Lexis und logos: studien zur antiken Grammatik und Rhetorik 9783515077187, 3515077189

"Ax' Aufsatze, die er uber die letzten Jahrzehnte als scharfsinniger eDoxograph und Rekonstrukteurae antiker G

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Lexis und logos: studien zur antiken Grammatik und Rhetorik
 9783515077187, 3515077189

Table of contents :
INHALT
VORWORT
ZU PLATONS KRATYLOS 398 D 5
Ψόφος, φωνή UND διάλεκτος ALS GRUNDBEGRIFFE ARISTOTELISCHER SPRACHREFLEXION
ZUM ISOLIERTEN ῥῆμα IN ARISTOTELES' DE INTERPRETATIONE 16 B 19-25!
ARISTOTELES (384 — 322)
DER EINFLUSS DES PERIPATOS AUF DIE SPRACHTHEORIE DER STOA
SPRACHE ALS GEGENSTAND DER ALEXANDRINISCHEN UND PERGAMENISCHEN PHILOLOGIE
ARISTOPHANES VON BYZANZ ALS ANALOGIST. ZU FRAGMENT 374 SLATER (7 VARRO, DE LINGUA LATINA 9,12)
ARISTARCH UND DIE ,,GRAMMATIK“
DISPUTARE IN UTRAMQUE PARTEM. ZUM LITERARISCHEN PLAN UND ZUR DIALEKTISCHEN METHODE VARROS IN DE LINGUA LATINA 8—10
PRAGMATIC ARGUMENTS IN MORPHOLOGY. VARRO'S DEFENCE OF ANALOGY IN BOOK 9 OF HIS DE LINGUA LATINA
WISSEN UND HANDELN. EIN BEITRAG ZUM VERSTANDNIS DES 14. KAPITELS DER ARISTOTELISCHEN POETIK (1453 B 26 — 54 A 9)
QUADRIPERTITA RATIO: BEMERKUNGEN ZUR GESCHICHTE EINES AKTUELLEN KATEGORIENSYSTEMS (ADIECTIO — DETRACTIO — TRANSMUTATIO — IMMUTATIO)
DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG BEI QUINTILIAN
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

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Wolfram Ax - Lexis und Logos

Wolfram Ax

LEXIS UND LOGOS Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik

herausgegeben von Farouk Grewing

Sp Franz Steiner Verlag Stuttgart

2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ax, Wolfram: Lexis und Logos : Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik / Wolfram

Ax. Hrsg. von Farouk Grewing. - Stuttgart : Steiner, 2000 ISBN 3-515-07718-9

69 ISO 9706

Jede Verwertung des Werkes auBerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikro-

verfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf sáurefreiem, alterungsbestándigem Papier. © 2000 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Druck: Druckerei Peter Proff, Eurasburg. Printed in Germany

INHALT

Antike Sprachtheorie und Grammatik

Zu Platons Kratylos 398 d 5 ....ccscccsssssscecsecesssesescesscsssssessescensesesssessesssseeseeesesseesereess 9

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος als Grundbegriffe aristotelischer Sprachreflexion .... 19 Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25 ................. 40 Aristoteles (384 — 322) ......crenessernneennensnnnennnnnennsnonnoronennennnensansnnnneonnnnnersonserenensensnnenenn 48 Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa ....................................... 73 Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie ........ 95 Aristophanes von Byzanz als Analogist. Zu Fragment 374 Slater (= Varro, de lingua Latina 9,12) ................ sese

116

Aristarch und die „Grammatik“ .................. eee neret eene terrena 128

Disputare in utramque partem. Zum literarischen Plan und zur dialektischen Methode Varros in de lingua Latina 8 — 10 .................... suu 140 Pragmatic Arguments in morphology. Varro's defence of analogy in Book 9 of his de lingua Latina ........................ 164

Antike Poetik und Rhetorik

Wissen und Handeln. Ein Beitrag zum Verstündnis des 14. Kapitels der Aristotelischen Poetik (1453 b 26 — 54 a 9)...

176

Quadripertita ratio: Bemerkungen zur Geschichte eines aktuellen Kategoriensystems (adiectio — detractio — transmutatio — immutatio) ........... 190

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian ...........................

esses

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen ................. esee

209

230

VORWORT

Mit diesem Band werden die Aufsätze zur antiken Sprachtheorie und Grammatik sowie zur Poetik und Rhetorik von Wolfram Ax, die seit den 1970er Jahren an teilweise entlegener Stelle erschienen sind, in gesammelter Form vorgelegt. Die insgesamt dreizehn Beitrüge sind hier nach der Chronologie ihrer Themen, nicht nach dem Publikationsdatum angeordnet und umfassen die geistesgeschichtliche Zeitspanne von Platon bis Quintilian. Der ursprüngliche Textbestand der Beitrüge ist weitgehend beibehalten; aktualisierende Zusätze wurden nur äußerst sparsam angebracht, offenkundige Versehen beseitigt. Querverweise auf Beitrige des Autors,

die sich in diesem Band befinden, sind

durch [hier: ...] bzw. [this volume: ...] gekennzeichnet.

Für eine sorgfältige, in der Schlußphase wie immer zeitaufwendige Texterfassung und -korrektur danke ich den wissenschaftlichen Hilfskraften am hiesigen Lehrstuhl, Frau Vera Martschukat, Frau Dorothee Winnen und insbesondere Frau Monika Eisenach.

Dem Franz Steiner Verlag ist für die wohlwollende Bereitschaft zu danken, den vorliegenden Band in das Verlagsprogramm aufgenommen zu haben.

Kóln, im April 2000

Farouk Grewing

ZU PLATONS KRATYLOS 398 D 5 (zusammen mit A. Sideras)

EPM. Kai ἐγώ μοι δοκῶ, ὦ Σώκρατες, τούτου πάνυ cot σύμψηφος εἶναι. ὁ δὲ δὴ »ἥρως« τί ἂν εἴη: ΣΩ. Τοῦτο δὲ οὐ πάνυ χαλεπὸν ἐννοῆσαι. σμικρὸν γὰρ παρῆκται αὐτῶν τὸ ὄνομα, δηλοῦν τὴν ἐκ τοῦ ἔρωτος γένεσιν. ΕΡΜ. Πῶς λέγεις; EQ. Οὐκ οἶσθα ὅτι ἡμίθεοι oi ἥρωες;

5

10

ΕΡΜ. Τί οὖν;

ΣΩ. Πάντες δήπου γεγόνασιν ἐρασθέντος ἢ θεοῦ θνητῆς f θνητοῦ θεᾶς. ἐὰν οὖν σκοπῇς καὶ τοῦτο κατὰ τὴν ᾿Αττικὴν τὴν παλαιὰν φωνήν, μᾶλλον εἴσῃ δηλώσει γάρ σοι ὅτι παρὰ τὸ τοῦ ἔρωτος ὄνομα, ὅθεν γεγόνασιν οἱ ἥρωες. σμικρὸν παρηγμένον ἐστὶν Τὀνόματος! χάριν.

d

5

Die Herkunft der Bezeichnung ἥρως, so belehrt Sokrates an oben zitierter Stelle seinen Dialogpartner Hermogenes in dem bekannten etymologischen iter per exempla (Crat. 391a4-421c2), sei unschwer zu erschlieBen: Als Resultat liebevoller Verbindung zwischen Göttern und Menschen seien die Heroen gewissermaßen Kinder des Eros? und trügen deshalb - allerdings in leichter Abänderung — seinen Namen. So wenig diese Stelle in ihrer grundsätzlichen Argumentation zu Mißverständnissen Anlaß gibt, so schwierig scheint der genaue Nachvollzug des Etymologiever-

suches, besonders die Stelle ὀνόματος χάριν zu sein. Dies wird schon daraus deutlich, daß trotz einhelliger handschriftlicher Tradition das ὀνόματος χάριν von d5 Schon recht früh zu ernsthaften textkritischen Bedenken, ja zur Annahme einer Text-

verderbnis geführt hat. Schon lange vor Burnet, der das ὀνόματος mit cruces versah, hat Hermann unsere Stelle verdüchtigt und αἰνίγματος vorgeschlagen?. Für eine Korruptel plädiert auch Peipers, der (mit Erwähnung von Hermanns Konjektur) die Variante στόματος anbietet. Solche Bedenken führten schlieBlich Schanz zu der

]

Text nach der Ausgabe von I. Burnet, Platonis opera, Oxford 1900 (Oxf. Class. Texts), Tom. I.

2

Mitden Obersetzem Fr. Schleiermacher, Platon. Sämtliche Werke, Hamburg 1959, Bd. Il, 141 und 1. Deuschle, in: Platon. Sämtliche Werke (Lambert und Schneider), Berlin o.J., Bd. I, 562

vermuten wir hier eher den personifizierten "Ἔρως als das bloße Verbalabstraktum wie z.B. Méridier

3

und

andere

Herausgeber.

Sicherlich

läßt

sich

beides

vertreten,

und

vielleicht

ist

spielerisch sogar an dreierlei gedacht: ἔρως als Abstraktum, als Gott und als ὄνομα. Vgl. Platonis dialogi ex recognitione C. Fr. Hermanni, Leipzig 1869, Vol. I, XVII f.; nach

sonst belegtem αἰνίττεσθαι und αἰνιγματωδῶς λέγειν der Verhüllungsabsicht der Namensgeber entsprechend.

4

Vgl D. Peipers, Zu Plato's Kratylos, Philologus 29, 1870, 172-179, 178: „Vielleicht könnte Platon geschrieben haben στόματος χάριν, allerdings etwas kurz, aber doch

wohl

deutlich

genug um das auszudrücken, was evotopias ἕνεκα 412e und στόμα πλάττειν 414d bedeutet."

10

Zu Platons Kratylos 398 d 5

unmißverständlichen Wertung der Stelle als „sine dubio corruptum'5?, ein Urteil, dem

sich, wie schon erwühnt, auch Burnet$ angeschlossen hat. Denen, die hier eine Korruptel vermuten, stehen allerdings ebenso viele gegenüber, die von der Unversehrtheit unserer Stelle überzeugt zu sein scheinen — so schon Heindorf und Ast’, aber auch noch in neuerer Zeit Méridier und Celentano8

oder Hussey und Leroy?. Der AnschluB an die eine oder andere These hat seine Konsequenzen: Wer die Stelle für korrupt halt, der begnügt sich entweder mit der bloBen Feststellung der Korruptel

Urtext Glauben

(wie

Schanz,

Burnet

wiederherzustellen schenkt,

hat

die

und

Fowler)

(wie Hermann Beweislast

oder

und

für

versucht,

Peipers).

die

den

Wer

Richtigkeit

vermeintlichen

der

und

Überlieferung

Stimmigkeit

der

angezweifelten Partie. Wenden

wir uns vor allem den Deutungsversuchen

also den Vertretern der handschriftlichen Tradition

der letztgenannten

zul®.

Die

Partei,

Mehrzahl

der

Interpreten vermutet in dem ὀνόματος χάριν das Motiv für die Namensabänderung von ἔρως. Von ἔρως sei „um des Namens willen“ abgewichen, d.h. nach Meinung der Interpreten, um den Heroen ein nur ihnen eigenes, also vor einer Verwechslung mit

ἔρως schützendes ὄνομα (im Sinne eines ὄργανον διακριτικόν, vgl. Crat. 388b13ff.) zu

verschaffen.

Keimzelle

dieser Deutung

ist wohl

Heindorfs

kommentierende

Übersetzung der Stelle: „ut iustum exiret ὄνομα“ 1}. Spätere Erklärungsversuche wie Asts appellationis gratia", Deuschles „um des — neuen -- Namens willen“, Fowlers „to make a name for them“ und Celentanos „appunto perché avesse l'aspetto di un

nome" sind nur Reproduktionen dieses Ansatzes!2, Gegen Heindorf hat schon Hermann geäußert: „quorum prius“ (nämlich Crat. 398d5) „autem omnino explicationem non habebat, quomodo ἥρως ex nomine ἔρως nominis 5 6

7 8 9

10

causa

inflexum

esse diceretur.

Nam

quod

Heindorfius

interpretatur

,ut

Vgl. Platonis opera, quae feruntur omnia, ed. M. Schanz, Vol. II, Fasc. prior, Cratylus, Leipzig 1877, 25 im Apparat z.St. Siehe den oben vorangestellten Text. Unentschlossen bleibt Fowler, der die überlieferte Fassung im Text beläßt und entsprechend übersetzt, aber dazu bemerkt „probably corrupt". Vgl. H. N. Fowler, Plato, with an English translation (Loeb Class. Libr.), Vol. VI, London 1926, 56f. Vgl. Platonis dialogi tres, ed. L. F. Heindorf, Berlin 1806, 53; Platonis quae exstant opera, rec. F. Astius, Leipzig 1821, Tom. III, 148f. Vgl. Platon, Oeuvres complétes, Tome V - 2e partie, Cratyle, ed. L. Meridier, Paris ’1961 (Coll. Budé) 73; L. Celentano, Platone, Cratilo, Introduzione e commento, Napoli o.J., 63. Vgl. G. B. Hussey, Plato Cratylus 398 c-e: Translation and Interpretation, Classical Philology 35, 1940, 424f., und M. Leroy, Sur un emploi de φωνή chez Platon, Revue des Études Grecques 80, 1967, 234-241, 238. Von den beiden bereits erwähnten Konjekturen (vgl. die Anmerkungen 3 und 4) wird Peipers’

στόματος an späterer Stelle gewertet (s. S. 12). Zu Hermanns αἰνίγματος ist zu sagen, daß I 12

dieser Konjektur doch zu viel Spekulatives anhaftet und sie durch die von ihm Belege kaum Evidenz gewinnt. Vgl. Heindorf a.a.O. 53. Vgl. Ast a.a.O.

149,

Deuschle

a.a.O.

562,

Fowler a.a.O.

57

und

Celentano

beigezogenen

a.a.O.

63.

Ein

wenig abseits liegen die Deutungen von Méridier (pour la forme) a.a.O. 73 und Hussey (favoring respectability in Analogie zu Apol. 34e4) a.a.O. 424. Méridier versteht also hier unter ὄνομα „Wortform“,

Hussey

„Name“

im

Sinn

von

„ehrenvoller

unsere Stelle ohne crux und ohne erläuternden Zusatz.

Name".

Leroy

a.a.O.

zitiert

238

Zu Platons Kratylos 398 d 5

ll

iustum exiret ὄνομα“, radicem ἔρως iustum nomen esse negaret“13. Gegen diese Auffassung Heindorfs spricht, wie wir meinen, auch die zu geringe Beachtung des

σμικρόν

von

d4, das doch

beinahe

einer Negation

des zapmyuévov

von

d5

gleichkommt. Kein neuer Name soll geschaffen werden, sondern im Gegenteil vom Namen des ἔρως ist „nur“, — wir können sogar sagen: möglichst — „wenig“ abgewichen, eben um (der Erhaltung) des (alten) Namens willen. Wer also für die Unversehrtheit der Stelle plädiert, könnte ebenso gut und vielleicht noch plausibler umgekehrt argumentieren: Ein ὄνομα, das den späteren Trägern dieses Namens eine ständige Erinnerung an die ehrenvolle Abstammung garantiert, ist natürlich besonders erhaltenswert und sollte möglichst nicht dem sonst

unvermeidlichen Lautwandel anheimfallen. Daß diese im konservierenden Sinne verstandene einfache Übertragung des ὄνομα von den Vorfahren auf die Nachkommen gerade auch für die Heroen, allerdings nicht für deren Gattungs-, sondern Individualnamen, gilt, bezeugt Platon — ebenfalls im Kratylos — ausdrücklich

(397b1ff.): τὰ μὲν οὖν τῶν ἡρώων Kai ἀνθρώπων λεγόμενα ὀνόματα ἴσως v ἡμᾶς ἐξαπατήσειεν' πολλὰ μὲν γὰρ αὐτῶν κεῖται κατὰ προγόνων ἐπωνυμίας 14

Aber selbst diese Deutung scheint noch eine zu geringe Stütze für die Annahme

der handschriftlichen Tradition zu sein. Gegen ὀνόματος sprechen zwei Erwügungen, die sich aus dem

Textganzen

der fipwg-Etymologie

ergeben.

Zunächst

ist

die

Formulierung von d3f. δηλώσει ... ἐστὶν nur eine leicht variierte Wiederaufnahme von c7ff. σμικρὸν ... γένεσιν. Im ersten Ausdruck ist ὄνομα Subjekt des Satzes und als solches ebenso im zweiten zu ergünzen!^. Beläßt man das ὄνομα von d5 im Text,

erhält man folgende, vervollständigte Formulierung: δηλώσει yap coi (sc. τὸ 6vojta)!6 ὅτι (sc. τὸ ὄνομα) παρὰ τὸ τοῦ ἔρωτος ὄνομα, ὅθεν γεγόνασιν oi ἥρωες, σμικρὸν παρηγμένον ἐστὶν ὀνόματος χάριν. Also in paraphrasierender Kurzform: „Vom Namen ἔρως ist der Name ἥρως um des Namens willen wenig abgeändert worden." Der Einsatz der Doppelellipse ist nótig, um die in ihrer Komprimierung schwer ertrügliche dreimalige Wiederholung des dvopa als etymologische Vorstufe (ἔρωτος ὄνομα), als Objekt und als Motiv der Namensänderung zu verdeutlichen. Mag dies angesichts der doch möglichen Sinndeutung der Stelle zu wenig

Evidenz besitzen, so zeigt darüber hinaus der argumentative Bau der gesamten Partie, daB vor χάριν aller Wahrscheinlichkeit nach etwas anderes als ὀνόματος einzusetzen

ist. Kurz vor unserer Stelle, in der Saipov-Etymologie (397d9ff.) bringt Sokrates ein Verfahren zur Anwendung, das für den gesamten Etymologieteil konstitutiv ist. Es ist die vergleichende Gegenüberstellung eines Wortes in seinem alten (hier altattischen) und in dem (von Sokrates aus gesehen) aktuellen Lautstand (398b6ff.):

ὅτι φρόνιμοι καὶ δαήμονες ἦσαν, ,δαίμονας“ αὐτοὺς ὠνόμασεν’ καὶ Ev ye τῇ

13 14 15 16

Hermann XVIII. Die Tatsache, daß in ihrem ὄνομα nur die φύσις der Vorfahren zu fassen ist, macht sie dabei ungeeignet für eine etymologische Betrachtung. Als Akkusativobjekt auch schon vorher (d2) nach καὶ τοῦτο. δηλώσει ist also nicht absolut im Sinne von „dann wird sich zeigen", sondern wie δηλοῦν in c8 transitiv gebraucht. Auch xapmyuévov ist nach dem Vorgang von c8 nicht absolut „abgewichen worden ist", wie Schleiermacher und Deuschle wollen.

12

Zu Platons Kratylos 398 d 5

ἀρχαίᾳ τῇ ἡμετέρᾳ φωνῇ αὐτὸ συμβαίνει τὸ ὄνομα. Der altattische Lautstand offenbart das ἔτυμον des Wortes. Mit einem ausdrücklichen Rückverweis auf diese Stelle fordert Sokrates in der

fip c-Etymologie den Hermogenes zu demselben Verfahren auf (398d2f.): ἐὰν οὖν σκοπῆς Kai τοῦτο κατὰ τὴν ᾿Αττικὴν τὴν παλαιὰν φωνήν, μᾶλλον εἴσῃ δηλώc£ ... Also frei paraphrasiert: „Betrachte doch zum besseren Verständnis auch die-

ses ὄνομα (nämlich ἥρως) in der altattischen φωνή. Denn dann wird es dir deutlich machen (und zwar wie zuvor durch den Vergleich der alt- mit der ,neu'attischen Form), daß es nur wenig von ἔρως abgeändert worden ist.“ Nach einer derart vielversprechenden und spannungserregenden Einleitung erwartet der Leser natürlich die konkrete Durchführung dieses Vergleichs, die Repräsentation, vielleicht sogar eine kommentierende Erklärung des Veränderungsprozesses von ἔρως zu ἥρως, aufgrund dessen sich der versprochene Erkenntnisgewinn (μᾶλλον εἴσῃ), nämlich das Verständnis für die Geringfügigkeit der Abänderung, ergeben soll. Merkwürdigerweise

enthält unser Text, der auf diese Pointe zusteuert,

nichts

dergleichen — jedenfalls nicht in der überlieferten Form. Zwar ist das Vergleichspaar

ἔρως

ἥρως implizit gegeben, aber die ganze Anlage der Partie hat doch ohne die

explizite Durchführung des Vergleichs etwas Unfertiges und daher Unbefriedigendes. Um diese Kompositionsschwäche auszugleichen, bietet sich die Korruptel vor χάριν an, die mit einem Wort zu beheben würe, das wenigstens in irgendeinem Zusammen-

hang mit diesem Vergleich und dem daran abzulesenden Lautwandel steht.

Hier hat bereits Peipers mit seiner Konjektur στόματος χάριν den unserer Ansicht nach richtigen Weg beschritten!?. Mit στόματος ist wenigstens vage ein Motiv des Lautwandels angegeben, nämlich daß die Veränderung von ἔρως zu ἥρως mit den bekannten und von Platon immer wieder bemühten phonetischen Bequemlichkeitstendenzen (Leitwort εὐστομία) zu begründen ist, die zum Verfall des alten, das ἔτυμον bewahrenden Lautstandes beitragen!8. Vielleicht kann aber der Versuch einer selbstándigen Betrachtung des Wandels von ἔρως zu ἥρως über Peipers hinausführen. Es gilt zunüchst, die doppelte Frage zu beantworten, worin dieser Wandel eigentlich besteht und unter welchen Bedingungen er sich vollzogen hat. Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, wie schon gesagt, daß wir es mit einem Wandel zu tun haben, der sich aus der Konfrontation

der alten mit der neuen attischen φωνή

ergibt; es ist also ein Wandel in der φωνή. Nun, was bedeutet aber φωνή bei Platon und speziell an unserer Stelle? Diesem Problem hat M. Leroy einen zwar kurzen, aber instruktiven Aufsatz gewidmet!9. Wir dürfen also aus der Fülle der sonst üblichen, aber für unsere Fragestellung irrelevanten Bedeutungen des Wortes φωνή

17 18

19

Siehe oben Anm. 4. Die entsprechenden Belege sind bei J. Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften (Impulse der Forschung 10), Darmstadt 1972, 41f. und K. Gaiser, Name und Sache in Platons Kratylos (Abh. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., Philos.-hist. Kl., Jahrg. 1974, 3. Abh.), Heidelberg 1974, 60 gesammelt. Siehe oben Anm. 9.

Zu Platons Kratylos 398 d 5

bei

Platon

die beiden

herausgreifen

und

einer

13

kurzen

kritischen

Betrachtung

unterziehen, die für unsere Stelle in Frage zu kommen scheinen.

Werfen wir zunüchst einen Blick in die Übersetzungen

der zur

Diskussion

stehenden Kratylos-Stelle: In der lateinischen Übersetzung von Ast29 wird φωνή mit lingua"

übersetzt,

was

sich

in

der

modernen

französischen

Übertragung

von

Méridier?! mit „langue“ wiederholt. Dasselbe scheinen auch Hussey2? („Attic“) und Celentano?3 (,attico") unter φωνή zu verstehen. Das ist nur bedingt richtig, weil es sich dabei offenbar nicht um den Vergleich zwischen zwei Sprachen, sondern um die Konfrontation zweier Sprachzustände (des Alt- und Neuattischen) ein und derselben Sprache (des Griechischen, speziell des Attischen) handelt.

