschichte der Revolution. Wiesbaden: 41–51.

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Besetzung der Frankfurter Hauptwache und Konstablerwache, der beiden Militär- und Polizeiposten, die in der Nähe des Tagungsorts der Bundesversammlung, des Palais der Fürsten von Thurn und Taxis, lagen. Danach sollten das Palais gestürmt, die Bundestagsgesandten verhaftet und die Bundeskasse konfisziert werden. Am Abend des 3. April 1833 kam es zum Sturm auf die Wachen, es gab zehn Tote und etliche Verwundete. Doch da der Plan verraten worden war, scheiterte das Unternehmen. Noch nicht einmal in Frankfurt selbst kam es zum Aufstand, obwohl sich nicht wenige Bürger von den Aufständischen hatten bewaffnen lassen. Selbst etliche der in der Konstablerwache befreiten Gefangenen verweigerten sich einer Kooperation mit ihren Befreiern.150 Der Frankfurter Gesandte beim Bundestag, Johann Christian Thomas, hob in einem insgesamt beschwichtigenden Vortrag vor der Bundesversammlung am nächsten Tag, dem 4. April151, darauf ab, dass „die verwundeten und verhafteten Personen beinahe ohne Ausnahme fremde Studenten“ gewesen seien und dass „das ganze Unternehmen [...] sich als einen von außen gemachten Versuch“ dargestellt habe, „die Stadt mittelst der Befreiung der Gefangenen in Aufruhr zu versetzen“. Die Frankfurter Bevölkerung selbst sei im Übrigen besonnen und ruhig geblieben, eine Theatervorstellung152 in der Nähe der Hauptwache hätte sogar ungestört zu Ende geführt werden können. Gleichwohl musste die Freie Stadt Frankfurt eine Bundesexekution über sich ergehen lassen. 2000 österreichische und preußische Soldaten wurden von der Bundesfestung Mainz nach Frankfurt verlegt. Man hat den Akteuren dieses ersten ernsthaften Umsturzversuchs häufig vorgeworfen, allzu leichtfertig, geradezu dilettantisch vorgegangen zu sein. Tatsächlich haben sie trotz längerer konspirativer Vorbereitung, in der die bestehenden Verbindungen mit zahlreichen Gleichgesinnten153 genutzt wurden, die äußeren wie inneren Hemmnisse, nicht zuletzt die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit mancher Eingeweihten für einen nachhaltigen Erfolg einer punktuellen Aktion unterschätzt. Wie sehr das Unternehmen im doppelten Wortsinn „von außen gemacht“, also auch im Inneren des Volkes (noch) nicht verankert war, lässt sich an dem erfolglosen Versuch kleiner Gruppen der Aufständischen erkennen, die durch die Stadt liefen und schon halb verzweifelt mit dem Ruf agitierten „Es lebe Die Konstablerwache diente zugleich als Gefängnis. Zit. in: Schenk (wie Anm. 149): 41–51 (41); vgl. auch: Heer, Georg (21965): Geschichte der Deutschen Burschenschaft. Bd. 2. Heidelberg: 291–302. 152 Gemeint war die Aufführung von Giacomo Meyerbeers Oper „Robert der Teufel“. 153 Dazu u.a. Schenk (wie Anm. 149): 43–45. 150 151

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die Freiheit! Zu den Waffen!“ Das Symbolwort „Freiheit“ blieb abstrakt und ließ sich nur schwer mit einer konkreten, gar riskanten Aktion verbinden.

3.4  Der „Hessische Landbote“ 1834 „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“

Auch die vorläufig radikalste, aber nur verbale Attacke gegen die herrschende Ordnung, eine Flugschrift mit dem Titel „Der Hessische Landbote“154, schreckte letzten Endes vor einer sofortigen revolutionären Tat zurück und empfahl für deren Vorbereitung – zu beten. Diese Schrift wurde im Juli 1834 im Großherzogtum Hessen verbreitet. Sie plädierte für eine „Erhebung“ – das Wort „Revolution“ wird vermieden –, wandte sich damit gleichwohl gegen die nur-bürgerliche Richtung der Freiheitsbewegung. Verfasser war der zwanzigjährige Gießener Medizinstudent Georg Büchner (1813–37), dessen Text aber von Friedrich Ludwig Weidig (1791–1837), einem führenden Oppositionellen in Hessen-Darmstadt, von Beruf Pfarrer und Lehrer, überarbeitet worden war. Adressaten der Schrift sollten vorrangig Bauern und Kleinbürger sein, denen auch mit konkreter Auflistung ihrer steuerlichen Belastungen vorgeführt wurde, wie sehr sie unter den sozialen Pressionen des herrschenden Systems zu leiden hätten. Der radikale Ton dieser Schrift, deren Urfassung bisher noch nicht wiederentdeckt werden konnte, wurde durch Weidig, teilweise gegen Büchners Einspruch, unter anderem dadurch leicht abgemildert, dass der Protest gegen „die Reichen“, also das wohlhabende Bürgertum, in eine Wendung gegen „die Vornehmen“ abgewandelt wurde. Auch wurde eine Reihe von Bibelzitaten eingefügt, um vor allem die Bauern mit ihrer traditionell kirchlichen Bindung besser ansprechen zu können. Aber selbst die redigierte Fassung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Bereits im Eingang der Schrift wurde die Lage der Bauern und Handwerker als Verhöhnung des biblischen Schöpfungsberichts kritisiert: Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. 154

Text u.a. in: Schaub, Gerhard (Hrsg.) (1976): Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig. Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. München. Daraus die folgenden Zitate.

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Entsprechend bitter und aggressiv sind die wortgewaltigen, sich jeder akademischen oder juristischen Formulierungskunst enthaltenden Äußerungen, mit denen sich der „Landbote“ gegen die Herrschenden und ihre liebedienernden Minister und Beamten, die „Treiber“ und „Presser“, wendet, nicht zuletzt gegen den autoritär regierenden Großherzog, aber auch gegen die „Raubgeyer in Wien und Berlin“ und „das von Gott gezeichnete Scheusal, den König Ludwig von Baiern [...], das Schwein, das sich in allen Lasterpfützen von Italien wälzte“, ebenso gegen den „Heuchler Louis Philipp“, den sogenannten Bürgerkönig von Frankreich. Die gnädig gewährten Verfassungen seien nichts als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich herausgeklopft haben. Was sind unsere Landtage? Nichts als langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in den Weg schieben, woraus man aber nimmermehr eine feste Burg für deutsche Freiheit bauen kann.

Alle Ausführungen münden allerdings nur indirekt in einen Aufruf zum „Krieg den Palästen“, wie ihn der Titel des „Landbotens“ angekündigt hat, wohl aber in die Hoffnung auf künftige revolutionäre Handlungen, die mit Gebeten vorbereitet werden sollen: Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf, dann wühlt ihr euren Tyrannen ein Grab. Ihr bautet die Zwingburgen, dann stürzt ihr sie, und bauet der Freiheit Haus. Dann könnt ihr eure Kinder taufen mit dem Wasser des Lebens. Und bis euch der Herr ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im Geiste und betet und lehrt eure Kinder beten: ‚Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und laß dein Reich zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.‘

Zwar ließ sich keine deutlichere Absage an die illusionären Hoffnungen aller derjenigen denken, die auf Einsicht und „Einwilligung“ zu einer Reform seitens der Herrschenden setzten oder ihre oppositionellen Haltungen mit rationaler Argumentation darzutun versuchten. Dennoch wurde die von der Parole „Krieg den Palästen“ evozierte Erwartung, es werde damit für ein revolutionäres Vorgehen plädiert, ebenfalls enttäuscht: Man solle so lange beten, „bis euch der Herr ruft durch seine Boten und Zeichen“. Literarisch ist von Büchner ohnehin eher eine revolutionsskeptische Haltung belegt. Manche von Büchners Gesinnungsgenossen hielten die Schrift gleichwohl für zu radikal. Weidig setzte – wie ansatzweise schon in seiner Überarbeitung erkennbar – mehr auf ein Bündnis mit liberalen Kräften auch aus den wohlha-

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benderen Schichten. Weidig wurde wie auch etliche Verbreiter der Flugschrift verhaftet, und Büchner konnte sich unter dem Druck der Behörden in Hessen nicht halten. Am 9. März 1835 floh er schließlich ins freiheitlichere Straßburg. Noch im Juni dieses Jahres wird er „nach Entfernung aus dem Vaterlande“ (=  Hessen!) vom Großherzoglich Hessischen Hofgericht steckbrieflich gesucht.155

3.5  Die Protestation der „Göttinger Sieben“ 1837 „in ihrem Gewissen gedrungen“

Auf einer ganz anderen, verfassungsrechtlichen Ebene wurde drei Jahre später gegen absolutistische Willkür demonstriert. Am 18. November 1837 reichten sieben Göttinger Professoren, ordnungsgemäß unter Einhaltung des Dienstwegs, an das Königliche Universitäts-Curatorium eine „Protestation“ ein gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreichs Hannover, genauer: des relativ liberalen „Staatsgrundgesetzes“ von 1833, durch den Welfenkönig Ernst August I.156 Dieser hatte am 5. Juli 1837 in Hannover die Nachfolge seines Bruders, des englischen Königs Wilhelm IV., angetreten, der als Letzter noch die Personalunion von Großbritannien und Hannover verkörpern konnte, aber keine für Hannover erbberechtigten Nachkommen hatte (in Großbritannien konnte seine Nichte Victoria die Nachfolge antreten). Die Auflösung der Ständeversammlung am 30. Oktober und die Aufhebung der Verfassung von 1833 am 1. November 1837 waren nur zwei, freilich die spektakulärsten Zeugnisse des äußerst reaktionären Regierungsstils des neuen Königs. Dagegen taten sich sieben über das Königreich Hannover hinaus bekannte Professoren zusammen: der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Eduard August Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, der Physiker Wilhelm Eduard Weber und die beiden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, ihres Zeichens Juristen und Sprachwissenschaftler. Sie waren die Letzten aus einer zunächst sehr viel größeren Zahl von Kollegen, die öffentlich Position gegen die

Vgl. dazu u.a.: Bogards, Roland/Neumeyer, Harald (Hrsg.) (2009): Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart. 156 Originaltext in: Dahlmann (1838): Beilage A. 42–44. 155

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Willkürmaßnahmen des neuen Königs beziehen wollten.157 Sie beriefen sich, „in ihrem Gewissen gedrungen“, auf ihren Eid auf die Verfassung von 1833, der durch den einseitigen Schritt des Königs nicht aufgehoben worden sei. In ihrer „Protestation“ schrieben sie unter anderem: Wenn daher die unterthänigst Unterzeichneten sich nach ernster Erwägung des Falles nicht anders überzeugen können, als daß das Staatsgrundgesetz [von 1833] seiner Errichtung und seinem Inhalte nach noch gültig sei, so können sie auch, ohne ihr Gewissen zu verletzen, es nicht stillschweigend geschehen lassen, daß dasselbe ohne weitere Untersuchung und Vertheidigung von Seiten der Berechtigten, allein auf dem Wege der Macht zu Grunde gehe.

Wie der Mitunterzeichner der „Protestation“ Albrecht 1838 in einer im Namen der Gruppe erfolgten ausführlichen nachträglichen Begründung erklärte, sahen die Sieben in ihrem Protest keine grundsätzliche Opposition gegen das Recht des Monarchen, sondern wollten nur gegen dessen konkrete Handlungsweise Stellung beziehen, da er sich obendrein der gebotenen Mitwirkung der Landstände entledigt hatte. Darin erkannten sie sogar einen Widerspruch zu Bestimmungen des Deutschen Bundes. Trotzdem setzte Albrecht 1838 faktisch noch einen sehr wohl „revolutionären“ Akzent, als er erklärte, dass nach der Ausschaltung der Landstände durch den König „niemand anders als Sprecher und Vertheidiger des Grundgesetzes übrig [blieb] als das Volk, d.h. die einzelnen physischen und moralischen Personen, aus denen es besteht“.158 Auch erklärte er, dass das „Recht, welches hier für das Volk in Anspruch genommen wird“, zwar in keiner deutschen Verfassung ausdrücklich anerkannt sei, aber auch keiner Stütze in einer Verfassung bedürfe, weil es „durch die einseitige Annulirung der Verfassung selber vernichtet oder wenigstens zweifelhaft werden“ würde.159 Albrecht postuliert hier nichts weniger als ein unveräußerliches Grundrecht auch von Individuen auf Widerstand gegen einen obrigkeitlichen Willkürakt. Darüber hinaus glaubt er „für die Beamten ein gleiches Recht, wie für das Volk, behaupten zu dürfen“, da sie, „wie unbedingt sie auch dem Befehle des Monarchen Folge leisten müssen, doch keinesweges verDie Hintergründe hat Jacob Grimm bereits im Januar 1838 ausführlich geschildert: Jacob Grimm über seine Entlassung, gedruckt Basel 1838, aufgenommen in seine Kleineren Schriften (1864) Bd. 1. Berlin: 25–56. 158 Dahlmann (1838): 19 (Kursive = Sperrung i. Orig.). 159 Ebda.: 21. 157

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pflichtet seien, jede Ueberzeugung desselben zu theilen“160 – ein früher Beleg für eine differenzierende Sicht auf Grenzen der Loyalitätspflicht von Staatsdienern. In der zweiten Dezemberwoche 1837 wurden die Sieben ihres Amtes enthoben, und drei der Unterzeichner, Dahlmann, Gervinus und Jacob Grimm, wurden gezwungen, binnen drei Tagen Göttingen und das Königreich Hannover zu verlassen, weil man ihnen zusätzlich vorwarf, eine Verbreitung ihres Protests im In- und Ausland, auch in der französischen Presse, aktiv betrieben zu haben. In der ausführlichen Argumentation Albrechts von 1838 wird mehrfach erklärt, dass die Gruppe in keiner Weise „in Sr. Majestät [Ernst August] die Eigenschaft des rechtmäßigen Königs“ in Frage stellen „oder uns von der Unterthanentreue gegen denselben lossagen“ wollten.161 Und in einer zusätzlichen Widerlegung des Vorwurfs, er und seine Kollegen hätten mit der Verbreitung ihres Protests bewusst Unruhe stiften wollen, schreibt Albrecht ausdrücklich: Die Tendenzen der französischen Revolution sind die unsern nicht. Das ist auch kein französischer Liberalismus, daß wir dem drohenden Gewissenszwange, der von vielen unserer Collegen, der von Unzähligen hier im Lande, die zu schüchtern sind, es auszusprechen, gefürchtet und bereits gefühlt wird, durch eine offene Darstellung gewissenhafter und nicht an der Oberfläche geschöpfter Überzeugung vorzubeugen gesucht haben.162

Auch ohne böse Absicht konnten die hier wiedergegebenen Argumente als in sich widersprüchlich erscheinen, in jedem Fall aber boten sie einem absolutistisch regierenden Monarchen einen willkommenen Anlass, die „Insubordination“ von beamteten Hochschullehrern streng zu ahnden. Die Veröffentlichungen der „Protestation“ riefen nicht nur im Königreich Hannover, sondern in ganz Deutschland heftige Reaktionen hervor. Die aus ihrem Amt Vertriebenen fanden allenthalben Unterstützung, auch finanzieller Art, galten sie doch plötzlich als entschiedene Vertreter der bürgerlich-liberalen Bewegung, bei Licht besehen freilich des gemäßigsten Teils, da sie eigentlich nur das individuelle Fehlverhalten eines Monarchen kritisiert hatten.163 Immerhin berief sich Albrecht auf ein nicht mehr disponibles Grundrecht auf Widerstand gegen einen obrigkeitlichen Willkürakt. Ebda.: 23 (Kursive = Sperrung i. Orig.) Ebda.: 11 u. ö. 162 Ebda.: 45 (Beilage B). 163 Kritik an der Haltung und politischen Kompetenz der Protestierenden findet sich in: von See, Klaus (32000): Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende. Göttingen. 160 161

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3.6  Das sogenannte Junge Deutschland „die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen“

So radikal sich Büchner im „Hessischen Landboten“ gegeben hatte, so wenig konnte er sich mit der „Tagesliteratur“ einer Reihe von Schriftstellern anfreunden, die unter dem Begriff „Junges Deutschland“ bekannt geworden waren. In einem Brief an seine Familie vom 1. Januar 1836164 hält er deren Versuch, „eine völlige Umkehrung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen“ zu erreichen, für illusionär. Sein Drama „Dantons Tod“ von 1835 ist mehr als deutlich von einer skeptischen Sicht auf die Französische Revolution geprägt. Seine Persiflage auf ein Duodezfürstentum in „Leonce und Lena“ von 1836 gibt sich als harmloses Lustspiel, und das durch seinen frühen Tod 1837 nur Fragment gebliebene Drama „Woyzeck“ ist zwar gewiss eine Anklage gegen die Unterdrückung von Individuen durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, doch mindestens so stark kommt darin auch Büchners wissenschaftliches Interesse an der psychischen Verfasstheit des Titelhelden zum Ausdruck – ein Thema, das mit seinen philosophischen und medizinischen Interessen in Straßburg und zuletzt in Zürich korrespondierte. Schon seine Erzählung „Lenz“ von 1835 ist neben ihren kunsttheoretischen Erörterungen nicht zufällig dem Psychogramm eines Geisteskranken gewidmet. Immerhin nahm Büchner 1835 aber doch mit einem der Vertreter des sogenannten Jungen Deutschland, Karl Gutzkow, Kontakt auf, um eine schnelle Veröffentlichung von „Dantons Tod“ zu bewirken. Gutzkows Name wie der von Heinrich Heine, Heinrich Laube, Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg wurden erst in einem Beschluss des Deutschen Bundestags vom 10. Dezember 1835 einer „literarischen Schule“ namens „Junges Deutschland“ zugeordnet – ein Beschluss, der die Schriften der Genannten in allen deutschen Bundesstaaten verbot. Diese Autoren hätten auf belletristische Weise versucht, „die christliche Religion auf die frecheste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören“.165 Auch stand der Verdacht im Raum, dass die Autoren Verbindungen zu einem 1835 gegründeten Geheimbund hätten, der sich selbst „Junges Deutschland“ nannte und Teil einer in Italien, Frankreich und Polen wir164 165

Büchner, Georg (1980): Werke und Briefe. München: 279. Mirrus, Alexander (Hrsg.) (1848): Diplomatisches Archiv für die deutschen Bundesstaaten. Bd. 3: 387.

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kenden Vereinigung unter dem Namen „Junges Europa“ war. Allerdings finden sich die Stichwörter „Junges Europa“ und „Junges Deutschland“ in einigen Schriften der Inkriminierten sehr wohl erwähnt. Den vom Beschluss des Deutschen Bundes namentlich Genannten ordnete man de facto auch weitere Autoren zu wie Ludwig Börne, Christian Dietrich Grabbe, aber auch Georg Büchner. Tatsächlich bestanden seit der französischen Julirevolution von 1830 zwischen den meist noch jungen Vertretern der angeblichen „jungdeutschen“ Gruppe außer freundschaftlichen Beziehungen keine organisierten Verbindungen. Und auch in ihren politischen Einstellungen gab es teilweise bedeutende Unterschiede, von der besonderen Stellung und Bedeutung Heines ganz abgesehen, der ab 1831 die deutschen Verhältnisse, wenn auch mit bester Kenntnis aus eigenem Erleben, hauptsächlich von außen, von Frankreich aus kritisch kommentierte. Betrachtet man zentrale Schriften der Geächteten genauer, wird darin eine große Spannweite ihrer Positionen sichtbar. Einigkeit bestand indes in der Überzeugung, dass die alten Ordnungen überlebt seien und dass man neuen Ideen zum Durchbruch verhelfen müsse. Einig waren sich alle auch in der Forderung, die Individualität des Menschen zu respektieren – eine Forderung, die gegen kollektive Vereinnahmungen ideologischer und politischer Art auch noch im 20. Jahrhundert aktuell blieb.

Heinrich Laube (1806–84) „Die Menschenrechte schreien durch die Gassen“

Heinrich Laube166, mit Gutzkow und Wienbarg befreundet, vertritt in seinen Beiträgen ab 1832 in der „Zeitung für die elegante Welt“ noch am ehesten in direkter Weise revolutionäre Ansichten, die vor allem seine Sympathie für die französische Julirevolution von 1830 bezeugen. Selbst in seiner Briefnovelle „Junges Europa oder die Poeten“ von 1833167 bringt er diese Sympathie emphatisch zum Ausdruck. In einem sinnigerweise auf den 29. Juli, Höhepunkt der dreitägigen Pariser Revolution von 1830, datierten Brief berichtet einer der Briefeschreiber namens Constantin aus Paris:

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Itter, Ellen von (1989): Heinrich Laube: Ein jungdeutscher Journalist und Kritiker. Frankfurt a. M. Laube, Heinrich (1833): Das junge Europa. T. 1. Bd. 1. Leipzig. Der Titel lässt noch am ehesten Sympathie für die Bewegung „Junges Europa“ assoziieren.

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Vorgestern ist er losgegangen in den Straßen von Paris, der hochrothe blutige Kampf eines Volkes um sein Recht, die dunklen Schatten der Jacobiner schreiten vor der neuen Jugend einher, die alten Freiheitslieder flattern wie Sturmvögel über den Plätzen, mein Herz ist fast zersprungen vor Freude, so zur rechten Zeit gekommen zu sein [...] O großer Gott, seit Jahren dank‘ ich dir heut‘ zum ersten Mal für deine Welt, ja sie ist schön; der alte Unflath wird unter die Füße getreten, die Menschenrechte schreien durch die Gassen, und alle Welt hört sie; das Herrschen und Beherrschtwerden hört auf ...168

Karl Gutzkow (1811–78) „Verbrechen der Gotteslästerung“

Karl Gutzkow konzentrierte sich ab 1830 in seinen Beiträgen für verschiedene, auch eigene Journale mehr und mehr auf die Kritik am politischen, sozialen und religiösen Zustand Deutschlands.169 Neue Romane sollten als „Blendlaterne des Ideenschmuggels“ wirken. Einen solchen Schmuggel liberaler Ideen betrieb er etwa 1833 in seinem satirischen Roman „Maha Guru. Geschichte eines Gottes“, dessen Handlung er vorsichtshalber nach Tibet verlegte. Auf offene Weise aber brachte er seine Ansichten über Religion und Sittlichkeit im Roman „Wally, die Zweiflerin“ von 1835 zum Ausdruck. Die Zensurbehörden, zunächst in Preußen, dann weiterer Mitglieder des Deutschen Bundes sahen sich geradezu gezwungen, gegen das alle Konventionen in Frage stellende Werk und seinen Autor vorzugehen. In einem Prozess vor dem Großherzoglich Badischen Hofgericht Anfang 1836 wurden er und sein Verleger angeklagt, durch mehrere in dieser Schrift enthaltenen Stellen das Verbrechen der Gotteslästerung begangen, den christlichen Glauben angegriffen und der Verachtung Preis zu geben gesucht, auch außerdem durch Darstellung unzüchtiger Bilder Aergerniß gegeben zu haben.170

Ebda.: 173–175. Vgl. u.a.: Jones, Roger/Lauster, Martina (Hrsg.) (2000): Karl Gutzkow. Liberalismus – Euro­ päertum – Modernität. Bielefeld. 170 Paulus, H. E. G. (Hrsg.) (1836): Des Großherzogl. Badischen Hofgerichts zu Mannheim vollständig motivirtes Urtheil über die in dem Roman: Wally, die Zweiflerin angeklagten Preßvergehen. Heidelberg: 3. 168 169

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Anklage wie Urteil stützten sich auf mehr als zwanzig kürzere und längere Zitate aus dem Roman, in denen man blasphemische, religionskritische und unsittliche Bekenntnisse entdeckt hatte, etwa ... es darf mich niemand tadeln, wenn ich denke, die Existenz Gottes anzunehmen, war eine ganz äußerliche politische und polizeiliche Uebereinkunft der Völker. Aechte Religion ist positive Heilkraft; aber gleicht das Christenthum nicht einer Latwerge171, die aus hundert Ingredienzen zusammen gekocht ist? Als der Begriff Kirche erfunden war [...], hatte sich die Lehre Jesu in eine neue Art von Heidenthum verwandelt … Sie fühlte [...], daß das Poetische höher steht, als alle Gesetze der Moral und des Herkommens. Sigune, die schamhafter ihren nackten Leib enthüllt, als ihn die Venus der Medicis zu bedecken suchte.

Gutzkow half natürlich die Einrede nicht, dass er die inkriminierten Äußerungen fiktiven Personen, Wally und ihrem Liebhaber, in den Mund gelegt hätte und dass er Wally an ihren Zweifeln schließlich zerbrechen ließe. Sein Roman wurde zu einem der entscheidenden Auslöser für das Schriftenverbot des Deutschen Bundes und hatte für Gutzkow eine mehrwöchige Haftstrafe zur Folge.

Ludolf Wienbarg (1802–72) „Wir fühlen uns in eine neue Strömung versetzt“

1834 veröffentlichte Ludolf Wienbarg172 unter dem Titel „Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet“173 24 Vorlesungen, die er als Dozent in Bezeichnung für ein Mus, meist aus Zwetschgen oder Pflaumen. Lesle, Ulf-Thomas (1992): Ludolf Wienbarg – Flüchtling. Eine deutsche Biographie. In: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (Hrsg.): „Heil über dir Hammonia.“ Hamburg im 19. Jahrhundert. Hamburg: 64–90. 173 Wienbarg, Ludolf (1834): Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg. Daraus die folgenden Zitate. 171 172

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Kiel gehalten hatte. Sie sind einem neuen, letztlich alles, nicht nur die schönen Künste und die Literatur, sondern auch Geschichte, Philosophie, Moral, Pädagogik und Politik umfassenden Verständnis von Ästhetik gewidmet, die sich endlich aus ihrer Verengung und Erstarrung im herkömmlichen akademischen Lehrbetrieb lösen müsse. Ästhetik sei – so resümiert er einmal – das leise ästhetische Gefühl, das im Schooß der Zeit sich regt, das prophetische Gefühl einer neubeginnenden Weltanschauung, das sich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur künftigen Ästhetik.174

Die Widmung im Titel wird in einem Vorwort expliziert, und zwar so, dass man den Autor nicht einfach einer der gängigen Parteiungen zurechnen konnte. Darin sagt er: „Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, nicht dem alten.“ Das lässt zunächst eine Kampfansage an das herrschende politische System erwarten, doch versteht Wienbarg unter dem „alten Deutschland“ weit mehr: Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, todte Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er dem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen Willens ist.175

Sein Gegner ist also insgesamt das als überlebt gewertete „altdeutsche“ Geistesund Gesellschaftsleben. Und er verwahrt sich, ebenfalls einleitend, gegen die gängige Unterscheidung von „liberal“ und „illiberal“: Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte [!] Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse ...176

Ebda.: 138. Ebda.: V f. – „Philister“ war in der Studentensprache die abwertende Bezeichnung der nichtakademischen Mitmenschen, svw. „Spießbürger“/„Spießer“. 176 Ebda.: V. 174 175

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Er sieht seine Gegenwart als „Übergangsepoche“: Es ist wahr, wir reißen uns allmählich aus der Umarmung des starrgewordenen Lebens los, wir fühlen uns mit Geist und Sinnen in eine neue Strömung versetzt, die uns unaufhaltsam mit sich fortreißt, wir sehen neue Sterne vor unserm Blick aufgehen, aber wissen wir auch, welchen Ufern die Welle uns zutreibt?177

Von einer wirklich „revolutionären“ Dichtung erwartet er: ... jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerrüttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich befindet.178

In diesem Zusammenhang lobt er in der 23. und 24. Vorlesung nicht zuletzt Heines prosaische Schriften und erwähnt auch Heines Antipoden Ludwig Börne positiv. Sein grundsätzliches Urteil über Heine kann auch heute noch Gültigkeit beanspruchen: ... weder Goethe, noch Jean Paul, noch irgend ein anderer von den ausgezeichneten Geistern der jüngst vergangenen ästhetischen Epoche ist [wie Heine] geeignet, den Geist der Zeit und der neuesten Bewegungen aus der Abspiegelung ihrer Prosawerke erkennen zu lassen.179

Die häufig pauschale Behauptung, die „Jungdeutschen“ hätten samt und sonders gegen Goethe als „unpolitischen“ Autor Stellung bezogen, findet in Wienbargs Vorlesungen absolut keine Stütze. Noch am deutlichsten war die politische Kritik an Goethe als „Fürstenknecht aus Bequemlichkeit“ – ein vielzitiertes Verdikt, das Ludwig Börne zugeschrieben wird. Bei allem eigenen Vorbehalt gegen den „Aristokraten“ aus Weimar durchziehen Wienbargs Vorlesungen dagegen äußerst anerkennende Urteile, besonders ausführlich ist dabei die 22. Vorlesung. So wie Wienbarg die seinerzeit gängigen politischen Etikettierungen „liberal“ und „illiberal“ nicht gelten lässt, enthält er sich auch jeglicher direkten Anklage gegen politische Repräsentanten oder Einrichtungen des herrschenden Systems. Eine solche, eigentlich gemäßigte Position erschien den Herrschenden indes womöglich noch gefährlicher als direkte Angriffe gegen ihre restaurativen BastiEbda.: 139. Ebda.: 227. 179 Ebda.: 291. 177 178

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onen. Schließlich rechnete Wienbarg mit einer unaufhaltsamen Entwicklung, sogar mit einer „neubeginnenden Weltanschauung“, und das zielte aufs Grundsätzliche.

Theodor Mundt (1808–61) Gegen den „zerstörerischen Republikanismus“

Theodor Mundt trat als Publizist und Journalist vor und neben seinen literaturhistorischen und schriftstellerischen Arbeiten oft mit Vehemenz für Ideen ein, die ihn der Obrigkeit verdächtig machen mussten.180 Die von ihm selbst herausgegebenen Journale waren jeweils nur kurzlebig; „Der litterarische Zodiacus“ von 1835 etwa wurde nach nur einem Jahr sogar verboten. Eine Summe seiner Überzeugungen aber hatte er bereits 1832 in der Schrift „Die Einheit Deutschlands in politischer und ideeller Entwicklung“ von 1832181 niedergelegt. Was häufig als Mundts „politische Flugschrift“ charakterisiert wird, ist in Wahrheit aber von landläufiger Agitation gegen das Bestehende noch weiter entfernt als Wienbargs Vorlesungen. So kann man darin die in mancher Hinsicht überraschende These finden: Von einer durchgreifenden Ausbildung des deutschen Bundes ist daher Viel, wenn nicht Alles, auch für die Einheit Deutschlands zu hoffen [...]. In ihm, als einer Centralmacht, liegt ohne Zweifel die höchste Entwickelungsmöglichkeit einer deutschen Nationaleinheit ...182

Er sieht im gegenwärtigen „constitutionellen System“, jener Mischform von monarchischer Herrschaft und demokratischer Volksbeteiligung, bereits eine Durchgangsstufe zur Republik, die – wenn auch erst in späterer Zukunft – unvermeidlich kommen werde. Auch nimmt er Stellung gegen ein Wahlsystem, das von Eigenthums- und Besitzinteressen abhängig“ sei.183 Die aktuellen aufgeregten S. dazu u.a.: Houben, Heinrich Hubert (Hrsg.) (1928; Nachdr. 1992): Theodor Mundt (1808– 61). In: Houben, Heinrich Hubert (Hrsg.): Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Leipzig/Hildesheim: 363–498. 181 Mundt, Theodor (1832. Nachdr. 1973): Die Einheit Deutschlands in politischer und ideeller Entwicklung. Leipzig/Frankfurt a. M. 182 Ebda.: 52. 183 Ebda.: 66. 180

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Bemühungen um eine Republik kritisiert er jedoch als einen letztlich „zerstörerischen Republikanismus“.184 Bei ihm wie bei anderen besonneneren Stimmen macht sich die optimistische Erwartung Hegels bemerkbar, dass der Gang der Geschichte, unabhängig von allen Versuchen, ihn zu beeinflussen, zu vernünftigen Zielen führen werde; schließlich hatte Mundt selbst in Berlin auch bei Hegel studiert. Sein Freiheitsbegriff lässt sich also nicht durch die herrschenden äußeren Bedingungen irritieren, wenn er das weitsichtige Fazit zieht: Ein Volk kann in seinen politischen Formen frei sein, und doch im Geiste unfrei; aber wenn es geistig frei ist, wird es sich auch selbst durch den Zwang seiner politischen Formen nicht gefesselt fühlen, und dies ist die ewig unverlierbare Freiheit Deutschlands!185

Mit dieser eigentlich vermittelnden Position ist Mundt letztlich gar nicht so weit vom Plädoyer Hans Christoph Ernst von Gagerns entfernt, der in seinem Vortrag vor der Bundesversammlung des Deutschen Bundes am 17. Juli 1817 zwar die Monarchie nicht in Frage stellte, wohl aber für eine Weiterentwicklung des Deutschen Bundes eingetreten war und dabei den gängigen Antagonismus zwischen Aristokratie und Demokratie ausdrücklich für unverständig und schädlich gehalten hatte (Teil 2, 1.4). Wienbargs und Mundts Reflexionen waren also weit mehr als die von Büchner mit Recht kritisierte „Tagesliteratur“.

3.7  Politische Lyrik im Vormärz „und rührt die Trommel nur!“

Das Hambacher Fest 1832 war auch ein wahres Liederfest, auf dem die Reden durch unzählige Gesänge, alte und neue Lieder, unterbrochen und begleitet wurden. Zu den alten, die aber immer noch begeistert gesungen wurden, gehörte – wie schon dargestellt: ohne Rücksicht auf die französischen Teilnehmer – Ernst Moritz Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?“. Aber auch sonst spielten im 19. Jahrhundert Lieder, mit offener oder verdeckter Tendenz, eine heute kaum noch vorstellbare Rolle für die Selbstvergewisserung politischer und sozialer Gruppierungen. Die politische Lyrik des Vormärz war nicht nur irgendein Phänomen der Literaturgeschichte. Sie war, insbesondere dann, wenn sie sogar sangbar war, eins der 184 185

Ebda.: 75. Ebda.: 83.

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wichtigsten Medien zur Verbreitung oppositioneller Ideen. Die anspruchsvolleren Texte, die zwischen 1815 und 1848 entstanden, waren indes zunächst eher zurückhaltend. Ihre Aussagen schwankten zwischen Kritik an den politischen Zuständen und höhnischer Verachtung für die unbeweglich Zufriedenen, als deren Symbol häufig die traditionelle Schlafmütze berufen wurde.186 Eine Radikalisierung der politischen Lyrik ging freilich von Begegnungen mancher Autoren mit Vertretern und Ideen des Frühsozialismus wie des Marxismus aus. Die im Folgenden exemplarisch vorgeführten Autoren vertraten zwar inhaltlich wie poetologisch teilweise sehr verschiedene Positionen, waren sich darin jedoch grundsätzlich einig, dass sich die politischen und sozialen Verhältnisse ändern müssten. Diese Tendenz wurde aber gewiss noch mehr durch eine Fülle weniger anspruchsvoller zeitgenössischer Lieder, von „Gassenhauern“ gefördert, die eine oft sehr viel direktere Kritik an den herrschenden Zuständen und Personen übten. Weil sich etliche davon auch gegen „Mucker“ und „Muckertum“, d.h. gegen Heuchler und Heuchelei wandten, wird dieser Teil der poetischen Eintagsfliegen gern unter dem Begriff „Muckerlieder“ zusammengefasst. Aber auch die anspruchsvollere politische Lyrik des Vormärz dokumentiert insgesamt, wie weit die Mehrheit der Deutschen letztlich doch noch von einem einheitlichen Verständnis der sonst so selbstbewusst vorgetragenen Zielbegriffe des aktiven Teils der bürgerlichen Opposition entfernt war. Nicht nur die Ironisierung des „großmäuligen Geschlechts“ (Hoffmann von Fallersleben), auch die Selbstironisierung und Selbstkritik einzelner Autoren, dass man ja auch zu den nur verbal Entschlossenen zähle (Heine und Freiligrath), spiegelt sehr wohl realistisch die verbreiteten Unsicherheiten wider. Die schließlich in Revolutionsszenarien mündenden poetischen Aussagen sind zwar auch nur verbale Visionen (Freiligrath, Herwegh und Weerth), verstärken aber die Entschlossenheit, endlich auch zu handeln.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) „O du großmäuliges Geschlecht“

Als Beispiel für die Kritik an der Schläfrigkeit vieler seiner Zeitgenossen sei das dialogische Gedicht Hoffmanns von Fallersleben „Die Genügsamen“ aus seinen nur vorgeblich „Unpolitischen Liedern“ in zwei Bänden von 1840/41187 zitiert 186 187

Vgl. dazu die häufig dargestellte Zipfelmützigkeit des „deutschen Michel“. Hoffmann von Fallersleben [Heinrich] (1840/41): Unpolitische Lieder. 2 Bde. Hamburg.

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– zugleich ein schönes Beispiel für Hoffmanns sprachspielerischen Umgang mit Schlagwörtern: Du Ideenvolk, auf’s Denken Musst du dich allein beschränken! Möchte dir doch Gott auch schenken Preßfreiheit zu deinem Denken! ‚Gott hat uns genug gegeben. Segnet er nur unsre Reben, Wird es ja in unserm Leben Preßfreiheit genug noch geben.‘188

Die geforderte „Preßfreiheit“ wird in Strophe 2 von den „Genügsamen“ als Freiheit zum „Pressen“, d.h. zum Keltern ihrer Reben „missverstanden“. Möglicherweise spielt Hoffmann damit zusätzlich auf die Tatsache an, dass sich am Hambacher Fest sehr viele Winzer beteiligt hatten; „genügsam“ waren deren Forderungen allemal! Diese Kritik macht zumindest indirekt aber auch darauf aufmerksam, dass, gleich welche politische Richtung man ins Auge fasst, die politisch Aktiven an der Gesamtbevölkerung gemessen – von kurzzeitigen Aufbrüchen abgesehen – jeweils nur kleine Minderheiten darstellten. Längerfristig wirksame Massenbewegungen sind eigentlich erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, freilich vielfach von Motiven getragen, die im 19. Jahrhundert von eben jenen Minderheiten öffentlich gemacht wurden. Bei aller Eindeutigkeit seiner Positionen sieht Hoffmann, wie bereits erwähnt, durchaus auch Schwächen bei den Freiheitskämpfern, etwa in „Die liberalen Modegecken“189: Du schwörest Allem Untergang Was je dich hemmt in deinem Frieden, Verfluchest den Gewissenszwang Und Geistesdruck hienieden;

188 189

Ebda.: Bd. 1: 91. Ebda.: Bd. 1: 110.

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Du schreist nach Freiheit, schreist nach Recht Im Anblick großer Kriegesheere, O du großmäuliges Geschlecht, Und dich beherrscht die Schneiderscheere!

Was er selbst aber forderte, war nichts weniger als „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“, wie es sein „Lied der Deutschen“ von 1841, das sogenannte Deutschlandlied, in seiner dritten Strophe formulierte, die mit der Wiedervereinigung von 1990 endgültig deutsche Nationalhymne wurde. Es muss aber auch gesagt sein, dass das „Deutschland, Deutschland über Alles“ der ersten Strophe, in gewisser Weise mit E. M. Arndt geistesverwandt, vor allem gegen Frankreich gewendet war und nicht zufällig im NS-Regime in aggressiver Weise interpretiert wurde. Der Ort, an dem das „Lied der Deutschen“ entstand, die seinerzeit britische Insel Helgoland, war nur eine der vielen Stationen, die Hoffmann auf seinen Fluchten vor behördlicher Verfolgung aufsuchen musste.190 Er gehörte allerdings auch zu denjenigen, bei denen sich die Freiheitsliebe ungeniert mit Judenfeindschaft verbinden konnte, wie bereits an anderer Stelle (Teil 2, 2.4) nachgewiesen wurde.

Heinrich Heine (1797–1856) „Weil ich so ganz vorzüglich blitze“

Das ironische Schwanken zwischen ernster Anklage gegen die Herrschenden und scheinbar unpolitischer Zufriedenheit mit den vorfindlichen Zuständen, aber auch Kritik an Oberflächlichkeiten der zeitgenössischen Tendenzliteratur durchzieht noch deutlicher die Strophen von Heinrich Heine in seinen „Zeitgedichten“ von 1844.191 Sie umspielen gleichsam die Aspekte seiner zeitkritischen Prosaschriften und Versepen wie die „Reisebilder“ (1826/27) oder „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“ (1843) und „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844). Heines Pariser Kontakte zu den frühsozialistischen „Saint-Simonisten“ Dazu: Borchert, Jürgen (1991): Hoffmann von Fallersleben. Ein deutsches Dichterschicksal. Berlin. 191 Dazu allgemein u.a.: Höhn, Gerhard (32004): Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart. – Zeitgedichte in: Heine, Heinrich (21972): Werke und Briefe in zehn Bänden. Berlin/Weimar. Bd. 1. 190

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wie auch seine persönlichen Begegnungen mit Karl Marx und Friedrich Engels beeinflussten sein Werk aber nur vorübergehend. Er stellte seine dichterische Freiheit über jede engere Parteinahme, was ihn gleichwohl nicht daran hinderte, für die sozial Unterdrückten wie in seinem Gedicht zum Weberaufstand von 1844 „Die schlesischen Weber“ auch poetisch Partei zu ergreifen. Kritik am unpolitischen, „genügsamen“ Spießertum seiner Zeit findet sich etwa in Heines Zeitgedicht „Erleuchtung“192: Michel! fallen dir die Schuppen Von den Augen? Merkst du itzt. Daß man dir die besten Suppen Vor dem Maule wegstibitzt? Als Ersatz ward dir versprochen Reinverklärte Himmelsfreud Droben, wo die Engel kochen Ohne Fleisch die Seligkeit! Michel! wird dein Glaube schwächer Oder stärker dein App’tit? Du ergreifst den Lebensbecher Und du singst ein Heidenlied! Michel! fürchte nichts und labe Schon hienieden deinen Wanst, Später liegen wir im Grabe, Wo du still verdauen kannst.

Einen Kontrast zum bramarbasierenden Ton mancher „deutschen Sänger“, die des „Vaterlands Posaune“, „Kanone“ und „Kartaune“ sein wollen, bildet die Empfehlung in der letzten Strophe von „Die Tendenz“193:

192 193

Ebda.: 338 f. Ebda.: 330 f.

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Blase, schmettre, donnre täglich, Bis der letzte Dränger flieht – Singe nur in dieser Richtung, Aber halte deine Dichtung Nur so allgemein als möglich.

Insofern muss man auch Heines Ankündigung eigenen revolutionären Handelns in „Wartet nur“194 mit einigem Vorbehalt begegnen. Wenn darin nicht eine gehörige Portion Selbstironie steckt – eine Selbstironie, mit der er sich auch in seiner unpolitischen Lyrik von seinen romantischen Anfängen distanzierte –, so ist es zumindest eine ironische Kritik an der leeren Revolutionsrhetorik mancher Zeitgenossen: Weil ich so ganz vorzüglich blitze, Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! Ihr irrt euch sehr, denn ich besitze Gleichfalls fürs Donnern ein Talent. Es wird sich grausenhaft bewähren, Wenn einst erscheint der rechte Tag. Dann sollt ihr meine Stimme hören, Das Donnerwort, den Wetterschlag. Gar manche Eiche wird zersplittern An jenem Tag der wilde Sturm, Gar mancher Palast wird erzittern Und stürzen mancher Kirchenturm.

Weit über jede konkrete Revolutionserwartung hinaus erhofft sich Heine aber nichts weniger als sein individuelles „volles Freiheitsrecht“. Jedenfalls vergleicht er in „Adam der Erste“195 sein Exil in Paris mit der Vertreibung aus dem Paradies. So lässt er in den beiden letzten Strophen Adam trotzig sagen:

194 195

Ebda.: 339. Ebda.: 319 f.

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Vermissen werde ich nimmermehr Die paradiesischen Räume; Das war kein wahres Paradies – Es gab dort verbotene Bäume. Ich will mein volles Freiheitsrecht! Find ich die g’ringste Beschränknis, Verwandelt sich mir das Paradies in Hölle und Gefängnis.

Ferdinand Freiligrath (1810–76) „Mit Kanonen auf den Plan!“

„Kein Leben mehr für mich ohne Freiheit!“, so verkündete 1844 auch Ferdinand Freiligrath seine Haltung im Vorwort seiner Sammlung von Zeitgedichten „Ein Glaubensbekenntniß“196, freilich mit entschiedenerer Wendung gegen die politischen und sozialen Beschränkungen. Dem Zitat ging unmittelbar Freiligraths unmissverständliches Bekenntnis zur Opposition voraus: „Fest und unerschütterlich trete ich auf die Seite Derer, die mit Stirn und Brust der Reaction sich entgegenstemmen.“197 Um polizeilicher Verfolgung wegen seines „Glaubensbekenntnisses“ zu entgehen, wich er 1845 zunächst nach Brüssel, danach in die Schweiz aus. 1848/49 wurde er neben Friedrich Engels Redakteur der von Karl Marx herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung. Organ der Demokratie“ und war vorübergehend auch Mitglied im „Bund der Kommunisten“. 1848 gab er den schon gefassten Entschluss auf, nach Amerika auszuwandern, um sich stattdessen von Düsseldorf aus der inzwischen ausgebrochenen Revolution zur Verfügung zu stellen.198 Davon war sein sehr populär gewordenes „Glaubensbekenntniß“ allerdings noch einigermaßen entfernt, das ihn gleichwohl als Revolutionär polizeiverdächtig machte. Im Gedicht „Hamlet“199 mit seinem Eingang „Deutschland ist HamFreiligrath, Ferdinand (1844): Ein Glaubensbekenntniß. Zeitgedichte. Mainz. Ebda.: X. 198 Dazu u.a.: Vogt, Michael (Hrsg.) (2012): Karriere(n) eines Lyrikers. Ferdinand Freiligrath. Bielefeld. 199 Ein Glaubensbekenntniß (wie Anm. 196): 255–257. 196 197

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let ...“ sieht er zwar das ganze Land dem Shakespeare’schen Zauderer ähnlich, weil es dem Racheauftrag der „begrabnen Freiheit“ nicht folgt, doch übt er in der letzten Strophe ehrliche Selbstkritik: Nur ein Entschluß! Aufsteht die Bahn – Tritt in die Schranken kühn und dreist! Denk an den Schwur, den du gethan, Und räche deines Vaters Geist! Wozu dieß Grübeln für und für? Doch darf ich schelten, alter Träumer? Bin ja selbst ein Stück von dir, Du ew’ger Zauderer und Säumer!

Tatsächlich thematisiert er in allen seinen Zeitgedichten eigentlich genügend Anlässe, um zur Tat zu schreiten. Selbst in seinen zunächst oft idyllisch daherkommenden Texten wie „Ein Flecken am Rheine“ oder „Wisperwind“ sowie in zahlreichen Anleihen bei der Rheinromantik, erst recht in seinen häufigen Reminiszenzen an vergangene glücklichere Zeiten und historische Größen – von Karl dem Großen über Ulrich von Hutten und Wallenstein bis Friedrich den Großen – findet er stets zu einer politischen Wendung. Der Gedichttitel „Freiheit! Das Recht“200 wird schließlich zum parolenartigen Refrain des fünfstrophigen Texts. Und gegen Ende der Sammlung, in einem an Hoffmann von Fallersleben adressierten Gedicht, steht sogar der unmissverständliche Aufruf: „Mit Kanonen auf den Plan / Nicht mit Schlüsselbüchsen“.201 Zwei Jahre später werden Freiligraths Visionen einer Revolution noch sehr viel konkreter: in den sechs Gedichten von „Ça ira“, 1846 in der Schweiz publiziert.202 Der Titel der Sammlung ist einem Kampflied der Französischen Revolution, „Ah, ça ira“ („Ah, das wird kommen“), entlehnt. Zunächst aber, in „Von unten auf “203, muss sich ein Heizer, der dafür zu sorgen hat, dass auf seinem Rheindampfer das preußische Königspaar gemütlich zur Burg Stolzenfels gelangt, noch gedulden, bis er zum Monarchensturz beitragen kann. Die Kraft dazu hätte er schon. Denn er vertritt als „Proletarier-Maschinist“ die von Sozia200 Ebda.: 103–104. 201 Ebda.: 313. – „Schlüsselbüchsen“ nannte man selbstverfertigte kleine Schusswaffen. 202 Freiligrath, Ferdinand (1846): „Ça ira“. Herisau (digital. in: www.deutschestextarchiv.de/freilig-

rath_caira_1846/47, letzter Zugriff: 22.6.2015). 203 Ebda.: 23–29.

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listen und Kommunisten so deutlich forcierte Macht, die nun mehr und mehr in Erscheinung treten wird: den sogenannten Vierten Stand, das „Proletariat“. Zuvor hatte Freiligrath an dem von Hermann Püttmann 1845/46 herausgegebenen Periodikum „Bürgerbuch“204 mitgewirkt, das eindeutig (früh)sozialistische Tendenzen vertrat; zu dessen Beiträgern gehörten unter anderem Friedrich Engels, Georg Herwegh und Georg Weerth. Die konkretesten Revolutionsszenarien in „Ça ira“ wurden in den Gedichten „Wie man’s macht!“205 und „Freie Presse“206 entworfen. Im erstgenannten bewaffnet sich das Bettlervolk bei einem Einbruch ins Landwehrzeughaus. Die regulären Soldaten laufen zu den Aufständischen über, die Staatsmacht ist am Ende. Im zweiten gießen sich die Revolutionäre aus den Bleilettern einer Druckerei Gewehrkugeln und verwandeln so die freie Presse in die „rechte freie Presse“. Es kommt zum Kampf: „Und die erste Salve prasselt! – Das ist Revolution!“ Nach 1848 wurde Freiligraths Engagement für revolutionäre Ziele allerdings immer schwächer. Stattdessen begeisterte er sich mehr und mehr für nationalistisch-patriotische Ideen bis hin zur freudigen Zustimmung zum Krieg gegen Frankreich, etwa in dem Gedicht „Hurra, Germania!“, und zur Bismarck’schen Reichsgründung 1871.

Georg Herwegh (1817–75) „Ein Schwert in eurer Hand ist das Gedicht“

Vor Freiligraths Bekenntnis von 1844, sich entschieden auf die Seite derer gestellt zu haben, die gegen die „Reaction“ kämpfen, hatte sich zwischen ihm und dem Württemberger Georg Herwegh eine Fehde darüber entwickelt, worin der rechte Standpunkt für eine Opposition liege. Dabei ging es auch um die noch im 20. Jahrhundert immer wieder einmal diskutierte Frage nach dem Verhältnis von politischer Tat und Poesie.207 Freiligraths anfängliches Schwanken kommentierte 204 Schloesser, Rolf

(Hrsg.) (21975): Deutsches Bürgerbuch für 1845. Köln; ein zweiter, zugleich letzter Band erschien für 1846. Bd. 1 stellt geradezu ein Kompendium frühsozialistischer Positionen dar. 205 Freiligrath (wie Anm. 202): 33–40. 206 Ebda.: 43–48. 207 Man denke nur an die heftigen Auseinandersetzungen im Rahmen der „68er“-Bewegung, die in der Losung „Tod der Literatur“ gipfelten.

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Herwegh bereits 1841 und 1843 in seinen anonym erschienenen „Gedichten eines Lebendigen“208 in mehreren Texten, so in „Die Partei. An Ferdinand Freiligrath“: Ihr müßt das Herz an Eine Karte wagen, Die Ruhe über Wolken ziemt euch nicht; Ihr müßt euch mit in diesem Kampfe schlagen, Ein Schwert in eurer Hand ist das Gedicht.209

Freiligrath konterte schließlich 1844 in „Ein Brief “210, ob Herweghs großem Publikumserfolg „von Zürich bis zum Belt“ nicht ohne Neid. Er wirft Herwegh Ruhmsucht und „Renommieren“ vor und sagt unter anderem: Wer sagt, er stände Wache Für’s Recht, der halte Stich, Und gebe statt der Sache Nicht immer nur sein Ich!211

Immerhin hatte sich Freiligrath für das Szenario, in dem aus Drucklettern Gewehrkugeln gegossen werden, von Herwegh inspirieren lassen, der bereits 1841 geschrieben hatte: „Ja ich will Kugeln gießen aus den Lettern / Hör‘ ich die Stunde der Erlösung schlagen.“212 Herwegh war aber noch einen Schritt weiter gegangen, da er sogar Grabkreuze, die seinerzeit häufig aus Eisen geschmiedet waren, ausreißen lassen wollte: „Alle sollen Schwerter werden.“213 Insgesamt hatte Herwegh vor 1848 sehr viel öfter als Freiligrath dafür plädiert, das Dichten hinter einem bewaffneten Kampf zurückzustellen, etwa in „An die Zahmen“: Laßt endlich das Geleier sein Und rührt die Trommel nur! Der Deutsche muß erst freier sein, Dann sei er Troubadour.

208 [Herwegh, Georg:] Gedichte eines Lebendigen (1841/43). 2 Bde. Zürich/Winterthur. 209 Ebda. Bd. 2: 64. 210 Glaubensbekenntniß (wie Anm. 196): 39–44. 211 Ebda.: 41. 212 Gedichte eines Lebendigen (wie Anm. 208). Bd. 1: 182. 213 Ebda.: 53.

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Im Freiheitsfeuertranke Werd‘ unser Reich erfrischt, Ihr ewiger Gedanke Führ‘ unser Schwert, das blanke, Wenn’s in die Feinde zischt.214

Auch wenn sich Freiligrath und Herwegh schließlich prinzipiell einig waren, dass die Zeit für einen Umsturz reif war, war es Herwegh, der für die Auseinandersetzung mit dem alten Regime auf eine für politische Kämpfe bis in die Gegenwart wirkende höchst bedenkliche Qualität setzte: den Hass, so ausdrücklich in „Das Lied vom Hasse“215: „Wir haben lang genug geliebt, / Und wollen endlich hassen!“ Diese Schlussverse der ersten Strophe werden in Variationen auch in den drei weiteren Strophen refrainartig wiederholt. Der bereits 1839 in die Schweiz geflohene und ab 1843 in Paris lebende Herwegh radikalisierte sich immer mehr, nicht zuletzt durch seine persönliche Begegnung mit Karl Marx und mit dem Anarchisten Michail Bakunin sowie durch seine Beschäftigung mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach. Dessen Religionskritik hatte Herwegh bereits 1841 in seinem hasserfüllten Gedicht „Gegen Rom“ auf eigene Weise vorgegriffen.216 Seinen Willen zur revolutionären Tat versuchte er 1848 in einem militärischen Unternehmen umzusetzen. Mit einer in Paris aus Exildeutschen rekrutierten, aber völlig unzureichend, teilweise nur mit Sensen ausgerüsteten „Deutschen Demokratischen Legion“ wollte er sich im Großherzogtum Baden mit einer vom badischen Revolutionär Friedrich Hecker geführten Freischar, dem sogenannten Heckerzug, vereinen, um die Monarchie zu stürzen. Beide Gruppen wurden noch vor ihrer Vereinigung von regulären Truppen vernichtend geschlagen, Herwegh musste erneut in die Schweiz fliehen. Seinen Aufstieg zum prominenten Autor der Arbeiterbewegung verdankte er seinen schon frühen Kontakten zu sozialistischen und kommunistischen Kreisen.

214 Ebda.: 113–115 (115). 215 Ebda.: 76–78. 216 Ebda.: 116–119.

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Georg Weerth (1822–56) „Von Schmach befreit ein unterdrückt Geschlecht!“

Die literarischen Arbeiten des in Detmold geborenen Georg Weerth waren eigentlich nur Ergebnisse einer Nebenarbeit, die sich der als Kaufmann ausgebildete und hauptsächlich tätige bei seinen beruflichen Verpflichtungen im Inund Ausland leistete.217 Weehrth hatte sich allerdings schon sehr früh für soziale Themen interessierte, die in der bürgerlich-liberalen Bewegung so gut wie keine Rolle spielten. Das begann bereits mit seiner Mitwirkung am schon erwähnten „Bürgerbuch“ des Hermann Püttmann (1844/46), für das er neben Freiligrath, Herwegh und Friedrich Engels Beiträge schrieb. Seine Freundschaft mit Freiligrath, in Detmolder Zeiten sein Nachbar, führte ihn auf die Seite der Revolutionäre. Noch entscheidender aber wurde die Begegnung mit Karl Marx, den er 1845 in Brüssel kennen lernte. Weerth schloss sich der kommunistischen Bewegung an, wurde Mitglied des „Bundes der Kommunisten“ und diente von England aus als Verbindungsmann zu dessen Anhängern auf dem Festland. In einem heiter beginnenden „Pflingstlied“ von 1845 bringt der offensichtlich als politischer Neuanfang gedachte Frühling der alten Erde als Mitbringsel „Revolutionen ein Dutzend“.218 Solche Wendungen vom scheinbar Idyllischen zum aktuell Politischen hatte bereits Freiligrath vorexerziert. Auch Weerths Gedicht „Freund Lenz“219 aus demselben Jahr, dessen Thema das Erwachen des Frühlings (des Lenzes) zu sein scheint, mündet in der Schlussstrophe in einen revolutionären Aufruf an die Armen, die in Hütten leben: Ich küsse deiner Kinder müde Stirnen, Ob all ihr Glanz verloschen und verstaubt, Ich will gleich der Lawine von den Firnen Wälzen den Gram von ihrer Mutter Haupt Und Feuer menge ich mit deinem Blute, Daß bald die Hand, die nur am Pfluge ruhte, Zum Schwerte greift und ringend im Gefecht Von Schmach befreit ein unterdrückt Geschlecht!

217 Vgl. dazu u.a.: Füllner, Bernd (2006): Georg-Weerth-Chronik. Bielefeld. 218 Weerth, Georg (1956/57): Sämtliche Werke in fünf Bänden. Berlin. Bd. 1: 263. 219 Ebda.: 173 f.

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So wie Karl Marx wesentliche Erfahrungen mit der Situation der Industriearbeiter in England gemacht hatte, sammelte auch Weerth ab 1843 im englischen Bradford entsprechende Eindrücke, die er in seinen „Liedern aus Lancashire“ verarbeitete. Einige davon wurden 1845 im ersten Jahrgang einer Zeitschrift veröffentlicht, die den unmissverständlichen Titel trug „Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände“. So das Lied vom „armen Schneider“, der sich in seiner Hoffnungslosigkeit erhängt, oder das Lied zum Tod von hundert Grubenarbeitern „Die hundert Männer von Haswell“ oder „Der Kanonengießer“ 220, der als Arbeitsinvalide erbarmungslos entlassen wird, sich aber immerhin in der Hoffnung auf eine spätere Rache noch Trost zuspricht: Er ging – die Brust so zornig weh. Als ob sie der Donner durchgrollte Von allen Mörsern, die er je Hervor aus den Formen rollte. Doch ruhig sprach er: ‚Nicht fern ist das, Vermaledeite Sünder! Da gießen wir uns zu eignem Spaß Die Vierundzwanzigpfünder.‘

Weerth nimmt auch als einer der Ersten im Gedicht „Die Industrie“ von 1845221 die Industrialisierung mit ihren Licht- und Schattenseiten wahr. Darin heißt es in der achten Strophe: So donnert laut das Ringen unsrer Zeit, Die Industrie ist Göttin unsren Tagen! Zwar noch erscheint’s, sie halte starr gefeit Mit Basiliskenblick der Herzen Schlagen; Denn düster sitzt sie auf dem finstern Thron, Und geißelnd treibt zu unerhörter Fron, Tief auf der Stirn des Unheils grausen Stempel, Den Armen sie zu ihrem kalten Tempel.

220 Ebda.: 202–204. 221 Ebda.: 182–184.

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Doch der Arme, der „Paria“, kann und soll hoffen: „Was er verlieh, des Menschen hehrer Geist, / Nicht Einem – Allen soll es angehören!“ – eine Anspielung auf die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel, wie sie von Sozialisten und insbesondere von Karl Marx gefordert wird. Weerths Fazit: Wenn „die letzte Kette klirrend reißt“, kann die Industrie ihren Segen nicht nur für einige wenige, sondern für alle entfalten. Viele Gedichte Weerths aus der Zeit vor 1848 wurden erst nach seinem frühen Tod 1856 (in Havanna/Kuba) gedruckt, manche sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg, so auch sein eindrucksvolles „Hungerlied“ (1953). Zur französischen Februarrevolution 1848 reiste Weerth eigens von England nach Paris und nahm an einer von Herwegh angeführten Demonstration teil. Die deutsche „Märzrevolution“ und ihr Scheitern kommentierte Weerth noch in einigen wenigen Gedichten. Sein Prosaschaffen, in dem er sein satirisches Talent unter Beweis stellen konnte, gipfelte zuletzt im Feuilletonroman „Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski“, der 1848/49 in Fortsetzungen, anschließend als Buch erschien. Darin wollte er, wie er selbst einmal sagte222, nicht so sehr einen beliebigen „Krautjunker“, den konservativen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Fürst Felix Lichnowski223 persiflieren, sondern „eine ganze Klasse der Gesellschaft“ treffen. Die „Verleumdung“ der konkreten Person aber trug ihm 1850 in Köln eine dreimonatige Haftstrafe ein. Danach stellte Weerth sein literarisches Schaffen gänzlich ein. Spät, aber für Weerths Reputation bei Sozialisten und Kommunisten bis ins 20. Jahrhundert maßgeblich attestierte Friedrich Engels 1883 dem Dichter, er sei der „erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats“ gewesen, wobei Engels ihn sogar über Heine stellte. Bei aller Anerkennung seiner literarischen Kunst überwog in diesem Urteil zweifellos die Sympathie für Weerths politische, um nicht zu sagen: parteipolitische Überzeugung.

3.8  Der Aufbruch in eine neue öffentliche Kommunikation

Die inhaltliche Bandbreite der Manifestationen, in denen sich im Vormärz die oppositionellen Kräfte artikulieren, lässt zunächst einmal nur eine allgemeine Gemeinsamkeit erkennen: Die alte monarchisch geprägte Ordnung soll durch ein neues politisches und gesellschaftliches System ersetzt werden. Diese 222 Kircher, Hartmut (1989): Georg Weerth. In: Deutsche Dichter. Stuttgart. Bd. 5: 606–615 (613). 223 Bereits 1843 hatte Heine ihn in „Atta Troll“ als „Fürst Schnapphahnski“ verspottet.