Prüziser ist die Wiedergabe „Aussprache“ von Apelt24, dem sich Fowler25 (,pronunciation") angeschlossen hat. Hat aber Platon an unserer Stelle mit φωνή tatsächlich die Aussprache gemeint, oder, anders ausgedrückt, besteht der Wandel

von ἔρως zu ἥρως tatsächlich in einer Veränderung der Aussprache zwischen Altund Neuattisch, oder ist vielleicht vielmehr an eine Ánderung in der Orthographie gedacht? Denn das ist, wie wir sicher wissen, im Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts geschehen, als auf Vorschlag des Staatsmannes Archinos das inzwischen allmählich auch ins Attische eingedrungene und Verwirrung stiftende

ionische Alphabet eingeführt wurde?26. Was kónnte diese Schriftreform für die hier zur Debatte stehenden Worter ἔρως und ἥρως bedeuten? Wie die Griechen bei der Übernahme des semitischen Alphabets die für sie sonst unbrauchbaren semitischen Zeichen zur Wiedergabe der Vokale ihrer Sprache verwendeten, so benutzten bei der Übernahme des ionischen Alphabets auch

die Athener,

wie

bereits die Ioner, das durch

den

im Ionischen

sehr

früh

einsetzenden Verlust der Aspiration zur Verfügung stehende und im Attischen bis dahin zur Bezeichnung des spiritus asper verwendete Zeichen H von nun an zur Wiedergabe des langen E. Das zog als weitere Konsequenz nach sich, daß man auch

für das lange O ein weiteres Zeichen erfand, nämlich © bzw. 0027. Man schrieb also fortan HPQZ für HEPOX und EPQ für EPOX. Freilich, meint Sokrates an unserer Stelle, jetzt sehen die Wórter ἔρως und ἥρως zwar ganz anders aus, als ob sie nichts miteinander gemeinsam hütten; wenn man aber die Schreibweise des Altattischen in Erinnerung ruft, dann sieht man, daß beide

Wörter, von einer Kleinigkeit abgesehen, fast identisch sind. Sokrates brauchte seinen Gesprächspartnern keine weiteren Einzelheiten mitzuteilen, denn jeder hatte das alte Schriftbild der Wörter noch vor Augen, da die Schriftreform nicht in allzu

femer

Vergangenheit lag. Das kleine Merkmal, dem beide Wörter ihre Unterscheidung verdanken, springt geradezu in die Augen: das ist das Zeichen H, nämlich der 20 21 22

A.a.O. 149. A.a.O, 73. A.a.0. 424.

23 24

Α.4.0. 63. Vgl. O. Apelt, Platons Dialoge. Kratylos, Leipzig 1918, 62.

25

A.a.O. 57.

26

Vgl. A. Sigalas, 'lotopia τῆς ἑλληνικῆς γραφῆς (BuG. Kein. καὶ ped. 12), Thessalonike 1974,

27

Vgl. A. Sigalas, 8.8.0. 99f.

1178

14

Zu Platons Kratylos 398 d 5

Spiritus’. Denn daß die Wörter jeweils anders gesprochen wurden, versteht sich von

selbst;

und

diese

Aussprache

ist

auch

in der

Zeit

Platons

etwa

dieselbe

geblieben, was besagt, daß Platon mit φωνή hier nicht die Aussprache, sondern nur

die Schreibweise, die Orthographie, wie M. Leroy sagt29, gemeint haben kann. Um eine Verbindung zwischen den Wórtern ἔρως und ἥρως herzustellen, hatte nämlich Platon aus den ihm gebotenen Möglichkeiten eine auszusuchen: Nach dem gegenwärtigen Zustand zeigten die Wörter beachtliche Differenzen auf; erstens im Schriftbild (ΕΡΩΣ / HPQX ) und zweitens in der Aussprache (ἔρως / ἥρως). Seinem etymologischen Spiel standen somit einerseits ein nur in einem Merkmal verschiedenes Schriftbild, andererseits phonetisch gesehen ein zweifaches Hindernis (Quantität und Spiritus) im Wege. Im altattischen Zustand des Wortes bestand zwar immer noch das Hindernis der unterschiedlichen Aussprache, aber das Schriftbild beider Wörter war, mit der einzigen Ausnahme des Spirituszeichens, das gleiche (HEPOX / EPOEZ). Es ist also verständlich, daß Platon den einfacheren Weg beschritten hat, der

unmittelbar zum etymologischen Erfolg führte — und ein Hinweis auf die verschiedene Aussprache diente nicht seinem Zwecke. Dieses Verfahren ist auch sonst für

Platons Etymologien im Kratylos typisch30. Platon scheint zwar zwischen Schriftbild und Aussprache eines Wortes nicht

scharf zu unterscheiden — daher auch die voneinander abweichenden Übersetzungen unseres Passus —, was er aber hier gemeint hat, wird durch folgende Aristoteles-Stelle

erhellt: οὐ yap ἐστι διττὸν τὸ παρὰ τὴν διαίρεσιν (οὐ yàp ὁ αὐτὸς λόγος γίνεται διαιρούμενος), εἴπερ μὴ καὶ τὸ, ὄρος“ καὶ, ὅρος“ τῇ προσῳδίᾳ λεχθὲν σημαίνει ἕτερον καὶ ἕτερον. ἀλλ᾽ ἐν μὲν τοῖς γεγραμμένοις τὸ αὐτὸ ὄνομα, ὅταν ἐκ τῶν αὐτῶν στοιχείων γεγραμμένον T| καὶ ὡσαύτως (κἀκεῖ δ᾽ ἤδη παράσημα ποιοῦνται), τὰ δὲ φθεγγόμενα οὐ ταὐτά]. Wie ὄρος und ὅρος, so sind in der alten Schreibweise auch die Wórter ΕΡΟΣ und HEPOX, abgesehen vom Spirituszeichen, ganz gleich; in der Aussprache sind diese

wie jene natürlich verschieden. Das σμικρὸν παρηγμένον bezieht sich freilich auf das Wort HEPOZ gegenüber EPOX. HEPOZ ist nur geringfügig vom Wort EPOZ abgeändert, es ist nur „dem Spiritus zuliebe“, d.h. „wegen des Spiritus“ zu einem anderen Wort geworden. Wenn wir jetzt den Ausdruck „dem Spiritus zuliebe“ bzw. „wegen

des

Spiritus“

rückübersetzen,

erhalten

wir

eine

überraschende

Lesart:

πνεύματος χάριν! 28

Gemeint ist hier selbstverständlich der spiritus asper, der schon im 4. Jh. v. Chr. auf Münzen und in Inschriften in der Form |- (dichotomiertes ursprüngliches H) auftaucht. Der denis (wahrscheinlich in Analogie zum asper) und die Akzente erscheinen erst in der Kaiserzeit und gehen vermutlich auf die Tätigkeit der alexandrinischen Philologen zurück. Vgl. A. Sigalas, 8.8.0. 337.

29

A.a.O. 240.

30

Vgl. M. Leroy, a.a.O. 240.

31

Aristot. Top. A 20, 177b1-7. Wir zitieren nach der Teubner-Ausgabe von I. Strache - M. Wallies (Leipzig 1923). Die Textänderungen in der Oxforder Edition von B. P. Ross (Zusatz

von ὡς nach μὴ und Athetese von xai vor ὅρος) scheinen uns überflüssig zu sein. Aristoteles stellt hier im Vergleich zu Platon das Problem differenzierter dar; Platon geht es aber nicht um die Genauigkeit einer sprachwissenschaftlichen Beschreibung, sondern um die Gewinnung einer Etymologie, die ohne Verdeckung linguistischer Fakten nicht zu ihrem Ziel gelangen kann.

Zu Platons Kratylos 398 d 5

15

Ist nun πνεύματος das ursprüngliche vom unpassenden ὀνόματος verdrüngte und

vielgesuchte

Wort?

In

paläographischer

Hinsicht

ist

eine

Verwechslung

zwischen πνεύματος und ὀνόματος sehr wahrscheinlich. Nicht nur der gleiche Auslaut -ματος, sondern auch der ähnliche Anlaut πνεύ- und óvó- mit dem Akzent an

derselben

Stelle

unmittelbar

vor

-ματος

könnten

einen

Abschreiber

zum

Influenzfehler (Homoioteleuton) ὀνόματος an Stelle des ursprünglichen πνεύματος veranlaßt haben. Daß er gerade auf ὀνόματος gekommen ist, war fast zu erwarten, da er in dieser Partie immer wieder mit ὀνόματα zu tun hatte. Angesichts der Tatsache, daB die Überlieferung einheitlich, ohne jegliche Variante, ὀνόματος bietet, muß man wohl annehmen, daß der Fehler sehr früh in den Text eingedrungen ist, vielleicht schon bei der in der Kaiserzeit erfolgten

Transkription der platonischen Werke aus Rollen in Kodizes32 — oder gar in der Ausgabe der Akademie33. Wenn aber aus paldographischer Sicht unsere Konjektur recht plausibel erscheint, so ist damit dieser Vorschlag noch nicht ausreichend begründet. Es bleiben Schwierigkeiten, die sich aus dem Kontext, aus dem Etymologieverfahren im gesamten Dialog und aus der Terminologiegeschichte ergeben. Vom Dialogganzen aus gesehen ist darauf hinzuweisen, daB unsere Stelle gleich

am Anfang des eigentlichen Etymologieteils steht (397c4): *Ap’ovv οὐ δίκαιον ἀπὸ τῶν θεῶν ἄρχεσθαι34. In dieser Gesprächsphase werden zunächst nur die Wortgleichungen

ohne

Nennung

oder gar Erlüuterung

der Lautdifferenzen

(z.B.

δαίμονες / δαήμονες) vorgeführt. Dies ist erst unmittelbar nach unserer Stelle der Fall - und zwar gleich in programmatischer Formulierung: Der Wandel von Aii φίλος zu Δίφιλος (399a9ff.) wird in allen Einzelheiten expliziert und dient als Beleg für die

grundlegende These: πρῶτον μὲν yap τὸ τοιόνδε δεῖ ἐννοῆσαι περὶ ὀνομάτων, ὅτι πολλάκις ἐπεμβάλλομεν γράμματα, τὰ δ᾽ ἐξαιροῦμεν, παρ᾽ ὃ βουλόμεθα ὀνομάζοντες, καὶ τὰς ὀξύτητας μεταβάλλομεν (399a6ff.). Die Programmatik dieser Stelle läßt es fraglich erscheinen, ob schon kurz zuvor ein solcher Lautwandel festgehalten worden ist, noch dazu reduziert auf einen derart subtilen Unterschied wie das πνεῦμα. Die Logik der Disposition kónnte hier zu Einwünden führen, denen folgendes entgegenzusetzen ist: Der Leser Platons, vor allem der des Kratylos, eines Dialogs, der in besonderem MaBe von inhaltlichen

Ambivalenzen und kompositorischen Unstimmigkeiten geprägt ist35, weiß, daß hier nicht auf eine rein von der Sachlogik bestimmte Strenge des Aufbaus abgezielt wird. Das Gespräch gestattet, ja verlangt im Gegensatz zur Lehrschrift größere kompositorische Freiheiten, einen eher lockeren als immer systemgerechten Bau der

32

Vgl H. Erbse, Überlieferungsgeschichte der griechischen klassischen und hellenistischen Literatur, in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur I,

33

Zürich 1961, 220; U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon Il, Berlin 1919, 332. Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, a.a.O. 330: „Die älteren Texte waren freilich verwildert; in der Akademie konnte es an Sorgfältigerem nicht fehlen, aber fehlerlos war nichts.“

34

Die Textpartie zuvor (von 390e5ff.), in der es hauptsächlich um die homerische Namensgebung geht, ist doch wohl nur ein Vorspiel.

35

Vgl. Derbolav, a.a.O. 50ff.

16

Zu Platons Kratylos 398 d 5

Motive.

Wenn dies, wie Derbolav zeigt, für ganze Dialogteile gilt?6, wird eine

ühnliche Unstimmigkeit im Kleinen nicht Die Einpassung unseres Vorschlages ob die von uns unterstellte Lautdifferenz, zum sonstigen Etymologieverfahren

Bestütigung findet. Auch

weiter verwundern. in das Textganze wirft ferner die Frage auf, der Wechsel vom spiritus lenis zum asper, paBt und in anderen Beispielen seine

hier kónnte ein Verfechter des πνεύματος

χάριν

in

Verlegenheit geraten, denn ein auf den bloBen Wechsel des πνεῦμα reduziertes Beispiel läßt sich im Kratylos sonst nicht finden. Im Gegenteil: Der Wechsel vom lenis zum asper und umgekehrt vom asper zum lenis tritt bei zahlreichen Paradigmen in bunter, ungeregelter Folge auf, so daß die Vermutung nahe liegt, Platon habe diesen

Unterschied nicht gesehen oder ihn vielleicht sogar bewußt außer acht gelassen37. Mag ein solcher anderen Lautnuance, des πνεύματος. Im ebenso ungeregelter

Stützbeleg auch fehlen, so spricht doch die Behandlung einer wenigstens per analogiam, für die Möglichkeit einer Annahme gesamten Etymologieteil ist bei vielen Wortgleichungen ein Wechsel zwischen Lang- und Kurzvokalen festzustellen, ohne

daß dies immer vermerkt38 und als Element des Lautwandels eigens hervorgehoben würde. Ein Beispiel ist schon der Wechsel von ἔρως zu ἥρως ohne Angabe des

Quantitätenwechsels39. Auch hier liegt der Schluß nahe, daß Platon einer Feinheit wie der Vokalquantität nicht die Aufmerksamkeit gewidmet habe, um ausschließlich darauf eine Wortgleichung abzustellen. Und doch findet sich gerade dafür ein Beispiel, bei dem sogar das pfjkog des Vokals als wesentliche Differenz der

Wortgleichung ausdrücklich erwühnt wird. 416b6ff. wird καλόν von καλοῦν abgeleitet und es wird vermerkt: ἁρμονίᾳ μόνον xoi μήκει tod οὗ παρῆκται40. Was also sonst kaum Beachtung findet und in ungeregelter Folge im Wechselspiel der Etymologien auftaucht, kann an anderer Stelle als wichtige Lautdifferenz festgehalten werden, und, wenn dies für die Vokalquantität gilt, läßt sich auch für das πνεῦμα Ahnliches annehmen. Im übrigen ist die Tatsache bekannt,

daß Platon nicht vom Lautgesetz ausgeht, sondern Lautwandlungen ad hoc, dem jeweiligen etymologischen Ziel entsprechend, konstruiert. Ganz allgemein gilt — und dies spricht sicher ebenfalls für die Beachtung des πνεῦμα --, daß Platon nicht nur die Laute an sich, sondern auch deren „Akzidenzien“,

also Akzent, Spiritus! und Quantität hinzuzieht. Einen Akzentwandel hat er an 36

Vgl. z.B. Derbolavs Ausführungen a.a.O. 53ff. zum wichtiges Dialogmotiv sogar gänzlich verschwindet.

37

ZB. ἐσσία > Ἑστία 401c; ἐρατή» Ἥρα 404bf.; anp > Ἥρα 404c; ἁπλοῦν > ᾿Απόλλων 405c; ἁ θεονόα » ᾿Αθηνᾷ 407b; Εἰρέμης » Ἑρμῆς 408b.

38

Natürlich wird es bisweilen auch ausdrücklich vermerkt — wie z.B. 420b3 beim Wechsel von o

39

zu o. Weitere Beispiele: épatrj» Ἥρα 404 b f.; ópiGew» Ὧραι 410c5ff., vgl. dazu Leroy 8.8.0.

40 41

Lehrstück

vom

Worteidos,

das

als

2388; βολήρβουλή und andere. "Vgl. dazu Leroy a.a.O. 240f. und schon Wilamowitz a.a.O. 337. Platon hat also o für ov geschrieben. Ob speziell das πνεῦμα von Platon als eigenes στοιχεῖον oder als Akzidenz aufgefaßt wurde,

laßt sich nicht mehr feststellen. Aus Plutarch, Platonica Zetemata, 1009e wird deutlich, daß man sich in diesem Punkt nicht einig war. Für das πνεῦμα als Akzidenz spricht indessen schon eine gleich noch zu nennende Stelle aus Aristoteles' Poetik (s. S. 17).

Zu Platons Kratylos 398 d 5

17

oben erwähnter Stelle selbst vermerkt?2, ein Beispiel für die Vokalquantität ließ sich ebenfalls finden?3 und einen Beleg für den Spiritus könnte die von uns vorgeschlagene Lesart von 398d5 erbringen. Eine letzte Frage bleibt noch offen. Läßt sich das Wort πνεῦμα in der speziellen Bedeutung ,,Hauchlaut, Spiritus", die es an unserer Kratylosstelle haben mu8, schon

Platon zuschreiben? Wir kennen πνεῦμα „spiritus“ als geläufigen Terminus der griechischen Grammatiker, z.B. mit der in den Scholien zu Dionysios Thrax

erhaltenen Definition: πνεῦμά

ἐστιν ἐκφορὰ

wahrscheinlich von Apollonios Dyskolos

τῆς φωνῆς

ἀθρόα

ἢ μετρία, die

stammt^^. Dies deutet auf eine frühere

Prägung des Terminus, die wir hier nicht im einzelnen verfolgen können®5. Die eigentlichen

Termini

für

die

Spiritus

sind jedoch

schon

für

Aristoteles

(wie

überwiegend auch spáter) nicht die πνεύματα, sondern Ableitungen von δασύς und ψιλός. So heißt es in der Poetik (1456b31ff.): ταῦτα δὲ (sc. στοιχεῖα) διαφέρει σχήμασίν τε τοῦ στόματος καὶ τόποις καὶ δασύτητι καὶ ψιλότητι καὶ μήκει καὶ βραχύτητι ...46. Aus

der Bemerkung

in den

Supplementen

zur

Ars

des

Dionysios

Thrax

»»γνεύματα δύο’ δασὺ καὶ yiAóv"47 wird aber deutlich, daß πνεῦμα irgendwann einmal als Oberbegriff der beiden Spiritusarten in Gebrauch gekommen sein muB. Wir können diesen Prozeß, den Übergang vom nicht näher spezifizierten πνεῦμα zum phonetischen terminus technicus mit Hilfe einer Stelle aus der pseudo-aristotelischen Schrift Περὶ ἀκουστῶν wenigstens nachempfinden. Dort heißt es (804b8ff.):

δασεῖαι δ᾽ εἰσὶ τῶν φωνῶν ὅσαις ἔσωθεν τὸ πνεῦμα εὐθέως συνεκβάλλομεν μετὰ τῶν φθόγγων, ψιλαὶ δ᾽ εἰσὶ τοὐναντίον ὅσαι γίγνονται χωρὶς τῆς τοῦ πνεύματος ἐκβολῆς. Mit dieser AuBerung kommen wir immerhin nach jüngster Datierung in das zweite Viertel des dritten Jahrhunderts*8 und damit in nicht allzu große Entfernung von Platon. Bei Platon selbst ist πνεῦμα mehrfach belegt, aber nicht in der hier unterstellten Funktion eines phonetischen terminus technicus. Dies kann Zufall oder dadurch begründet sein, daß πνεῦμα in dieser speziellen Bedeutung noch nicht allgemein gebräuchlich war. Daß πνεῦμα aber schon zur Zeit Platons auch im phonetischen Kontext gebrauchlich war, beweist die Ableitung πνευματώδης, die Platon selbst zur

42 43

S.S. 16. S.obenzu 416b6ff.

44

Vgl. seine fragmentarisch erhaltene Schrift Περί πνευμάτων, Grammatici Graeci II, 3, ed. R. Schneider, Leipzig 1910, 16ff. Weitere Belege im Liddell and Scott s.v. πνεῦμα.

45

46

Die Geschichte des phonetischen Terminus πνεῦμα wurde, soweit wir sehen, bisher kaum verfolgt (übrigens auch nicht im RE-Artikel „Pneuma“ von H. Saake, RE Suppl.-Bd. 14, 1974,

387-412). [Interessant ist, daß Platon diesen Gegensatz, jedenfalls unter phonetischem Aspekt, nicht kennt.

δασύς ist nur einmal, ψιλός oft belegt, jedoch stets in anderer, nicht phonetischer Bedeutung. 47

Grammatici Graeci I, 1, ed. Ο. Uhlig, 107.

48

Vgl. U. Klein, Aristoteles, de audibilibus (Aristoteles! Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 18, Opuscula, Teil III), Darmstadt 1972, 207. Zur Diskussion der Stelle 804b8ff. vgl. Kleins

Kommentar, ebd. 281f. (mit Literatur). Mit dem Vorschlag ἀνομοιότητος von A. R. Dyck, On Plato, Cratylus 398d5 (Glotta 56, 1978, 70-72), der an unserem Verständnis der Stelle nichts ändert, konnten wir uns nicht mehr auseinandersetzen.

18

Zu Platons Kratylos 398 d 5

Bezeichnung der aspirierten Laute 9, y, o und € verwendet (τνευματώδη γράμματα Crat. 4273). Die eben genannten Belege zeigen, daß die von uns vorgetragene Vermutung auch unter terminologiegeschichtlichem Aspekt nicht an Wahrscheinlichkeit verliert. Sollte sie sich als hinreichend plausibel erweisen, wäre Crat. 398d5 als ein früher Beleg für den phonetischen terminus technicus πνεῦμα zu werten.

Ψόφος, φωνή UND διάλεκτος ALS GRUNDBEGRIFFE

ARISTOTELISCHER

SPRACHREFLEXION

In dem erst vor kurzem in seiner Bedeutung für die neuere Linguistik wiederentdeckten Werk „Die Sprachwissenschaft“! äußert sich Georg von der Gabelentz einleitend zum „Begriff der menschlichen Sprache". Es geht ihm zunächst darum, die Sprache des Menschen von der Tiersprache zu sondern, wobei

ihm die

Kommunikationsfähigkeit auch des Tieres außer Frage steht. Der Unterschied liege, so von der Gabelentz, vielmehr in dem sich im Sprachlaut vermittelnden Inhalt: „...

was sie (die Tiere) ausdrücken,

sind Empfindungen

oder hóchstens

Gesamtvor-

stellungen, nicht in ihre Glieder zerlegte Gedanken. Ein Thier, das Schmerz empfin-

det, mag in seiner Sprache rufen: Au! aber ein Gebilde wie unseren Satz: Ich empfinde Schmerz, oder wie das lateinische doleo vermag es nicht zu schaffen ...“ Dagegen sei die menschliche Sprache ,,die Zerlegung der Vorstellung", „der gegliederte Ausdruck des Gedankens durch Laute“.2 Bei der Lektüre dieses Passus wird ein mit Aristoteles vertrauter Leser sofort eine Reihe von Partien seiner naturwissenschaftlichen Schriften? assoziieren, die unverkennbar ähnliche Ansätze aufweisen‘, eine Parallele, die in der neueren

linguistischen Prinzipienforschung kein Einzelfall ist. Für die bekannte Vorlesung Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale? hat z.B. Coseriu vermerkt, daß das Prinzip der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens nicht auf de Saussure,

sondern auf Aristoteles zurückzuführen sei.6 Solche Beobachtungen weisen auf ein neues Selbstverständnis der Linguistik, die sich nicht mehr als „epochale Wende“ oder als „revolutionären Neubeginn“ versteht,

sondern in wachsender ,,Traditionsfreundlichkeit" sprachtheoretische Kontinuitäten feststellt? - ein Bemühen, das sich in letzter Zeit auch auf die antike Sprachtheorie

richtet.8 In der Tat ist für den neueren Linguisten das Erlebnis der Kontinuität und

Verwandtschaft |

des sprachtheoretischen

Ansatzes

im Rückgriff auf die antike

Gabelentz, G. v. d., Die Sprachwissenschaft, Leipzig ?1901; zu seiner Bedeutung für die neuere Linguistik vgl. Coseriu, E., Einführung in die strukturelle Linguistik, Tübingen

2

1968,

10, 24

und 90ff. Alle Belege Gabelentz 3.

3

Dasentsprechende Stellenmaterial wird noch im einzelnen genannt. Vgl. auch die Zusammenstellung der Belege am Ende dieses Aufsatzes.

4

Die Áhnlichkeit besteht in der Differenzierung nach Inhalt und Gliederung, wobei allerdings

5

Gabelentz mit Gliederung nicht wie Aristoteles die phonetische Artikulation meint.

Paris ^1922 (deutsch 71967: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von H. Lommel, worauf hier verwiesen wird).

n!

6

8

Vgl. Coseriu, E., L'arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffs, Archiv f. d. Studium d. neuen Sprachen und Literaturen, Jg. 119, Bd. 204 (1967), 81-112, 87 und 112. Die hier und an anderer Stelle (Geschichte der Sprachphilosophie, Tübingen 71975, 2 Bde., I 6881) vertretene These Coserius ist zu problematisch, um sie im Rahmen dieses Aufsatzes behandeln zu können (s. S. 37f., Anm. 68). Vgl. Cherubim, D., Grammatische Kategorien, Tübingen 1975, 1 und 6. Vgl Siebenborn, E., Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihren Kriterien, Amsterdam 1976,

If

20

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

Sprachtheorie besonders überraschend und daher auch besonders eindrücklich. Ich

will dafür ein Beispiel nennen:

Im neunten Buch von de lingua Latina referiert Varro? ein Argument der Anomalisten gegen das Analogieprinzip: Die Sprache vernachlässige real gegebene Geschlechtsunterschiede, z.B. bei Tiernamen.

Man

sage etwa corvus

und

turdus,

aber nicht *corva und *turda, ebenso panthera und merula, aber nicht *pantherus und *merulus. Das analogistische Gegenargument folgt auf dem Fuße: „ad haec dicimus: omnis orationis, quamvis res naturae subsit, tamen si ea in usum non pervenerit, eo non pervenire verba: ideo equus dicitur et equa: in usu enim horum discrimina; corvus et corva non, quod sine usu id, quod dissimilis naturae. itaque quaedam aliter olim ac nunc; nam et tum omnes mares et feminae dicebantur columbae, quod non erant in eo usu domestico quo nunc, nunc contra, propter domesticos usus quod internovimus, appellatur mas columbus, femina columba.“!0 Man braucht nur die entsprechende Passage in Hundsnurschers Neuere Methoden der Semantik!! zu lesen, um festzustellen, daß hier in Varros Text das lexikalische

Phänomen

der

,Bezeichnungslücke"

vermerkt

ist,

aus

der

sich

die

Abhüngigkeit der Lexik von der Lebenserfahrung einer Sprachgemeinschaft und damit auch die Eigenständigkeit der Sprachstruktur im Vergleich zur Realitätsstruktur ablesen läßt: „Bei Tierarten“, so Hundsnurscher, „deren Aufzucht für den Menschen

nicht so unmittelbar von Interesse ist wie von Haustieren und Wild, werden keine Differenzierungen nach Geschlecht vorgenommen."!? Man hat in dem oben skizzierten Sinne auch die Schriften des Aristoteles neu durchgesehen und eine Reihe von Analogien gefunden, ja eine Anzahl neuerer linguistischer Basisbegriffe schon Aristoteles zugeschrieben: Die Arbitraritit des

sprachlichen Zeichens war schon genannt!3, die phonologischen Prinzipien der Prager Schule Tagliabue

sieht

W.

Belardi

findet bei Aristoteles

bei Aristoteles die

Kenntnis

vorweggenommen!4, des

Phonems,

der

Morpurgo-

Linearität,

der

Substitution und Kombination!5, und schlieBlich sieht Tanner Analogien zwischen Aristoteles und der strukturellen bzw. der generativen Grammatik.!6 Zweifellos sind linguistische Anverwandlungen dieser Art mit groBer Vorsicht zu behandeln, denn ein Linguist, der auf solche Analogien stößt, ist nur allzu leicht

geneigt, die antike Sprachreflexion überzubewerten, ihr ex eventu, im Lichte einer neuen, hochentwickelten Theorie ein unangemessenes Gewicht zu erteilen.!? Varro oder vielmehr dessen Quelle als „erster struktureller Semantiker" und Aristoteles als

9 10

IX55f. IX 56. Text nach Goetz-Schoell.

il

Vgl. Hundsnurscher, Fr., Neuere Methoden der Semantik, Tübingen

12 13 14 15 16

Derselbe 32. Siehe S. 19. Vgl. Belardi, W., Il significato" del fonema, Word 23 (1967), 25-36, 25. Vgl. Morpurgo-Tagliabue, G., Linguistica e stilistica di Aristotele, Rom 1967, 37, 353, 360ff. Vgl. Tanner, R. G., Aristotle as a structural linguist, Transactions of the Philological Society 1969, 99-164. Antike Reflexionen zielen außerdem nicht auf eine eigenständige Sprachtheorie, sondern sind eher Nebenprodukte anderer Disziplinen, wie z.B. der Logik, Rhetorik oder Philologie.

17

1970, 31ff.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

21

„Vorläufer der generativen Grammatik" — dies wären allzu leichtfertige Etiketten,!8 denen man von vornherein mit Skepsis begegnen muß. Wenn es also im folgenden um einen Teilaspekt der aristotelischen Sprachtheorie geht, soll zunächst ohne Regreß auf die neuere Linguistik interpretiert werden.!9 An zwei Stellen der Historia animalium versucht Aristoteles, Tiergenera unter dem Aspekt ihrer Lautäußerungen zu gewinnen. Es handelt sich um Hist. an. I 1 (488a31ff.) und Hist. an. IV 9 (535a26ff.). Die erste Stelle steht im Zusammenhang

mit dem kurzen Überblick des ersten Buches über die διαφοραὶ τῶν ζῴων, die Kriterien Biot, πράξεις, ἤθη und μόρια (487al 1ff.), nach denen sich Tiergattungen scheiden lassen. Die Differenzierung nach Lautäußerungen steht dabei unter den

Lemmata βίος und πρᾶξις. Es heißt dort: καὶ τὰ μὲν ψοφητικά, τὰ δ᾽ ἄφωνα, tà δὲ φωνήεντα, καὶ τούτων τὰ μὲν διάλεκτον ἔχει τὰ δ᾽ ἀγράμματα, καὶ τὰ μὲν κωτίλα τὰ δὲ σιγηλά, τὰ δ᾽ δικὰ τὰ δ᾽ ἄνῳδα᾽ πάντων δὲ κοινὸν τὸ περὶ τὰς

ὀχείας μάλιστα Gdew καὶ λαλεῖν. Wir haben hier gleich zu Beginn eine Skizze der zoologischen Klassifikation, in

der die Begriffe ψόφος,

φωνή

und

διάλεκτος

als unterscheidende

Züge,

als

differentiae specificae fungieren. Klarheit läßt sich allerdings aus der dürren, begründungs- und beispiellosen Darbietung des begrifflichen Systems an dieser Stelle nicht gewinnen, denn die so erzeugten genera sind weder inhaltlich noch nach ihrer gegenseitigen Abhüngigkeit eindeutig bestimmt. Wir erfahren nicht, was unter einem

ζῷον ἄφωνον bzw. ἀγράμματον oder was z.B. unter διάλεκτος zu verstehen sei. Nicht besser steht es mit der klassifikatorischen Hierarchie: Die ζῷα διάλεκτον ἔχοντα und die ἀγράμματα sind noch klar als Unterarten der ζῷα φωνήεντα zu erkennen. Wir gewinnen also folgendes Schema:

ἀγράμματα

διάλεκτον ἔχοντα

Doch wie steht es mit den ἄφωνα

Dem

eigentlichen Wortsinn

nach — ,,stimmlos,

ohne Stimme" — würden sie auf gleicher Stufe, aber in Opposition zu den φωνήεντα stehen, d.h. es kónnte sich um stimmlose Tiere handeln, die nun aber keineswegs

gerüuschlos sein müssen, sondern eben nur auf eine andere Weise, nicht via φωνή ihren ψόφος ertónen lassen und so mit den φωνήεντα die Klasse der ζῷα ψοφητικά 18 19

Die Existenz solcher Parallelen und die Notwendigkeit ihres Nachweises sind dadurch nicht ausgeschlossen. Kurzinterpretationen des im folgenden herangezogenen Stellenmaterials finden sich bei Steinthal, H., Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Rómern, Hildesheim-New York 1971 (71890) 2 Bde., I 252ff,, Wieland, W., Die aristotelische Physik, Göttingen 21970,

166f., Larkin, M. Th., Language in the Philosophy of Aristotle, The Hague-Paris und

Happ,

H.,

Hyle,

Berlin-New

York

1971,

795f. Das

dort

wie

auch

in

1971,

diesem

18f.

Aufsatz

gesammelte Material belegt nur den naturwissenschaftlich orientierten Ansatz der aristotelischen Sprachtheorie. Daneben gibt es bekanntlich logisch-semantische (Organon) und stilistische Versuche (Rhetorik, Poetik).

22

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

bilden. DaB es solche Tiere gibt, z.B. Fische, sagt Aristoteles an anderer Stelle (535b14f), und er nennt sie ausdrücklich ἄφωνοι. Wir kónnten also unseren Graphen erweitern:

ζῷα ψοφητικά ἄφωνα

φωνήεντα ἀγράμματα

διάλεκτον ἔχοντα

Die meisten Übersetzer fassen aber ἄφωνα nicht im strengen Wortsinn20, sondern weiter als „stumm, überhaupt gerduschlos“ auf und stellen so die ἄφωνα

auf eine

Stufe mit, aber in Opposition zu den ψοφητικά, worauf auf den ersten Blick auch

die Gliederung τὰ μέν, τὰ δὲ zu verweisen scheint. Auch diese Tierklasse läßt sich wieder mit einem anderen Zitat belegen (die Weichtiere 535b12ff.). Nach dieser Auslegung würde sich ein gänzlich anderes Schema ergeben:

ζῷα ἄφωνα

ψοφητικά φωνήεντα ἀγράμματα

διάλεκτον ἔχοντα

Ein klares Bild ist aus dieser flüchtig formulierten Stelle nicht zu gewinnen. Größere Evidenz besitzt erst das Kapitel Hist. an. IV 9, mit dem wir uns im folgenden zu

beschäftigen haben. Das Kapitel IV 9 gehórt zu

dem

sogenannten

Physiologieteil

der Historia

animalium2|, der von Kapitel 8 bis 11 reicht und die Sinnesorgane (8), die Stimmen (9), Schlaf und

Wachen

(10) und

die Geschlechtsunterschiede

der

Tiere

(11)

behandelt. Thema von IV 9 ist also die φωνὴ τῶν ζῴων, und zwar in ihrem Unterschied zu ψόφος und διάλεκτος. Was in I 1 nur skizziert wurde, erscheint hier noch einmal, jedoch mit ausführlichen Erläuterungen und Beispielen, so daß sich unser System mit Hilfe dieser Stelle ausbauen und vertiefen läßt. Mit der kurzen

Definition von ψόφος, φωνή und διάλεκτος zu Beginn des Kapitels ist ein System von Lautäußerungen gewonnen, dem sich die Tierarten, sofern sie überhaupt ψοφητικά sind, zuordnen lassen. Aristoteles exemplifiziert dies an den Insekten (535b3ff.), den Weichtieren (535b12ff.), den Fischen (535bl4ff), den Vögeln (536a20ff.) und den eierlegenden bzw. lebendgebürenden Vierfüßlern (536a4ff. und 20 2|

Z.B. Louis (Bude 1964) „muets“, Tricot (1957) „d’autres (Tierkunde 51) „stumm“ u.a. Vgl. Düring, I., Aristoteles, Heidelberg 1966, 507.

n'en

émettent

aucun",

Gohlke

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

23

8432. Das Kapitel schließt mit einigen Bemerkungen zu diatopischen Unterschie-

den der φωναΐ und διάλεκτοι (536b8ff.). Hóren wir zunichst, was Aristoteles zur Unterscheidung der drei Leitbegriffe zu

sagen ἢhat (535a27ff.): φωνὴ καὶ ψόφος ἕτερόν ἐστι, καὶ τρίτον διάλεκτος. φωνεῖ μὲν οὖν οὐδενὶ τῶν ἄλλων

μορίων οὐδὲν πλὴν τῷ φάρυγγι’

διὸ ὅσα

μὴ ἔχει

πλεύμονα, οὐδὲ φθέγγεται: διάλεκτος δ᾽ ἡ τῆς φωνῆς ἐστι τῇ γλώττῃ διάρθρωσις. τὰ μὲν οὖν φωνήεντα ἡ φωνὴ καὶ ὁ λάρυγξ ὁἀφίησιν, τὰ δ᾽ ἄφωνα ἡ γλῶττα καὶ τὰ χείλη" ἐξ ὧν ἡ διάλεκτός ἐστιν. διὸ ὅσα γλῶτταν μὴ ἔχει ἢ μὴ ἀπολελυμένην, οὐ διαλέγεται. ψοφεῖν δ᾽ ἔστι καὶ ἄλλοις μορίοις. Die φωνή ist also vom ψόφος durch das Vorhandensein eines bestimmten physiologischen Apparates (πλεύμων, φάρυγξ und später 535b15 noch ἀρτηρία) geschieden. Damit fallen von vornherein alle Tiere aus dem Bereich der φωνή, die nicht über diesen Apparat verfügen, wie im folgenden die Insekten und Fische (eine Ausnahme ist der Delphin), die zwar auch ihre ψόφοι erzeugen — aber eben mit anderen Organen.

Διάλεκτος wird als Gliederung (διάρθρωσις) der φωνή mit der Zunge bestimmt, wobei aber zur Erzeugung der ἄφωνα

(sc. γράμματα) auch die Lippen eine Rolle

spielen.22 Voraussetzung für die Gliederungstätigkeit der Zunge ist dabei natürlich ihre ausreichende Beweglichkeit.23 Das Spezifikum der διάλεκτος ist also wie bei der φωνή wiederum physiologischer Art, nur treten hier zum Apparat der φωνή noch weitere, besonders gestaltete Organe mit bestimmten Funktionen hinzu. Somit gewinnen wir eine neue Klasse von Tieren, die über die φωνή

hinaus

durch

ihre

Artikulationsgabe die διάλεκτος, d.h. die artikulierte φωνή, aufweisen. Wir kónnen also mit Hilfe von IV 9 unser Schema der lautäußernden Tiere absichern, besprechen

jedoch zuvor noch eine dritte Systemstelle. Sie findet sich in de anima II 8 (420b4ff.), und ihr Kontext ist die Behandlung

der fünf Sinne (II 7-11), wobei es in Kapitel 8 um die ἀκοή und als deren Objekte um

ψόφος und φωνή geht.24 Hauptziel

der Stelle ist die Erarbeitung einer Definition

der φωνή,

die auf

physiologischen Beobachtungen beruht. Sie wird 420b27ff. gegeben: ὥστε ἡ πληγὴ τοῦ ἀναπνεομένου ἀέρος ὑπὸ τῆς ἐν τούτοις toig μορίοις ψυχῆς πρὸς τὴν καλουμένην ἀρτηρίαν φωνή ἐστιν. Die qovij-Passage von de anima ist schwierig und kann hier nicht im einzelnen interpretiert werden. Sie trägt jedoch dazu bei, unser Schema zu bestätigen und zu erweitern. Die 420b9-14 erwähnte physiologische Trennung der ζῷα ψοφοῦντα

oder ἄφωνα von den φωνήεντα ist bereits bekannt und entspricht dem in Hist. an. IV 9 Gesagten. Aber wir erfahren darüber hinaus, daß zur Erzeugung der φωνή notwendig ein ἔμψυχον gehöre, denn ἄψυχα wie Flöte und Leier haben keine φωνή, allenfalls καθ᾽ ὁμοιότητα (420b5ff.). Es ist also zu bedenken, daß es im Bereich des Schallerzeugenden Lebloses und Lebendiges gibt, was unser Schema wieder um eine 22

"Vgl. 535b1 und besonders part. an. II 16, 659b27ff. Ein weiteres Artikulationsorgan sind die

Zähne (part. an. III 1, 661b13ff.). 23 24

Vgl. besonders part. an. II 17, 660a14ff. διάλεκτος erscheint hier ebenfalls, aber nicht als Glied einer Klassenhierarchie wie in Hist. an. IV 9, sondern beiläufig als Eigenschaft der φωνή (420b8) und als Zweitfunktion der Zunge

(420b18).

24

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

Stufe erweitert. Und wenn wir jetzt noch hinzufügen, daß es im Gegensatz zu schallerzeugenden Dingen auch noch Schalloses, wie z.B. Schwamm und Wolle, gibt, so A. am Anfang von de anima II 825, sind wir beim allgemeinsten genus angelangt und können das System vervollständigen. Wir stellen dabei die zweite wichtige

Information von 420b29ff., die Bestimmung

der φωνή

als σημαντικὸς

ψόφος,

zunächst zurück, vermerken sie aber als spezifische Differenz gegenüber ψόφος. Spezifische Differenzen

Gettungen (rd ὄντα)

I + Schall

09 φοφητικά (Wolle, Schwamm,

ψοφητικά

Weichtiere)

II + belebt

ἄγυχα φοφητικά

ἔμψυχα ψοφητωιά(ζῷα)

(Eisen, Flöte,

Lyra) III + Physiologischer Apperat der φωνή:

(9a ἄφωνα (Insekten,

πλεύμονες φάρυγξ

ξῷα φωνήεντα

Fische)

(λάρυγξ) ἀρτηρία

+ Bedeutung φαντασία, σημαντι-

xóc ψόφος IV + Physiologischer Apparat der διάJexrog, διάρθρωσις

ζῷα ἀγράμματα (Delphin, Vierfüßler)

διάλεκτον ἔχοντα (Vögel, Mensch)

τῆς φωνῆς: γλῶττα χείλη ὀδόντες

Durch fortlaufende vierstufige Dihairesis — s. obiges Schema — ist also der Standort

der διάλεκτος als εἶδος im akustischen System bestimmt und durch spezifische Differenzen

von

φωνή

und

ψόφος

abgegrenzt.

Wir

kónnen

demnach

wie

folgt

definieren: διάλεκτος ist die mit bestimmten Organen erzielte Artikulation (IV) eines mit bestimmten anderen Organen erzeugten Lautes (III) eines belebten (Il), schallerzeugenden (I) Seienden. Man wird sofort sehen, daß mit dieser aus der bloßen Dihairesis gewonnenen Definition noch nicht allzu viel an sprachtheoretischer Einsicht gewonnen ist. Genaueres enthalten erst die spezifischen Differenzen, die im

einzelnen überprüft werden müssen. Bisher sind auf Stufe III und IV zwei unterscheidende Züge vermerkt worden: eine zweistufige physiologische Differenz, die einmal die φωνή vom ψόφος und zum

anderen die διάλεκτος von der φωνή

trennt, und eine, sagen wir, semantische

Differenz auf Stufe III, die die φωνή als bedeutsamen Laut eines ἔμψυχον aus den 25

Vgl. de anima II 8, 419b4ff. Wir unterschlagen dabei die weitere Differenzierung nach ἐνέργεια und δύναμις.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

übrigen

ψόφοι

aussondert

Wir

haben

uns

25

zunüchst

mit

der

physiologischen

Differenz zu beschäftigen: Die erste Unterscheidung der φωνή als einer an bestimmte Organe gebundenen Lautäußerung (Stufe III) von solchen Verlautbarungen, die mit anderen Organen erzeugt

werden,

ist,

so

glaube

ich,

ohne

weiteres

mangelnde Kenntnis des phonetischen Apparates

zu

akzeptieren,

wobei

die

bei Aristoteles nicht weiter ins

Gewicht fällt.26 Sie ändert nichts an der grundsätzlich richtigen Klassifikation. Größere Schwierigkeiten bietet die zweite physiologische Differenz, mit der die uns

eigentlich interessierende διάλεκτος ausgegliedert wird (Stufe IV). Auch hier erscheint das physiologische Kriterium zunüchst durchaus plausibel: Wer über die Organe der φωνή hinaus noch Zunge, Lippen oder Zähne hat — diese allerdings in bestimmter Ausformung — kann artikulieren und verfügt damit über

διάλεκτος, die artikulierte φωνή (535a30ff.). Die unartikulierte φωνή wird also einem bestimmten BearbeitungsprozeB, der διάρθρωσις, unterzogen (Hist. an. 535a31

und part. an. 660a22).27 Ergebnis sind die γράμματα, aus denen sich die

διάλεκτος zusammensetzt (Hist. an. 535b1 und unecht Problemata 895a9f.).28 Wir wollen dabei gleich vorausschicken, daß diese Möglichkeit nicht nur dem Menschen, sondem auch den Tieren offensteht, sofern sie über den entsprechenden Artikula-

tionsapparat verfügen. So wird auch den Vögeln διάλεκτος zugeschrieben (Hist. an. 536a20ff. und b11ff.), fails sie eine entsprechend geformte Zunge haben, und sie

können, so Aristoteles ausdrücklich, auch das Endprodukt der διάρθρωσις, die γράμματα, erreichen. Hist. an. II 12, 504b1ff. heiBt es: μάλιστα δὲ τῶν ζῴων μετὰ τὸν ἄνθρωπον γράμματα φθέγγεται ἔνια τῶν ὀρνίθων yévn’ τοιαῦτα δ᾽ ἐστὶ tà πλατύγλωττα αὐτῶν μάλιστα.29 Tiere mit weniger ausgeprügtem Apparat verbleiben gewissermaßen im vorsprachlichen Bereich der φωνὴ, wie etwa der Delphin, dem Zunge und Lippen fehlen, ὥστε ἄρθρον τι τῆς φωνῆς ποιεῖν (Hist. an. 535b32ff.). Dies gilt auch für die übrigen stimmbegabten Tiere, die aufgrund ihrer unvollkommenen Artikulationsor-

gane nur eine βραχεῖα διάρθρωσις erzielen können (part. an. 660a31f.).50 Festzuhalten ist jedenfalls, daB die mit der physiologischen Differenz auf Stufe

IV gebildeten Klassen ζῷα ἀγράμματα und διάλεκτον ἔχοντα nicht etwa mit den Klassen Tier / Mensch

identisch

sind.