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gemeinsame Vision verleiht mehr oder weniger allen Positionen eine starke Schubkraft und trägt zu einer generellen Politisierung breiterer Bevölkerungskreise bei, so dass sich auch inhaltlich begrenzte Konflikte mit Obrigkeiten relativ schnell zu sehr grundsätzlichen Auseinandersetzungen ausweiten können. Dabei spielen dann die Urleitbilder „Freiheit“ und „Gleichheit“ verbunden mit dem Wunsch nach Überwindung der Vielstaaterei, durch die Schlüsselwörter des Leitbilds von deutscher Einheit, „ein Volk“, „ein Vaterland“ und „eine Nation“ markiert, immer wieder eine maßgebliche Rolle. Wie ein neues politisches und soziales System aber konkret ausgestaltet sein soll, darüber gehen die Meinungen teilweise weit auseinander, weil die beschworenen Leitbilder oft noch sehr abstrakt bemüht werden, so dass man zwischen Schlüsselwort und bloßem Schlagwortgebrauch manchmal nicht recht unterscheiden kann. Man beachte, dass auch zeitgenössisch schon Schlagwortkritik betrieben wird; erinnert sei nur an entsprechende Äußerungen von Heine, Hoffmann von Fallersleben, Freiligrath oder Wienbarg. Die Pole, zwischen denen sich die Akzentuierungen der Zukunftsvision bewegen, sind zweifellos das Streben nach „Reform“ einerseits und die Hoffnung auf „Revolution“ andererseits. Dass Reformanhänger sehr wohl auch traditionelle Überzeugungen weiter pflegen wollten, wird am deutlichsten auf dem Wartburgfest, wenn dort – bei aller Hoffnung auf eine neue Ordnung – die Fürstenwürde als das „Erhabenste“ und „Heiligste“ deklariert wird. Diese konservative Tendenz, die sich teilweise sogar ausdrücklich dagegen verwahrt, die französischen Revolutionsideen auf Deutschland zu übertragen, wird sich schließlich sogar im Beschluss des Paulskirchenparlaments niederschlagen, einen regierenden König zum Staatsoberhaupt zu machen. Die sich von den bürgerlichen Liberalen absetzenden „Demokraten“ hingegen widersprechen dem aufs heftigste, wobei ihr radikaler Flügel auch den bewaffneten Kampf für eine Republik, schließlich eine Revolution befürwortet. Die ideologische Rechtfertigung, sogar für eine „Weltrevolution“, wird das Programm von Marx und Engels liefern. Umstürzende Ideen hatte dieser Richtung bereits der Frühsozialismus im Gefolge der französischen Saint-Simonisten geliefert, der im Vormärz überall dort durchscheint, wo versucht wird, bei den bislang vernach­ lässigten unteren Volksschichten ein eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln (Teil 2, 7.2). Zur Begründung eines neuen Kommunikationsgefüges, in dem nicht mehr nur der Anspruch der Herrschenden auf allgemeines Gehör und auf Deutungshoheit galt, trugen natürlich auch die außersprachlichen Kontexte bei, in denen sich oppositionelle Positionen äußerten. Genereller (negativer) Kontext war die

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ständige Bedrohung durch den Deutschen Bund und seine Einzelstaaten, unter der Autoren und ihre Texte grundsätzlich den Verdacht der Illegalität ertragen mussten. Aber auch einzelne Formen der Opposition, in denen man miteinander in Kontakt trat, sind als außersprachlicher Kontext von großer Bedeutung. Das bis 1849 wohl wichtigste Symbol der Freiheits- und Nationalbewegung war zweifellos die „deutsche Trikolore“ Schwarz-Rot-Gold, die mehr als tausend Worte sagen konnte. Eine besondere Rolle spielten die als Feste getarnten Zusammenkünfte, wobei bereits vom gemeinsamen Zug zum Versammlungsort, zur Wartburg 1817 und 1832 zur Schlossruine von Hambach, starke emotionale Wirkungen ausgehen konnten – nicht zu vergessen der Gesang: Im gemeinsamen Singen konnte sich der Einzelne als Glied eines großen Ganzen fühlen. Aber auch die außer- und parasprachlichen Symbole hätten keine eigene Kraft gehabt, hätte ihnen nicht eine vorgängige sprachliche Verständigung über ihren Sinn und Zweck zugrunde gelegen. Eine solche Verständigung war indes im Wesentlichen von Hoffnungen auf erst zukünftig erreichbare Ziele getragen.

4  Deutsche Revolutionen 1848/49 im Kampf um die Leitbilder 4.1  Kontroversen am Vorabend der „Märzrevolution“ 140 |  4.2  Die Rückzugslinie monarchischer Macht 142 |  4.3  Die badischen Revolutionen 1848/49 143 |  4.4  Aufstände in Bayern und Sachsen 146 |  4.5  Revolution in Preußen 147 |  4.6  Die Auseinandersetzungen und Kämpfe in Österreich 149 |  4.7  Die Gemengelage der Leitbilder 151

Das Jahr 1848 ist in doppelter Hinsicht ein Epochenjahr. Zum einen schlug die über dreißig Jahre lang betriebene Agitation zur Überwindung der Restauration an vielen Stellen gleichzeitig in revolutionäres Handeln um, wobei insbesondere die Forderung nach einer allgemeinen deutschen Volksvertretung, wenn auch nur vorübergehend, in der Frankfurter Nationalversammlung erfüllt werden konnte. Zum anderen fand in diesem Jahr das wachsende Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft im „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels einen ersten programmatischen Ausdruck. Von da an trennten sich die politischen Wege der Arbeiterbewegung und der Bürgerlich-Liberalen, die schon in der Französischen Revolution den sogenannten Vierten Stand unberücksichtigt gelassen hatten. Diese Spaltung hatte schwerwiegende Folgen für die deutsche Innenpolitik bis weit ins 20. Jahrhundert, und sie schuf ein grundsätzlich neues Gefüge der politischen Kommunikation.

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4.1 Kontroversen am Vorabend der „Märzrevolution“ „Förderung der Nationalanliegen“ oder „revolutionäre Republik“

Der schon länger schwelende Dissens innerhalb der Opposition zwischen „Liberalen“ mit ihrer grundsätzlichen Orientierung an einer eher evolutionären Veränderung der bestehenden Ordnung und „Demokraten“, die die sofortige Gründung einer Republik verlangten, wurde am Vorabend der „Märzrevolution“ unübersehbar. Während die Revolutionsrhetorik insgesamt immer radikaler wurde, hatten sich am 10. Oktober 1847 in Heppenheim an der Bergstraße achtzehn führende liberale Politiker vornehmlich aus dem Südwesten getroffen, darunter Friedrich Daniel Bassermann (1811–55) und Heinrich von Gagern (1799–1880), zwei der prominentesten Oppositionellen, um über die zentralen Themen der Freiheits- und Nationalbewegung zu beraten.224 Im Vordergrund standen natürlich die Errichtung eines Nationalstaats und die Einrichtung einer entsprechenden gesamtdeutschen Volksvertretung. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass für „die Förderung der Nationalanliegen […] von der Bundesversammlung, wie sie gegenwärtig besteht, nichts Ersprießliches zu erwarten sei“, wie Karl Mathy, selbst Teilnehmer in Heppenheim, in der Heidelberger „Deutschen Zeitung“225 berichtete. Was die Beratungen von anderen Zusammenkünften mit gleicher Thematik grundsätzlich unterschied, war, dass die Teilnehmer die praktische Politik aus ihrer Arbeit als Mandatsträger in ihren Staaten kannten und nun für sich und andere Mandatsträger überlegten, wie man unter den gegebenen Umständen die liberale Sache ohne Revolution voranbringen könnte. Kennzeichnend für den Pragmatismus der „Heppenheimer“ war der Vorschlag, den Deutschen Zollverein, also eine bereits funktionierende Institution, in der die Mehrheit der deutschen Staaten vertreten war, an die Stelle des Deutschen Bundes treten zu lassen.226 Die Idee zu diesem Zollverein stammte bereits von dem Nationalökonomen Friedrich List.227 Der Deutsche Zollverein war der 1834 durch Einzelverträge zwischen einer Reihe von Staaten des Deutschen Bundes zustande gekommene 224 Dazu: Hoede, Roland (1997): Die Heppenheimer Versammlung 1847. Frankfurt a. M. 225 Abdruck

in: Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.) (31978): Deutsche Verfassungsdokumente 1803– 1850. Bd. 1. Stuttgart: 324–326. 226 Ebda. 227 Dazu: Görtenmaker (41994): 166; Lachmann, Werner (2003): Entwicklungspolitik. Bd. 1. München: 128.

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Zusammenschluss zur Koordinierung der Zoll- und Handelspolitik. Die Idee, über eine ökonomische bestimmte Gemeinschaft zu einer politischen Einheit zu gelangen, war so abwegig nicht. Immerhin ist dieser Weg im 20. Jahrhundert prinzipiell und in noch größerem Stil, von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union (EU), tatsächlich gegangen worden. Aber nicht nur die weitere politische Entwicklung Ende 1847/Anfang 1848 ließ eine solche Lösung nicht zu. Österreich gehörte dem Zollverein nicht an, so dass Preußen darin gut dominieren konnte. Mit einer politischen Einheit auf der Basis des Zollvereins aber wäre für einen Nationalstaat die kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung von vornherein fixiert gewesen, was dann doch (noch) nicht im Sinne der „Heppenheimer“ lag. Mathys wie andere Zeitungsberichte über diese Tagung machten deren Positionen weithin bekannt. Die meisten Regierungen des Deutschen Bundes reagierten empört, mussten sich aber bald mit noch kritischeren Vorschlägen auseinandersetzen. Hier war zumindest theoretisch ein Weg aufgezeigt worden, wie man ohne eine revolutionäre Umwälzung die gegenwärtige politische Situation überwinden könnte. Bei dieser gemäßigten Linie blieb auch noch eine weitere Versammlung, auf der sich am 3. März 1848 in Heidelberg 51 liberale und demokratische Politiker, wiederum vor allem aus dem Südwesten, trafen. Diesmal war der Teilnehmerkreis zwar nicht wie in Heppenheim auf schon aktive, also in politischer Praxis erfahrene Mandatsträger beschränkt, sondern es nahmen auch Nichtmandatsträger wie die Juristen und Publizisten Friedrich Hecker (1811–81) und Gustav Struve (1805–70) teil, die deutlich radikalere Positionen vertraten. Gleichwohl folgte man auch in Heidelberg nicht dem Vorschlag, eine Revolution zu unterstützen228, obwohl oder gerade weil die aktuelle Situation bereits von revolutionären Vorgängen bestimmt war. Zudem war in Frankreich einen Monat zuvor erneut ein König, diesmal Louis-Philipp, durch Revolution gestürzt worden; man fürchtete eher eine französische Aggression wie von den Revolutionstruppen in den 1790er Jahren. Am 24./25. März breitete sich insbesondere in Baden – nur durch Gerüchte gestützt – sogar Angst vor einer unmittelbar bevorstehenden französischen Invasion aus.229 In der Erklärung der „Heidelberger“ heißt es bereits zu der generellen Befürchtung unter anderem: 228 Engehausen, Frank/Hepp, Frieder (Hrsg.) (1998): Auf

dem Weg zur Paulskirche: Die Heidelberger Versammlung vom 5. März 1848. Begleitband zu der Ausstellung im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg vom 5. März – 3. Mai 1998. Ubstadt-Weiher. 229 Zeitgenössisch machte man sich über diesen „Franzosenlärm“ lustig; dazu: Ruttmann (2001): 59.

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Einmütig entschlossen in der Hingebung für Freiheit, Einheit, Selbständigkeit und Ehre der deutschen Nation, sprachen alle die Überzeugung aus, daß die Herstellung und Verteidigung dieser höchsten Güter im Zusammenwirken aller deutschen Volksstämme mit ihren Regierungen […] erstrebt werden müsse.230

Noch galt für Liberale wie Demokraten gleichermaßen das Leitbild der nationalen Einheit und damit einer „deutschen Nation“ im Sinne einer Staatsnation mit all ihren Hochwerten wie Freiheit, Einheit, Selbständigkeit und Ehre. Wie dieses Leitbild aber in die politische Praxis überführt werden sollte, darüber gingen die Ansichten sehr schnell auseinander. Denn inzwischen hatte Gustav Struve einen Entwurf einer republikanischen Verfassung für eine Staatsform erarbeitet, wie sie in Amerika durch Revolution errungen worden war. Darin wurde unter anderem nicht nur die „Abschaffung aller Vorrechte […] insbesondere des Adels, der Privilegien des Reichtums“, sondern auch die „Abschaffung des Notstandes der arbeitenden Klassen und des Mittelstandes“ verlangt231 – ein Entwurf, den Struve auch im Frankfurter Vorparlament zum Antrag erheben wird, der aber für die weiteren Verfassungsberatungen nicht übernommen wurde.

4.2  Die Rückzugslinie monarchischer Macht „Märzforderungen“ und „Märzregierungen“

Wieder einmal wirkte vor allem bei dem Teil der deutschen Opposition, der zum konkreten Handeln entschlossen war, ein mächtiger Impuls aus Frankreich. In Paris war, wie schon angedeutet, im Februar 1848 der ursprünglich liberale „Bürgerkönig“ Louis-Philipp ob seiner immer autokratischer gewordenen Politik in heftigen Barrikadenkämpfen vom Thron gestürzt und zur Flucht nach England gezwungen worden. Es kam zur Gründung der „Zweiten Republik“ mit einem Staatspräsidenten an der Spitze: Louis Napoleon Bonaparte, ein Neffe Napoleons I. Beim Sieg der Konservativen und gemäßigt Liberalen in den anschließenden französischen Nationalratswahlen am 23. April 1848 zerbrach aber das Bündnis von Bürgern und Arbeitern, die in der Februarevolution noch gemeinsam gekämpft hatten. Im Juni 1848 begehrte die Arbeiterschaft in einem weiteren Aufstand auf, der aber blutig niedergeschlagen wurde. Louis Napoleon 230 Fenske (1991): 271. 231 Text in: Huber (21995), Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1: 332–34.

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nutzte schließlich Ende 1851 innenpolitische Auseinandersetzungen dazu, die Republik wieder abzuschaffen und ein „Zweites Kaiserreich“ zu begründen. Fortan nannte er sich „Napoleon III., Kaiser der Franzosen“.232 Durch die in Frankreich (erneut) revolutionär errungene Republik wurden im Februar/März 1848 nun auch in Deutschland ebenso wie in den von Preußen und Österreich beherrschten Ländern und Provinzen, in Polen, Ungarn, Böhmen, Mähren oder Oberitalien, alle, die das herrschende System überwinden wollten, ermutigt, ihre Forderungen endlich nicht mehr nur rhetorisch zu vertreten, sondern mit Taten durchzusetzen. Die revolutionären Entwicklungen bis ins Jahr 1849 verlaufen indes regional unterschiedlich und sind von einem dauernden Wechselspiel von Erfolg und Misserfolg geprägt. Zunächst gelingt es, den Monarchen die Berufung liberaler Regierungen, sogenannter Märzregierungen, abzuringen. Ein nachhaltiger Erfolg aber bleibt den deutschen Revolutionären schon wegen des Fehlens einer einheitlichen Leitung versagt. Auch zerfällt die Opposition in den verschiedenen Bundesstaaten sehr bald in verschiedene Fraktionen mit unterschiedlichen Interessen und Zielen. Auch die Frankfurter Nationalversammlung, das Paulskirchenparlament, wird von einer Spaltung der lange Zeit im Grundsatz einigen und gemeinsam agierenden Kräfte nicht verschont bleiben. Schon vor 1848 hatte sich abgezeichnet, dass die Begriffe „liberal“ und „demokratisch“, die zunächst mehr oder weniger nur wie bloße Bezeichnungsvarianten für ein und dieselbe Position erschienen waren, semantisch divergierten und für zwei grundverschiedene politische Strategien stehen sollten. Eine weitere Differenzierung der politischen Richtungen entwickelte sich, ebenfalls schon in der Zeit vor 1848, durch den Einfluss (früh-)sozialistischer Ideen. In deren Spektrum schlug 1848 wie ein Blitz das Programm für eine „kommunistische Weltrevolution“ ein.

4.3  Die badischen Revolutionen 1848/49 „Man gebe dem Volke Waffen“

Eine Initialzündung zur sogenannten Märzrevolution ging vom Großherzogtum Baden aus. So spontan sie erschien, so sehr war sie sprachlich längst vorbereitet. Schon am 11. September 1847 hatten in Offenburg „Demokraten“, also radikale 232 Als

Napoleon II. (Napoleon Franz Bonaparte, 1811–32) gilt der einzige legitime männliche Nachkomme Napoleons I., der aber dessen Nachfolge nicht antreten konnte.

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„Liberale“, unter der Führung von Friedrich Hecker dreizehn „Forderungen des Volkes in Baden“ beschlossen und per Flugblatt verkündet. Im ersten Teil verlangten sie die „Wiederherstellung unserer verletzten [badischen] Verfassung“, dabei auch an erster Stelle, dass sich die badische Staatsregierung von den Karlsbader Beschlüssen und weiteren die Freiheit einschränkenden Beschlüssen des Deutschen Bundes lossage; denn sie „verletzen unser unveräußerliches Menschenrecht“. Ausdrücklich als „unveräußerliches Recht“ wurde auch die Pressefreiheit eingefordert, ferner die „Gewissens- und Lehrfreiheit“ sowie die „persönliche Freiheit“. Das waren eindeutige Berufungen auf die Erklärung der Menschenrechte während der Französischen Revolution 1789. Die „Offenburger“ forderten ferner Versammlungs- und Vereinsrecht und wandten sich gegen Polizeiwillkür. Teil II widmete sich der Weiterentwicklung der Verfassung, die teilweise weit über rein badische Belange hinausgehen sollte. Dabei wurde vorrangig eine „Vertretung des Volks beim deutschen Bunde“ verlangt. Das ist freilich noch keine im engeren Sinne republikanische Vision. Die Formulierung „Dem Deutschen werde ein Vaterland“ zielte unmissverständlich auf Errichtung eines Nationalstaats. Alle Vorrechte sollten abgeschafft werden. Die Besteuerung sollte gerechter werden; außerordentlich modern klingt dabei das Verlangen nach einer „progressiven Einkommenssteuer“. Zur Konkretisierung der Forderung einer „volksthümlichen Wehrverfassung“233 hieß es: „Man gebe dem Volke Waffen“, schon um es von den Kosten für ein stehendes Heer zu entlasten; auch sollte das Heer auf die Verfassung vereidigt werden. Geschworenengerichte sollten eingerichtet werden. Als sich am 27. Februar 1848 in einer Volksversammlung in Mannheim badische Demokraten und Liberale noch einmal gemeinsam versammeln, stellen sie in einer „Petition“ an die Zweite Kammer der Badischen Landstände gleiche Forderungen wie die „Offenburger“ 1847, die zusammenfassend „Märzforderungen“ genannt werden: die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, Pressefreiheit, Volksbewaffnung, Schwurgerichte nach englischem Vorbild, Errichtung eines Nationalstaats, die sofortige Einberufung eines deutschen Parlaments und eine deutsche Verfassung. Man beachte, dass diese Forderungen noch an ein bestehendes staatliches Organ, die badische Zweite Kammer, im Rahmen der alten Ständeordnung gerichtet waren. Bei aller Radikalität des Inhalts hätte man, drei Tage nach dem erfolgreichen Umsturz in Paris, vielleicht noch auf Gewalt verzichtet. 233 „Volksthümlich“ ist hier wie in anderen Zusammenhängen noch nicht auf die Bedeutung „popu-

lär“ eingeschränkt, sondern entspricht dem heutigen Begriff „demokratisch“.

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Die Erfolglosigkeit schon der Offenburger Forderungen vom September des Vorjahres hat wohl die Geduld der Petenten überfordert. Jedenfalls besetzen am 1. März Aufständische zur Durchsetzung ihrer Forderungen das Ständehaus des badischen Landtags in Karlsruhe. In Freiburg übernehmen die Revolutionäre die Kontrolle über die Stadt. Das Großherzogtum Baden ist damit der erste Bundesstaat, in dem es zu ernsten, bald auch bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Revolutionären und der Staatsmacht kommt. Am 12. April rufen Struve und Hecker die Republik aus und fordern die Bürger zur bewaffneten Erhebung auf. Hecker will mit einer Streitmacht nach Karlsruhe ziehen, wird aber noch im Schwarzwald am 20. April von hessischen Truppen geschlagen. Ähnlich ergeht es eine Woche später der „Deutschen Demokratischen Legion“ Georg Herweghs, die sich von Paris über Straßburg marschierend eigentlich mit dem sogenannten Heckerzug vereinen wollte, aber von württembergischem Militär besiegt wird. Hecker und Struve können in die Schweiz entkommen. Struve wird im September nach einem erneuten Versuch, in Lörrach eine „Deutsche Republik“ auszurufen und mit einer neuen Freischar gegen Karlsruhe zu marschieren, nach deren Niederlage bei Staufen auf der Flucht verhaftet und nach einem Prozess mit anderen Aufständischen in der Bundesfestung Rastatt eingekerkert. Die Republikaner in Baden aber gaben keine Ruhe. Ihr spektakulärster Erfolg war im Mai 1949 die Meuterei der badischen Soldaten in Rastatt, die sich mit der revolutionären Bürgerwehr verbrüdern, sowie die Verbrüderung mit einem badischen Infanterieregiment in Freiburg. Die Rastätter Gefangenen, darunter Struve, werden befreit. Der Großherzog flieht ins preußische Koblenz. In einer Reihe von Gefechten der aufständischen Truppen mit Bundesmilitär, vor allem mit preußischen Kontingenten, zwischen Ende Juni und dem 23. Juli 1849 unterliegen die Revolutionäre. Hecker und Struve wanderten schließlich in die USA aus, wo sie zur Gruppe der „Achtundvierziger“ zählten, die sich am dortigen politischen Leben ebenfalls aktiv beteiligten.234 Die Entschlossenheit und Brutalität der badischen Revolutionäre hat ihren Reflex – wohl erst nach ihrer Niederlage – im sogenannten Heckerlied235 gefunden, das in der Folgezeit als Revolutionslied in zahlreichen Varianten gesungen wurde. Schon der mutmaßliche Originaltext des sechsstrophigen Liedes „Wenn die Leute fragen / Lebt der Hecker noch“ lässt nichts an Deutlichkeit zu wün234 Struve kehrte aber später wieder nach Europa zurück. 235 Text u.a. in: www.heckerlied.badnerland2000.de, letzter Zugriff: 3.4.2015. Nach 1918 kam eine

extrem antisemitische Umdichtung, auch als SA-Lied, in Umlauf; Schlosser (2013): 115.

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schen übrig. Am Ende jeder Strophe heißt es „Nieder mit den Hunden von der Reaktion“. Noch direkter wird unter anderem gesungen: „Fürstenblut muß fließen / Knüppelhageldick / Und daraus ersprießen / Die freie Republik.“ (2. Strophe), „Schmiert die Guillotine mit Tyrannenfett“ (3. Strophe) und „An den Darm der Pfaffen hängt den Edelmann“ (6. Strophe). In kurzer zeitlicher Folge erhoben sich 1848, dann wieder 1849 auch in zahlreichen anderen Bundesstaaten die revolutionären Kräfte. Die Verhältnisse in Bayern und Sachsen, insbesondere aber in Preußen und Österreich sollen etwas näher beleuchtet werden.

4.4  Aufstände in Bayern und Sachsen „Ernst ist die Lage in Teutschland“

Am 3. März 1848 forderten Tausende Münchner, diesmal in einer Petition direkt an den König Ludwig I., Reformen und Freiheitsrechte. Der Umschwung vom Wort zur Tat erfolgte hier allerdings über Nacht. Denn schon am nächsten Tag kam es zu Demonstrationen und zur Erstürmung des Zeughauses, wo sich die Aufständischen mit Waffen versorgten, und zu Straßenkämpfen. Der König reagierte am 6.  März mit einer „Königlichen Proklamation“, der sogenannten Märzproklamation, in der er politische Reformen versprach. Bis dahin war die von der Verfassung von 1808 vorgesehene (bayerische) Nationalrepräsentation nie einberufen worden, ihr hätte ohnehin keine Gesetzesinitiative zugestanden. Nun aber konnte der „Landtag“, wie die neue Volksvertretung genannt wurde, bis zum Mai zahlreiche rechtsstaatliche Reformen beschließen, darunter die Garantie der Pressefreiheit, die Befreiung der Bauern von der Erbuntertänigkeit, die weitere Emanzipation der „Israeliten“, also der Juden, ferner die Öffentlichkeit der Gerichte und Verbesserungen des Strafrechts sowie des Wahlrechts. Dies trug zunächst zur Befriedung der Unruhen bei. Ludwigs seit 1846 andauernde Affäre mit der Tänzerin Lola Montez hatte allerdings schon zuvor zu Unruhen in der Münchner Bevölkerung geführt. Auf dem Höhepunkt dieser Affäre dankte Ludwig am 20. Mai ab und sein Sohn, Maximilian II., bestieg den Thron. Auch er fühlte sich der Märzproklamation verpflichtet und ließ weitere Reformen zu, durch die er Liberale, aber auch Konservative auf seine Seite ziehen konnte. In einem wesentlichen Punkt ergab sich freilich noch ein schwerwiegender Konflikt mit den Liberalen. Am 5. Januar 1849 lehnte die bayerische Regierung das von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Reichsgesetz über

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die Grundrechte des deutschen Volkes und am 23. April, aus Sorge um den Verlust von Hoheitsrechten, die ganze Reichsverfassung ab. Die Empörung war groß, wenn auch nicht allgemein. Besonders groß war sie indes bei den zahlreichen „Märzvereinen“236. Es wurden Forderungen nach Abspaltung der bayerischen Rheinpfalz laut. Obendrein riefen im Mai 1849 Revolutionäre in der Pfalz die Republik aus. Daraufhin ging die Regierung mit Waffengewalt gegen die Märzvereine und gegen die Pfälzer Republikaner vor. Nachdem auch der sächsische König Friedrich August II. in Reaktion auf gewalttätige Erhebungen, vor allem in Leipzig, zunächst liberale Zugeständnisse gemacht hatte, kam es in Sachsen im Mai 1849 ebenfalls wegen der Ablehnung der Paulskirchenverfassung, aber konkret auch wegen der Auflösung des sächsischen Parlaments durch den König zu neuen radikaldemokratischen Revolten. Sie steigerten sich in Dresden zum offenen Aufstand, an dem auch der Hofkapellmeister Richard Wagner237 aktiv teilnahm. Eine führende Rolle hatte dabei der russische Anarchist Michail Bakunin. Ziel war die Gründung einer sächsischen Republik. Der König musste auf die Festung Königstein bei Dresden fliehen, von wo aus er um preußische Hilfe bat, weil das Gros seiner Truppen im Krieg gegen Dänemark in Holstein gebunden war. Preußen ließ seine Truppen in Dresden einmarschieren, und nach heftigen Straßenschlachten wurde der Aufstand binnen kurzem blutig beendet.

4.5  Revolution in Preußen „Preußen geht fortan in Deutschland auf“

Auch in Berlin brechen Anfang März 1848 Unruhen aus. Nach einem Augenzeugenbericht Theodor Fontanes soll es sich dabei zunächst nur um unbedeutende „Straßenkrawalle“ gehandelt haben. In Wirklichkeit aber gingen sie von zahlreichen, eigentlich illegalen Versammlungen aus, in denen eine Reihe revolutionärer Forderungen erhoben worden war, die man auch hier dem König persönlich vortragen wollte. Überdies heizten permanente Attacken des Militärs die

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lehnten eigentlich die Abschaffung der Monarchie und damit ein Kernstück der Paulskirchenverfassung ab; dazu: Teil 2, 5.5. 237 Seine frühe revolutionäre Haltung hatte Wagner bereits 1842 mit seiner Oper „Rienzi“ dokumentiert.

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Stimmung an.238 Die Nachricht von Metternichs Sturz am 13. März gab den Aufrührern zusätzlichen Auftrieb. Auch in anderen Städten Preußens, bis ins Rheinland und in Westfalen sowie in der preußischen Provinz Posen239, kommt es zu Widerstandshandlungen und Aufruhr. Die Berliner Aufständischen ließen sich vorläufig beruhigen, als bekannt wurde, dass König Friedrich Wilhelm IV., Sohn und seit 1840 Nachfolger Friedrich Wilhelms  III., politisch einlenken wolle. Tatsächlich verkündete der König am 18. März, dass er den „Vereinigten Landtag“ einberufen, Pressefreiheit gewähren und Zollschranken beseitigen sowie sich für eine Reform, eine „Regeneration“, des Deutschen Bundes einsetzen wolle. Vor dem Stadtschloss hatte sich an diesem Tage eine eigentlich freudig erregte Menge eingefunden, als plötzlich von herbeigeeiltem Militär, das den Schlossplatz räumen wollte, einige Schüsse abgefeuert wurden. Die flüchtenden Menschen wurden verfolgt, wobei 183 Personen getötet wurden. Noch in der Nacht kam es zu Barrikadenkämpfen. Als man am 19. März in einem Trauerzug die Leichen der „Märzgefallenen“ vor das Stadtschloss geführt hatte, erschien der König persönlich auf dem Schlossbalkon; dabei trug er demonstrativ eine schwarz-rot-goldene Armbinde. Auf Verlangen der Menge zog Friedrich Wilhelm vor den Gefallenen sogar seine Militärmütze. Und er versprach noch am selben Tag, seine Truppen aus Berlin abzuziehen. Sein jüngerer Bruder, Prinz Wilhelm, als Wilhelm I. der spätere preußische König und Deutsche Kaiser, wollte dagegen die Erhebung von außen mit Kanonen, mit „Kartätschen“, niederringen, was ihm den Spitznamen „Kartätschenprinz“ eintrug. Friedrich Wilhelm IV. indes stellte sich kurz darauf in einem Aufruf „An mein Volk und die deutsche Nation“ verbal sogar an die Spitze der nationalen Einheitsbewegung. Darin erklärte er: „Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt.“ – was genau genommen zweideutig war. Denn die Farben Schwarz-Rot-Gold kamen inzwischen auch im Wappen des Deutschen Bundes vor: schwarzer Doppeladler mit roten Schnäbeln und roten Klauen auf goldenem Schild; entfernt konnte man auch mittelalterliche Kaiserwappen, etwa das sehr ähnliche Wappen Ottos IV. (1189–1218) assoziieren. Friedrich Wilhelm IV. ergänzte aber sogleich: „Preußen geht fortan in Deutschland auf.“ – eine Ankündigung, die unter Bismarcks Reichspolitik noch eine ganz eigene Bedeutung erhalten sollte. 238 Die Berliner März-Revolution (1848). 239 Eine gesamtpolnische Erhebung war bereits 1846 militärisch niedergeschlagen worden.

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Am 29. März setzte der König ein liberales Kabinett, das sogenannte Märzministerium, ein, das er aber auf Druck des Adels und des Militärs schon knapp drei Monate später wieder absetzte. Als die zunächst beruhigten Aufständischen feststellen mussten, dass ihre Forderungen nur zögerlich oder gar nicht erfüllt wurden, stürmten am Abend des 14. Juni vor allem jugendliche Demonstranten das Zeughaus Unter den Linden und versorgten sich mit Waffen. Das inzwischen gegen die Zusage des Königs vom 19. März in Berlin wieder eingerückte Militär entwaffnete zusammen mit der Bürgerwehr, die eigentlich auf Seiten der Opposition hätte stehen sollen, die Eindringlinge und vertrieb sie. Die „Preußische Nationalversammlung“, ein Parlament, das erstmals durch eine allgemeine und gleiche240 Wahl im Mai zustande gekommen war241, blieb mit seinen Bemühungen, eine Verfassung zu verabschieden, erfolglos: Der Entwurf wurde im Juli vom König schlicht abgelehnt. Stattdessen oktroyierte er eine eigene Verfassung, die zwar einige Grundrechte bestehen ließ, dem König aber ein absolutes Veto einräumte und ihm erlaubte, eigene Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, wenn das Parlament nicht tagte. Die preußische Nationalversammlung, zuletzt lediglich noch ein in Brandenburg/Havel tagendes „Rumpfparlament“, an dem sich nur noch gemäßigte Abgeordnete beteiligten, wurde am 5. Dezember 1848 vom Militär gewaltsam aufgelöst. Friedrich Wilhelm IV. setzte wieder ganz auf die ständisch strukturierten, traditionellen Landtage, denen nur ein Mitberatungs-, aber kein Mitbestimmungsrecht zugebilligt war.242 Die Reaktion hatte auf ganzer Linie gesiegt. Auch das von der preußischen Nationalversammlung gestrichene „Gottesgnadentum“ des Königs wurde wieder eingeführt. Gleichwohl blieb Preußen formal eine konstitutionelle Monarchie.

4.6  Die Auseinandersetzungen und Kämpfe in Österreich „Wünsche Unserer treuen Völker“

Am 3. März 1848 war in der Wiener Ständeversammlung eine Rede des ungarischen Nationalistenführer Lajos Kossuth verlesen worden, in der er die Umwandlung der Habsburgerherrschaft in eine konstitutionelle Monarchie und für die 240 Von der Armenfürsorge Abhängige etwa blieben freilich ausgeschlossen. 241 Das

Verhältnis zur Frankfurter Nationalversammlung und ihren Beschlüssen war beiderseits Gegenstand kontroverser Debatten. Vgl. Teil 2, 5.1 und 5.4. 242 Vgl. dazu u.a.: Herdepe, Klaus (2003): Die preußische Verfassungsfrage 1848. Neuried.

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österreichischen Länder Verfassungen verlangt hatte. Der Versuch, danach dem Kaiser eine entsprechende Petition zu überbringen, wobei die Überbringer von zahlreichen Demonstranten begleitet wurden, scheiterte im Kugelhagel des Militärs unter dem Befehl des Erzherzogs Albrecht. Eine gute Woche später, am 13. März 1848, wurde das Ständehaus in Wien gestürmt, und Sozialrevolutionäre überfielen in den Vorstädten Fabriken und Läden. Noch am selben Abend trat der Staatskanzler Metternich zurück und floh nach England.243 Damit war die Schlüsselfigur der Restauration von der politischen Bühne abgetreten. Zwei Tage später, am 15. März, gewährte Kaiser Ferdinand I. in einem Edikt nach Aufhebung der Zensur ausdrücklich Pressefreiheit und kündigte die schnellstmögliche Einberufung von Abgeordneten aller Provinzialstände „zum Behufe der von Uns beschlossenen Constitution des Vaterlandes“ an. Damit hatte Ferdinand, wie er einleitend verlauten ließ, „Verfügungen getroffen, die Wir als zur Erfüllung der Wünsche Unserer treuen Völker erforderlich erkannten“. Zugleich hatte er damit aber auch an die Grundfesten des Deutschen Bundes gerührt. Doch die Unruhen flammten erneut auf, als der Kaiser eine Verfassung ohne Beteiligung einer Volksvertretung einsetzte. Die „Wünsche Unserer treuen Völker“ waren eben nicht die „Wünsche des Volkes“, und die Wünsche der Völker wurden nur nach langem Ringen berücksichtigt – oder wieder unterdrückt. Am 15. Mai wurde die vom Kaiser oktroyierte Verfassung wieder zurückgenommen und ein „Reichstag“ mit Abgeordneten aus den österreichischen Kronländern, aber ohne Ungarn, konstituiert. Dieser Reichstag konnte im September 1848 zumindest die Bauernbefreiung von der Erbuntertänigkeit beschließen. Die Auseinandersetzungen um eine gewählte allgemeine Volksvertretung zogen sich dann freilich noch bis ins Jahr 1867 hin. Die einzelnen Phasen wie die wechselvolle Geschichte von Erhebungen in Ungarn, Böhmen, Mähren, auf dem Balkan und in Italien können ihres Umfangs wegen hier nicht dargestellt werden.244 Ab 6. Oktober 1848 gab es in Wien noch einmal einen letzten Aufstand von Bürgern, Arbeitern und meuternden Soldaten, die einen Kriegszug gegen das aufständische Ungarn verhindern wollten. Die „Wiener Oktoberrevolution“ wurde nach einer Belagerung der Stadt durch kaisertreue Truppen am 31. Oktober in heftigen Straßenkämpfen mit zahlreichen Toten niedergerungen. Auch folgte ein blutiger Rachefeldzug gegen Überlebende, dem auch der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum (1807–48), die Führungsfigur der Parlamentsgruppe der gemäßigten „Demokraten“, zum Opfer fiel. 243 Nachfolger als „oberster Kanzler“ wurde Carl Graf von Inzaghi. 244 S. dazu u.a.: Rapport (2011).

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Wie sehr sich die alte Ordnungsmacht durch die Aufstände des Jahres 1848 mehrfach in die Enge gedrängt sah, wird aus der Flucht des Kaisers und seines Hofes im Mai 1848 nach Innsbruck und noch einmal im Oktober ins böhmische Olmütz ersichtlich. Die alte Ordnung aber konnte noch 1848 zumindest in den deutschsprachigen Teilen der Monarchie wieder stabilisiert werden. Dabei wurden freilich frühere Zugeständnisse des Kaisers wie die Aufhebung der Zensur und die Pressefreiheit bald wieder annulliert. Auch die im März angekündigte Einführung einer neuen, konstitutionellen Verfassung wurde erfolgreich verhindert. Die obsiegenden konservativen Kräfte drängten schließlich den politisch glücklosen Kaiser Ferdinand I. Ende 1848 zur Abdankung. Am 2. Dezember 1848 wurde sein 18-jähriger Neffe, der Erzherzog Franz, zum Kaiser gekrönt. Er führte den Namen Franz-Joseph I. und regierte das Kaiserreich, nach seiner Krönung zum König von Ungarn 1857 die „österreichisch-ungarische Doppelmonarchie“, bis zu seinem Tod 1916 weitgehend absolutistisch. Seine grundsätzliche Abneigung gegen Reformen gab den Nationalisten in den nichtdeutschsprachigen Reichsteilen wachsenden Auftrieb, woran das Habsburgerreich letztendlich zerbrach.

4.7  Die Gemengelage der Leitbilder

In den Erhebungen 1848 und 1849 wurden die Leitbilder „Freiheit“ und „eine Nation“ fast zwangsläufig und meist in sehr kurzer Frist zu programmatischen Kulminationspunkten auch dort, wo die Anlässe eines Aufstands regional/territorial zunächst eher begrenzter Natur waren. So sehr hatte sich in diesen Leitbildern die Sehnsucht nach einer neuen Ordnung verdichtet, dass darin auch viele einzelne Gravamina der Opposition gegen die Restaurationspolitik der monarchischen Mächte aufgehoben sein konnten. Die im engeren Sinne revolutionären Versuche, diesen Leitbildern durch Ausrufung einer Republik Geltung zu verschaffen, zogen sich in verschiedenen Territorien bis ins Jahr 1849 hin und verankerten in Teilen der Opposition, insbesondere in der Arbeiterbewegung, soweit sie marxistisch geprägt war, das Leitbild „Revolution“ als wesentlichen Zielpunkt bis 1918/19. Darin spielte naturgemäß – anders als in der bürgerlichen Freiheitsbewegung – das Schlüsselwort „Gleichheit“ eine wichtige Rolle, geradezu eine Doppelrolle: zum einen als Fundament eines erstrebten kollektiven sozialen Selbstbewusstseins der Revolutionäre, zum anderen als Forderung zumindest einer politischen und sozialen Gleichstellung mit den privilegierten Ständen – bis zu deren Sturz.

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5  1848 Freiheits- und Nationalbewegung kurz vor dem Ziel 5.1  „Nationalversammlungen“ – in Frankfurt und Berlin 154 |  5.2  Auseinanderdriften der politischen Richtungen 156 |  5.3  Das alles überspannende Leitbild der Paulskirche 158 |  5.4 Grundrechte und Reichsverfassung 160 |  5.5  Ablehnung der Kaiserkrone – Brüche in der Einheitsbewegung 166 |  5.6  Leitbilder und Sprache eines neuen politischen Selbstbewusstseins 170

1848 schien zunächst das Jahr zu werden, in dem die wichtigsten Erwartungen der Freiheits- und Nationalbewegung hätten Wirklichkeit werden können. Was zuvor oft nur vage benannt werden konnte, sollte nun eindeutige Konturen erhalten: „Ein Volk“ sollte in Wahrnehmung seiner Souveränität eine für alle Deutschen repräsentative Vertretung bestimmen. Die auszuarbeitende Verfassung sollte die Zerrissenheit des „einen Vaterlands“ überwinden und einen Staat schaffen, der auf dem Fundament der „einen Nation“ ruhen würde. Doch schon die Voraussetzungen für die Umsetzung solcher Hoffnungen waren mit grundsätzlichen Problemen belastet und trugen den Keim künftiger Auseinandersetzungen in sich. Im Hoffnungswort „ein Volk“ etwa blieb bei den meisten Akteuren der zahlenmäßig größte Teil des Volkes, die besitzlosen Unterschichten, ausgeblendet (ihr Bevölkerungsanteil betrug 1849 etwa in Preußen über 80 Prozent). Damit aber wurde ein grundsätzlicher Konflikt unausweichlich, der auch die Frage nach der künftigen Staatsform negativ belastete: Republik oder konstitutionelle, gar erbliche Monarchie. Die Hoffnung auf „ein Vaterland“ war nach wie vor mit einer Vielzahl territorial bedingter Loyalitäten konfrontiert. Das blieb natürlich nicht ohne Einfluss auf das erhoffte gemeinsame Bewusstsein, „einer Nation“ anzugehören. Und wie es in der praktischen Politik mit der beanspruchten Souveränität stand, muss noch kritisch nachvollzogen werden. Während bereits in vielen Staaten des Deutschen Bundes gleichzeitig, aber weitgehend unabgestimmt Unruhen ausbrachen, ergriff wie schon bei jenem Heppenheimer Treffen im Herbst des Vorjahres ein Kreis weithin bekannter Oppositioneller die Initiative, eine praktikable Vorgehensweise zur Errichtung eines deutschen Nationalstaats und seiner administrativen wie legislativen Ordnung zu entwerfen, so dann auch bei jener bereits erwähnten Zusammenkunft am 3. März 1848 in Heidelberg. Der Staatsrechtler Carl Theodor Welcker (1790–1860), der 1847 schon am Heppenheimer Treffen teilgenommen hatte, regte in Heidelberg den für die weitere Entwicklung entscheidenden Schritt an: Man bildete einen „Siebeneraus-

1848 Zwei Nationalversammlungen  |

schuß“, der zu einem „Vorparlament“ in Frankfurt am Main einladen sollte. Dieser Ausschuss konnte zum 31. März, dem Tagungsbeginn des Vorparlaments in der Frankfurter Paulskirche, insgesamt 574 Personen zur Teilnahme am Vorparlament gewinnen. Er hatte sie aus den Parlamenten der einzelnen Staaten berufen, aber alles andere als unter einem repräsentativen Gesichtspunkt. Die Bundesstaaten waren nach keinerlei vernünftigem Schlüssel berücksichtigt worden: Während die Großherzogtümer Hessen und Baden mit 84 bzw. 72 Abgeordneten vertreten waren, wurden Österreich nur zwei Vertreter zugestanden – eine sicher ungewollte, gleichwohl höchst unsensible Entscheidung, war Österreich doch noch der mächtigste Partner beim Ringen um die deutsche Einheit. Immerhin gelang in diesem Vorparlament der Mehrheit der gemäßigten Liberalen um Heinrich von Gagern und Friedrich Daniel Bassermann ein weiterer pragmatischer Vorstoß – gegen die Vorstellungen der radikalen Republikaner um Struve und Hecker, aber auch der Demokraten um Robert Blum, die das Vorparlament in eine ständig tagende Volksvertretung umwandeln wollten. Stattdessen wurde beschlossen, mit der Bundesversammlung des Deutschen Bundes zusammenzuarbeiten und durch diese eine Volkswahl zur Nationalversammlung durchführen zu lassen. Für diese Zusammenarbeit wurde ein „Fünfzigerausschuss“ berufen. Struve und Hecker wandten sich nach ihrer Niederlage außerparlamentarischen Aktionen zu, indem sie, wie bereits dargestellt, ihre Pläne zur Schaffung einer Republik in Baden als Modell für ganz Deutschland mit Gewalt verwirklichen wollten. Das Urleitbild einer deutschen Einheit erfuhr in diesen Entwicklungen zwei folgenreiche Differenzierungen: zum einen dadurch, dass Österreich eine zahlenmäßig nur beschränkte Mitwirkung zugestanden wurde, zum anderen durch die Frontstellung gegen eine staatliche Neuordnung Deutschlands als Republik. Der Deutsche Bund, inzwischen zu einer „Regeneration“ sehr wohl bereit, hatte seinerseits am 10. März einen „Siebzehnerausschuss“ berufen, der die bestehende Bundesverfassung im Sinne liberaler Forderungen reformieren sollte. Dieser Ausschuss war nun tatsächlich von den gemäßigten Liberalen dominiert, von Friedrich Daniel Bassermann aus Baden, der Vizepräsident wurde, bis Ludwig Uhland aus Württemberg. Präsident des Ausschusses aber wurde Max von Gagern, ein Bruder Heinrich von Gagerns. Der Siebzehnerausschuss legte am 26. April 1848 seinen Verfassungsentwurf vor, der Bundestag akzeptierte ihn am 8. Mai als Grundlage einer Reichsverfassung, die von der Nationalversammlung zu beschließen sei. Darüber aber gab es noch einmal Streit zwischen Liberalen und Demokraten. Insbesondere Robert Blum, einer der vier Vizepräsidenten des Vorparlaments, widersetzte sich dem

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Vorhaben, den Entwurf des Siebzehnerausschusses zum Leitfaden für eine Reichsverfassung zu machen. Er und seine Demokraten forderten nach wie vor statt der konstitutionellen Monarchie die Schaffung einer Republik. Die 1849 tatsächlich beschlossene Reichsverfassung entsprach dann aber doch mehr dem Siebzehner-Entwurf. Bereits am 20. März hatte der Deutsche Bund die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung durchzuführen. Diese Wahlen erfolgten am 1. Mai, wobei nach den in den Bundesstaaten jeweils geltenden Wahlrechtsordnungen, also sehr unterschiedlich verfahren wurde. Nur in wenigen Staaten konnten die Abgeordneten direkt gewählt werden. In der Mehrzahl der Staaten wurden zunächst Wahlmänner gewählt, die erst in einer zweiten Stufe den Abgeordneten bestimmten. Da in manchen der 649 Wahlkreise, vor allem in solchen mit slawischer Bevölkerung, die Wahl boykottiert worden war, konnten ab dem 18. Mai 1848 nach und nach nur insgesamt 585 frei gewählte Abgeordnete245 in die Frankfurter Paulskirche einziehen.

5.1  „Nationalversammlungen“ – in Frankfurt und Berlin „für das gesammte Reich“ oder für das „preußische Staatsgebiet“

Bezeichnend für die selbst noch im Revolutionsjahr virulenten Spannungen zwischen territorialspezifischen Interessen und dem Streben nach nationaler Einheit war, dass, zusammen mit der Wahl zur Frankfurter Nationalversammlung, in Preußen 393 Abgeordnete für eine preußische Volksvertretung gewählt wurden, die sich ebenfalls „Nationalversammlung“ nannte. Tatsächlich beschränkte sich der nach dem Vorsitzenden der preußischen Verfassungskommission Benedikt Franz Waldeck (1802–70) benannte Berliner Verfassungsentwurf246 auf den Staat Preußen und seine Bürger; nirgendwo ist darin von der größeren deutschen Einheit, gar von „deutscher Nation“ die Rede.

245 In

der ersten Sitzung waren zunächst nur gut dreihundert Abgeordnete anwesend; s. das Teilnehmerverzeichnis in: Wigard (1848/49) Bd. I.: 1–3. Das Verzeichnis aller Abgeordneten ebda. Bd. X: 105 ff. 246 Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staatsverfassung (1848). Bd.  I. [o.O.]: 631–634. www.documentArchiv.de/nzjh/preussen/1848/preussische-chartewaldeck.html, letzter Zugriff: 2.1.2015.

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Doch erwies sich die Berliner Nationalversammlung in ihren Vorstellungen von einer zukünftigen Ordnung insgesamt als wesentlich kritischer als die Frankfurter, auch wichen hier die Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Richtungen von denen in Frankfurt ab, und zwar zu Gunsten der Gruppierungen, die für Preußen mindestens ein starkes Parlament neben dem König, eher aber noch eine republikanische Staatsform anstrebten.247 Franz Waldeck war ein Vertreter der Linken, die hier sehr viel stärker als in der Paulskirche repräsentiert waren und in den Debatten vielfach den Ton angaben. In wesentlichen Punkten ging das Berliner Parlament denn auch auf Distanz zu den gemäßigteren Positionen der Frankfurter. Für seine unerhört fortschrittliche Haltung musste das Berliner, zuletzt nach Brandenburg verbannte Parlament allerdings auch sehr viel früher als das Paulskirchenparlament aufgeben. Der König lehnte den Verfassungsentwurf rundweg ab, oktroyierte eine eigene Verfassung und ließ die Volksvertretung bereits am 5. Dezember 1848 vom Militär gewaltsam auflösen. Dass im Gefolge der Märzrevolutionen zwei auf politisch verschiedenen Ebenen angesiedelte Parlamente die Bezeichnung „Nationalversammlung“ erhielten, zeigt besonders deutlich, wie unfest noch in der politischen Praxis und wohl auch in der Gefühlswelt der in landesherrlichen Territorien verwurzelten Menschen der Begriff „Nation“ als alle Deutschen umfassende Größe galt. Mit dieser Qualität war und blieb er noch für längere Zeit ein bloßer Zielbegriff, der sich von „nationalen“ Beschränkungen, etwa wie hier auf den Teilstaat Preußen, erst einmal befreien musste, aber sehr bald sogar einer folgenschweren Spaltung zwischen dem preußisch dominierten Teil Deutschlands und Österreich zum Opfer fiel. Dass aber auch der zuletzt auf kleindeutsche Verhältnisse beschränkte Begriff der „Nation“ im weiteren Verlauf der Entwicklung sehr wohl äußerst bedenkliche Verengungen bis hin zum aggressiven Nationalismus erfahren konnte, soll noch dargestellt werden. In Anlehnung an die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung gruppierten sich die Abgeordneten, die eine Republik wollten, in Berlin wie Frankfurt, vom Präsidium aus gesehen auf der linken Seite des Parlaments, die reformbereiten Konservativen auf der rechten Seite. Dazwischen saßen in Frankfurt die Vertreter des liberalen „Centrums“. Feste Fraktionen im heutigen Sinne gab es ebenso wenig wie Parteien moderner Prägung, vielmehr trafen sich Gleichgesinnte in „Clubs“ (auch „Clubbs“ geschrieben), die in Frankfurt nach ihrem jeweiligen Sitzungslokal in bestimmten Hotels und Gaststätten benannt

247 Vgl. dazu Siemann (1997): 141.

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wurden. Es kam auch nicht selten vor, dass Abgeordnete die Clubs wechselten oder durch Abspaltung einen neuen Club begründeten. In Berlin wie in Frankfurt bildeten weder die Liberalen noch die Linken homogene Blöcke. Sie zerfielen in verschiedene Gruppen. Der linksradikale Club in Frankfurt (Sitzungslokal „Donnersberg“), der sich zumindest in Flugblättern gelegentlich auch „radical-democratische Partei“ nannte, sympathisierte mit den Zielen und Vorgehensweisen der badischen Revolutionäre Struve und Hecker und wollte wie diese die Republik auf revolutionärem Wege schaffen. Die gemäßigten Frankfurter Demokraten verteilten sich auf drei Gruppen: „Deutscher Hof “, „Nürnberger Hof “ und „Westendhall“. Bis zu seiner standrechtlichen Erschießung in Österreich am 9. November 1848 führte Robert Blum die Gemäßigten, danach Johann von Itzstein. Die gemäßigten Demokraten waren in vielen Fragen zur Zusammenarbeit mit den Liberalen bereit, kritisierten aber immer wieder deren Halbherzigkeit im Umgang mit den alten Mächten und das mangelnde Engagement für die besitzlosen Unterschichten. Das liberale „Centrum“ des Frankfurter Parlaments zerfiel in insgesamt fünf verschiedene Gruppen, wobei drei Gruppen, „Württemberger Hof “, „Augsburger Hof “ und „Landsberg“, einen eher linken Flügel und zwei Gruppen, „Casino“ und „Pariser Hof “, einen eher rechten Flügel bildeten. Diese Differenzierung ergab sich aus verschiedenen Kooperationen mit den Demokraten auf der linken Seite bzw. mit den Konservativen („Café Milani“) auf der rechten Seite.

5.2  Auseinanderdriften der politischen Richtungen „demokratisch“ gegen „liberal“

Spätestens durch die Frankfurter Nationalversammlung, sichtbar schon in ihrer Sitzordnung, erfuhr der Begriff „demokratisch“ also eine semantische Präzisierung, und zwar durch Abgrenzung gegen den Begriff „liberal“, nachdem dieser oft sehr weit gefasste Begriff für jegliche Opposition gegen das restaurative ­System des Deutschen Bundes gestanden hatte. Sehr lange hatte man auch „demokratisch“ als allgemeine Bezeichnung einer politischen Partizipation der Bürger mit „volksthümlich“ umschrieben, etwa in „volksthümlich constitutionelle Staatsregierung“, „volksthümliche Partei“ oder „volksthümliche Wahlen“. Da­durch aber, dass sich in der Paulskirche auf dem linken Flügel unter dem Fahnenwort „Demokraten“ Abgeordnete versammelten, die wie viele „demokratische“ Vereine außerhalb des Parlaments aus Deutschland eine Republik

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machen wollten, wurde „demokratisch“ so gut wie gleichbedeutend mit „republikanisch“, in jedem Fall aber ein Gegenbegriff zum nun enger gefassten Begriff „liberal“; denn dessen Vertreter lehnten die Republik als Form für den neuen deutschen Staat ab. Auch unterschied man sich in der Frage, ob das Deutsche Reich ein Zentralstaat werden solle – so die Linken – oder föderativ gestaltet – so die liberale Mehrheit. Die Unterschiede zwischen den beiden politischen Hauptrichtungen des Frankfurter Parlaments wurden seitens der Linken ironisch umschrieben: als Gegensatz von „Ganzen“, also bedingungslosen Verfechtern des politischen Wandels, und „Halben“, d.h. denjenigen, die nur halbherzig einen solchen Wandel an­strebten. Die „Demokraten“ in Frankfurt waren aber, wie schon gesagt, kein einheitlicher Block. Die radikale Linke opponierte gegen den geplanten parlamentarischdemokratischen Zuschnitt des neuen Staates aufs heftigste und verbündete sich sogar mit außerparlamentarischen Kräften, die am 18. September 1848 gewaltsam gegen das Parlament vorgingen. Zeitgenössisch wurden die Angreifer summarisch als „Republikaner“ bezeichnet.248 Die gemäßigten Demokraten waren dagegen in vielen Fragen zu Kompromissen bereit. Bei solcher Uneinheitlichkeit haftete dem Attribut „demokratisch“ eine gewisse Ambivalenz an zwischen Entschlossenheit zur Revolution und Reformbereitschaft, eine Ambivalenz, die auch in der Folgezeit nicht mehr aufgelöst werden konnte. Genauere Kennzeichnungen waren später nur durch Koppelung mit einem weiteren Attribut zu erzielen, etwa „sozial-demokratisch“ oder „liberal-demokratisch“. Aber auch die semantische Schärfung des Begriffs „liberal“ blieb trotz der unvermeidlichen Abgrenzung gegen Links bzw. Rechts unvollkommen. Das liberale „Centrum“ der beiden Parlamente zerfiel, wie gesagt, in verschiedene Gruppen, von denen einige eher nach links oder nach rechts tendierten. Wie bei „demokratisch“ kam man in der Folgezeit auch bei „liberal“ nicht darum herum, die konkrete politische Richtung jeweils näher zu bestimmen. Man denke nur an den programmatischen Wandel der bundesdeutschen FDP in den 1960er Jahren von einer ursprünglich rechtskonservativen zu einer links-liberalen und schließlich ab 1982/83 in der Zusammenarbeit mit CDU/CSU zu einer „wirtschafts-liberalen“ Partei.

248 So u.a. im „Neuruppiner Bilderbogen“ Nr. 37, 1848: „Wüthender Angriff

der Republikaner auf das in der Paulskirche zu Frankfurt versammelte National-Parlament, am 18. September 1848.“

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5.3  Das alles überspannende Leitbild der Paulskirche „Deutschland will Eins sein“

Das anfängliche Hochgefühl des Frankfurter Parlaments kam schon in der kurzen Eröffnungsrede des Alterspräsidenten Friedrich Lang am 18. Mai 1848 zum Ausdruck, in der er diesem Parlament zutraute, gar „ein bedeutendes Stück Weltgeschichte zu machen“, gleichzeitig aber sowohl vor einem „Überstürzen in Ideen, die einer Zeit angehören, die noch nicht da ist“, als auch vor einem „Festhalten an Dingen, die untergegangen sind“, warnte.249 Der am selben Tag mit großer Mehrheit gewählte Parlamentspräsident Heinrich von Gagern beschwor in seiner Antrittsrede mit gleicher Emphase die bis dahin allgemein geltenden liberalen Leitbilder: die „Einheit Deutschlands“, die „Souveränität der Nation“ und den „Willen des Volkes“. Mit letzterem aber sollte es bald zu ernsten Auseinandersetzungen kommen; denn dieser Volkswille versuchte sich mehr und mehr außerparlamentarisch Gehör zu verschaffen. Und die „Souveränität der Nation “ wurde von den alten Mächten zunehmend in Frage gestellt. Am 18. Mai 1848 aber konnte Gagern noch sagen: Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen, wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesammte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation. […] Deutschland will Eins sein, ein Reich regiert vom Willen des Volkes, unter der Mitwirkung aller seiner Gliederungen […]. Wenn über Manches Zweifel besteht und Ansichten auseinandergehen, über die Forderung der Einheit ist kein Zweifel, es ist die Forderung der ganzen Nation. Die Einheit will sie, die Einheit wird sie haben, sie befestigen.250

Mit ähnlich hochgestimmter Hoffnung betonte der am 15. Juli 1848 vom Parlament zum vorläufigen Staatsoberhaupt gewählte „Reichsverweser“, der österreichische Erzherzog Johann, in seiner „Proclamation an das deutsche Volk“251 ausdrücklich noch einmal die „Freiheit der Deutschen“:

249 Wigard (1848/49) Bd. I: 4. 250 Ebda.: 17. 251 Quelle u.a. in: www.dhm.de/datenbank/dhm.php?Seite=5&fld_0=97002257, letzter Zugriff:

10.4.2016.

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Deutsche! nach Jahren des Druckes wird Euch die Freiheit voll und unverkürzt. Ihr verdient sie, denn Ihr habt sie muthig und beharrlich erstrebt. Sie wird Euch nimmer entzogen, denn Ihr werdet wissen sie zu wahren.

In dieser Proklamation musste Johann allerdings bereits um Vertrauen in die Arbeit des Parlaments werben, da erkennbar war, dass die konkreten Verhandlungen die anfangs hochgespannten Erwartungen in der Bevölkerung immer häufiger enttäuschen mussten. Schon am 19. September 1848, in der 81. Parlamentssitzung, musste sich Heinrich von Gagern mit dem gewalttätigen Vorgehen gegen das Parlament seitens der außerparlamentarischen Opposition, mit den „Septemberunruhen“ auseinandersetzen; am Tag zuvor waren in Frankfurt zwei Abgeordnete sogar ermordet worden. In seiner Erklärung schwang auch schon die Furcht vor einem Scheitern der hochgesteckten Ziele mit. Insbesondere sorgte er sich um das, was man heute die „innere Einheit“ nennen würde. Gagern führte darin unter anderem aus: Was ist der Charakter dieses Aufstandes gewesen? Er hat angestrebt gegen das, was wir Alle wollen, gegen die Einheit unseres Vaterlandes. Die Einheit, worauf beruht sie, was ist ihre Bedingung? Vor allem, sollte ich denken, die Ausgleichung der gegenseitigen Stammes-Vorurtheile, die Vermittlung der Volksgefühle und Anschauungen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Wenn eine solche Vermittlung, wenn ein solches gleichartiges Denken und Fühlen nicht möglich ist, dann ist auch die Einheit nicht möglich, und wer dazu beiträgt, statt solche Vorurtheile zu bekämpfen, sie zu nähren, in bösartiger zersetzender Absicht geltend zu machen, als habe man hier ein feineres Ehrgefühl als dort, während im Gefühl der National-Ehre kein Volksstamm vor dem andern ein Voraus hat, der strebt nicht für die Einheit; er zerreißt das Vaterland, er macht die Eintracht unmöglich.252

Zunächst aber, zur Eröffnung des Parlaments, hatte die Bundesversammlung des Deutschen Bundes das Parlament in einer offiziellen Adresse noch beglückwünscht; dieser Glückwunsch wurde in der ersten Sitzung verlesen. Darin wurde die Nationalversammlung als „eine neue Größe: das deutsche Parlament“ begrüßt, und abschließend hieß es darin:

252 Wigard (1848/49) Bd. III: 2185.

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Die deutschen Regierungen und ihr gemeinschaftliches Organ, die Bundesversammlung, mit dem deutschen Volke in der gleichen Liebe für unser großes Vaterland vereint, und aufrichtig huldigend dem neuen Geist der Zeit, reichen den National-Vertretern die Hand zum Willkomm und wünschen Ihnen Heil und Segen.253

Hier bekannte sich die alte Macht wenigstens zum „großen Vaterland“, nahm aber indirekt die „gleiche Liebe“ zu ihm auch für sich in Anspruch. Darüber ob und gegebenenfalls wie die Nationalversammlung auf diesen Glückwunsch antworten sollte, wurde in der Paulskirche sofort kontrovers diskutiert. Einige Abgeordnete hielten die Adresse für ein oberflächliches „Compliment“, auf das man nicht reagieren sollte. Tatsächlich zeigte das weitere Schicksal des Parlaments, dass die „deutschen Regierungen“ gegen die Meinung, die Nationalversammlung sei der neue Souverän, ihre tiefsitzenden Vorbehalte keineswegs aufgaben, sondern Zug um Zug immer stärker wieder zur Geltung brachten. Daran änderte auch nichts, dass die Bundesversammlung des Deutschen Bundes ihre Arbeit am 13. Juli 1848 für beendet erklärt hatte. Das Paulskirchenparlament konnte in Frankfurt bis zum 31. Mai 1849 tagen und wurde nach einem erzwungenen Umzug nach Stuttgart am 18. Juni 1849 von württembergischem Militär gewaltsam aufgelöst. Es war ihm doch nicht vergönnt, „ein bedeutendes Stück Weltgeschichte zu machen“, wohl aber lebten außer etlichen konkreten Forderungen an eine parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen seine Leitbilder, an erster Stelle die staatliche Einheit, in künftigen Verfassungslösungen auf je eigene Weise weiter, aber auch als Streben nach „innerer Eintracht“.

5.4  Grundrechte und Reichsverfassung „Ein Bundesstaat soll es werden“

Die zentralen Beratungsgegenstände der Frankfurter Nationalversammlung waren die Bildung einer provisorischen Zentralgewalt, ein Katalog der „Grundrechte“ und die Reichsverfassung. Damit war indes eine Reihe umfangreicher Themen – bis hin zum Aufbau einer Reichskriegsflotte – verbunden, die nach Vorbereitung in Kommissionen jeweils ausführlichst beraten wurden. Erstaunlich war nach

253 Ebda. Bd. I: 5.

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Ausweis der stenografischen Berichte die meist geschäftsmäßige Gelassenheit, mit der die Debatten selbst unter wachsender Bedrohung von außen geführt wurden. Am 29. Juni 1848 war, wie schon gesagt, der österreichische Erzherzog Johann (1782–1859) mit überwältigender Mehrheit zum „Reichsverweser“ und damit zum vorläufigen Staatsoberhaupt gewählt worden. Johann war ein vor allem in der Steiermark äußerst beliebter, weil volksverbundener Modernisierer. Sein Amt aber stieß im Berliner Parlament auf erheblichen Widerspruch, da der Reichsverweser von Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament befreit sein sollte; aus preußischer Sicht war überdies die Wahl eines Habsburgers zum vorläufigen Staatsoberhaupt nur schwer verdaulich. Johann bildete sogleich eine provisorische Regierung, die aber gegen die ihre Souveränitätsrechte hütenden Einzelstaaten keine wirksame Exekutivgewalt entfalten konnte. Johann hatte in seiner „Proclamation“ auch versprochen: „Sollte aber die deutsche Ehre, das deutsche Recht gefährdet werden, dann wird das tapfere deutsche Heer für das Vaterland zu kämpfen und zu siegen wissen.“ Bald aber musste man sich besorgt fragen, welches „deutsche Heer“ denn im Zweifelsfall zur Verfügung stehen würde. Bereits am 6. August 1848 lehnten die Einzelstaaten die Forderung ab, das 300.000 Mann starke Bundesheer auf den Reichsverweser zu vereidigen; sie wollten nach wie vor über ihre Kontingente im Bundesheer autonom verfügen. Und entsprechend setzten sie auch ihre jeweils eigenen Truppen gegen die 1848/49 in verschiedenen Einzelstaaten ausbrechenden revolutionären Erhebungen ein. Dem angestrebten Nationalstaat fehlte also von Anfang an eine wichtige Stütze seiner Souveränität und Staatsgewalt. Auf den seit dem 24. März 1848 geführten Krieg gegen Dänemark wegen dessen Einverleibung von Schleswig, an dem vor allem preußische Bundestruppen beteiligt waren, hatte die Nationalversammlung noch nicht einmal bei dessen Beendigung einen Einfluss: Der Friede von Malmö vom 26. August 1848 wurde zwischen Preußen und Dänemark geschlossen. Die Nationalversammlung beschloss zwar, dagegen ein Veto einzulegen, musste dem Friedensschluss schließlich zähneknirschend doch zustimmen, was das Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit nachhaltig beschädigte. In Frankfurt kam es nicht zuletzt deswegen sogar zu den schon erwähnten „Septemberunruhen“. Dabei hatte ein Teil der Abgeordneten, insbesondere Historiker und Juristen, bereits auf dem ersten „Germanistentag“ 1846 in Frankfurt254 sowie auf einer Folgeveranstaltung 1847 in Lübeck, deren Vorsitzender jeweils Jacob Grimm war, die Zugehörigkeit

254 S. dazu: Fürbeth (1999).

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der von Dänemark beanspruchten Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zu Deutschland vehement vertreten. Erfolgreich, wenn zunächst auch folgenlos war das Paulskirchenparlament bei der Erarbeitung der „Grundrechte des deutschen Volkes“. Mit dem bis in das „Grundgesetz“, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, gültigen Terminus „Grundrechte“ umging man 1848 bewusst Bezeichnungen wie „Menschenrechte“ oder „Freiheitsrechte“, um Assoziationen an Forderungen der Amerikanischen und Französischen Revolution zu vermeiden, die sachlich aber durchaus berechtigt gewesen wären. In der Debatte wurde eine direkte Übernahme der Leitworttrias der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ sogar ausdrücklich abgelehnt. Zu Vorbehalten erklärte etwa Jacob Grimm: Die Menschen sind nicht gleich [...], sie sind auch im Sinne der Grundrechte keine Brüder; vielmehr die Brüderschaft – denn das ist die bessere Übersetzung – ist ein religiöser und sittlicher Begriff, der schon in der heiligen Schrift enthalten ist. Aber der Begriff von Freiheit ist ein so heiliger und wichtiger, daß es mir durchaus nothwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer Grundrechte zu stellen.255

Die vollständige französische Revolutionsparole wurde dagegen einige Jahre später vom „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein“ demonstrativ aufgegriffen. Obgleich die Nationalversammlung letztlich selbst Ergebnis einer Revolution war, wollte, ja konnte die bürgerlich-liberale Mehrheit auch das Wort „Revolution“ kaum noch in den Mund nehmen; man sprach lieber von „deutscher Erhebung“. „Deutsche/nationale Erhebung“ erlebte im 20. Jahrhundert noch zweimal eine allerdings höchst problematische Blüte: in der Propaganda beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und 1933. „Revolution“ wurde stattdessen im Bürgertum mehr und mehr zum Schreckwort, zumal nachdem das Wort seit dem „Kommunistischen Manifest“ häufig mit den Attributen „proletarisch“ bzw. „kommunistisch“ erschien und dies erst recht, als die russische Oktoberrevolution von 1917 ihre Schatten auf Deutschland warf. Nach langen, teilweise kontroversen Debatten konnte der Grundrechtekatalog am 27. Dezember 1848 als Gesetz in Kraft gesetzt werden. Er enthielt unter anderem die Gleichheit der Rechte, die jeder Deutsche „in jedem deutschen Lande ausüben“ kann (§ 2), Aufhebung ständischer Unterschiede, insbesondere des Adelsstandes, „Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“ (§ 7), Aufhebung des „Unterthänigkeits- und Hörigkeitsverbandes“ (§  34) sowie jedes 255 Wigard (1848/49) Bd. I: 737.

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„Lehensverbandes“ (§ 39), Unverletzlichkeit der Freiheit der Person (§ 8) und „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ (§ 14), Meinungsfreiheit inklusive Schutz der Pressefreiheit (§ 13), Freiheit von Wissenschaft und Lehre (§ 22), Versammlungsrecht (§ 29) und das Recht, Vereine zu bilden (§ 30), das Recht, an jedem Ort des Reichsgebiets „Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen“ (§ 3; die deutschen Staaten sollten sich nun nicht mehr gegenseitig als „Ausland“ betrachten), sowie Freiheit der Berufs- und Ausbildungswahl (§ 28), Unverletzlichkeit der Wohnung (§ 10), Schutz des Eigentums inklusive des geistigen Eigentums (§ 32), Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren (§ 45), „Ausnahmegerichte sollen nie stattfinden“ (§ 42), Aufhebung der Todesstrafe (§ 9). Die allgemeine Geltung dieser Grundrechte war indes von vornherein dadurch in Frage gestellt, dass nur die meisten kleineren und mittelgroßen Teilstaaten, nicht aber die mächtigen großen Bundesstaaten sie anerkannten. Erst am 28. März 1949, als die politische Reaktion bereits in zahlreichen deutschen Staaten, insbesondere in Österreich und Preußen, wieder die Oberhand gewonnen hatte, wurde die „Verfassung des Deutschen Reiches“ vom Paulskirchenparlament verabschiedet. Zunächst gaben 28 Staaten ihre Zustimmung zu dieser Verfassung, die großen Staaten Österreich, Preußen, Bayern, Sachsen und Hannover aber lehnten sie von vornherein ab. Die dadurch in diesen Staaten ausgelösten Kampagnen zur Anerkennung des Verfassungswerks führten in den Monaten danach zu neuen revolutionären, bürgerkriegsähnlichen Erhebungen, konnten aber den Widerstand der Reaktion gegen die Verfassung nicht brechen. Die während der Parlamentsberatungen geforderte Voranstellung der Grundrechte wurde im Verfassungstext zu Gunsten einer formalen Systematik aufgegeben, die Grundrechte wurden erst im vorletzten Abschnitt (VI) fixiert. Selbst in der Verfassung der Weimarer Republik und in der ersten Verfassung der DDR von 1949 erhielten sie keinen Vorrang. Erst das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland räumte den Grundrechten vor allen staatspolitischen und administrativen Bestimmungen als Katalog unveräußerlicher Menschenrechte einen ersten Platz ein. Die Benennung des angestrebten Staates als „Reich“ wurde dabei zum Kernbegriff eines neuen, in der Folgezeit immer mächtigeren Leitbilds; bereits in seiner Antrittsrede am 18. März 1848 hatte Heinrich von Gagern diesen Begriff gebraucht. Eine Anknüpfung an den untergegangenen Staatstitel „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ spielte aber weder bei ihm noch in der neuen Verfassung eine Rolle. Denn nun sollte es ja auch in erster Linie um eine politische Ordnung gehen, in der die bis 1806 de facto geltende und danach im

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Deutschen Bund völkerrechtlich garantierte Vielstaaterei überwunden würde. Die Radikalisierung des Leitbilds „Reich“ im Sinne des Imperialismus konnte 1849 keiner der Verfassungsväter auch nur ahnen. Es ging ihnen um einen starken Gegenbegriff zum Föderationsverständnis des Deutschen Bundes, des „Staatenbundes“, in dem die nationale Einheit keine besondere Rolle spielte. Wie hoch schließlich der Prestigewert von „Deutsches Reich“ wurde, ließ sich 1919 an der Definition der Weimarer Republik erkennen, die – nachdem Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die „Deutsche Republik“ ausgerufen hatte – 1919 doch wieder den Namen „Deutsches Reich“ annahm und ihn in Artikel 1 ihrer Verfassung mit der Festlegung auf eine republikanische Ordnung zu verbinden versuchte. Abschnitt IV der Verfassung, „Der Reichstag“, legte durchaus eine föderative Struktur des neuen Staates, aber die eines „Bundesstaates“ fest. Der Reichstag sollte aus zwei „Kammern“ bestehen: In einem „Staatenhaus“ sollten die weiter existierenden Einzelstaaten des Deutschen Bundes, Österreich eingeschlossen, mit 192 Mitgliedern ihre Vertretung haben 256, während ein „Volkshaus“ aus den gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes bestehen sollte – eine Struktur, die grundsätzlich auch in nachfolgenden deutschen Verfassungen, ebenso nach der Revolution von 1918, bis zum Grundgesetz von 1949 mit seiner Gliederung in eine Ländervertretung („Bundesrat“) und ein Parlament („Bundestag“) gültig bleiben sollte. Die Würde des Reichsoberhaupts, das den Titel „Deutscher Kaiser“ tragen soll, sollte nach Paragraph 68 „einem der regierenden deutschen Fürsten übertragen“ werden. Mit dieser Festlegung auf einen zwar vom Parlament gewählten Fürsten, dessen Kaiserwürde dann aber erblich sein sollte, waren nicht nur alle demokratischen Vorstellungen von einer nur vom Volk bestimmten Republik, sondern auch die gemäßigtere Idee eines echten Wahlkaisertums ad acta gelegt. Wie „fraktionsübergreifend“ in der Paulskirche der Widerwille gegen die Übertragung eines erblichen Kaisertums auf den preußischen König war, lässt sich am Abstimmungsergebnis vom 28. März 1849 erkennen: In namentlicher Abstimmung257 votierten nur 290 Abgeordnete dafür, 248 enthielten sich oder erklärten ausdrücklich, dass sie überhaupt keinen erblichen Kaiser wollten. Befürworter argumentierten dagegen unter anderem damit, dass nur ein erbliches Kaisertum eine feste Garantie für die Einheit sein könne. Der Abgeordnete 256 Aber

auch diese Vertretungen sollten jeweils nur zur Hälfte von den Regierungen bestimmt werden können; die andere Hälfte aber sollte aus gewählten Volksvertretern bestehen (§ 88). 257 Wigard (1848/49) Bd. VIII: 6084–6093.

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Carl Mittermaier glaubte sogar, die im Volk verbreiteten, wenn auch oft noch diffusen Erwartungen an den neuen Staat so zusammenfassen zu können: „Ein Bundesstaat soll es werden, Deutschland soll künftig als Großmacht dastehen.“258 Das lange Zeit eher abstrakte Leitbild der deutschen Einheit wurde mithin unter pragmatischen Gesichtspunkten sehr konkret interpretiert, behielt mit dieser Deutung aber auch für die weitere politische Zukunft seine Wirksamkeit. Der schon während der Beratungen immer deutlicher gewordene Widerstand Österreichs dagegen, dass es nur mit seinen deutschsprachigen Teilen dieser Staatsgründung beitreten dürfe, führte in Paragraph 87 zum „Staatenhaus“ zur vorläufigen Verteilung der österreichischen Stimmen auf andere Staaten.259 Grundsätzlich aber wurde die Tür für einen Beitritt Österreichs offen gehalten. Paragraph 1 umschrieb zwar das neue Reich mit dem „Gebiete des bisherigen deutschen Bundes“, also einschließlich (Deutsch-)Österreichs. Doch zeigte sich auch sonst im Parlament zunehmend eine Tendenz, auf Österreich und damit auf eine großdeutsche Lösung vorerst zu verzichten und sich mehr auf eine preußische Führungsrolle einzustellen, obwohl auch Preußen seine liberale Phase mit Märzregierung und eigener Nationalversammlung längst wieder hinter sich gelassen hatte und eine konsequent restaurative Politik betrieb, für welche die Wiedereinführung des königlichen Gottesgnadentums Symbolcharakter hatte. Die kleindeutsche Lösung sollte aber ausdrücklich, so ein Plan Heinrich von Gagerns – zunächst Parlamentspräsident, ab Dezember 1848 Reichsministerpräsident –, nur eine erste Stufe der Staatsgründung sein, der Österreich auf einer weiteren Stufe beitreten könne. Gagerns Idee war die eines „Doppelbundes“, der sich Österreich aber verweigerte. Die Meinungen in der Nationalversammlung, ob Österreich dazugehören solle oder nicht, gingen zwischen den „Fraktionen“ zunächst noch wild durcheinander, bis sich die letztlich realpolitisch akzeptabelste Lösung ohne Österreich durchsetzte. Die „großdeutsche“ Idee lebte freilich vor allem in linken Kreisen sehr wohl weiter, bis sie 1919 durch die Friedensverträge von Versailles und St. Germain mit ihrem Verbot einer Vereinigung von Deutschland und Österreich an eine völkerrechtliche Grenze stieß und 1938 mit blanken geopolitischen Absichten vom NS-Reich durch den „Anschluss“ Österreichs missbraucht wurde.

258 Ebda.: 6079. 259 „Solange die deutsch-österreichischen Lande an dem Bundesstaate nicht Theil nehmen, erhalten

nachfolgende Staaten eine größere Anzahl von Stimmen im Staatenhause ...“ (Es folgte eine entsprechende Auflistung).

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5.5  Ablehnung der Kaiserkrone – Brüche in der Einheitsbewegung „Ein imaginärer Reif, aus Dreck und Letten gebacken“

Am 28. März 1849 beschloss die Nationalversammlung, getragen von der Hoffnung – letztlich einer Illusion –, Preußen werde, wie Friedrich Wilhelm IV. in höchster Not angekündigt hatte, „in Deutschland aufgehen“, diesem preußischen König die Kaiserwürde anzutragen. Am 3. April erschien also eine Parlamentsabordnung, die sogenannte Kaiserdeputation, mit diesem Angebot bei Friedrich Wilhelm in Berlin und musste sich eine hochnotpeinliche Abfuhr gefallen lassen. In einem Bericht an den preußischen Botschafter Christian von Bunsen in London fasste der König seine Erwiderung auf das Ansinnen der Parlamentarierdelegation unter anderem mit folgenden von monarchischer Arroganz strotzenden Worten zusammen: Die Krone, die ein Hohenzoller nehmen dürfte [...], ist keine, die eine, wenn auch mit fürstlicher Zustimmung eingesetzte, aber in die revolutionäre Saat geschossene Versammlung macht [...], sondern eine, die den Stempel Gottes trägt, die den, dem sie aufgesetzt wird nach der heiligen Ölung‚ ‚von Gottes Gnaden‘ macht [...] Die [Krone] aber, die Sie – leider meinen, verunehrt überschwänglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von 1848, der albernsten, dümmsten, schlechtesten –, wenn auch gottlob, nicht bösesten dieses Jahrhunderts. Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Letten260 gebacken, soll ein legitimer König von Gottes Gnaden und nun gar der König von Preußen sich geben lassen ...?261

In überdeutlicher Weise wurde dabei das monarchische Leitbild vom „Gottesgnadentum“ gegen die Souveränität des Volkes ins Feld geführt. Damit war nach dem frühen Scheitern der Linken im Paulskirchenparlament, die eine Republik wollten, auch die gemäßigt-liberale Konstruktion einer Erbmonarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage vorerst nicht mehr realisierbar. Noch im April 1849 rief Österreich seine Abgeordneten zurück, diesem Beispiel folgten kurz darauf Preußen, Sachsen, Hannover und Baden. Die im Parlament verbliebenen Liberalen zogen sich ebenfalls weitgehend 260 „Letten“ ist Bezeichnung eines minderwertigen, oft mit Sand durchmischten Tons. Diese Herab-

würdigung wiederholte Friedrich Wilhelm IV. auch bei anderen Gelegenheiten. 261 Zit. bei: Ranke, Leopold von (Hrsg.): Aus dem Briefwechsel Friedrich/Friedrich IV. mit Bunsen.

In: Ranke, Leopold von (1887): Sämtliche Werke. Bd. 50. Leipzig: 493 f.

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zurück. Übrig blieb ein – wie man auch hier spöttisch sagte – „Rumpfparlament“, in dem hauptsächlich nur noch linke Abgeordnete ausharrten und das mehrfach vor der Beschlussunfähigkeit stand. Als sich abzeichnete, dass preußisches Militär gegen diesen Rest der Nationalversammlung vorgehen würde, beschloss man am 31. Mai, von Frankfurt nach Stuttgart auszuweichen. Dort aber verhinderte am 18. Juni 1849 württembergisches Militär eine reguläre Sitzung mit Gewalt. Der Versuch, am Nachmittag desselben Tages doch noch eine, die 236. Sitzung in einem Ausweichquartier abzuhalten, endete bei zuletzt 99 Anwesenden mit der Feststellung der Beschlussunfähigkeit.262 Der Reichsverweser Erzherzog Johann hatte schon am 10. Mai den desillusionierten Gagern zum Rücktritt als Ministerpräsident bewogen. Er selbst trat am 10. Dezember 1849 von seinem bedeutungslos gewordenen Amt als vorläufiges Staatsoberhaupt zurück. Schon während der Beratungen der Nationalversammlung 1848 war ein allgemeines Misstrauen in die Fähigkeiten dieses Parlaments gewachsen. Zu hoch waren die Erwartungen an schnelle und effektive Lösungen, wie allein die sehr große Zahl an Petitionen – auch zu oft minderwichtigen Sachen – beweist, deren Befriedigung man dem Parlament neben seinen grundsätzlichen Aufgaben zutraute. Man glaubte vielfach, dass die langsamen Arbeitsfortschritte mit dem starken Anteil an Akademikern zusammenhing, weswegen die Nationalversammlung auch als „Professorenparlament“ bespöttelt wurde. Tatsächlich war in diesem Parlament das Bildungsbürgertum zu 95 Prozent vertreten. Darunter waren neben zahlreichen Promovierten 49 Professoren, vor allem Germanisten, Historiker und Juristen wie Georg Friedrich Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus und Jacob Grimm. Dieser etwa hielt in der 52. Sitzung einen langen Exkurs zur Geschichte des Adels, in dem er unter anderem Wolfram von Eschenbach, aber auch die grammatische Bedeutung der Präposition „von“ bemühte263, was eher einem philologischen Kolleg als einer Parlamentsrede entsprach.264 Sehr viel stärker als die Gruppe der Professoren war jedoch die Zahl derer, die auf verschiedenen Ebenen einzelstaatlicher Verwaltungen und Gremien Funktionen wahrnahmen und sich in der Paulskirche auf das Wesentliche konzentrierten. Ähnlich lange Beiträge wie der erwähnte von

262 Wigard (1848/49) Bd. X: 6875–6886. Die Zahl der Abgeordneten, die ihr Mandat noch wahr-

nahmen, war schon in der letzten Sitzung, die in Frankfurt stattfinden konnte, auf 130 gesunken. 263 Wigard (1848/49) Bd. II: 1310–1312. 264 J. Grimm nahm im Übrigen sein Mandat nur bis zum Oktober 1848 wahr.

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Jacob Grimm, vor allem von Staatsrechtlern, waren freilich der Komplexität der Fragen, die die Gründung eines neuen Staates aufwarf, durchaus angemessen. Interne Kritik kam natürlich von den Linken, die der bürgerlich-liberalen Mehrheit unter anderem die Vernachlässigung der Nöte und Belange der Besitzlosen, insbesondere der arbeitenden Unterschichten vorwarfen. In diesem Punkt ergab sich tatsächlich eine bedenkliche Kontinuität zum Deutschen Bund, für den die soziale Frage ebenfalls keine besondere Rolle gespielt hatte. Begleitet von quälend langen Auseinandersetzungen um die Geschäftsordnung wurde in der 6. Sitzung des Parlaments am 25. Mai 1848 neben einem Ausschuss, der die Reichsverfassung ausarbeiten sollte, ein Ausschuss eingerichtet, der sich der sozialen Frage widmen sollte – offenbar in einem sehr weiten Sinne. Seine offizielle Bezeichnung war nämlich „ Ausschuss für Arbeiter-, Gewerbs- und Handelsverhältnisse“.265 In den Debatten um die Grundrechte wurde die Forderung der Linken, in Paragraph 30 der Verfassung ein „Recht auf Arbeit“ als Grundrecht zu fixieren, von der Mehrheit abgelehnt.266 Auch im Bürgertum schwanden die anfänglichen Sympathien für die Nationalversammlung mehr und mehr, zumal man sich von den trotz parlamentarischer Zügelungsversuche fortdauernden revolutionären Unruhen bedroht fühlte. Die Schwäche, gar Ohnmacht des Parlaments erwies sich nicht nur in den widersprüchlichen Beschlüssen zum Frieden von Malmö, sondern auch weil man die Verhaftung des Linksrepublikaners Julius Fröbel (1805–93) und die standrechtliche Erschießung von Robert Blum in Österreich wegen ihrer Teilnahme am Wiener Oktoberaufstand 1848 hinnehmen musste, obwohl beide als Abgeordnete eigentlich Immunität hätten genießen sollen. Für die politische Praxis der zweiten Jahrhunderthälfte blieben dagegen zentrale Positionen der Nationalversammlung trotz des Scheiterns dieses ersten deutschen Demokratieversuchs durchaus maßgeblich. Zuvörderst ist das Modell einer Monarchie zu nennen, die sich als „konstitutionelle“ die Macht mit einem möglichst starken Parlament teilen sollte. Damit wurden vom Paulskirchenparlament, bis 1918 wirksam, die linken Vorstellungen von einer Republik gegen alle monarchischen Strukturen ins Abseits gedrängt. Das hinderte indes die außerparlamentarischen Kräfte keineswegs, die Umwandlung Deutschlands in

265 Wigard (1848/49) Bd. I: 88. 266 Ebda. Bd. VII: 5045; 5119 ff.; 5127 ff. – Annäherungsweise wurde das Recht auf Arbeit in der

Weimarer Verfassung (Art.  163) verankert, ausdrücklich aber in den DDR-Verfassungen ab 1949, dort zugleich aber auch als Pflicht zur Arbeit interpretiert.

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eine Republik auch ohne den Segen der Nationalversammlung, vor allem in Baden und in der Rheinpfalz, auf eigene Faust durchsetzen zu wollen. Dabei ging ein wesentliches Stück Gemeinsamkeit der Opposition gegen die Restauration des Deutschen Bundes verloren. Gleichwohl blieb man gegen den lange gepflegten Partikularismus der deutschen Teilstaaten grundsätzlich in der Überzeugung vereint, dass die Deutschen „ein Volk“ und „eine Nation“ bildeten und folglich auch nur „ein Vaterland“ hätten. Dieses Leitbild trug die Deutschen – wenn auch unter erheblichen Einschränkungen – noch über die politische Teilung des Landes 1949–90. Die Bruchlinien zwischen der Mehrheit und Minderheit in der Paulskirche einerseits und zwischen den Positionen der außerparlamentarischen Opposition andererseits verliefen freilich so eindeutig auch nicht, sieht man einmal von der extremen Position der Kommunisten ab.267 Auf außerparlamentarischer Seite sind zunächst einmal die sogenannten Märzvereine zu sehen, die in ganz Deutschland entstanden waren.268 Sie traten dafür ein, dass die Errungenschaften der Märzrevolutionen nicht mehr angetastet würden. Sie waren für die Gründung einer Republik, nahmen aber 1849 die Ablehnung der Reichsverfassung (mit erblichem Kaisertum) durch die größeren Bundesstaaten zum Anlass für deutschlandweite Protestaktionen. Sie hatten auf Anregung des ersten „Demokratenkongresses“ im Juni 1848 bereits einen Dachverband, den „Centralmärzverein“, gegründet. Auf jenem Kongress engagierten sich immerhin auch Teile der Nationalversammlung, insbesondere aus dem linken Spektrum. Der zweite „Demokratenkongress“ im Oktober 1848 dagegen kündigte angesichts der zunehmenden Ohnmacht der Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin gegenüber der wachsenden Gegenrevolution de facto die Verbindung mit dem Paulskirchenparlament auf und wollte sogar dessen Sturz herbeiführen. Immerhin waren es dann aber doch die Märzvereine unter Führung des linken Frankfurter Abgeordneten Julius Fröbel, die im Mai 1849 zu einer Kampagne aufriefen, um die Reichsverfassung in ganz Deutschland doch noch durchzusetzen. Hierin war man sich – wenigstens nach außen – dann doch einig. Einig auch in der Überzeugung, dass es nun die reaktionären Kräfte seien, die sich (gegen-) 267 Dazu: Hundt, Martin: Die Revolution von 1848 und der Bund der Kommunisten. In: Bleiber,

Helmut (Hrsg.) (22001): Demokratie und Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution 1848/49. Berlin: 76–82. 268 Dazu u.a.: Wettengel, Michael (1991): Der Centralmärzverein und die Entstehung des deutschen Parteiwesens während der Revolution von 1848/49. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung. Bd. 3: 34–81.

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revolutionär und sogar illegal verhielten. In einem Flugblatt „An das Deutsche Volk“ vom 6. Mai 1849 charakterisierte der „Congreß sämmtlicher Märzvereine Deutschlands“ dieses Verhalten als „Gewalt rebellischer Regierungen“, und in einem letzten, verzweifelten Aufruf der Nationalversammlung vom 18. Juli 1849269, der ebenfalls als Flugblatt tausendfach verbreitet wurde, ist von „verfassungsfeindlichen Fürsten“ die Rede. In beiden Flugblättern wurde zur bewaffneten Gegenwehr aufgerufen. Die Überzeugung der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, dass sie durch Wahlen eine höhere Legitimation als die partikularen Gewalten der alten Bundesstaaten besäßen, verlieh ihnen noch im Augenblick der militärischen Zerschlagung ihres Parlaments in Stuttgart ein bewundernswertes Selbstbewusstsein, mit dem sie dem württembergischen Militär sogar noch mit Strafverfolgung auf der Grundlage der von der Nationalversammlung erlassenen Gesetze drohten.270

5.6  Leitbilder und Sprache eines neuen politischen Selbstbewusstseins

In den Parlamentsdebatten der Paulskirche dominierte wie schon in vielen Manifestationen der Opposition gegen die Restauration zuvor, aber auch in zeitgleichen außerparlamentarischen Äußerungen die nationale Einheit als Zielbegriff, mit dem die immer noch herrschende Vielstaatlichkeit überwunden werden sollte. Man wollte die Einheit als Volk und als Nation, beides mit unbedingter Souveränität. Auffällig indes ist, wie oft die innere Einheit, die „Eintracht“, beschworen wurde. Sie erschien umso gefährdeter, je weniger die mehrheitlich bürgerlich-liberalen Akteure beispielsweise auf Vorstellungen eingingen, wie man den besitzlosen Unterschichten soziale und politische Gerechtigkeit zukommen lassen könnte. Von „Gleichheit“, hier als Maxime für das soziale Miteinander, hielt die Mehrheit der Bürgerlich-Liberalen allerdings nur wenig. Der Konflikt, der daraus zwischen ihnen und den linken Gruppen erwuchs, hing unmittelbar mit der Frage nach der künftigen Staatsform zusammen. Gegen die Republikaner und ihre sozialpolitischen Ziele entschied sich die Mehrheit zuletzt für die konservativste Option, für eine erbliche Monarchie, und huldigte damit – lässt man politisch-pragmatische Motive einmal beiseite – letztlich dem monarchischen Leitbild vom Gottesgnadentum. 269 Wigard (1848/49) Bd. IX: 6883. 270 Vgl. dazu das Protokoll der letzten Sitzung: Wigard (1848/49): insbes. 6877.

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Dass eine große Zahl von liberalen Parlamentariern, darunter auch prominente wie Friedrich Daniel Bassermann, Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich von Gagern, Karl Mathy und Eduard Simson, über 1849 hinaus an dieser Position mitsamt ihrer Festlegung auf einen preußischen Kaiser festhielten und damit sogar – ob gewollt oder ungewollt – der Entwicklung zu einem preußisch-kleindeutschen Staat Vorschub leisteten, ist nach der arroganten Zurückweisung der Kaiserkrone durch den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. aus heutiger Sicht nur schwer verständlich. Es spricht aber einiges dafür, dass die Liberalen nach dem Scheitern des Leitbilds nationaler Einheit in seinem ursprünglichen Verständnis gemäß ihren grundsätzlichen Hoffnungen auf evolutionäre Fortschritte nun wenigstens dem Leitbild „Freiheit“ größtmögliche Geltung verschaffen zu müssen glaubten. Und tatsächlich gab es in der weiteren politischen Entwicklung sehr wohl auch einige Hoffnungsschimmer, etwa als die Grundrechte der Paulskirche in die Verfassung der „Erfurter Union“ übernommen wurden (Teil 2, 6.1). Obgleich die zentralen Beschlüsse der Paulskirche, sei es zu den Grundrechten, sei es zu den staatlich administrativen Regelungen, eigentlich nur Entwürfe für eine gemeinsame deutsche Zukunft waren, wurde ihre Realisierung in den Debatten oft genug als bereits vorhandene, unumstößliche Gegebenheit vorausgesetzt. Diese Ineinssetzung von Zukunft und Gegenwart bedeutet zugleich Stärke und Schwäche des Selbstbewusstseins der Parlamentarier: Stärke, weil man mit dem Anspruch auftrat, die politische Realität bereits verändert zu haben, und daraus sehr konkrete Forderungen für die Gegenwart ableitete, Schwäche, weil dabei die noch keineswegs überwundenen Widerstände der alten Mächte zu leicht verdrängt, zumindest aber unterschätzt wurden. Durch die Parlamentsdebatten wurde im Übrigen ein neuer Stil der politischen Debatten gefördert, der zwar noch weit von heutiger Rede in Parlamenten entfernt war, aber einen Großteil „byzantinistischer“ sprachlicher Umgangsformen abgelegt hatte, die bis dahin im Verkehr zwischen den tonangebenden politischen Akteuren gegolten hatten – freilich auch weiterhin gelten konnten, vor allem wenn Monarchen ihre Autorität zum Ausdruck bringen wollten. Wie fest diese traditionelle Stilhaltung verankert war, ließ sich beispielsweise noch im März 1848 in der sogenannten Berliner Arbeiteradresse an König Friedrich Wilhelm IV. erkennen, in dem ein „Arbeitsministerium“ (auch „Arbeiterministerium“) gefordert wurde. Selbst sie begann noch mit der unterwürfigen Anrede „Durchlauchtigster König“271 und bezeugte damit die Ehrerbietung, die man Monarchen schuldig zu sein glaubte. Die traditionellen Selbstbenennungen 271 Die Berliner März-Revolution (1848): 27.

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der Monarchen („Wir, von Gottes Gnaden König ...“) hätten eigentlich sogar einen Pluralis Majestatis, etwa „Euer Majestät“, bedingt; davon weicht die „Arbeiteradresse“ aber ab. In die Enge getrieben konnte selbst Friedrich Wilhelm IV. durchaus bescheidener, nämlich im Singular von sich sprechen, so in seinem Aufruf vom 21. März 1848, worin er erklärte: „Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt.“ Die Pronomina „Mich“ und „Mein“ blieben dann freilich immer noch autoritätsbetonend großgeschrieben. Vergleicht man den Redestil der Frankfurter Nationalversammlung mit dem der Bundesversammlung, erscheint als größter Unterschied, dass nun nicht mehr Institutionen, sondern Individuen miteinander sprachen. In der Bundesversammlung konnten die Mitglieder – gleichsam im Sinne eines „imperativen Mandats“ – nur offizielle Statements ihrer Regierung vortragen. Sehr oft musste sich der einzelne „Gesandte“ (das Wort verrät bereits seine Funktion) zunächst sogar der Stimme enthalten, bevor die entsendende Regierung ihm eine neue Direktive zukommen ließ. Nur ausnahmsweise konnten wie im Fall des Gesandten beim Deutschen Bund Hans Christoph Ernst von Gagern auch einmal persönlichere Meinungen geäußert werden (Teil 2, 1.4). Die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung hingegen sprachen grundsätzlich für sich selbst, wobei durchaus auch Gruppenmeinungen vorgetragen werden konnten. Schon dies war Ausdruck eines neuen, demokratischen Politikverständnisses. Viele Reden in der Nationalversammlung waren darüber hinaus von drei grundsätzlichen Merkmalen bestimmt: zum einen von erstaunlicher Höflichkeit gegenüber den Parlamentskollegen, auch wenn man eine entschieden andere Meinung vertrat. Die Lebendigkeit der Debatten litt darunter aber keineswegs, wie allein die zahlreichen Zwischenrufe bewiesen, auch musste der Präsident immer wieder einmal zur Ordnung rufen; zum anderen von bewundernswerter Gelassenheit selbst im Augenblick höchster Gefahr, bei drohender oder nach bereits erfahrener Gewalt – eine Folge des unerschütterlichen Glaubens an die eigene Souveränität, und zum dritten von einem – eher formalen, grammatischen – Kennzeichen: von einer sorgfältigen Durchgestaltung auch schwierigster syntaktischer Konstruktionen, wie man sie heute bestenfalls noch in Druckfassungen antrifft. Das kann nicht alles nur Folge einer stilistischen Glättung durch die Stenografen sein! Hier machte sich bei vielen Rednern ihre rhetorische Übung als Akademiker und/oder als Verwaltungsfachleute bemerkbar. Ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Beispiel kann exemplarisch für die rhetorische Gewandtheit von Rednern stehen; der Beitrag stammt von dem Abgeordneten Karl Biedermann aus Leipzig:

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Ich freue mich, der Erste zu sein, der über die Grundrechte des deutschen Volkes das Wort zu ergreifen hat, und dieß um so mehr, als der Artikel, über welchen ich speciell zu sprechen habe, wiederum einer der wichtigsten und bedeutungsvollsten ist in sofern, als darin die beiden großen Strömungen der neuesten Bewegung, das Streben nach Einheit und das Streben nach Freiheit, sich inniger als irgendwo sonst verbinden.272

In der Paulskirche ist – um dies ebenfalls zu bemerken – ein wesentlich geringerer Anteil an lateinischem oder französischem Lehngut zu beobachten, als er in den Verhandlungen des Deutschen Bundes anzutreffen war. Das, was als nichtdeutsche Fachtermini unumgänglich war, stieß darüber hinaus in Teilen der „vaterländischen“ Öffentlichkeit noch auf Widerstand, wie eine am 12. September 1848 vorgetragene Petition des sprachpuristischen Heidelberger „Vereins für deutsche Reinsprache“ bewies. Ein Einfluss der englischen Politiksprache ist indes nur sehr schwach bemerkbar. Es gibt beispielsweise noch keine „Lobby“, weder als Bezeichnung für einen Parlamentsvorraum (die Frankfurter Paulskirche hätte für einen solchen Vorraum auch gar keinen Platz geboten) noch als Metonym für dort agierende Interessenvertreter – was keineswegs ausschloss, dass die Abgeordneten immer wieder einmal auch mit Interessen einzelner Wirtschaftszweige konfrontiert wurden. Am ehesten ist das Wort „Club“ („Clubb“) als Variante für den (selten gebrauchten) Begriff „Fraktion“ englischem Einfluss zu verdanken. „Nationalversammlung“ ist dagegen dem französischen Vorbild, der „assemblée nationale“, nachgebildet, eine Lehnübersetzung. Das ­seltener benutzte Wort „Parlament“ wurde, wie an seiner Endsilbenbetonung erkennbar, ebenfalls dem Französischen und nicht dem Englischen entlehnt. In der Debattensprache wurde es als „hohes Haus“ oder „hohe Versammlung“ tituliert. So wie die Sakralisierung weltlicher Gegenstände in zahlreichen Äußerungen des Vormärz als Konterkarierung monarchischen, gottgleichen Selbstbewusstseins zu deuten war, so muss auch dieses wie entsprechende andere Phänomene in der Paulskirche als Ausdruck eines neuen politischen Selbstverständnisses gesehen werden.

272 Wigard (1848/49) Bd. I: 732.

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6  Preußens Griff nach der Reichsmacht 1849–66 6.1  Die Erfurter Union 1849/50 175 |  6.2  „Deutscher Krieg“ und das Ende des Deutschen Bundes 1866 177 |  6.3  Die Reduzierung des Leitbilds „deutsche Einheit“ 180

Mit dem immer selbstbewussteren Auftreten Preußens in der deutschen Binnenpolitik ab 1849 kommt ein entscheidender historischer Faktor ins Spiel, der nicht nur die politische Landkarte Deutschlands veränderte, sondern auch in der Geschichte des Leitbilds „Einheit“ mit seinen Schlüsselwörtern „deutsch“, „Deutschland“, „ein Volk“, „ein Vaterland“, „eine Nation“ einen radikalen, bis heute fortwirkenden Bruch herbeiführte. Es waren aber nicht nur die offiziellen politischen Akteure in Preußen, die sich für ihre Machtziele derjenigen sprachlichen Symbole bemächtigten, die in der Einheitsbewegung bereits ihren hohen Prestigewert gewonnen hatten. Vielmehr trugen ganz wesentlich liberale Politiker zu diesem Einschnitt in die Leitbildgeschichte bei, weil sie den preußischen Machtansprüchen – letztlich paradoxerweise – um des Leitbilds nationaler Einheit willen entgegenkommen zu müssen glaubten und dabei die ursprünglich gesamtdeutsch definierte Bedeutung von „Einheit“ aufgaben. Nachdem sich in mehr oder weniger allen Bundesstaaten, allen voran in Österreich und Preußen, die restaurativen Kräfte längst wieder durchgesetzt hatten, wurde schon 1849 der Deutsche Bund wiederbelebt, freilich zunächst ohne Beteiligung Preußens und anderer Staaten. Erst 1851 schlossen sich Preußen und die Staaten, die ebenfalls noch ferngeblieben waren, dann doch der Neuauflage des Bundes an. Österreich wie Preußen forcierten danach noch gemeinsam die alte reaktionäre Politik. Durch den sogenannten Reaktionsbeschluss, offiziell: „Maaßregeln zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bunde“, vom 23. August 1851, wurden die Bundesstaaten verpflichtet, alle liberalen Errungenschaften in ihren Verfassungen wieder rückgängig zu machen. Insbesondere wurden die in der Paulskirchenverfassung verbrieften Grundrechte offiziell aufgehoben; bezeichnend war dabei die distanzierende Formulierung von den „sogenannten Grundrechten des deutschen Volks“.273 Ein zentraler Ausschuss sollte die antiliberalen Maßnahmen überwachen. 1854 folgten das „Bundespreßgesetz“ mit Wiedereinführung der Zensur und das „Bundesvereinsgesetz“, mit dem grundsätzlich alle politischen Vereine verboten wurden. Das schon vor 1848 gebrauchte Schmähwort der Opposition „Reaction“ wurde nun zur vielfach bestätigten Signatur der Bundespolitik. 273 Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 35 (1851): 274.

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6.1  Die Erfurter Union 1849/50 „Mit der Krone von Preußen verbunden“

Nicht nur die Opposition gegen den neuen, eigentlich alten Kurs des Deutschen Bundes, die durch die gleichzeitige italienische Nationalbewegung zum Widerstand ermutigt wurde, machte der Reaktion zu schaffen. Die zweite Phase des Deutschen Bundes litt vielmehr von vornherein unter Spannungen zwischen Preußen und Österreich. Bereits am 26. Mai 1849 hatten Preußen, Hannover und Sachsen ohne Beteiligung Österreichs ein eigenes Bündnis, das „Dreikönigsbündnis“, geschlossen, dem schließlich 27 weitere deutsche Staaten beitraten. Nach dem Versammlungsort des aus zwei Kammern bestehenden Unionsparlaments wurde das Bündnis auch „Erfurter Union“ genannt.274 148 ehemalige liberale Abgeordnete der Paulskirche wie Friedrich Daniel Bassermann, Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich von Gagern, Karl Mathy und Eduard Simson, schon in Frankfurt Unterstützer eines erblichen preußischen Kaisertums, hatten bereits zuvor auf einem Treffen am 25.–27. Juni 1849 in Gotha, „Gothaer Nachparlament“ genannt, Stellung zu Gunsten dieser Union bezogen. Damit hatten sie sich endgültig auf eine kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung eingelassen. Dabei kam ihnen entgegen, dass die Unionsverfassung275 in zahlreichen Punkten die Paulskirchenverfassung übernahm; sogar bei der Bezeichnung der Parlamentskammern als „Volkshaus“ und „Staatenhaus“ belehnte man die Paulskirche. Am auffälligsten aber war die Übernahme des Staatsnamens der Paulskirche „Deutsches Reich“, der 1871 endgültig für Bismarcks kleindeutsche Lösung in Anspruch genommen werden und bis 1945 Geltung behalten sollte. Ein deutsches „Reich“ in Verbindung mit dem Anspruch auf eine preußische Führungsrolle wird auch für die Wiederaufnahme der Erfurter Ambitionen im Norddeutschen Bund von 1866 (Teil 2, 10) maßgebliche Leitlinie sein. In Paragraph 1 der Unionsverfassung wurde Österreichs Position immerhin noch „vorbehaltlich“ bedacht: Das Deutsche Reich besteht aus dem Gebiete derjenigen Staaten des bisherigen Deutschen Bundes, welche die Reichsverfassung anerkennen. Die Festsetzung des Verhältnisses Oesterreichs zu dem Deutschen Reiche bleibt gegenseitiger Verständigung vorbehalten. 274 Dazu:

Mai, Gunther (Hrsg.) (2000): Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850. Köln/Wien/Weimar. 275 Huber (1978/86) Bd. 1: Nr. 183.

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Dass man für den Erfurter Schrumpfstaat den Staatstitel „Deutsches Reich“ wählte, der 1848/49 noch für ein „Gesamtdeutschland“ – also inklusive Österreich – vorgesehen war, stellte bei Licht besehen eine Anmaßung dar, verriet aber die Absicht, dass man Größeres anstrebte. „Reich“ sollte wie in der Paulskirchenverfassung auch zum Bestimmungswort für zentrale Institutionen wie „Reichstag“ als zusammenfassender Begriff für Staaten- und Volkshaus, „Reichsheer“ oder „Reichsgericht“ werden. Österreich sollte – wie zuletzt noch in der Paulskirche – nur ein späterer Beitritt zum neuen Staat ermöglicht werden. Für liberale Kreise äußerst attraktiv war nicht zuletzt die weitgehende Übernahme der Frankfurter „Grundrechte des deutschen Volkes“ in die Unionsverfassung – bis hin zur Abschaffung aller Standesvorrechte (§ 135). Zur Aufhebung des Adels als Stand276 konnte man sich freilich nicht verstehen. Während sich das Paulskirchenparlament aber bei der Bestimmung des „Reichsoberhaupts“ mit dem Titel „Kaiser der Deutschen“ vorbehalten hatte, diese Funktion von sich aus einem Fürsten zu übertragen, legte die Unionsverfassung in Abschnitt III, Art. I ohne Umschweif fest: „Die Regierung des Reiches wird von einem Reichsvorstande an der Spitze eines [sechsköpfigen] Fürsten-Kollegiums geführt.“ (§ 65) Der an sich bescheidene Titel „Reichsvorstand“ erhielt dann doch sein besonderes Gewicht durch Paragraph 66, in dem festgelegt wurde, dass dessen Würde „mit der Krone von Preußen verbunden“ sei. Hier wäre für Österreich tatsächlich kein Platz mehr gewesen. Das Deutsche Reich in der Erfurter Konzeption sollte in jedem Fall ein preußisch dominiertes sein. Auf energisches Drängen Österreichs und Russlands wurde diese preußische Sonderpolitik jedoch nach nur eineinhalb Jahren im Oktober 1850 durch einen Vertrag zur Beilegung des innerdeutschen Konflikts, die „Punctation“ von Olmütz, wieder eingestellt. Gedemütigt, aber nach wie vor entschlossen, doch noch die Führung in Deutschland zu erringen, kehrte Preußen, wie schon gesagt, am 14. Mai 1851 in den Schoß des wiederbelebten Deutschen Bundes zurück. Die Spannungen aber blieben. Der extrem konservative, aber immer wieder für realpolitische Schwenks offene Otto von Bismarck (1815–98) wurde preußischer Bundestagsgesandter und nutzte in dieser Funktion manche Gelegenheit – nicht selten sogar von der politischen Linie seiner, der preußischen Regierung abweichend –, österreichische Interessen zu hintertreiben, etwa den Wunsch Wiens, endlich Mitglied im Deutschen Zollverein zu werden. 1862 wird Bismarck preußischer Ministerpräsident und verfolgt nun von dieser Position aus seine Doppelstrategie: einerseits 276 Vgl. Paulskirchenverfassung § 137, 2. Satz.

Preußens Griff nach der Reichsmacht 1849–66   |

Kooperation mit Österreich im Sinne der Reaktion, andererseits Schwächung der österreichischen Machtposition.

6.2  „Deutscher Krieg“ und das Ende des Deutschen Bundes 1866 „Der Bundesvertrag gebrochen und nicht mehr verbindlich“

Mit gezielten Provokationen trieb Preußen den Konflikt mit Österreich zuletzt einem kriegerischen Höhepunkt zu. 1864 hatte Preußen im 2. Schleswig-Holsteinischen Krieg (auch „2. Deutsch-Dänischer Krieg“ genannt) noch mit Österreich gemeinsam und diesmal erfolgreich gegen Dänemark gekämpft, um die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg endgültig für Deutschland zu gewinnen. Beide Staaten teilten sich in einem sogenannten Kondominium die Herrschaft und Verwaltung der Dänemark abgerungenen Herzogtümer. Am 9. Juni 1866 aber marschierten preußische Truppen in das Österreich zugesprochene Holstein ein, was den endgültigen Bruch zwischen den beiden Mächten einleitete. Nach dieser Invasion beschloss der Deutsche Bund die Mobilmachung der nichtpreußischen Kontingente des Bundesheers. Nach dem Prinzip „Haltet den Dieb!“ wertete Preußen die Mobilmachung der anderen (!) als Kriegserklärung, die nach Meinung Berlins einen eklatanten Bruch der Bundesakte bedeutete. Mit dieser Begründung jedenfalls teilte der preußische Gesandte Karl Friedrich von Savigny der Bundesversammlung am 14. Juni 1866 den Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund mit, der einen solchen Schritt in der Wiener Schlussakte von 1820 allerdings für unzulässig erklärt hatte. Savigny trug in besagter Sitzung unter anderem vor277: Durch die nach dem Bundesrechte unmögliche Kriegserklärung gegen ein Bundesmitglied [...] sieht das [preußische] Königliche Cabinet den Bundesbruch als vollzogen an. Im Namen und auf allerhöchsten Befehl Seiner Majestät des Königs, seines allergnädigsten Herrn, erklärt der Gesandte daher hiermit, daß Preussen den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen und deßhalb nicht mehr verbindlich ansieht, denselben vielmehr als erloschen betrachten und behandeln wird.

277 Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Bd. 50 (1866): 215. Daraus auch die folgenden

Zitate.

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Savigny hatte seine Erklärung noch mit den vielsagenden Worten ergänzt: Die Königliche Regierung [...] sieht es als eine unabweisliche Pflicht der deutschen Staaten an, für die [deutsche Einheit] den angemessenen Ausdruck zu finden. Die Königliche Regierung legt ihrerseits die Grundzüge einer neuen, den Zeitverhältnissen entsprechenden Einigung hiermit noch vor und erklärt sich bereit, auf der durch eine solche Reform modificirten Grundlage einen neuen Bund mit denjenigen deutschen Regierungen zu schließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen.

Verbal hielt man also an einem Einigungsziel fest, das aber „neuen Zeitverhältnissen entsprechend“ definiert werden sollte. Bereits der Artikel 1 der von Savigny vorgelegten „Grundsätze einer neuen Bundesverfassung“278 machte dann unmissverständlich klar, dass Österreich nicht mehr dazugehören sollte: Das Bundesgebiet besteht aus denjenigen Staaten, welche bisher dem Bunde angehört haben, mit Ausnahme der Kaiserlich-Oesterreichischen und Königlich-Niederländischen Landestheile.

Nur der letzte Artikel der „Grundsätze“ (Art. X) sprach noch von „Beziehungen des [neuen] Bundes zu den deutschen Landestheilen des Oesterreichischen Kaiserstaates“ und von der Möglichkeit, das Verhältnis durch „besondere Verträge“ zu regeln; von einem möglichen Beitritt Österreichs als gleichberechtigter Partner war nicht mehr die Rede. Das also waren die wahren „neuen Zeitverhältnisse“, die von Preußen indes erst noch zu schaffen waren – notfalls durch Krieg. Schon neun Tage nach der preußischen Austrittserklärung brach der Krieg aus. Preußen griff im habsburgischen Königreich Böhmen mit drei Armeen an und konnte am 3. Juli 1866 bei Königgrätz die österreichischen Truppen und die mit ihnen kämpfenden sächsischen Verbände vernichtend schlagen. Die weiteren Bundesmitglieder, die ebenfalls Österreich unterstützt hatten, wurden – sofern sie sich gemäß ihrer Bundestreue gegen den preußischen Aggressor auch militärisch engagiert hatten – auf je eigene Weise bestraft. Bis zum 26. Juli verleibte sich Preußen nach ganz Schleswig-Holstein Schritt für Schritt das Königreich Hannover, den nordmainischen Teil des Großherzogtums Hessen, das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt ein. Es verschaffte sich auf diese Weise eine geostrategisch und wirtschaftspolitisch komfortable Verbindung zwischen seinen östlichen Landesteilen und seinen 278 Ebda.: 220–222 (= Beilage 2).

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Provinzen im Rheinland und in Westfalen. Bayern, Baden, Württemberg und das auf seine Herrschaft südlich des Mains reduzierte Großherzogtum Hessen mussten mit Preußen Schutz- und Trutzbündnisse schließen, die geheim gehalten wurden, bis sie 1870 von Bismarck für die Waffenbrüderschaft im DeutschFranzösischen Krieg genutzt wurden. Die Benennung der kriegerischen Ereignisse 1866 als „Deutscher Krieg“ wird ihrer Besonderheit noch am ehesten gerecht, weil Österreich wie Preußen jeweils weitere deutsche Staaten hinter sich wussten. Die ältere Benennungsvariante „Preußisch-deutscher Krieg“ hatte zwar auch eine gewisse Berechtigung, widersprach aber dem preußischen Selbstverständnis, wonach Preußen „für Deutschland“ gekämpft habe; nach 1871 wurde diese Benennung aus durchsichtigen Gründen möglichst gemieden. Die immer noch gebrauchte Variante „Einigungskrieg“ vertritt dagegen eine mehr als irreführende Perspektive: Sie unterschlägt nämlich, dass gerade dieser Krieg eine Einigung mit der deutschen Macht Österreich endgültig verhindern sollte. Aus Sicherheitsgründen hatte die Bundesversammlung ihren Sitz von Frankfurt nach Augsburg verlegt, wo sie ab dem 18. Juli 1866, auf wenige Mitglieder reduziert, noch fünfmal tagen konnte – ein erzwungener Ortswechsel, wie ihn 1849 auch die Nationalversammlung erlebt hatte. In kurzer Folge hatten auch andere Bundesstaaten ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bund aufgekündigt, der damit ans Ende seiner politischen Möglichkeiten gelangte, ohne seine großen Projekte, vor allem eine eigene Bundesreform, eine allgemeine Zivilprozessordnung oder die Einführung des metrischen Maßsystems, zu vollenden. Im Friedensschluss nach diesem Krieg stimmte Österreich im August 1866 der endgültigen Auflösung des Bundes zu. Der amtierende Präsidialgesandte Österreichs, Freiherr von Kühbeck, stellte am 24. August 1866, der letzten Sitzung der Bundesversammlung, folgenden Antrag, dem von den wenigen verbliebenen Mitgliedern zugestimmt wurde: Nachdem in Folge der Kriegsereignisse und der Friedensverhandlungen der Deutsche Bund als aufgelöst betrachtet werden muß, beantragt Präsidium, hohe Bundesversammlung wolle beschließen: 1) ihre Thätigkeit mit der heutigen Sitzung zu beendigen; 2) hiervon die bei dem Deutschen Bunde beglaubigten Vertreter fremder Mächte, sowie 3) die Militärcommission, die Gouverneure der Bundesfestungen und den bisherigen Bundescommissär für Kurhessen zu benachrichtigen.279 279 Ebda.: 441.

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6.3  Die Reduzierung des Leitbilds „deutsche Einheit“

Damit ging eine Ära zu Ende, in der einerseits mit allen Mitteln der Repression jegliche Freiheitsregung verfolgt worden war, andererseits aber für immerhin 51 Jahre ein Krieg auf deutschem Boden verhindert werden konnte. Doch auch die Ära, in der die Schlüsselwörter „deutsch“ und „Deutschland“ großdeutsch gedacht und behandelt worden waren, ging damit zu Ende – eine politisch wie mental folgenschwere Begriffsverengung. Das einstige Urleitbild deutscher Einheit galt – von den Positionen vieler Linksliberaler und Teilen der Arbeiterbewegung abgesehen – fortan nur noch als semantisch extrem reduzierter Zielbegriff der preußischen Politik.

7  Die Arbeiterbewegung zwischen „Klassenkampf“ und „Vaterland“ 7.1  Frühe Formen der Selbstorganisation 186 |  7.2  Das Kommunistische Manifest 1848 188 |  7.3  Lassalle und der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein 1863 194 |  7.4  Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Eisenach 1869 200 |  7.5  Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, Gotha 1875 205 |  7.6  Bismarcks Versuch, die Arbeiterbewegung einzudämmen 1878–90 207 |  7.7  Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Erfurt 1891 210 |  7.8  Die patriotische Wende der SPD 1914 211 |  7.9  Eine historisch untaugliche Unterscheidung 214 |  7.10 Die Differenzierung der Leitbilder 216

Die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland war von wechselnden Leitbildern bzw. Leitbildvarianten geprägt, was lange Zeit einem politischen Erfolg im Wege stand. Insgesamt war sie noch am ehesten der Leitbildtrias der Französischen Revolution verpflichtet, doch das Spektrum der Interpretationen reichte von einer nur durch Revolution erreichbaren Freiheit bis hin zu einem Reformkurs, der sich auch patriotischen Haltungen öffnen konnte. Vor und neben dem revolutionären Paukenschlag des „Kommunistischen Manifests“ von 1848 ging es vorerst um die Entwicklung eines eigenen Selbstbewusstseins der Arbeiterschaft, das sich in den sprachlichen Symbolen von „Brüderlichkeit“ und „Solidarität“ verdichtete. Das Gleichheitsziel wurde sodann erst einmal auf die Herstellung von politischer und sozialer Chancengleichheit herabgestimmt, bis ihm unter marxistischem Einfluss eine dem „Proletariat“ vorbehaltene Qualität zugesprochen wurde. Dass die Entwicklung nicht ganz so gradlinig und folgerichtig verlaufen ist, wie hier in kürzestmöglicher Zusammenfassung dargestellt, beweist allein schon

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der sogenannte Revisionismusstreit in der SPD am Ende des Jahrhunderts, in dem die revolutionären und die einer Reformpolitik zuneigenden Kräfte hart aufeinanderstießen. Für beide Seiten aber blieb „Sozialismus“ ein akzeptabler Brückenbegriff, auch wenn man unter diesem Begriff sehr verschiedene Deutungen subsumierte und darum von ihm auch eigentlich keine allgemeingültigen Konsequenzen für die politische Praxis ableiten konnte. Erst die kommunistischen Machthaber des 20. Jahrhunderts verordneten ihren Untertanen ein einheitliches Verständnis von „Sozialismus“, das aber in erster Linie der Etikettierung längst etablierter Machtverhältnisse dienen sollte. Nachdem es im ersten Drittel des Jahrhunderts zahlreiche Menschen auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten noch in agrarische Regionen, vor allem in die preußischen Ostprovinzen gezogen hatte, setzte erst nach 1850 eine nennenswerte Zuwanderung in städtische Regionen ein, wo die Industrialisierung zunehmend neue Arbeitsplätze schuf. Der Anteil der agrarisch Tätigen an der Gesamtbevölkerung – die Verhältnisse in den einzelnen Staaten waren freilich sehr unterschiedlich – war von achtzig Prozent am Jahrhundertbeginn bereits bis 1850 auf sechzig Prozent gesunken und nimmt in den folgenden Jahrzehnten immer weiter ab. Bis 1900 arbeiteten sechzig Prozent in Fabriken und im Bergbau.280 Der Agrarstaat Deutschland wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts in einen Industriestaat, freilich mit deutlicher Verspätung gegenüber der Industriellen Revolution in England. Bei kleineren wie größeren Erhebungen quer durch den Deutschen Bund stand der Protest gegen soziale Missstände oft am Anfang.281 Zahlreich waren Revolten von Bauern, vor allem wenn sie von Missernten betroffen waren und trotzdem ihre Leistungen für die Grundherren erbringen mussten. Arbeitslosigkeit und Preiserhöhungen waren häufig Auslöser für den Aufruhr auch städtischer Unterschichten. Hungerrevolten, etwa die Berliner „Kartoffelrevolution“ gegen die Verdreifachung der Kartoffelpreise im April 1847, waren nicht selten. Der Terminus „Arbeiter“ ist bis um die Jahrhundertmitte semantisch noch ziemlich unscharf. Er umfasst in Deutschland alle lohnabhängig Arbeitenden, die zeitgenössisch auch „Gewerbsarbeiter“ genannt werden konnten. In der sich erst entwickelnden Industrialisierung hatten Handwerker vorerst den zahlenmäßig größten Anteil. Sogar die Bildung erster Gewerkschaften war von diesem 280 Dazu u.a.: Rürup (1992): 31 f.; Kocka (2015). 281 Dazu: Gailus, Manfred (1988): „Straße und Brot“ – Sozialer Protest in den deutschen Staaten

unter besonderer Berücksichtigung Preußens. Göttingen.