ζῷα

ἀγράμματα

sind

eben

nur solche

Lebewesen, deren διάρθρωσις nicht bis zu den — oder doch nur bis zu einigen — γράμματα reicht (Problemata 895a8f.). Die physiologische Differenz von Stufe IV führt aber zu Bedenken

an der

dihairetischen Ausgliederung der διάλεκτος als εἶδος φωνῆς: Wir haben gesehen, daB 26 27

Vgl. dazu Panconcelli-Calzia, Die Phonetik des Aristoteles, Hamburg 1942. Dies besonders deutlich in der unechten, aber Aristotelisches wiederaufnehmenden

Stelle

Problemata X 39, 895a7ff. Genaueres zur διάρθρωσις (ebenfalls unecht) de audibilibus 801b1 ff. 28

Zum Gebrauch von γράμμα und στοιχεῖον im allgemeinen und speziell bei Aristoteles vgl. Burkert, W.,

Στοιχεῖον, Philologus

103 (1959),

167-197

und

Balazs,

J., The

forerunners of

structural prosodic analysis and phonemics, Acta Linguistica Academiae Scientiarum Hunga-

ricae 15 (1965) 229-285. 29 30

Vgl. auch part. an. 660a29f. Dies spricht immerhin für einen gewissen Grad an Artikulationsfähigkeit, dagegen steht (Hist. an. IV 9, 536a32ff.) die rigorose Absprache der διάλεκτος für den Bereich der Säugetiere.

26

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

erst die artikulierende Tätigkeit von Zähnen, Zunge und

Lippen

die φωνή

zur

διάλεκτος macht. Deren Produkte sind aber, wie Aristoteles selber sagt, die ἄφωνα γράμματα (Hist. an. 535a32f.) und nicht die φωνήεντα, die unmittelbar der φωνή

entstammen, also per se nichts davon Verschiedenes sein kénnen.3! Wenn nun die ἄφωνα von Zunge und Lippen erzeugt werden, wird bei diesen Lauten der genuin stimmliche Apparat gar nicht eingesetzt, sie sind vielmehr bloße xpooPoAai (Zunge)

und συμβολαί (Lippen) (part. an. 660a5ff.), und daraus folgt — gerade auch nach den physiologischen Kriterien des Aristoteles —, daf die ἄφωνα, da sie mit anderen als den eigentlich stimmlichen Organen erzeugt werden, nicht der φωνή, sondern dem

ψόφος zuzuordnen waren.32 Für die διάρθρωσις τῆς φωνῆς sind physiologisch gesehen eher ψόφοι als φωναί zustündig, woraus folgt, daB die διάλεκτος eigentlich

gar kein εἶδος φωνῆς, sondern eher eine Mischgattung beider darstellt.)3 Die physiologische Differenz von Stufe IV kann jedenfalls διάλεκτος nicht eindeutig von

ψόφος und φωνή trennen. Aufs Ganze gesehen können aber diese Einwände nicht die grundsätzliche Plausibilitit der Auffassung des Aristoteles beeinträchtigen, daB bestimmte mit φωνή begabte Lebewesen artikulieren kónnen und so in den Besitz dessen gelangen,

was er διάλεκτος nennt. Wenn wir diesen Begriff mit „Sprache“ wiedergeben, so müssen wir dabei immer im Auge behalten, daß διάλεκτος — jedenfalls in den uns vorliegenden physiologischen Kontexten — stark auf das Moment der Artikulation verengt ist, also nur einen ganz bestimmten, dazu noch recht äußerlichen Teilaspekt eines Begriffes erfaft, der schon für die antike Sprachphilosophie35 sehr viel mehr enthält als das bloße phonetische Spezifikum „Artikulation“. „Sprache“ ist 31

32

Dies gilt nur unter Einschránkungen, denn die wesentlich differenziertere Lautiehre von Pietik 1456b22ff. zeigt, daß auch Vokale einen Gestaltungsprozeß durchlaufen (Mundstellung, Länge, Kürze etc.). Die Artikulation betrifft also auch schon die φωνήεντα, aber dies scheint Aristoteles an unserer Stelle nicht berücksichtigt zu haben.

So z.B. Platon, Theaitet 203b2ff., wo das Sigma ψόφος τις μόνον genannt wird. Wenn de anima 420b30 von „th γλώττῃ ψοφεῖν“ die Rede ist, so zielt diese Formulierung auf einen

33

anderen Gegensatz von ψόφος und φωνή. Vgl. dazu S. 27. Diese Unebenheit läßt sich mit Hilfe von Poetik 1456b28ff. glätten: ἄφωνον δὲ τὸ μετὰ προσβολῆς καθ᾽ αὑτὸ μὲν οὐδεμίαν ἔχον φωνήν, μετὰ δὲ τῶν ἐχόντων τινὰ φωνὴν γινόμενον ἀκουστόν. Die ἄφωνα erhalten also durch ihre Verbindung mit stimmhaften Lauten letztlich doch φωνή und lassen sich so ebenfalls unter die φωνή subsumieren. Im vorliegenden Kontext, in dem es Aristoteles um

genaue physiologische Unterscheidungen geht, bleibt es

jedoch eine Nachlässigkeit, Laute, die per definitionem nur ψόφοι

sein können, der φωνή

zuzuordnen. Vgl. auch Steinthal (wie Anm. 19) I 252ff.

34

διάλεκτος betont als Verbalabstraktum von

διαλέγεσθαι

eigentlich den

kommunikativen

Aspekt der Sprache. Aristoteles verwendet den Terminus dagegen je nach Kontext in zwei speziellen Bedeutungen. Im physiologischen Kontext erfährt διάλεκτος eine Bedeutungsverengung (artikulierte Sprache). Im stilistischen Kontext (Rhetorik, Poetik) heißt διάλεκτος „Sprachverwendung“ bis hin zu „Sprachusus“ (s. die Belege bei Bonitz). Als Glied der akustischen Dihairesis erhält διάλεκτος einen besonderen Stellenwert. Daneben verwendet

Aristoteles auch λόγος und ἑρμηνεία — allerdings ohne dihairetischen Wert. Zu λόγος vergleiche im folgenden S. 29ff. ἑρμηνεία betont den kommunikativen Aspekt (z.B. part. an 660235f.).

35

Man denke nur an Platons Definition des ὄνομα als διδασκαλικὸν ὄργανον xai διακριτικόν (Kratylos 388b13f.).

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

27

wesentlich durch ihre bezeichnende und mitteilende Kraft — wir würden heute sagen: durch Referenz und Kommunikation — bestimmt. Die genauere Betrachtung unserer Texte zeigt aber, daB beide Aspekte zumindest implizit auch schon im Rahmen der

διάρθρωσις τῆς φωνῆς von Aristoteles beachtet werden. Es wurde bereits vermerkt, daß die φωνή vom ψόφος nicht nur physiologisch, sondern auch durch eine semantische Differenz geschieden wurde (Stufe III 2). Es

heißt in de anima 420b29ff.: οὐ γὰρ πᾶς ζῴου ψόφος φωνή, καθάπερ εἴπομεν ἔστι yap Kai τῇ γλώττῃ ψοφεῖν καὶ ὡς οἱ βήττοντες - ἀλλὰ δεῖἔἔμψυχόν τε εἶναι τὸ τύπτον καὶ μετὰ φαντασίας τινός" σημαντικὸς γὰρ δή τις ψόφος ἐστὶν ἡ φωνή. Die φωνή unterscheidet sich also vom ψόφος 1. durch die Erzeugung des Lautes

durch ein ἔμψυχον und 2. durch die Bindung des Lautes an eine pavtacia.3® Hier interessiert nur der zweite Punkt, denn der erste, die Trennung der ψόφοι ἐμψύχων von denen der ἄψυχα, ist schon in 420b5ff. genannt und von uns besprochen worden. Wichtig ist allein die Aussage, daß Lautäußerungen, um das Prädikat φωνή zu

erhalten,

mit

etwas

Inhaltlichem

verhaftet

sein

müssen

und

von

solchen

Verlautbarungen zu trennen sind, die inhaltlos, weil psychisch unmotiviert, sind, wie z.B. Zungenschnalzen oder Husten. Da sie nichts anzeigen (dies steckt im

σημαντικός), sind sie bloBer ψόφος, nicht φωνή, die immer ein σημαντικὸς ψόφος ist.37 Dies bedeutet nichts anderes, als daß Lautäußerungen der Klasse φωνή an das Kriterium der Bedeutsamkeit geknüpft sind. Auf die Dihairesis bezogen resultiert daraus, daB das sprachtheoretisch relevante Kriterium der Bedeutsamkeit auf der vierten Stufe, von der doch die eigentliche Sonderung von Sprache und „Nichtsprache“ zu erwarten wäre, gar nicht als unterscheidender Zug wirkt, denn unter dem Aspekt

der Semantizität von Lauten

sind διάλεκτος und φωνή nicht differenzierbar. Und in der Tat gibt es eine Reihe von Belegen dafür, daß auch die ζῷα ἀγράμματα ebenso wie die διάλεκτον ἔχοντα etwas ausdrücken und einander mitteilen, also in diesem Sinne „sprechen“ kónnen.?8 Was also für uns die Sprache ausmacht, ihre bezeichnende und vermittelnde Kraft,

gilt bei Aristoteles schon für den gesamten Bereich der φωνή und wirft für die Unterart διάλεκτος nichts ab, denn in diesem Sinne ist für Aristoteles schon φωνή

Sprache.39

Somit

reicht

die

semantische

Differenz

wie

schon

die

zweite

physiologische Differenz zur Gewinnung eines εἶδος, Sprache" nicht aus. Wir wären damit eigentlich schon am Ende und könnten resümieren: Aristoteles ist durch die Dihairesis von Lautäußerungen mit nicht immer eindeutigen Differenzen 36 37

Zu φαντασία vgl. die Kommentare von Hicks (1907) und Ross (1961) jeweils zur Stelle. Schon Platon differenziert semantisch, indem er ψοφεῖν als Terminus für einen bedeutungslosen Laut im Vergleich zum sinnvollen ὄνομα verwendet (vgl. Kratylos 430a4ff) Vgl. auch

Aristoteles, Rhetorik T 2, 1405b6-8: κάλλος δὲ ὀνόματος τὸ μέν, ὥσπερ Λικύμνιος λέγει, ἐν 38

39

τοῖς ψόφοις ἢ τῷ σημαινομένῳ.

Z.B. Hist. an. 536a13ff.: εἰσὶ γὰρ ἑκάστοις τῶν ζῴων ἴδιαι φωναὶ πρὸς τὴν ὁμιλίαν καὶ τὸν πλησιασμόν oder part. an. 660a35ff.: καὶ χρῶνται τῇ γλώττῃ καὶ πρὸς ἑρμηνείαν ἀλλήλοις πάντες μέν, ἕτεροι δὲ τῶν ἑτέρων μᾶλλον, ὥστ᾽ ἐπ᾽ ἐνίων καὶ μάθησιν εἶναι δοκεῖν παρ᾽ ἀλλήλων. Weitere Stellen: Politik 1253al0ff., int. 16a28f. und unecht Hist. an. 608a17ff. und Problemata 895213. Anders in der Poetik, wo es durchaus eine φωνὴ ἄσημος gibt, und zwar als Bestandteil einer φωνὴ σημαντική (z.B. die Silbe 1456b34ff.) und als Spracheinheit ohne Referenz mit bloß satzinterner Bedeutung wie der σύνδεσμος (1456b38ff.).

28

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

zu folgenden Definitionen gelangt: 1. Stimme ist ein bedeutsamer, mit bestimmten Organen erzeugter Laut. 2. Sprache ist artikulierte Stimme. Dies wäre für jemanden, der sprachtheoretische Ansätze in unserem Stellenmaterial vermutet, doch recht wenig — gäbe es darin nicht weitere, recht unauffällige Implikationen, die über dieses Ergebnis hinausführen könnten. Zwei vieldiskutierte Stellen aus de interpretatione und der Poetik (16a19ff. und 1456b22ff.) lassen erkennen, daß in dem, was Aristoteles unter Sprache versteht,

noch andere Differenzen eine Rolle spielen. Es heißt 16a27ff.: τὸ δὲ (ὄνομα) κατὰ συνθήκην, cὅτι φύσει τῶν ὀνομάτων οὐδέν ἐστιν, € GAN’ ὅταν γένηται σύμβολον' ἐπεὶ δηλοῦσί γέ τι καὶ οἱ ἀγράμματοι ψόφοι, οἷον θηρίων, ὧν οὐδέν ἐστιν ὄνομα,

und 1456b22ff.: στοιχεῖον μὲν οὖν ἐστιν φωνὴ ἀδιαίρετος, οὐ πᾶσα δὲ ἀλλ᾽ ἐξ ἧς néqQuke 0 συνθετὴt! γίγνεσθαι

φωνή,

καὶ γὰρ

τῶν

θηρίων

εἰσὶν

ἀδιαίρετοι

φωναΐ, ὧν οὐδεμίαν λέγω στοιχεῖον. Halten

wir

zunächst

als

These

fest,

daß

an

beiden

Stellen

tierische

Lautäußerungen gegen Lautphänomene abgegrenzt werden, die zwar von Aristoteles unausgesprochen, aber doch wohl allem Anschein nach der menschlichen Sprache angehören (ὄνομα und στοιχεῖον). Beide haben Gemeinsamkeiten (Semantizität und Unteilbarkeit), aber auch wesentliche Unterschiede, die im ersten Fall im Begriff des

σύμβολον,

im zweiten im Begriff der Zusammensetzbarkeit

liegen. Es scheint also über hinaus etwas zu geben, das Verdacht, daß Aristoteles — doch die Sprachlichkeit von Verdacht zu überprüfen,

bestimmter φωναί

die tierischen bedeutungshaften und unteilbaren Laute die menschliche Sprache ausmacht, und so regt sich der nicht programmatisch, sondern eher implizit — letztlich Mensch und Tier differenziert haben kónnte. Um diesen müssen wir noch einmal zu den genannten Stellen

zurückkehren, an denen Aristoteles den verschiedenen γένη ζῴων Sprachfähigkeit zuweist. Wir haben schon vermerkt, daB die unter physiologischen und semantischen Aspekten gewonnenen Grenzlinien im Tierreich eher flieBend sind und jedenfalls nicht mit der Grenze Mensch / Tier zusammenfallen. In puncto Kommunikation gibt es keinen Unterschied, und die Artikulation erreichen bis zu einem gewissen Grad

auch die Tiere. Für die Végel trifft sogar beides zu: διάρθρωσις bis hin zu den γράμματα und ἑρμηνεία. Die Tiere wären also, was ihre Sprachfähigkeit angeht, wenn überhaupt, dann hóchstens graduell, nicht prinzipiell vom Menschen zu unterscheiden. Dies wird ausdrücklich in dem leider unechten Text Hist.

608al7ff.

festgehalten, der aber der aristotelischen

Auffassung

an. IX

1,

im wesentlichen

entsprechen dürfte: Evia (ζῷα) δὲ κοινωνεῖ τινὸς ἅμα Kai μαθήσεως xoi διδασκαλίας, τὰ μὲν παρ᾽ ἀλλήλων, τὰ δὲ καὶ παρὰ τῶν ἀνθρώπων, ὅσαπερ ἀκοῆς μετέχει, μὴ μόνον ὅσα τῶν ψόφων, ἀλλ᾽ ὅσα καὶ τῶν σημείων διαισθάνεται τὰς διαφοράς. 40

Das πέφυκε ist hier nicht etwa als eine gbceı-Parteinahme zu werten. Bei πέφυκε kann die Komponente „natürlich“ im Sprachgebrauch des Aristoteles durchaus abgeblendet werden. πέφυκε bedeutet dann „in der Regel, notwendigerweise, meist". Vgl. Bonitz-Index 833a23f.

(synonym: ἢ ἐξ ἀνάγκης ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ). 4|

Für das συνθετή

statt συνετή

haben

schon

Diels und

Steinthal

überzeugende

Argumente

gefunden. Vgl. Bywaters Poetikkommentar (1909) 262f., der übrigens für das συνετή

Vgl. dagegen Gudemans Poetikkommentar (1934) 340.

eintritt.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

29

Und doch scheint es Aristoteles bei dieser Art Sprachzuweisung nicht ganz wohl zu sein, denn es gibt andere Stellen, die eher für einen prinzipiellen Unterschied zu plädieren scheinen. Ein gewisses Lavieren wird jedenfalls schon Hist. an. IV 9 deutlich: Zuerst wird den Vögeln διάλεκτος zugeschrieben (526a21), dann den Süugetieren mit einer einzigen Ausnahme, dem Menschen, verwehrt (536a32ff.): ἀλλ᾽ ἴδιον τοῦτ᾽ ἀνθρώπου ἐστίν. Der Grund dafür, der Artikulationsmangel, ist uns bereits bekannt. In der sich anschlieBenden Dialektpassage (536b8ff.) wird dagegen wieder ganz allgemein auch von diatopischen 81é:Aextoc-Differenzen der

ζῷα gesprochen, wobei unbestimmt bleibt, welcher Tiergattung hier διάλεκτος zugewiesen wird.42 Allerdings zeigt die durch Umschreibung, Potentialis und ὥσπερ

stark abgeschwüchte Formulierung: ἡ δ᾽ £v toig ἄρθροις, ἣν ἄν τις ὥσπερ διάλεκτον εἴπειεν (53601 1), daß Aristoteles hier nicht in Widerspruch zu seiner kurz zuvor geäußerten These geraten will, daß διάλεκτος — jedenfalls unter den Säugetieren — nur dem Menschen zukomme. Deutlicher wird die Tendenz zu einer prinzipiellen Trennung an zwei anderen, schon genannten Stellen (part. an. IT 16, 659b27ff. und II 17, 660a14ff.), wo es um

die Lippen und die Zunge als Artikulationsorgane geht. Beide Organe haben beim Menschen eine Doppelfunktion, eine natürliche oder besser natumotwendige (oft ἀναγκαῖον genannt), die das menschliche Organ mit denen anderer Lebewesen teilt, z.B. Schutz der Zühne und Geschmackssinn, und eine über die Naturnotwendigkeit

hinausgehende, in diesem Fall spezifisch menschliche Funktion (διὰ τὸ e0)43, die in beiden Texten mit χρῆσθαι tà λόγῳ und πρὸς τὸν λόγον wiedergegeben wird (659b33f. und 660a22f.). Wir fassen hier mit λόγος einen weiteren Mitspieler im terminologischen Spiel, den wir bisher zu wenig beachtet haben. Es ist nämlich auffällig, daß Aristoteles, wenn er in den hier berücksichtigten

Texten von der Sprachfühigkeit des Menschen spricht, nicht nur διάλεκτος, sondern

oft auch λόγος verwendet, wührend er umgekehrt den übrigen ζῷα zwar διάλεκτος, aber, soweit ich sehe, nirgendwo λόγος zuerkennt. Es fällt weiter auf, daß er dies vornehmlich dann tut, wenn dem Menschen unter sprachlichem Aspekt ein ihn von den übrigen ζῷα prinzipiell unterscheidendes Merkmal zugewiesen werden soll. Als Indiz dafür haben wir nicht nur die deutlich spürbare Kontextbindung von λόγος an die menschliche Sprachfähigkeit (659b30ff.; 660a17ff.; unecht 895a7ff.), sondern auch zwei Stellen, nämlich gen. an. V 7, 786b17ff. und Politik I 12, 1253a7ff., in

denen der Mensch explizit als Alleininhaber des λόγος in Erscheinung tritt.44 Im ersten Text, dessen sprachtheoretischer Teil hóchst merkwürdig als Parenthese in 42

Daß vornehmlich Vögel gemeint sind, geht aus den Beispielen 536b13ff. hervor. Aber Süugetiere kónnen einbezogen werden, denn schlieBlich wird neben dem Menschen auch der Elefant als Beispiel für das ἐνδεχόμενον πλάττεσθαι der διάλεκτος herangezogen. Rüssel dient dabei als Beispiel für ein Artikulationsorgan, das aus der bloßen φωνή

auch noch Sein (ohne

Rüssel) einen klar identifizierbaren, weil geformten Laut (mit Rüssel), also eine Art διάλεκτος,

43

macht (536b20ff.). Das διὰ τὸ εὖ eines Organs muß nicht auf den Menschen beschränkt sein. Vgl. z.B. de anima 420b16ff., wo von διάλεκτος und ἑρμηνεία ohne Beschränkung auf den Menschen gesagt wird,

sie seien ἕνεκα τοῦ εὖ. 44

In Reflexen ebenfalls greifbar Problemata 905a20ff. Hier heißt es μόνον. μᾶλλον.

dagegen

8958] 5ff.

30

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

eine Betrachtung der Stimmlage allgemein und speziell der Rinder eingebettet ist,

heißt es μάλιστα χρῆσθαι Der

unmißverständlich: μάλιστα δ᾽ ἐπίδηλον ἐπὶ τῶν ἀνθρώπων τοῦτο" γὰρ τούτοις ταύτην. τὴν δύναμιν ἀποδέδωκεν ἡ φύσις διὰ τὸ λόγῳ μόνους τῶν ζῴων, τοῦ δὲ λόγου ὕλην εἶναι τὴν φωνήν. begründende Zusatz enthält also 1., daB der Mensch allein den λόγος

verwendet, und 2., daB die φωνή Stoff, Substanz, Materie des λόγος ist. Der zweite

Teil des Zusatzes erinnert mit dem Reizwort ὕλη an die aristotelische Prinzipienlehre und fordert den impliziten Zusatz des Pendants εἶδος, ohne daf aus der knappen Notiz dieser Stelle eindeutige Aussagen über dieses εἶδος zu gewinnen waren. Hier bleibt Raum für Spekulationen, und es ist kaum

verwunderlich, wenn

sich an diesen Passus weitreichende Vermutungen und moderne sprachphilosophische Analogien geknüpft haben. Ich meine Happs problematische Deutung der

Stelle, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden kann.45 Man wird Happ darin recht geben, daf die von Aristoteles als ὕλη bezeichnete φωνή ein εἶδος verlangt, das der gewissermaßen amorphen lautlichen Substanz Gestalt verleiht und so zusammen mit der φωνή den λόγος. konstituiert. Man wird ebenfalls zugeben, daB beim λόγος die Suche nach diesem εἶδος nicht auf die Artikulation, die ja auch Tieren gelingt, sondern eher auf die Bedeutungszuordnung, die Verknüpfung von Laut und Sinn, zielen muß. Gegen Happ ist aber einzuwenden, daB diese Verknüpfung von Laut und Sinn noch keinen prinzipiellen Unterschied von menschlichem λόγος und

tierischer φωνή ausmacht.47 Es wurde schon mehrfach vermerkt, daß sich auch bei Tieren im Bereich der φωνή Laute mit Inhalten verbinden kónnen, ja verbinden müssen, wenn sie nicht zu den inhaltlosen ψόφοι gerechnet werden sollen. Ich

erinnere nur an de anima II 8 mit der Definition der φωνή als σημαντικὸς ψόφος. Insofern verfügen also auch die Tiere über σημεῖα

und

über die Fähigkeit des

σημαίνειν und δηλοῦν.48 Bei dem Vergleich von λόγος und φωνή wird, wie schon 45

Vgl. Happ (wie Anm. 19) 795f., 796 die Analogie zu de Saussures Form-Substanz-Dichotomie.

46

Artikulation wäre nichts ausschließlich Menschliches und könnte daher auch nicht den menschlichen λόγος differenzieren. Vgl. Happ 796, Anm. 589. Dennoch muß λόγος mehr sein als φωνή, da diese nur als ὕλῃ, also als einer der den λόγος konstituierenden Bestandteile erscheint. Das εἶδος kann demnach, wenn die artikulatorische Differenz ausscheidet, nur im semantischen Bereich liegen, indem zur φωνή so etwas wie Bedeutung, Sinn etc. hinzutritt, das sie zum λόγος formt. Denkbar wäre auch — mit Blick auf die Ambivalenz von λόγος als oratio und ratio -, hier unter λόγος allein die ratio des Menschen zu verstehen, die sich in der Stimme materialisiert. Aber auch dies bleibt Spekulation. Happ (wie Anm. 19) trennt — hier Newman folgend (W.L. Newman, The Politics of Aristotle,

47

Oxford 1887-1902, Vol. II, 123) - zwischen σημαίνειν als Funktion des λόγος und δηλοῦν als Funktion der φωνή. φωνή habe keine eigentlich „sprachliche“ Bedeutung, sei vielmehr bloBe »Kundgabe". Erst im λόγος werde der Laut „Zeichen für Bewußtseinsinhalte“. Hier liege der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tiersprachen. Es wird sich im folgenden zeigen,

daB Aristoteles bei λόγος und φωνή keine Weisen des Bedeutens, sondern nur Bedeutungsinhalte unterscheidet. Eine weitere Differenz liegt in der κατὰ ouvörnj«nv-Relation von Laut und Sinn in der menschlichen Sprache (davon spiter).

48

Eine Trennung von σημαίνειν und δηλοῦν widerspricht dem Gebrauch beider Verben (und ihrer Ableitungen) in unseren Texten. Sie werden unterschiedslos und in beliebigem Wechsel für Mensch- und Tiersprache verwendet (σημαντικός / φωνή, 420b32; σημεῖα / Mensch und Tier,

608220; σημεῖον / φωνή, 1253a11; σημαίνειν / Tier, 1253213; δηλοῦν / λόγος, 1253214; σημαίνειν / λόγος, 895a11; δηλοῦν / παῖδες und θηρία, 895a13; δηλοῦν / Mensch und Tier,

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

31

bei διάλεκτος, eben nicht auf einen grundsätzlich andersartigen modus significandi

abgehoben, im Gegenteil: φωνή, διάλεκτος und λόγος sind sümtlich und unterschiedslos kommunikative Verknüpfungen von significans (Laut) und significatum (Vorstellung, Inhalt, Sinn etc.) — im Fall von διάλεκτος mit der Differenz der Artikulation, im Fall von λόγος mit einer Differenz, die erst noch genauer bestimmt

werden muf. Dazu verhilft der zweite Text, Politik 1253a7ff., in dem Aristoteles ebenfalls mit Hilfe des Aóyoc-Begriffes eine prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier zieht:

διότι δὲ πολιτικὸν ὁ ἄνθρωπος ζῷον πάσης μελίττης καὶ παντὸς ἀγελαίου ζῴου μᾶλλον, δῆλον. οὐδὲν γάρ, ὡς φαμέν, μάτην ἡ φύσις ποιεῖ: λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει ἔ τῶν ζῴων' ἡ μὲν οὖν φωνὴ τοῦ λυπηροῦ καὶ ἡδέος ἐἐστὶ σημεῖον, διὸ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει ζῴοις (μέχρι γὰρ τούτου ἡ φύσις αὐτῶν ἐλήλυθε,

τοῦ ἔχειν αἴσθησιν λυπηροῦ καὶ ἡδέος καὶ ταῦτα σημαίνειν ἀλλήλοις), ὁ δὲ λόγος ἐπὶ τῷ δηλοῦν ἐστι τὸ συμφέρον καὶ τὸ βλαβερόν, ὥστε καὶ τὸ δίκαιον καὶ τὸ ἄδικον᾽ τοῦτο γὰρ πρὸς τὰ ἄλλα ζῷα τοῖς ἀνθρώποις ἴδιον, τὸ μόνον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ τῶν ἄλλων αἴσθησιν ἔχειν" ἡ δὲ τούτων κοινωνία ποιεῖ οἰκίαν καὶ πόλιν. Wir gewinnen aus dieser Passage zweierlei:

1. eine erneute

Bestütigung

der

kommunikativen Funktion schon der φωνή und nicht erst der „Sprache“ und 2. ein inhaltliches Spezifikum für den λόγος gegenüber der φωνή. In diesem zweiten Punkt

liegt die eigentliche Differenz von λόγος und φωνή. λόγος ist keine von der φωνή verschiedene Kommunikationsart, er unterscheidet sich vielmehr nur in der Qualität

des significatum, in der Vermittlung von ethisch-rationalen Inhalten gegenüber den bloB affektischen des Tieres, von Inhalten also, die die menschliche Sprache zu einem

bedeutenden sozialen Instrument machen.49 Fassen wir zusammen:

1. Sprache als λόγος kommt allein dem Menschen zu. 2. Die φωνή

ist eine Art Substanz, die von

einem

nicht eindeutig bestimmbaren

εἶδος zum λόγος gestaltet wird. 3. Der menschliche λόγος teilt mit der tierischen φωνή die Kommunikationsart, d. ἢ. die Verknüpfung von Laut und Inhalt, nur die jeweils vermittelten Inhalte unterscheiden sich voneinander. Mit λόγος ist also ein erster Ansatz zur prinzipiellen Sonderung der menschlichen Sprache getan, unsere Texte lassen aber, wie ich meine, noch eine weitere Differenz erkennen, die in die gleiche Richtung zielt. Kehren wir zu diesem Zweck zu den bereits genannten Stellen int. 16al9ff. und Poetik 1456b22f. zurück: Das zweite

Kapitel von de interpretatione beginnt mit einer Definition des ὄνομα: ὄνομα μὲν οὖν ἐστι φωνὴ σημαντικὴ κατὰ συνθήκην ἄνευ χρόνου, ἧς μηδὲν μέρος ἐστὶ σημαντικὸν κεχωρισμένον. Es folgen zwei Zusütze, deren erster die Bedeutungs-

49

16228). Sie ist außerdem zur Differenzierung von λόγος unnötig, da es nicht um unterschiedliche Bedeutungsweisen geht. Zur literarischen Tradition dieser Politikstelle s. Newmans Kommentar (wie Anm. 47) II 122f.

32

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

losigkeit des övono-Teils erläutert. Der zweite Zusatz59 — äußerst knapp formuliert — enthält Näheres zum anfangs geäußerten Prädikat κατὰ συνθήκην. Schon ein kurzer

Blick

auf diese

Stelle

zeigt,

daß

hier

Altbekanntes

wiederkehrt:

Die

ἀγράμματοι ψόφοι, otov θηρίων sind — dies dürfte inzwischen feststehen — die aufgrund mangelnder Artikulation nicht bis zu den γράμματα reichenden Lautäußerungen. Sie werden mit dem ὄνομα verglichen, das damit zugleich auch eine

artikulierte Lautäußerung repräsentiert. Beide haben die Funktion des δηλοῦνϑ5] — auch dies wenig überraschend, denn wir haben mehrfach gehört, daß der Artikulationsmangel kein Kommunikationshindernis darstellt. Die beide Verlautbarungen verbindende Eigenschaft der Semantizitat ist aber hier nicht das Entscheidende. Es geht vielmehr um deren Trennung nach bestimmten

Kriterien, und diese Kriterien sind: κατὰ συνθήκην, φύσει, σύμβολον und implizit διάρθρωσις. Verdeutlichen wir uns die Kriterienzuweisung am besten in Form einer Matrix:

|

δηλοῦν

ἀγράμ. ψόφοι ὄνομα

|

διάρθρωσις

+ *

|

φύσει

-

|

κατὰ συνθήκην

4 -

|

σύμβολον

*

*

Diese Matrix läßt sich noch vereinfachen, denn φύσει ist nach 16a26ff. (τὸ δὲ κατὰ συνθήκην, ὅτι φύσει τῶν ὀνομάτων οὐδέν ἐστιν) nur die Negation von κατὰ συνθήκην, und σύμβολον ist, wie wir sehen werden, nur ein anderer Ausdruck für

φωνὴ κατὰ συνθήκην. Aus fünf Kriterien werden so drei, und wir erhalten:

| δηλοῦν

|

διάρθρωσις

ἀγράμ. ψόφοι

+

-

ὄνομα

*

*

|

κατὰ συνθήκην

Wir entnehmen dieser Matrix folgende Definitionen: Die ἀγράμματοι ψόφοι

sind

bedeutsame, aber nicht artikulierte und nicht gemäß Vereinbarung?2 erzeugte Laute, also keine σύμβολα, das ὄνομα ist dagegen ebenfalls ein bedeutsamer, aber artikulierter und gemäß Vereinbarung erzeugter Laut, also ein σύμβολον. Es ist dabei zu beachten, daß in diesem Text von beiden Differenzen (Artikulation und Konventionalitit) nur die zweite eine Rolle spielt, denn Aristoteles zielt hier nicht wie sonst auf physiologische Unterscheidungen, obwohl auch diese Differenz implizit präsent ist. Es geht ihm hier vielmehr um die nähere Bestimmung von Lautäußerungen, die über die kommunikative Funktion sämtlicher 50

16a26ff., bereits S. 28 zitiert.

5i

Deshalb solite es besser φωναί statt ψόφοι heißen, denn ψόφοι sind ja per se bedeutungslos.

52

Also vermutlich in Umkehrung von κατὰ συνθήκην gicer-Laute. Doch gibt es dafür keinen sicheren Beleg.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

33

φωναί hinaus als besonderes Charakteristikum das κατὰ συνθήκην aufweisen. Nicht, daß das ὄνομα artikuliert, sondern, daß es ein σύμβολον ist, macht hier den Unterschied zu den ἀγράμματοι ψόφοι.53 Wir erhalten also mit dieser Stelle eine neue Unterklasse von Verlautbarungen, die φωναὶ κατὰ συνθήκην oder σύμβολα, zu denen z.B. das ὄνομα zählt. Es bleibt zu fragen, ob sich diese neue spezifische Differenz — nennen wir sie die semiotische Differenz — noch exakter fassen läßt.

Drei weitere Stellen54 bestimmen den Begriff des σύμβολον genauer. So erfahren wir gleich zu Beginn von de interpretatione, daB Laute σύμβολα, Zeichen psychischer Eindrücke, und Buchstaben Zeichen für Laute sind: ἔστι μὲν οὖν tà ἐν τῇ φωνῇ τῶν £v τῇ ψυχῇ παθημάτων σύμβολα, Kai τὰ γραφόμενα τῶν ἐν τῇ φωνῇ. Darin steckt die später geläufige Definition eines jeden Zeichens ,,aliquid stat pro aliquo", und sie wird bestätigt durch Sophist. elench.

165a6ff., wo die Namen

als

Stellvertreter (σύμβολα) der Dinge eingeführt werden: ἐπεὶ γὰρ οὐκ ἔστιν αὐτὰ τὰ πράγματα διαλέγεσθαι φέροντας. ἀλλὰ τοῖς ὀνόμασιν ἀντὶ τῶν πραγμάτων χρώμεθα ὡς συμβόλοις, τὸ συμβαῖνον ἐπὶ τῶν ὀνομάτων καὶ ἐπὶ τῶν πραγμάτων ἱγούμεθα συμβαίνειν ... Damit ist aber noch nichts über den Charakter des Zeichens selbst, etwa über

das Verhältnis von significans und significatum gesagt. Genaueres enthält erst de sensu 437a3ff., wo Aristoteles u.a. behauptet, daß unter den Sinnesorganen das Gehór am meisten für die φρόνησις leiste, dies aber nicht an und für sich, sondern

akzidentell (κατὰ συμβεβηκός). Aristoteles fährt begründend fort (437a12ff.): 6 γὰρ λόγος αἴτιός ἐστι τῆς μαθήσεως ἀκουστὸς dv, οὐ καθ᾽ αὐτὸν ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός: ἐξ ὀνομάτων γὰρ σύγκειται, τῶν δ᾽ ὀνομάτων ἕκαστον σύμβολόν ἐστιν. Was dies für die Beziehung von Laut und Sinn bedeutet, sagt man am besten mit den Worten Steinthals: „Jener (Aristoteles) behauptet entschiedener (als Platon), daß die Laute nicht schon von

selbst die Bedeutung,

die Vorstellung,

in sich tragen,

sondern daB erst das Denken sich die Laute als Zeichen anzueignen hat. Ein Laut ist nicht durch sich selbst Wort, sondern wird es erst, wenn er vom Menschen als Zeichen verwendet wird ... Daß aber und wie ein Laut zum Zeichen wird, ist etwas

ganz Subjectives, für den Laut Zufälliges.“ Es folgt unsere Stelle.55 Der Begriff des σύμβολον enthält also neben seiner Grundbedeutung „aliquid stat pro aliquo" noch ein zusätzliches Merkmal: die prinzipielle Beliebigkeit und die sich daraus notwendig ergebende Konventionalitit der Beziehung zwischen significans und significatum. Erst mit diesem zusätzlichen Merkmal erfassen wir die semiotische Differenz, die z.B. das ὄνομα von den ἀγράμματοι ψόφοι trennt.56 Allerdings: Mit der Behauptung, Aristoteles vertrete in Wiederaufnahme von

Platons Kratylos die Konventionalitätsthese, ist gewiß nichts Neues gesagt?" In 53

Vgl. Coseriu, Sprachphilosophie (wie Anm. 6) I 78.

54

De interpretatione 1, 16a3ff.; Sophistici elenchi 165a6ff.; de sensu 437a3ff.

SS 56

Steinthal (wie Anm. 19) I 187. Vgl. auch Ross, Parva naturalia, Oxford 1955, zur Stelle: „for meaning ... is not inherent in speech but attached to it only by convention." Die Konventionalität ergibt sich natürlich auch aus der Behauptung von 16aSff., daß Laute und

57

Zum Streitfall des κατὰ συνθήκην bei Aristoteles s. S. 37f.

Buchstaben bei identischen παθήματα τῆς ψυχῆς und πράγματα variieren.

34

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

unserem Zusammenhang

φωναὶ

interessiert eher, ob mit dieser neuen Zeichenklasse, den

κατὰ συνθήκην, wirklich eine prinzipielle Grenze

zwischen Tier- und

Menschensprache gezogen ist. Leider zeigen die Aristotelestexte in diesem Punkt wenig Eindeutigkeit, insofern die Vergleichspartner Mensch / Tier nur indirekt — und dies nicht einmal mit völliger Sicherheit — erschlossen werden können. Vom Menschen ist in den Texten 16a26ff.

und 1456b22ff. nicht die Rede, und die ἀγράμματοι ψόφοι der ersten Stelle sind nicht ohne weiteres nur Tierlaute, denn sie dienen nur als Beispiel unter anderen

ψόφοι (olov θηρίων), woraus folgt, daB auch unartikulierte menschliche Laute gemeint sein kónnten.58 Größere Evidenz besitzt die zweite Stelle, an der nicht mehr

exemplarisch, sondern ausschlieBlich eine Klasse von Tierlauten mit dem στοιχεῖον verglichen wird, das in diesem Fall dann nur der menschlichen Sprache zuzurechnen ware.

Daß aber Aristoteles unter dem Aspekt der Konventionalität von Lautzeichen sehr wahrscheinlich Tier und Mensch grundsätzlich voneinander trennt, läßt sich daraus erschließen, daß Tiere zwar über σημεῖα und über das σημαίνειν / δηλοῦν

verfügen, daf ihnen aber nirgends ὀνόματα oder gar σύμβολα zuerkannt werden. Beides, σημεῖον und σύμβολον, scheint mir nämlich entgegen der Ansicht Steinthals®? nicht ohne Einschränkungen synonym. Zwar lassen sich beide in einem Passus unterschiedslos verwenden, weil beide die Grundbedeutung ,,aliquid stat pro

aliquo* aufweisen und demzufolge ein σύμβολον immer auch ein σημεῖον ist. Wir haben einen solchen Passus, 16a3ff., wo die φωνή σύμβολον und zugleich auch σημεῖον genannt wird. Wenn es aber um die zusätzliche Komponente der Konventionalitit des Zeichens geht, verwendet Aristoteles den Begriff des σύμβολον und markiert damit menschliche Sprachphánomene.60 Die σημεῖα der Tiere wären demnach zwar auch Zeichen, aber eher Anzeichen im Sinne einer unmittelbaren, im Laut selbst liegenden Ablesbarkeit des vermittelten Inhaltes, wie

z.B. ein Schmerzlaut. Diese Beziehung ist gewissermaBen φύσει, nicht aber κατὰ συνθήκην wie das ὄνομα, dessen an den Laut geknüpfte Bedeutung nicht schon im Laut selbst liegt, sondern auf willkürlicher Zuordnung beruht. Wollte man die σημεῖα

der Tiere mit den σύμβολα vollständig gleichsetzen, so würde daraus jedenfalls resultieren, daB alle bedeutsamen Lautzeichen, seien sie nun tierischer oder menschlicher Herkunft, zugleich auch konventionelle Lautzeichen sind, was 16a26ff.

ad absurdum führen würde. Und doch: Letzte Sicherheit gibt es hier nicht, denn Aristoteles läßt sich an keiner Stelle darüber aus, wie die σημεῖα der Tiere semiotisch gesehen funktionieren,

ja es gibt sogar eine Stelle, die für die Konventionalität schon der tierischen φωναί

und διάλεκτοι spricht. Es heißt 536b14ff.: καὶ τῶν μικρῶν ὀρνιθίων Evia od τὴν αὐτὴν φωνὴν ἀφίησι ἐν τῷ ἄδειν toig γεννήσασιν, ἂν ἀπότροφα γένωνται καὶ ἄλλων ἀκούσωσιν ὀρνίθων ἀδόντων. ἤδη δ᾽ ὦπται καὶ ἀηδὼν νεοττὸν προ58 59 60

Sie werden von Aristoteles mehrfach erwähnt, z.B. Hist. an. IV 9, 536b2ff. (körperlicher Defekt oder mangelnder Entwicklungsstand) oder part. an. II 17, 660a25ff. Vgl. Steinthal (wie Anm. 19) I 186, Anmerkung. Vornehmlich das ὄνομα (437a15, 1658, 16328), aber auch allgemein τὰ ἐν τῇ φωνῇ (1684)

und ganze Sätze (2402).

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

35

διδάσκουσα, ὡς οὐχ ὁμοίωςδ) φύσει τῆς διαλέκτου οὔσης καὶ τῆς φωνῆς, ἀλλ᾽ ἐνδεχόμενον πλάττεσθαι. Schon bei den Tieren ist also Sprache kein Resultat ererbter Physis, sondern ein Produkt der wechselhaften Umwelt, der erzieherischen Gestaltung und damit letztlich ein Produkt der Konvention. Hier fassen wir einen klaren Widerspruch zu unserer zuvor geäußerten These, die eine grunds&tzliche methodische Bemerkung nótig macht: Bei einer Sammlung thematisch gleicher Stellen aus dem Werk des Aristoteles stößt man immer wieder auf fließende Übergänge, unklare Terminologie und sogar auf gravierende Widersprüchlichkeiten. Es handelt sich dabei aber um kontextgebundene Stellen aus den verschiedensten Werken und Zeitepochen, die erst durch ihre Zusammenstellung zu einer künstlichen Einheit verschmolzen werden. Inkongruenzen sind dabei unvermeidlich. Außerdem geht es Aristoteles bei den meisten hier besprochenen Passagen gar nicht um die Entwicklung einer vollständigen, expliziten und widerspruchsfreien Sprachtheorie, sondern um biologische, physikalische oder politische Probleme, bei deren Behandlung sprachtheoretische Notizen mit abfallen. Gewaltsame Harmonisierungsversuche verkennen diese prinzipielle Vorbedingung thematisch gleicher

Stellen.62 Nur unter Vorbehalten läßt sich demnach ein Teilergebnis unserer Diskussion der semiotischen Differenz resümieren: Aristoteles scheint, wie sich aus

16a26ff. und

seinen Stützstellen ergibt, einen weiteren prinzipiellen Unterschied zwischen Tierund Menschensprache anzunehmen, wonach sich die menschlichen Sprachlaute im

Gegensatz zu Tierlauten als σύμβολα interpretieren lassen, als Zeichen also, deren Konstituenten (significans und significatum) durch eine κατὰ ovvOjxnv-Relation verknüpft sind. Diese Differenz eine widersprüchliche Passage an Die κατὰ ovvOjxnv-Relation Sprachphünomen für unseren

erscheint jedoch nicht explizit und verliert durch Evidenz. gilt für das ὄνομα, das στοιχεῖον wird als zweites Zusammenhang wichtig, weil es ebenfalls mit

tierischen Lautäußerungen verglichen wird. Unser wichtigster Beleg, 1456b22ff.63, ist auffallend ähnlich wie 16a26ff. formuliert. Verglichen werden wieder zwei Lautäußerungen, hier die φωναὶ τῶν θηρίων und das στοιχεῖον, wir dürfen ergänzen τῶν ἀνθρώπων. Beiden ist die „Nichtweiteraufteilbarkeit“ gemeinsam, aber unterschiedlich ist ihre Funktion, denn στοιχεῖον darf nur ein solcher Laut heißen, ἐξ

ἧς πέφυκε συνθετὴ γίγνεσθαι φωνή. Die φωναὶ τῶν θηρίων unterscheiden sich also von den στοιχεῖα nur durch ihre Unfähigkeit, zusammengesetzte φωναὶ zu bilden. Was aber bedeuten Unteilbarkeit und Zusammensetzbarkeit? Die Unteilbarkeit ist verhältnismäßig einfach aus Metaphysik IV 3, 1014a26ff. zu erklären, wo Aristoteles das στοιχεῖον, hier allerdings im weiteren Sinne „Element“, definiert. Danach ist ein στοιχεῖον der kleinste, der Art nach nicht weiter 61

Ich gebe der Lesart ὁμοίως statt (überwiegend) ὁμοίας den Vorzug. Bei ὁμοίας ergibt sich

sinngemäß: „als wäre διάλεκτος hinsichtlich ihrer φύσις nicht die gleiche wie die φωνή". Beide, διάλεκτος und φωνή, wären dann φύσει, nur in verschiedener Weise. Da es aber offensichtlich um den Gegensatz natürlich (φωνή) und künstlich, formbar (διάλεκτος) geht, trifft ὁμοίως besser: „als wäre διάλεκτος nicht ebenso φύσει wie die Stimme". 62

Vgl. Wieland, Physik, 19ff.

63

Zu den vielfältigen Problemen dieser Stelle vgl. die Poetikkommentare und oben S. 28.