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sozialen Milieu geprägt. Erst nach und nach verengt sich der Begriff des „Arbeiters“ auf die in Fabriken Tätigen und meint den Industriearbeiter. Bei den frühen Protesten von „Handwerks-Arbeitern“ ging es meist um das Lohndiktat von Fabrikanten und Verlegern, die mit Lohnkürzungen den ohnehin kargen Lebensunterhalt unerträglich senken konnten. Ein Beispiel für den Widerstand aus dieser Bevölkerungsgruppe war der schlesische Weberaufstand vom 4. bis 6. Juni 1844, der große publizistische Resonanz fand und deswegen in die revolutionären Bewegungen des Vormärz eingereiht wird. Heinrich Heine dichtete 1844 sein auch als Flugblatt weitverbreitetes Gedicht „Die schlesischen Weber“282, in dem es einleitend heißt: „Im düstern Auge keine Thräne, / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: / Alt-Deutschland wir weben dein Leichentuch ...“ Und Georg Weerth schilderte in seinem Gedicht „Sie saßen auf den Bänken“ die solidarische Reaktion sogar englischer Bergleute auf „die schlesische Weberschlacht“. Diese „Schlacht“, in Wahrheit die Proteste und Demonstrationen der Weber gegen Hungerlöhne, endete im Kugelhagel des preußischen Militärs. Als die Ansiedlung von Fabriken, einhergehend mit bedrückenden Lebensverhältnissen der Fabrikarbeiter, unübersehbar wurde, gab es sehr wohl literarische Reaktionen, in denen die neuen Werkstätten mit ihren die Landschaft prägenden qualmenden Schloten283 dämonisiert werden konnten und die von berechtigter Angst vor den sozialen Folgen geprägt waren. Erinnert sei noch einmal an das Gedicht Georg Werths „Die Industrie“ aus dem Jahr 1845 (Teil 2, 3.7), in dem die (personifizierte) Industrie als furchterregende Göttin dargestellt wird, die aber ihren Schrecken verlieren und zum Segen werden könne, wenn sie vergesellschaftet allen und nicht nur einigen wenigen dienen werde. Als Beispiel für eine skeptische bis ablehnende Haltung zur Industrialisierung kann etwa der „Fabrikroman“ von Robert Prutz (1816–72) „Das Engelchen“ aus dem Jahr 1851 gelten – eine Haltung, die sich auch bei anderen Autoren der Zeit nachweisen lässt.284 Bei Prutz wird die Fabrik am Ende zerstört. In der Literatur wie in der bildenden Kunst braucht es noch recht lange, bis die Innovationen der neuen Industriekultur wenn auch kritisch, so doch sachlich akzeptiert 282 In der Variante „Die armen Weber“ erstmals veröffentlicht in der von Karl Marx in Paris heraus-

gegebenen Zeitschrift „Vorwärts!“ am 19. Juli 1844. bis in weit ins 20. Jahrhundert wurden Bilder von Rauch ausstoßenden Fabrikanlagen sogar als Werbeelement verwendet. 284 S. dazu: Nöger, Silvia (2008): Technik-Bewertung und Technik-Bewältigung in der deutschen Literatur. Saarbrücken. 283 Noch

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und nicht mehr hinter mythologischen Bildern wie bei Weerth verborgen werden. So wurde beispielsweise noch 1891 für die internationale elektrotechnische Ausstellung in Frankfurt am Main mit einer mythologischen Figur geworben, die eine strahlende Glühbirne wie eine Fackel in die Höhe hebt. Die in Handwerksbetrieben und in der Industrie Arbeitenden erreichten solche letztlich bürgerlichen Fiktionen natürlich so gut wie gar nicht, sie hatten andere Sorgen. Um zu überleben, mussten auch Frauen und Kinder harte Arbeit leisten. Sie litten unter schlechtesten Wohnbedingungen, mussten nicht selten noch zusätzliche Schlafgäste, sogenannte Schlafgänger, aufnehmen, um ihre kärglichen Finanzmittel ein wenig aufzubessern. Während sich im offiziellen politischen Raum die Tendenz zur Bildung eines (klein-)deutschen Nationalstaats mehr und mehr durchsetzte, waren die von der Mitsprache ausgeschlossenen Schichten der Besitzlosen auf Selbstorganisation angewiesen. Insbesondere die mit der Industrialisierung wachsende Zahl der Fabrikarbeiter war lange Zeit ohne Möglichkeit einer organisierten Vertretung ihrer Interessen gegenüber den Herrschenden auch im Bürgertum, das vornehmlich für seine eigene politische Repräsentation kämpfte und dabei auch einige Erfolge – für sich! – erzielen konnte. Im Rahmen der Drei-Stände-Ordnung von Adel, Klerus und Bürgertum wurde der großen Mehrheit der Bevölkerung im Begriff „Vierter Stand“ nur verbal eine eigene, letztlich aber rein passive Rolle zugesprochen.285 Die ihr Zugehörigen, Lohnarbeiter, Landarbeiter, Kleinbürger und von öffentlicher Armenfürsorge Abhängige, blieben beispielsweise 1848 bei den Wahlen zu den Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin ebenso ausgeschlossen, wie sie auch schon zuvor in den landständischen Vertretungen der deutschen Teilstaaten nicht repräsentiert waren. Und auch im 1849 eingeführten preußischen Dreiklassenwahlrecht war für die besitzlosen Schichten kein Platz. Die Benachteiligung des bei weitem größten Teils der Deutschen blieb nicht ohne Widerstand der Betroffenen. Zumindest wurden ihre Ansprüche in etlichen Veröffentlichungen artikuliert, insbesondere in der 1845/46 in Elberfeld, einem der frühen Industriereviere, herausgegebenen Monatsschrift „Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart“. Die verschiedenen sozialen Schichten wurden lange Zeit unspezifisch auch als „Klassen“, die Arbeiterschaft etwa als „arbeitende Classen“ (Plural!) bezeichnet. Marx und Engels konzentrierten den Begriff „Klasse“ dann jedoch auf die 285 Der Begriff wurde wohl von dem Kultursoziologen Wilhelm Heinrich Riehl (1823–97) geprägt.

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Bedeutung von politisch-sozialen Großkollektiven, den „Ständen“ vergleichbar. Durch die Zusammenfassung der unteren Schichten als „Proletariat“, noch enger als „Arbeiterklasse“ sollte im Kampf um die politische Herrschaft, der als „Klassenkampf “ gedeutet wurde, eine idealiter homogene Einheit, entstehen. Von dem dabei propagierten „Klassenbewusstsein“ waren die Lohnarbeiter vor 1848 und viele Jahre danach aber noch weit entfernt. Die hauptsächlich von Bürgerlich-Liberalen dominierte Frankfurter Nationalversammlung hatte wie schon der Deutsche Bund die sozialen Missstände weitgehend übergangen. Vorstöße wie Gustav Struves Entwurf einer republikanischen Verfassung, in der ausdrücklich „Abschaffung des Notstandes der arbeitenden Klassen und des Mittelstandes“ gefordert worden war, hatten gegen den Widerstand der Mehrheit schon im Frankfurter Vorparlament keine Chance. Der Begriff des „Vierten Standes“ war ohnehin eine nur rein verbale Ergänzung des traditionellen Drei-Stände-Systems von Adel, Klerus und Bürgertum. Problematisches „Vorbild“ für die soziale und politische Geringschätzung dieses „Standes“ war auch die Niederschlagung des Pariser Arbeiteraufstands im Juni 1848. In Berlin gab es bereits im März 1848 eine Reihe von Versammlungen, die vorwiegend von den „Männern der Fabriken“ besucht wurden. Dabei wurde auch jene bereits erwähnte „Arbeiteradresse“ an den „Allerdurchlauchtigsten König“ diskutiert, in der um „Abhülfe der jetzigen großen Noth und Arbeitslosigkeit“ gebeten wurde. „Wir werden nämlich von Capitalisten und Wucherern unterdrückt.“ Konkret wurde verlangt, „ein Ministerium bestellen zu wollen, ein Ministerium für Arbeiter, das aber nur von Arbeitgebenden und Arbeitern zusammengesetzt werden darf und deren Mitglieder nur aus beider Mitte selbst gewählt werden dürfen.“286 Hier wurde also bereits das Schmähwort der Arbeiterbewegung „Capitalisten“ bemüht.287 Aber schon in den dreizehn Offenburger „Forderungen des Volkes in Baden“ vom 11. September 1847 war ein für die sozialistische Theorie und Praxis zentrales Begriffspaar verwendet worden, da es hieß: „Wir verlangen Außgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und Capital.“ Und auch die begriffliche Zusammenfassung der Arbeiterschaft als „arbeitende Classe“ (Singular) wird schon vor der von Karl Marx entwickelten Theorie vom geschichtsbestimmenden Klassenantagonismus benutzt. Realitätsnäher wird für die Arbeiter286 Die Berliner März-Revolution (1848): 27. 287 „Capitalist“ war eine schon im 18. Jahrhundert gängige Bezeichnung eines Bürgers, der von sei-

nen Kapitalerträgen und nicht von eigener Arbeit lebt.

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schaft jedoch auch der Plural „Classen“ weiterverwendet, da es teilweise große Unterschiede zwischen Fachkräften und Ungelernten gab.288 Im zeitgenössischen Bericht über die Berliner Märzunruhen289 aber wird der Begriff „Proletarier“ noch von den „Arbeitern“ in Formulierungen wie „Arbeiter und Proletarier“ abgegrenzt. Dabei bezeichnete der Begriff „Proletarier“ den Teil der Unterschichten, der zwar wie die Arbeiter ohne Besitz war, aber noch nicht einmal wie diese überhaupt fähig war, seine Arbeitskraft für einen minimal auskömmlichen Unterhalt zu nutzen. Wo, wie etwa in Preußen, entsprechende Möglichkeiten bestanden, waren diese „Proletarier“ gänzlich von einer Armenfürsorge abhängig, darum gelegentlich auch „dürftige Classen“ genannt. Ein Wahlrecht wurde ihnen wie auch den Arbeitern gar nicht erst zugestanden. Die relativ früh einsetzende, im Marxismus verfestigte Übertragung des Begriffs „Proletarier“ auf die „arbeitende(n) Classe(n)“ bedeutet mithin eine semantische Verschiebung, erscheint aber angesichts der gleichermaßen erfahrenen Unterdrückung dieser Schichten unterhalb des Bürgertums durchaus nachvollziehbar.290 Nun waren sozialistische Ideen freilich längst schon vor Marx entwickelt worden und hatten die gesellschaftspolitischen Diskurse nicht zuletzt der Republikaner, aber auch von Schriftstellern beeinflusst; zu diesen zählte in Deutschland unter anderem Heinrich Heine. Dieser Frühsozialismus, auch als „utopischer Sozialismus“ bezeichnet, verbindet sich insbesondere mit dem Namen des französischen Soziologen und Philosophen Henri de Saint-Simon (1760–1825) und seiner Schule, den „Saint-Simonisten“. Saint-Simon forderte die Entmachtung des Adels, des Militärs und der Kirche, womit er die Sympathien der Aufrührer des Vormärz gewann. Aber er entwarf auch eine politische Theorie, wie auf der Basis eines staatlich gelenkten Industrialismus im Verein mit einem gebildeten Bürgertum ein Klassenkampf verhindert werden könnte. Vor Marx trat Saint-Simon bereits für die Überführung der Produktivkräfte in das Eigentum des Volkes ein. Als einer der deutschen Vertreter dieser frühsozialistischen Richtung gilt der Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808–71), der 1836 in Paris dem „Bund der Geächteten“, einer Vorstufe des „Bundes der Kommunisten“, beigetreten war, wegen seines agitatorischen und konkret revolutionären Engagements aber auch gerichtlich verfolgt wurde und mehrfach zur Emigration, bis in die USA, 288 Wehler (Bd. 3, 1995): 141 ff. 289 Quelle wie Anm. 286. 290 Vgl.

auch Freiligraths Gedicht „Von unten auf “ (1846), in dem ein Schiffsheizer „ProletarierMaschinist“ genannt wird (Teil 2, 3.7).

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gezwungen war. Weitlings Theorie, die ohne nachhaltigen Erfolg blieb und ihn auch Karl Marx entfremdete, sah nicht zuletzt in Christus einen Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit. Weitere (früh)sozialistische Tendenzen im Vormärz spiegelte unter anderem das schon erwähnte Jahrbuch „Deutsches Bürgerbuch für 1845“.

7.1  Frühe Formen der Selbstorganisation „Wir Arbeiter müssen uns selbst helfen“

Um gegen konkrete soziale Missstände anzugehen, gründeten sich vor 1848 lokale Arbeitervereine, oft „Associationen“ genannt, und es entstanden auch lokale „Arbeiterbildungsvereine“, die, oft von bürgerlichen Liberalen unterstützt, unter anderem durch Lesezirkel und Rhetorikschulungen die im Bildungswesen benachteiligte Arbeiterschaft intellektuell zu unterstützen versuchten.291 Die Impulse zu solchen Gründungen gingen vielfach von Zusammenschlüssen deutscher Handwerker und Arbeiter im Ausland aus, wo wie in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien oder Großbritannien ein liberaleres Klima als in Deutschland herrschte. Um eine organisatorische Zusammenfassung der oft ohne systematische Kontakte untereinander arbeitenden Vereine bemühten sich der „Bund der Kommunisten“, der mit dem „Kommunistischen Manifest“ von 1848 als „Kommunistische Partei“ firmierte, aber auch die aus dem Handwerkermilieu hervorgegangene „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“, die im September 1848 in Berlin gegründet wurde und sehr bald zur größten deutschen Arbeiterorganisation wurde.292 „Wir Arbeiter müssen uns selbst helfen“ lautete eine zentrale Aussage ihres Gründungskongresses. In ihrem Namen griff sie wohl nicht zufällig „Brüderlichkeit“ aus der Begriffstrias der Französischen Revolution auf; die organisierten Arbeiter sprachen sich auch sonst gern als „Brüder“ an. So versuchten noch in der „Novemberrevolution“ von 1918 Arbeiter und meuternde Matrosen, sich vor Angriffen der Freundesseite mit Plakaten zu schützen, auf denen zu lesen war „Brüder, nicht schießen!“ Eigentlich war es schon früh mit dem hochidealistischen, vom Freimaurertum inspirierten „Alle 291 Vgl. dazu: Birker, Karl (1973): Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840–1870. Berlin. 292 Dazu

u.a.: Balser, Frolinde (1962): Sozial-Demokratie 1848/49–1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine Arbeiterverbrüderung“ nach der Revolution. Stuttgart.

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Menschen werden Brüder“ in Schillers „Ode an die Freude“ von 1786/1808 vorbei, zumal darin die realen sozialen und politischen Differenzen ziemlich unpolitisch als nur von „der Mode streng geteilt“ erschienen – was aber dem „Bruderkult“ in einzelnen sozialen Gruppen keineswegs Abbruch tat. Anfangs unterhielt die „Arbeiterverbrüderung“ engere Kontakte zum „Bund der Kommunisten“, und man kämpfte teilweise gemeinsam für die Sicherung der Errungenschaften der „Märzrevolution“. Doch wandte man sich schließlich gegen die weiterreichenden revolutionären Ambitionen der Kommunisten. Gemäß dem Schwerpunkt ihrer eigenen Absichten, den Arbeitern praktische, vor allem soziale Unterstützung zu bieten, verfolgte die „Arbeiterverbrüderung“ eine eher sozialreformerische Linie, wobei man sich selbst sehr häufig als „Social-Demokraten“ bezeichnete. Ab 1850 wurde die „Arbeiterverbrüderung“ zunächst in einzelnen Staaten, 1854 mit dem allgemein geltenden Verbot politischer Vereine durch den Deutschen Bund gänzlich verboten. Eine besondere Form des Zusammenschlusses waren die „Gewerkschaften“, die sich zunächst wie die traditionellen Zünfte innerhalb von Berufsgruppen, in bestimmten „Gewerken“, bildeten. Vorformen waren Vereine, die 1848/49 entstanden, und zwar zunächst von Zigarrenarbeitern und Buchdruckern, also noch stark an handwerklichen Arbeitsbedingungen orientiert. So wurde etwa der „Strike-Verein der Cigarren-Arbeiter zu Berlin“ gegründet, womit bereits im Vereinsnamen das wichtigste Instrument eines Arbeitskampfes benannt war: der „Streik“, ein Wort, das man aus der englischen Arbeiterbewegung, noch ohne grafische Anpassung von „strike“ ans Deutsche, übernommen hatte. Die deutsche Variante war „Arbeitseinstellung“. So lautete denn auch der Paragraph 1 der Vereinssatzung293: Zweck des Vereins ist, durch einheitliches und festes Zusammenhalten in Fällen der Arbeitseinstellung zu Berlin Unterstützung zu gewähren, bestehend in baarem Geld.

Zum Inbegriff des „Zusammenhaltens“ und der gegenseitigen Unterstützung wurde vor allem im Umkreis der Gewerkschaften der Begriff „Solidarität“. Streiks waren zunächst vor allem berufsständisch motiviert, der allgemeineren politischen Zielen dienende Streik entwickelte sich erst relativ spät; dabei blieben die Grenzen aber oft fließend. 293 Faksimile in: Bertelsmann Lesering (Hrsg) (1966): Deutschland. Das Land, in dem wir leben.

Gütersloh: 399.

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Ebenfalls 1848 wurde in Berlin die „Assoziation der Cigarrenarbeiter Deutschlands“, also ein überregionaler Verband, gegründet, der enge Kontakte mit der „Arbeiterverbrüderung“ pflegte. Zigarrenarbeiter waren auch 1865 wieder mit die Ersten, die nach Wiederzulassung von Vereinen als zentrale gewerkschaftliche Organisationen auftraten.

7.2  Das Kommunistische Manifest 1848 „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“

Zuvor aber hatte eine Flugschrift, die sich gegen die oft nur lockeren und ohne gemeinsames Programm agierenden Selbstorganisationen der Arbeiterschaft richtete, einen spektakulären Impuls ausgelöst, der weltgeschichtliche Bedeutung erlangen sollte: das „Manifest der Kommunistischen Partei“, das meist kurz als „Kommunistisches Manifest“ bezeichnet wird. Dieses Manifest veröffentlichten Karl Marx (1818–83) und Friedrich Engels (1820–95) – allerdings anonym – zunächst in London, verbreiteten es aber zeitgleich mit der Pariser Februarrevolution 1848 und kurz vor dem Ausbruch der deutschen Märzrevolutionen in verschiedenen Sprachen, so auch auf Deutsch. Sie hatten es zunächst 1847 als Grundsatzdokument für den „Bund der Kommunisten“ verfasst. Der „Bund der Kommunisten“ war ein anfangs in London, später nacheinander in Brüssel, Paris und Köln organisierter Geheimbund mit Ortsgruppen in West- und Nordeuropa, so auch in Deutschland, aber auch in den USA. 294 Die Frankfurter Nationalversammlung sah bereits 1848 Anlass, sich mit den kommunistischen Vereinen auseinanderzusetzen.295 Der „Bund der Kommunisten“ war 1847 aus dem „Bund der Gerechten“ (gegr. 1836) hervorgegangen. Dessen Vorläufer wiederum war der 1834 ins Leben gerufene, ebenfalls geheime „Bund der Geächteten“. Schon in diesen Vorstufen war eine sozial-revolutionäre und „proletarische“ Programmatik in den Vordergrund gerückt, die nun im „Kommu294 Die Gesamtmitgliederzahl dürfte allerdings 500 kaum überschritten haben. Bereits im Novem-

ber 1852 löste sich der Bund, dessen Mitglieder unter ständigem Verfolgungsdruck standen, auf Antrag von Karl Marx wieder auf. 295 Wigard (1848) Bd. III: 1720. In der entsprechenden Debatte werden zwar die Kommunisten nicht ausdrücklich genannt, dass sie aber gemeint waren, geht aus Wigards Sachregister zu den stenografischen Berichten hervor; Wigard war selbst Abgeordneter.

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nistischen Manifest“ theoretisch untermauert und als ein geschlossenes System präsentiert wurde. Karl Marx hatte sich mit Saint-Simons Sozialismus kritisch-ablehnend auseinandergesetzt, von ihm aber den bis in die jüngste Zeit von Kommunisten verfochtenen Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit einer Gesellschafts- und Geschichtsanalyse übernommen, die zugleich auch die Perspektiven für den künftigen politischen Kampf enthielt. In einem zentralen Punkt, der Einstellung zum Privateigentum, unterschied sich Marx von Saint-Simon auf jeden Fall fundamental: Saint-Simon war für die Erhaltung des Privateigentums, Marx für dessen Abschaffung. Die Anspielung auf das Geheimbündlerische im vielzitierten Eingangssatz „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ wird eigentlich schon im Titel des Manifests aufgelöst, in dem sich die Kommunisten als „Partei“ vorstellen. Und auch im Text selbst wird deutlich gemacht, dass man sich nicht wie ein geheimnisvolles Wesen verhalten wolle. Dazu heißt es am Ende ausdrücklich: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen.“ In zwei ihrer Ansichten und Absichten distanziert sich das Manifest mit großer Entschiedenheit von Grundsätzen und Zielen der zeitgenössischen bürgerlichen Revolution in Deutschland. Auch dabei ging es zum einen um die Bewahrung des privaten Eigentums, zum anderen um die Erringung eines Nationalstaats. Zu diesen Themen erklären Marx und Engels: Die Kommunisten könnten „ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des PrivatEigenthums zusammenfassen“; denn es beruhe auf der „Ausbeutung der Einen durch die Andern“. Die kommunistische Revolution werde also das „radikalste Brechen mit den überlieferten Eigenthums-Verhältnissen“ mit sich bringen. Zum anderen stellen sie fest: Den Kommunisten sei vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die „Nationalität“ abschaffen. Die Arbeiter aber hätten ja gar kein Vaterland. „Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Bereits in der Bourgeoisie verlören die „nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker“ ohnehin an Bedeutung. „Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegen einander.“ Die angestrebte Herrschaft des Proletariats werde sie noch mehr verschwinden lassen; denn der Kampf des Proletariats müsse in jedem Fall international geführt werden. Zur millionenfach wiederholten Parole der Kommunisten wurde denn auch der Aufruf am Ende des Manifests: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Die Verfasser gehen in ihrer Absage an traditionelle Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Ordnung aber noch einen Schritt weiter. Wenn das Proletariat sich zur herrschenden Klasse gemacht habe, werde „an die Stelle der alten bür-

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gerlichen Gesellschaft [...] eine Association“ treten, „worin die freie Entwicklung eines Jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist“. Zuletzt hebe das Proletariat seine eigene Herrschaft als Klasse auf. Beide Projektionen können, erst recht aus dem Rückblick auf die tatsächlichen Entwicklungen der kommunistischen Bewegung, nur als im höchsten Maße utopisch oder – wie das Manifest konkurrierende sozialistische Programme beurteilt – als „utopistisch“ bezeichnet werden. Das Ziel der Aufhebung der proletarischen Herrschaft, auch als Verschwinden des Staates überhaupt gedeutet, unterlag schließlich in allen kommunistischen Regimen einer immer rigideren bürokratischen Ordnung, und damit blieb auch die „freie Entwicklung eines Jeden“ auf der Strecke. Im zweiten Teil des Manifests betonen die beiden Verfasser, dass die theoretischen Sätze der Kommunisten nicht auf irgendwelchen Ideen oder Prinzipien beruhten; sie seien „nur allgemeine Ausdrücke thatsächlicher Verhältnisse eines existirenden Klassenkampfes, einer „unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“ Aber die angeblich nur empirisch erfasste „geschichtliche Bewegung“ ist in ihrer spezifischen Ausprägung, wie Marx und Engels sie darstellen, ganz wesentlich auch das Produkt ihrer theoretischen Vorannahmen, also in hohem Maße vom einmal gewählten Sprachgebrauch abhängig. Da wirkt überdies immer noch Hegels Geschichtsphilosophie vom konsequenten und vernünftigen Gang der Weltgeschichte deutlich nach, auch wenn sich Marx grundsätzlich gegen seinen Lehrer Hegel gestellt hat. Die zumindest theoretisch stringente Analyse der Geschichtsverläufe unterstellt eine permanente Abfolge von Kämpfen ursprünglich unterlegener gegen die jeweils herrschenden „Klassen“: vom Kampf der Sklaven gegen die Freien bis hin zum Kampf des Bürgertums, der „Bourgeoisie“, gegen den Adel. Die Kernthese hierzu lautet: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Der Begriff „Klasse“ erweist sich in der Argumentation des Manifests wie in allen weiteren kommunistischen Reflexionen als Bezeichnung eines absoluten Apriori für alle Urteile über historische Zustände und Entwicklungen, dem sich die jeweilige gesellschaftliche Gruppe in ihrem Bewusstsein aber erst einmal anpassen muss, um diesem Apriori entsprechen zu können. Diese Argumentation geht natürlich weit über die Behauptung des Manifests hinaus, dass die kommunistische Theorie nicht auf irgendwelchen Ideen oder Prinzipien beruhe! Während für frühere Geschichtsepochen auf Seiten der Klassengegner eine Differenzierung, „eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannichfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen“, angenommen wird, heißt es zur zeitgenössischen Situation ziemlich simplifizierend:

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Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeosie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat.

Damit werden die Kontrahenten in den zeitgenössischen (wie auch in allen künftigen) politischen Auseinandersetzungen auf zwei homogene, aber höchst abstrakte Kollektive reduziert, deren Mitglieder sich notwendigerweise nur noch parteiisch und damit kompromisslos verhalten dürfen.296 Das schließt nicht aus, dass man, solange es noch einen gemeinsamen Gegner gibt, zunächst mit anderen Kräften zusammenarbeitet. In Deutschland – so das Manifest – kämpfe die kommunistische Partei zunächst gemeinsam mit der revolutionären Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie. Sie unterlässt aber keinen Augenblick bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten [...], damit nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt.

Dieser Taktik werden die Kommunisten bei jedem ihrer Versuche, die Macht zu erringen, immer wieder folgen, in Deutschland zuletzt in der sogenannten Bündnispolitik der SED unter Einbeziehung der DDR-„Massengesellschaften“, der „bürgerlichen“ Parteien und der „werktätigen Intelligenz“. Bei aller notwendigen Kritik, dass die Deutung politischer und sozialer Kämpfe durch die Begriffe „Klasse“ und „Klassenkampf “ unvermeidlich auf eine fragwürdige Simplifizierung hinauslief, muss gesehen werden, dass auch die traditionellen Bezeichnungen von Adel, Klerus und Bürgertum als „Stände“ kollektivierender Natur waren, aber mit fundamentalen rechtlichen Folgen, insbesondere für die Teilhabe am politischen Leben. Dabei differenzierte sich das Bürgertum gerade im 18./19. Jahrhundert außerordentlich. Das Spektrum dessen, was als „Bürger“ galt, reichte zuletzt vom kleinen selbständigen Handwerker bis zum Großindustriellen. Bevor von „Arbeiterklasse“ die Rede war, gab es in diesem Drei-Stände-System für die untersten, zahlenmäßig aber die übrigen „Stände“ weit überflügelnden 296 Insbesondere Wehler (Bd. 3, 1995): 141 f. hat auf der Basis genauer sozialhistorischer Analysen

den Versuch zurückgewiesen, das frühe Industrieproletariat als eine einheitliche soziale Klasse zu definieren.

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Schichten keinen Platz. Mit der Anfang des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Bezeichnung „Vierter Stand“ war bestenfalls eine rein verbale, aber keinerlei ernsthafte politische oder soziale Anerkennung ihrer spezifischen Situation verbunden. Marx und Engels sahen die Bourgeoisie freilich nicht erst durch das Aufbegehren der „Arbeiterklasse“, sondern auch von innen bedroht, und zwar dadurch, dass sie über die Form ihres Wirtschaftens, mit der sie „den Feudalismus zu Boden geschlagen hat“, mehr und mehr die Kontrolle verliere. Und das Manifest fragt: Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte, und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet ...

Bereits diese äußerst knappen Auszüge verweisen auf das wirtschaftstheoretische wie -historische Fundament, auf dem die beiden Verfasser, insbesondere Karl Marx mit seinen großen Werken, etwa „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) und nicht zuletzt mit „Das Kapital“ (1867–94), die kommunistische Theorie noch weiter ausbauen werden. Als hellsichtig und sachlich zutreffend müssen das Theorem der „entfremdeten Arbeit“ und die Vorhersage künftiger Krisen gewertet werden. Mit dem Terminus „entfremdete Arbeit“ fasste Marx die Folgen der Arbeitsteilung und Mechanisierung für das Verhältnis der Arbeiter zu ihrem Tun, das keinerlei individuelle Selbstbestimmung mehr zuließ, weil der Mensch nur noch als „Zubehör der Maschine“ galt. Als besonders schmerzlich mussten dies die vielen Fabrikarbeiter empfinden, die aus dem handwerklichen Milieu stammten. Als deutliche Anzeichen wachsender Krisen nennt das „Manifest“ unter anderem die Ausdehnung der Märkte bis in fernste Weltgegenden, aber auch die „Exploitation“, d.h. die Ausbeutung des Weltmarktes – inzwischen als wesentliche Faktoren der sogenannten Globalisierung definiert. Gleichwohl sehen die beiden Verfasser in diesen Entwicklungen mächtige Triebkräfte für das Wachsen der „Arbeiterklasse“ alias des „Proletariats“. Noch im Jahr 1848 fand die Vorstellung, dass das „Proletariat“ unaufhaltsam immer stärker werde, auch eine gleichsam poetische Unterstützung im Gedicht des Schneiders Johann Christian Lüchow297, der als Mitglied des „Bundes der Kommunisten“ bei der Organisation von Arbeiterzusammenschlüssen tätig war. Darin heißt es in Strophe 1 und 2: 297 Text

u.a. in: http://ammermann.de/19.jahrhundert/johann_christian_luechow.htm, letzter Zugriff: 3.7.2015.

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Es quillt und keimt von unten auf, Wie frisch gesäte Saat; Es wächst wohl aus der Erd heraus; Das Proletariat! Es ist erwacht der vierte Stand, Der nützlichste im Staat; Denn wer ernährt das ganze Land? Das Proletariat!

Die Schlussstrophe lautet: Was nützt noch hohler Phrasen Schwall, Frischauf zur ernsten Tat! Es regt und reckt sich überall, Das Proletariat!

Die Faszination, die von dem scheinbar zwingenden politischen Entwurf des „Kommunistischen Manifests“ ausging, in dem der schon seit der Französischen Revolution von 1789 vernachlässigten Situation der besitzlosen Schichten des Volkes, insbesondere der Fabrikarbeiter, nicht nur Aufmerksamkeit geschenkt, sondern vor allem eine politische Perspektive geboten wurde, strahlte bis ins 20. Jahrhundert auf mehr oder weniger alle sozialistischen Bestrebungen und entsprechende Zusammenschlüsse aus. Insofern kann man 1848 neben der Bildung der Frankfurter Nationalversammlung die Verbreitung des „Kommunistischen Manifests“ als Kennzeichen eines Epochenjahres werten. Wie auch immer man zu den Inhalten des Manifests steht: es ist in doppelter Weise ein Beleg für die Macht der Sprache vor aller Realität. Mit der begrifflichen Reduzierung der faktischen sozialen Differenziertheit der unteren Bevölkerungsschichten auf eine einzige „Klasse“ und deren weitere semantische Einengung auf die „Arbeiterklasse“ bzw. das „Proletariat“ wurde sogar ein Zirkelschluss produziert, der sich letztlich einer Verwechslung von Soll- und Istzustand verdankt – zugleich ein Beleg dafür, wie ein sprachliches Symbol, hier die „Klasse“, gleichermaßen der Gegenwartsbeschreibung wie einer Zukunftsvision dienen sollte. Immerhin verlieh diese Ambiguität dem Text seine unbezweifelbare Kraft, denn in ihm fanden sich erstmalig Perspektiven für die politische Praxis.

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7.3  Lassalle und der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein 1863 „Idee des Arbeiterstandes“

Die erste Gründung einer Arbeiterpartei auf deutschem Boden erfolgte am 23. Mai 1863 in Leipzig als „Allgemeiner Deutscher Arbeiter-Verein“ (ADAV). Aus ihm ging über weitere Organisationsstufen die SPD hervor. Die entscheidende Anregung kam von dem Juristen Ferdinand Lassalle (1825–64)298, der sich – obwohl dem Bildungsbürgertum entstammend – sehr früh der Lösung der Arbeiterfrage verpflichtet fühlte, 1848/49 auch als Mitkämpfer von Marx und Engels. In Leipzig wurde er zum ersten Vorsitzenden des ADAV gewählt. Für eine aktive Rolle bei der Gründung des ADAV hatte er sich vor allem durch zwei programmatische Reden empfohlen, die auch im Druck erschienen. Die erste hatte er im April 1862 vor einem Berliner „Handwerkerverein“299 gehalten. Noch im selben Jahr wurde sie in Berlin gedruckt und 1863 noch einmal in Zürich unter dem Titel „Arbeiterprogramm über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“.300 Bereits diese Rede, so besonnen sie heute erscheinen mag, trug ihm eine Haftstrafe ein. 1864 musste er sich sogar in einem Hochverratsprozess wegen angeblicher Umsturzabsichten, die er in einer Ansprache „An die Arbeiter von Berlin“ geäußert haben soll, verantworten. Entgegen möglichen Erwartungen, in einem „Arbeiterprogramm“ werde eine konkrete Agenda für die politischen Auseinandersetzungen entworfen, konzentriert sich der idealistische Hegelianer Lassalle auf die Herleitung einer „Idee des Arbeiterstandes“, in der der Vierte Stand „gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht“ sei, weil darin „kein Keim einer neuen Bevorrechtigung mehr enthalten ist“.301 Die historische Betrachtung, wie es zur gegenwärtigen Geschichtsperiode gekommen sei, hat durchaus Ähnlichkeit mit der marxistischen Geschichtsdeutung, und auch das Ziel der historischen Entwicklung ist nicht völlig vom Marx’schen Ideal der klassenlosen Gesellschaft unterschieden. 298 U.a. Fetscher, Iring (1982): Lassalle, Ferdinand. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 13. Berlin:

661–669. 299 Tatsächlich handelte es sich um einen Arbeiterverein, dessen Namensgebung noch die vorindus-

triellen Anfänge der Selbstorganisation widerspiegelt. 300 Erscheinungsort: Zürich. (digital. in: Bayer. Staatsbibliothek). 301 Ebda.: 35.

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Doch soll dieses Ziel nicht durch Unterdrückung anderer Klassen erreicht werden, sondern durch Herstellung sozialer und politischer Gleichheit aller. Darum findet sich bei Lassalle auch nirgendwo eine Spur von „Klassenkampf “, im Gegenteil: Wer also die Idee des Arbeiterstandes als das herrschende Prinzip der Gesellschaft anruft, [...] der stößt nicht einen die Klassen der Gesellschaft spaltenden und trennenden Schrei aus; der stößt vielmehr einen Schrei der Versöhnung aus, einen Schrei, der die ganze Gesellschaft umfasst, einen Schrei der Ausgleichung für alle Gegensätze in den gesellschaftlichen Kreisen, einen Schrei der Einigung, [...] einen Schrei der Liebe ...302

Weiter konnte man von all jenen, die Kampf, ja sogar Hass predigten, kaum entfernt sein! Und er kritisiert auch die Vordergründigkeit, mit der Revolutionen in Gang gesetzt werden sollen: Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben. Eine Revolution machen wollen, ist eine Torheit unreifer Menschen, die von den Gesetzen der Geschichte keine Ahnung haben.303

Es ist auch nicht Zufall, dass Lassalle in dieser Rede das Wort „Arbeiterklasse“ meidet und stattdessen von „Arbeiterstand“ spricht – ein Begriff, den er aber gegen jedes traditionell „ständische“ Verständnis abgrenzt. Auch in anderen Texten, in denen er das Wort „Klasse/Classe“ benutzt, fehlt die marxistische Einengung des Begriffs. Von seinen idealistischen Voraussetzungen aus gesehen wird auch verständlich, dass er eine friedliche sozialistische Durchdringung des Staates für möglich hielt. Dazu führte er im „Arbeiterprogramm“ unter anderem aus: Ein Staat also, welcher unter die Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gesetzt wird, würde [...] mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein diese sittliche Natur des Staates zu seiner Aufgabe machen. Er würde mit freier Lust und vollkommener Konsequenz vollbringen, was bisher nur stückweise in den dürftigsten Umrissen dem widerstrebenden Willen abgerungen worden ist ...304 302 Ebda.: 36 (Kursive = Sperrungen i. Orig.). 303 Ebda.: 20 (Kursive = Sperrung i. Orig.). 304 Ebda.: 44.

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Immerhin nennt Lassalle in seiner Berliner Rede ein, um nicht zu sagen: das Mittel, mit dem seine Idee vom Arbeiterstand verwirklicht werden könne: das allgemeine gleiche und direkte305 Wahlrecht. Obwohl er Konflikte mit dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck nicht scheute, versuchte er, in vielen persönlichen Kontakten mit ihm für die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts zu werben. Erst nach seinem frühen Tod306 hatten seine Bemühungen Erfolg. Die zweite programmatische Rede hielt Lassalle am 17. Mai 1863 mit einer Fortsetzung am 19. Mai in Frankfurt am Main, also unmittelbar vor der Leipziger Gründung des ADAV. Auch sie wurde publiziert, unter dem Titel „Arbeiterlesebuch“307, weil sie der Arbeiterschaft eine Fülle von Argumenten und Informationen, nicht zuletzt statistischer Art, bieten wollte, mit denen sie ihre Interessen besser vertreten können sollte. Unter anderem machte Lassalle – zunächst mit gesicherten Daten aus England, die sich aber durchaus auch auf deutsche Verhältnisse übertragen ließen – auf horrende Unterschiede in der Lebenserwartung von Besitzenden und Arbeitern als Folge höchst unterschiedlicher Lebensverhältnisse aufmerksam. Aus seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit Kritikern seiner theoretischen Erklärung des sozialen Missverhältnisses zwischen dem Besitzbürgertum, der „Bourgeoisie“, und dem Vierten Stand leitete er konkret die Forderung ab, die Besitzlosen sollten durch den Staat materiell in die Lage versetzt werden, dieselben sozialen Chancen zu haben wie das Bürgertum. Konkret schlägt er einen „Creditverband“ der Arbeitervereine vor und sieht auch in einer „Bank von Deutschland“ ein Instrument für den sozialen Ausgleich. Damit stieß er aber auch auf den Widerstand von Sozialreformern wie dem linksliberalen Wilhelm Schulze-Delitzsch (1808–83), der die Lage vor allem von Handwerkern angesichts zunehmender Industrialisierung vornehmlich durch die Bildung von Genossenschaften zu verbessern suchte.308 Aber Lassalles Position hatte, obwohl sie weit über das Instrument Genossenschaft hinausging, absolut nichts mit Klassenkampf zu tun. Im Gegenteil: Er 305 „Direkte Wahl“ richtete sich gegen das „indirekte“ Verfahren, bei dem die sogenannten Urwähler

erst die letztlich entscheidenden „Wahlmänner“ wählen konnten. 306 Gestorben bei einem Duell. 307 Arbeiterlesebuch. Rede Lassalle’s zu Frankfurt a. M. am 17. und 19. Mai 1863, nach dem steno-

graphischen Bericht. Frankfurt am Main 1863. (digital. in: http://archiv.org/details/bub_ V-5BAAAA.AAJ, letzter Zugriff: 3.7.2015). 308 Die Alternative genossenschaftlicher Selbsthilfe wurde zeitgleich auch von dem Rheinländer Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–88) vertreten und praktiziert.

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wirbt sogar um Verständnis für die Bourgeoisie und erteilt Hass auch in der Frankfurter Rede eine deutliche Absage: Sie dürfen die Besitzenden nicht hassen, weder die Bourgeoise im Allgemeinen noch die Unternehmer und Meister im Besonderen. Unsere Bourgeoisie hat die bestehenden Zustände nicht gemacht; sie ist nicht der Producent dieser Zustände, sondern nur ihr unwillkürliches Product.309

Während Lassalle mit bewegten Worten an seine Zuhörer, Delegierte des Maingauer Arbeiterkongresses, appelliert, gegen die „Atomisierung“ der Arbeiterschaft eine solidarische Einheit herzustellen, sieht er zugleich sehr wohl Möglichkeiten einer Einigung aller Klassen: Es ist eine allgemeine demokratische Volksbewegung und keine bloße Classenbewegung, zu der ich rufe; [...] kein wahrhaftig demokratisches Herz wird davor zurückbeben, daß die vereinigte Intelligenz der Gesellschaft durch staatliche Maaßregeln den nothleidenden Klassen helfen soll. Es ist im Gegentheil zuletzt Vortheil aller Classen.310

Die in den beiden Reden geäußerten Grundgedanken finden sich auch in einem „Offenen Antwortschreiben“ Lassalles auf eine Anfrage des Zentralkomitees zur Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses im Februar 1863, das von der Gründungsversammlung des ADAV im Mai 1863 beraten und faktisch zum Programm erhoben wurde.311 Wirtschaftstheoretische Grundlage von Lassalles Ausführungen ist das von ihm in entsprechenden Vorarbeiten entwickelte, aber auch angefeindete „eherne Lohngesetz“: Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den nothwendigen Lebensunterhalt reducirt bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist.312

309 Wie Anm. 307: 56. 310 Ebda.: 67. Kursive = Sperrung i. Orig., ebenso die varianten Schreibungen „Klasse/Classe“. 311 Osterroth, Franz/Schuster, Dieter (1975): Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Bd. 1. Ber-

lin/Bonn: 22 f. 312 Arbeiterlesebuch (wie Anm. 307): 5.

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Aus diesem Gesetz ergab sich die Forderung, dass das Existenzminimum durch einen gesetzlich geregelten fixen Geldwert für die jeweilige Arbeitsleistung gesichert werden müsse. Auch im „Antwortschreiben“ sprach Lassalle den „Arbeiterstand“ an, der sich als Partei formieren müsse. Ziel müssten eine grundlegende Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter sein und die Herstellung politischer und sozialer Gleichrangigkeit mit dem Bürgerstand. Sie wäre zu erreichen, wenn die Arbeiterschaft politische Mitbestimmungsmöglichkeiten durch ein allgemeines gleiches und direktes Wahlrecht und materielle Unterstützung seitens des Staates erhielte, konkret die Bereitstellung von Kapital für eigene industrielle Unternehmen. Revolutionären Ambitionen, aber auch der Bildung von Gewerkschaften und Streiks als Kampfmittel erteilte Lassalle eine Absage. Anstelle von Gewerkschaften forderte er die Gründung von „Produktivgenossenschaften“, d.h. von Unternehmen in Arbeiterhand. Entsprechend legte der ADAV in seinem „Statut“313, Paragraph 1, seine grundsätzliche Linie folgendermaßen fest: ... daß nur durch das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des Deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann.

Zugleich erklärt der ADAV ausdrücklich, dass er für die Einführung eines gerechten Wahlsystems „auf friedlichem und legalem Wege“ wirken wolle. Diese reformorientierte Linie blieb freilich auch im ADAV nicht unumstritten. Schon das zum „Bundeslied“ des ADAV erhobene Gedicht, das Georg Weerth eigens zum Gründungskongress von 1863 verfasst hatte314, sprach eine deutlich schärfere Sprache. Geradezu sprichwörtlich wurden vier Verse der zehnten Strophe: Mann der Arbeit, aufgewacht Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will. 313 Statut des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins (Faksimile in: https://www.in-die-zukunft-

gedacht.de/de/page/6, letzter Zugriff: 8.4.2016). Otten, Karl (Hrsg.) (1981): Georg Herwegh. Was macht Deutschland? Gedichte. Königstein/Ts.: 53–55.

314 Quelle:

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In der dritten Strophe wird außer den Bergleuten auch noch des ausgebeuteten Webers gedacht. Und in der elften Strophe wird der geknechtete Landarbeiter einbezogen: Deiner Dränger Schar erblaßt, Wenn du, müde von der Last, in die Ecke lehnst den Pflug, Wenn du rufst: Es ist genug!

Ein anderer Text, 1864 von dem Hamburger Jacob Audorf (1834–98) für den ADAV auf die Melodie der „Marseillaise“ gedichtet, wurde bis zum Ende des Jahrhunderts als „Lied der deutschen Arbeiter“, auch „Arbeiter-Marseillaise“ genannt, zum meistgesungenen Arbeiterlied: „Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet“.315 Zwar ist darin mit einem mehrfachen „Marsch, marsch“-Befehl von „Kampf “, von „Phalanx“ und „der Feinde Schar“ die Rede, doch mischen sich in die kämpferischen Töne etliche poetische Formulierungen, die von Schiller’schem Pathos angeregt erscheinen, etwa „Wenn auch die Lüg’ uns noch umnachtet, / Bald steigt der Morgen hell herauf “, „Frisch auf, beginnen wir den Reigen, / Ist auch der Boden rauh und hart“ oder „Je höher uns umrauscht die Flut, / Je mehr mit der Begeist’rung Glut“. Auch durfte die „Heiligsprechung“ der politischen Ziele nicht fehlen, der man seit dem Anbruch der Freiheitsbewegung immer wieder begegnen konnte, hier in „heil’ger Kampf “ und „heil’ges Vermächtnis“. Der Kampf aber geht, wie der Refrain stets endet, um „Freiheit, Recht und Brot“. Die originale Wertetrias der Französischen Revolution, die von den Bürgerlich-Liberalen verdrängte Parole der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“, fand sich dann freilich auf der in rotem Tuch gehaltenen sogenannten Lassalle-Fahne, die allerdings erst nach Lassalles Tod auf dem zehnjährigen Stiftungsfest des ADAV 1873 präsentiert wurde, ergänzt durch die Parole „Einigkeit macht stark“, die zunächst noch die interne Solidarität beschwor, dazwischen als Bildsymbol zwei ineinander verschlungene Hände. Nach Lassalles frühem Tod versuchte seine Gesinnungsgenossin und Lebensgefährtin, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt (1805–81), seine Ideen zu bewahren, auch gegen Widerstände im ADAV selbst. Deswegen gründete sie 1867 eine

315 Audorf, Jakob (1893): Gedichte. Stuttgart: 109–111. Daneben gibt es eine Reihe sehr viel kämp-

ferischerer Versionen. Auch der Refrain wurde schon früh umgedichtet.

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eigene Organisation, den „Lassalle’schen Allgemeinen Arbeiter-Verein“, der aber schon zwei Jahre später wieder in den ADAV eingegliedert wurde.

7.4  Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Eisenach 1869 „ein Zweig der internationalen Arbeiterassoziation“

Lassalles Reformhoffnungen und seine Sympathien für einen kleindeutschen Staat unter preußischer Führung stießen in den eigenen Reihen auf Widerstand. Insbesondere Wilhelm Liebknecht (1826–1900)316 opponierte heftig. Auf seine Initiative hin, von August Bebel (1840–1913), einem Drechslermeister, unterstützt, wurde am 8. August 1869 in Eisenach in bewusster Abgrenzung zum ADAV die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP) gegründet. Liebknecht wurde bereits 1865 wegen seiner Opposition gegen den gemäßigten Kurs des ADAV und im persönlichen Konflikt mit Lassalles Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer aus dem ADAV ausgeschlossen. Seine linksradikale Haltung hatte er schon 1848/49 mit seiner aktiven Beteiligung an der Revolution in Baden, unter anderem als Adjutant Gustav Struves, unter Beweis gestellt. Nach dem Scheitern dieser Revolution musste er in die Schweiz fliehen. Über Paris ging er schließlich nach London, kam dort in Kontakt mit Karl Marx; Friedrich Engels hatte er schon in der Schweiz kennen gelernt. In London trat er dem „Bund der Kommunisten“ bei. Auf Grund einer Amnestie anlässlich der Thronbesteigung des Preußenkönigs Wilhelm I. 1861 konnte er nach Deutschland zurückkehren, wurde aber nach seinem Ausschluss aus dem ADAV wieder aus Preußen vertrieben und ging ins Königreich Sachsen. Dort begann seine Freundschaft mit Bebel, mit dem zusammen er 1866 maßgeblich an der Gründung der „Sächsischen Volkspartei“ beteiligt war. Aber schon in einem früheren Zusammenschluss, dem „Vereinstag Deutscher Arbeitervereine“, der zeitgleich mit den ADAV, am 7./8. Juni 1863, in Frankfurt am Main gegründet worden war, spielten nach dessen eher liberalen Anfängen Bebel und Liebknecht eine aktive Rolle. Bebel wurde etwa Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss.317 316 Liebknecht war als Handwerker ausgebildet, hatte aber auch verschiedene wissenschaftliche Dis-

ziplinen studiert, war Burschenschafter, Lehrer und Journalist. Einer seiner drei Söhne war Karl Liebknecht, der 1919 zusammen mit Rosa Luxemburg ermordet wurde. 317 Dazu u.a.: Osterroth, Franz/Schuster, Dieter (1975): Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Bd. 1. Berlin/Bonn.

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Im „Vereinstag“ wie in der „Sächsischen Volkspartei“ gewannen linksliberale und radikaldemokratische Kräfte mehr und mehr die Oberhand. Sie traten gegen kleindeutsche Ambitionen für ein einheitliches Deutschland als demokratischen Staat mit einem Höchstmaß an parlamentarischer Kontrolle ohne eine erbliche Zentralmacht ein – Forderungen, die schon der linke Flügel der Paulskirche erhoben hatte, aber gegen die gemäßigt-liberale und konservative Mehrheit nicht hatte durchsetzen können. „Befreiung der Arbeit und der Arbeiter von jeglichem Druck und jeglicher Fessel“ war eine weitere zentrale Forderung318, die 1869 auch von der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (SDAP) übernommen wurde. In dieser neuen Partei ging dann die sächsische Partei ebenso auf wie der „Vereinstag Deutscher Arbeitervereine“. Die SDAP wurde damit zur mächtigsten Gegengründung zum ADAV. Gleichwohl verzichtete man auch hier auf explizite revolutionäre Ambitionen, obwohl man sich an marxistischen Positionen orientierte. Man übernahm vom ADAV in Punkt III.10 des Parteiprogramms319 sogar das Ziel einer „staatlichen Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredite für freie Produktivgenossenschaften“, wie sie schon Lassalle gefordert hatte. An der Spitze der programmatischen Forderungen aber stand die „Errichtung eines freien Volksstaats“, wobei man sich faktisch, anders als Lassalle, gegen die von Preußen dominierte kleindeutsche Lösung wandte, die mit dem Sieg über Österreich 1866 und der darauf folgenden Gründung des Norddeutschen Bundes 1866/67 kaum noch zu verhindern war. „Der Volksstaat“ war auch der Titel der Parteizeitung, die von 1869–76 und 1879 erschien; Hauptbeiträger war neben Liebknecht auch Karl Marx. Allerdings ist im Eisenacher Programm nur einmal das Wort „Arbeiterklasse“ zu finden (II.5), sonst ist stets von „arbeitenden Klassen“ die Rede. Es fehlt also eine durchgängige Orientierung am von Marx eingeengten Klassenbegriff, ebenso das marxistische Ziel einer Herrschaft des Proletariats. So hieß es etwa in Punkt II.2: Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.

318 Bebel, August (1988): Aus meinem Leben. Berlin: 127 f. 319 Eisenacher

Programm u.a. in: www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1869/­ eisenach.htm, letzter Zugriff: 5.7.2015).

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Die nur partielle Orientierung am Marxismus sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass es in der Arbeiterschaft sehr wohl eine revolutionäre Grundstimmung gab, die sich teilweise sogar noch aus den Erinnerungen an die Revolutionsjahre 1848/49 speiste und durch die Unterdrückungsmaßnahmen des Deutschen Bundes eher noch gefördert worden war.320 Natürlich forderte man im Eisenacher Programm auch die generelle „Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und Konfession“ (III.3) – eine Forderung, die im 19. Jahrhundert gleichsam zum Standard der oppositionellen Positionen gegen die Feudalherrschaft, die Macht der Kirche und des Besitzbürgertums zählte. Darüber hinaus ging es den „Eisenachern“ auch um die „Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche“ (III.5) – eine Forderung, die schon von anderen Demokraten erhoben worden war, die sich aber nicht hatte durchsetzen lassen, weil es vor allem den Liberalen, etwa in der Paulskirche, zunächst darum ging, die Religionsfreiheit gegen staatliche Bevormundung zu schützen. Auch die Forderungen nach einem „allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht“ (III.1), nach „Unabhängigkeit der Gerichte“ (III.7) und nach „Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze“ (III.9) waren nicht neu, ebenso die nach „Errichtung der Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres“. Vergeblich war Bebel in Eisenach auch für ein Wahlrecht von Frauen eingetreten; sein Plädoyer blieb freilich trotz mehrfacher weiterer Versuche bis 1918 ohne konkrete politische Konsequenzen. Zur „Wehrfrage“ hatte Liebknecht 1868 noch im „Vereinstag Deutscher Arbeitervereine“, also ein Jahr vor Eisenach, bereits öffentlich Stellung genommen, wobei er unter anderem ausführte: Die Wehrfrage [...] ist wesentlich eine Machtfrage. Die Übel der stehenden Heere sind allseitig anerkannt, selbst von denen, welche aus Sonderinteressen daran festhalten, weil ihre Herrschaft auf den stehenden Heeren beruht. [...] Das System der stehenden Heere ist absolutistisch, dynastisch, das der allgemeinen Volksbewaffnung, wie sie in der Schweiz besteht, ist demokratisch.321

Außer der grundsätzlichen Feststellung, dass die politische Freiheit „die unentbehrliche Vorbedingung“ für die Lösung der sozialen Frage, die ökonomische Befreiung der arbeitenden Klassen, sei (II.4), enthält das Eisenacher Programm 320 Dazu:

Welskopp, Thomas (2002): Die „Generation Ebert“. In: Schönhoven/Braun, Bernd (Hrsg.): Die Generationen in der Arbeiterbewegung. München: 51–68 (insbes. 60 f.). 321 Liebknecht, Wilhelm (1986): Gegen Militarismus und Eroberungskrieg. Berlin: 25.

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so konkrete Forderungen wie die „Einführung des Normalarbeitstages“322 sowie „Einschränkung der Frauenarbeit und Verbot der Kinderarbeit“, also Bestimmungen gegen jene alltäglich erfahrenen Nöte der arbeitenden Bevölkerung. In einem Punkt folgte man indes sehr deutlich einer wesentlichen marxistischen Maxime, nämlich der vom notwendigen Internationalismus der Arbeiterbewegung: In Erwägung, dass die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch eine nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei [...] als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend. (II.6)

Im Zitat ausgeklammert ist freilich ein aufschlussreicher Bedingungssatz: „soweit es die Vereinsgesetze gestatten“, womit man letztlich bekundete, dass der Kampf für die „Befreiung der arbeitenden Klassen“ geltende Gesetze nicht vollends missachten sollte. Tatsächlich aber entspricht dieser Programmpunkt teilweise wörtlich einem der „Provisorischen Statuten“, die Karl Marx für die „Internationale ArbeiterAssoziation“ (IAA) entworfen hatte. Statt „Befreiung der Arbeit“ ist darin von „Emanzipation der Arbeiterklasse“ die Rede.323 Die IAA war 1864 in London als internationaler Zusammenschluss der Arbeitervereinigungen und zur „Vereinigung der zerstreuten Arbeitergesellschaften“ gegründet worden, in der sich aber keineswegs programmatisch einheitliche Gruppierungen zusammengefunden hatten und die überdies unter wachsenden Differenzen zwischen den führenden Köpfen Marx und dem russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814–76) litt. Dieser opponierte gegen die zentralistischen Vorstellungen von Marx, wurde schließlich, 1872, ausgeschlossen, und unter diesen Differenzen zerbrach 1876 die „Erste Internationale“, wie die IAA später genannt wurde.324 Immerhin hinterließ sie eine während der „Pariser Kommune“ 1871 entstandene Hymne, die von Sozialisten und Kommunisten immer wieder gesungen wurde: „Wacht auf, 322 Mit dem Kampf um einen „Normalarbeitstag“ gegen kapitalistische Überforderungen der Arbei-

ter hatte sich 1867 Karl Marx in „Das Kapital“ Bd. 1, Kap. 5, ausführlich beschäftigt. Konkret zielten die Forderungen der Sozialisten auf einen Achtstundentag. Zum Schlagwort wurde schließlich die „englische Woche“, womit die englische Regelung einer fünfeinhalb Tage umfassenden Woche mit dem Lohn für sechs Tage gemeint war. 323 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1962): Werke. Bd. 16. Berlin: 14–16. 324 Dazu u.a.: Braunthal, Julius (1978): Geschichte der Internationale. Berlin/Bonn.

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Verdammte dieser Erde“ mit dem allgemein bekannt gewordenen Refrain, der die Internationale besonders feierte: Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.325

Als „Zweite Internationale“ gilt ein 1879 in Paris gegründeter neuer Zusammenschluss der sozialistischen Bewegung, an dem aus Deutschland Liebknecht und Bebel mitwirkten. Neben der Stärkung der sozialistischen Parteien und der Förderung des „Klassenbewußtseins“ zielten konkrete Forderungen unter anderem auf die Einführung des Achtstundentags, des 1. Mai als Feiertag der Arbeit und auf internationale Regelungen für Frauen- und Kinderarbeit. Diese Internationale fand ihr Ende mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, bei dem die Idee des Internationalismus der Arbeiterschaft, nicht nur in Deutschland, unterging. Erst 1951 konnte die „Sozialistische Internationale“ als ein bis heute bestehender weltweiter Verbund sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien gegründet werden. Die mit Moskau verbündeten Parteien beanspruchten von 1919 bis 1943 die dritte, die „Kommunistische Internationale“ zu sein, bekannter unter dem Kurzwort „Komintern“. An den Wahlen zum ersten ordentlichen Reichstag des Norddeutschen Bundes im August 1867 beteiligten sich drei verschiedene Arbeiterparteien: zunächst noch die „Sächsische Volkspartei“ sowie der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“ (ADAV) und seine zwischenzeitliche Abspaltung, der „Lassalle‘sche ADAV“, was für eine wirksame Vertretung von Arbeiterinteressen alles andere als förderlich war. Eine erstaunliche Differenz zwischen dem eigentlich gemäßigten ADAV und den radikaleren Abgeordneten im Reichstag des Norddeutschen Bundes ergab sich bei der Frage der Bewilligung von Krediten für die Führung des Kriegs gegen Frankreich 1870. Während die Vertreter des ADAV die Kriegskredite ablehnten, enthielten sich die eigentlich radikaleren Bebel und Liebknecht der Stimme. Im Hintergrund dieser Unentschiedenheit stand freilich eine in der SDAP verbreitete Meinung, Deutschland sei an diesem Krieg unschuldig und müsse sich wehren – ein Argument, mit dem auch die Propaganda des Ersten 325 Die

geläufigste deutsche Version des französischen Originals stammt vom Emil Luckhardt (1910). Bis 1943 war das Lied die offizielle Hymne der UdSSR.

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Weltkriegs die Arbeiterschaft vereinnahmen sollte. Damit, dass die SDAP dann für einen maßvollen Friedensschluss mit Frankreich und gegen eine Annexion von Elsass und Lothringen eintrat, erregte sie das stärkste Misstrauen der Regierung, die mit Repressionen und Verhaftungen reagierte. Inzwischen hatten zudem alle sozialdemokratischen Abgeordneten gegen weitere Kriegskredite votiert. Als Bebel und Liebknecht 1871 auch noch die Pariser Kommune als „Aufstand des Proletariats“ öffentlich begrüßten, war für Bismarck endgültig klar, dass die politischen Gegensätze nicht zu überbrücken wären. Die beiden Arbeiterführer wurden wegen Hochverrats angeklagt und zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.

7.5  Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, Gotha 1875 „Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut“

Noch aber standen die Differenzen zwischen den zunächst drei verschiedenen Arbeiterparteien im Reichstag einer wirkungsvolleren Parlamentsarbeit im Wege. In der Wahl zum ersten Reichstag des Norddeutschen Bundes im August 1867 hatten sie zusammen ohnehin nur ganze zehn von 297 Mandaten errungen. Das unfruchtbare Nebeneinander von „Sächsischer Volkspartei“ (ab 1869 „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, SDAP) und „Allgemeinem Deutschen Arbeiter-Verein“ (ADAV) sollte schließlich auf Initiative beider Seiten beendet werden. Vom 22. bis 27. Mai 1875 tagte in Gotha ein gemeinsamer Parteitag, der „Vereinigungs-Congress der Sozialdemokraten Deutschlands“, der die Fusion der beiden Parteien unter dem Namen „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) beschloss. Hatte die SDAP mit ihrer internationalistischen Ausrichtung noch auf den Zusatz „Deutschland“ verzichtet, so bekannte sich die neue Partei formal zur deutschen, letztlich kleindeutschen Identität. Inzwischen war durch die Gründung des „Deutschen Reiches“ 1871 der Hauptgegensatz zwischen ADAV, der seit Lassalle schon die kleindeutsch-preußische Perspektive vertreten hatte, und den Anhängern einer großdeutschen Lösung in der SDAP faktisch erledigt. Und nun ging es um ein Programm, das zwischen den verschiedenen anderen Positionen im Kompromiss ausgehandelt werden musste. Personeller Ausdruck des Kompromisses war die Wahl des Parteivorstands. Man wählte zwei gleichberechtigte Vorsitzende, Wilhelm Hasenclever, den letzten Vorsitzenden des ADAV, und Georg Wilhelm Hartmann von der SDAP. August Bebel wurde Vorsitzender der Kontrollkommission.

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In das „Gothaer Programm“326 wurden einige der gemäßigten Positionen des „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins“ aufgenommen, was Karl Marx, der nach dem „Kommunistischen Manifest“ die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung vor allem als Journalist kritisch begleitete, zu scharfer Kritik veranlasste. Aber auch die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ hatte keine revolutionären Ambitionen im marxistischen Sinne erkennen lassen. Nun hieß es ausdrücklich, dass man seine Ziele „mit allen gesetzlichen [!] Mitteln“ erreichen wolle (Abschn. II). ). Lassalle’sches Gedankengut lebte unter anderem weiter in der Gothaer Forderung: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes.

Dennoch verfolgte man langfristig sehr wohl revolutionäre Ziele, insbesondere den „freien Staat und die sozialistische Gesellschaft“. Eindeutig marxistisch ist die Forderung nach „Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut“, d.h. die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Schon im ersten Satz heißt es, dass „der Gesellschaft, das heißt, allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht…[gehört]“. Unüberhörbar kommt auch der pauschale Marx’sche Klassenantagonismus zum Zuge, wenn es heißt: Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse bilden.

Von den „anderen Klassen“ wird im Zusammenhang mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln namentlich nur die „Kapitalistenklasse“ genannt. Ebenso übernahm die SAP das von Marx angeregte Bekenntnis zum Internationalismus der Arbeiterklasse, indem sie – wenn auch ohne direkte Bezugnahme auf die Internationale wie bei den „Eisenachern“1863 – programmatisch erklärte:

326 Quelle

u.a.: www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1875/gotha.htm, letzter Zugriff: 11.4.2016.

Arbeiterbewegung zwischen „Klassenkampf“ und „Vaterland“  |

Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt hat, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen.

Das bei den Vorgängerparteien oft vage bis distanzierte Verhältnis zu den Gewerkschaften erhält durch das Programm eine klarere Perspektive. Nicht ganz zufällig tagte im unmittelbaren Anschluss an den Vereinigungsparteitag ein Kongress der Gewerkschaften, der zwar seine Neutralität betonte, gleichwohl seine Mitglieder aufforderte, der neuen Partei beizutreten. Schon im Gothaer Programm hatte die SAP konkrete gewerkschaftliche Forderungen sanktioniert, so den Normalarbeitstag, Verbot der Sonntagsarbeit und der Kinderarbeit oder Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter. Doch auch im Reichstag bot die SAP gewerkschaftlichen Forderungen immer wieder ein willkommenes Forum. Sie unterstützte überdies Arbeitskämpfe und Streiks. Damit hatte die deutsche Arbeiterbewegung zwei feste Stützen, was sich bei Reichstagwahlen auch in steigenden Wählerzahlen zu Gunsten der SAP niederschlug. Der Stimmenanteil der SAP bzw. (nach ihrer Umbenennung in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“) der SPD bei Reichstagswahlen wuchs zwischen 1871 und 1912 kontinuierlich von 3,2 auf 34,8 Prozent. 1912 bildete die SPD sogar die bei weitem stärkste Reichstagsfraktion.