36

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

segmentierbare Bestandteil eines Zusammengesetzten, wie z.B. die στοιχεῖα φωνῆς, die entweder überhaupt nicht mehr (wie etwa die VerschluBlaute) oder nur noch in wesensgleiche Teile (wie die Dauerlaute) segmentiert werden kónnen. So kann ich z.B. eine Silbe BA

in B und A

teilen, A aber nur wieder in A und B überhaupt

nicht.64 Insofern

sind

die

Sprachlaute

Individuen

der

Gattung

φωνή,

und

Aristoteles auch von den φωναὶ τῶν θηρίων die Unteilbarkeit behauptet,

wenn so steht

eigentlich nichts im Wege, sie ebenfalls στοιχεῖα zu nennen. Da er dies aber ausdrücklich ablehnt, muß im otoıxeiov-Begriff von 1456b22ff. eine weitere Komponente enthalten sein, und dies ist die bereits erwähnte Kombinationsfähigkeit der στοιχεῖα der menschlichen Sprache. Leider haben wir für dieses Spezifikum der στοιχεῖα keinen erläuternden Beleg, aber schon Steinthal vermutet das Richtige, wenn er unserer Stelle paraphrasierend hinzufügt: „Sie (die tierischen Stimmtóne)

haben nicht die Fähigkeit, sich aneinanderzuschlieBen und Lautvereine zu bilden.‘65 In der Tat zeigen die aristotelischen Definitionen zweier Spracheinheiten, daB er

sie als Resultat einer Kombination von Einzelelementen auffaBt. So heiBt die Silbe in

der Poetik (1456b34f.) φωνὴ ἄσημος συνθετὴ ἐξ ἀφώνου xai φωνὴν ἔχοντος und das

ὄνομα

(1457al0f.)

φωνὴ

συνθετὴ

σημαντική,

womit

nicht

etwa

das

Kompositum gemeint ist, für das Aristoteles den Ausdruck διπλοῦν verwendet. Diese kleinsten kombinatorischen

Elemente, aus denen sich gróBere

Sprach-

einheiten zusammensetzen, kónnen natürlich nur die στοιχεῖα sein, und sie erhalten damit einen ganz bestimmten semiotischen Stellenwert. Nur Laute, die sich zu komplexeren Einheiten zusammenschlieBen kónnen, sind Sprachelemente, und so

erhält das lautliche Einzelelement semiotisch gesehen einen Systemwert, insofern es durch seine Kombinationsfähigkeit Teil eines größeren Ganzen wird. Den Tierlauten,

so müssen wir schlieBen, fehlt dieser Wert, sie stehen für sich und sind gewissermaBen

systemfrei,

was

natürlich nicht

bedeutet,

daß

sie

asemantisch

sind.

Ein

solcher semiotisch gesehen systemfreier Laut kann schon per se etwas bedeuten, während für das στοιχεῖον gilt, daß es an und für sich bedeutungslos ist und erst sekundár zur Schaffung hóherer bedeutungsvoller Spracheinheiten, z.B. des ὄνομα, beiträgt.66 Der semiotische Wert des στοιχεῖον ist also nicht Semantizität, sondern

seine Elementfunktion, seine Eigenschaft als Baustein einer übergeordneten semantischen Einheit. Man spürt, daß Aristoteles mit seiner Akzentuierung der Kombinierbarkeit der στοιχεῖα ein wesentliches Spezifikum der menschlichen Sprache wenigstens erahnt, denn nur durch die prinzipiell beliebige Kombination einer begrenzten Anzahl nicht mehr weiter segmentierbarer Lauteinheiten, wir nennen sie Phoneme,

läßt sich eine

potentiell unbegrenzte Vielzahl semantischer Einheiten erzeugen. Es sei dabei ausdrücklich zugegeben, daß diese zuletzt formulierte Einsicht bei Aristoteles bestenfalls zwischen den Zeilen steht und nur in allerersten Ansätzen greifbar wird. 64 65 66

Vgl. auch Metaphysik 1041b11ff. Vgl. Steinthal (wie Anm. 19) I 253. Die Bedeutungslosigkeit des στοιχεῖον kann daraus erschlossen werden, daß schon das nächst

höhere Sprachelement, die Silbe, die ihrerseits aus στοιχεῖα besteht, φωνὴ ἄσημος genannt wird (1456b34f.). Die Klassifikation der Spracheinheiten unter dem Aspekt ihrer semantischen Leistung erinnert übrigens an bekannte Methoden des neueren Strukturalismus.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

37

Fassen wir zusammen: Unter semiotischem Aspekt ergaben sich mit allen bereits genannten Vorbehalten zwei sprachliche Spezifika: die Konventionalität und die »phonematische" Struktur des sprachlichen Zeichens. Wir müssen hinzufügen, daß diese zweiteilige semiotische Differenz nicht unbestreitbar, aber doch aller

Wahrscheinlichkeit nach Tier- und Menschensprache voneinander trennt.67 Wir sind damit am Ende und doch eigentlich erst am Anfang, denn wir waren von

der Frage ausgegangen, inwiefern der neuere Linguist antike sprachtheoretische Reflexionen zum Nachweis einer wissenschaftsgeschichtlichen Kontinuität nehmen könnte. Im Fall des Aristoteles fällt dies gewiß nicht schwer, und der linguistisch Erfahrene wird schon bei der bloßen Lektüre unserer Texte neuere Sprachtheoreme assoziiert haben. Ansatzmöglichkeiten für derartige Analogien gibt es im Bereich unseres Stellenmaterials in folgenden drei Punkten: 1. Die κατὰ ovvör«nv-Relation erinnert an die Kernthese de Saussures von der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. 2. Die den λόγος konstituierende jAn/etSoc-Relation erinnert an die Form/SubstanzRelation de Saussures. 3. Die Definition des στοιχεῖον Prinzipien schließen.

läßt

auf

eine

Vorwegnahme

phonologischer

Zu diesen Punkten kann hier nur weniges angemerkt werden: ad 1.: Die geringfügigen Notizen des Aristoteles — sie sind eher Parteinahme als entwickelnde Darstellung — verweisen nur auf das grundsätzliche Phänomen der Konventionalität des sprachlichen Zeichens. Dies ist durchaus verständlich, denn mit Platons Kratylos lag bereits eine ausführliche Diskussion dieses Problems vor, und so genügen Reizwörter wie κατὰ συνθήκην oder wie ὄργανον bei der AöyocDefinition von de interpretatione (16b33ff.), um an entsprechende Kratylospassagen

zu erinnern.68 67

Aristoteles kommt also nicht physiologisch, wohl semantisch, besonders aber semiotisch zu einer in Ansützen spürbaren Abgrenzung der menschlichen Sprache. Eine eindeutigere prinzipielle Trennung findet sich erst bei dem Stoiker Diogenes von Babylon (Diog. Laert. VII 55): ζῴου μέν ἐστι φωνὴ ἀὴρ ὑπὸ ὁρμῆς πεπληγμένος, ἀνθρώπου δ᾽ ἔστιν ÉvapOpoc καὶ ἀπὸ διανοίας ἐκπεμπομένη. Es ist aber die Frage, ob mit dieser Eindeutigkeit wirklich ein Fortschritt erreicht ist. Die Artikulation läßt sich z.B., wie Aristoteles richtig gesehen hat, nicht ohne weiteres auf die menschliche Stimme beschrünken. AuBerdem fehlt dieser Definition der klare Verweis

68

des Aristoteles,

daß die Semantizität,

d.h.

die

kommunikative

Leistung

der

Stimme trotz prinzipieller Verschiedenheit der hervorbringenden Instanz (Trieb / Verstand — Diogenes steht hier wohl unter dem EinfluB des Aristoteles) für Mensch und Tier anzusetzen ist. Aristoteles wird, wenn unsere lückenhafte Kenntnis der Schrift des Diogenes überhaupt ein Urteil zuläßt, dem komplexen Sachverhalt gerechter, selbst wenn die Eindeutigkeit der Klassifikation darunter leidet. So verweist das ὄργανον von 17al auf die Lehre vom Wortwerkzeug im Kratylos 386e-390e. Aus der von Aristoteles leicht veründerten Formulierung κατὰ συνθήκην einen spezifisch aristotelischen

Ansatz

herauszulesen,

ist

schon

an

Wielands

(wie

Anm.

19)

Interpretation

38

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

Mit

de Saussure

ist wohl

nur

die

prinzipielle

Ahnlichkeit

des

Ansatzes

vergleichbar, ohne daß sich bei Aristoteles ähnlich differenzierte Ausführungen zur

Arbitraritit des sprachlichen Zeichens wie bei de Saussure (Grundfragen [s. oben Anm. 5] 79ff., 156ff.) finden lieBen.

ad 2.: Noch weniger läßt sich die jAn-Notiz von gen. an. 786b17ff. in ihrer Vieldeutigkeit und vagen Kürze mit de Saussures ausgeprügter Form- und Substanzlehre parallelisieren (Grundfragen 132ff.). Selbst für eine prinzipielle Ansatzgleichheit wie bei 1. wäre eine zufriedenstellende Klärung der AristotelesNotiz Voraussetzung. ad 3.: Hier verspricht die Analogie mehr, denn zwei wesentliche Komponenten des

modernen Phonembegriffes®9 sind bei Aristoteles erschlieBbar: die Nichtweiteraufteilbarkeit und die Kombinationsfähigkeit zu höheren semantischen Einheiten. Was Aristoteles neben anderem

fehlt, ist vor allem die bedeutungsdistinktive Funktion

(Opposition) der Phoneme. Es dürfte aus diesen Marginalien einleuchten, auf welch schmale Basis solche Analogien gegründet sein können. Die hier vorgetragenen Interpretationen sollten jedenfalls zeigen, welche gravierenden Probleme sich schon einem Verständnis

entgegenstellen, das zunächst ohne vorgefaßte linguistische Theorien

herauszu-

destillieren versucht, was Aristoteles unter Sprache verstanden haben könnte. Eine voreilige Parallelisierung schadet den antiken Texten mehr, als ihnen eine wissenschaftsgeschichtliche Aufwertung nützt.

ANHANG

Zur

besseren

Übersicht

gebe

ich hier eine

thematische

Zusammenstellung

der

wichtigsten Belege. Der Text der in diesem Aufsatz zitierten Passagen wurde den jeweils maßgeblichen kritischen Ausgaben entnommen. Von den nichtaristotelischen Texten wurden mit allen grundsätzlichen Vorbehalten nur solche berücksichtigt, die in ihrem Kern ganz offensichtlich auf Aristoteles zurückgehen. I.

Stellen zur akustischen Dihairesis 1. Historia animalium I 1, 488a31ff. 2. Historia animalium IV 9, 535a26ff. 3. de anima II 8, 420b4ff.

Il. Artikulationsorgane 1. de partibus animalium II 16, 659b27ff.

2. de partibus animalium II 17, 660a14ff.

69

(Physik 161ff.) zu Recht kritisiert worden (s. Tugendhats Rez. von Wielands Physik, Gnomon 35 (1963), 546). Die gleichen Einwände gelten dann auch für Coserius Deutung (wie Anm. 6). Vgl. die nützliche Zusammenstellung der Phonemdefinitionen bei Th. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, UTB

1973-75, s.v. „Phonem“.

Ψόφος, φωνή und διάλεκτος

III. λόγος / φωνή 1. de generatione animalium V 7, 786b17ff.

2. Politica I 2, 1253a7ff. IV. Konventionalität des sprachlichen Zeichens 1. de interpretatione 16a26ff. (bei Bekker eigentlich 27ff.) 2. de interpretatione 16a3ff. 3. Sophistici elenchi I I, 165a6ff.

4. de sensu 437a3ff. V.

στοιχεῖον

1. Poetica 20, 1456b22ff. 2. Metaphysica IV 3, 1014a26ff. VI. Unecht 1. Historia animalium IX 1, 608a17ff. 2. Problemata X 38f., 895a4ff.

39

ZUM ISOLIERTEN ῥῆμα

IN ARISTOTELES' DE INTERPRETATIONE 16 B 19-25! In der Festschrift für Philip Merlan hat Hans Wagner vor nicht allzu langer Zeit einen bemerkenswerten Interpretationsversuch der schwierigen Partie 16b19-25 vorgelegt? — bemerkenswert insofern, als seine Deutung die eindrucksvolle, aber freilich auch aporetische Erklärungstradition dieser Stelle zu einem zufriedenstellenden Abschluß zu bringen scheint. Wagner hat die Deutungsgeschichte eingehend referiert, so daß hier eine kurze Problemskizze genügen mag. Die Schwierigkeit der genannten Passage liegt in dem kaum nachvollzichbaren Zusammenhang des ersten Satzes (16b19-22), der die aus dem Satzverband isolierten ῥήματα zu bestimmen versucht, mit der speziell das Wort eivaı betreffenden Folgepartie (16b22-25), die sich — den Vordersatz

offensichtlich begründend — mit einem γάρ anschließt. Die Tradition zeigt im Verständnis des Vordersatzes ein überwiegend einheitliches Bild, das stellvertretend für andere mit der Übersetzung von Ross / Edghill belegt werden kann: „Verbs in and by themselves are substantival and have significance ..., but they do not ... express any judgement, either positive or negative."* Man nimmt also an, daß Aristoteles wie schon beim ὄνομα auch im Falle des ῥῆμα die bloß semantische Leistung isolierter Satzglieder von der an ihre gegenseitige

Verknüpfung gebundenen Leistung des ἀληθεύειν und ψεύδεσθαι trennen und eben darauf mit dem QUAM εἰ ἔστιν ἢ μή, οὔπω σημαίνει" von 16b2] verweisen will. Faßt man den Vordersatz so, erscheint der kausale Anschluß des folgenden „ob γὰρ τὸ εἶναι ἢ μὴ

εἶναι σημεῖόν ἐστι ...“ in der Tat fraglich, denn zwischen der zuvor behaupteten Wahrheitsindifferenz des isolierten ῥῆμα und der sich unvermittelt anschlieBenden These von der Bedeutungsleere des

Wortes εἶναι scheint auf den ersten Blick kein Brückenschlag móglich. Diese offensichtliche Aporie führt Wagner zu folgendem Neuansatz: Das ,,XÀJ' ei ἔστιν ἢ μή, οὔπω σημαίνει" ziele nicht, wie die Tradition glaubt, auf die Wahrheitsindifferenz des isolierten ῥῆμα, sondern betreffe bereits den Sonderfall eines auf das bloBe ἔστιν reduzierten ῥῆμα. Von den drei

isolierten pfipa- Typen ὑγιαίνει, ὑγιής, ὑγιής ἐστιν lasse sich nämlich das letzte noch weiter, bis zur bloßen Kopula, isolieren — mit der Folge, daB nun — im Fall des bloßen „ist“ — nicht einmal mehr eine Sachbedeutung anzusetzen wire: „... treibt man jedoch das Isolieren so weit, daß (bei einer

Zerlegung etwa des Prädikats ὑγιής ἐστιν) nur noch allein ,ist" oder auch (im negativen Urteilssatz) „ist nicht" dasteht, so hat dieses Bruchstück überhaupt noch keine Sachbedeutung." So kommt Wagner zu der Übersetzung: „Isoliert (wenn z.B. nur gesagt wird „kränkelt“, „kränkelt nicht“, „weiß“, „nicht weiß“, „ist weiß“ oder auch „ist nicht weiß“) sind die Prädikatsausdrücke (lediglich) Sachwörter und haben (als solche) eine Sachbedeutung ... aber wenn (lediglich) „ist“ oder l 2

3 4 5S

Wesentliche Anregungen zu diesem Aufsatz gingen von den Teilnehmern meines Kurses „Texte zur antiken Sprachtheorie“ aus, besonders von Fr. Cornelia Wegeler. Vgl. Wagner, Hans, Aristoteles, de interpretatione 3. 16b19-25, in: Philomathes. Studies and essays in the humanities in memory of Philip Merlan, hrsg. v. R. B. Palmer und R. HamertonKelly, The Hague 1971, 95-115. Wir verwenden nach Möglichkeit den griechischen Terminus, weil er Wortklasse (Verb) und Aussagefunktion (Prádikat) zugleich bedeutet. Zitiert bei Wagner (wie Anm. 2) 96, der 95f. und 100 einen Katalog von Übersetzungen unserer Passage zusammenstellt. Vgl Cat. lal6ff. mit der grundsätzlichen Trennung isolierter und verbundener Satzglieder und besonders 2a8ff.: «τῶν δὲ κατὰ μηδεμίαν συμπλοκὴν λεγομένων οὐδὲν οὔτε ἀληθὲς οὔτε

ψεῦδός ἐστιν, οἷον ἄνθρωπος, λευκόν, τρέχει, νικᾷ.“ Vgl. auch int. 16a13ff. 6

Wagner (wie Anm. 2) 113f.

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25

41

„ist nicht" gesagt wird, so hat das noch keine Sachbedeutung."? Die Folgepartie scheint sich bei dieser Auffassung nun wirklich nahtlos anzuschließen, denn sie enthält explizit eben jene These von

der Bedeutungsleere des εἶναι. Die Deutung Wagners scheint mir aus mehreren Gründen nicht zufriedenstellend. Zunächst ergeben sich sprachliche Härten: Nach Wagners Interpretation wäre in 16b19-21 ein Subjektswechsel, ein Wechsel vom transitiven zum absoluten σημαίνειν und eine kaum vertrügliche brevitas anzusetzen. Subjekt zum ersten

Prädikat σημαίνει τι sind zweifelsohne die ῥήματα, neues Subjekt zum zweiten, jetzt unvermittelt absolut gebrauchten οὔπω σημαίνει wäre der Konditionalsatz „ei

ἔστιν ἢ μή“.8 Diesen Konditionalsatz zu einem vermeintlichen „ei ἔστιν ἢ μή καθ᾽ αὑτὸ λέγεται“ zu erweitern, bedeutet selbst für den die brevitas gewiB nicht scheuenden Aristoteles eine kaum zumutbare Brachylogie. Hinzu kommt, daf) Aristoteles bei metasprachlichem Wortgebrauch meist (allerdings nicht immer) ein 1ó hinzusetzt (z.B. 19b19). So gewichtig diese rein sprachlichen Einwünde auch sein mógen, sie besitzen letztlich

keine

Beweiskraft,

denn

absolutes

σημαίνειν

und

metasprachlicher

Gebrauch ohne 16 (z.B. 16b28) lassen sich für Aristoteles belegen.? Es müssen weitere Einwünde gefunden werden. Zunüchst

dürfte

wohl

kaum

ein Zweifel

darüber

bestehen,

daB

Aristoteles

sowohl das isolierte ὄνομα als auch das isolierte ῥῆμα für wahrheitsindifferent hält,!0 und es ist schon von daher kaum einzusehen, warum Aristoteles dies an einer

für sein pfjpa-Verstindnis

zentralen

Partie unterschlagen

haben

sollte.!!

Daß

vielmehr die Tradition durchaus nicht auf dem „Holzweg“ zu sein braucht,!2 dafür gibt es, wie ich meine, schon einen äußeren Grund: Aristoteles exemplifiziert im

Kontext unserer Stelle den Unterschied von isolierter Semantizität und syntaktisch

gewonnenem Wahrheitswert an zwei Beispielen (allerdings ὀνόματα), nämlich an τραγέλαφος (16a16ff.) und an ἄνθρωπος (16b28ff.). Das letzte Beispiel liefert dabei eine Art Formel, der die pfjua-These von 16b19ff. deutlich nachempfunden ist:!3

7

8

otov ,,avOpmnoc σημαίνει τι, ἀλλ᾽ οὐχ ὅτι ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν

(16b28ff.)

αὐτὰ ... καθ᾽ αὑτὰ λεγόμενα tà ῥήματα ... σημαΐνει τι, ἀλλ᾽ εἰ ἔστιν ἢ μή, οὔπω σημαίνει.

(16b19ff.)

Wagner (wie Anm. 2) 115.

Indertraditionellen Deutung ist der Konditionalsatz Objekt zu οὔπω σημαΐνει.

9

Vgl. Wagners (wie Anm. 2) Hinweise 114, Anm. 8.

10 11 12 13

S. Anm. 5. Dies wäre ja die Folge von Wagners Interpretation. Vgl. Wagner (wie Anm. 2) 95. Die ersten drei Kapitel scheinen mir überhaupt eine erweiternde und differenzierende Umarbeitung des vierten Kapitels zu sein, denn alle in 4 kurz angeschlagenen Themen werden in den ersten drei Kapiteln z.T. in derselben Reihenfolge, aber klarer und aspekt- und beispielreicher wieder aufgenommen.

42

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25

Die unverkennbare Áhnlichkeit beider Formulierungen berechtigt uns, in die erste Formel statt eines beispielhaften ὄνομα ein ebensolches ῥῆμα einzusetzen, und wir erhalten: *

"

ποῖον ,,tpéxei* onpatver tt, ἀλλ᾽ οὐχ ὅτι ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν. Diese Einsatzprobe besagt nichts anderes, als daß für das ῥῆμα zutrifft, was auch für das ὄνομα gilt Der Wahrheitswert ist nicht schon als semantisches Merkmal im blofen Paradigma mitenthalten, sondern resultiert erst aus der Verknüpfung mit dem Urteilspartner auf der nüchst hóheren Ebene des Satzes. Ein

isoliertes βαδίζει oder τρέχει verhalt sich wie ein entsprechendes τραγέλαφος oder ἄνθρωπος. Es bedeutet zwar etwas, aber noch nicht, ob es „ist“ oder „nicht ist“, d.h.

ob die im isolierten ῥῆμα steckende neutrale Bedeutung einem ὄνομα zugesprochen wird und damit zutrifft oder nicht.14 Wenn unsere Überlegungen die traditionelle Auffassung des Vordersatzes bestätigen, so ist damit natürlich auch die zuvor skizzierte Aporie wiederhergestellt, denn wir stehen nun erneut vor der Aufgabe, die fragliche Folgepartie 16b22-25 mit dem Vordersatz zu verbinden. So schwierig diese Aufgabe zu sein scheint, unlósbar ist sie, wie ich glaube, nur dann,

wenn

man

die fragliche pfjna-Stelle aus ihrem

Kontext lóst. Blickt man im Text zurück, so fallen zwei Passagen auf, die zwar inhaltlich anderes behandeln, aber in ihrer Argumentationsstruktur 16b19-25 unverkennbar entsprechen: Ich meine das tpay&Xopog-Beispiel von 16a16ff. und das

Ké&AAinnoc-Beispiel von 16221ff. Überprüfen wir in einer groben Skizze den gedanklichen Ablauf beider Stellen,

zuerst der tpayéAaog-Passage: 1. These:

Die isolierten ὀνόματα und ῥήματα haben noch ψεῦδος. Dies resultiert erst aus ihrer Verbindung.

kein ἀληθές oder (16a13-16)

2. Beispiel:

Denn auch das Wort τραγέλαφος hat zwar Bedeutung, aber darin liegt noch nichts Wahres oder Falsches (wie man gerade bei τραγέλαφος

meinen kónnte). Der Ausdruck des Wahren oder Falschen wird erst durch

den Zusatz von εἶναι / μὴ εἶναι erzielt.

(16a16-18)

Dieser äußerliche Argumentationsablauf ist — von seiner inhaltlichen Problematik abgesehen — ohne weiteres verständlich: Einer allgemeinen Behauptung folgt ein mit γάρ eingeleitetes, erläuterndes Beispiel.!5 Bei genauerem Hinsehen wird aber eine komplexere Struktur deutlich, die von der eben skizzierten einfacheren Struktur

überlagert wird. Mit dem καὶ γάρ etc. wird nämlich nicht nur eine allgemeine These mit einem Beispiel illustriert, sondern es wird zugleich auch ein implizit mitzudenkender Einwand gegen diese These widerlegt, der aus der Wahl gerade dieses 14

Man mag — wie Wagner 100 (wie Anm. 2) - eine solche Feststellung für sinnlos oder trivial halten. Daraus folgt aber keineswegs, daB Aristoteles sie nicht getroffen haben kann. Mir scheint jedenfalls keine andere als die traditionelle Deutung möglich.

15

Auf die eriäutermde Funktion des Beispiels verweist ja auch das σημεῖον δ᾽ ἐστὶ τοῦδε von 16216.

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25

43

Beispiels zu erschließen ist. In einen Dialog umgesetzt könnte man den Gedankengang der Stelle nämlich auch so wiedergeben: A: B:

solierte Wörter sind wahrheitsindifferent. Aber es gibt doch Wörter, die schon per se ein ψεῦδος anzeigen, wie z.B. τραγέλαφος.

A:

Nein, auch für τραγέλαφος gilt meine Realitätsanzeige sind sprachlich zweierlei.

These,

denn

bloBe

Bedeutung

und

So ergibt sich die komplexere Struktur: 1. These 2. Einwand 3. Widerlegung

(explizit) (implizit) (explizit)

In der tpayéAaoc-Passage liegt diese komplexere Struktur nicht an der Oberfläche. Um so deutlicher tritt sie in dem zweiten Passus 16a19-26 zutage. Wieder steht eine These am Anfang, der ein mit γάρ angeschlossenes Beispiel folgt. Wir skizzieren den

äußeren Ablauf wie bei τραγέλαφος: 1. These: 2. Beispiel:

Das ὄνομα ist eine bedeutsame Verlautbarung, deren Teile für sich genommen nichts bedeuten. (16819-21) Denn an dem Wort Κάλλιππος sieht man, daB auch beim Kompositum —

allerdings mit gewissen Vorbehalten — die övopa-Teile nichts anzeigen (wie man bei Κάλλιππος mit dem Gedanken an καλὸς ἵππος meinen könnte).16 (16a21-26)

Entscheidend ist, daB hier das Beispiel nicht wie bei τραγέλαφος direkt die vorausgehende These erläutert. Das hätte jedes andere Beispiel, wie etwa μῦς von 16b31, sehr viel besser geleistet. Vielmehr verstehen wir das Beispiel Κάλλιππος überhaupt nur, wenn wir zwischen These und Beispiel einen Einwand implizieren,

der auf eine mógliche Ausnahme von der Regel verweist. Versuchen wir wiederum einen Dialog herzustellen:

16

Aus dieser Passage läßt sich mit Unterstützung von Poetik 1457a12ff. (Beispiel Θεόδωρος) so viel entnehmen, daß Aristoteles zur Stützung seiner óvoua-These den scheinbar bedeutsamen Teilen eines Kompositums Bedeutung absprechen will, indem er das autonome Teilwort, etwa ἵππος, und das gleichlautende Kompositumglied ınrog unterscheidet. Wenn sich nämlich zwei selbständige Wörter zu einem Kompositum zusammenschließen, so erhalten sie unter Aufgabe ihrer isolierten Bedeutung eine neue, individuelle Bedeutung:

καλὸς

nos

Bedeutung, (schön)

Bedeutung, (Pferd)

wird zu

Κάλλιππος Bedeutung, (Eigenname)

Segmentiert man das Kompositum, so verlieren seine Teile ihre Verweiskraft auf diese neue Bedeutung und werden so in der Tat vom Standpunkt des Wortes Κάλλιππος aus bedeutungslos.

44

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25 A: B:

Das ὄνομα ist bedeutsam, nicht aber seine Teile. Aber es gibt doch Komposita, deren Teile offensichtlich etwas bedeuten, wie z.B.

A:

Nein, dies scheint zwar auf den ersten Blick zuzutreffen, aber auch Kompositateile sind genaugenommen nicht bedeutsam.

Κάλλιππος καλὸς ἵππος.

Das γάρ und das ihm folgende Beispiel hat hier also insofern etwas Trügerisches, als es gar nicht begründend auf den Vordersatz verweist, sondern auf einen implizierten Einwand reagiert. Es ergibt sich so dieselbe Struktur — nur deutlicher — wie bei

τραγέλαφος: 1. These 2. Einwand 3. Widerlegung

(explizit) (implizit) (explizit)

Überprüfen wir nun, ob diese Technik des impliziten

Einwandes

als Bindeglied

zwischen These und Beispiel? auch in der fraglichen pfjua-Passage ermittelt und als Deutungshilfe verwendet werden kann. Wir verfahren dabei genauso wie zuvor — jetzt jedoch mit gründlicherem Blick auf die inhaltlichen Zusammenhänge. Der Passus beginnt wieder mit einer These, der ein Beispiel folgt: 1. These:

Die isolierten ῥήματα haben Bedeutung, aber noch keinen Wahrheitswert. (16b19-22)

2. Beispiel:

Denn das εἶναι) μὴ εἶναι hat überhaupt keine Bedeutung, sondern zeigt nur eine Verbindung an. (16b22-25)

Wenn wir die zuvor erläuterte Technik des impliziten Einwandes unterstellen wollen, so müßten wir ebenfalls auf die Struktur stoßen: l. These 2. Einwand 3. Widerlegung Dies setzt

voraus,

hier

(explizit) (implizit) (explizit) daß

wir hier, wie

bei den

vorherigen

Passus,

einen zunächst

plausiblen Einwand finden, der als Bindeglied in die Lücke zwischen Beispiel tritt. Doch wie sollte dieser Einwand lauten? Man

auch

wird sich erinnern, daß wir die impliziten

Gegenargumente

These und bei unseren

Vergleichsstellen aus den Beispielen erschlossen haben. Wir müssen uns also auch hier fragen, ob in dem Beispiel εἶναι ein Einwand steckt — und dies scheint in der Tat nicht nur mdglich, sondern sogar der einzige Ausweg aus dem Deutungsdilemma zu

sein. Wenn Aristoteles behauptet, daß die isolierten ῥήματα etwas bedeuten, aber noch nicht, ob sie sind oder nicht sind, so drängt sich folgender Einwand

förmlich

auf: „Deine These mag für ῥήματα wie βαδίζειν und ὑγιαίνειν stimmen, wie steht es aber mit dem Verbum eivai? Wenn ich ἔστιν oder οὐκ ἔστιν für sich äußere, so 17

Sie kennzeichnet den Text als eine Art Lehrveranstaltungsskizze oder Diskussionsvorlage.

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles' de interpretatione 16 b 19-25

45

zeigt dieses ῥῆμα doch schon an und für sich, in seiner bloßen Bedeutung das Sein oder Nichtsein an. Es gibt also doch wenigstens ein ῥῆμα, das gegen deine These spricht!“ Damit ist ein Einwand formuliert, der sich nicht nur aus dem von Aristoteles gewählten Beispiel ergibt, sondern der auch deshalb an Wahrscheinlichkeit gewinnt,

weil er das genaue Gegenstück zum tpary&Aa.pog-Beispiel darstellt. Denn wie schon das isolierteὄνομα 6 τραγέλαφος auf ein ψεῦδος zu verweisen schien, so scheint auch das isolierte ῥῆμα εἶναι / μὴ εἶναι schon per se ein ἀληθές oder ψεῦδος anzuzeigen. Der Übergang zum εἶναι ist also sicher oberflüchlich sprunghaft formuliert, aber gewiB nicht unmotiviert, vielmehr unbedingt erforderlich — vor allem auch deshalb,

weil der εἶναι — Einwand schwerwiegend ist. Besonders deutlich zeigt das unsere zuvor gewonnene Formel:18 t

*otov

τρέχει“ onpaiver τι, ἀλλ᾽ οὐχ ὅτι ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν. ᾿

»,»

ΕΣ

τ

Ψ

»

,

»

Setzen wir nun ἔστιν ein, ergibt sich der Nonsensesatz: *

AT,

w

οἷον, , ἔστιν“

6€



σημαΐνει τι, , > we Wo ΚΜ, ἀλλ᾽ οὐχ ὅτι ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν.

Man sieht, in welche Argumentationsprobleme Aristoteles geraten muB, und es bedarf gewiB besonderer Anstrengungen, aus der Welt zu schaffen. Aristoteles legt denn auch seinen anders aus: Wührend er τραγέλαφος und Κάλλιππος als

bei diesem Einwand um das Beispiel εἶναι Widerlegungsversuch Scheinausnahmen zu

entlarven versucht, erklärt er εἶναι zu einer echten Ausnahme,

und zwar dadurch,

daß er εἶναι den Status eines vollen ῥῆμα abspricht. Ein „Vollverb“ wie βαδίζειν oder ὑγιαίνειν besitzt — isoliert — Bedeutung, in den Satzverband gehoben Bedeutung und Wahrheitswert (= Zuspruch oder Absprache der Bedeutung):

S

P

o

βαδίζει

o

Bedeutung (schreit- )

ὁ ἄνθρωπος

βαδίζει

Wahrheitswert (ist)

+

Bedeutung (schreitend)

Das ἔστιν fällt von vornherein aus dieser pfjuo-Klasse heraus (und kann daher auch nicht in unsere Formel eingesetzt werden), denn es hat, wie Aristoteles meint, schon isoliert keine Bedeutung, ist kein σημεῖον tod πράγματος, sondern es zeigt nur eine Verbindung mit an, die ohne die Angabe ihrer bedeutsamen Komponenten leer bleibt:

»Kpooonpaiver δὲ σύνθεσίν τινα, fjv ἄνευ τῶν συγκειμένων οὐκ ἔστι νοῆσαι." 18

5. 5. 46.

46

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles' de interpretatione 16 b 19-25

(16b24f.) Wir würden heute pointierter formulieren: εἶναι hat keine Bedeutung im Sinne einer außersprachlichen Referenz, sondern nur eine innersprachliche Bedeutung im Sinne einer Verbindungsanzeige zweier referentieller Inhalte,!? wie z.B. in dem Satz: „Der Mensch ist gesund.“ Wenn also εἶναι gar kein richtiges ῥῆμα ist, behält auch die anfängliche pfiua-Definition ihre Geltung. Aristoteles’ Argumentation kann hier, wie ich glaube, nur auf die Kopula zielen, obwohl man einem isolierten „ist“ natürlich nicht ansehen kann, ob es als Kopula oder als Existenzverbum fungiert. Denn wenn man nach der hier gegebenen Definition das εἶναι als ein an sich bedeutungsloses Zeichen für eine Verbindung von Referenzen versteht (also vom Typ A ist B), dann dürfte es Sätze

wie ἔστιν ἄνθρωπος, mit denen Aristoteles gerade auch in de interpretatione arbeitet (z.B. 19b14ff.), nicht geben. Mit einem so verstandenen ἔστιν bliebe der Satz unvollständig, weil nur eine Referenz, nämlich ἄνθρωπος, da wäre (also A ist ©). Da aber solche Sätze ohne Zweifel funktionieren, muB zumindest das Existenzverbum ein vollgültiges ῥῆμα mit eigener Referenz sein, das nicht nur eine

leere σύνθεσις anzeigt (19b13 nennt Aristoteles übrigens das ἔστιν ein ῥῆμα). Das Existenzverbum braucht überdies nicht der prjua-These zu widersprechen, denn man könnte ebenso wie bei βαδίζειν auch für εἶναι eine isolierte und neutrale Bedeutung ansetzen, die bei der Anhebung in den Satzverband einem ὄνομα zugesprochen wird, also erst dann den zusätzlichen Wert des Zuspruchs oder der Absprache dieser Bedeutung erhält:

o

ἔστιν

Ο

ὁ ἄνθρωπος

ἔστιν

Zuspruch

Bedeutung

(sein)

*

Bedeutung

(seiend)

(ist)

So gesehen würde für das Existenzverb sogar unsere Nonsenseformel von S. 45 einen Sinn erhalten. Dazu hätte Aristoteles aber eine bloß paradigmatisch gegebene Bedeutung „sein, existieren“ anerkennen und von dem syntaktischen Zuspruchswert ,,zutreffen, zukommen" trennen müssen. Da er dies - jedenfalls an unserer Stelle — nicht getan hat, bleibt ihm, um seine These zu retten, nur der unvollständige Ausweg über die Kopula.

Setzen wir also den gedanklichen Ablauf dieser Passage wieder in einen Dialog um, so erhalten wir: A: B: A:

19

Isolierte ῥήματα haben Bedeutung, aber noch keinen Wahrheitswert. Aber es gibt doch wenigstens ein ῥῆμα, das schon per se einen Wahrheitswert anzeigt, nämlich εἶναι. Nein, denn εἶναι ist den übrigen ῥήματα nicht vergleichbar, weil es keine Sachbedeutung hat, sondern nur eine leere Verbindung anzeigt.

εἶναι wire also kein

Sprachelement

im

Sinne

der Definition

von

16a3ff.,

nach

der die

sprachlichen Verlautbarungen über die παθήματα τῆς ψυχῆς auf πράγματα verweisen. Dennoch kann eine in diesem Sinne bedeutungslose Verlautbarung innersprachliche Funktion haben, wie ja auch der σύνδεσμος in der Poetik 1456b38ff. eine φωνὴ ἄσημος genannt wird. Der These von der Bedeutungsleere des εἶναι widerspricht natürlich die Tatsache, da8 A. diesem Verb anderenorts

durchaus Bedeutung zuschreibt, z.B. Metaphysik A 1017a31f.: ,ἔτι τὸ εἶναι σημαίνει xai τὸ ἔστιν, ὅτι ἀληθές. τὸ δὲ μὴ εἶναι, ὅτι οὐκ ἀληθές, ἀλλὰ ψεῦδος.“ Ich glaube allerdings nicht, daB Aristoteles bei der Formulierung der vorliegenden Passage einen ähnlich differenzierten Katalog der Bedeutungen von ὄν und εἶναι wie in Metaphysik A 7 vor Augen hatte.

Zum isolierten ῥῆμα in Aristoteles’ de interpretatione 16 b 19-25

47

Wenn diese Interpretation die richtige ist, so zeigt sich, daß unsere ffina-Passage in ihrer Argumentationsstruktur mit den Vergleichspartnern vóllig übereinstimmt. Wie bei der KéAAtnnoc-Stelle tritt zwischen These und Beispiel vermittelnd ein impliziter Einwand, auf den das mit γάρ angeschlossene Beispiel widerlegend

reagiert. Um 16b19-25 verständlich zu machen, sind jedenfalls keine sprachlichen Umdeutungen nótig: „Die ῥήματα für sich gesprochen sind ὀνόματα und zeigen etwas an ..., aber noch nicht, ob sie sind oder nicht sind. Denn das ‚sein‘ oder ‚nicht sein‘ (das man hier einwendend anführen könnte) ist kein20 Zeichen einer Sache, auch nicht, wenn

man bloB ,das Seiende* sagt.2! Denn es ist selbst nichts, zeigt aber eine Verbindung mit an, die man ohne ihre Komponenten nicht verstehen kann.“

20 21

Ich gebe der Lesart οὐ den Vorzug, weil das εἶναι im Gegensatz zu τραγέλαφος nicht als Scheinausnahme (denn auch τραγέλαφος verhält sich nicht anders als die übrigen ὀνόματα), sondern als echte Ausnahme angeschlossen wird. Die Erwähnung des τὸ Ov zielt meiner Ansicht nach wieder auf einen impliziten Einwand: „Kann man nicht die Bedeutungsleere des εἶναι dadurch beseitigen, daß man es zum ὄνομα, nämlich τὸ ὄν umformt? Das ὄνομα wurde ja schließlich (16a19ff.) als φωνὴ σημαντική definiert.“ Aristoteles gibt hier keine explizite Widerlegung, er scheint aber nicht an einen Bedeutungs-

gewinn durch eine derartige Transformation zu glauben, so daB td ὄν (wie εἶναι im ῥῆμαBereich) kein vollgültiges (referentielles) ὄνομα im Sinne der Definition von 16a3ff. ware.

whe

Ne

ARISTOTELES (384 — 322)

Einleitung Werkbezogener Teil . Organon

. Poetik / Rhetorik Systematischer Teil . Der biologisch-psychologische Aspekt . Der pragmatische Aspekt . Der semiotische Aspekt Zur Forschungslage Literatur

1. EINLEITUNG Es ist schon fast ein einleitender Gemeinplatz in der Literatur zur Sprachphilosophie des Aristoteles, daß ihm weder ein einheitlicher Begriff von Sprache zur Verfügung gestanden (Graeser 1983, 199), noch daß er die Sprache zum eigenständigen Objekt seines philosophischen Interesses erhoben hätte, z.B.: „Unlike the Stoics, Aristotle

did not make language a topic of philosophical discourse." (Graeser 1977, 373) Oder: ,,Es ging Aristoteles primar nicht um die Sprache, sondern um die Sache, die in der Sprache zur Darstellung gelangt.“ (Oehler 1984, 86) Dies ist sicher richtig, und doch auch wieder nicht: Zweifellos ist erstens die aristotelische Sprachterminologie

verwirrend

vielfältig (ὀνόματα,

λόγος,

ἑρμηνεία,

διάλεκτος

u.a.m.)

und

im

einzelnen vieldeutig (z.B. λόγος = Wortgruppe, Satz, Definition, Text, menschliche Sprache). Aber andererseits gibt es auch ein klar erkennbares Streben nach terminologischer Fixierung des Begriffs ,Sprache‘ in bestimmten Kontexten, z.B. in

den biologischen Schriften auf διάλεκτος und in der Poetik und der Rhetorik auf λέξις (Ax 1986, 127ff.; 133ff.). Sicher richtet Aristoteles zweitens sein philosophisches Interesse primär auf Strukturen des einfachen und komplexen begrifflichen Denkens (wie z.B. im Organon) oder auf Strukturen der außersprachlichen Realität (wie

z.B.

in den

biologischen

Schriften).

Er war

bestimmt

kein

Philosoph,

der

sprachphilosophische Monographien verfassen wollte, oder etwa ein Linguist mit der erklärten

Absicht,

Strukturen

der griechischen

Sprache

zu

beschreiben,

wie

später etwa der griechische Grammatiker Apollonios Dyskolos (2. Jhdt. n. Chr.). Und doch muB gerade unter dem Aspekt der Objektbestimmung seiner Philosophie betont werden, daß die sprachphilosophische Perspektive, auch wenn sie nicht als eigenständiges Objekt einer Monographie erscheint, deshalb keineswegs vernachlassigt wird. Im Gegenteil: Sie erhalt im Gesamtwerk des Aristoteles ein derart auch quantitativ

erstaunliches

Gewicht,

daß

man

doch

wieder

versucht

ist,

von

der

Sprache als einem Objekt aristotelischer Philosophie zu reden. Dieses intensive sprachphilosophische Interesse äußert sich auf zwei Weisen: Einerseits kann es sich zu einer größeren, klar umreiBbaren sprachbeschreibenden Passage verdichten wie etwa in den Kapiteln 1-4 von De interpretatione oder den Kapiteln 19-22 von De poetica — zumindest abschnittsweise widmet sich Aristoteles also doch direkt der

Aristoteles (384 — 322)

49

Sprache als Beschreibungsobjekt. Andererseits findet sich eine Unzahl über das gesamte Werk verstreuter sprachphilosophischer Einzelbeobachtungen, die die Beschreibung des jeweiligen Objektbereichs stetig begleiten. Sie sind von dem für die aristotelische Philosophie geradezu konstitutiven Bemühen hervorgerufen, den fraglichen Gegenstandsbereich entweder mit Hilfe der Sprache, insofern sie nämlich die Strukturen des begrifflichen oder sachlichen Objektbereichs widerspiegelt, oder gegen die Sprache, insofern sie solche Strukturen verdeckt und ihrer Erkenntnis hinderlich im Wege steht, beschreibend zu erfassen. Neben dieser eher äußerlichen Differenzierung nach zusammenhüngenden Passagen und Einzelbeobachtungen lassen sich auch inhaltliche, vom Beschreibungsobjekt her bedingte Motive sprachphilosophischer Ansätze bei Aristoteles unterscheiden. Sie erwachsen hauptsächlich aus Beschreibungszusammenhängen (1) der Biologie und Psychologie, (2) der Logik und (3) der Poetik und Rhetorik. Sie betreffen genauer: die Sprache als Lauterzeugung, als akustisches Phänomen, also den lautphysikalischen bzw. -physiologischen Aspekt, die von den sprachlichen Lautzeichen symbolisierten Denkinhalte und -operationen, also den logisch-semantischen Aspekt, und die situations- und gattungsgerechte Sprachverwendung in Dichtung und Rede, also den stilistischen bzw. pragmatischen Aspekt der Sprachbetrachtung. Der komplexen Vielfalt des Phänomens ,Sprachphilosophie bei Aristoteles* wird dieser Artikel natürlich nicht gerecht. Es kann nur auf dem Wege der repräsentativen Auswahl ein erster Zugang vermittelt werden. Das Material wird am besten erfaßt in einem werkbezogenen Teil, der vor allem größere Passagen im Zusammenhang bespricht, und einem nach systematischen Aspekten gegliederten Teil, der die Fülle der über das Gesamtwerk verstreuten Einzelbeobachtungen zu ordnen versucht. Zum Schluß werden einige Bemerkungen zum derzeitigen Forschungsstand gemacht.

2. WERKBEZOGENER TEIL

2.1. Organon Sprachreflektierende Passagen, deren Besprechung im finden sich vor allem im Organon und in der Poetik und wühle ich die ersten vier Kapitel von Categoriae, interpretatione und groBe Teile der Schrift De sophisticis Kapitel 19-22 und aus Rhetorica die Kapitel III 1-12.

Zusammenhang sich lohnt, Rhetorik. Aus dem Organon die Kapitel 1-4 von De elenchis, aus De poetica die

2.1.1. Categoriae 1-4 Die Kapitel 1-4 der Kategorienschrift (dazu jetzt grundlegend der Kommentar von Oehler 1984 mit ausführlicher Bibliographie 120ff.; vgl. auch Graeser 1983, 202-207) bieten keinen in sich geschlossenen, kohürenten Sprachbeschreibungsversuch wie etwa die ersten Kapitel von De interpretatione, aber sie enthalten doch für Aristoteles’ Sprachphilosophie insgesamt so grundlegende Distinktionen, daß sie hier nicht übergangen werden dürfen. Der Schnitt nach Kapitel 4 ist dabei willkürlich,

50

Aristoteles (384 — 322)

denn eigentlich wäre die gesamte Schrift mit ihrer Fülle von Sprachbeobachtungen heranzuziehen. Die Kapitel

1-3 geben Begriffserklürungen, die die Behandlung der

zehn Kategorien (Kap. 4-9) vorbereiten sollen. Kapitel 4 enthält die berühmte Kategorientafel. Im ersten Kapitel werden drei Beziehungen zwischen den Dingen und ihrer Bezeichnung (ὄνομα) behandelt: die Homonymie, Synonymie und Paronymie. Diese drei Beziehungen haben grófite Bedeutung für den sprachphilosophischen Ansatz im Gesamtwerk des Aristoteles, denn sie sind das wichtigste Hilfsmittel der Bedeutungsanalyse, die als Kontrollinstrument der begrifflichen Erfassung eines Objektbereichs eingesetzt wird. Ich werde im systematischen Teil unter 3.3.3. darauf zurückkommen. Im zweiten und dritten Kapitel geht es (grob) um verbundene und unverbundene sprachliche Ausdrücke, um die Aussage von Dingen als Prádikate von Subjekten und um spezifische Differenzen von Gattungen. Wichtig ist hier der Anfang des zweiten Kapitels (1a16-19), denn er bereitet die Liste der zehn Kategorien vor, die in 1b25f. sámtlich der Klasse ,Unverbundene Ausdrücke'

zugewiesen werden.