7.6  Bismarcks Versuch, die Arbeiterbewegung einzudämmen 1878–90 „Die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“

Für den Bismarck’schen Staat und seine Gesellschaftsordnung schienen von dieser Entwicklung ernste Gefahren auszugehen. Bismarck entschloss sich, über die üblichen Verleumdungen und die zahlreichen, aber eher punktuellen Repressionen hinaus dem weiteren Aufstieg der Sozialisten einen deutlichen Riegel vorzuschieben. Einen willkommenen Anlass, hart durchzugreifen, boten zwei – allerding missglückte – Attentate auf Kaiser Wilhelm I., für die man wahrheitswidrig die Sozialisten verantwortlich machte. Bismarck hatte die organisierte Arbeiterschaft schon lange zuvor revolutionärer Umtriebe verdächtigt und betrachtete sie gar als „Reichsfeinde“. Schließlich setzte er 1878 mit der Reichstagsmehrheit der Konservativen von Deutschnationalen und Reichspartei sowie von National­ liberalen, die indes nicht geschlossen zustimmten, das sogenannte

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Sozialistengesetz327 durch; auch bei Verlängerungen dieses Gesetzes bis 1890 zeigten sich die Liberalen immer weniger einig. Zunächst aber wurden alle Organisationen und Veröffentlichungen der Sozialisten verboten, gegen ihre Mitglieder ging man mit Verhaftungen und Ausweisungen vor und trieb sie damit in die Illegalität. Zeitungen wie „Der Sozialdemokrat“ konnten bis 1890 nur im Exil, zunächst in Zürich, nach Ausweisung in London, hergestellt und in Deutschland ausschließlich auf konspirative Weise verbreitet werden. Die Reichstagfraktion der Sozialistischen Arbeiterpartei, von direkter Verfolgung verschont, übernahm faktisch die Aufgaben einer Parteileitung. Offiziell trug Bismarcks Gesetz den Titel „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie.“ Unter Verbot fielen nach Paragraph 1 „Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken“. Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten. Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art.

Paragraph 9 bestimmte: Versammlungen, in denen […] auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zu Tage treten, sind aufzulösen. Versammlungen, von denen durch Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung der im ersten Absatze bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind, sind zu verbieten. Den Versammlungen werden öffentliche Festlichkeiten und Aufzüge gleichgestellt.

Von der Tarnung oppositioneller Veranstaltungen als „Feste“, wie sie im Vormärz benutzt worden war, hatte man also gelernt. Doch traf dieses Verbot letztlich auch harmlosere Zusammenkünfte, also für den sozialen Zusammenhalt wichtige Gesellungsformen der Arbeiterschaft. Aber wie beim erst kurz zuvor beendeten „Kulturkampf “ mit der katholischen Kirche bewirkten die Repressionen eher eine Stärkung des politischen Selbstbewusstseins der Betroffenen. Nicht zufällig öffnete sich die Arbeiterbewegung gerade in der Zeit ihrer Verfolgung in besonderer Weise dem radikalen 327 Quelle u.a.: www.documentarchiv.de/ksr/soz_ges.html, letzter Zugriff: 20.7.2015.

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marxistischen Gedankengut. Der SPD-Parteitag von 1891 strich beispielsweise aus der Formulierung des Gothaer Programms, man wolle seine Ziele „mit allen gesetzlichen Mitteln“ erreichen, demonstrativ das quasi-systemstabilisierende Attribut „gesetzlich“; es sollten nun „alle Mittel“ eingesetzt werden. Bismarcks Versuch, der Arbeiterschaft durch eine großzügige Sozialgesetzgebung, durch Einführung von Unfall-, Krankheits-, Invaliditätsversicherung und eine Versicherung gegen Altersarmut, entgegenzukommen, sie von ihrer politischen Führung zu trennen und zu einer loyalen Haltung gegenüber dem Staat zu bewegen, fruchtete wenig. Dieser Modernisierungsakt, der langfristig seine durchaus positiven Folgen hatte, lief also aktuell erst einmal ins Leere. So ließen sich etwa die Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1889 nicht davon abhalten, in einem großen Streik für ihre Rechte einzutreten.328 1890 war für eine weitere Verlängerung des „Sozialistengesetzes“ im Reichstag keine Mehrheit mehr zu gewinnen. Auch der seit 1888 regierende Kaiser Wilhelm II. widersetzte sich weiteren Verfolgungsmaßnahmen gegen die organisierte Arbeiterschaft, in der Hoffnung, die Arbeiter doch noch für den Staat zu gewinnen. Das Verhältnis des neuen Kaisers zu Bismarck war aber mehr noch wegen außenpolitischer Differenzen immer brüchiger geworden, und schließlich zwang Wilhelm II. am 18. März 1890 seinen Reichskanzler zum Rücktritt. Drei Tage später, am 22. März, kommentierte „Der Sozialdemokrat“ den Rücktritt mit der wie eine Schlagzeile wirkenden einleitenden Formulierung „Bismarck gegangen“, „korrigierte“ aber sogleich die Aussage mit der umgangssprachlichen Wendung: Er sei „gegangen worden“. Unverhohlen äußert sich der Triumph über die Niederlage Bismarcks als Verfolger der Sozialisten. Abwertende Kennzeichnungen von Bismarcks Person wie „abenteuernder Staatsmann“ und „brutale Instinkte“ und seiner Demission wie „unrühmlicher Abtritt“ und „schimpfliches Ende“ sprechen eine deutliche Sprache. Den Schluss des Artikels aber bildet die Mahnung, auch gegenüber einem Nachfolger wachsam zu sein und das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu lassen: „die Befreiung der Arbeiter vom Doppeljoch ökonomischer und politischer Ausbeutung und Unterdrückung“. Wachsamkeit gegenüber Bismarcks Nachfolgern war tatsächlich geboten. Während der Reichskanzler Leo Graf von Caprivi (1890–94) als „Neuen Kurs“ noch eine Politik des sozialen Ausgleichs verfolgte, vollzog sein Nachfolger, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1894–99), eine scharfe Wende 328 Zwei weitere große Streiks demonstrierten ebenfalls das gewachsene politische Selbstbewusst-

sein der Arbeiterschaft: 1903/04 der Textilarbeiterstreik von Crimmitschau und 1905 ein weiterer großer Bergarbeiterstreik.

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gegen die Sozialdemokratie, die nun als „Umsturzpartei“ verdächtigt wurde. Eine Strafrechtsnovelle sollte mit ihrer Verschärfung von Strafen für politische Delikte insbesondere sie treffen. Die sogenannte Umsturzvorlage Hohenlohes fand im Reichstag allerdings keine Mehrheit, ebenso wie der Versuch, das eigentlich verbürgte Koalitionsrecht einzuschränken. Stattdessen versuchten die Konservativen, den Kampf gegen die Sozialdemokratie in den Einzelstaaten fortzusetzen, freilich auch hier mit nur geringem Erfolg.

7.7  Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Erfurt 1891 „Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums“

Bereits auf dem ersten Parteitag nach dem Ende der Illegalität im Herbst 1890 in Halle wurde vorgeschlagen, die SAP in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) umzubenennen, womit aber sehr wohl eine Radikalisierung im Programmatischen einhergehen sollte. Erst recht das 1891 verabschiedete „Erfurter Programm“, das auch den neuen Parteinamen festschrieb, bezog in seinem ersten Teil im Sinne eines dogmatischen Marxismus deutlich Position gegen eine Politik, den Kapitalismus durch Sozialreformen zu überwinden, wie sie von Teilen der Partei vertreten wurde. Der Entwurf dieses Programmteils stammte von Karl Kautsky (1854–1938), einem streng marxistischen Philosophen und Publizisten. Eine der zentralen Aussagen war: Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln, Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werden.329

Insgesamt wirkt der erste Teil wie eine Kurzfassung des „Kommunistischen Manifests“. 329 Quelle u.a.: www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm, letzter Zugriff:

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Davon hebt sich aber der zweite Teil des Programms aus der Feder von Eduard Bernstein (1850–1932) mit seinen sehr konkreten Forderungen deutlich ab; Bernstein war zuvor Chefredakteur und Herausgeber des „Sozialdemokrat“. Zwei Forderungen können besondere Aufmerksamkeit beanspruchen: Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen. (Punkt 4) Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu religiösen und kirchlichen Zwecken …“ (Punkt 5)

Beides war in Gotha 1875 noch nicht ausdrücklich gefordert worden, wurde nun aber zu Leitlinien der praktischen Parteiarbeit. Bernsteins Programmbeitrag folgte der grundsätzlichen Einsicht, dass die Macht des Kapitalismus mit utopischen Visionen und theoretischen Argumenten allein offenbar nicht zu überwinden sei. Bernstein war es auch, der immer deutlicher für eine reformorientierte Linie der SPD plädierte. Bezeichnend für seine Position war auch, dass er persönlich Lassalle als „Lehrer“ feierte. Damit entbrannte eine schon länger schwelende Auseinandersetzung zwischen zwei Flügeln der Partei. Die Linken wie August Bebel, in Gotha noch auf Kompromiss bedacht, und Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg und Clara Zetkin wehrten sich vehement gegen den Versuch, die tradierten programmatischen Positionen, die marxistisch-orthodoxe Fixierung auf Klassenkampf und die Forderung, die Klassengesellschaft müsse revolutionär beseitigt werden, auf ihre Zeitgemäßheit und Alltagstauglichkeit hin zu überprüfen, also eine Programm-„Revision“ vorzunehmen. Die Orthodoxen nannten diesen Versuch „Revisionismus“ und stigmatisierten deren Anhänger als „Revisionisten“. Der sogenannte Revisionismusstreit erreichte 1899 seinen Höhepunkt, zeigte seine Spuren aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

7.8  Die patriotische Wende der SPD 1914 „in der Stunde der Gefahr“

Tatsächlich aber setzte sich in der politischen Praxis der Partei die nichtrevolutionäre, sozialreformerische und damit eine mehr und mehr an realpolitischen Umständen und Erfordernissen orientierte Linie durch, die auch darauf zielte,

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der Arbeiterschaft endlich die gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, die ihr die bürgerliche Gesellschaft so lange verweigert hatte. Man suchte – wie ansatzweise schon Lassalle – einen Ausgleich mit der Monarchie und man fand auch zur Zusammenarbeit mit linksliberalen Kräften. Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese Linie zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als sich die SPD auf den „Burgfrieden“ zwischen dem Kaiser und den Reichstagsparteien einließ und bis 1918 für alle geforderten Kriegskredite stimmte – anfangs zähneknirschend, am 4. August mit zwei Enthaltungen, später immer noch mehrheitlich. Karl Liebknecht (1871–1919), Sohn von Wilhelm Liebknecht, war im Dezember 1914 der einzige Sozialdemokrat, der im Reichstag gegen die zweite Kriegsanleihe votierte, fand dann aber zunehmend Gesinnungsgenossen. Zuvor noch allgemein vertretene pazifistische Positionen wurden erst einmal beiseite gedrängt. Hugo Haase (1863–1919), neben Friedrich Ebert (1871– 1925) zweiter SPD-Vorsitzender, der sich bis zuletzt gegen einen Krieg gestemmt hatte, wurde nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Reichstagsfraktion gegen seine pazifistische Überzeugung dazu gebracht, am 4. August die Zustimmung der SPD-Fraktion zur ersten Kriegsanleihe zu begründen. Nachdem er zunächst noch den Imperialismus als Kriegsursache angeprangert hatte, erklärte er schließlich: Es gilt, diese Gefahr [die vom ‚russischen Despotismus‘ ausgeht] abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.330

Der radikale Richtungswechsel wird allein darin deutlich, dass die SPD wenige Tage zuvor noch Friedensdemonstrationen organisiert hatte mit der Parole „Kein Blut für österreichische Tyrannen!“ Und am 25. Juli hatte der Parteivorstand im „Vorwärts“ noch gewarnt: Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen! Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Krieg! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!

330 Reichstagsprotokoll vom 4. August 1914: 9.

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Dem nationalen Taumel aber konnte sich die organisierte Arbeiterschaft – auch bei den Kriegsgegnern – nicht entziehen. In Deutschland hatte man die Öffentlichkeit, ähnlich wie beim Krieg 1870/71, überdies glauben gemacht, es ginge um einen Verteidigungskrieg. 1914 zerbrach der Internationalismus der Arbeiterbewegung. Offene Opposition gegen die Burgfriedenspolitik der Parteiführung wagten am 21. Dezember 1915 jedoch immerhin neunzehn Reichstagabgeordnete der SPD, darunter auch Hugo Haase, als sie gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite stimmten. Sie lehnten wie viele SPD-Mitglieder die Verlängerung des Krieges und die Annexionsabsichten der Reichsregierung ab. Die Differenzen eskalierten, als am 24. März 1916 die abtrünnigen Abgeordneten, darunter Karl Liebknecht, aus der SPD-Fraktion und im Januar 1917 auch aus der Partei ausgeschlossen wurden, nachdem sie eine eigene Fraktion gegründet hatten Auf einer nach Gotha einberufenen „Oppositionskonferenz“ wurde am 6. April 1917 die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) gegründet331; Vorsitzender wurde Hugo Haase. In kürzester Zeit überflügelte die USPD vielerorts die SPD an Mitgliederzahlen. Nach einer zeitweiligen Zusammenarbeit der USPD mit dem kommunistischen „Spartakusbund“ während der Novemberrevolution 1918 näherten sich die beiden Parteien einander soweit wieder an, dass es am 24. September 1922 zu einer Wiedervereinigung von SPD und zumindest des rechten Flügels der USPD kommen konnte. Zuvor aber, Ende 1918, hatten sich Friedrich Ebert und Hugo Haase schon einmal zusammengerauft mit dem Ziel, nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der Ausrufung der „Deutschen Republik“ durch Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Perspektive einer parlamentarischen Demo­ kratie in den revolutionären Wirren nicht untergehen zu lassen. Ein kommunistisches Gegenprogramm, die „Freie sozialistische Republik“, hatte ja zwei Stunden nach Scheidemanns Proklamation Karl Liebknecht, inzwischen zusammen mit Rosa Luxemburg Führer des „Spartakusbundes“, auszurufen versucht. Am 10. November wurde als provisorische Regierung der „Rat der Volksbeauftragten“ konstituiert. Ebert, dem vom letzten Reichskanzler des Kaiserreichs Max von Baden das Amt des Reichskanzlers übertragen worden war, und Haase übernahmen den Vorsitz, bis es Ende Dezember zum erneuten Bruch kam und die SPD-Mitglieder im Rat allein regieren konnten.

331 Die SPD firmierte neben der USPD eine ganze Weile als „Mehrheits-SPD“ (MSPD).

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7.9  Eine historisch untaugliche Unterscheidung „sozialistisch“ oder „sozialdemokratisch“?

Seitdem sich die SPD 1959 mit ihrem „Godesberger Programm“ von ihren marxistischen und im engeren Sinne sozialistischen Traditionen gelöst und sich in ihrer praktischen Politik, innen- und sozialpolitisch vor allem durch Anerkennung der Marktwirtschaft, als Volkspartei auch dem Bürgertum empfohlen hat, ist die Bedeutung von „sozialistisch“ und „sozialdemokratisch“ im Gebrauch der Arbeiterbewegung des 19.  Jahrhunderts nur schwer nachzuvollziehen, ja die Abfolge der Kennzeichnungen der verschiedenen Parteigründungen erscheint einem heutigen Verständnis von „Sozialdemokratie“ geradezu als verwirrend. Die „Eisenacher“ von 1869, die bewusst gegen die gemäßigten Vorstellungen des Allgemeinen deutschen Arbeiter-Vereins (ADAV) angehen wollten, nannten ihre Partei „sozialdemokratisch“, die „Gothaer“ von 1875 wollten wiederum „sozialistisch“ sein, obwohl sie mit dem Programm des ADAV Kompromisse eingingen, bis schließlich in Erfurt 1891 die Partei wieder „sozialdemokratisch“ heißen wollte. Aber schon in der frühen Arbeiterbewegung wurde neben „sozialistisch“ immer wieder einmal für Anhänger sozialistischer Ideen auch die Kennzeichnung „Social-Demokraten“ gebraucht. Die mögliche Verwirrung löst sich freilich auf, wenn man die historische Herkunft der Termini ins Auge fasst. Als „sozialistisch“ galten zunächst einmal die Ideen, die vom Saint-Simonismus ausgingen. Dieser Frühsozialismus empfahl sich auch der deutschen Opposition gegen das restaurative System nicht nur durch sein Ziel, Adel, Militär und Kirche zu entmachten, sondern auch durch die Forderung, die Produktionsmittel in das Eigentum des Volkes zu überführen – dies allerdings als Mittel, um einen Klassenkampf zu verhindern. Dieser Position und dem Prinzip der Unantastbarkeit des Privateigentums bei Saint-Simon widersprachen am heftigsten Marx und Engels. Die antifeudalen, antimilitaristischen und antiklerikalen Positionen und natürlich auch die Idee der Vergesellschaftung der Produktionsmittel blieben gleichwohl Konstanten aller nachfolgenden Programme der Arbeiterbewegung, wobei die von der katholischen Kirche und ihrer Soziallehre inspirierte christliche Arbeiterbewegung hier vernachlässigt werden muss. Von hier aus wird verständlich, warum das Attribut „sozialistisch“ auch vor und neben der Radikalisierung durch den Marxismus in Anspruch genommen werden konnte. Der Gebrauch von „sozialdemokratisch“ im 19. Jahrhundert ist nicht ohne die besondere Semantik von „demokratisch“ zu verstehen, die sich spätestens in der

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„Märzrevolution“ gegenüber dem zuvor für die gesamte Freiheitsbewegung geltenden Brückenbegriff „liberal“ verselbständigte und zu einem Fahnenwort für den linken, radikalen Flügel der Oppositionsbewegung entwickelte und dabei mehr oder weniger deckungsgleich mit „republikanisch“ wurde. Nimmt man die auf einen generellen gesellschaftlichen Umsturz zielenden frühen Positionen hinzu, die sich bereits „sozialistisch“ nennen konnten, wird verständlich, warum sich Arbeiterparteien mal „sozialdemokratisch“, mal „sozialistisch“ nennen konnten. Die heutige Unterscheidung zwischen „Sozialdemokraten“ und „Sozialisten“ darf jedenfalls nicht zum Maßstab einer Differenzierung des historischen Gebrauchs genommen werden, auch wenn eine solche Differenzierung bereits im „Revisionismusstreit“ in der SPD nach 1891 angelegt war und dabei schon frühere innerparteiliche Richtungsunterschiede offenlegte. Auch das Kriterium, wie die jeweilige Partei zum Internationalismus der Arbeiterbewegung stand, den das „Kommunistische Manifest“ zu einer Maxime erhoben hatte, taugt für eine semantische Unterscheidung kaum. Die Eisenacher „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ von 1869 verstand sich ausdrücklich als „Zweig der internationalen Arbeiterassoziation“. Die Gothaer „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ von 1875 wiederum formulierte sehr viel weicher, wenn sie erklärte, sie sei „sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt“. Ebenso wenig lässt sich aus „nationalen“ Zusätzen zum Parteinamen Entscheidendes für eine Differenzierung der Termini gewinnen. Am leichtesten kann man bei den internationalistischen „Eisenachern“ verstehen, dass sie in ihrem Namen auf „Deutschland“ als Zusatz verzichtete. Erst die Gothaer „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ von 1875 wie die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ ab 1891 bekannten sich offiziell zu „Deutschland“, wohl unter dem Eindruck, dass ihr eigentliches Arbeitsfeld das inzwischen nicht mehr in Frage zu stellende kleindeutsche Reich sei, was allerdings nichts daran änderte, dass es bis über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus in der Arbeiterschaft sowohl in Deutschland als auch in Österreich starke Sympathien für eine „großdeutsche Republik“ gab. Auch aus den sonstigen Unterschieden, wie die marxistischen Ideen jeweils adaptiert wurden, lässt sich für eine semantische Differenzierung der Termini „sozialistisch“ und „sozialdemokratisch“ nur bedingt ein Erkenntnisgewinn erzielen. Schon der Umgang mit den Begriffen „Klasse/Arbeiterklasse“ oder „Proletariat“, die Marxisten gern eineindeutig definiert wissen wollten, belegt ein Schwanken zwischen einer marxistisch-orthodoxen Interpretation und einer offeneren Deutung, wobei letztere am ehesten den realen Unterschieden in der sozialen Situation des besitzlosen Teils der Bevölkerung, vom Bezieher der

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Armenfürsorge über den unselbständigen kleinen Handwerker, den Landarbeiter und ungelernten Lohnarbeiter bis zum sehr wohl geschätzten, relativ privilegierten Fabrikfacharbeiter, gerecht zu werden versuchte. Alles in allem aber stellte jede sozialistisch oder sozialdemokratische, erst recht eine kommunistische Position für die herrschende Ordnung eine Bedrohung dar, die bekämpft werden musste. Insofern „irrte“ das „Sozialistengesetz“ Bismarcks nicht, wenn es „sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen“ ohne weitere Differenzierung als Gesamtfeind darstellte.

7.10  Die Differenzierung der Leitbilder

Die öffentliche Kommunikation in Deutschland erfährt durch die Entwicklungen von 1848/49 langfristig wirkende neue Akzentuierungen und durch das „Kommunistische Manifest“ sogar eine grundsätzliche Neustrukturierung, weil dieser Text – wie immer man ihn beurteilt – einer bis dahin gleichsam stummen Mehrheit eine Stimme gegeben hat, die sich fortan nicht mehr ganz unterdrücken ließ. In der Frankfurter Nationalversammlung werden die bis dahin noch weitgehend inhomogenen Forderungen der National- und Freiheitsbewegung nach einem politischen Wandel gebündelt, aber auch entsprechend den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen unterschiedlich gewichtet. Dabei tritt der revolutionäre Ursprung auch der liberalen Positionen mehr und mehr in den Hintergrund. Dagegen vertreten Marx und Engels und in ihrer Nachfolge mehr oder weniger alle Sozialisten eine Vorstellung von Revolution, welche die Gesellschaftsordnung zu Gunsten einer Herrschaft des „Proletariats“ radikal verändern soll, und das nicht nur in Deutschland. Nun stehen sich unversöhnlich gegenüber zum einen die mehr der Reform zuneigende Position von Bürgerlich-Liberalen und eine aggressiv antibürgerliche Revolutionsideologie, zum anderen ein alles Deutsche überhebender Nationalismus und der Internationalismus der Arbeiterklasse. Während sich das Wort „Bürger“ als neutrale Bezeichnung der Angehörigen eines Staates halten kann, wirkt seine Stigmatisierung als „Bourgeois“ im Adjektiv „bürgerlich“ bis in jüngste sogenannte Lagerwahlkämpfe nach, mit der eine politische Frontstellung gegen „links“ verbunden wird. Zwar kann die marxistische/sozialistische Position in Deutschland – sieht man einmal von der kurzzeitigen Räteherrschaft 1918/19 oder von der „marxistisch- leninistischen“ Interpretation der DDR ab – keine nachhaltigen politisch-

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praktischen Erfolge erzielen, aber „Sozialismus“ – ob kommunistisch-radikal oder reformorientiert sozialdemokratisch – bleibt in den politischen Auseinandersetzungen bis weit ins 20. Jahrhundert ein wichtiger Schlüsselbegriff, mal als Fahnenwort, mal als Stigmawort. Die internationalistische Perspektive, unter der laut „Kommunistischem Manifest“ die Arbeiterklasse die Bourgeoisie überwinden sollte, hatte in Deutschland so gut wie keine Chance. Dafür war der Nationalgedanke auch bei den nichtsozialistischen Revolutionären zu sehr verankert. Die Aussage des Manifests, die Arbeiter hätten „kein Vaterland“, konnte darum in den Auseinandersetzungen mit den Sozialisten zum wohlfeilen Angriffspunkt werden, aggressiv verdichtet in der Invektive Bismarcks, Sozialisten seien „vaterlandslose Gesellen“. Es wäre ein Irrtum, vom Sprachgebrauch in der Arbeiterbewegung eine entscheidende Hinwendung zum Alltagsstil zu erwarten. Zwar mussten die Arbeiterführer der Anforderung genügen, sich auch bei einem großen Publikum verständlich zu machen, und den meisten gelang dies durchaus. Aber gemessen an heutigen Reden, in denen für eine Überzeugung geworben wird, ließen sich die meisten nicht auf einen eingängigeren Alltagsstil ein. Nicht nur die grundsätzlichen Äußerungen in den Parteiprogrammen dokumentieren eine klare Orientierung an den Stilnormen des hochdeutschen Standards, auch die mündlichen Debattenbeiträge auf Parteitagen sind nach Ausweis der Protokolle der „Schriftsprache“ verpflichtet. Drei Faktoren wirkten dabei zusammen: Zum einen entstammten viele Redner einer gebildeten Mittelschicht; zum anderen verlangte mehr oder weniger jede Form des Sozialismus, spätestens seit dem wissenschaftlich-theoretischen Anspruch, den die Marxisten für ihre Gesellschaftsanalyse erhoben hatten, ein entsprechendes Argumentationsniveau; und drittens konnte bei vielen Aktiven der Arbeiterbewegung eine zumindest durch Selbststudium erworbene Vertrautheit mit theoretischen Gedankengängen vorausgesetzt werden. Was in unserer Einleitung zu Programmen und programmatischen Äußerungen als sprachliche Vorwegnahmen einer noch vor den Verfassern liegenden Zukunft grundsätzlich gesagt wurde, gilt selbstverständlich auch für die Programme, die einer Emanzipation der Arbeiterschaft gewidmet waren. Sie belegen in ihren Zukunftsentwürfen den Vorrang der Sprache vor dem praktischen Handeln – am deutlichsten im „Kommunistischen Manifest“. Selbst dort, wo wie im Dissens zwischen Dogmatikern und „Revisionisten“ seit dem Erfurter Programm der SPD realistischere Sehweisen hervortreten, geht es um die Formulierung von Zielbegriffen, die dann zu Leitbildern für die politische Praxis werden, während marxistische Dogmatiker – in Teilen noch heute – die vorfind-

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liche soziale und politische Realität nur durch die Brille einmal fixierter Begrifflichkeiten, insbesondere in der Vereinfachung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen als „Klassenkampf “, sehen können. Während die „Allgemeine Arbeiterverbrüderung“ noch wie in der Parole der Französischen Revolution von der „fraternité“ vor allem auf die letztlich romantische Vorstellung von einer „Brüderlichkeit“ der Arbeiter als Grundlage des Zusammenhalts setzte, schwankte das „kommunistische Manifest“ wie manche sozialistischen Programme danach beim Begriff der „Arbeiterklasse“ zwischen den Deutungen, die Einheit der Arbeiter sei einerseits schon gegeben, andererseits aber ein erst in der Zukunft liegendes Ziel. Ein ähnliches Denkmuster war bereits in vielen Äußerungen zur nationalen Einheit in der Frankfurter Paulskirche zu entdecken. Und auch für die Arbeiterbewegung gilt die Feststellung, dass dieser eigentlich zirkelhafte Umgang mit sprachlichen Symbolen eine wesentliche Quelle für die Selbstbehauptung und des Selbstbewusstseins war. Dabei wurde in der Arbeiterbewegung das schon allgemein mächtige Leitbild der politischen Einheit nun auf die Bedürfnisse der sozialen Gruppe, abseits bürgerlicher Zielvorstellungen, oft sogar gegen sie, zugeschnitten: „Solidarität“, bis hin zur „internationalen Solidarität“, wurde zu einer gruppenspezifischen Interpretation der Leitbilder „Einheit“ und „Brüderlichkeit“. In gleicher Weise interpretierte die Arbeiterbewegung für sich „Freiheit“ und „Gleichheit“: „Freiheit“ als Befreiung von politischen und ökonomischen Zwängen, „Gleichheit“ als politische und soziale Gleichberechtigung, und zwar zunächst im Sinne Lassalles als Chancengleichheit mit dem Bürgertum, dann jedoch unter marxistischem Einfluss immer stärker als Machtanspruch, der die „Bourgeoisie“ marginalisierte. Unter dem Druck der weiteren politischen Entwicklungen konnte sich die Arbeiterbewegung aber doch nicht ganz von dem die übrige Gesellschaft bewegenden Ziel einer übergreifenden politischen, nationalen Einheit distanzieren. Nicht nur musste sie zum Staat als Ordnungsgefüge schlechthin grundsätzlich Stellung beziehen, sie musste sich auch zwischen den Optionen einer großdeutschen und einer kleindeutschen Einheit positionieren. Unvermeidlich verblasste dabei die internationalistische Perspektive und blieb nur in Teilen der Bewegung als reine Utopie erhalten, bis schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der SPD sogar der Vaterlandsgedanke die Oberhand gewann.

Frauenbewegung und „Gleichberechtigung“  |

8  Frauenbewegung und die Leitbildvariante der Gleichberechtigung 8.1  Forderungen in Aufklärung und Französischer Revolution 221 |  8.2  Der Beginn der bürgerlichen Frauenbewegung 223 |  8.3  Proletarische Frauenbewegung und Pazifismus 225 |  8.4 „Emanzipation“ als fortwährende Zukunftsperspektive 228

Die Frauenbewegung ist in ihren Ursprüngen ein mehr als deutliches Beispiel dafür, dass erst durch sprachliche, nicht zuletzt sprachkritische Diskurse ein spezifisches gesellschaftliches Bewusstsein geweckt und zielgerichtetes politisches Handeln ermöglicht wird. Die sprachlichen Symbole, die dem hier in gebotener Kürze nachzuvollziehenden besonderen Prozess übergeordnet waren, hatte die Amerikanische wie Französische Revolution vorgegeben: die „Freiheit“ und „Gleichheit“ aller Menschen. Die Einseitigkeit, mit der diese Leitbilder in der praktischen Politik nur auf Männer bezogen wurden, regte in Frankreich wie Deutschland einzelne Aktive an, öffentlich für eine angemessene Berücksichtigung der Frauen einzutreten. Die starken, bis heute wirkenden Widerstände gegen die umfassende Erfüllung der Leitbilder zu Gunsten der Frauen führten dazu, dass man sich – wie anfangs auch die Arbeiterbewegung – insbesondere für „Gleichheit“ auf die „mildere“ Variante „Gleichberechtigung“ zurückzog. Diese Variante legt nämlich den Akzent auf eine rechtlich-formale Argumentation, während „Gleichstellung“ im Sinne des feministischen Emanzipationsgedankens über den rein juristischen Aspekt hinaus reicht. Aber selbst vom Ziel rechtlicher Gleichstellung der Frau ist man heute immer noch einigermaßen entfernt. Bei aller Anerkennung der Vorstöße bürgerlicher Frauenrechtlerinnen: eine größere Schubkraft in Richtung sozialer Reformen ging von der Verbindung der „Frauenfrage“ mit den Forderungen der Arbeiterbewegung aus, obgleich auch diese dem Thema zunächst mehr als reserviert gegenüberstand. Auf dem Gründungskongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach 1869 war August Bebel, wie bereits erwähnt, vergeblich für ein Frauenwahlrecht eingetreten. Die Delegierten fanden diesen Vorschlag offenbar noch für zu weitgehend, war Frauen doch seit 1850 durch restriktive Vereinsgesetze in Bayern, Preußen und anderen Bundesstaaten jegliche öffentliche Betätigung, sogar eine passive Teilnahme an Versammlungen verwehrt. Aber es gab auch innerparteiliche Widerstände gegen die Gleichberechtigung der Frau! Und so dauerte es noch ein halbes Jahrhundert, bis Bebels Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen realisiert werden konnte. Immerhin forderte die SPD aber 1891 in ihrem Erfurter Programm (Punkt  4) dann doch die „Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegen-

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über dem Manne benachteiligen.“ Erst das Reichsvereinsgesetz von 1908 erlaubte es den Frauen zumindest, politischen Vereinen und Parteien beizutreten und darin auch das Wort zu ergreifen. Im Vormärz war man indes schon insgesamt frauenfreundlicher gewesen. So wünschte sich etwa der Mitorganisator des Hambacher Fests von 1832 Siebenpfeiffer eine Zukunft, wo das deutsche Weib, nicht mehr die dienstpflichtige Magd des herrschenden Mannes, sondern die freie Genossin des freien Bürgers, unsern Söhnen und Töchtern schon als stammelnden Säuglingen die Freiheit einflößt.332

Oder man denke an den Roman „Wally, die Zweiflerin“ von Karl Gutzkow (1835), in dem bereits eine Frau im Mittelpunkt steht, die sich im Denken wie Handeln weit jenseits aller Konventionen bewegt – allerdings dann doch letztlich scheitert (Teil 2, 3.6). In den Revolutionen 1848/49 spielten einzelne Frauen sogar eine äußerst aktive Rolle, so die Ehefrau des badischen Revolutionärs Gustav Struve, Amalie Düsar (1824–62), oder Emma Herwegh (1817–1904), die sich in der „Deutschen Demokratischen Legion“ ihres Mannes Georg Herwegh hervortat, indem sie unter großem persönlichen Risiko die Vereinigung mit dem sogenannten Heckerzug vorbereitete (Teil 2, 4.3). Seit 1848 war auch die Gräfin Sophie von Hatzfeldt politisch aktiv. Ferdinand Lassalle hatte als Anwalt ihre von der Familie heftig bekämpfte Scheidung unterstützt, sie wurde dann für mehrere Jahre seine Lebensgefährtin und wurde gleichsam auch seine Nachlassverwalterin (Teil 2, 7.3). An dieser Stelle soll auch eine äußerst aktive Sozialdemokratin erwähnt sein, ohne die einige Jahrzehnte später unter der Sozialistenverfolgung das politische Wirken ihres Mannes und seiner Partei zusätzlich beeinträchtigt gewesen wäre: Julie Bebel (1843–1910), Ehefrau von August Bebel. Während ihr Mann in Haft war, führte sie nicht nur seinen Drechslerbetrieb weiter, sondern organisierte auch Solidaritätsversammlungen sowie Unterstützungsaktionen für Parteigenossen, die in Not geraten waren, und sie verwaltete zeitweilig sogar die Parteigelder. Schaut man auf das Ende des 18. und den Beginn des 19. Jahrhunderts, stößt man auf eine Reihe von Frauen, die es sich auf Grund ihrer sozialen Stellung leisten konnten, in der sonst dominierenden Männerwelt eigene Positionen zu vertreten. Wichtig wurden dabei die zahlreichen „Salons“, die nach französischem Vorbild gegründet worden waren. In diesen Zirkeln wurde keineswegs 332 Wirth (1832): 38.

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nur Schöngeistiges verhandelt. So vertrat etwa die Jüdin Rahel Varnhagen (1771–1833), Mittelpunkt eines der attraktivsten Berliner Salons, mit Entschiedenheit die jüdische Emanzipation.333 „Emanzipation“ als Befreiung von rechtlichen Beschränkungen wurde mehr und mehr zum Schlüsselbegriff einer Befreiung auch der Frauen von sozialen und politischen Diskriminierungen. Caroline Schlegel (1763–1809) spielte in ihrer Ehe mit August Wilhelm Schlegel eine wichtige Rolle im Jenaer Romantikerkreis. Doch hatte sie bereits eine durchaus revolutionäre Vergangenheit hinter sich. 1792/93 hatte sie (als verwitwete Böhmer) in Mainz engen Kontakt zu den dortigen Jakobinern und war 1793 durch ihre Freundschaft mit Georg Forster an der Ausrufung der Mainzer Republik beteiligt. Nach deren gewaltsamer Auflösung verließ sie Mainz, wurde aber verhaftet und mehrere Monate eingekerkert. Nach ihrer Freilassung war sie als „Democratin“ gesellschaftlich zunächst geächtet. Sie zählte zu den fünf sogenannten Universitätsmamsellen, die als Töchter von Göttinger Professoren untereinander lebenslangen Kontakt hielten. Wie Caroline hatten auch zwei weitere der Fünfergruppe eine persönliche Bindung an führende Mainzer Jakobiner.334

8.1  Forderungen in Aufklärung und Französischer Revolution „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“

Den bis heute keineswegs eingelösten Anspruch von Frauen, den Männern wirklich gleichgestellt zu werden, hatten aber bereits 1790/91 zwei französische Revolutionäre öffentlich angemeldet: der Mathematiker und Aufklärungsphilosoph Caritat de Condorcet (1743–94) und die Schriftstellerin Olympe de Gouges (eigentlich Marie Gouze, 1748–93).335 Sie gaben sich nicht damit zufrieden, dass die Doppelbedeutung von französ. „homme“ (Mensch/Mann) in 333 Dazu u.a.: von der Heyden-Rynsch, Verena (1992): Europäische Salons. Höhepunkte einer ver-

sunkenen weiblichen Kultur. München; Wilhelmy-Dollinger, Petra (2000): Die Berliner Salons. Berlin. 334 Kleßmann, Eckart (2008): Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik. Frankfurt a. M. 335 Zu Condorcet u.a.: Lüchinger, Stephan (2002): Das politische Denken von Condorcet (1743– 1794). Bern. – Zu de Gouges: Bouquet, José-Louis (2013): „Die Frau ist frei geboren“ – Olympe de Gouges. Bielefeld; Burmeister, Karl Heinz (1999): Olympe de Gouges: die Rechte der Frau 1791. Bern/Wien.

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der „Déclaration des droits des hommes“ von 1789 von ihren Mitrevolutionären de facto ausschließlich auf die Bedeutung „Mann“ eingeschränkt wurde (dasselbe galt ja bereits für den amerikanischen Umgang mit der Menschenrechtserklärung von 1776: „all men are created equal“). Selbst im Gebrauch des deutschen Terminus „Menschen-rechte“, der anders als das Englische und Französische eigentlich keine misszuverstehende Doppeldeutigkeit aufweist, verfestigte sich eine semantische Verkürzung im Sinne von „Mensch = Mann“, was in Deutschland bis 1918 im Politischen wie Sozialen den Männern das alleinige Sagen garantierte. Im Kern war es also, gerade für das Französische, ein sprachkritischer Akt, mit dem die „Menschen-rechte“ nicht mehr nur für die männliche Hälfte der Menschheit eingefordert wurde. Condorcet hatte 1790 einen Essay veröffentlicht, in dem er für die Frauen das Wahlrecht verlangte. 1791 folgte ihm de Gouges mit einem noch grundsätzlicheren Manifest: der „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“ („Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“). Darin konterkarierte sie in einer Reihe von Artikeln die offizielle „Déclaration des droits des hommes“ von 1789, so bereits in Artikel 1: 1789 hieß es: „Die Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ 1791 bei de Gouges: „Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann an Rechten gleich. Soziale Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“

Überdeutlich wird de Gouges mit einer Erweiterung von Artikel 10: „Niemand darf wegen seiner Meinung verfolgt werden.“ – soweit der gemeinsame Text. Darauf aber folgt bei de Gouges: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Rednerbühne zu besteigen.“ Das Schicksal wollte es, dass de Gouges nicht nur die Rednerbühne besteigen konnte, sondern auch das Schafott erleiden musste. Am 3. November 1793 wurde sie in Paris wegen ihrer Gegnerschaft gegen Robespierre und seine Jakobiner durch die Guillotine hingerichtet. In der Präambel ihrer „Déclaration“ aber hatte sie nichts weniger als eine Richtungsänderung der Revolution verlangt, als sie darin forderte: „Die Mütter, Töchter, Schwestern, Repräsentantinnen der Nation, verlangen als Nationalversammlung eingesetzt zu werden.“ Und die darauf folgenden Rechte der Frau und Bürgerin wurden als Anspruch des „an Schönheit wie auch an Mut in mütterlichen Schmerzen überlegenen Geschlechts“ deklariert. Im deutschsprachigen Raum ging in der Werbung für die Gleichstellung der Frau ebenfalls zunächst ein Mann voraus: der Politiker und Schriftsteller Theo-

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dor Gottlieb von Hippel d. Ä. (1741–96). Als oberster Repräsentant der Stadt Königsberg war er ständiger Gast der Gesprächskreise von Immanuel Kant. 1792, ein Jahr nach de Gouges‘ „Déclaration“, veröffentlichte Hippel seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“336. Anders als bei de Gouges handelt es sich dabei nicht um ein politisches Manifest, sondern um eine im Stil sogar amüsante, in der Sache aber kompromisslose Abhandlung über die Benachteiligung der Frau in Geschichte und Gegenwart durch männliche Anmaßung. Für Hippel steht nicht nur fest, dass „die Weiber mit den Männern zu gleichen Rechten berufen“ seien337 und dass es „das künstlichste Spinnengewebe von Gründen [ist], wodurch wir das weibliche Geschlecht zu einer ewigen Vormundschaft verurtheilen“.338 Vielmehr gesteht auch er der Frau eine grundsätzliche Überlegenheit über den Mann zu und glaubt, dass sich die Männer durch ihre Diskriminierung der Frauen nur selbst schaden.

8.2  Der Beginn der bürgerlichen Frauenbewegung „Dem Reich der Freiheit werb´ ich Bürgerinnen“

Noch im Vormärz und erst recht im Rahmen der „Märzrevolution“ trat eine sozialkritische Schriftstellerin und Publizistin mit deutlichen Forderungen zur Frauenemanzipation in Deutschland auf: Louise Otto (1819–95), nach ihrer Heirat mit dem Schriftsteller August Peters, den sie während dessen Kerkerhaft wegen seiner Beteiligung an den Revolutionskämpfen in Sachsen und Baden kennengelernt hatte: Louise Peters bzw. Otto-Peters. Schon 1843 hatte sie öffentlich geäußert: „Die Theilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.“339 Obwohl selbst bürgerlicher Herkunft galt ihr Hauptaugenmerk bereits vor 1848 den bedrückenden Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, insbesondere der arbeitenden Frauen. Die Erfahrungen mit der weitgehenden Missachtung der Frau seitens der Märzrevolutionäre aber machte sie endgültig zur Kämpferin für die Rechte der Frau schlechthin.

336 Digital.

in: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/hippel_weiber_1792, letzter Zugriff: 1.10.2015). 337 Ebda.: 75. 338 Ebda.: 106. 339 Zit. nach: Helwig (1997): 6.

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Deutlichster Ausdruck dieses Engagements war ihre Gründung der „FrauenZeitung“, die vom 21. April 1849 an in Leipzig erschien, bis dieses Wochenblatt Ende 1850 von den sächsischen Behörden verboten wurde; die Fortsetzung des Blattes in Gera wurde 1852 durch ein preußisches Pressegesetz beendet. Motto der Zeitung war „Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen“, wozu OttoPeters im programmatischen Leitartikel in Nr. 1340 unter anderem ausführte: Mitten in den großen Umwälzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen! Wohlauf denn, meine Schwestern, vereinigt Euch mit mir, damit wir nicht zurückbleiben, wo alles um uns und neben uns vorwärts drängt und kämpft. Wir wollen auch unser Theil fordern und verdienen an der großen Welt-Erlösung, welche der ganzen Menschheit, deren eine Hälfte wir sind, endlich werden muß. Wir wollen unser Theil fordern: das Recht, das Rein-Menschliche in uns in freier Entwicklung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat.

1865 organisierte Otto-Peters in Leipzig eine erste deutsche Frauenkonferenz und war im selben Jahr an der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ (ADF) maßgeblich beteiligt. Sie wurde auch dessen erste Vorsitzende. Paragraph 1 der Satzung des ADF lautete: Der Allgemeine deutsche Frauenverein hat die Aufgabe, für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken.341

Die Forderung nach „erhöhter Bildung“ hört sich zunächst weniger revolutionär an, hatte aber – wie in den frühen Arbeiterbildungsvereinen – ihre besondere Bedeutung im Kampf gegen die bestehenden Bildungsbarrieren, die einer Gleichstellung im Wege standen. Schon Fichte hatte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ von 1808/09 in seiner 10. Rede zur Nationalerziehung erklärt:

340 Quelle: Twellmann, Margrit (1972): Die Deutsche Frauenbewegung im Spiegel repräsentativer

Frauenzeitschriften. Ihre Anfänge und erste Entwicklung. Quellen 1843–1889. Meisenheim am Glan: 34 f. 341 Zit. nach: Beuys, Barbara (2014): Die neuen Frauen. In: Kulturkalender des Bayerischen Rundfunks (BR 2). 14.2.2014.

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Es versteht sich ohne unser besonderes Bemerken, daß beiden Geschlechtern diese Erziehung zu Theil werden müsse. Eine Absonderung dieser Geschlechter in besondere Anstalten für Knaben und Mädchen, würde zweckwidrig seyn.

1866 widmete sich Louise Otto-Peters in ihrer Schrift „Das Recht der Frauen auf Erwerb“ einem gleichwichtigen Hindernis auf dem Weg zur sozialen Gleichstellung der Frau. In diesem Punkt traf sich – zumindest prinzipiell – die überwiegend bürgerliche Frauenbewegung mit Forderungen einer konkurrierenden, „proletarischen“ Richtung, die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen war.

8.3  Proletarische Frauenbewegung und Pazifismus „Die Frau und der Arbeiter – seit uralter Zeit die Unterdrückten“

Es war August Bebel, der in seiner Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ von 1879 den Zusammenhang von ökonomischer Abhängigkeit der Frau und ihrer sozialen und politischen Unfreiheit thematisierte. Diese Schrift konnte zunächst nur in der Schweiz veröffentlicht werden, wurde in Deutschland aber schon in großer Zahl illegal verbreitet.342 Bebel nennt in einem später hinzugefügten Vorwort als Ziel seiner Darlegungen nicht nur die „Bekämpfung der Vorurteile, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen“, sondern auch „die Propaganda für die sozialistischen Ideen, deren Verwirklichung allein der Frau ihre soziale Befreiung verbürge“. Tatsächlich lässt er die Weltgeschichte, buchstäblich bei Adam und Eva anfangend, Revue passieren, um nachzuweisen, wie systematisch männliche Vorurteile mitsamt einer repressiven Sexualmoral eine Gleichstellung der Frau verhindert und bei den Frauen ein Bewusstsein „naturgegebener“ Zweitrangigkeit geschaffen haben; dabei sieht er – auf Darwins Theorie verweisend – sogar Folgen einer quasi-biologischen Anpassung an solche sozialen Umweltbedingungen. Aber er zieht auch einen Vergleich, der für ihn die Brücke von der „Frauenfrage“ zur Situation der Arbeiterschaft herstellt: Die Frau und der Arbeiter haben beide das gemein, dass sie seit uralter Zeit die Unterdrückten sind, dass trotz aller Aenderung in den Formen der Unterdrückung die Unterdrückung selbst stets vorhanden war und geblieben ist; dass Frau wie Arbeiter im langen Laufe der Geschichte nur selten zum klaren Bewusstsein ihrer Knechtschaftsstellung 342 1910 erfuhr die Schrift bereits die 50. Auflage.

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kamen, und zwar die Frau noch weit weniger als der Arbeiter, weil sie im Ganzen noch weit tiefer stand als dieser und von ihm selbst als inferior (unterbürtig) angesehen und behandelt wurde und wird.343

Und wie nur sozialistisch gestaltete gesellschaftliche Bedingungen die Arbeiter von ihrer Unterdrückung befreien könnten, so sei auch die Befreiung der Frauen nur durch den Sozialismus möglich. Die „Frauenfrage“ sei nur „eine Seite der allgemeinen sozialen Frage“, weswegen die Frauen gemeinsam mit dem Proletariat für ihre Rechte kämpfen müssten. Hierbei entwickelt Bebel nun seine konkreteren Vorstellungen von einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Darin kommt der Erwerbstätigkeit der Frau als Grundlage ihrer Unabhängigkeit vom Mann eine wichtige Rolle zu. Öffentliche Einrichtungen sollten sie von häuslichen Pflichten entlasten, damit sie am gesellschaftlichen und politischen Leben aktiv teilnehmen könne. Und geradezu selbstverständlich wiederholt Bebel seine Forderung nach einem sowohl aktiven wie passiven Wahlrecht der Frau. Auf dieser marxistisch orientierten Linie kämpfte auch die Sozialistin Clara Zetkin (1857–1933344) für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau, weil ohne sie die Frauen zu „politischer und sozialer Sklaverei“ verdammt blieben, wobei es in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (der späteren SPD), der Zetkin 1878 beigetreten war, immer noch starke männliche Widerstände zu überwinden galt. Die vergleichbaren Forderungen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Frau, aber auch die Forderung eines Frauenwahlrechts kritisierte Zetkin, weil in ihnen der ihrer Meinung nach fundamentale Klassengegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern übersehen werde, der solchen Forderungen erst den richtigen Rahmen biete. In einer Rede am 19. Juli 1889345 argumentierte sie entsprechend auch gegen „reaktionäre“ Forderungen nach Abschaffung der Frauenarbeit überhaupt. Dabei führte sie unter anderem aus:

343 Bebel (1879): 4. 344 Eigentlicher Name: Eißner; den Namen Zetkin übernahm sie von ihrem Lebenspartner Ossip

Zetkin, einem russischen Revolutionär; u.a.: Hervé, Florence (Hrsg.) (2007): Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist. Berlin. 345 Zetkin, Clara (1957): Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 1. Berlin: 3 ff.

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Das kapitalistische System allein ist die Ursache, daß die Frauenarbeit die ihrer natürlichen Tendenz gerade entgegengesetzten Resultate hat; […]; daß sie nicht gleichbedeutend ist mit einer Vermehrung der Reichtümer der Gesellschaft, das heißt mit einem größeren Wohlstand jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft, sondern nur mit einer Erhöhung des Profites einer Handvoll Kapitalisten und zugleich mit einer immer größeren Massenverarmung. Die unheilvollen Folgen der Frauenarbeit, die sich heute so schmerzlich bemerkbar machen, werden erst mit dem kapitalistischen Produktionssystem verschwinden.

Mit einer solchen Argumentation erwies sich Zetkin ein übers andere Mal als Vertreterin des orthodoxen Marxismus, den sie auch in den parteiinternen Auseinandersetzungen, insbesondere im „Revisionismusstreit“ der SPD am Ende des Jahrhunderts, konsequent vertrat, darin unter anderem von ihrer Mitstreiterin und Freundin Rosa Luxemburg (1871–1919) unterstützt, die allerdings stets um eine differenzierte Auslegung der Marx’schen Theorie bemüht war. Die oben zitierte Rede hielt Zetkin in Paris auf dem „Internationalen Arbeiterkongreß“, der unter ihrer Mitwirkung zur Gründung der Zweiten Internationale führte. 1892 gründete sie die sozialdemokratische Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“. 1907 wurde sie auf der ersten „Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen“ in Stuttgart zur Vorsitzenden des Internationalen Frauensekretariats gewählt. Auf ihren Vorschlag von 1910 hin wurde der später in allen sozialistischen und kommunistischen Ländern, so auch in der DDR, jährlich gefeierte „Internationale Frauentag“ eingeführt.346 Als der Erste Weltkrieg ausbricht, bleibt sie zusammen mit Rosa Luxemburg eine konsequente Friedensaktivistin, die heftig gegen die Zustimmung der SPD zum „Burgfrieden“ opponiert. Sie nimmt während des Krieges wegen ihrer Haltung auch Gefängnis auf sich. Rosa Luxemburg wird schließlich zusammen mit Karl Liebknecht 1919 von Angehörigen eines Freicorps in Berlin ermordet. Eine pazifistische Geistesverwandte hatten Zetkin und Luxemburg in der österreichischen Schriftstellerin und Publizistin Bertha von Suttner (1843– 1914), die mit ihrem aufrüttelnden Roman „Die Waffen nieder!“ von 1898 einen internationalen Erfolg erzielte, 1905 sogar als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt, die aber letztlich gegen den ausufernden Militarismus ihrer Zeit ebenfalls machtlos blieb. Wie man in der Frauenbewegung mit Suttners Friedensidee auch umgehen konnte, zeigte eine Stellungnahme der einflussreichen Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Lily Braun (1865–1916), die sich grundsätzlich durch ihre 346 Die alte Bundesrepublik überging diesen Tag aus politisch-ideologischen Gründen geflissentlich.

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Bemühungen um einen Ausgleich zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung ausgezeichnet hatte. In einer Broschüre von 1915 mit dem Titel „Die Frauen und der Krieg“ von 1915347 unterwarf sie indes die „Frauenfrage“ ganz der Werbung für eine positive Haltung der Frauen zum Krieg. Darin heißt es unter anderem „Der Krieg ist nicht der Totengräber des Friedengedankens, sondern der Geist der Auferstehung, der an seine Grabkammer pocht.“348 Gegen Ende ihres Texts wirbt Braun für „den starken, bewussten Willen zur Mutterschaft“ mit folgenden Worten: Für jede Hand, die sich jetzt sterbend um die Waffe klammert, schafft andere Hände – viele kleine Kinderhände, die sich sehnend der Sonne entgegenstrecken, die den Tempel des Friedens bauen werden […]. Und für alle Hirne, die die Kugeln durchbohren, schafft andere Hirne, viele kleine Kinderhirne, die den großen Gedanken von der Befreiung der Menschheit aus den Banden aller Knechtschaft einmal zu Ende denken.349

Von derlei Gedankengängen waren die Pazifisten in der SPD freilich weit entfernt. Zetkin etwa beteiligte sich schließlich zusammen mit Hugo Haase an der Gründung der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD), die den zum Patriotismus gewendeten Kurs der SPD nicht mehr mittragen wollte. Ab 1916 bereitete sie außerdem die Gründung des „Spartakusbundes“ mit vor. Als dieser 1919 in der KPD aufgeht, wird sie Mitglied dieser Partei, für die sie 1920–33 sogar ein Reichstagsmandat wahrnimmt.

8.4  „Emanzipation“ als fortwährende Zukunftsperspektive

Die feministische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter ist letztlich eine Spezifikation bzw. eine – sozial gesehen – „mildere“ Variante der Urleitbilder von Freiheit und Gleichheit der Menschen, die in der Agitation der Freiheitsbewegung im Wesentlichen auf die Abschaffung der Standesunterschiede konzentriert blieb. „Gleichberechtigung“ ist zweifellos eins der überzeugendsten sprachlichen Symbole, die der Realität weit vorausliefen und immer noch vorauslaufen, da sich gerade in diesem Punkt bis heute, selbst in Mitteleuropa, faktisch nur wenig verändert hat. Diese sprachliche Vorwegnahme ist also geradezu 347 Digital. in: www.digitalis.uni-koeln.de/braun_index/html, letzter Zugriff: 20.10.2015. 348 Ebda.: S. 43. 349 Ebda.: S. 53.

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Programmformel geblieben. Verräterisch für das immer noch nur halbherzige Eingehen auf dieses Programm ist die Einführung von „Frauenquoten“ in Parteien, Verbänden und Chefetagen – Quoten, die jeweils weit unterhalb des tatsächlichen Anteils von Frauen in der Gesellschaft liegen, von der Benachteiligung der Frauen durch Lohndifferenzen bei vergleichbarer Arbeit in Höhe von über zwanzig Prozent ganz zu schweigen.

9  Spaltungen des politischen Liberalismus ab 1861 9.1  Positionierungen zwischen preußisch und großdeutsch 229 |  9.2  Die Nationalliberalen und „die Zeichen der Zeit“ 231 |  9.3  Flügelschläge zwischen links und rechts 232 |  9.4  Das Leitbild „Freiheit“ und der Verlust von Konturen 234

Während die Arbeiterbewegung an diejenige Richtung der ursprünglich gemeinsamen liberalen Opposition gegen Monarchie, Feudalismus und klerikale Macht anknüpfte, die sich dezidiert „demokratisch“ nannte und zu Gunsten einer Republik eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zumindest nicht ausschloss, hielten die Liberalen an ihrer Überzeugung fest, dass sich die großen Ziele „Freiheit“ und „nationale Einheit“ auf einem nichtrevolutionären Weg, über die konstruktive Mitwirkung an Reformen der vorhandenen politischen Strukturen, erreichen ließen. In diesem Sinne hatte die liberale Mehrheit in der Frankfurter Nationalversammlung sogar die Beibehaltung der Monarchie bevorzugt, deren Macht aber durch ein starkes Parlament gezügelt werden sollte.

9.1  Positionierungen zwischen preußisch und großdeutsch Erwartungen an eine „feste Einigung Deutschlands“

Bereits 1861 förderte eine neue Fraktionsbildung im preußischen Abgeordnetenhaus einen festeren politischen Zusammenschluss von Liberalen unter Einschluss von Demokraten, wie er auch von dem „Deutschen Nationalverein“, einer außerparlamentarischen Vereinigung, die in den Jahren 1859–67 bestand, befürwortet worden war. Ziel war eine nationale Partei, die eine deutsche Einigung unter preußischer Führung anstrebte. Am 6. Juni 1861 wurde die „Deutsche Fortschrittspartei“ gegründet, die als erste deutsche Programmpartei gilt. In ihrem Gründungsdokument heißt es – nach einem Treuebekenntnis zum preußischen König:

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Bei den großen und tiefgreifenden Umwälzungen in dem Staatensysteme Europas haben wir aber nicht minder die klare Einsicht gewonnen, daß die Existenz und die Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutschlands, die ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preußens und ohne gemeinsame deutsche Volksvertretung nicht gedacht werden kann.350

Während sich die Liberalen in der Paulskirche Preußen noch als Garanten für die Sicherheit von ganz Deutschland wünschten, drehen die Berliner Liberalen den Spieß gleichsam um: Im Vordergrund steht nun Preußens Größe, und ein vereintes Deutschland soll deren Hüter sein – eine geradezu atemberaubende Uminterpretation des Leitbilds „nationale Einheit“. Bei aller Königstreue ist aber, allemal in der Folgezeit, die Politik dieser Partei im Wesentlichen als linksliberal einzustufen. Prominente Vertreter waren unter anderem der Historiker Theodor Mommsen, Hermann Schulze-Delitzsch, der politische Kontrahent Lassalles, der Industrielle Werner Siemens und der Mediziner Rudolf Virchow. Der Zuzug von Mitgliedern aus Schwesterparteien, die sich sehr bald auch in anderen Bundesstaaten gebildet hatten, machte es der Fortschrittspartei möglich, über Preußen hinaus in die Parlamente des Norddeutschen Bundes und ab 1871 des Deutschen Reiches einzuziehen, wo sie sich ebenfalls für die Einheit Deutschlands mit preußischer Zentralgewalt, zugleich aber auch für eine starke Kontrolle der Regierung durch eine Volksvertretung einsetzte. 1859 war es in Preußen zu einem Verfassungskonflikt um eine Heeresreform und ihre Finanzierung gekommen, für die das Parlament auf sein Budgetrecht pochte. Auch die preußische Fortschritts-Fraktion schloss sich nach ihrer Gründung der heftigen Opposition gegen das eigenmächtige Vorgehen der Regierung an und geriet damit in Konflikt insbesondere mit Otto von Bismarck, der 1862 preußischer Ministerpräsident wurde. Bismarck regierte schließlich bis 1866 ohne ein vom Parlament gebilligtes Budget, was ihm als Verfassungsbruch vorgeworfen wurde. 1866, nach den militärischen Erfolgen im Deutschen Krieg, versuchte er, den Verfassungskonflikt durch eine „Indemnitätsvorlage“ zu heilen, das einerseits sein Handeln nachträglich für rechtmäßig erklärte und ihm Straffreiheit („Indemnität“) zusicherte, andererseits aber dem Parlament sein Budget­ recht zugestand. Die Vorlage wurde mit großer Mehrheit angenommen, doch darüber zerbrach die Einheit der Fortschrittspartei, die das Gesetz mehrheitlich abgelehnt hatte, während ein Teil der Partei Bismarcks politischer Linie folgen wollte. Im 350 Treue (1968): 62.

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Gefolge der internen Auseinandersetzungen spalteten sich die Bismarck-Sympathisanten ab und gründeten im November 1866 eine eigene Fraktion, am 12. Juni 1867 schließlich die „Nationalliberale Partei“, zu deren prominenten Mitgliedern unter anderem Ernst Bassermann351, Rudolf von Bennigsen, Johannes von Miquel und Friedrich Oetker zählten. Das aber war nur der Anfang einer Geschichte zahlreicher Spaltungen der Liberalen. Denn auch ein Teil des linken Flügels der Fortschrittspartei ging eigene Wege: in der 1868 gegründeten „Deutschen Volkspartei“.352 Schon die Betonung von „Volk“ im Parteinamen bei gleichzeitigem Verzicht auf das Attribut „liberal“ konnte signalisieren, dass diese Partei gewillt war, gegen alle Kompromisse der übrigen Liberalen mit den politischen Gegebenheiten die spätestens 1848 erfolgte Abgrenzung von „demokratisch“ gegen „liberal“ wieder ins Bewusstsein zu bringen. Zu dieser Position passte, dass diese Partei an einer großdeutschen Lösung für Deutschlands Einheit festhielt.

9.2  Die Nationalliberalen und „die Zeichen der Zeit“ „Die Endziele des Liberalismus sind beständige“

Das ausführliche Gründungsdokument der Nationalliberalen353 erklärte zwar ausdrücklich, dass man „nicht gesonnen [sei], anderen Fraktionen der liberalen Partei feindselig entgegenzutreten, denn wir fühlen uns eins mit ihnen im Dienste der Freiheit.“ Aber so hieß es schließlich: Die Endziele des Liberalismus sind beständige, aber seine Forderungen und Wege sind nicht abgeschlossen vom Leben und erschöpfen sich nicht in festen Formeln. Sein innerstes Wesen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu beachten und ihre Ansprüche zu befriedigen. Die Gegenwart spricht deutlich, daß in unserem Vaterlande jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf dem Gebiete der Freiheit ist oder den Antrieb hierzu in sich trägt.

351 Nicht

zu verwechseln mit dem Liberalen der Paulskirchenbewegung Friedrich Daniel Bassermann 352 Nicht identisch mit der gleichnamigen Partei der Weimarer Zeit. 353 U.a. in: Salomon, Felix (Hrsg.) (41932): Die deutschen Parteiprogramme. H. 1. Leipzig/Berlin: 155–159.

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Hier kommt einerseits die grundsätzlich „evolutionäre“, antirevolutionäre Grundhaltung des politischen Liberalismus im 19. Jahrhunderts, die man nach wie vor mit der „Mutterpartei“ teilt, zum Ausdruck: Über eine verfassungsmäßige politische Einheit will man der „Freiheit“ immer näher kommen. Aber man will die „Zeichen der Zeit“, d.h. die Bedingungen, die die preußische Politik geschaffen hat und noch schaffen will, nutzen, um die liberalen „Endziele“ zu erreichen. Nicht zu übersehen ist, dass diese Richtung der Liberalen bereits im Parteinamen ihren Frieden mit der Verkürzung des National-Gedankens auf die kleindeutsche Lösung gemacht hatte. Der Fortschrittspartei wurde dabei – zumindest indirekt – vorgeworfen, dass sie „in festen Formeln“ verharre, was auch deren mehr oder weniger linke Opposition gegen den preußischen Kurs meinte. Tatsächlich kooperierten die Linksliberalen, erst recht in der Abspaltung als „Demokratische Volkspartei“, gelegentlich auch mit der sehr viel entschiedeneren Opposition der Sozialdemokraten. Bismarck wiederum spielte die internen Differenzen der Liberalen immer wieder einmal zu seinen Gunsten taktisch gegeneinander aus. Mit der Reichsgründung und Reichsverfassung von 1871 sahen nicht nur die Nationalliberalen, sondern auch die Fortschrittspartei ihre verfassungspolitischen Ziele erreicht. Während die Fortschrittspartei aber weiterhin für liberaldemokratische Forderungen – so für eine Stärkung des Reichstags, die Durchsetzung rechtsstaatlicher Regelungen und eine sozialliberale Wirtschaftspolitik – eintrat, entwickelte sich die Nationalliberale Partei im Parlament immer mehr zum verlängerten Arm der Bismarck’schen Politik. Für diese Kooperation war äußerst günstig, dass die Nationalliberalen 1871–84 die stärkste Reichstagsfraktion bildeten. Sie unterstützten unter anderem Bismarcks Politik gegen die katholische Kirche im sogenannten Kulturkampf und sein „Sozialistengesetz“ gegen die Sozialdemokratie. Dabei betrieben sie zugleich eine problematische Lobbyarbeit für Interessenverbände, nicht zuletzt der Industrie, und näherten sich ideologisch mehr und mehr dem Antisemitismus der „Deutschkonservativen“, aber auch den Zielen des „Alldeutschen Verbandes“ an, der eine völkisch-imperialistische Position vertrat.

9.3  Flügelschläge zwischen links und rechts „liberal“ – „freisinnig“ – „deutschnational“

Auch die Nationalliberalen blieben indes nicht von Abspaltungen verschont; das Spektrum der in dieser Partei vertretenen Meinungen und Interessen war für den Zusammenhalt schlicht zu groß. 1880 verließen Mitglieder des rechten Flügels die

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Partei und kooperierten noch enger mit den Konservativen. Kurz darauf kehrten Vertreter der Mitte und des linken Flügels – in der sogenannten Sezession – der Partei den Rücken und bildeten eine neue Partei, die „Liberale Vereinigung“, die sich 1884 mit der Fortschrittspartei unter dem neuen gemeinsamen Namen „Deutsche Freisinnige Partei“ vereinen sollte. Motiviert war diese Fusion nicht zuletzt durch die Hoffnung, Kaiser Wilhelm I. werde mit dem Kronprinzen Friedrich bald einen liberaleren Nachfolger haben, unter dessen Regierung man eine starke, regierungsbereite Reichstagsfraktion präsentieren wollte. Diese Hoffnung war nicht nur verfrüht, sondern auch wenig begründet: Der Kronprinz konnte als Kaiser Friedrich III. erst 1888 – als bereits todkranker Mann – den Thron besteigen und starb schon nach nur gut drei Monaten (als „99-Tage-Kaiser“); auch wäre Friedrich – wie man inzwischen weiß – gar nicht so liberal gewesen wie erhofft und in nachträglicher Verklärung dargestellt. In kurzer Folge kamen der Freisinnigen Partei jedenfalls die für eine führende Rolle erhoffte Identifikationsfigur und mit Bismarcks Rücktritt 1890 auch das gemeinsame Feindbild abhanden. Aber auch in der Freisinnigen Partei war grundsätzlich keine inhaltliche Einheit zu erzielen. Auch hier bildeten sich zwei verschiedene politische Flügel, die sich 1893 sogar organisatorisch teilten: in die „Freisinnige Volkspartei“ und in die „Freisinnige Vereinigung“. 1910 schlossen sich diese beiden Parteien dann doch wieder zusammen. Gemeinsam mit der Deutschen Volkspartei, jener frühen Abspaltung von der Fortschrittspartei, fusionierte man mit weiterhin linksliberaler Orientierung zur „Fortschrittlichen Volkspartei“, die 1912 in der letzten Reichstagwahl vor dem Ersten Weltkrieg allerdings nur 42 Mandate erringen konnte, zwei weniger als die Nationalliberalen (44), die aber auch hinter den Deutschkonservativen (45) rangierten, weit überflügelt vom Zentrum mit 90 Mandaten und noch weiter von der SPD mit 110 Abgeordneten. 1918/19 ging die Fortschrittliche Volkspartei des Kaiserreichs in der „Deutschen Demokratischen Partei“ auf, mit einem bedingungslosen Ja zur Weimarer Republik. Dieser Partei schloss sich auch der linke Flügel der Nationalliberalen an. Die Partei wurde von so prominenten Namen wie Friedrich Naumann, Max Weber, Alfred Weber und Theodor Wolff geprägt. Ein Teil des rechten Flügels trat dagegen der „Deutschnationalen Volkspartei“ bei, die über 1933 hinaus mit der NSDAP kooperierte. Die Mehrheit des rechten Flügels aber begründete eine neue Partei, wobei sie den 1910 untergegangenen alten Namen „Deutsche Volkspartei“ übernahm. Den Vorsitz hatte Gustav Stresemann (1878–1929), der in der Weimarer Republik Ministerpräsident und Außenminister werden konnte.

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Es würde hier zu weit führen, die Positionen der verschiedenen liberalen Parteien und ihrer Flügel nach 1861 zu jeweils aktuellen Themen der Reichspolitik, nicht zuletzt zur heftig umstrittenen Frage der Einführung von Schutzzöllen, im Einzelnen nachzuvollziehen. Ihre Haltung zu den bedeutenden Themen des „Kulturkampfes“ und des „Sozialistengesetzes“ ist noch bzw. war bereits an anderer Stelle zu besprechen (Teil 2, 12.1 bzw. 7.6). In unserem Zusammenhang wichtiger erscheint die Feststellung, dass bei den Liberalen gleich welcher Prägung die großen, aber noch sehr allgemeinen Leitbilder der ersten Jahrhunderthälfte mit ihren Zielbegriffen „Freiheit“ und „nationale Einheit“ in der Konfrontation mit den Realitäten der entstehenden kleindeutschen Reichseinheit eine ganze Weile ihre handlungsleitende Macht verloren und in gewisser Weise nur ein Eigenleben als ideologisches Etikett verschiedener, nicht selten gegensätzlicher Einzelpositionen weiter führten. Bezeichnend dafür ist die pauschale Behauptung im Gründungsdokument der Nationalliberalen: „Die Endziele des Liberalismus sind beständige“. Das „Aber“ folgte in diesem Dokument auf dem Fuße: Die „Zeichen der Zeit und ihre Ansprüche“ zu beachten sei wichtiger als „feste Formeln“.

9.4  Das Leitbild „Freiheit“ und der Verlust von Konturen

Letztlich „rächte“ sich darin, dass die Liberalen insgesamt außer sehr grundsätzlichen Visionen immer nur auf sehr konkrete „Ansprüche der Zeit“ reagieren konnten – bis hin zur bedingungslosen Zustimmung zur preußischen Politik, während andere Fraktionen gegen den mit Macht vorangetriebenen preußischkleindeutschen Zuschnitt staatlicher Einheit lange Zeit tapfer Widerstand zu leisten versuchten. 1871 stimmten alle Liberalen im Reichstag der Reichsverfassung zu. Zur kleinen Minderheit der Gegner zählten die beiden Abgeordneten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei; einer davon war August Bebel. Die Spaltungen der Liberalen aber waren nicht dazu angetan, den angeblich „beständigen Endzielen“ des Liberalismus überzeugende Konturen zu verleihen. Das Leitbild „nationale Einheit“ hatte sich nach 1850 auch im allgemeinen Bewusstsein mehr und mehr auf eine staatliche Einigung unter preußischer Führung verengt und wurde zunehmend durch den Zielbegriff schon der Paulskirchenverfassung „deutsches Reich“ ersetzt, der nun gleichsam zum neuen Trägerbegriff für den alten Wunsch wurde, die Deutschen sollten eine „Nation“ sein. Ihren umfassenden Anspruch hatte das Ziel nationaler Einheit bereits durch das Scheitern der Reichsverfassung von 1849 und durch die gleichzeitige Umdeu-

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tung von „liberal“ als Gegenbegriff zu „demokratisch“ im Sinne von „republikanisch“ verloren, ganz abgesehen davon, dass die Arbeiterbewegung theoretisch wie faktisch außerhalb der ursprünglichen Vorstellung von „Einheit“ stand.

10  Der Norddeutsche Bund 1866–70 10.1  Die vorletzte Stufe preußischer Machterweiterung 235 |  10.2  Modernisierungsschübe in der Gesetzgebung 239 |  10.3  Devote Preußenhörigkeit 240

Bismarck als preußischer Ministerpräsident unternahm es, unmittelbar nach dem Sieg im Deutschen Krieg neben der durch Annexionen erzielten Erweiterung des preußischen Herrschaftsgebiets über dessen Grenzen hinaus den Anspruch Preußens, die neue Reichsmacht zu sein, weiter zu festigen. Noch vor dem Friedensschluss mit Österreich, dem Prager Frieden vom 23. August 1866, der die Habsburger als innerdeutsche Konkurrenten Preußens definitiv ausschaltete, gelang es Bismarck, siebzehn ehemalige Bundesstaaten nördlich des Mains, die auf preußischer Seite gestanden hatten, sowie Lübeck, Bremen und Hamburg zu einer staatlichen Einigung zu bewegen. Mit Rücksicht auf einzelstaatliche Vorbehalte und die im Krieg unterlegenen vier süddeutschen Staaten sollte die neue staatliche Konstruktion wieder nur ein Bundesstaat sein. Auf die Anmaßung der Erfurter Union (Teil 2, 7.1), selbst schon ein „Deutsches Reich“ zu sein, verzichtete man wohlweislich. Das föderative Prinzip führte dazu, dass die die wichtigsten staatlichen Institutionen mit dem Bestimmungswort „Bund“ versehen wurden. Die Staatenkammer etwa wurde „Bundesrat“ genannt. Bismarck selbst wurde „Bundeskanzler“; seine Ernennung stand aber in jedem Fall dem preußischen König zu.

10.1  Die vorletzte Stufe preußischer Machterweiterung „ewiger Bund“ – für maximal vier Jahre

Schon die Benennung des Parlaments des Norddeutschen Bundes als „Reichstag“ ließ aber wie seinerzeit in der Erfurter Union (Teil 2, 7.1) erkennen, dass die Beschränkung auf einen Teil Deutschlands nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer größeren Einheit sein sollte, für die dann der Titel „Reich“ endlich passen würde. Gleichwohl erklärte die im Wesentlichen von Bismarck

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konzipierte Verfassung des Norddeutschen Bundes354 in ihrem ersten Artikel, dass die im Deutschen Krieg mit Preußen alliierten norddeutschen Staaten einen „ewigen Bund“ bilden sollten. Diese Ewigkeitsperspektive galt dann tatsächlich nur bis 1870, also maximal vier Jahre. Dann wurde sie von einem um die süddeutschen Staaten erweiterten (neuen) „Deutschen Bund“ abgelöst, der im Januar 1871 geradezu nahtlos in das wilhelminische „Deutsche Reich“ überging. Verbunden mit den notwendigen Bestimmungen für die neue Bundesorganisation war die Wiederaufnahme des Grundsatzes von Erfurt, dass die politische Oberhoheit Preußen, genauer: dem König von Preußen zukomme. Artikel 11 stellte unmissverständlich klar: „Das Präsidium des Bundes steht der Krone Preußen zu.“ Hierin war man mit dem Institutionenname „Präsidium“ verbal zwar bescheidener, mit der Formulierung „steht zu“ jedoch machtbewusster als in Erfurt, wo man einen „Reichsvorstand“ ins Leben gerufen hatte, dessen Würde „mit der Krone von Preußen verbunden“ sein sollte. Die norddeutsche Verfassung enthielt – anders als die ebenfalls schon preußenorientierte Erfurter Verfassung von 1849 – keinen Grundrechtekatalog; allerdings blieben manche Grundrechte in einzelnen Gesetzen erhalten. Der Versuch, für alle Bürger des Norddeutschen Bundes die Rechte gelten zu lassen, die Preußen seinen Staatsbürgern sehr wohl zubilligte, scheiterte in den Verfassungsberatungen am 16. April 1867. Großzügigerweise sicherte Artikel 30 zumindest den Mitgliedern des Reichstags Straffreiheit zu, wenn sie sich nicht regierungskonform verhielten. Bei der Festlegung der Bundesfarben versuchte man, jede Erinnerung an die Freiheitsbewegung und die „Märzrevolution“, die in Schwarz-Rot-Gold ihren symbolischen Ausdruck gefunden hatten, auszulöschen. Eingeführt wurde nun Schwarz-Weiß-Rot, eine Kombination aus dem Schwarz-Weiß Preußens und dem Rot-Weiß mittelalterlicher Reichsbanner, wie es noch in den Freien Hansestädten Verwendung fand und findet. Diese Farbkombination blieb dem Deutschen Reich bis 1945 (zuletzt noch in den Farben der Hakenkreuzfahne) erhalten, von einem Intermezzo der Weimarer Republik abgesehen, bei dem zwar Schwarz-Rot-Gold grundsätzlich wieder eingeführt wurde, die Handelsflagge aber weiterhin Schwarz-Weiß-Rot zeigen durfte. Der konstituierende Reichstag ging im Februar 1867 aus allgemeinen und direkten Wahlen hervor – ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem in Preußen selbst seit 1849 (bis 1918) geltenden Dreiklassenwahlrecht. Dies ermöglichte auch den Einzug von Anhängern der „Deutschen Fortschrittspartei“ und sogar 354 In: Huber (1978/86) Bd. 2. Nr. 187.

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von zwei Vertretern der „Sächsischen Volkspartei“, jener demokratischen und linksliberalen Vorläuferpartei der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“355, die Bismarck misstraute und Gegner eines kleindeutschen Staates war. Stärkste Fraktion aber wurde die „Nationalliberale Partei“, jene Bismarcks Politik unterstützende Abspaltung von der „Fortschrittspartei“. Zusammen mit der „Konservativen Partei“ und den „Freikonservativen“356 bildeten die Nationalliberalen die Mehrheit im Reichstag. In der ersten regulären Reichstagswahl konnte die „Fortschrittspartei“ zwar zusätzliche Mandate gewinnen, und neben der „Sächsischen Volkspartei“, für die Wilhelm Liebknecht als dritter Abgeordneter ins Parlament einzog, kamen nun zwei weitere Arbeiterparteien in den Reichstag: der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“ (ADAV) mit zwei Mandaten und dessen zwischenzeitliche Abspaltung, der „Lasalle‘sche ADAV“, mit einem Mandat; aber diese Parteien bildeten auch in ihrer Gesamtheit nur eine verschwindend kleine Minderheit. Die geringe Anzahl von „linken“ Abgeordneten war kein Zufall: Im Reichstag des Norddeutschen Bundes galt ein Diätenverbot, das von vornherein wirtschaftlich gutgestellte Kandidaten bevorzugte. Darum traf man in diesem Parlament auf eine große Zahl von Angehörigen des Adels, Inhabern hoher Ämter und von Besitzbürgern, Gutsbesitzer wie Unternehmer, die sich die Parlamentsarbeit finanziell leisten konnten.357 Präsident wurde das Urgestein der liberalen Bewegung, allerdings nun mit eindeutiger Orientierung an einer preußischen Führungsrolle, Eduard von Simson (1810–99). Er war schon Parlamentspräsident in der Frankfurter Nationalversammlung (auch Mitglied der „Kaiserdelegation“ 1849), im „Gothaer Nachparlament“ sowie im Erfurter Unionsparlament gewesen und wird diese Funktion auch im Reichstag von 1871 übernehmen. Der Reichstag wurde am 24. Februar 1867 im Berliner Schloss in einer feierlichen Zeremonie von König Wilhelm I. eröffnet. In seiner verhältnismäßig nüchternen Begrüßungsrede sprach Wilhelm auch das Verhältnis der „nationalen Beziehungen des [Norddeutschen] Bundes zu den Süddeutschen Staaten“, also zu Bayern, Baden, Württemberg und zu dem auf seinen Südteil reduzierten Großherzogtum Hessen, an und kündigte einen vom Bundesrat bereits genehmigten Vertrag an, der den Deutschen Zollverein auf „eine neue, den Verhältnis-

355 Einer von ihnen war der Drechslermeister und Arbeiterführer August Bebel; s. auch: Teil 2, 7. 356 1871 in „Deutsche Reichspartei“ umbenannt. 357 Mitgliederverzeichnis in: Stenographische Berichte (1867): X–XXVI. – Das Diätenverbot galt

auch im Reichstag ab 1871, wurde aber 1906 aufgehoben.

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sen entsprechende Grundlage“ stellen sollte.358 In diesem Zollverein blieben die süddeutschen Staaten weiterhin Mitglied. In den Reichstagsdebatten äußerten Abgeordnete mehrfach ihr tiefes Bedauern über den Ausschluss der Süddeutschen aus dem neuen Staatsgebilde. Linksliberale Abgeordnete verbanden ihr Bedauern mit grundsätzlichen Forderungen an die neue politische Ordnung, etwa der Berliner Buchhändler und Verleger Franz Gustav Duncker in der Budgetdebatte im September 1867: Lassen Sie uns nur dahin trachten, daß dieser Norddeutsche Bund sich wirklich als nationales Gemeinwesen darstellt, daß er nach außen hin ein einheitliches, und nach innen als ein freiheitlich organisirtes Ganze dasteht; dann, meine Herren, werden Sie auch die Süddeutschen haben.359

Darauf, dass der eingeschlagene Weg zur Einheit in einem grundsätzlichen Widerspruch zum Leitbild „Freiheit“ stehen könnte, hatte bereits im März 1867 der Hamburger Reichstagsabgeordnete Dr. Anton Rée360 hingewiesen, als er feststellte, dass für ihn Freiheit das „einzige Ziel“ sei, während der Reichstag nun aber auf „etwas vorläufig Verwirrendes“ treffe, „daß zwei Zielpunkte da sind, nämlich Einheit und zweitens Freiheit“. Und er befürchtete, „daß die Annäherung an das eine Ziel die Entfernung von dem andern einschließt.“ Seine Schlussfolgerung war: „Allein durch die freiheitlichen Institutionen werden Sie nicht nur unsere Herzen gewinnen, sondern auch Süddeutschland wird dann hinzukommen.“361 Dass noch längst nicht alle Wunden des Deutschen Krieges vernarbt waren, lässt sich nicht nur an der Opposition von Abgeordneten des Zollparlaments, etwa der „Welfenpartei“ aus dem preußisch annektierten Königreich Hannover, feststellen, sondern auch an Äußerungen einzelner Reichstagsabgeordneter aus Sachsen, wenn sie ihre Herkunft aus dem „sächsischen Heimathsland“, das 1866 noch auf der Seite Österreichs gegen Preußen gekämpft hatte, demonstrativ betonten. Wie noch nach der Wiedervereinigung von 1990 fehlte es auch im Norddeutschen Bund an dem, was man die „innere Einheit“ nennen kann und 358 Ebda.: 2. – Die Organe des 1868 neu verfassten Deutschen Zollvereins wurden den legislativen

Ebenen des Norddeutschen Bundes, also als Ländervertretung und Parlament angepasst. 359 Ebda.: 122 (Kursive = Sperrungen i. Orig.). 360 Im Mitgliederverzeichnis nur als „Lehrer“ bezeichnet. Tatsächlich aber war Rée ein bedeutender

Schul- und Sozialreformer. 361 Stenographische Berichte (1867): 117 f. (Kursive = Sperrungen i. Orig.).

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schon in der Paulskirche als „innere Eintracht“ beschworen worden war. Heinrich von Gagern hatte in Frankfurt, wie bereits früher zitiert, die „Ausgleichung der gegenseitigen Stammesvorurtheile, die Vermittlung der Volksgefühle und Anschauungen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West“ als Fundament der angestrebten politischen Einheit bezeichnet. Eine solche „Ausgleichung“ war auch in den folgenden Jahren nicht ohne äußeren Druck zu erreichen.

10.2  Modernisierungsschübe in der Gesetzgebung „zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“

Die Differenzen zwischen den liberalen und konservativen Reichstagsparteien waren letztlich kein unüberwindbares Hindernis, dass sich der Reichstag in kurzer Zeit zu einer Vielzahl von Gesetzen verständigen konnte, durch die der Norddeutsche Bund und das 1871 nachfolgende Kaiserreich für viele öffentliche wie private Bereiche starke Modernisierungsschübe erfuhr. Auch der neu verfasste Zollverein konnte wichtige Beiträge zur gesamtdeutschen Wirtschaftseinheit leisten. Im Zollparlament zutage tretende Widerstände waren angesichts der schon vorhandenen engen Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd relativ leicht zu überwinden. Zu den gesetzlichen Innovationen gehörten unter anderem die Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts, die Einführung eines „Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs“, eine gemeinsame Gewerbeordnung, ein einheitliches Maßund Gewichtssystem, ein einheitliches Strafgesetzbuch und die Vereinheitlichung des Postwesens – vielfach Anregungen folgend, die schon im Deutschen Bund und/oder von der liberalen Bewegung vor 1848 sowie von der Frankfurter Nationalversammlung thematisiert, aber nicht durchgesetzt worden waren. Auch ein heißer Wunsch schon der frühen Einheitsbewegung ging mit dem „Gesetz über die Freizügigkeit“ vom 1. November 1867 in Erfüllung. Dieses Gesetz – bereits angelegt in Artikel 3 der Verfassung – bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt sowohl in privater als auch in ökonomischer Hinsicht. Man erinnere sich, dass sich die deutschen Einzelstaaten lange Zeit gegenseitig als „Ausland“ betrachtet hatten. Paragraph 12 des Gesetzes wollte auch polizeiliche Ausweisungen, das in der Vergangenheit immer wieder angewandte Repressionsmittel gegen politisch Andersdenkende, beenden. Das Sozialistengesetz von 1878 hingegen machte es dann aber möglich, dass von dieser Maßnahme in zahlreichen Fällen wieder Gebrauch gemacht wurde.

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Bedeutsam war auch das Gesetz über die Religionsfreiheit vom 3. Juli 1869362, das nur aus einem Artikel bestand, die verbreiteten realen Widerstände gegen die Judenemanzipation aber nicht beseitige konnte: Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.

Formal war damit die bis dahin schrittweise, jeweils in einzelnen Ländern eingeführte Gleichstellung von Juden abgeschlossen, was aber nicht hinderte, in einer ökonomischen Krisensituation ebenjene Liberale, die sich für diesen Emanzipationsakt eingesetzt hatten, wie die Juden selbst für die Folgen dieser Situation verantwortlich zu machen.363

10.3  Devote Preußenhörigkeit „In tiefster Ehrfurcht verharren wir“

Vergleicht man indes das politische Selbstbewusstsein der Parlamentarier des Norddeutschen Bundes, soweit es sich in offiziellen Äußerungen gegenüber dem preußischen König niedergeschlagen hat, mit dem Selbstbewusstsein des Paulskirchenparlaments, kann man kaum glauben, dass die Monarchie des Norddeutschen Bundes durch eine Volksvertretung eingeschränkt gewesen sei. Dieses Parlament wie auch dann das des Deutschen Reiches ab 1871 wäre in seiner Mehrheit weder fähig noch willens gewesen, das Gottesgnadentum der Monarchen abzuschaffen! Ein ganz wesentliches objektives Defizit der Verfassung war schon, dass das Militärbudget, das 95 (!) Prozent des Gesamthaushalts ausmachte, nicht Jahr für Jahr, sondern für mehrere Jahre festgelegt wurde, wodurch dem Reichstag eine aktuelle Kontrolle praktisch unmöglich war. Nicht nur die zur Eröffnung und zum Abschluss einer Legislaturperiode bei Erscheinen und Auszug des Königs jeweils ausgebrachten dreimaligen „Hoch“Rufe, sondern noch ausführlichere Demutsbezeigungen können einen Leser der 362 Huber (31986) Bd. 2: 312. 363 Dazu mehr in Teil 2, 2.4.

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Protokolle in hochabsolutistische Zustände zurückversetzen, sind aber unübersehbare Zugeständnisse an den monarchischen Anspruch auf das Gottesgnadentum. So beschloss der Reichstag etwa am 24. September 1867 auch eine Dankadresse364, die wie folgt eingeleitet wurde: Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König! Allergnädigster König und Herr! Euerer Königlichen Majestät und Allerhöchstdero erhabenen Bundesgenossen bezeugt der erste deutsche Reichstag des nunmehr verfassungsmäßig constituirten Norddeutschen Bundes den Dank und die Befriedigung der Nation über die bisher errungenen Erfolge einer wahrhaft Deutschen Politik.

Hier wird überdies mit einem deutlichen Alleinvertretungsanspruch – diesmal seitens der Parlamentarier – die ganze Nation und nicht nur die halbe kleindeutsche Nation in Anspruch genommen, für die eine „deutsche Politik“ betrieben worden sei. Und diese Adresse, die mit 157 gegen 58 Stimmen beschlossen wurde, endet so: In tiefster Ehrfurcht verharren wir Eurer Königlichen Majestät Allerunterthänigste treugehorsamste. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes.

Bereits am 12. März 1867 hatte der Abgeordnete Franz Wigard (1807–85), der unter anderem für die Protokolle der Frankfurter Nationalversammlung zuständig gewesen war, in einer längeren Rede zum Verfassungsentwurf den „Willen des Volkes“, das im Reichstag mehr als unterrepräsentiert sei, beschworen, und noch einmal an das liberale Leitbild „Freiheit“ appelliert. Dabei aber führte er noch deutlicher aus: … wenn der Entwurf ohne Aenderung angenommen werden sollte, so bietet er nach meiner Anschauung nichts Anderes, als in vielen Beziehungen einen absoluten Staat, umbrämt mit einem Mäntelchen von Constitutionalismus. Womit er aber die Blöße seiner absolutistischen Tendenz zu verdecken nicht vermag.365

Tatsächlich aber wurde der von Bismarck vorgelegte Verfassungsentwurf unter der unverhohlenen Drohung eines Verfassungsoktrois substantiell kaum 364 Stenographische Berichte (1867): 90. 365 Ebda.: 166.

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verändert. Noch deutlicher als Wigard wurde August Bebel am 10. April 1867, als er unter heftigem Protest aus den Reihen der Mehrheit erklärte, er sei der festen Überzeugung, daß es Preußen bei der Gründung dieses Norddeutschen Bundes keineswegs um die Einigung Deutschlands zu thun gewesen ist, --- im Gegentheil, meine Herren, ich behaupte, daß mit der Gründung […] ein spezifisch Preußisches Interesse --- daß die Stärkung der Hohenzollerschen Hausmacht damit bezweckt worden ist.366

Von derlei hellsichtigen Einwänden in keiner Weise berührt hat die Mehrheit des Reichstags am 16. April 1867 die Verfassung mit 230 : 53 Stimmen angenommen. Zur Minderheit gehörten unter anderem Bebel und Wigard.367 Mehr als ein Schönheitsfehler der Verfassung war der Einschluss der Provinz Posen in den Norddeutschen Bund, gegen den die Vertreter der polnischen Minderheit nach der Abstimmung als „Gewaltact“ protestierten und deswegen ihre Mandate noch am 16. April niederlegten – eine der Stufen zu späterhin noch wachsenden deutsch-polnischen Auseinandersetzungen.368 Auch in diesem Punkt unterlag das Leitbild „Freiheit“ dem preußisch enggeführten Ziel der nationalen Einheit.

11 Deutsches Reich 1871–1918: Endgültige Etablierung kleindeutscher Einheit 11.1  Der Krieg mit Frankreich unter preußischem Oberbefehl 243 |  11.2  Feier des deutschen Kaiserreichs im Herzen Frankreichs 245 |  11.3  Die preußische Instrumentalisierung der Leitbilder 250

Früher als von vielen erwartet kam die politische Entwicklung dem Wunsch nach Vereinigung der süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund und damit dem preußischen Machtstreben entgegen. Frankreich war’s, das dabei auch diesmal eine wichtige – für sich selbst allerdings unglückliche – Rolle spielte. Bereits die Einigung der norddeutschen Staaten hatte im Nachbarland Misstrauen und 366 Ebda.: 678. Die Unterbrechungen durch Proteste sind durch --- gekennzeichnet. 367 Der oben ebenfalls zitierte Anton Rée war in dieser Sitzung beurlaubt. 368 Im Vormärz war der polnische Freiheitskampf noch intensiv gefeiert worden. Vgl. dazu: Zernack,

Klaus (2001): Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Berlin.

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Furcht vor einer Machtkonzentration in Deutschland geweckt. Bemühungen, die süddeutschen Staaten als Gegengewicht zum Norddeutschen Bund zu einem eigenen Bund zu bewegen, blieben erfolglos. Als sich dann auch noch die Gefahr abzeichnete, dass in Spanien ein Prinz aus der weiteren Familie der Hohenzollern, Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, Nachfolger der abgesetzten Königin Isabella II. werden könnte, sah sich Napoleon III. veranlasst, gegen eine „Einkreisung“ Frankreichs aktiv zu werden. Deshalb forderte er vom preußischen König Wilhelm I., selbst noch nachdem die Hohenzollern’sche Kandidatur in Spanien schon zurückgezogen worden war, dass in Spanien grundsätzlich, also auch künftig kein Hohenzoller mehr den Thron anstreben solle. Diese Forderung wurde Wilhelm I. am 13. Juli 1870 vom französischen Botschafter in Bad Ems vorgetragen. Der von dort nach Berlin telegrafisch übermittelte Bericht über das französische Ansinnen und Wilhelms (eigentlich nur reservierte) Reaktion, die sogenannte Emser Depesche, wurde von Bismarck nach gezielten Eingriffen in den Text, die den Vorgang dramatisierten, noch am selben Tag in die Presse lanciert. Der französische Kaiser sah sich, zusätzlich zu seinen innenpolitischen Problemen, durch die preußische Provokation außenpolitisch blamiert. Schon drei Tage später ließ er sich Finanzmittel für einen Krieg bewilligen, und am 19. Juli wurde dem preußischen Botschafter in Paris mitgeteilt, dass man sich im Kriegszustand befinde.

11.1  Der Krieg mit Frankreich unter preußischem Oberbefehl „Ihre volle Kriegsmacht einander zur Verfügung zu stellen“

Bismarcks Strategie war erfolgreich: Die deutsche Seite konnte sich als Opfer einer französischen Aggression darstellen. Mit der französischen Kriegserklärung traten nun auch die lange geheim gehaltenen „Schutz- und Trutzbündnisse“ zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten in Kraft, die diese nach dem Deutschen Krieg von 1866 hatten akzeptieren müssen. Diese Verträge verpflichteten die Bündnispartner, „im Falle eines Krieges ihre volle Kriegsmacht einander zur Verfügung zu stellen“ und dem preußischen König als Oberbefehlshaber zu unterstellen.369 Das militärische Oberkommando fiel dem Chef des preußischen Generalstabs Helmuth Karl Bernhard von Moltke (Moltke d. Ä., 1800–91) zu. 369 Kutz, Jens

Peter (2007): Vom Bruderkrieg zum „casus foederis“. Die Schutz- und Trutzbündnisse zwischen den süddeutschen Staaten und Preußen (1866–1870). Frankfurt a. M.

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Die Kriegshandlungen begannen am 2. August 1870 mit einem französischen Angriff im Saarland. Das Ziel französischer strategischer Planungen war – mit der (vergeblichen) Hoffnung auf ein Eingreifen Österreichs zu Gunsten Frankreichs – eine Isolierung Süddeutschlands vom Norddeutschen Bund. Doch schon am 3. August standen deutsche Truppen mit über 300.000 Mann an der Grenze, von wo aus sie in Frankreich einmarschieren und bereits bis 6. August drei Schlachten (Weißenburg, Wörth und Spichern) für sich entscheiden konnten. Die Franzosen räumten daraufhin das Rheintal und das Elsass. Auch die folgenden Schlachten bis zum 2. September (u.a. Mars la Tour, Gravelotte und Sedan) verloren die Franzosen. Nur die deutsche Belagerung der Festung Metz war erst nach über einem Monat, am 27. Oktober, erfolgreich. Der Sieg bei Sedan am 2. September war nicht nur ein militärischer Wendepunkt; er war mit der (vorläufigen) Kapitulation der französischen Streitkräfte verbunden. Vielmehr endete am 2. September faktisch auch das französische Kaisertum, da sich Napoleon III. bei Sedan den Deutschen gefangen gegeben hatte. Schon vier Tage später erklärte das Pariser Parlament, von aufgebrachten Demonstranten heftig attackiert, den Kaiser für abgesetzt. Zugleich wurde die Republik, Frankreichs „Dritte Republik“, ausgerufen. Mit Sedan war der Krieg aber noch nicht zu Ende. Die neue republikanische Regierung in Paris wollte, gestützt auf ein großes Reservoire kriegstauglicher Männer und auf starke materielle Ressourcen, den Kampf fortführen, womit sie die deutschen Truppen noch bis zu einem Waffenstillstand am 21. Januar 1871 immer wieder in Bedrängnis bringen konnte. Aber bereits am 19. September 1870 begannen deutsche Verbände mit der Belagerung von Paris, Versailles wurde deutsches Hauptquartier. Am 31. Januar 1871 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, und nach einem Vorfrieden im Februar wurde am 10. Mai der „Friede von Frankfurt“ geschlossen, der Frankreich zu erheblichen Reparationsleistungen und zur Abtretung von Elsass und Lothringen zwang. Im März 1871, in der Zeit zwischen dem Vorfrieden und dem endgültigen Friedensschluss, kam es im belagerten Paris zu einem Bürgerkrieg, da die zur Verteidigung der Stadt entschlossene Nationalgarde von der Übergangsregierung unter Adolphe Thiers, die den Frieden wollte, entwaffnet werden sollte. Dagegen erhoben sich die radikalen Teile der Pariser Bevölkerung. Vor allem aus deren unteren Schichten wurden bewaffnete Milizen gebildet, und am 26. März wurde eine Revolutionsregierung für die „Commune de Paris“ („Pariser Kommune“) ausgerufen. Erst nach erbitterten Straßenschlachten mit Tausenden von Toten, die sich bis Ende Mai hinzogen, konnte der Aufstand niedergeschlagen

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werden. Die „Pariser Kommune“ wurde für Europas Sozialisten und Kommunisten zum Inbegriff einer Revolution, wie man sie sich überall wünschte.

11.2  Feier des deutschen Kaiserreichs im Herzen Frankreichs „Das neudeutsche Kaiserthum ist proclamirt“

Dem Sieg bei Sedan wurde im wilhelminischen Deutschland ein hoher Symbolwert beigemessen, und er wurde mit dem jährlichen „Sedantag“ gefeiert, auch wenn dieser Tag nicht offiziell zum allgemeinen Nationalfeiertag erklärt worden war, wie es einflussreiche Kreise gefordert hatten. Die Befürworter argumentierten damit, dass ein solcher Feiertag für das im Krieg geeinte Deutschland einen wichtigen nationalen Identifikationspunkt darstellen würde. Widerspruch gegen diesen Gedenktag kam sehr bald von der katholischen Kirche, als sie sich im „Kulturkampf “ von der Bismarck’schen Politik verfolgt sah, und geradezu selbstverständlich von der ebenfalls von Bismarck verfolgten Arbeiterbewegung, die ohnehin dem Krieg ablehnend gegenübergestanden hatte und auch gegen die schließlich erfolgte Annexion von Elsass und Lothringen (als „Reichslande Elsass-Lothringen“) Front machte. Als dann noch die Arbeiterführer Bebel und Liebknecht die „Pariser Kommune“ als „Aufstand des Proletariats“ feierten, hing man den Sozialisten gar den Ruf von Vaterlandsverrätern an, von denen man sich die Begeisterung über den Triumph der vereinten Kriegsmacht nicht trüben lassen wollte. In zeitgenössischen Jubelbekundungen wurde gar von einem „heiligen Krieg“ gesprochen und der Sieg von Sedan mit der Parole „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung“ verbunden. Übertroffen aber wurde die Begeisterung breiter Bevölkerungskreise für die militärischen Leistungen durch den politischen Erfolg der Bismarck’schen Diplomatie, die süddeutschen Staaten zum Beitritt zum Norddeutschen Bund bewogen zu haben, der entsprechend erst einmal in „Deutscher Bund“ umbenannt wurde – wenn man so will: verbal ein nachträglicher Hieb auf den von Preußen fünf Jahre zuvor zum Scheitern gebrachten Staatenbund gleichen Namens. Natürlich waren hierbei noch etliche Vorbehalte und Widerstände, am stärksten in Bayern, zu überwinden. Die in den süddeutschen Staaten noch gehegten Hoffnungen auf eine großdeutsche Einigung und die Sorge um die eigene Souveränität machten langwierige Verhandlungen nötig. Aber es gab in der Bevölkerung wie bei einzelnen Politikern dieser Staaten bereits eine positive Stimmung zu Gunsten der Ein-

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heit, der sich schließlich auch die süddeutschen Regierungen nicht ganz entziehen konnten. Die Erfahrung der gesamtdeutschen Waffenbrüderschaft war dabei ein starkes emotionales Motiv für den Einigungswillen. Und so kam es, dass die vier süddeutschen Staaten im November 1870 einem Beitritt zustimmten und damit einverstanden waren, den preußischen König als gemeinsames Staatsoberhaupt anzuerkennen. Der vornehmste der süddeutschen Fürsten, König Ludwig II., konnte von Bismarck nur gegen erhebliche Zugeständnisse und die Zusage von Geldzuwendungen bewogen werden, den preußischen König zu ersuchen, den Kaisertitel anzunehmen. Wilhelm I. selbst aber musste tatsächlich erst zur Annahme gedrängt werden, da ihm seine Stellung als preußischer König mehr wert schien als die eines gesamtdeutschen Monarchen. Die Proklamation Wilhelms zum „Deutschen Kaiser“ fand dann am 18. Januar 1871 in Versailles, vor den Toren des belagerten Paris, statt. Der 18. Januar war kein zufälliges Datum, sondern ein preußisches Jubiläum. Vor genau 170 Jahren hatte sich der damalige brandenburgische Kurfürst als Friedrich I. in Königsberg zum „König in Preußen“ selbst gekrönt. Der Tag galt seitdem in Preußen als „Krönungs- und Ordensfest“. Die prunkvolle Zeremonie 1871 wurde im Spiegelsaal des Versailler Schlosses vollzogen – eine absichtsvolle Ortswahl, durch die sich die Franzosen zusätzlich gedemütigt fühlen sollten, war doch Versailles unter Ludwig XIV. glanzvoller Mittelpunkt des französischen Königtums gewesen und nach wie vor ein symbolträchtiger Ort nationaler Identität. Außer den meisten fürstlichen Repräsentanten waren vor allem zahlreiche Truppenkontingente mit ihren Fahnen anwesend. Bismarck verlas für Wilhelm den Proklamationstext370: Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Ordnung. 370 Text u.a. in: Kohl, Horst (Hrsg.) (1912): Die Begründung des deutschen Reichs in Briefen und

Berichten der führenden Männer. Leipzig: 92 f.

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Die längst in Gang gesetzte Annexion von Elsass und Lothringen war zwar eine der „kriegerischen Eroberungen“, denen damit eigentlich abgeschworen wurde. Doch wurde sie schon jetzt, zum Zeitpunkt der Kaiserproklamation gleichsam vorgreifend dadurch gerechtfertigt, dass man dauernden Frieden wahren wolle „innerhalb der Grenzen […], welche dem Vaterlande die [… ] Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren“ sollten. Die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 war eigentlich nur die feierliche Bestätigung einer Reichsgründung, die nach dem Übereinkommen der beteiligten Staaten bereits am 1. Januar in Kraft getreten war. Für sie galt, dass sie nicht, wie von der Nationalbewegung angestrebt, Ergebnis des Volkswillens, sondern letztlich der Kabinettspolitik der beteiligten Fürsten entsprungen war. Ein gesamtdeutsches Parlament konnte noch gar nicht sein Wort dazu geben. Allerdings hatte der Reichstag des Norddeutschen Bundes noch im Dezember 1870 einer den neuen Verhältnissen angepassten „Bundesverfassung“ zugestimmt wie auch der künftige Staatsname „Deutsches Reich“ und die Übertragung des Kaisertitels auf den preußischen König gebilligt worden waren. Aber die 1848/49 noch selbstbewusst vertretenen Ansprüche einer Volksvertretung, und sei es nur im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie, hatten angesichts der immer wieder bewiesenen Demutshaltung des Norddeutschen Reichstags gegenüber dem Gottesgnadentum des preußischen Königs bei der Mehrheit der Abgeordneten nur eine geringe Chance. Bismarck gab im Namen seines Königs in jeder Hinsicht – bis in die Erarbeitung auch der Reichsverfassung – die Richtung vor. Geradezu selbstverständlich wurde ab 1871 das „Wir von Gottes Gnaden“ auch dem Kaisertitel vorangestellt.371 Im Proklamationstext kam dagegen das deutsche Volk nur als mehr oder weniger konturloses Kollektiv vor. 372 Der am 3. März 1871 gewählte Reichstag konnte der Reichsverfassung ohnehin erst im April 1871 zustimmen. Das militärische Gepränge der Feier in Versailles war zwar auch durch den noch nicht beendeten Krieg bedingt – noch wurde Paris belagert –, es symbolisierte aber in gewisser Weise, mit preußischem Selbstverständnis übereinstimmend, das geeinte Deutschland als Militärstaat. Die allgemeine Begeisterung störte dies aber kaum. Selbst einst kritische Geister wie der Dichter Ferdinand Freiligrath ließen sich vom Hurrapatriotis371 Das Kaiserwappen zeigte auf einem Eisernen Kreuz den preußischen Wahlspruch „GOTT MIT

UNS“. 372 Erst 1894 konnte ein eigener Parlamentsbau, das Reichstagsgebäude, bezogen werden, das in der

Giebelinschrift „Dem Deutschen Volke“ gewidmet wurde, darüber und zu beiden Seiten aber jeweils mit einer Krone, dem Symbol monarchischer Macht, verziert war.

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mus anstecken. Am begeistertsten sang die konservative „Neue Preußische Zeitung“ (wegen eines Eisernen Kreuzes im Kopf des Blattes auch „Kreuzzeitung“ genannt) das hohe Lied auf den „Tag von Versailles“. Ihr erster Bericht vom 22. Januar 1871 beginnt wie folgt: Es lebe Se. Majestät der Kaiser Wilhelm!“ – so brauste es eben, 1 Uhr Mittags, aus den Prachtsälen des Versailler Königsschlosses bis an die Cour d’honneur373 hinab, wo eine dichtgedrängte Menge das Ende der glänzenden Feier des Krönungs- und Ordensfestes erwartete, bei welchem Se. Maj. der König Wilhelm von Preußen die Annahme des deutschen Kaisertitels für sich und seine Erben in Gegenwart vieler deutscher Fürsten und umgeben von den Fahnen und Standarten der siegreichen deutschen Armeen, dem deutschen Volke proclamirte ...

Danach wird die anwesende Prominenz gewürdigt, und besonders ausführlich werden die in Versailles aufmarschierten Truppenteile aufgezählt. Mit einem Bericht über den Ablauf der Feier endet der Artikel. Dieser Text ist „Hofberichterstattung“ pur, ohne jede Distanz geschrieben. So werden im Text etwa die Titel „Kronprinz“ und „König“ sogar ehrfurchtsvoll gesperrt gedruckt. Nur an einer Stelle kann man auf Risse hinter der Fassade schließen: Es sind nur „viele“ deutsche Fürsten anwesend – also nicht alle! Dagegen war die liberale „Frankfurter Zeitung“ nicht nur schneller, sondern auch kritischer. Ihre Stadtausgabe bringt bereits am 20. Januar 1871 eine erste, kurze Meldung, die so beginnt: Das neudeutsche Kaiserthum ist proclamirt, obwohl Bayern sich noch nicht zum Beitritt entschlossen hat. Den 18. Jan., den Geburtstag des preußischen Königthums und den Tag des Ordensfestes, hat der König von Preußen dazu auserkoren, sich den neuen Titel beizulegen.

Damit wird die um sich greifende Einheitseuphorie gleich zweimal in Frage gestellt: Das proklamierte Kaisertum ist nicht das von vielen wieder herbeigewünschte „alte“ Reich, womit das „Heilige Römische Reich ...“ gemeint ist, sondern ein „neudeutsches“, also etwas Neumodisch-Unechtes. Auch ist die Einheit, selbst die kleindeutsche, letztlich noch gar nicht hergestellt, denn Bayern hält sich noch zurück. Auch die weiteren Ausführungen zeigen eindeutig, dass die „Frankfurter Zeitung“ von der Sache überhaupt nur wenig hält, sondern sie eher ironisiert. Auch in einem weiteren, größeren Artikel vom selben Tag spielt das 373 „Ehrenhof “ vor dem Schloss.

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Ereignis selbst nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr werden schon am Anfang Hintergrundinformationen zu Ort und Zeitpunkt der Kaiserproklamation gegeben, Überlegungen zum Inhalt der Proklamation und einer geplanten „Adresse“ an den neuen Kaiser aus Berlin angestellt, die tatsächlich so unterwürfig ausfiel wie die bereits zitierte des Norddeutschen Reichtags. Das 1848 ursprünglich noch relativ arglos ins Leben gerufene Leitbild „Deutsches Reich“, das im wesentlichen verfassungsrechtlicher Ausdruck eines demokratischen Einheitsstreben sein sollte, hatte über die Stationen „Erfurter Union“ und „Norddeutscher Bund“ eine zunehmend preußisch-monarchische Verengung, damit aber auch eine politische Verschärfung erfahren. Dass sich schon der mit Erfurt zunächst ins Auge gefasste Schrumpfstaat „Deutsches Reich“ nennen sollte, war freilich Bestandteil der preußischen Strategie, rechtzeitig – mit sprachlichen Mitteln – einen Anspruch auf ein größeres Ganzes zu erheben. In der Folgezeit sollte sich das auf diese Weise verengte Leitbild zu einem Mythos des deutschen Nationalismus auswachsen. Die Reichsverfassung von 1871374, auch diese im Wesentlichen von Bismarck konzipiert, war der Anfang einer Ausdehnung des Schlüsselworts „Reich“ auf alle möglichen Ebenen der offiziellen Terminologie bis hin zur Hypertrophie von Benennungen im NS-Staat (von „Reichsarbeitsdienst“ bis „Reichswerkscharführer“, inklusive solcher Termini wie „Reichsbräuteschule“, „Reichsvollkornbrotausschuss“ und „Reichseierkarte“375). Um sich werbewirksamer präsentieren zu können, benannte sich bereits 1871 die Freikonservative Partei in „Deutsche Reichspartei“ um. Die neue Verfassung war letztlich nur eine Anpassung der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 bzw. der Bundesverfassung vom 1. Januar 1871 an die neuen politischen Gegebenheiten, weswegen Verfassungsrechtler in der im Januar 1871 in Kraft getretenen neuen staatlichen Ordnung gar nicht die Gründung eines neuen Staates im eigentlichen Sinne, sondern nur eine Modifizierung der vorhandenen staatlichen Strukturen des Norddeutschen Bundes sehen. Aus den Vorgängerverfassungen blieb auch der eine oder andere Terminus mit dem Bestimmungswort „Bund“ stehen, etwa „Bundesgebiet“ und nicht zuletzt das Wort „Bundesrath“ für die Länderkammer. „Bund“ wurde auch als Genitivattribut benutzt wie in „Präsidium des Bundes“, obwohl dieser Terminus in Art. 11 – dem Vorbild in der Verfassung des Norddeutschen Bundes folgend – sogleich auf den preußischen König als „Deutscher Kaiser“ hin präzisiert wurde: 374 In: Huber (31986) Bd. 2. 375 Schlosser (2013): 280 f.

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„Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt.“ Diese terminologischen „Relikte“ verdankten sich dem trotz aller Vereinheitlichung grundsätzlich erhaltenen föderativen Charakter des Deutschen Reiches. Wichtige Termini wie „Reichskanzler“ oder „Reichsgesetzgebung“ aber spiegelten auch sprachlich den Einheitscharakter. Obgleich Preußen im Bundesrat von insgesamt 58 Stimmen nur 17 für sich beanspruchen konnte, ermöglichte Art. 5, Abs. 2 de facto ein preußisches Vetorecht: Bei Gesetzesvorschlägen über das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Artikel 35 bezeichneten Abgaben giebt, wenn im Bundesrathe eine Meinungsverschiedenheit stattfindet, die Stimme des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht.

Letztlich war jede vom Willen Preußens abweichende Position von vornherein blockiert und selbstverständlich auch nicht vom Reichstag durchzusetzen. Wie im Norddeutschen Bund enthielt auch die Reichsverfassung keinen Grundrechtekatalog, wobei auch jetzt unterstellt wurde, dass die Grundrechte in einzelnen Gesetzen sowie in den einzelnen Länderverfassungen verankert wären. Bismarck konnte sich im Reichstag auf eine breite rechte, insgesamt konservative Mehrheit stützen. Zwar waren auch die Konservativen kein einheitlicher Block. Zu ihnen gehörten vor allem die „Konservative Partei“, ursprünglich Bismarcks politische Heimat, die „Freikonservative Partei“, die sich 1866 von der Konservativen Partei gelöst hatte und die sich noch 1871 – wie erwähnt – in „Deutsche Reichspartei“ umbenannte, sowie die „Deutschnationale Partei“ – Parteien, die durchaus unterschiedliche Positionen zu Zentralismus und Parlamentarismus vertraten. Wichtigste Stütze dieser rechten Gruppierung aber waren die bismarckfreundlichen „Nationalliberalen“, die aus der ersten Reichstagswahl am 3. März 1871, wie schon in den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag 1867, als weitaus stärkste Fraktion hervorgingen. Im Konfliktfall konnte Bismarck Divergenzen zwischen den Parteien mit der Drohung einer Parlamentsauflösung oder mit einer tatsächlichen Auflösung immer wieder beilegen.

11.3  Die preußische Instrumentalisierung der Leitbilder

Endlich schien jedoch die Vision eines „Deutschen Reiches“ in Erfüllung gegangen zu sein, freilich etwas anders, als es sich die Frankfurter Nationalversammlung vorgestellt hatte, obgleich auch sie mehrheitlich dem preußischen König den

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Kaisertitel zugedacht hatte. Das Leitbild „nationale Einheit“ hatte nun scheinbar ausgedient. Es war im Bewusstsein einer Mehrheit endlich in der Realität angekommen und galt offiziell als unabänderliches Ergebnis des langen Strebens nach einem einheitlichen Deutschland. Der dabei unterdrückte weitere semantische Horizont des Urleitbilds konnte nur noch in politisch weniger einflussreichen Kreisen, bei Linksliberalen und in Teilen der Arbeiterbewegung, überleben. Die Schlüsselwörter „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“ wurden freilich durchaus weiterverwendet. Da sie aber mitsamt dem von ihnen getragenen Leitbild der nationalen Einheit ihren utopischen Charakter faktisch verloren hatten, jedoch möglichst immer noch Zukunftsperspektiven suggerieren sollten, boten sie sich als Stützen für Aktualisierungen an, unter denen rassenideologische wie imperialistische Perspektiven eine zentrale Rolle spielen sollten. Als anschlussfähig hatten sich die Schlüsselwörter allerdings schon in ihrer „Frühgeschichte“ erwiesen, als sich mit ihnen – wie etwa auf dem Wartburgfest – die Besinnung auf das „Eigene“ der Deutschen mit deutlicher Abgrenzung gegen alles „Fremde“ verbinden ließ, konkret gegen die Franzosen, aber auch traditionell gegen Juden. Dass die neue Einheit in erster Linie äußerlich formaler Natur, die „innere Einheit“ aber immer noch mehr als brüchig war, zeigte sich bald in sehr grundsätzlichen innenpolitischen Konflikten.

12  Reichseinheit und „Reichsfeinde“ 12.1  Der sogenannte Kulturkampf gegen die katholische Kirche 252 |  12.2  Katholische Opposition in der Deutschen Zentrumspartei 253 |  12.3  Preußische und reichsdeutsche Polenpolitik 254

Zwar war das Leitbild „deutsche Einheit“ ab 1871 – wenn auch nur im kleindeutschen Rahmen – staatsrechtlich-formal realisiert, und ein Großteil der bürgerlichen Gesellschaft war damit nicht nur zufrieden, sondern auch über das Modell „Deutsches Reich“ begeistert. Hinzu kam, dass durch den erweiterten Wirtschaftsraum inklusive der neu gewonnenen Regionen von Elsass-Lothringen und durch die französischen Reparationsleistungen ein erheblicher ökonomischer Aufschwung möglich wurde, der sich als „Gründerzeit“ nicht zuletzt in der verstärkten Industrialisierung Deutschlands zeigte. In der Innenpolitik jedoch zeigten sich freilich deutliche Belege dafür, dass man von einer 1848 erhofften „inneren Einheit“ noch weit entfernt war. Drei Beispielfelder seien genannt: zum einen die Tatsache, dass es bis 1914 nicht gelang, die

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deutsche Arbeiterschaft und damit den größten Teil der Bevölkerung für den neuen Staat zu gewinnen; die Versuche Bismarcks, die Arbeiterbewegung zu unterdrücken, sind bereits dargestellt worden. Zum anderen sind die Auseinandersetzungen des protestantisch dominierten Bismarck-Staats mit der katholischen Kirche, die im sogenannten Kulturkampf eskalierten, zu nennen. Und drittens ist das problembeladene Verhältnis zur polnischen Minderheit zu thematisieren, der durch unglücklichste Assimilierungsstrategien ein angemessener Platz im Reich de facto verweigert wurde. In jedem Fall wurde das weitere Urleitbild „Freiheit“ durch die faktische Erringung einer deutschen Einheit oft genug an den Rand gedrängt, wie es in der Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes bereits befürchtet worden war.

12.1  Der sogenannte Kulturkampf gegen die katholische Kirche „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“

Nach einem schon früheren Gebrauch des Wortes brachte Rudolf Virchow (1821–1902) 1873 den Begriff „Kulturkampf “ für die Auseinandersetzungen zunächst zwischen dem preußischen Staat und den Kirchen, sodann des Reiches mit der katholischen Kirche in Umlauf. Grundsätzlich ging es dabei um eine Trennung von Staat und Kirche, wie sie auch in anderen Ländern angestrebt wurde376 und wie sie bereits in frühen liberalen wie sozialistischen Programmen zur Zurückdrängung klerikaler Macht gefordert worden war. Über die Frage hinaus, wie der Staat seine Souveränität in allen innenpolitischen Belangen durchsetzen könne, hatte im Falle der katholischen Kirche der Kulturkampf auch einen wesentlichen „außenpolitischen“ Aspekt, weil sich die Ansprüche der katholischen Kirche von ihrer Bindung an die römische Kurie herleiteten, die als „Ultramontanismus“ charakterisiert wurde. Tatsächlich vertrat Papst Pius IX. (Pontifikat 1846–78) angesichts der gleichzeitigen Bedrohung und Auflösung des Kirchenstaats, aber auch mit der Verkündung von Glaubenssätzen wie des Unfehlbarkeitsdogmas im Rücken, übernational geltende Ansprüche, die er auch gegen die deutschen Versuche, die Kirche zu schwächen, kompromisslos in Anschlag brachte. Bismarcks erster Schritt, die Souveränität des Reichs gegen die Kirchen durchzusetzen, war die Ergänzung des Strafgesetzbuchs um den Paragraphen 130a („Kanzelparagraph“ genannt) vom 10. Dezember 1871: 376 Clark/Kaiser (2003).

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Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche, oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft.377

Insgesamt wurden rund 1.800 Priester, darunter auch ein Erzbischof und ein Bischof, mit Gefängnisstrafen belegt. Der „Kanzelparagraph“ galt im Übrigen in der Bundesrepublik bis in die 1950er, in der DDR bis in die 1960er Jahre. 1872 wurde der Jesuitenorden verboten, ein Jahr später traf das Verbot vier weitere religiöse Gemeinschaften. In Preußen wurde 1872 den Kirchen – hier nun gegen altkonservative Widerstände – die Schulaufsicht entzogen. 1875 wurden staatliche Zuwendungen an die katholische Kirche eingestellt. In großem Umfang wurde kirchliches Eigentum eingezogen. Mit dem „Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung“ vom 9. Februar 1875 beendete Bismarck die Zuständigkeit der Pfarrämter für die Beurkundung von Geburten, Heiraten und Sterbefällen. Paragraph 1 bestimmte, dass solche Beurkundungen „ausschließlich durch die vom Staate bestellten Standesbeamten“ erfolgen sollten. Seitdem hat die sogenannte Zivilehe allein Gültigkeit. Erst ab 1878, unter dem neuen Papst Leo XIII., kam es zur Wiederannäherung der Konfliktparteien und zu Abmilderungen der gegen die Kirche gerichteten Gesetze. Auch wollte Bismarck den Rücken frei haben für den nun beginnenden Kampf gegen die Sozialisten. Der deutsche Katholizismus aber war indes aus den Auseinandersetzungen – wie dann auch die Sozialisten – keineswegs geschwächt, eher noch gestärkt hervorgegangen. Auch erhielt seine politische Vertretung in der 1870 gegründeten „Deutsche Zentrumspartei“ (kurz „Zentrum“) einen immer stärkeren Zulauf.

12.2  Katholische Opposition in der Deutschen Zentrumspartei „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“

Diese Partei hatte im Reichstag die Vertretung katholisch-kirchlicher Interessen übernommen und wurde im Kulturkampf zum entschiedensten Gegner der 377 Deutsches Reichsgesetzblatt Bd. 1871. Nr. 49: 442.

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antikirchlichen Maßnahmen Bismarcks. Sie forderte die Unabhängigkeit kirchlicher Institutionen, die Beibehaltung der kirchlichen Schulaufsicht und den Weiterbestand der Konfessionsschulen. Wegen ihrer Zusammenarbeit im Reichstag mit den Minderheiten, insbesondere mit den Polen, handelten sich die Zentrumspolitiker sogar den Anwurf ein, „Reichsfeinde“ zu sein. Schon in der Frankfurter Nationalversammlung hatten sich katholische Abgeordnete aus den verschiedenen Parlamentsclubs immer wieder einmal zusammengetan, um die Kirche gegen staatliche Ansprüche zu verteidigen. Auch danach gab es in verschiedenen Parlamenten Zusammenschlüsse katholischer Abgeordneter mit demselben Ziel. 1870 erfolgte endlich die Gründung einer festen Partei, die in einem Wahlplakat mit dem Slogan „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“ auftrat. Wichtige Impulse kamen unter anderem von Hermann von Mallinckrodt und Ludwig Windthorst, die bereits im Norddeutschen Reichstag Abgeordnete gewesen waren, sowie vom Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Vor seinem Reichstagsmandat 1870/71 war Ketteler schon Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewesen. Er wurde zu einem der Mitbegründer der katholischen Soziallehre; wegen seines sozialen Engagements für die Arbeiterschaft wurde er auch „Arbeiterbischof “ genannt. In der Reichstagswahl 1871 wurde das „Zentrum“ nach den Nationalliberalen zweitstärkste Kraft und erhielt 63 Sitze. Diese Position konnte die Partei in den folgenden Wahlen bis auf 100 Mandate (1881) steigern, wurde sogar stärkste Fraktion, bis sie 1912 von der SPD überrundet wurde. Nach der halbwegs gütlichen Einigung im „Kulturkampf “ und Änderungen in Bismarcks Wirtschaftspolitik wandelte sich das „Zentrum“ freilich zu einer Quasi-Regierungspartei, machte aus weltanschaulicher Überzeugung sogar wie Bismarck Front gegen die Sozialisten, förderte aber entschieden auch die Sozialgesetzgebung.

12.3  Preußische und reichsdeutsche Polenpolitik „Diese allmählich krebsartig um sich fressende Polonisierung“

Wie schon angedeutet, kam es auch zu wachsenden Konflikten mit der polnischen Minderheit, die bereits im Norddeutschen Bund aus dem von Preußen annektierten Teil Polens dreizehn Reichstagabgeordnete stellte und in der Reichstagswahl 1871 vierzehn Mandate errang. Gegen den Einschluss der Provinz Posen in den Norddeutschen Bund als „Gewaltakt“ etwa hatte die polnische Fraktion 1867 vehement protestiert. Bereits in der Paulskirche war im Juli 1848

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in einer zweitägigen Polendebatte anlässlich des Einschlusses von Teilen des Großherzogtums Posen kontrovers debattiert worden.378 Die Maximalforderung des linken Paulskirchen-Abgeordneten Arnold Ruge, die Wiederherstellung eines „freien und unabhängigen Polen“ anzustreben, wurde abgelehnt. Schon in den seinerzeitigen Sitzungen wurden neben positiven aber auch sehr abfällige Urteile über die Polen schlechthin geäußert. Das Verhältnis des Deutschen Reiches zu „seinen“ Polen verschlechterte sich jedoch noch mehr, als die Politik Preußens in seinen östlichen Provinzen das Ziel einer „Germanisierung“ verfolgte, das mit dem ungebrochenen Freiheitswillen aller Polen, also auch in den von Russland und Österreich in den polnischen Teilungen379 besetzten Landesteilen, aufs heftigste kollidieren musste.380 Die deutsche Begeisterung über die Freiheitsbestrebungen der Polen, für ihre Versuche, in Aufständen das fremde Joch abzuschütteln, wie sie im Vormärz, etwa 1817 auf der Wartburg oder 1832 am Hambacher Schloss, immer wieder zum Ausdruck gekommen war, gehörte längst der Geschichte an. Bereits 1872 erfolgte im Zuge des „Kulturkampfes“ ein erster Schlag gegen das polnische Selbstbewusstsein, als auch bei ihnen der Kirche, hier der besonders stark verwurzelten katholischen Kirche, die Schulaufsicht entzogen wurde. Protesten wurde mit zahlreichen Verhaftungen vor allem von Priestern begegnet; zu den mit Haftstrafe Belegten gehörte auch der Erzbischof von Posen Ledóchowski. Der polnische Widerstand steigerte sich daraufhin in allen Schichten der Bevölkerung. Mit dem Ziel, einer angeblichen „Polonisierung“ in den östlichen Provinzen vorzubeugen, wird 1876 Deutsch als alleinige Amtssprache eingeführt. Auch im Volksschulunterricht – vorerst ausgenommen der Religionsunterricht – wird Deutsch vorgeschrieben. Im „Reichsvereinsgesetz“ von 1908 wird schließlich im sogenannten Sprachenparagraphen (§ 12) generell vorgeschrieben, dass in öffentlichen Versammlungen ausschließlich Deutsch gesprochen werden dürfe, was den Gebrauch von Minderheitensprachen, darunter eben auch Polnisch, verbot. Wie eng nationalistisch diese Politik war, lässt sich durch einen Vergleich mit der von der Paulskirchenverfassung vorgesehenen Behandlung ethnischer Minderheiten erkennen, wobei der bereits zitierte Paragraph 188 jener Verfassung eine heute unvorstellbare Liberalität gegenüber ethnischen Minderheiten zu erkennen gab. 378 46. und 47. Sitzung; vgl. Wigard (1848/49) Bd. 2: 1124–1247. 379 Die letzte, die dritte Teilung von 1795 wurde 1815 modifiziert bestätigt. 380 S. dazu: Bömelburg, Hans-Jürgen u.a. (Hrsg.) (2013): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions-

und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück.

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1885/1886 werden in großer Zahl Polen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, insbesondere polnische Juden samt ihren Familien aus Westpreußen und Posen, wo sie schon lange gelebt hatten, vertrieben; allerdings stößt das teilweise brutale Vorgehen der Behörden auch im Reichstag auf erheblichen Widerstand. Im preußischen Herrenhaus hatte Bismarck die antipolnische Politik, konkret ein „Ansiedlungsgesetz“, am 15. April 1886 unter anderem mit den Worten verteidigt: Dieser allmählich krebsartig um sich fressenden Polonisierung der deutschen Einwohner jener Provinzen hoffen wir durch dieses Gesetz, durch die Verwendung der von uns geforderten Mittel einen Damm entgegenzusetzen und Halt zu gebieten. Aber von der Absicht, die polnische Bevölkerung auszurotten, ist dabei nicht die Rede, nur von der, die Deutschen zu erhalten.381

Das preußische „Ansiedlungsgesetz“ vom 26. April 1886 wurde zu einem wesentlichen Element der Germanisierungspolitik, genauer einer „Verpreußerung“: In Westpreußen und Posen wurde staatlicherseits polnischer Grundbesitz aufgekauft und ausschließlich an deutsche Großgrundbesitzer und Neusiedler weiterverkauft. 1908 wird mit dem „Enteignungsgesetz“ noch eine Verschärfung eintreten: Polnischer Grundbesitz konnte nun auch konfisziert werden. Bismarck wehrte sich noch – wie zitiert – dagegen, dass auch er eine „Ausrottung der Polen“ im Sinn habe. Doch schon zu seiner Zeit war dies längst eine auch publizistisch verbreitete Parole extrem nationalistischer Kreise – ein sprachlicher Vorgriff auf das, was den Polen ab 1939 tatsächlich widerfahren sollte. Antipolnische Stimmungen hatten sich aber bereits nach 1871 unter dem Eindruck der Rassenideologie verschärft, wobei das polnische Volk als Teil der Slawen zu den „minderwertigen Rassen“ gezählt wurde. Die 1871 durchgesetzte Reichseinheit bedeutete in zweifacher Hinsicht den endgültigen Abschied vom Leitbild „deutsche Einheit“ in seinem ursprünglichen Verständnis. Zum einen war es zwar gelungen, den Nord-Süd-Gegensatz zu überwinden, doch war das preußisch geeinte „Deutschland“ eben nur noch als kleindeutscher Staat definiert und hat sich mit dieser Verengung – fern jener einst verfolgten Hoffnung auf eine Einheit aller Deutschen über die Ostgrenze des neuen Deutschen Reiches hinaus – als Vorstellung von „Deutschland“ auch mental verfestigt. Zum anderen ging dieser Einigungsprozess mit aggressiven 381 Zit.

nach: Roth, Günther (2001): Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800 – 1950. Tübingen: 445.

Die imperialistische Wende  |

Ausgrenzungen ganzer Bevölkerungsteile einher, die ihre politischen, weltanschaulichen und ethnischen Traditionen in einer nicht nur machtpolitisch formalen, sondern demokratisch organisierten Einheit hätten einbringen können. Geradezu reflexartig aber wurden alle – ob Arbeiterschaft, Katholiken oder polnische Minderheit –, die den Stolz über die gerade erst errungene äußere Einheit nicht vollkommen teilen wollten oder konnten, als „Reichsfeinde“ diskriminiert. Diesem Reich fehlte es zweifellos an Selbstbewusstsein und Gelassenheit – ein Mangel, der auch in der Folgezeit zu Überreaktionen führen musste.

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Dass gegen Ende des Jahrhunderts das ursprüngliche Leitbild von einem deutschen Nationalstaat in einen aggressiven Nationalismus und Imperialismus umschlagen konnte, hatte verschiedene Ursachen. Dazu zählen die in sprachlicher Kommunikation schon früh verankerten Überzeugungen, die Deutschen hätten zu ihrer Nation eine unvergleichlich tiefere Beziehung als andere Völker und hätten darüber hinaus auch einen alle anderen Nationen veredelnden Sendungsauftrag.382 Aber auch die wirkmächtigen konkreten Umstände der Realpolitik sind ohne Berücksichtigung solcher Vorurteile nicht hinreichend zu erklären. Die überzeugende These, der deutsche Nationalismus des 19. Jahrhunderts sei zur „politischen Religion“ geworden (H.  U. Wehler), wäre kaum nachvollziehbar, wenn man die Fundierung einer solchen „Religion“ im zeitgenössischen Sprachgebrauch übersähe. Zur politischen Religion konnten die zeitgenössischen Haltungen zur Nation sogar nur durch Sprache und in der Sprache werden. Die religiöse Dimension des deutschen Nationalismus war bereits in seinen Anfängen angelegt, die – nur scheinbar paradox – mit einer allgemeinen, durch die Aufklärung bedingten Säkularisierung religiöser Überzeugungen zusammenfielen. Es waren ja nicht nur die politischen Themen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr einen religiösen Sprachgebrauch auf sich zogen. Nicht zuletzt die Darstellung sehr persönlicher Gemütszustände neigte vielfach zu entsprechenden sprachlichen Überhöhungen; man denke nur an Goethes „heilig glühend Herz“ in seiner Prometheus-Hymne oder an den exzessiven Gebrauch von „heilig“ bei Hölderlin.

382 Zu

den Anfängen des modernen deutschen Nationalismus s. die (überdies zitatenreiche) Darstellung bei: Wehler (Bd. 3, 1995): 506–530.

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So kam es auch bei der Beschwörung politischer und sozialer Ziele schon sehr früh, wie bereits immer wieder zitiert, zu verbalen Sakralisierungen, die den eigentlich diesseitigen Interessen gleichsam eine transzendentale Legitimation verleihen sollten. Ein wichtiges Motiv scheint, wie schon früher mehrfach angedeutet, in der Absicht der bürgerlichen Opposition zur Fürstenherrschaft, später der Arbeiterbewegung gegen das herrschende Bürgertum zu liegen, den Anspruch auf eine solche Legitimation nicht der Gegenseite zu überlassen. Die Nationalbewegung jedenfalls wetteiferte geradezu in ihren Berufungen auf jenseitige Instanzen mit der monarchischen Inanspruchnahme des Gottesgnadentums. Exemplarisch für viele Stimmen prominenter Vertreter des deutschen Geisteslebens von Herder über die Brüder Schlegel und Schiller bis zu Adam Müller und gleichsam auch als vorweggenommene Zusammenfassung aller späteren Überhöhungsbemühungen sei noch einmal die These Fichtes in seinen „Reden an die deutsche Nation“ von 1807/08 zitiert, daß nur der Deutsche [...] wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig ist.

Der Sturz Bismarcks 1890 gilt mit Recht als eine tiefe Zäsur in der Entwicklung Deutschlands. Darüber sollte man aber nicht vergessen, wie stark sich schon unter seinem Einfluss als preußischer Ministerpräsident und als Kanzler des Norddeutschen Bundes wie des Deutschen Reiches wesentliche politische Leitbilder verändert hatten bzw. gezielt verändert worden waren, und zwar vor allem durch die Orientierung an preußischen Machtinteressen. Mit der Einschränkung ihrer semantischen Reichweite ging zugleich eine Radikalisierung ihrer Zielvorstellungen einher. Zwar hatte bereits die Frankfurter Nationalversammlung durch den Antrag an den König von Preußen, die Kaiserwürde für ganz Deutschland zu übernehmen, die Richtung für eine Konzentration der Politik auf Preußen gewiesen. Der von Preußen in der Erfurter Union wie im Norddeutschen Bund tatsächlich eingeschlagene Weg, Politik zu Gunsten einer deutschen Einheit ohne und im Deutschen Krieg von 1866 sogar blutig-ernst gegen Österreich zu betreiben, musste unvermeidbar den Begriff von „deutsch“ und „Deutschland“ für unabsehbare Zeiten auf den Westteil des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation reduzieren. Die Verengung verlieh diesen Schlüsselwörtern aber auch einen besonderen Akzent, der sie gegen einen weniger spezifischen, gemeindeutschen Gebrauch abgrenzen sollte. Wer nun „deutsch“ sagte, dachte unwillkürlich „preußisch“ mit.

Die imperialistische Wende  |

Die frühe preußische Inanspruchnahme von „Nation“ im modernen Sinne als Staatsnation in der Benennung des Berliner Parallelparlaments von 1848 als „Nationalversammlung“, ferner die Etikettierung partikularer politischer Themen als „nationale“ Angelegenheiten in Erfurt wie im Norddeutschen Bund oder der Parteiname der „National-Liberalen“ stützten auf ihre Weise die preußisch inspirierte Engführung der Leitbilder von deutscher Einheit als Volk, Vaterland und Nation, auch wenn – wie etwa in Bayern – regional eine eigene Vaterlandsidee weiter gepflegt wurde. Auch dass man selbst in partikularen staatlichen Konstruktionen vor 1871, in der Erfurter Union und im Norddeutschen Bund, den ursprünglich für ganz Deutschland vorgesehenen „Reichs“-Begriff weiter hegte und pflegte, lässt sich nur als Versuch erklären, für eine endgültige Etablierung eines kleindeutschen Staates gleichsam großdeutsche Termini bereits besetzt zu haben. Eine weitere semantische Einengung des Volks- und Nationsbegriffs auf eine quasi-genetische Definition hatte seit der Jahrhundertmitte seine „Kreuzung“ mit der Rassenideologie bewirkt, die der schon gängigen deutschen Selbstüberhebung noch einen zusätzlichen starken Schub verlieh, also zugleich eine inhaltliche Verschärfung bedeutete. Nun konnte man sich bis in höchste Kreise, auch am Berliner Hof, einer allen anderen Nationen überlegenen Sonderstellung erfreuen, erst recht gegenüber „minderwertigen Rassen“ wie Romanen, Slawen, Juden, Asiaten und Afrikanern – freilich stets in der Sorge, man könne diese Position im „Kampf ums Dasein“ auch wieder verlieren. Die geradezu zwanghafte Abgrenzung gegen alles „Fremde“ förderte auch in dieser Hinsicht eine Überbetonung der kleindeutsch wie rassenideologisch geschrumpften Leitbildinhalte. Bei Bismarcks erzwungenem Abgang gab es – von den schon thematisierten innenpolitischen Konflikten, insbesondere mit der Arbeiterbewegung, abgesehen – für einen Großteil des deutschen Bürgertums eigentlich kaum Anlass, auf das politisch Erreichte nicht stolz zu sein. Man war Großmacht geworden, obwohl Bismarck wohlweislich darauf verzichtet hatte, mit anderen Staaten in einen riskanten Wettbewerb zu treten, der die geopolitischen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 hätte gefährden können. Auch der Wettlauf der anderen Mächte um den Besitz von Kolonien hatte Bismarck insgesamt gesehen nur mäßig interessiert. Dabei hatte er nicht Machtausdehnung, sondern im Wesentlichen nur mögliche Handelsvorteile im Blick, sein Hauptaugenmerk hatte ohnehin auf den Verhältnissen in Europa gelegen. Doch die Ratio dieser Zurückhaltung wurde keineswegs von allen politischen Akteuren, auch nicht vom neuen Kaiser Wilhelm II., gewürdigt und geteilt. Das Deutsche Reich war schließlich – quasi in Erweiterung der preußischen Tradi-

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tion – auch eine achtunggebietende Militärmacht, die deutsche Ansprüche auf mehr Weltgeltung hätte durchaus „sinnfällig“ unterstützen können. Wilhelm II. stand ja auch höchstpersönlich für die Vorrangstellung des Militärs vor allen zivilen Ebenen, wie er bei seinem Amtsantritt in einem Erlass vom 16. Juni 1888 an die Armee bekundete (bezeichnenderweise zwei Tage, bevor er sich dann auch „An mein Volk“ wandte): „So gehören wir zusammen – Ich und die Armee – so sind wir für einander geboren…“383 Wichtige Schaltstellen für die Heeresund Marinepolitik waren die inoffiziellen Büros des Kaisers, „Militärkabinett“ und „Marinekabinett“ genannt. Mehrmals hat das Reich vor 1914 durchaus versucht, seine militärische Konkurrenzfähigkeit unter Beweis zu stellen, etwa beim sogenannten Boxeraufstand, jener Erhebung chinesischer Geheimbünde gegen westliche Einflüsse, die sich 1900/01 zu einem regelrechten Krieg auswuchs. Eine internationale Militärallianz, an der schon aus Prestigegründen auch das Deutsche Reich teilnehmen wollte, konnte diesen Aufstand niederwerfen. Das deutsche Militärkontingent indes kam nach langer Seereise zu spät, um noch Entscheidendes zum Sieg der Alliierten beitragen zu können. Dazu stand in krassem Gegensatz, welche militärisch-politische Perspektive Wilhelm II. diesem Kontingent bei dessen Verabschiedung in Bremerhaven am 27. Juli 1900 mit auf den Weg gegeben hatte. Kriegsrechtswidrig verlangte er für den Kampf „Pardon wird nicht gegeben“ und führte weiter aus: Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben […], so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.

Diese als „Hunnenrede“ in die Geschichte eingegangene Ansprache förderte im Ersten Weltkrieg die propagandistische Verspottung der Deutschen, die sich so gern als Germanen gesehen hätten, als „Hunnen“, und Wilhelm II. erhielt dabei als „Hunnenkönig“ den Spitznamen „Attila“. Zweimal, 1905/06 und 1911, versuchte Deutschland, auch in Marokko Einfluss zu gewinnen, und ließ dabei vor der nordafrikanischen Küste sogar Kriegsschiffe auffahren – allerdings vergeblich; man musste dort letztlich Frankreich das Feld überlassen. Die beiden sogenannten Marokkokrisen waren indes nur zwei Beispiele für eine deutsche Außenpolitik, die nach Bismarck eine verhängnisvolle Wende genommen hatte. 383 Zit. nach: Pierson, William (101910): Preußische Geschichte. Bd. 2. Berlin: 544.

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Die Leitung der Außenpolitik, die bis 1890 in Bismarcks Hand gelegen hatte, verlor sehr bald eine einheitliche Linie, wodurch sie an Stabilität und Berechenbarkeit einbüßte. Sie „zerfaserte“ gleichsam zwischen verschiedenen Handlungsebenen. Einerseits beanspruchte Wilhelm II. eine umfassende Entscheidungskompetenz, trug aber durch seine oft sprunghaften und unüberlegten Eingriffe ins diplomatische Geschehen mehrfach zu peinlichen Verwicklungen bei. Andererseits wollten die jeweiligen Reichskanzler, von Caprivi bis Bethmann-Hollweg, das Heft nicht aus der Hand geben. Als dritte Kraft, die einen immer stärkeren Einfluss auch auf die außenpolitische Richtung ausüben wollte, trat das Militär auf, wobei es die Maxime des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz (1780–1831) vom Primat der Politik mehr und mehr missachtete. Clausewitz hatte seine These, der Krieg sei „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, keineswegs als Aufforderung verstanden, dass die Politik in kritischen Situationen dem Militär das Feld überlassen sollte; ein militärischer Einsatz sollte vielmehr den Erfolg politischer Ziele, letztlich einen Frieden nur unterstützen. Diese maßvolle Haltung kam preußisch-deutschen Militärführern nach ihren allseits gefeierten Erfolgen namentlich im Deutsch-Französischen Krieg mehr und mehr abhanden. Immerhin bekannte sich nach 1871 der Generalstabschef Helmuth Karl Bernhard von Moltke (Moltke d. Ä.) noch zum Primat der Politik und für den Fall eines Zweifrontenkriegs zu Strategien, die einen Kompromissfrieden erlaubt hätten. Sein mittelbarer Nachfolger, Alfred von Schlieffen, verwarf jedoch mit einem eigenen Plan, dem sogenannten Schlieffen-Plan von 1905384, Moltkes Vorstellungen, was sich bei der Entfesselung des Ersten Weltkriegs verhängnisvoll auswirken sollte. Aber auch dieser Krieg selbst wurde zu einem beschämenden Zeugnis für den Abschied der Politik zu Gunsten des Militärs. Mit Recht hat man die politische Situation Deutschlands ab 1914 als Militärdiktatur charakterisiert, in der der so gern martialisch auftretende Kaiser mehr und mehr zum Statisten degradiert wurde. Der preußisch-deutsche Militarismus verschärfte nach Bismarck als mentaler Faktor die politischen Zielvorstellungen des traditionellen Nationalgedankens in Verbindung mit Weltmachtvisionen zum aggressiven Nationalismus und Imperialismus – eine ideologische Kombination, die erst 1945 besiegt werden konnte. „Militarismus“, ein Begriff, der heute überwiegend negativ konnotiert 384 Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen. Denkschrift „Krieg gegen Frankreich“, Dezem-

ber 1905, Abschrift in: Bundesarchiv-Militärarchiv N 323 /19. Digital. in: www.1000dokumente. de/index.html?c=dokument_de&dokument=0097_spl, letzter Zugriff: 29.10.2015.

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ist, konnte 1914 sehr wohl sogar als „Ausdruck einer höheren Lebensform und [als] die wahre geistige Grundlage der deutschen Weltmission“ gewertet werden.385 Gleichwohl war seine Funktion bei der Entwicklung zum Imperialismus weniger inhaltlicher als vielmehr instrumenteller Art. Der Stolz auf militärische Leistungen wurde um die Jahrhundertwende auch in zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern kräftig gefördert, wo er 1912 in dem Klassiker des Waldemar Bonsels „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ kulminierte, der heute noch in meist nur noch verharmlosenden Adaptionen ein kräftiges Nachleben erfährt. Tatsächlich handelte es sich aber um eine Parabel des Sieges einer eigentlich physisch unterlegenen Spezies, der Bienen, über einen übermächtigen Feind, die Hornissen. Tapferkeit und Todesmut und eine realen militärischen Situationen nachempfundene Strategie und Taktik (inklusive militärischer Dienstränge der Akteure) zwingen bei Bonsels die Feinde letztlich in die Knie, wie man es sich auch für Deutschland im Kampf gegen eine Übermacht von Feinden erhoffte. Bismarcks komplexes System von Bündnissen und Verträgen mit europäischen Staaten war insbesondere auf den Schutz des Reiches gegen eine befürchtete französische Revanche für die Niederlage von 1871 ausgerichtet gewesen, indem es die übrigen europäischen Mächte von Kooperationen mit Frankreich abzuhalten versuchte. Als Zentrum von Bismarcks Balancepolitik konnte der 1882 begründete „Dreibund“ gelten, ein geheimes Verteidigungsbündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, das nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen Russland schützen sollte. Unter Bismarcks Nachfolgern verlor dieses Bündnis in Folge divergierender Interessen der Partner mehr und mehr seine stabilisierende Funktion, es zerbrach endgültig 1914 mit Italiens Neutralitätserklärung und seinem nachfolgenden Beitritt zur Kriegsallianz gegen Deutschland und Österreich. Zwar hatte es verschiedene Bemühungen gegeben, Großbritannien zu bewegen, dem Dreibund beizutreten und damit dem Bündnis ein breiteres Fundament zu geben, doch hatten diese Versuche grundsätzlich darunter gelitten, dass das Deutsche Reich bei weitem seine Möglichkeiten überschätzte, sich nach Gutdünken seine Bündnispartner auszusuchen; man nannte dies eine „Politik der freien Hand“. Dabei erlag man etwa im Falle von Großbritannien dem Irrtum, dieser Staat sei eigentlich auf Deutschland angewiesen. Unter dieser überheblichen Einschätzung wurden sogar britische Annäherungsversuche gar nicht 385 Bremm (2013): 29.

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ernstlich geprüft. Zudem gab man sich der Illusion hin, die durch die Germanen­ ideologie genährt worden war, Großbritannien sei zwar politischer Konkurrent, aber als „germanisch-stammesverwandt“ eher Deutschland als anderen Mächten zugeneigt. So wurden immer wieder nützliche Optionen schlicht verspielt. Bereits 1892/93 kam eine russisch-französische Militärkonvention zustande, womit für Deutschland die schon länger gehegte Angst vor einer Zweifrontenbedrohung konkretere Nahrung erhielt. 1903 beendeten – für die deutsche Politik überraschend – Frankreich und England ihre Rivalität in kolonialpolitischen Fragen, indem sie bündnisähnliche Beziehungen vereinbarten, die als „entente cordiale“ („herzliches Einvernehmen“) bezeichnet wurden. Diese Entente umfasste aber auch militärische Absprachen, die bei einem Krieg mit Deutschland wirksam werden sollten. 1907 wurde die Entente cordiale obendrein um Russland erweitert, in der sogenannten Tripelentente. Das Deutsche Reich sah sich zuletzt international weitgehend isoliert, wobei man hinter den eigenen diplomatischen Fehleinschätzungen und politischen Fehlentscheidungen eine von langer Hand betriebene „Einkreisung“ Deutschlands witterte – eine Verschwörungstheorie, die für den deutschen Kriegseintritt 1914 als wohlfeiles Propagandainstrument herhalten musste, aber auch noch 1939 in vergleichbarer Form bemüht werden sollte. Die nach außen zur Schau getragene Selbstsicherheit stand indes schon sehr früh auf dünnem Eis, und verbale wie realpolitische Muskelspiele dienten zweifellos auch der Unterdrückung möglicher Selbstzweifel. In jedem Fall aber führte die nicht zuletzt durch eigene Fehler herbeigeführte Bedrohung von außen dazu, dass die Deutschen noch inbrünstiger für das gefährdete Vaterland eintreten zu müssen glaubten. „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“ waren längst nicht mehr als Zielbegriffe für eine gleichsam natürliche Ordnung zu denken, sondern Instrumente eines angestrengten Selbstbehauptungswillens. Auch Bismarcks kolonialpolitische Zurückhaltung galt nach 1890 sehr bald nichts mehr. Das Deutsche Reich sollte sich unbedingt am Wettlauf der anderen Mächte um eine Ausbreitung ihrer Macht in überseeischen Schutzgebieten und Kolonien beteiligen, und tatsächlich konnten in Afrika und im Pazifik beachtliche Gebietsgewinne erzielt werden.386 Gleichwohl fühlten sich viele Deutsche weiterhin als Zu-kurz-Gekommene, ein Gefühl, das sich am 6. Dezember 1897 in der geradezu kindlich-trotzigen Äußerung Bernhard von Bülows387 im Reichstag niederschlug: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir 386 S. u.a.: Conrad, Sebastian (2008): Deutsche Kolonialgeschichte. München. 387 Seinerzeit noch Staatssekretär des Äußeren, 1900–09 Reichskanzler.

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verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Mit Besitzungen in Übersee aber kam die Frage nach deren wirksamem Schutz auf die politische Agenda. Die anderen Großmächte waren in dieser Hinsicht besser gerüstet, Großbritannien übte sogar eine unangefochtene Seeherrschaft aus. Aus zunächst eher privaten Initiativen, die vornehmlich Handelsstützpunkte in Übersee im Auge hatten, war ein allgemeineres politisches Interesse erwachsen, das immer mehr vom Streben nach deutscher Weltgeltung bestimmt wurde. Insbesondere der Afrikaforscher Carl Peters (1856–1918) trug zu dieser Entwicklung bereits 1886 mit dem von ihm gegründeten „Allgemeinen deutschen Verband zur Förderung überseeischer deutsch-nationaler Interessen“ bei. Schon im Vereinsnamen deutet sich die gleichzeitige Verengung und Verschärfung des Leitbilds „deutsche Nation“ an: Verengung, weil nun letztlich partikulare, wirtschaftspolitische Interessen weit draußen, in Übersee verfolgt werden sollten, Verschärfung, weil man zur Sicherung der Nation gleichsam in die Welt ausgreifen zu müssen glaubte – ein seinerzeit gern geglaubtes Motiv für Imperialismus. Peters wurde zum Gründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, machte sich dabei aber auch durch seine Unterdrückungsmaßnahmen gegen die einheimischen Afrikaner selbst im Reich politisch missliebig. Ein Auslöser intensivierter Agitation zu Gunsten von deutschen Kolonien war der 1890 mit England im sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrag vereinbarte Tausch der Insel Sansibar vor der afrikanischen Ostküste gegen das bis dahin britische Helgoland sowie die Aufgabe von Uganda als deutsches Schutzgebiet. Dieser Tausch war öffentlich als gegen die deutschen nationalen Interessen gerichtet kritisiert worden. Der Traum von einem zusammenhängenden größeren deutschen Kolonialreich in Afrika war tatsächlich geplatzt. Vor diesem Hintergrund wurde noch im selben Jahr der „Allgemeine deutsche Verband“ ins Leben gerufen, der sich zunächst vor allem dem Schutz deutscher Kolonialinteressen verschrieb. Doch nur vier Jahre später erweiterte dieser Verein nach Umbenennung in „Alldeutscher Verband“388 sein Programm um immer aggressiver werdende Expansionsziele. Noch in seinen Statuten von 1917389, als durch den Kriegsverlauf deutsche Expansionswünsche immer illusorischer geworden waren, bekannte sich der Alldeutsche Verband gleich eingangs zu unmissverständlich nationalistischen und imperialistischen Zielen, wozu – geradezu selbstverständlich – auch die Fixie388 S. dazu u.a.: Peters, Michael (1999): Der „Alldeutsche Verband“. In: Puschner (1999): 301–315;

Walkenhorst (2007). 389 Zit. nach: http://polunbi.de/inst/alldeutscher-verband.html, letzter Zugriff: 3.12.2015.

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rung auf die rassische Einheit aller Deutschen gehörte, hatte der Verband doch schon bei seiner Gründung vor allem eine deutlich antisemitische Position eingenommen: § 1: Der Alldeutsche Verband erstrebt Belebung der deutsch-nationalen Gesinnung, insbesondere Weckung und Pflege des Bewußtseins der rassenmäßigen und kulturellen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile. § 2: Diese Aufgabe schließt in sich, daß der Alldeutsche Verband eintritt 1) für die Erhaltung des deutschen Volkstums in Europa und über See und Unterstützung desselben in bedrohten Teilen; 2) für die Lösung der Bildungs-, Erziehungs- u. Schulfragen im Sinn des deutschen Volkstums; 3) für Bekämpfung aller Kräfte, die unsere nationale Entwicklung hemmen; 4) für eine tatkräftige deutsche Interessenpolitik in der ganzen Welt, insbesondere Fortführung der deutschen Kolonialbewegung zu praktischen Ergebnissen.

Letztlich ergab diese Art von Nationalpolitik eine diffuse, zugleich aber eben auch aggressive Mischung von geopolitischen, ökonomischen und kulturpolitischen Interessen, wobei deren Vertreter die Emphase, mit der die frühere Nationalbewegung ihre Ziele vorgetragen hatte, im Wesentlichen nur noch zu propagandistischen Zwecken missbrauchten. Als weitere Komponente dieser ideologischen Mischung ist gerade im Zusammenhang mit dem Kolonialismus die rassistische Verachtung der kolonialisierten Völker zu sehen. Aus Äußerungen von Carl Peters in seinen Schriften zu Gunsten einer aktiven Kolonialpolitik geht deutlich hervor, welche Rolle rassenideologische Vorurteile spielen sollten. So argumentierte er etwa 1901 zur Begründung einer Arbeitspflicht für afrikanische Untertanen zu Gunsten der deutschen Wirtschaft390, dass die „subspecies“ (nach biologischer Taxonomie also eine „Unterart“ des Menschen) beweise, wenn sie nicht unter Zwang stehe, daß sie überhaupt zu nichts gut sei. Im konkreten Verhalten gegenüber den ihm unterstellten „Negern“ erwies sich Peters immer wieder als brutaler Vertreter der „Herrenrasse“. Auch hinter Wilhelms II. Geringschätzung des chinesischen Gegners im sogenannten Boxerkrieg stand jener germanisch-arische Rassenhochmut, der sich nicht nur im heimischen Antisemitismus austobte. Ab 1904, drei Jahre nach dem Boxeraufstand, exerzierten die Deutschen in Südwestafrika vier Jahre lang 390 Peters,

Carl (1901): Die afrikanische Arbeiterfrage. In: Frank, Walter (Hrsg.) (1943): Carl Peters: Gesammelte Schriften. Bd. 1. München.

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einen gnadenlosen Genozid gegen die Nama und Herero (abschätzig „Hottentotten“ genannt), weil sie sich gegen ihre deutschen „Schutzherren“ erhoben hatten. Es war der erste Völkermord im 20. Jahrhundert, dem 1916 – mit deutscher Unterstützung – der noch monströsere Genozid des Osmanischen Reiches an den Armeniern folgte. Hand in Hand mit Expansionsbestrebungen ging schon in den 1890ern die Propaganda für eine Flottenaufrüstung, die zunächst – für viele einsichtig – mittels sogenannter Auslandskreuzer tatsächlich dem Schutz der überseeischen Besitzungen dienen sollte, dann jedoch in eine Hochrüstung mündete, mit der man der britischen Schlachtflotte zumindest ebenbürtig werden wollte. 1898 begann mit Zustimmung des Reichstags der planmäßige Ausbau der deutschen Kriegsflotte nach den Plänen des Staatssekretärs im Reichsmarineamt Alfred von Tirpitz (1849–1930), der im selben Jahr auch den „Deutschen Flottenverein“ gründete, mit dem für diesen Ausbau publizistisch geworben wurde. Bereits 1897 hatte Tirpitz in einer Denkschrift für den Flottenausbau plädiert. Darin hieß es unter anderem: Für Deutschland ist zur Zeit der gefährlichste Gegner zur See England. Es ist auch der Gegner, gegen den wir am dringendsten ein gewisses Maß an Flottenmacht als politischer Machtfaktor haben müssen.391

Der Popularisierung der Flottenaufrüstung dienten unter Anderem Liedersammlungen wie die 1901 und 1913 von F. H. Schneider herausgegebenen „Flottenlieder mit leichter Klavierbegleitung“. Im Übrigen zeigte sich ein alltäglich sichtbarer Erfolg dieser Propaganda in der weiten Verbreitung von Matrosenanzügen und -kleidern für Jungen und Mädchen, eine Mode, die noch im Zweiten Weltkrieg nachwirkte. Wilhelm II. selbst zeigte sich besonders gern in der Uniform eines Admirals. Im Mai 1906 schließlich billigte der Reichstag eine weitere Flottenvorlage, mit der Deutschland endlich auch den Bau großer Schlachtschiffe beginnen konnte, die den britischen „Dreadnoughts“, einer neuen Art von Linienschiffen, entsprechen sollten. Verständlicherweise erkannte Großbritannien darin eine Bedrohung seiner maritimen Dominanz. Tatsächlich kam es während des Krieges nur einmal zu einem größeren Kräftemessen der beiden Kriegsflotten: in der Schlacht im Skagerrak Ende Mai 1916 – eine Schlacht, aus der letztlich kein eindeutiger Sieger hervorging und die auch 391 Zit. nach: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.) (1988): Rüstung im Zeichen der wil-

helminischen Weltpolitik. Grundlegende Dokumente 1890–1914. Düsseldorf: 122.

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die strategische Lage der Seekriegsführung nicht veränderte. Ein zweiter Versuch, die deutsche Hochseeflotte Anfang Oktober 1918 noch einmal für eine Entscheidungsschlacht zum Einsatz zu bringen, scheiterte an der Meuterei der Besatzungen – mit den bekannten Folgen für das Schicksal des Kaiserreichs. Wie sich die bis zum Kriegsbeginn ambivalenten Beziehungen zu Großbritannien auch außerhalb der „großen Politik“ niederschlugen, dass aber solche jenseits der offiziellen Politik und Diplomatie liegenden Momente auch und gerade mit ihrem inoffiziellen Charakter auf die Entscheidungsträger einwirken konnten, lässt sich an zahlreichen Beispielen nachweisen, die – auf beiden Seiten – vor allem in Pressekommentaren und Karikaturen zu jeweils aktuellen Themen bei den handelnden Politikern ihre oft negative Wirkung taten.392 Antienglische Stimmungen schlugen sich in Deutschland aber auch auf kulturellen Ebenen nieder, die man nicht auf Anhieb der politischen Sphäre zurechnen würde. So etwa in der Sprachpflege. Allerdings war sie durch den deutschfranzösischen Gegensatz und durch ihren – im Übrigen erfolgreichen – Kampf gegen französische Wörter und Wendungen in der deutschen Sprache sehr wohl hochgradig politisiert. Insofern konnte auch eine kritische Auseinandersetzung mit englischsprachigen Einflüssen keineswegs unpolitisch sein. In einem Vortrag vor der Hauptversammlung des sehr einflussreichen „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins“ (ADSV) von 1899, der mit seinem Titel ,,Wider die Engländerei in der deutschen Sprache”393 die allgemeine Zustimmung des Vereins fand, erklärte Hermann Dunger, Gründer des ersten Zweigvereins des ADSV in Dresden, gleich einleitend: Vielfach hört man die Ansicht aussprechen, der Kampf gegen die Fremdwörter sei jetzt nicht mehr nötig; jeder Deutsche sei gegenwärtig davon überzeugt, daß es seine Pflicht sei, entbehrliche Fremdwörter zu vermeiden. Wie wenig dies richtig ist, weiß jeder aufmerksame Beobachter der Sprache. Vieles ist zwar besser geworden, aber es ist noch lange nicht gut. Es giebt noch unendlich viel zu tun auf diesem Gebiete. Wir haben nicht nur mit den alten Feinden [!] immer noch zu kämpfen, sondern müssen auch neue Eindringlinge abwehren, die keck von allen Seiten Einlaß in unsere Muttersprache begehren. Besonders auffällig ist in jüngster Zeit das Einmengen neuer Fremdwörter aus dem Englischen.

Antienglische Ressentiments schlugen aber sogar bis in die Kinder- und Jugendbuchliteratur durch, etwa schon im Klassiker „Der Trotzkopf “ von Emmy von 392 Hierzu: Bremm (2013). 393 In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. 14. 1899: 241–251.

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Rhoden (1829–85). Darin ist zwar die deutsche Internatsschülerin Ilse mit der englischen Mitschülerin Nellie befreundet, doch gründet diese Freundschaft im Wesentlichen darauf, dass Nellie sich um eine emotionale wie sprachliche Annäherung ans Deutsche bemüht, weswegen ihr Ilse gleichsam den Ehrentitel „liebe englische Deutsche“ verleiht. Die Ankunft einer Gruppe von sechs jungen Engländerinnen im Internat gibt weitere Gelegenheit, dass Nellie sich noch mehr auf die Seite der Deutschen schlägt: „Ich mag meine Landsmänner gar nicht sehr!“ bemerkte Nellie eines Tages zu Ilse. „Die Deutschen liebe ich mehr. Ich will nicht zurück in meine Heimat.“

Und Ilse bestätigt ihr: „Du bist auch ganz anders wie deine Landsmänninnen, lange nicht so steif, so zurückhaltend und so hochmütig wie die! Sie sehen immer auf uns herab, als ob sie sagen wollten: ‚Gott sei Dank, daß ich keine Deutsche bin!‘“

Die Radikalisierung des Leitbilds von „deutscher Nation“ wurde also auch auf (scheinbar) politikfernen Ebenen zelebriert, die sich aber fast nahtlos mit aggressiven Ambitionen der offiziellen Politik verbinden ließen. Die unübersehbaren Differenzen zwischen dem konkreten Sprachgebrauch und seinem objektiven Fundament, zwischen Überheblichkeit und Selbstzweifel aber förderten auf sehr effektive Weise die Zuspitzung des Nationalismus zur Ideologie des Imperialismus, war doch dessen Maßlosigkeit besonders geeignet, politische wie mentale Unsicherheiten zu übertönen.

14  Die Korrumpierung der Leitbilder im Ersten Weltkrieg 14.1  Vom Militarismus zum Bellizismus und die „Ideen von 1914“ 271 |  14.2  Der Weg in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ 273

Im Rahmen der keineswegs nur deutschen Entwicklung zu einem radikalen Nationalismus und zum Imperialismus lässt sich am deutschen Beispiel zeigen, wie aus ursprünglich jeweils auch einzeln verfolgten Leitbildern unter Verkürzung der semantischen Reichweite ihrer sprachlichen Symbole bei gleichzeitiger Implementierung von Weltmachtvisionen und Rassenwahn eine geradezu tautologische Begriffseinheit entstand, die zu einer Art Überideologie werden konnte.

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Wer nun „deutsches Volk“ sagte, hatte zugleich eine sehr enge Definition von „Vaterland“ und „Nation“ im Sinn. Wer „Vaterland“ sagte, meinte einen politischen und mentalen Raum, in dem nur ein bestimmtes „Volk“, eine rassisch und ethnisch homogene „Volksgemeinschaft“ und eine bestimmte „Nation“ mit ihrem Anspruch auf Weltgeltung Platz haben sollten. „Nation“ stellte gleichsam eine Zusammenfassung derart semantisch verkürzter, zugleich aber auch überzogener Vorstellungen dar und war damit selbst – bei allem kolonialem Ausgreifen in ferne Weltgegenden – Ausdruck einer höchst eingeschränkten Weltsicht, die aber gleichwohl oder gerade deswegen zum besonders mächtigen Leitbild für die Realpolitik bis 1945 wurde. Zwar waren „ein Volk“, „ein Vaterland“ und „eine Nation“ schon seit dem Beginn des Jahrhunderts unter dem Urleitbild „deutsche Einheit“ in einer oft berufenen Trias von Parolen gegen die tradierte Vielstaaterei miteinander verbunden worden; doch konnten die Komponenten dieser Trias angesichts der noch in weiter Ferne liegenden Realisierungen durchaus auch ein gewisses Eigenleben entfalten. Noch 1910 finden sich beispielsweise in der 17. Auflage des „Synonymischen Handwörterbuchs der deutschen Sprache“ von Johann August Eberhard394 Restdifferenzierungen zwischen diesen drei Begriffen, wenn es dort unter anderem heißt: Volkstümlich kann auch heißen: dem Volke, der Nation gemäß, im Sinne des Volkes, der Nation, den Standpunkt der Nation den Ansprüchen oder Einflüssen des Auslandes gegenüber wahrend. National hat nur die letztgenannte Bedeutung; es hebt nur die Nation, das Volk als solches als eine eigenartige Einheit gegenüber dem Auslande hervor. […] Vaterländisch ist das, was sich auf das Vaterland bezieht oder diesem eigen ist. Das Wort hat einen engeren Kreis als national.

Erst unter dem Eindruck der politischen Entscheidungen zu Gunsten einer kleindeutschen Einheit unter preußischer Führung und der Einengung auf rassenideologische, „völkische“ Prinzipien waren diese Komponenten weitgehend ihres je eigenen Wertes beraubt. Die Ziele „ein Volk“, „ein Vaterland“ und „eine Nation“ schienen im Rahmen des Bismarck’schen Reiches erreicht. Nun konnten die sprachlichen Symbole als integrale Bestandteile einer Weltmachtpropaganda eingesetzt werden. Der entscheidende Unterschied zu einem früheren Gebrauch dieser Schlüsselwörter bestand darin, dass die darin repräsentierten Leitbilder ursprünglich 394 1. Auflage: Halle (1802). S. Artikel Nr. 1.448.

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im Wesentlichen auf die Binnenverhältnisse der Deutschen bezogen waren und, wenn es um das Außenverhältnis ging, sogar – man denke etwa an das Hambacher Fest von 1832 – die Perspektive einer freiheitlichen gesamteuropäischen Einheit (Frankreich eingeschlossen!) erkennen ließen. Die neue, imperialistische Deutung beinhaltete dagegen eine aggressive Stoßrichtung nach außen, gegen konkurrierende Mächte und Völker. Wie aggressiv inzwischen etwa der Begriff „Vaterland“/„vaterländisch“ ausgedeutet werden konnte, zeigte sich spätestens 1917, als sich unter dem Namen „Deutsche Vaterlandspartei“ all diejenigen zusammenschließen sollten, die gegen einen Verständigungsfrieden und damit gegen eine neue mehrheitliche Position im Reichstag, die zu einem solchen Frieden durchaus bereit war395, Front machen wollten. Im Gründungsaufruf dieser Partei396, deren 1. Vorsitzender nicht zufällig der Betreiber der Flottenaufrüstung gegen England, Alfred von Tirpitz, wurde, heißt es unmissverständlich: „… nur der unbeugsame auf des Vaterlandes Sieg bedachte Wille muß es [das Deutsche Reich] einen“. Man will nur einen „Siegfrieden“ akzeptieren. Im Aufruf ist ferner vom „in seinen Waffen unüberwindlichen Deutschland“ die Rede und dass es „um unseres Volkes Bestehen und Machtstellung in der Welt“ gehe. Auf der Strecke blieb schließlich jenes andere Urleitbild, die „Freiheit“, das sich in zahlreichen parteilichen Einzelinteressen schon verloren hatte oder wie im Aufruf der Deutschen Vaterlandspartei von 1917 nur noch als ausdrücklich aufs Deutsche reduzierte Abstraktion vorkam: Deutsche Freiheit steht himmelhoch über der unechten Demokratie mit allen ihren angeblichen Segnungen, welche englische Heuchelei und ein Wilson [der US-Präsident] dem deutschen Volk aufschwatzen wollen.

Bereits 1914 glaubte Wilhelm II. am Beginn des Weltkriegs, der vom Leitbild „Freiheit“ noch getragenen Meinungsvielfalt dadurch den Garaus machen zu können, dass er zur Begründung des „Burgfriedens“ erklärte, er kenne keine Parteien mehr, sondern „nur noch Deutsche“ – eine Wunschvorstellung, die sich zumal in der Arbeiterbewegung – nach einer anfänglich patriotischen Wende – im Verlauf der zermürbenden Kriegserfahrungen von Jahr zu Jahr immer mehr auflöste (Teil 2, 7). 395 Am 19. Juli 1918 sprach sich der Reichstag für einen Verständigungsfrieden und gegen Annexi-

onen aus. 396 Quelle: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/917_deut%20vaterlandspartei_181.,

letzter Zugriff: 2.11.2015.

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14.1  Vom Militarismus zum Bellizismus und die „Ideen von 1914“

Die Frage, wer für die Auslösung des Ersten Weltkriegs verantwortlich gewesen sei, wurde von den Siegern in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain ausschließlich zu Lasten von Deutschland und Österreich-Ungarn entschieden – eine für die deutsche wie österreichische Innen- und Außenpolitik schwere Hypothek. In nüchterneren Betrachtungen wird das Thema inzwischen aber auch differenzierter gesehen. Tatsächlich war die Bereitschaft zu einer kriegerischen Lösung wenn nicht aller, so doch der wichtigsten internationalen Probleme und Konflikte auf mehr oder weniger allen Seiten groß. In jedem Fall sind die diplomatischen Möglichkeiten, einen Krieg zu verhindern, die es bis zuletzt gab, sträflich vernachlässigt worden, so dass schließlich der Waffengang unvermeidlich erschien. Dabei dürfen freilich die österreichische Initialzündung mit der Kriegserklärung an Serbien und der deutsche Überfall auf Belgien und Luxemburg nicht wegdiskutiert werden. Das, was man Deutschland im Verfolg seiner politischen Ziele als Militarismus zuschreiben musste, hatte sich schließlich – auf allen Seiten – zum „Bellizismus“ entwickelt, d.h. zu einer ganz eigenen ideologischen Haltung, mit der man nur noch einem Krieg (lat. „bellum“) die Lösung aller Konflikte zutraute. Das Brisante an der Situation vor 1914 lag aber nicht zuletzt auch darin, dass sich europaweit unter Intellektuellen und Künstlern eine Endzeitstimmung ausgebreitet hatte, in der die Situation in Gesellschaft und Kultur als saturiert und erschöpft gewertet wurde. Bei aller Inhomogenität der Haltungen und Überzeugungen dieser sogenannten Fin-de-Siècle-Stimmung, die zwischen Zukunftseuphorie und Todessehnsucht, zwischen Aufbruchstimmung und Lust an der Dekadenz schwankte, gab es aber durchaus auch die gefährliche Perspektive, die verachtete Gegenwart könne durch ein „reinigendes Gewitter“, gegebenenfalls durch einen Krieg und die Vernichtung der tradierten Normen und Bedingungen überwunden werden. Mit dieser grundsätzlichen Stimmung verbanden sich in Deutschland spezifische Einstellungen zur politischen und gesellschaftlichen Gegenwart, die sich im Einzelnen allerdings bis in die Anfänge der Freiheits- und Nationalbewegung zurückverfolgen lassen, nun aber eine gefährliche Bündelung erfuhren. Im Zentrum stand – wie weiland die alles Nichtdeutsche überstrahlende „Deutschheit“ – das „deutsche Wesen“. Als bezeichnend für den politischen Anspruch, der mit dieser besonderen nationalen Qualität verbunden wurde, kann unter anderem eine Anspielung

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Wilhelms II. in einer Rede 1907 auf das Gedicht „Deutschlands Beruf “ von Emanuel Geibel gelten. Dessen Gedicht von 1861 endete – auch nicht gerade bescheiden – mit den Zeilen: „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen.“ Wilhelm aber zitierte diese Aussage ungenau, verschärfte sie aber dabei: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Aus „mag genesen“ wurde „soll genesen“, aus dem Wunsch wurde Befehl. Diese radikalisierte Fassung wurde bis in die NS-Zeit als Argument für einen deutschen Führungsanspruch weiterverwendet. Völlig neu war, wie gesagt, die Überschätzung deutscher Nationaleigenheiten nicht. Mit Kriegsbeginn aber wurden sie zu einer Ideologie komprimiert, mit der man sich nicht nur im Einzelnen, sondern grundsätzlich über alle anderen Nationen, insbesondere die der Kriegsgegner Frankreich, England und Russland, erheben konnte. Im Grundsätzlichen nahm man für sich in Anspruch, statt einer intellektualistisch-kalten, mechanistischen „Gesellschaft“ und einer oberflächlichen „Zivilisation“ eine organisch gewachsene, jede egalisierende Nivellierung abweisende „Gemeinschaft“ und eine schöpferische „Kultur“ zu repräsentieren.397 Natürlich beinhaltete diese klischeehafte Zuweisung positiver und negativer Nationaleigenschaften auch sehr prinzipielle Angriffe auf die Kriegsgegner und ihre politischen Normen. Insbesondere das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, das die Französische Revolution verkündet hatte, sowie der französische Parlamentarismus standen nun für die kulturelle Minderwertigkeit Frankreichs. Der Vorwurf eines vorrangig ökonomische Interessen verfolgenden Liberalismus wurde in erster Linie gegen England erhoben. Die Distanz zu Russland verdichtete sich im Schlagwort vom „russischen Despotismus“, das auch der SPD-Abgeordnete Hugo Haase am 4. August 1914 im Reichstag als Menetekel genutzt hatte, um die Zustimmung seiner Fraktion zur ersten Kriegsanleihe zu begründen. Alles in allem ging es dabei um eine konservative Abrechnung mit einer als absolut falsch zu wertenden Entwicklung, die von der Französischen Revolution und ihren Ideen angestoßen worden sei. Die deutsche Gegenposition beanspruchte ebenfalls die Qualität von „Ideen“, die nun unter dem volltönenden Begriff „Ideen von 1914“ zusammengefasst wurden. Darunter versammelten sich unter Berufung auf ein angeblich spezifisch deutsches Wertesystem, in dem nicht zuletzt die Nivellierung sozialer Unterschiede im Postulat einer einheitlichen „Volksgemeinschaft“ eine zentrale Rolle spielte, alle Vorbehalte gegen ein freiheitlich demokratisches Verständnis von Gesellschaft und Staat. Der Begriff 397 Dazu u.a.: Mommsen ,Wolfgang J. : Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Son-

derweges der Deutschen, in: Mommsen (1992): 407–421.

Die Korrumpierung der Leitbilder im Ersten Weltkrieg  |

war Ausdruck des nationalen Hochgefühls breiter Kreise am Beginn des Krieges, des sogenannten Augusterlebnisses. Urheber des Begriffs „Ideen von 1914“ scheint der Soziologe Johann Plenge gewesen zu sein.398 Die deutsche Geisteselite – von Rudolf Eucken über Gerhart Hauptmann, Max Scheler, Georg Simmel bis zu Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – stellte sich jedenfalls nach Kriegsbeginn mit teilweise abenteuerlichen Argumentationen voll auf die Seite der entschiedensten Militaristen399; selbst die Exzesse der Kriegsführung fanden ihre prominenten Verteidiger – alles im Namen einer „Kultur“, die in Deutschland ihren wahren Wohnsitz habe. Was dabei den Kriegsgegnern verächtlich als bloße „Zivilisation“ unterstellt und diskriminiert wurde, fand natürlich bei diesen seine eigenen Befürworter – mit entsprechender Häme für den kulturellen Alleinvertretungsanspruch der Deutschen.

14.2  Der Weg in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“

Das Wettrüsten auf dem Gebiet der Landstreitkräfte wurde durch die Balkankriege 1912/13 um den Einfluss auf die vom Osmanischen Reich in seinem europäischen Teil noch beherrschten Regionen ausgelöst. In diesem Konflikt spielten freilich die schon etablierten Bündnisse gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn noch keine Rolle; denn die beteiligten Mächte verfolgten mehr oder weniger nur ihre jeweils eigenen Expansionsinteressen. Dabei kam es aber insbesondere zwischen Russland und Österreich-Ungarn zu bedrohlichen Auseinandersetzungen, die einen größeren europäischen Krieg befürchten ließen. Bis auf England vermehrten alle Großmächte ihre Armeen – eine verhängnisvolle „Einstimmung“ auf die im Juli 1914 tatsächlich vom Zaun gebrochene kriegerische Konfrontation. Das Deutsche Reich war zunächst nur indirekt beteiligt, erlaubte sich mit Rücksicht auf möglichst gute Beziehungen zum Osmanischen Reich, mit dem 1914 überdies eine militärische Zusammenarbeit vereinbart werden sollte, sogar einen Einspruch gegen zu weitgehende Ansprüche Österreichs auf die türkischen Hinterlassenschaften auf dem Balkan, was zu ernsten Verstimmungen zwischen Wien und Berlin führte. 398 Vgl. Plenge, Johann (1916): 1789 und 1914: Die symbolischen Jahre in der Geschichte des poli-

tischen Geistes. Berlin. – Bruendel, Steffen (2003): Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin. 399 Dazu u.a.: Flasch (2000); Hoeres (2004).

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Ohne das Risiko einzukalkulieren, dass Russland und der von ihm geförderte Panslawismus einem Angriff auf einen slawischen Balkanstaat, insbesondere auf den größten, Serbien, mit Entschiedenheit entgegentreten würden, griff Österreich-Ungarn als Reaktion auf die Ermordung seines Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin am 28. Juni 1914 im bosnischen Sarajewo zu einem demütigenden Ultimatum an Serbien, wo man die eigentlichen Urheber des Attentats vermutete. Obgleich Serbien das Ultimatum bis auf die darin enthaltene Zumutung, letztlich sogar seine Souveränität aufzugeben, akzeptierte, drängten die militärischen Kreise in Wien auf eine Strafaktion gegen das Land. Dafür suchte und fand man schließlich auch die Unterstützung Berlins. Am 28. Juli unterschrieb Kaiser Franz-Joseph die österreichische Kriegserklärung an Serbien, was sofort zur Alarmbereitschaft für die russischen Streitkräfte an der Grenze zu Österreich-Ungarn führte. Binnen kurzem erfolgten auf allen Seiten Mobilmachungen, und eine Kriegserklärung folgte der anderen, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden muss. Der Weg in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) war gleichsam an sein Ziel gelangt. Und auch deren deutsche Bezeichnung als „Weltkrieg“400 hat angesichts der globalen Verflechtung der europäischen Mächte mit ihren überseeischen Schutzgebieten und Kolonien seine frühe Berechtigung gefunden. Schon am 25. Juli 1914 hatte, wie bereits früher erwähnt, der SPD-Parteivorstand hellsichtig gewarnt: „Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht!“ Noch am 28. Juli hatte freilich der britische Außenminister Sir Edward Grey in einer Parlamentsrede noch die Hoffnung geäußert, dass ein derartiger Krieg mit diplomatischer Hilfe Deutschlands, Russlands, Frankreichs und Italiens verhindert werden könne – angesichts der allgemeinen Kriegsbereitschaft eine Illusion. Das Deutsche Reich selbst war spätestens seit 1905 auf eine militärische Konfrontation vorbereitet. Unter Federführung von Alfred von Schlieffen (1833–1913), der 1891 Chef des Generalstabs geworden war, wurden Angriffsplanungen in Gang gesetzt, die einem befürchteten Zweifrontenkrieg zuvorkommen sollten. Der sogenannte Schlieffen-Plan sah eine schnelle Niederringung der französischen Streitkräfte vor, nach der die Masse der deutschen Truppen gegen Russland eingesetzt werden sollte. Wesentlicher Bestandteil dieser Planung war der Durchmarsch der deutschen Streitkräfte durch Luxemburg und Belgien, deren ursprünglich auch von Deutschland garantierte Neutralität 400 Für

weitere Beispiele des Wortgebrauchs s. etwa Arthur Schnitzlers Tagebucheintrag vom 5. August 1914: „Der Weltkrieg. Der Weltruin“. In nichtdeutschen Quellen war eher die Bezeichnung „Großer Krieg“ verbreitet.

Eskalation der radikalisierten Leitbilder  |

bedenkenlos missachtet werden sollte. Die unerwartet heftige Gegenwehr vor allem der Belgier brachte den von Schlieffen avisierten Zeitplan gehörig durcheinander. Sein Nachfolger Helmuth Johannes Ludwig von Moltke („Moltke d. J.“, 1848–1916)401 versuchte einerseits, diesen Plan zu forcieren, traf andererseits aber auch davon abweichende Entscheidungen, die einen Erfolg deutlich behinderten, was bereits am 14. September 1914 zu seiner Abberufung und zur Ernennung Erich von Falkenhayns zum Chef der Obersten Heeresleitung (OHL) führte. Der aber mochte schon ab Frühjahr 1915 an keinen Sieg mehr glauben – anders als seine Nachfolger Hindenburg und Ludendorff. Der deutsche Angriffskrieg geriet in Belgien und in Nordfrankreich ins Stocken. Der Bewegungskrieg wurde zum zermürbenden Stellungskrieg. Auch durch Offensiven beider Seiten mit kaum zählbaren Toten veränderte sich der Frontverlauf kaum. Allein die zehnmonatige Schlacht um Verdun 1916 kostete mehr als 300.000 Soldaten das Leben, ohne dass eine der Seiten einen nennenswerten Geländegewinn erzielen konnte. Die personelle und technische Überlegenheit der Alliierten, zu denen ab 1917 auch die USA gehörten, zwang die Oberste Heeresleitung zuletzt, am 29. September 1918, selbst auf einen schnellen Waffenstillstand zu dringen, wovon die Verantwortlichen nach dem Krieg bei der Verbreitung der „Dolchstoßlegende“, namentlich durch Hindenburg, den letzten Chef der Obersten Heeresleitung, aber nichts mehr wissen wollten.402 Dem sogenannten Bellizismus, dem mehr oder weniger alle beteiligten Mächte bei Kriegsbeginn wie in den blindwütig geführten Kämpfen bis zum Schluss gehuldigt haben, konnte de facto kein Leitbild mehr im Sinne einer zukunftweisenden Vision innewohnen.

15 Eskalation der radikalisierten Leitbilder und die Krise „deutscher“ Identität nach 1945

Mit der deutschen Niederlage von 1918 waren die aus der Freiheits- und Nationalbewegung erwachsenen, aber längst radikalisierten Leitbilder keineswegs am Ende, im Gegenteil: Gerade die politisch-semantische Verengung der Begriffs­ trias „deutsches Volk“ – „deutsches Vaterland“ – „deutsche Nation“ mit ihrer 401 Neffe

von Helmuth Karl Bernhard von Moltke (Moltke d. Ä.), dem Feldherrn von 1866 und 1870/71. 402 Erstmals sprach indes schon am 17.12.1918 ein Artikel in der Neuen Züricher Zeitung von „Dolchstoß“. Vgl. dazu auch: Teil 2, 2.2.

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gleichzeitigen rassenideologischen und imperialistischen Überhöhung erlebte bei allen, die sich mit dem gründlichen Scheitern dieser Visionen nicht abfinden wollten, einen ungeheuren Aufschwung, ja bildete geradezu das Fundament eines neuen, noch monströseren Zukunftsentwurfs, der seine brutale Realisierung mit der NS-Machtübernahme erfahren sollte. Die Berufungen auf die tradierten Hochwertbegriffe, die sich von der imperialistischen Deutung, die in die Katastrophe geführt hatte, freihalten wollten und eine Versöhnung mit den demokratischen Leitbildern der Weimarer Republik anstrebten, waren dagegen von vornherein im Nachteil. Sie konnten sich gegen die geballte Macht der rechtskonservativen und rechtsextremen Propaganda immer weniger durchsetzen – von der extrem-linken Agitation gegen die Republik ganz zu schweigen. Gegen Rechts half auch der Kompromiss der Weimarer Verfassung von 1919 nichts, mit dem der neue republikanische Staat den Traditionsnamen „Deutsches Reich“ beibehalten sollte. „Deutsches Reich“ wurde trotz oder gerade wegen des Scheiterns seines Anspruchs in der Realpolitik zu einer immer attraktiveren Zukunftsgröße erhoben, die – insbesondere durch Arthur Moeller van den Brucks Programmschrift von 1923 „Das dritte Reich“ – eine geradezu heilsgeschichtliche Dimension erhielt. Auch die populäre Kennzeichnung der NSDiktatur als „Tausendjähriges Reich“ war von dieser Deutung inspiriert.403 Die germanophilen und antisemitischen Implikationen dieses Leitbilds brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Der hauptsächlich von der Arbeiterbewegung geförderte Sieg über das Gottesgnadentum der Monarchen war zwar das Ergebnis einer Revolution, die sich der zur Tat entschlossenste Teil der Freiheitsbewegung von Anfang an gewünscht hatte, doch misstrauten nun wesentliche Gruppierungen von Revolutionsanhängern der neuen parlamentarisch-repräsentativen Ordnung, weil diese zur Stabilisierung des neuen Staates auch auf Kompromisse mit den Anhängern der alten Mächte angewiesen war. Vor allem die marxistisch-orthodoxen Kräfte hielten an ihrem Leitbild eines radikalen Umbruchs fest. Das Vorbild der russischen Oktoberrevolution mit ihrem Ziel einer „Räterepublik“ tat sein Übriges. Auf eigenartige Weise lebte der Revolutionsgedanke in der Weimarer Republik aber in noch ganz anderen Kreisen weiter. Zahlreiche neokonservative Intellektuelle erhofften sich für die deutsche Zukunft eine grundstürzende Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, allerdings keineswegs mit dem Ziel allgemeiner Freiheit und Gleichheit, sondern zu Gunsten einer geistes­ 403 Zur Überhöhung und Ausdehnung des „Reichs“-Gedankens in der NS-Zeit: Schlosser (2013):

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aristokratischen Führung der Nation. Zumindest zeitweise hegten eine solche Hoffnung Prominente wie Hugo von Hofmannsthal, die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ludwig Klages, Thomas Mann, Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt und Oswald Spengler. Armin Mohler fasste 1950 deren (letztlich inhomogenen) Positionen unter dem Begriff „Konservative Revolution“ zusammen.404 Die „klassischen“ Leitbilder des 19. Jahrhunderts verloren sich bereits vor 1933 im Spektrum (partei-)politischer Differenzierungen: das der Arbeiterbewegung in nach wie vor marxistisch-orthodoxen, „sozialistischen“ oder reform­ orientierten sozialdemokratischen Richtungen, wobei das NS-Regime der Hoffnung auf eine geeinte Arbeiterbewegung dann endgültig den Todesstoß versetzte. Das Leitbild der Liberalen war – wie schon vor 1914 – in unterschiedlichen parteipolitischen Akzentuierungen zersplittert. Man denke nur an die Aufspaltung der Fortschrittlichen Volkspartei nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in die Deutsche Demokratische Partei und die Deutsche Volkspartei sowie an den Übertritt eines Teils des rechten Flügels zur Deutschnationalen Volkspartei, die bis 1934 mit der NSDAP kooperierte. Übermächtig blieb bis 1945 die völkischimperialistische Deutung von „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“ sowie die Perversion des Einheitsgedankens in der organisatorischen wie geistigen Gleichschaltung. Die Versuche nach 1945, klassische Leitbilder wiederzubeleben, standen von vornherein unter den Bedingungen der politischen Spaltung Deutschlands und der Welt. Allein die zwischen Ost und West unterschiedlichen Vorgaben der Siegermächte für eine demokratische „Umerziehung“ der Deutschen hatten ihre Folgen bis 1989.405 Gemeinsam sorgten diese Vorgaben zunächst für eine Unterdrückung des von einer Mehrheit bis in den Untergang des NS-Reiches für unumstößlich gehaltenen Welt- und Selbstbildes. Der kommunistische Versuch, soziale und individuelle Unterschiede zu Gunsten eines „marxistisch-leninistischen“ Kollektivismus aufzuheben, führte dann im Osten Deutschlands in eine neue Diktatur. In der Bundesrepublik förderte der soziale Wandel in Verbindung mit tiefgreifenden technologischen Veränderungen und ihren Folgen für 404 S. dazu u.a.: Sontheimer, Kurt (31992): Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik.

München; Rupprecht, Michael (1995): Der literarische Bürgerkrieg. Zur Politik der Unpolitischen in Deutschland. Frankfurt a. M. 405 Dazu: Schlosser, Horst Dieter (2005): „Es wird zwei Deutschlands geben“ – Zeitgeschichte und Sprache in Nachkriegsdeutschland 1945–1949, Frankfurt a. M.

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die Arbeitswelt eine immer stärkere Individualisierung der Einstellungen, die für die Wiederbelebung alter, gar für eine nachhaltige Installierung neuer Leitbilder wenig Raum ließ. An deren Stelle traten vielfach nur propagandistische Formeln wie „Freiheit statt Sozialismus“ und/oder relativ kurzlebige Programmziele wie „Wohlstand für alle“ oder „soziale Gerechtigkeit“. Aber auch solche Reduktionsformen klassischer Leitbilder lebten und leben noch von der Hoffnung, dass mit sprachlichen Symbolen der Realität vorgegriffen werden könne. Auf keinen Fall aber stimmte, was 1989 beim Zusammenbruch des kommunistischen Systems der amerikanische Politologe Francis Fukuyama in einem berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ feststellen zu können glaubte: Mit dem „Sieg“ des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus sei auch der Krieg der Ideologien beendet. Seine Hoffnung, dass die Zukunft allein von Demokratie und Marktwirtschaft bestimmt sein würden, hatte selbst ideologischen Charakter und ist seitdem durch die tatsächlichen Entwicklungen zu Gunsten alt-neuer ideologischer Orientierungen mehr als widerlegt worden. Zu diesen Entwicklungen zählen nicht nur die neoliberale Perversion der Marktwirtschaftsidee, sondern – derzeit besonders bedrängend – das durch die sogenannte Pegida-Bewegung geförderte Misstrauen zur parlamentarischen Demokratie und ihren Institutionen sowie die wachsende Verbreitung nationalsozialistischer Anschauungen und Ordnungsvorstellungen, die sich immer stärker auch in Gewaltakten äußern. Die Sympathien für das NS-Gedankengut sind indes keineswegs nur die geistige Hinterlassenschaft Ewiggestriger. Sie sind aufs Ganze gesehen eine Reaktion auf die Umstände und Folgen des von außen bewirkten plötzlichen Endes des NS-Systems und der offiziellen Ächtung seiner Ideologie. Mehr oder weniger von heute auf morgen mussten die Deutschen 1945 nicht zuletzt einen Sprachwechsel vollziehen, bei dem alles tabuisiert wurde, was eine geistige Nähe zu dem soeben noch allmächtigen Leitbildkomplex hätte verraten können. In Ost und West waren die Wege, den Deutschen durch Sprachlenkung den NS-Geist auszutreiben, allerdings sehr verschieden. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde zunächst ein gewisser Rest an deutschem Nationalstolz durchaus geduldet, freilich unter strikter Einbindung in den Internationalismus der Arbeiterklasse. Scheinbar erleichtert wurde der Abschied von der NS-Ideologie durch Weiterverwendung einzelner Schlüsselwörter, die nun freilich semantisch neu aufgeladen wurden. Zentrales Beispiel ist das Wort „Volk“, das allem politisch Neuen eine quasi-demokratische Legitimation verleihen sollte: von „Volkspolizei“ über „Volkskongress“ und „Volkskammer“

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bis zu „Volksarmee“. Einen herben Einschnitt erfuhr das lange Zeit auch offiziell gepflegte gesamtnationale Selbstbewusstsein, als die SED im Zuge ihrer Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik mit Beginn der 1970er Jahre auch gesamtdeutsche kulturelle Gemeinsamkeiten zu leugnen begann. Bezeichnenderweise wurde in der Folge im Osten das Wort „deutsch“ aus zahlreichen Institutionennamen gestrichen und durch „DDR“ ersetzt. Die Herrschenden müssen aber geahnt haben, dass damit ein mentales Vakuum entstanden war. Wie anders soll man sich erklären, dass nun verstärkt Leitbilder wie „sozialistischer Patriotismus“ und „sozialistische Heimatliebe“ propagiert wurden, die indes kaum mehr als abstrakte Sprachgeburten waren. Die 1945 unterdrückten ideologischen Orientierungen riefen gleichsam nach Kompensation, als die Herrschenden nun auch noch den Volksnamen „deutsch“ tabuisieren wollten. Bereits seit 1960 wurden von der Stasi zahlreiche neonazistische Vorfälle registriert, von Hakenkreuzschmierereien bis zu Gewaltakten, die sich offenbar in dem von der SED geschaffenen emotionalen Leerraum unter Rückgriff auf die eigentlich verfemten NS-Ideologeme besonders gut entwickeln ließen. Wer gegen den verordneten „Antifaschismus“ war, geriet ohnehin leicht in die Nähe des „Faschismus“ – und sei es nur, wenn dabei ein Protestzeichen gesetzt wurde. Wie aber soll man angesichts gänzlich anderer politischer Bedingungen neonazistische Umtriebe in Westdeutschland erklären? Auch hier fand 1945 ein radikaler Wechsel im politischen Sprachgebrauch statt. Doch waren hier die Vorgaben für ein neues Sprechen und Schreiben längst nicht so rigide wie in der Sowjetzone. Und man ließ den Westdeutschen sehr viel mehr Zeit, die zunächst unvertrauten Schlüsselwörter einer neuen politischen Ordnung, allen voran den Begriff „Demokratie“, zu verinnerlichen. Gleichwohl fand auch in diesem Prozess etwas statt, was mit der Situation in Sowjetzone und DDR sehr wohl vergleichbar war. Wenn auch nicht so rigide verordnet wie dort, wo man etwa das Wort „Führer“ sogar in harmlosen Komposita wie „Führerschein“ oder „Fremdenführer“ tabuisierte406, ging man auch im Westen mehr und mehr auf Distanz zu sprachlichen Symbolen, die durch die NS-Ideologie korrumpiert erschienen. „Deutsche Nation“ war überdies etwas, was mit der Zeit als Begriff für die Gesamtheit der Deutschen in immer weitere Ferne rückte. Ähnliches galt für „Vaterland“, das man nur ungern auf einen Teil Deutschlands beschränkt sehen wollte. Und „Volk“ erschien nach dem NS-Missbrauch nun auch noch durch die kommunis406 Es durfte nur noch von „Fahrerlaubnis“ oder von „Stadtbilderklärern“ gesprochen werden.

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tische Instrumentalisierung unbrauchbar geworden zu sein. Die Folge solcher Distanzierungen im Verein mit dem Bestreben, die NS-Schuld durch demonstrative Bekenntnisse zu verdrängen, man wolle nur noch integraler Bestandteil einer internationalen Gemeinschaft, vorzugsweise des „freien Westens“ sein407, schuf auch hier ein mentales Vakuum, das offiziell nur schwer gefüllt werden konnte. Man erinnere sich allein der lange Zeit umstrittenen Einführung einer Nationalhymne und man denke an die immer wieder geführte Auseinandersetzung um eine „deutsche Leitkultur“. Bezeichnend für die – letztlich untauglichen – Versuche, den Westdeutschen dennoch einen Rahmen zu schaffen, in dem sie sich als ein spezifisches Kollektiv verstehen konnten, war etwa die Propagierung des Begriffs „Verfassungspatriotismus“, der sicher gut gemeint, aber genauso blutleer wie der „sozialistische Patriotismus“ war. Wie weit man sich im Westen zuletzt von der Überzeugung entfernt hatte, ein „Volk“, gar ein gesamtdeutsches Kollektiv zu sein, zeigte sich an den überraschten, teils geradezu verstörten Reaktionen auf die Parolen der DDR-Opposition im Herbst 1989. „Wir sind das Volk“ – das konnte man als Protest gegen die Anmaßung der SED, „stellvertretend“ für das Volk zu handeln, noch einigermaßen nachvollziehen. Aber „Wir sind ein Volk“ als Berufung auf eine gesamtdeutsche volkliche Einheit – das hatte man im Westen schon lange nicht mehr gehört, geschweige denn gefühlt. Die Parole „Wir sind das Volk“ muss seit einiger Zeit für den fremden-, insbesondere islamfeindlichen Protest der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“ (Pegida) herhalten. Es ist hier nicht der Ort, die inneren Widersprüche allein schon in der Selbstbezeichnung dieser Bewegung zu analysieren. De facto aber handelt es sich, nicht zuletzt auch bei der Verwendung schwarz-rot-goldener Fahnen um eine Parodie auf die DDR-Opposition, die 1989 sogar unter Lebensgefahr öffentlich auf die Straße ging. Dennoch verweist das Auftreten von Pegida auf blinde Flecken in der offiziellen politischen Kultur, ja sogar auf eine Krise im Verständnis deutscher Identität. Es ist auch nach der vielbejubelten Wiedervereinigung ganz offensichtlich nicht gelungen, in allen Teilen der deutschen Gesellschaft ein nationales Selbstbewusstsein (unter Einschluss auch der historischen Schattenseiten) zu schaffen und zu verankern, das zugleich das Eigene schätzt und das Fremde toleriert. Damit kehrt die Entwicklung deutscher Leitbilder gleichsam zu ihren Anfängen 407 In den fünfziger Jahren konnten sich nicht wenige Westdeutsche vorstellen, dass die Bundesre-

publik sogar ein Bundesstaat der USA werden könne.

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zurück, als das Eigene im Wesentlichen nur durch Überhöhung positiver Qualitäten und durch Herabwürdigung fremder Eigenart definiert werden konnte. Während Pegida außer ihrer Fundamentalopposition nicht imstande ist, die eigenen Parolen mit einer einigermaßen plausiblen Zukunftsvision zu verbinden, glauben die Neonazis, ihre Programme und Handlungen durch Rückgriff auf längst ad absurdum geführte Positionen bis hin zur Wiederbelebung des Germanen- und Rassenwahns als Grundlage einer neuen, „völkischen“ Einheit der Deutschen zu legitimieren. Dabei gehen – wie schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg, erst recht in der NS-Diktatur – Propaganda und physische Gewalt eine unheilvolle Verbindung ein, die mit den frühen Leitbildern der Freiheitsund Nationalbewegung, die auf das Wort und auf Argumente zu setzen versuchte, absolut nichts mehr gemein hat.

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ZUSAMMENFASSUNG 

Entwicklungslinien der Leitbildgeschichte

Zentrale These dieser Darstellung war, dass politische Leitbilder, die ihre Basis in bewusstseinslenkenden Schlüsselwörtern haben, in historischen Analysen oft unterschätzte, tatsächlich aber entscheidende Faktoren für das politische Handeln sein können. Für sie ist geradezu charakteristisch, dass sie dem Handeln oft sogar weit vorauflaufen und Handlungen in Richtungen lenken können, die sich aus den „objektiven“ historischen Gegebenheiten allein nicht hinlänglich erklären lassen. Wie die klassischen Utopien, aber auch jedes politische Programm erschaffen die Schlüsselwörter von Leitbildern zunächst eine nur-sprachliche Wirklichkeit, die im weiteren Verlauf entweder erreicht oder verfehlt wird. Sprache ist in diesen Prozessen Medium eines „Probehandelns“. Eine der fatalen „Verfehlungen“ ereignet sich immer dann, wenn eine ideale Vision und seine tatsächliche Verwirklichung immer weiter auseinanderdriften, das sprachliche Symbol des ursprünglichen Ideals aber unverändert weiter benutzt wird. Aus solchen Situationen entstehen Ideologien, die dann endgültig nur noch als sprachliche Konstrukte funktionieren, vor allem, wenn sie jede Bodenhaftung in der Realität verloren haben. Dass in diesem Sinne gemeinte Ideologien, genauer ihre sprachliche Fassung, sogar dann erst recht eine geradezu autosuggestive Kraft entwickeln können, durch die unentwegte Anhänger der jeweiligen Ideologie die längst weiterentwickelte Realität immer noch nur durch die Brille des einstmals fixierten Sprach- und Wortgebrauchs sehen können, hat die jeweilige Endzeit der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts bewiesen. Aber schon das 19. Jahrhundert liefert für derartige ideologische Entwicklungen von Leitbildern gleich mehrere prominente Beispiele. An erster Stelle muss das Leitbild monarchischer Herrschaft, das „Gottesgnadentum“, genannt werden, das 1918 seine Attraktivität und politische Macht verlor, aber in säkularisierter Form als Alleinherrschaft eines „Führers“ weiterlebte, der immer noch im angeblichen Einvernehmen mit der „göttlichen Vorsehung“ zu schalten und walten vorgab. Doch schon dem historischen Ursprung dieses Leitbilds fehlte eine überzeugende Übereinstimmung von transzendentalem Anspruch und diesseitiger Wirklichkeit, wenn man die magischen Bedingungen seiner Entstehung nicht als Ersatz dafür nimmt. Die historische Entwicklung dieses Mythos jedoch, nicht zuletzt in der Aufklärung, entfernte sich in jedem Fall von magischem Denken und ließ ihn zur puren Ideologie absinken, was

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nicht hinderte, ja geradezu Kennzeichen dieser Ideologie war, dass der Mythos vom Gottesgnadentum während des ganzen 19. Jahrhunderts als wichtigste weltanschauliche Stütze monarchischer Macht genutzt wurde. Das für die Opposition gegen die monarchische Herrschaft gerichtete, essentielle Leitbild nationaler Einheit, gleichsam ein Urleitbild, mit dem die durch den Deutschen Bund zusätzlich verfestigte Vielstaatlichkeit überwunden werden sollte, geriet ab 1849 unter den Druck partikularer, preußischer Machtinteressen, bis es spätestens 1866 durch den Ausschluss Österreichs aus der deutschen Binnenpolitik nur noch für eine kleindeutsche Konstruktion Gültigkeit besitzen sollte – die wohl radikalste Umdeutung eines Leitbilds. Was die Freiheits- und Nationalbewegung ursprünglich angestrebt hatte, wurde ab1849 unter Weiterverwendung der sprachlichen Symbole auf ein sehr viel engeres politisches Ziel reduziert, von Preußen letztlich missbraucht, wobei allerdings liberale Politiker Schützenhilfe geleistet haben. Bezeichnend ist der dabei vollzogene Perspektivwechsel: Hatten sich die Liberalen in der Paulskirche noch um eine preußische Führungsrolle bemüht, um ihrem Einigungswerk einen starken Schutz zu schaffen, so verkündete die Deutsche Fortschrittspartei 1861 bei ihrer Gründung, dass „die Existenz und die Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutschlands“. Aus der Sorge um Deutschland war die Sorge um Preußens Größe geworden, und dafür konnten dann die traditionellen Schlüsselwörter werbewirksam weiterverwendet werden. Deren weiterer Gebrauch – auch mit objektiv stark eingeschränkter, kleindeutscher Bedeutung – bewies, dass auch ein Staat, von dem man wie gerade im Falle von Preußen hätte annehmen können, er bedürfe eigentlich keiner Rechtfertigung mehr, zumindest für seine Außenwirkung auf Sprache angewiesen war. Geschickterweise bediente man sich dabei der Schlüsselwörter, die im politisch aktiven Teil der Gesellschaft bereits einen hohen Prestigewert hatten: „deutsch“, „Deutsches Reich“, „ein Volk – ein Vaterland – eine Nation“. Mit der Verengung ihres Gebrauchs auf preußische Bedürfnisse aber geht auch eine Radikalisierung der Begriffe einher, die sich zu Gunsten der am Ende des Jahrhunderts eskalierenden imperialistischen Ambitionen bequem instrumentalisieren ließ. Eine Sprachgeburt par excellence war die Erfindung der „arischen Rasse“ mitsamt der Behauptung ihres „nordischen“ Ursprungs, mit der sich der zuvor schon – auch von prominenten Freiheitskämpfern – verkündete germanischdeutsche Überlegenheitswahn in verhängnisvoller Weise verbinden ließ. War schon im Ursprung der Rassenideologie keinerlei beweisbare Übereinstimmung zwischen verbalem Anspruch und biologischer Realität zu finden, so ergab sich gerade bei dem noch weiteren Auseinanderdriften zwischen Wort und Sache in

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der Folgezeit ein immer größerer Freiraum für wildeste Spekulationen, aber auch für schlimmste Verbrechen. Diese Entwicklung förderte auch die Radikalisierung des Volksnamens „deutsch“, der am Ende des Jahrhunderts auf eine „völkische“, d.h. rassenbiologisch behauptete genetische Einheit der Deutschen eingeschränkt wurde. Der politische Glaubenssatz, dass die Deutschen allen anderen Völkern überlegen seien, war allerdings schon zu Beginn des Jahrhunderts aufgekommen und hatte erstaunlich viele prominente Anhänger. Gleichwohl waren auch die von der Einheitsbewegung politisierten Begriffe „deutsch“ und „Deutschland“ angesichts der zersplitterten politischen Landschaft, in der sie nach wie vor als Brückenbegriffe für kulturelle Gemeinsamkeiten der Territorien und Regionen dienen konnten, zunächst nur Schlüsselwörter für politische Zukunftsvisionen. Sie aber waren der Ausgangspunkt einer Deutschtumsideologie, die immer monströser wurde, je mehr man dem „deutschen Wesen“ positive, aber nur selten historisch beweisbare Qualitäten zuschrieb – vom Weiterleben einer (idealisierten) germanischen Wesensart über die behauptete größere Reinheit deutscher Abstammung bis zum Lob einer von Anbeginn gebrauchten lebendigen Sprache, die sich von den angeblich „toten“ Sprachen der Nachbarvölker abhebe. Fragt man nach den Wirkungen der Französischen, aber auch schon der Amerikanischen Revolution auf die Bildung deutscher Leitbilder, so stechen natürlich die Vorbilder „Revolution“ und „Republik“ hervor, die zumindest für Teile der antifeudalen Opposition richtungweisend geworden sind. Aber auch die Trias der deutschen Schlüsselwörter „Volk“, „Vaterland“ und „Nation“ im Rahmen des Leitbilds deutscher Einheit ließ anfangs sehr wohl noch französische Vorbilder erkennen; bezeichnend dafür war mancher frühe neidvolle Blick auf die französischen Ideale. Die Wertschätzung der französischen Revolutionsparole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ erfuhr in Deutschland indes schon vor 1815 eine folgenreiche Einschränkung durch die Erfahrungen mit den Exzessen der Revolution in Paris und mit der Restitution der Monarchie durch Napoleon. Dessen militärische und kulturelle Vereinnahmung weiter Teile Deutschlands und Europas reduzierte insbesondere den politischen Freiheitsbegriff auf das Ziel der „Befreiung“ von französischer Dominanz, was sich zuletzt zu einer wichtigen Komponente des deutschen Nationalismus auswuchs. Aber die Adaption der französischen Revolutionsparole war auch sonst höchst ungleichmäßig. Am stärksten konnte sich trotz antifranzösischer Ressentiments das allgemeine Leitbild „Freiheit“ durchsetzen, weil es sich zur Bündelung aller

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möglichen Oppositionshaltungen anbot. Neben „Einheit“ kann darum auch „Freiheit“ als ein deutsches Urleitbild gelten. Seine semantische Weite war aber auch die Schwäche des Begriffs, zumindest im Hinblick auf politisch-pragmatische Folgerungen. Das Spektrum der Deutungen reichte (und reicht noch heute) von der Betonung individueller Selbstbestimmung bis zu wirtschaftsliberalen Positionen. Die programmatischen Komponenten „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ hatten hingegen bereits in Frankreich selbst einen schweren Stand. Die Französische Revolution war vom Bürgertum getragen und ließ die unteren Schichten im doppelten Wortsinn links liegen, obgleich man sich zur Erreichung liberaler Wünsche ihrer Mithilfe, nicht zuletzt noch in der Pariser Julirevolution von 1830, bedient hatte. Das Ziel einer politischen und sozialen Gleichstellung von Besitzlosen und Bürgern war weder in Frankreich noch in Deutschland mehrheitsfähig; auch in der Paulskirche verwahrte man sich gegen angeblich falsche Ansprüche der Begriffe. Umso mehr griff die Arbeiterbewegung das Ziel politischer und sozialer Gleichheit auf, und Führungspersönlichkeiten wie August Bebel setzten sich in diesem Rahmen sogar für die rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann ein, die in den männerbestimmten Revolutionen der Amerikaner wie der Franzosen schlicht „übersehen“ worden war. „Brüderlichkeit“ war in den Anfängen der organisierten Arbeiterbewegung ein wesentlich nach innen gerichteter Appell, zur Durchsetzung vor allem sozialer Forderungen Gemeinsamkeit zu wahren. Nicht zufällig nannte sich die erste große Organisation der Arbeiterschaft „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“. Dieser eher idealistische Ansatz wurde dann freilich sehr bald durch das radikale Programm des „Kommunistischen Manifests“ – das wohl extremste Beispiel für eine nur-sprachliche Vorwegnahme künftiger Realität – durchkreuzt und an den Rand gedrängt. Bis 1918 beherrschte die Programdiskussionen der SPD wie schon ihrer Vorläuferorganisationen die Frage, wieviel Marxismus man zulassen und gegebenenfalls praktisch durchsetzen wollte. 1873 aber prangte auf der sogenannten Lassalle-Fahne des „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins“ noch einmal ohne jede Einschränkung der einzelnen Komponenten die französische Revolutionsparole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Ob sich die Vorläufer der SPD „sozialistisch“ oder „sozialdemokratisch“ nannten: stets war mit diesen sprachlichen Symbolen die Hoffnung auf eine noch längst nicht erfüllte politische und soziale Realität verbunden. Dass die SPD bei Kriegsbeginn 1914 den Glauben an die Internationalität der Arbeiterbewegung und den Pazifismus mit dem Schwenk zur Vaterlandsliebe in Einklang zu bringen versuchte, war ein äußerst riskanter Spagat zwischen zwei bis dahin einander eigentlich wesensfremden politischen Richtungen, der zu Spaltungen führen

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musste, wie sie sich mit der Gründung der USPD und auch des Spartakus-Bundes tatsächlich einstellen sollten. Das ursprünglich noch relativ arglos ins Leben gerufene Leitbild „Deutsches Reich“, das 1848 im wesentlichen verfassungsrechtlicher Ausdruck eines demokratischen Einheitsstreben sein sollte, erfuhr über die Stationen „Erfurter Union“ (1849/50) und „Norddeutscher Bund“ (ab 1866) eine zunehmend preußischmonarchische Verengung, damit aber auch eine politische Verschärfung, die sich in der Folgezeit zu einem Mythos des (klein-)deutschen Nationalismus auswachsen sollte, an dem man sogar noch unter republikanischen Bedingungen festhielt, als man in Artikel 1 der Weimarer Verfassung erklärte: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Nach dem Scheitern des ursprünglichen Leitbilds einer gesamtdeutschen, „großdeutschen“ nationalen Einheit widmeten sich die Liberalen, die dieses Scheitern nicht hatten verhindern können, wieder mehr dem Leitbild „Freiheit“, womit sie – unter geradezu programmatischem Verzicht auf revolutionäre Veränderungsabsichten – wenigstens auf die offenbar nicht mehr umkehrbaren politischen Verhältnisse Einfluss zu nehmen versuchten. Doch die grundsätzliche Unbestimmtheit dieses Urleitbilds verführte seine Vertreter sehr bald nicht nur zu eigentlich problematischen Kompromissen mit der faktischen Macht, sondern führte auch zu einer Reihe parteiinterner Differenzierungen und sogar zu Spaltungen, die jeweils von der Hoffnung getragen waren, dass man auf bestimmte Umstände, seien es parlamentarische Regelungen oder wirtschaftspolitische Strategien, in einem liberalen Sinne einwirken könne. Ein halbwegs linkes, aber kleines Lager der Liberalen hielt indes noch für lange Zeit am ursprünglichen Ideal einer nationalen Einheit mit Österreich fest und versuchte auch, sich immer wieder einmal mit den parlamentarischen Kräften der Arbeiterbewegung zu verständigen. Besonders mächtig aber wurde ab 1867 jene erste größere Abspaltung von der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei, die „Nationalliberalen“, die über viele Jahre Bismarcks treue Gefolgsleute waren, auch wenn sie verkündet hatten, einem „Fortschritt auf dem Gebiete der Freiheit“ zu dienen; wichtiger war ihnen letztlich laut Gründungsdokument, „die Zeichen der Zeit zu beachten und ihre Ansprüche zu befriedigen“ – ein nicht gerade prinzipientreues Programm. Angesichts der inneren Zerrissenheit der liberalen Parteiungen fällt es schwer, im 19. Jahrhundert – schwerer noch als beim Sozialismus – Liberalismus als einigermaßen konsistente Ideologie zu definieren. Bismarck hatte von Anfang an eine „deutsche“ Politik zu Gunsten einer Machtsteigerung für Preußen verfolgt. Sowohl die Erfurter Union von 1849/50

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als auch der Norddeutsche Bund ab 1866/67 waren diesem Ziel gewidmet. Mit dem Ausschluss Österreichs aus der deutschen Binnenpolitik durch den Deutschen Krieg von 1866 und mit der Vereinnahmung der süddeutschen Staaten im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 für ein „Deutsches Reich“ samt den Annexionen von Elsass und Lothringen entstand gleichsam ein großpreußischer Staat – das genaue Gegenteil der (nicht ganz freiwilligen) Ankündigung von Friedrich Wilhelm IV. im März 1848, Preußen werde fortan „in Deutschland aufgehen“. Von 1871 an setzten sich mehr oder weniger in ganz Deutschland preußische Vorstellungen von Staatsführung durch, die auf den Prinzipien einer an militärischen Mustern orientierten Zivilgesellschaft beruhte. Das Militär selbst errang unter Wilhelm II. zudem einen wachsenden Einfluss auch auf die Außenpolitik. Der preußisch-deutsche Militarismus – ein zeitgenössisch keineswegs negativ konnotierter Begriff – war gleichsam das Ferment für die allgemein um sich greifende Überzeugung, dass das neue Reich seine Stellung als europäische Großmacht nur durch seine Wehrhaftigkeit, gegebenenfalls auch durch einen Krieg gegen die anderen Großmächte bewahren könne. Darüber hinaus könne eine Weltgeltung nur errungen werden, wenn das Reich im Streben um außereuropäische Gebietserweiterungen, vorzugsweise durch Kolonien, gegenüber den traditionellen Kolonialmächten als ernst zu nehmender Konkurrent aufträte. Der gegen Frankreich wie Russland gerichtete Schlieffen-Plan und die Flottenaufrüstung waren die Eckpunkte einer wesentlich von militärischem Denken bestimmten Politik. Mag Deutschland als „verspätete Nation“ (H. Plessner) bei seiner Präsentation auf internationaler Ebene zwecks Kompensation seiner politischen „Nachholbedürfnisse“ auch vielfach überzogen agiert haben, so steht doch außer Zweifel, dass auf der Gegenseite ähnlich verhängnisvolle Einstellungen festzustellen waren. Insbesondere der spätestens nach 1871 in Revanchegelüsten ebenfalls eskalierende französische Nationalismus stellte ein keineswegs besänftigendes Vorbild dar, von übernational wirkenden panslawistischen Ambitionen Russlands ganz zu schweigen. Mit den Folgen der Balkankriege von 1912/13 setzte sich allseitig eine politische Haltung durch, die, „Bellizismus“ genannt, die Lösung der internationalen Konflikte nur noch durch einen Krieg für möglich hielt. In Deutschland jedenfalls schienen zuletzt die Schlüsselwörter des Urleitbilds von deutscher Einheit „ein Volk“, ein „Vaterland“ und „eine Nation“ durch ihre Indienstnahme für preußische Machtinteressen von jeder Möglichkeit abgeschnitten, zu einem erträglichen europäischen Miteinander beizutragen, wie es

Entwicklungslinien der Leitbildgeschichte  |

bei aller Abgrenzung gegen Nichtdeutsches im Denken der Freiheits- und Nationalbewegung bis 1848/49 als politisch praktikable Perspektive sehr wohl auch vertreten worden war. Die österreichischen Verhältnisse nahmen jenseits der preußisch-deutschen Binnenschau eine in ihren Folgen ebenfalls negative Entwicklung, die zusätzlich und zuletzt entscheidend vom Nationalitätenkonflikt des Vielvölkerstaats belastet war. Seit 1890 erfuhren die deutschen Leitbilder in der offiziellen Politik wie in der öffentlichen Meinung eine Steigerung nur noch in Richtung einer Art Überideologie – eine Ideologie die über die Niederlage von 1918 hinaus, gerade durch die extreme Entfernung ihrer verbalen Ansprüche von den Realitäten, die weitere Richtung deutscher, aber auch österreichischer Politik negativ beeinflusste und erst 1945 militärisch, von außen besiegt werden konnte. Die Vorgaben der Siegermächte für eine „Umerziehung“ der Deutschen waren auf Grund sehr verschiedener politischer Zielvorstellungen zwar unterschiedlich, hatten aber ein sehr ähnliches Ergebnis: Der mit der deutschen Niederlage mehr oder weniger plötzlich unterdrückte allmächtige Leitbildkomplex der NSZeit und seine Schlüsselwörter ließen sich durch Sprachlenkung allein nicht in gleicher Geschwindigkeit aus den Köpfen und Gefühlen verbannen. Die Kommunisten versuchten es mit rigiden Tabuisierungen und/oder semantischen Umpolungen wie vorzugsweise beim Begriff „Volk“, griffen nach der politischen Spaltung auch das Wort „Vaterland“ auf, schränkten aber seine Geltung durch die Attribuierung „sozialistisch“ auf ihren Herrschaftsbereich ein. Dasselbe Schicksal erfuhren die Begriffe „Nation“ und „national“. Sie wurden überdies der Ideologie des Internationalismus der Arbeiterklasse untergeordnet. Schließlich fiel im Zuge der DDR-Abgrenzungspolitik auch das Kernwort der lange Zeit noch gemeinsamen Leitbilder, „deutsch“, damit auch „Deutschland“ als Begriff politischer und kultureller Gemeinsamkeiten, einer weitgehenden Tabuisierung zum Opfer. Die westdeutsche Distanzierung von korrumpierten Schlüsselwörtern ging langsamer, damit aber auch eindringlicher vonstatten. Verbal bemühte man sich zwar darum, gesamtdeutsche Perspektiven zu erhalten. Doch verblassten sie – außerhalb von „Sonntagsreden“ – auch hier zunehmend durch die bis ins Private reichenden Bekenntnisse, das Deutsche nur noch als Bestandteil internationaler Orientierungen gelten zu lassen. Bezeichnend für die Haltung vieler war der Kommentar einer Frankfurter Politikerin zu den Montagsdemonstrationen in der DDR 1989: „Die Toskana liegt mir näher als Leipzig.“ Westdeutsches Bemühen um „Internationalität“, mehr und mehr auf eine „europäische Identität“

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fixiert, und kommunistischer Internationalismus hinterließen im Hinblick auf ein nationales Selbstbild in Ost und West letztlich gleichermaßen ein mentales Vakuum, in das eine „völkische“ Orientierung und damit eine Rückbesinnung auf längst ad absurdum geführte Leitbilder der späten Nationalbewegung zu stoßen versucht. Auf der anderen Seite bezeugen seit 1990 antifaschistische Kreise, wie wenig sie überhaupt mit einem „deutschen“ Staat anfangen können. Exemplarisch für diese Richtung ist der Slogan „Nie wieder Deutschland“. Von den anfänglichen Hoffnungen der Freiheits- und Nationalbewegung kann man kaum deutlicher Abschied nehmen, das freilich auch als Folge der Erinnerung an den horrenden Missbrauch dieser Hoffnungen.

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

Nur punktuell genutzte Titel werden in den Anmerkungen zitiert.

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PERSONENREGISTER

A Alberich, Zwergenkönig  81 Albrecht, österr. Erzherzog  150 Albrecht, Wilhelm Eduard  114 ff. Anton „der Gütige“, sächs. König  104 Arminius, Cheruskerfürst  76 Arndt, Ernst Moritz  31, 84, 91 f., 108, 124, 127 Arnim, Achim von  91 Ascher, Saul  85 Audorf, Jacob  199 B Bakunin, Michail  134, 147, 203 Barbarossa (Friedrich I.), Kaiser  72 Bassermann, Ernst  231 Bassermann Friedrich Daniel  140, 153, 171, 175 Bauer, Elvira  91 Baumann, Hans  83 Bebel, August  96, 200 ff., 204 ff., 206, 211, 219, 224 ff., 226, 234, 242, 245, 286 Bebel, Julie  220 Bennigsen, Rudolf von  231 Bernstein, Eduard  211 Bethmann-Hollweg, Theobald von  261 Biedermann, Karl  172 Bismarck, Otto von  175 f., 179, 196, 205 ff., 209, 216 f., 230 ff., 233, 235, 237, 241, 243, 245 ff., 249 f., 252 ff., 256, 258 ff., 287 f. Blum, Robert  150, 153, 156 Börne, Ludwig  118, 122 Boisserée, Sulpice  73 Bonhoeffer, Dietrich  91 Bonsel, Waldemar  262 Braun, Lily  227 f.

Brentano, Clemens  91 Brüggemann, Karl Heinrich  107 Büchner, Georg  56, 110, 112 ff., 117 f., 124 Bülow, Bernhard von  80, 263 Bunsen, Christian von  166 Buol-Schauenstein, Johann Rudolf von  35, 42, 58 f., 69, 74 Burte, Hermann  34 C Caprivi, Leo von  209, 261 Carl-August , Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 99 Chamberlain, Houston Stewart  36, 88 ff. Chamisso, Adelbert von  91 Clausewitz, Carl von  261 Condorcet, Caritat de  221 f. Constant, Benjamin  27 f. D Dahlmann, Friedrich Christoph  114, 116, 167, 171, 175 Danton, Georges Jacques  29 Darwin, Charles  85 f., 225 Deidesheimer, Friedrich  109 Distler, Hugo  34 Düsar, Amalie  220 Duncker, Franz Gustav  238 Dunger, Hermann  267 E Eberhard, Johann August  269 Ebert, Friedrich  212 f. Eichendorff, Joseph von  91 Engels, Friedrich  21, 35, 128, 130, 132, 135, 137 ff., 183, 188 ff., 192, 194, 200, 214, 216

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|  Personenregister

Ernst August I., König von Hannover  114 Eucken, Rudolf  273 Ewald, Heinrich Eduard August  114 F Falkenhayn, Erich von  275 Ferdinand I., österr. Kaiser  115, 151 Feuerbach, Ludwig  134 Fichte, Johann Gottlieb  25, 29 f., 33, 39, 42, 74, 84, 92, 102, 224, 258 Fontane, Theodor  94, 147 Forster, Georg  26, 221 Fouqué, Friedrich de la Motte  91 Franz I., österr. Kaiser (bis 1806 Franz II., röm.-dt. Kaiser)  50, 60 Franz Ferdinand, österr. Erzherzog  274 Franz Joseph I., österr. Kaiser  151, 274 Freiligrath, Ferdinand  27, 42, 125, 130 ff., 135, 138, 247 Friedrich I., preuß. König  246 Friedrich II. (Friedrich d. Gr.) preuß. König  23 Friedrich III., dt. Kaiser  233 Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Hessen-Kassel 35 Friedrich Wilhelm III., preuß. König  36, 38, 60, 148 Friedrich Wilhelm IV., preuß. König  55, 73, 148 f., 166, 171 f., 288 Fries, Jakob Friedrich  100 Fröbel, Julius  168 f. G Gagern, Hans Christoph Ernst von  51, 58 ff., 69, 124, 172 Gagern, Heinrich von  140, 153, 158 f., 163, 165, 167, 171, 175, 239 Gagern, Max von  153 Galton, Francis  85 f. Geibel, Emanuel  272 Gentz, Friedrich von  53 f. Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von  76 Gervinus, Georg Gottfried  114, 116, 167

Gobineau, Joseph Arthur Graf  86 ff., 90 Goebbels, Joseph  84 Göring, Hermann  84 Görres, Joseph von  73 Goethe, Johann Wolfgang  99, 122, 257 Gouges, Olympe de  221 f. Grabbe, Christian Dietrich  118 Grey, Edward  274 Grimm, Jacob  32, 42, 78 f., 114, 116, 161 f., 167 f. Grimm, Wilhelm  79, 114 Gutzkow, Karl  98, 117 ff., 220 H Haase, Hugo  212 f., 228, 272 Hagen von Tronje  83 Haller, Karl Ludwig von  24, 49, 52 f. Hardenberg, Karl August von  54 Hartmann, Georg Wilhelm  205 Hasenclever, Wilhelm  205 Hatzfeld, Sophie von  200, 220 Hauptmann, Gerhart  273 Hecker, Friedrich  134, 141, 144 f., 153, 156 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  54, 124,190 Heine, Heinrich  27, 65, 73, 117 f., 122, 127 ff., 137, 182, 185 Hepp, Philipp  106 Herder, Johann Gottfried  33, 258 Hermann (eigtl. Arminius)  76 f. Herwegh, Emma  220 Herwegh, Georg  63, 125, 132 ff., 137, 145, 220 Herzl, Theodor  94 Hindenburg, Paul von  82 ff., 275 Hippel, Gottlieb von  223 Hitler, Adolf  41, 46, 57, 77, 84 Hölderlin, Friedrich  54, 257 Hoffmann von Fallersleben, August ­Heinrich  28, 34, 39, 42, 92, 125 ff., 131 Hofmannsthal, Hugo von  277

Personenregister  |

Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu  209 f. Homer 80 Hutten, Ulrich von  131 I Itzstein, Johann von  156 J Jahn, Friedrich Ludwig  31, 41, 63, 77 Jefferson, Thomas  23 Johann, österr. Erzherzog, Reichs­ verweser  158 f. 161, 167 Joseph II., röm.-dt. Kaiser  94 Jünger, Ernst  277 Jünger, Friedrich Georg  277 K Karl d. Gr.  72 Karl II., Herzog von Braunschweig  104 Karl X., frz. König  20, 103 Kautsky, Karl  210 f. Ketteler, Wilhelm Emanuel von  254 Klages, Ludwig  277 Kleist, Heinrich von  30 f., 76, 84 Klinger, Friedrich Maximilian  25 Klopstock, Friedrich Gottlieb  25, 34, 76 Kluge, Kurt  34 Körner, Theodor  37 Kossuth, Lajos  149 Kotzebue, August von  63, 100 Kreis, Wilhelm  80 Kühbeck, Aloys von  179 L La Fayette, Marquis de  23 Lang, Friedrich  158 Lanzinger, Hubert  73 Lassalle, Ferdinand  194 ff., 211, 220 Laube, Heinrich  98, 117 ff. Ledóchowski, Mieczyławski Halka  225 Leo XIII., Papst  253

Leopold von HohenzollernSigmaringen 243 Lichnowski, Felix von  137 Liebknecht, Karl  212 f., 227 Liebknecht, Wilhelm  200 ff., 204 f., 212, 237, 245 List, Friedrich  15, 140 Louis Philipp, frz. König  103, 113, 141 f. Ludendorff, Erich  83, 275 Ludwig II., bayer. König  246 Ludwig XIV., frz. König  246 Ludwig XVI., frz. König  20, 29 Lüchow, Johann Christian  192 Lützow, Ludwig Adolf Wilhelm von  37 Luther, Martin  72, 91, 99 f., 108 Luxemburg, Rosa  211, 213, 227 M Macpherson, James  76 Mallinckrodt, Hermann von  254 Mann, Thomas  277 Marie Antoinette, frz. Königin  29 Marr, Wilhelm  94 Marx, Karl  21, 35, 54, 128, 130, 134 ff., 183 ff., 188 ff., 194, 200 f., 203, 206, 214, 216 Mathy, Karl  140 f., 171, 175 Max von Baden, Reichskanzler  213 Maximilian I. Joseph, bayer. König  60 Maximilian II., bayer. König  146 Metternich, Clemens Wenzel von  53 f., 62, 64, 100, 148, 150 Miquel, Johannes von  231 Mittermaier, Carl  165 Moeller van den Bruck, Arthur  276 f. Moltke, Helmuth Johannes Ludwig von 275 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von  243, 261 Mommsen, Theodor  96, 230 Mounier, Jean-Joseph  53 Müller, Wilhelm  64

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|  Personenregister

Müller von Nitterdorf, Adam Heinrich  53 f., 258 Mundt, Theodor  117, 123 f. N Napoleon I.  10, 27, 29, 31, 37, 44, 47 ff., 54, 76, 99, 285 Napoleon II.  143 Anm. Napoleon III.  142 f., 243 f. Naumann, Friedrich  233 Nietzsche, Friedrich  86 Nikolaus II., russ. Zar  20 O Oetker, Friedrich  231 Ossian (pseudo-kelt. Barde)  76 Otto-Peters, Louise  223 f. P Peters, Carl  264 f. Pius IX., Papst  252 Plenge, Johann  273 Ploetz, Alfred  89 Prutz, Robert  182 Püttmann, Hermann  132, 135 R Rée, Anton  238 Rey, Lucien  108 Rhoden, Emmy von  267 f. Riemann, Heinrich Hermann  76, 100 f. Robespierre, Maximilien  26, 29, 100 f. Rödiger, Georg Ludwig  77, 101 Rosenberg, Alfred  90 Ruge, Arnold  255 Rousseau, Jean-Jacques  32 f., 61 Rühl, August  36 S Saint-Simon, Henri de  185, 189, 214 Sand, Karl Ludwig  69, 100 Savigny, Karl Friedrich von  67, 177 f. Scheffel, Victor von  79

Scheidemann, Philipp  164, 213 Scheler, Max  273 Schelling, Friedrich Wilhelm  54 Schenkendorf, Max von  26 Schickedanz, Arno  90 Schiller, Friedrich  25, 187, 258 Schlegel, August Wilhelm  221, 258 Schlegel, Caroline  221 Schlegel, Friedrich  258 Schlieffen, Alfred von  261, 274 f. Schlözer, August Ludwig  23 Schmitt, Carl  277 Schubart, Christian Friedrich Wilhelm  24 Schulze-Delitzsch, Wilhelm  196, 230 Schweitzer, Johann Baptist von  200 Siebenpfeiffer, Philipp Jakob  77, 107 f., 220 Siegfried (Sagenheld)  80 f. Siemens, Werner  14 Simmel, Georg  273 Simson, Eduard  171, 175, 237 Speer, Albert  41 Spengler, Oswald  277 Stein, Heinrich Friedr. Karl vom und zum  72 Steuben, Friedrich Wilhelm von  23 Stoecker, Adolf  94 f. Streicher, Julius  91 Stresemann, Gustav  233 Struve, Gustav  141 f., 145, 153 Sudre, François  10 Sutther, Bertha von  227 T Tacitus, Publius Cornelius  74 ff. Thiers, Adolphe  244 Thomas, Johann Christian  111 Thor (german. Gott)  82 Thuisko (german. Gott)  Tirpitz, Alfred von  266, 270 Treitschke, Heinrich von  96 Tucholsky, Kurt  42

Personenregister  |

U Uhland, Ludwig  39, 153 V Varnhagen, Rahel  221 Virchow, Rudolf  14, 230, 252 W Wagner, Richard  80, 86, 88, 147 Waldeck, Franz  154 f. Wallenstein 181 Weber, Alfred  233 Weber, Max  233 Weber, Wilhelm Eduard  114 Weerth, Georg  125, 132, 135 ff. Weidig, Friedrich Ludwig  112 ff. Weitling, Wilhelm  185 f. Welcker, Carl Theodor  152 Wienbarg, Ludolf  12, 28, 73, 117 f., 120 ff., 138 Wigard, Franz  241 f.

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von  273 Wilhelm I., preuß. König, dt. Kaiser  56, 148, 200, 207, 233, 237, 243, 246 Wilhelm II., dt. Kaiser  80, 88, 95, 209, 259 ff, 265 f., 270, 272, 288 Wilhelm IV., König von England und Hannover 114 Wilhelm, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 104 Wilhelm II., Kurfürst von HessenKassel 104 Windthorst, Ludwig  254 Wirth, Johann, Georg August  105, 107 ff. Wolff Theodor  233 Wotan (german. Gott)  82 Z Zetkin, Clara  211, 226 f.

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SACHREGISTER

A Alldeutscher Verband  42, 87, 232, 264 f. Allgemeine Deutsche Arbeiterver­ brüderung  186 ff., 218, 286 Allgemeiner Deutscher Arbeiter-­ Verein  194 ff., 199 f., 204 f., 237 altdeutsch  28, 43, 121 Amerikanische Revolution  12 f., 19ff., 32 f., 43, 53, 142, 162, 219, 285 Anarchismus, Anarchisten  19 Annolied 75 antidemokratische Propaganda  276 antienglische Positionen  267 f. Antifaschismus 279 antifranzösische Positionen  31, 108 antimodernistische Leitbilder  71 ff. Antijudaismus  90 ff. Antisemitenliga 94 Antisemitismus, antisemitisch  9, 15, 84, 90, 92, 94 ff. Arbeiter (Begriff )  181 Arbeiterbewegung  9, 18, 21, 32, 35, 40 f., 57, 139, 151, 134, 180 ff., 214 f., 217 ff., 225, 235, 258 f., 270, 276 f. Arbeiterklasse  19, 184, 191 ff., 215 ff., 278 Arier, arisch  84 ff., 90 ff. Arminius-Hermann-Kult  76 f. Aufklärung(sideen)  22, 24 f., 55, 257 Ausland, innerdeutsches  35, 163, 239 außersprachliche Symbole  13 f., 38, 139 B Baden 1848/49  143 ff., 153 Balkankriege 1912/13  273 Bardendichtung 76 Batavische Republik  44 Bayern  72, 146 f., 237, 245, 259 Befreiungskriege 54

Belgien  82, 103, 186, 271, 274 f. Bellizismus 271 Berliner Antisemitismusstreit  96 Biedermeier 64 Boxeraufstand 1900/01  260 Brüderlichkeit  32, 162, 180, 186, 218 Bundesakte 1815  50 f., 56 f., 60 Bundesstaat  50, 164 f., 235 Burgfrieden  212 f., 227, 270 Burschenschaften  38, 63, 77, 95, 99, 110 C Centralmärzverein 169 Christlich-soziale (Arbeiter-)Partei  94 Cisrhenanische Republik  44 citoyen, Ernennung zum frz.  25 Commune de Paris  244 D Dänemark  161, 177 Demagogenverfolgung  63 f. Demokraten, demokratisch  26, 28, 43, 46, 51, 59 f., 97, 103 f., 123, 134, 138, 140 ff., 147, 150, 153, 156 f., 164, 169, 187, 197, 201 f., 206, 214, 229, 231, 235, 237, 276 f. Demokratie   27, 49, 51, 60 f., 160, 213, 270, 279 deutsch, Deutsche  17, 27, 33, 35, 37ff., 75, 180, 258 Deutsch-Dänische Kriege  161, 177 Deutsch-Französischer Krieg  243 ff. deutsch-polnische Konflikte  242, 254 ff. Deutsche Bundesakte 1815  34, 50 f., 56, 66, 177 Deutsche Demokratische Legion  134, 145, 220 Deutsche Demokratische Partei  233

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|  Sachregister

Deutsche Fortschrittspartei  15, 229 ff., 236 Deutsche Freisinnige Partei  233 Deutsche Reichspartei  250 Deutsche Vaterlandspartei  270 Deutsche Volkspartei (bis 1910)  231 Deutsche Volkspartei (ab 1918)  233 Deutsche Zentrumspartei (Zentrum)  233, 253 ff. Deutscher Bund (Turnbewegung)  31 Deutscher Bund 1815-66  38, 47 ff., 123 f., 140 Deutscher Bund 1869  236, 246 Deutschen Flottenverein  266 Deutscher Kaiser  45, 164, 246, 249 Deutscher Krieg 1866  177 ff. Deutscher Nationalverein  229 Deutscher Zollverein  15, 140 f., 176, 237 Deutsches Reich  17 f., 41, 164, 175 f., 234, 242 ff., 247, 287 f. Deutschkonservative Partei  94, 232 Deutschland  33, 37 ff., 50, 180, 205, 215, 256, 285 Deutschnationale Volkspartei  233 Deutschtumsideologie  30, 41, 74, 78, 84, 102, 272 Diätenverbot 237 Dialekte  39, 70 Dolchstoß-Legende  83, 275 Dreibund 1882  262 Dreikönigsbündnis 1849  67, 175 Drittes Reich  276 E Einheit, deutsche/nationale  14, 17, 31, 36, 38, 41, 67, 73, 75, 98 f. 142, 153, 165, 170, 174, 180, 218, 229 f., 234, 242, 251, 256, 269 Elsass und Lothringen  205, 244 f., 247, 251 Emser Depesche 1870  243 Entente cordiale 1903  263

erbliches Kaisertum  44, 152, 164, 170, 175, 201 Erfurter Union  45, 67, 171, 175 f., 235, 249, 258 f. F Fahnen  14, 38, 105, 236, 280 Februarrevolution, französische 1848  20, 137, 188 Februarrevolution, russische 1917  20 Feuerbach-Thesen 54 Fin-de-Siècle 271 Flottenpolitik  266 f. Flugblätter, -schriften  98, 170 föderativ  48, 50, 62, 157, 164, 235, 250 Fortschritt  14 f., 18 Fortschrittliche Volkspartei  233 Fraktionen (Clubs) 1848/49  155 f. Frankfurter Septemberunruhen 1848  159 Frankfurter Vorparlament 1848  142 Frankfurter Wachensturm 1833  110 ff. Französische Revolution  12 f., 18 ff., 25, 27, 29, 33, 43, 49 f., 53, 59, 61, 99, 117, 144, 162, 180, 186, 193, 199, 218 f., 272 französische Revolutionsparole  18, 32, 101, 162 Frauenbewegung  13, 219 ff. Freiheit  9, 12, 17 ff., 22 ff., 38 ff., 91, 98, 112, 124, 138, 151, 158, 180, 199 202, 218 f., 224, 228 f., 232 ff., 238, 241 f. 252, 254, 270 Freikonservative Partei  237 Freisinnige Vereinigung  233 Freisinnige Volkspartei  233 Freizügigkeit 239 Friede von Malmö 1848  161, 168 Frühsozialismus, -sozialisten  18, 125, 127, 132, 138, 143, 185 f., 214 G Gegenrasse 90 Germanenideologie  18, 42 f., 74 ff., 85 ff. Germania  41, 74 f., 77

Sachregister  |

Germanisches Nationalmuseum  78 Germanisches Reich Deutscher Nation 46 Germanistik  79 f. Germanisierung  255 f. Gewerkschaften  181, 187, 198, 207 Gleichberechtigung der Frau  219, 225, 228 Göttinger Sieben 1837  114 ff. Gothaer Nachparlament 1849  175, 237 Gottesgnadentum  12, 18 f., 55 ff. 70, 149, 166, 170, 258 großdeutsch, Großdeutschland  41, 50, 165, 180, 215, 218, 231, 245, 259 Grundrechte  23, 40, 147, 160 ff., 171, 174, 176, 236, 250 H Hambacher Fest 1832  38, 99, 103 ff., 124, 126, 270 Heckerlied  145 f. Heckerzug  134, 145, 220 Heidelberger Versammlung 1848  141, 152 Heilige Allianz 1815  57, 106 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation  44 f., 47, 50, 71, 163, 258 Heldenkult  80 f., 83 f., 101 Helgoland-Sansibar-Vertrag 1890  264 Helvetische Republik  44 Heppenheimer Treffen 1847  140 f., 152 Herrenmensch, -rasse, -volk  86 f., 97, 265 Hessischer Landbote 1834  56, 110, 112 f. hochdeutsche Standardsprache  9, 39 Hunnenrede 1900  260 I Ideen von 1914  271 ff. Imperialismus, imperialistisch  13, 17 f., 45 f., 85, 251, 257 ff., 268, 270, 276 f. Industrialisierung  15, 74, 97, 136 f., 181 ff., 251 Internationalismus  35, 189, 203 ff., 213, 215 ff., 278

J Jakobiner  26 f., 43, 221 f. Jesuitenorden 253 Jiddisch 92 Judenemanzipation  93, 94, 96, 146, 221, 240 Julirevolution, Pariser 1830  20, 65, 103, 118 f. Junges Deutschland  28, 117 ff. Junges Europa  117 f. K Kaiserdeputation 1849  165 Kaiserproklamation 1871  246 ff. Kanzelparagraph  252 f. Karlsbader Beschlüsse  54, 62 ff., 103, 144 Klasse(n)  27,183, 189 ff., 193, 195, 197, 201, 215 klassenlose Gesellschaft  27, 194 kleindeutsch  17, 36, 40 f., 45, 67, 155, 171, 175, 200 f., 205, 215, 218, 232, 234, 237, 241, 251, 256, 259. 269 Kölner Dom  73 f. Kolonialpolitik  259, 263 ff. Kommunismus, kommunistisch  18, 25, 134 ff., 143, 162, 181, 186 ff., 208, 213, 216, 277, 280 Kommunistisches Manifest 1848  18 f., 21, 35, 139, 162 Kompromissfrieden 261 Konfessionsschulen 254 Konservative Partei  237 Konservative Revolution  276 f. Konstitutionalismus  44, 70, 100, 149, 151 f., 168 Kriegsanleihen  204 f., 212 f., 272 Kultur contra Zivilisation  272 f. Kulturkampf  208, 232, 245, 252 ff. L Landespatriotismus 34 Landstände  51 f., 115

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landständische Verfassungen  49, 51, 60, 66, 104 Lassalle’scher Allgemeiner Deutscher ­Arbeiter-Verein  200, 237 liberal, Liberale  12, 26, 28, 121, 140, 143, 155 f. Liberale Vereinigung  233 Liberalismus, politischer  27f., 229 ff., 231 Lied der Deutschen  127 Luxemburg  274 f. M Märzregierungen  143, 149 Märzvereine  147, 169 Mainzer Republik  26, 43, 221 Mannheimer Volksversammlung 1848  144 Marokkokrisen 1905/06 u. 1911  260 Marxismus, marxistisch  12, 19, 27, 180, 185, 194, 201 ff., 208, 210 f., 215, 217 f., 227, 276 Menschen-(und Bürger)rechte  13, 22 f., 53, 119, 144, 162 f., 222 Metternich’sches System  64 Militarismus  260 ff., 271 Minderheitensprachen 255 Modernisierung  57, 74, 209, 239 monarchisches Prinzip  51, 61, 100 Muttersprache  32, 39 N Nation, eine/deutsche  13, 17 f., 32 f., 36, 51, 74, 85, 99, 138, 142, 148, 151 f., 174, 251, 259, 269, 275 Nationalbewusstsein  36 f., 71, 83 f., 110 Nationalliberale Partei  207, 231 ff., 237, 250, 287 Nationalversammlung, Frankfurter  36, 40, 55. 139, 143, 153 f., 156, 159 ff., 165 ff., 172, 184, 188, 216, 229, 239, 254, 258 Nationalismus, nationalistisch  18, 30, 34 f., 41, 45, 71, 85, 155, 216, 249, 255 ff., 261, 264, 268 Nationalstaat  15, 51, 140 f., 144, 152, 161, 183, 189, 257

Neonazismus  279, 281 Nibelungenlied 80 Norddeutscher Bund  15, 41, 45, 175, 201, 204 f., 230, 235 ff., 239 ff., 242 ff., 247, 249 f., 254, 258 nordisch  76, 78, 87 Novemberrevolution, deutsche 1918  21, 43, 186, 213 O Österreich, österreichisch  17, 35 f., 40 f., 48 f., 50 f., 57 f., 57, 62, 67, 80, 94, 141, 143, 149 ff., 156, 158, 163 ff., 174 ff., 215, 238, 255, 258, 262, 271, 273 f. Offenburger Versammlung 1847  143 f. Oktoberrevolution, russische 1917  19 f., 21 f., 162, 276 P Panslawismus  42, 274 Patriotismus  34, 37 f., 62, 75, 95, 132, 180, 228, 270, 279 f. Pegida  278, 280 f. Pilger der Freiheit  26 Polen (Land)  49, 117, 143, 255 Polen, polnisch  40 f., 90, 99, 103, 105, 242, 252 ff. Politik der freien Hand  262 politische Lyrik  124 ff. Polonisierung  255 f. Preß- und Vaterlandsverein  106 f., 109 Pressefreiheit  52, 126, 144, 146, 148, 150 f., 163, 174 Preußen, preußisch  17, 23, 36 ff., 40 f., 45, 54 f., 57, 67, 72 f., 95, 119, 141, 143, 147 ff., 154 f., 161, 163 ff., 171, 174 ff., 185, 200 f., 219, 229 f., 232, 234 ff., 240, 242 ff., 249 f., 252 ff., 258 ff., 269 Preußische Nationalversammlung  36, 55, 133, 149, 154 f., 165 Proletariat  131 f. 137, 162, 180, 184 f., 192 f., 201, 205, 215 f., 226, 245

Sachregister  |

Sowjetunion 20 R Sozialdarwinismus  85 f. Räterepublik  21, 276 18,96, 208, 210, 214 f., Sozialdemokratie  Rasse(n)  13, 36, 86 f., 89 f., 97, 256, 259 217, 232, 277, 286 Rassenhygiene 89 Sozialismus, sozialistisch  18, 22, 25, 95, Rassenideologie  13, 17 f., 35, 37, 41, 74, 137, 181, 184 f., 195, 204, 207, 214 ff., 84 ff., 86 f., 94, 97, 251, 256 265, 268 f. 225 f., 245, 252, 277 276, 281 Sozialistengesetz 1878  207 ff., 216, 232, Reaktion, reaktionär  51, 70, 100, 114, 130, 239 132, 146, 163, 169, 174 f., 191, 206, 226 SPD  181, 194, 207, 209 ff., 213, 215, Reform(en)  21, 26, 43, 98, 109, 138, 146, 217 f., 227 148, 180 f., 198, 200, 216, 229 Sprachstil, öffentlicher  68 ff., 101 ff., Reichsverweser  158, 161, 167 171 ff., 217 Republik, Republikaner  19, 21, 23, 28, 30, Sprachwechsel 1945  278 ff. 41, 43 ff., 48, 123 f., 138, 142, 145, Staatenbund  50, 164, 245 152 ff., 164, 169 f., 185, 215, 285 Staatsnation  47, 51, 142, 259 Restauration  9, 12, 18, 24, 49 f., 52 f., 57, Stämme, deutsche  36, 71, 109, 159, 239 70, 139, 169 Sturm und Drang  24 f., 101 Revisionismusstreit  181, 211, 215, 227 süddeutsche Staaten  235 ff., 242 f., 245 f. Revolution  12, 19 ff., 43, 53 ff.., 99, 112, 138, 151, 157, 162, 180, 216, 229, 245 T Rheinbund 44 Tacitus-Rezeption  74 f. Romantiker  33, 35, 72 f., 79, 91 38, 41, 77 Teutonia  Russland  19, 21, 49, 57, 176, 255, 262 f., teutsch 42 272 ff. Tripelentente 1907  263 S U Sachsen  67, 104, 147, 175, 238 Ultramontanismus 252 Sächsische Volkspartei  200 f., 204 f., 237 Unabhängigkeitserklärung, Saint-Simonisten  127, 138, 185 ­amerikanische  20, 23 Sakralisierung weltlicher Gegenstände  57, Unterschichten, besitzlose  152, 152, 168, 101, 106 f., 173, 257 f. 170, 183, 193 Schleswig-Holsteinische Kriege  161, Urbanisierung  74, 97 177 f. Urburschenschaft 38 Schlieffen-Plan  261, 274 f. Urleitbild, -bilder  17, 19, 22, 67, 138, 153, Schulaufsicht  253, 255 180, 228, 252, 269 f. Schutz- und Trutzbündnisse 1866  179, Urstamm, Urvolk  33, 74 243 Schwarz-Rot-Gold  38, 105, 139, 236 V Schwarz-Weiß-Rot 236 vaterländische Geschichtsforschung  71 f. Sedan 244 Vaterland, ein/deutsches  13, 17 f., 33 ff., Serbien 274 58 f. 62, 72, 99, 101, 133, 152, 160, 169, Siegfrieden 270 189, 212 Skalden 76 Verdun 1916  275 Solidarität  180, 187, 218

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|  Sachregister

Vergesellschaftung der Produktions­ mittel  137, 185, 206, 214 Vierter Stand  103, 132, 139, 183 f., 192, 196 Völkermord 266 völkisch  13, 35, 90, 232, 269, 277, 281 Volk, ein/deutsches  13, 17 f., 32 ff., 51, 90, 99, 101, 107, 138, 152, 169 f., 174, 251, 259, 263, 269, 275, 277 f., 280 Volksgemeinschaft  27, 269, 272 Volkslieder, -poesie  33 Volkssouveränität  32, 55, 158, 166, 170 Vormärz  28, 98 ff. Vorparlament  152 ff., 184 W Walhall(a)  77, 84 Wartburgfest 1817  38, 65, 99 ff. Weberaufstand 1844  128, 182

Weimarer Republik  46, 163 f., 236, 276 Welfenpartei 238 Welthauptstadt Germania  41, 77 Weltkrieg, Erster  57, 81, 162, 204 f., 212, 261, 271, 274 Weltmachtpolitik  18, 261, 268 f. Weltrevolution, kommunistische  21, 138, 143 Wiener Kongress  38, 48, 50 Wiener Oktoberrevolution 1848  150, 168 Wiener Schlussakte 1820  65 ff. , 177 Z Zeitungen, Zeitschriften  63, 98 Zentralstaat 157 Zivilehe 253 Zwanzig-Bogen-Klausel 63 Zweifrontenbedrohung, -krieg  261, 263, 274

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HORST DIETER SCHLOSSER

SPRACHE UNTERM HAKENKREUZ EINE ANDERE GESCHICHTE DES NATIONALSOZIALISMUS

Diktatorische Herrschaft beruht in erster Linie auf physischer Gewalt. Sie nutzt aber auch sprachliche Mittel, um ihren Machtanspruch durchzusetzen und zu etablieren. Die NS-Diktatur ist in dieser Hinsicht ein besonders eindrückliches Beispiel. Das neue Buch des Sprachwissenschaftlers Horst Dieter Schlosser widmet sich der „Sprache unterm Hakenkreuz“ und ihren Mechanismen zur Machterhaltung. Er arbeitet insbesondere das Wechselspiel zwischen sprachlicher Diskriminierung und Vernichtung von tatsächlichen und mutmaßlichen Gegnern des Regimes heraus und stellt auch die Positionen des Widerstands gegen das Regime umfassend dar. Schlossers Analyse bietet eine profunde Basis zum Verständnis der Massenwirksamkeit von Propaganda und eine Grundlage, ihr mit sprachlichen Mitteln zu begegnen. 2013. 424 S. GB. 155 X 230 MM ISBN 978-3-412-21023-6 [BUCH] | ISBN 978-3-412-21654-2 [E-READER]

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JOST HERMAND

VERLORENE ILLUSIONEN EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

Der Begriff „Nationalismus“ hat im deutschsprachigen Bereich Zentraleuropas seit dem Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts bis zur heutigen Berliner Republik höchst dramatische Wandlungen erlebt. Aufgrund der ständig wechselnden realpolitischen Voraussetzungen wurde dabei von den jeweils Herrschenden im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Territoriums nicht nur von einer Reichsnation gesprochen, sondern auch Begriffe wie Kulturnation, Kriegsnation, Wirtschaftsnation sowie Staatsbürgernation verwendet. Wie viele Illusionen damit verbunden waren, stellt Jost Hermand in diesem Buch dar. 2012. 390 S. 40 S/W- U. 26 FARB. ABB. GB. MIT SU | ISBN 978-3-412-20854-7

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