Dieses Verzeichnis der zehn Kategorien im vierten

Kapitel

(1b25-2a4) umfaßt bekanntlich Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Zustand, Haben, Tun und Leiden. Eine Auswertung dieser und anderer Passagen für

die Sprachphilosophie des Aristoteles ist erstens deshalb schwierig, weil er durchweg, seiner primären Neigung zum Begrifflichen entsprechend, überwiegend onomasiologisch verführt, d.h. nicht von sprachlichen, sondern von begrifflichen und sachlichen Gegebenheiten ausgeht, und dann nach deren sprachlicher Bezeichnung fragt (so besonders deutlich in Kap. 1. Τὰ λεγόμενα [das Gesprochene] (z.B. 1416 und 1b25) kann also auch Sprachstrukturen, aber ebensogut, wenn nicht eher, die von ihnen bezeichneten Begriffsstrukturen oder sogar die von diesen erfaBten Gegebenheiten der Realitit meinen (dazu Oehler 1984, 205). So ergibt sich aus dem onomasiologischen Beschreibungsansatz des Aristoteles ein oft irritierendes, kaum trennbares Ineinander einer linguistischen, begrifflichen und ontologischen Perspektive, was übrigens keineswegs bedeutet, daß er sie nicht im Prinzip klar geschieden hätte, wie noch unter 3.3.2. zu klären sein wird. Aus

dieser Irritation

erklären sich die konkurrierenden Versuche, die Kategorientafel linguistisch, prädikatenlogisch oder ontologisch zu deuten. Das zweite Problem liegt darin, welches Kriterium der Unterscheidung ‚Verbundene vs. unverbundene Ausdrücke‘ eigentlich zugrundeliegt. Aristoteles scheint mir hier selbst den richtigen Weg zu weisen, wenn er das Kriterium des Wahrheitswertes einführt (2a7ff.). Er trennt hier (wie später noch deutlicher in De interpretatione Kap. 1 die bloß semantische Leistung isolierter Satzglieder von der an ihre gegenseitige Verknüpfung gebundenen Leistung des Zuoder Absprechens von Wahrheit. Der Wahrheitswert ist nicht schon als semantisches Merkmal in unverbundenen Ausdrücken mitenthalten, sondern resultiert erst aus der Verknüpfung mit dem Urteilspartner auf der nächsthöheren Ebene des Satzes (vgl. Ax 1979, 271; 273 [hier: 40; 42] — anders Oehler 1984, 178f.). Das Kriterium für die Trennung verbundener und unverbundener Ausdrücke ist also die satzseman-

tische Leistung des ἀληθές [Wahren] oder ψεῦδος [Unwahren], die von den Kategorien als isolierten Konstituenten des Aussagesatzes noch nicht erbracht werden kann. Welche Rolle spielen nun also die Kategorien für den sprachphilosophischen Ansatz des Aristoteles? Nach unseren Vorüberlegungen kann es nicht verwundern, daß die Kategorien neben logischen und ontologischen Deutungen immer wieder auch

Aristoteles (384 — 322)

51

als das Ergebnis linguistischer Analysen verstanden wurden, etwa als Wortartenklassifizierung oder als ,analysis of the Greek sentence* (vgl. Oehler

1984, 52; 57;

72; 84). Solche Deutungen sind natürlich, wenn sie ihren linguistischen Erklärungsansatz verabsolutieren, unangebracht.

einer Verwechslung

von

Schon Aristoteles hat unmißverständlich vor

linguistischen

Klassifikationen

und

seinen

Kategorien

gewarnt, nämlich in De sophisticis elenchis 1 4 (166b10-19): ὑγιαίνειν [gesund sein] hat dasselbe σχῆμα τῆς λέξεως [sprachliche Form] wie ,schneiden‘ oder ,bauen‘. Aber unter dem Aspekt der Kategorien bedeutet das erste Verb eine Qualität und einen Zustand, die beiden anderen eine Aktivität. Dies empfiehlt unbedingt eine nicht primär an den äußeren Sprachstrukturen orientierte, sondern eine von der äußeren Wortform unabhingige, semantische Auffassung der aristotelischen Kategorien. Gleichwohl ist es legitim, auch die Sprachdimension wieder in die Deutung der Kategorien einzubringen — insofern, als sich die semantischen Einheiten nur durch die Analyse sprachlicher Einheiten, nämlich durch Abtrennung lexikalischer Einheiten aus dem Satzzusammenhang, identifizieren lassen. Unter sprachbeschreibendem Aspekt kónnten also die Kategorien durchaus als ,Semantik der Konstituenten des Aussagesatzes‘ verstanden werden, während sie unter logischem Aspekt ‚Typen der Prädikation‘ und unter ontologischem ‚Gattungen des Seienden‘ repräsentieren mögen (vgl. Oehler 1984, 68).

2.1.2. De interpretatione 7-4 In den ersten vier Kapiteln von De interpretatione geht es um die das Gesamtthema

λόγος ἀποφαντικός [Aussage, Urteil] vorbereitenden Definitionen des λόγος und seiner Teile. (Zur These einer nachtrüglichen Revision des Kap. 4 durch die Kap. 1-3 vgl. Ax 1979, 273 [hier: 41], Anm. 13.) Zu diesem Zweck werden nach allgemeinen sprachsemiotischen Vorbemerkungen im Kapitel 1, von denen später im Abschnitt

3.3. die Rede sein wird, das ὄνομα [Nomen] im Kapitel 2, das ῥῆμα [Verb / Prädikat] im Kapitel 3 und schlieBlich der λόγος [hier: Satz] im Kapitel 4 bestimmt. Dieser Abschnitt ist neben De poetica 19-22 der einzige, in dem die Sprache unzweifelhaft thematisiert wird und der zu den beiden kohärenten Beschreibungsansätzen zählt, die

die Sprache als ein System hierarchisch gegliederter Strukturelemente vorstellen. Das im Vergleich zur Poetik noch relativ einfache System von De interpretatione umfaBt nur drei Konstituenten (Nomen, Verb, Satz) und verbleibt ausschlieBlich im Bereich sinnvoller Stimmlaute. Es ist deshalb wohl auch das ältere System (vgl. Ax 1986, 206) Das in den Definitionen von Nomen, Verb und Satz verwendete Genusmerkmal (vgl zum folgenden Ax 1986, 131f) und die spezifischen

Differenzen sind primär semantisch, denn alle Definienda gehören der Gattung φωνὴ σημαντική [semantische Verlautbarung] an, unterscheiden sich aber durch ein zweites semantisches Merkmal, die Teilbedeutsamkeit. So ist λόγος eine bedeutsame

Verlautbarung, deren isolierte Teile etwas bedeuten, z.B. die Satzglieder (16b26ff.), und ist das Nomen (bzw. Verb) ein ebenfalls bedeutsamer Laut, dessen isolierte Teile jedoch nichts bedeuten (16a19ff.), z.B. u/uc von μῦς [Maus] (16b31). Dazu treten weitere Differenzen, die den λόγος generell — und damit auch seine Konstituenten — und speziell den Unterschied zwischen Nomen und Verb betreffen. Die erste

52

Differenz

Aristoteles (384 - 322)

trennt

die Spracheinheiten

‚Nomen‘

(16219)

und

‚Satz‘

(17alf.)

als

konventionelle, aufgrund von Verabredung (κατὰ συνθήκην) bedeutsame Stimmlaute

von den φύσει, d.h. auf natürliche Weise semantischen Stimmlauten von Tieren (16a26-29). Die nächste Differenz ist wiederum semantisch, denn sie trennt das Zeitwort (ῥῆμα) vom zeitlosen Nomen (16b6ff.). Der λόγος als teilbedeutsame Lautäußerung läßt sich mit einer weiteren Differenz untergliedern in Satzarten ohne (z.B. die Bitte 17a4) und mit Wahrheitswert (Aussage, Urteil). Schließlich zerfällt der Satz mit Wahrheitswert noch in Affirmation und Negation. In ein diháretisches Schema übertragen ergibt sich also folgende Ausgliederung des Urteilssatzes (s. Abb. 1; ὦ bedeutet anonyme Position in der Gattungshierarchie). Differenzen

Gattungen Bedeutsamer Stimmiaut (φωνὴ σημαντικὴ)

+ konventionell

— Tierlaute

(φύσει) + teilbedeutsam + Zeitangabe

+Sprache

"nt

— Nomen

(ὄνομα)

(Wort,

Satz)

συνθήκην) + Satz (λόγος)

+ Verb/Pridikat

(ῥῆμα)

+ Wahrheitswert

— Bitte (εὐχή)

+ Affirmation

* Urteil (ἀπόφανσις)

— Negation (ἀπόφασις)

+ Affirmation (κατάφασις)

Abb. 1: Schema der Ausgliederung des Urteilssatzes

Die vier Kapitel weisen eine Fülle von Einzelproblemen auf, die eine umfangreiche Literatur hervorgerufen haben. Darauf kann hier mit Ausnahme der Semiotik von Kapitel 1 nicht eingegangen werden. Die Literatur ist bequem zugänglich bei Hellmut Flashar (1983, 203f.; 295f.) und bei Hans Arens (1984), der den ersten vier Kapiteln von De interpretatione eine ganze Monographie (allerdings zum großen Teil Übersetzungen) gewidmet hat (vgl. 3.3.1.; jetzt auch Montanari I 1984; II 1988).

2.1.3. De sophisticis elenchis Die Schrift De sophisticis elenchis handelt von den Trug- oder Scheinschlüssen, so wie sie nach Aristoteles' Darstellung von den Scheinweisen, den Sophisten, für die dialektische Argumentation verwendet wurden (165a19ff). Hauptquelle zur Herstellung solcher Scheinschlüsse ist das geschickte Ausnutzen vor allem von Gegebenheiten der Sprache (165a4-6). Daher gehóren weite Teile der Schrift in diesen Zusammenhang. Die Scheinschlüsse entstehen vor allem dadurch, daß man eine naive Gleichsetzung zwischen den Dingen und ihren Bezeichnungen vornimmt,

also Eigenarten des sprachlichen Zeichensystems verkennt oder auf die bezeichnete Realität überträgt. Es heißt:

Aristoteles (384 — 322)

53

Denn da es nicht móglich ist, im Dialog die Dinge selbst zu übermitteln, sondern wir statt der Dinge die Wörter als Symbole verwenden, glauben wir, daß das, was auf die Wörter zutrifft, auch auf die Dinge zutreffe [ ...]. Aber eben dies ist nicht das Gleiche. Denn Wórter und die Menge der Sdtze sind der Zahl nach begrenzt, die Dinge aber sind unbegrenzt. Notwendigerweise muf also ein- und derselbe Satz und ein einzelnes Wort mehreres bezeichnen. (165a6-13) Die Vermeidung von Fehlschlüssen liegt also gerade in der wachsamen Distanz zur Sprache und ihren Fallstricken. Unter diesem generellen Aspekt werden in den Kapiteln 4-6 sechs sprachliche (Kap. 4) und sieben außersprachliche (Kap. 5) Möglichkeiten von Scheinschlüssen vorgeführt. Die in der Sprache liegenden sechs

Modi sind die Homonymie (ὁμωνυμία), Amphibolie (ἀμφιβολία), Verbindung (σύνθεσις), Trennung (διαίρεσις), Aussprache (προσῳδία) und Sprachform (σχῆμα λέξεως). Die Homonymie ist die Namensgleichheit: Zwei Dinge teilen sich einen Namen, wie z.B. τὸ δέον das kausal und das moralisch Notwendige bedeutet (165b35ff). Die Amphibolie ist die syntaktische Doppeldeutigkeit, z.B. „Laß mich die Feinde (bzw. die Feinde mich) ergreifen!“ (166a6f.) Die Verbindung und Trennung ist die fehlerhafte Interpretation von Satzkonstituenten,

z.B. richtig: ,,Er

kann nicht schreibend || schreiben“ und falsch: „Er kann || nicht schreibend schreiben“ (166a23ff.; 33ff.). Scheinschlüsse aus der Prosodie entstehen aus der Verwechslung der Aussprache gleichgeschriebener Wörter, z.B. οὐ [nicht] und οὗ [wo] (166b1ff.). Fehlschlüsse aus der sprachlichen Form beruhen z.B. auf der Inkongruenz zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht, zwischen sprachlicher und semantischer Kategorie (166b10ff.). Kapitel 6 faßt diese sprachlichen Fehlschlüsse noch einmal systematisierend zusammen (168a23ff.). Kapitel 19-23 liefen die entsprechenden Abwehrstrategien gegen die fallaciae dictionis. Die Schrift enthält noch sehr viel mehr an sprachbezogenen Reflexionen, die hier nur stichwortartig erwühnt werden kónnen, z.B. wichtige Bemerkungen zum Wert der Sprachanalyse für die Erkenntnis: Denn es ist schwer, auseinanderzuhalten, was in gleichem und was in verschiedenem Sinn gesagt wird — denn wer das leisten kann, ist nahe daran, die Wahrheit zu erkennen — [...]; weil wir alles, was von etwas ausgesagt wird, als ein bestimmtes Etwas und als eine Einheit auffassen. (7, 169a30-35, ähnliches findet sich auch 16, 175a5ff. und 33, 182b22ff.) Daneben stehen eher äußerlich grammatische Überlegungen zum Solözismus, zu Sprachfehlern also, etwa zu falschem Genus- und Kasusgebrauch in den Kapiteln 14 und 32. Die Schrift ist bisher in der Forschung, soweit ich sehe, stark vernachlässigt

worden (Literatur bei Flashar 1983, 204; 296; Resümee 240).

54

Aristoteles (384 — 322)

2.2. Poetik / Rhetorik 2.2.1. De poetica 19-22 Die Kapitel 19-22 von De poetica dienen der Beschreibung eines der sechs Tragódienelemente, nämlich ihrer sprachlichen Formulierung, der λέξις (vgl. dazu Ax 1986, 132ff.). Nach der (hier zunächst uninteressanten) Vorbemerkung von Kapitel

19 gibt Aristoteles

im Kapitel

20 ein Verzeichnis der μέρη τῆς λέξεως

[der

Sprachsegmente] in Form einer Sprachkonstituentenanalyse in aufsteigender Linie vom kleinsten, dem Laut, Buchstaben (στοιχεῖον) bis zum größten Segment, dem

λόγος [Satz, Text]. Ihm folgt mit Kapitel 21 eine Gruppierung des Wortschatzes (εἴδη ὀνόματος) nach morphologischen (Komposita, Erweiterungen etc.) und stilistischen Kriterien (Normalwörter, Glossen, Metaphern etc.). Der A&&ıc-Teil der

Poetik endet mit Bemerkungen zur ἀρετὴ tfj; λέξεως [sprachliche Vorzüge] im 22. Kapitel, d.h. vor allem zur Klarheit (σαφές) und Angemessenheit (πρέπον) der poetischen Diktion. Damit deckt der Lexis-Abschnitt der Poetik nach Disposition den späteren Aufbau der antiken ars grammatica mit ihren (1) Sprachelemente (Kap. 20), (2) Wortarten (Kap. 21) und (3) Vorzüge der Sprache (Kap. 22) bereits ganz ab, so daß der Prototyp der ars nicht

Inhalt und Hauptteilen und Fehler erst bei den

Stoikern, sondern schon in der aristotelischen Poetik anzusiedeln ist (Ax 1986, 132,

Anm. 53). Im 20. Kapitel werden die Sprachsegmente in einer an De interpretatione 1-4 erinnernden, aber doch erheblich differenzierteren Weise gruppiert. Für alle Definienda gilt wiederum die Genuszuweisung φωνή [Stimme]. Sie verzweigt sich in folgende Sprachkonstituentengruppen: (1)

nicht mehr segmentierbare Laute (στοιχεῖα [Laute / Buchstaben])

(2)

segmentierbare und bedeutungslose Laute (συλλαβή, σύνδεσμος [Silbe, Konjunktion])

(3)

segmentierbare und bedeutsame Laute (ὄνομα, ῥῆμα, λόγος [Nomen, Verb, Satz / Text])

(4)

bedeutsame, aber nicht teilbedeutsame Laute (ὄνομα, ῥῆμα [Nomen, Verb / Prädikat])

(5)

(4a) zeitlose Wörter (ὀνόματα [Nomina]) (4b) Zeitwórter (ῥήματα [Verben / Prüdikate]) bedeutsamer und teilbedeutsamer Laut (λόγος) (5a) isolierter Logos (λόγος; [Satz]) (5b) verbundener Logos ( λόγος) [Text, z.B. die /lias])

Unter Einbezug Dihárese:

der

Stelle

1456b22ff.

(Tierlaute)

ergibt

sich

daraus

folgende

Aristoteles (384 — 322) Differenzen

Gattungen (μέρη τῆς λέξεως) φωνή

+ segmentierbar

55

[Stimmlaui]

— φωνὴ

“ συνθετῇ

ἀδιαίρετος +zusammensetzbar

- φωναὶ τῶν θηρίων

[Tierlaute]

τ στοιχεῖα

[Phoneme]

* bedeutsam

— Qtovfj ἄσημος

+ σημαντικὴ

[Silbe, Konjunktion] X teilbedeutsam

+ Zeit/ + verbunden

-0

— ὄνομα

[Nomen]

+ λόγος

+ Pipa

[Verb/Prádikat]

-- λόγος;

+A0yos,

[Satz]

[Text]

Abb. 2: Teile der Lexis

Das im Vergleich zu De interpretatione (vgl. 2.1.2.) wesentlich komplexere System

der λέξις und ihrer Teile in De poetica zeigt, daß Sprache sich aus semantischen und asemantischen Lautgebilden zusammensetzt. Damit wird Aristoteles zum Wegbereiter der stoischen Sprachdihärese. Denn, wenn in De poetica der stets semantische Logos unter die umfassendere, weil semantisch neutrale Lexis tritt, so ist damit die

spätere stoische Differenzierung von Lexis (semantisch neutrale, artikulierte Lautäußerung) und Logos (stets semantische, artikulierte Äußerung) bereits im Keim angelegt, mit deren Hilfe die Sprache in der stoischen Theorie mit größerer Konsequenz als bei Aristoteles als ein Doppelsystem bedeutungsloser (Sprachlaute) und bedeutsamer ‚Atome‘ (Wortarten) beschrieben wird. Die Stoiker unterscheiden sich außerdem von Aristoteles durch den Einbezug des von De poetica und De interpretatione noch getrennten physikalisch-biologischen Komplexes der Sprachbetrachtung in ihre Dialektik, wahrscheinlich unter dem Einfluß der xenokratischen Dialektik (vgl. Ax 1986, 206f.; Resümee und Literatur bei Flashar 1983, 252; 305-

308; 358-364).

2.2.2. Rhetorica I// 1-12

Im dritten Buch von Rhetorica wird nach der Lehre von den Redegattungen und den Beweisen (Buch I, II) und vor der Lehre von der Disposition der Redeteile (τάξις, Buch III 13-19) an zweiter Stelle die Lehre von der sprachlichen Formulierung der

Rede gegeben (λέξις, Buch III 1-12). Der Abschnitt steht in vielfültiger Beziehung — es gibt Querverweise — zum Lexis-Abschnitt der Poetik, Kapitel 19-22, enthált aber keine Analyse der Sprachkonstituenten. Vielmehr liegt der Schwerpunkt der zahlreichen, im ganzen wenig systematisch geordneten Detailbeobachtungen auf der

ἀρετὴ τῆς λέξεως (virtus dicendi), d.h. auf dem richtigen, der jeweiligen Sprechsituation und Wirkungsabsicht angemessenen Einsatz sprachlicher Mittel, was natürlich umgekehrt der Vermeidung situations- und wirkungsunangemessener Formulierungen entspricht. Unter diesem Aspekt werden u.a. besonders die Stilnormen Klarheit (σαφές, Kap. 1), Sprachrichtigkeit (ἑλληνίζειν, Kap. 5) und Angemessen-

56

Aristoteles (384 -- 322)

heit (πρέπον, Kap. 7) empfohlen. Dazu treten Empfehlungen zur Rhythmisierung (Kap. 8) und zu periodischen Gestaltungen des Satzbaus (Kap. 9). Neben den Kapiteln 21 / 22 von De poetica vermittelt die Fülle der Hinweise zur angemessenen

sprachlichen Gestaltung der Rede in Rhetorica III 1-12 ein eindrucksvolles Bild vom Reichtum der Sprachbetrachtung aus pragmatischer Perspektive, der hier leider nur gestreift werden kann. Das aus pragmatischen Erwägungen gewonnene Postulat der sprachlichen Anpassung der Rede an die Eigenarten der Redesituation (z.B. schriftlicher, mündlicher Vortrag, Publikum etc.) wird übrigens in Kapitel 12 explizit erhoben und für die einzelnen Redegenera erläutert. Weiterführende Kurzdarstellung

und Literatur findet man bei Flashar (1983, 253-256; 308-310; 364-374; bes. 371f.).

3. SYSTEMATISCHER TEIL

Im folgenden werden ohne Anspruch auf Vollstándigkeit die meines Erachtens wichtigsten Ansätze der aristotelischen Sprachphilosophie systematisch geordnet in gebotener Kürze dargestellt, jetzt unter Berücksichtigung des Gesamtwerks. Natürlich kónnen in dem hier gegebenen Rahmen jeweils nur wenige Belege herangezogen werden, die ich für reprüsentativ halte. Für die meisten Detailaspekte gibt es eine Fülle weiterer Belegstellen. Ich bespreche zunächst den biologisch-psychologischen, dann den pragmatischen und schlieBlich den semiotischen Ansatz, also von der weitesten in Richtung auf die jeweils engere Perspektive (Sprache als Naturphünomen, Sprache als Kommunikationsvorgang, Sprache als Zeichensystem). Zur Gefahr einer solchen systematisierenden Betrachtung vgl. Ax (1978, 266 [hier: 35]).

3.1. Der biologisch-psychologische Aspekt In einigen Partien seiner biologischen und psychologischen Schriften. kommt Aristoteles bei jeweils disparaten Beschreibungszielen zu einem relativ geschlossenen sprachreflektorischen Ansatz, den ich hier in gebotener Kürze skizziere (vgl. dazu ausführlich Ax 1978 [hier: 19ff.]; Zirin

1980; Ax

1986,

121ff.

und zuletzt Sinnott 1989, 39ff.). Aristoteles versucht hauptsächlich an zwei Stellen

die akustischen Genera ‚Laut‘ (ψόφος), ‚Stimme‘ (φωνή) und ‚Sprache‘ (διάλεκτος) durch Dihärese zu unterscheiden: De anima II 8 (419b4ff.) und Historia animalium

IV 9 (535a27ff.). In De anima II 8 geht es im Rahmen der Behandlung der fünf Sinne (II 7-11) um das Gehör und dessen Objekte. Oberste Gattung in der Hierarchie der akustischen Sinnesobjekte ist ψόφος [Geräusch jeder Art], der mit den Merkmalen (1) ‚Kollision fester Körper‘ und (2) ‚individuelles Objekt des akustischen Sinnes‘ bestimmt wird. Eine seiner Spezies ist die φωνή [Stimme], die mit Hilfe der Differenzen (1) ‚von Lebewesen‘, (2) ‚mit dem Atmungsapparat‘

Ausdrucksabsicht'

erzeugter Laut ausgegliedert wird. Die

und (3) ‚mit einer

Lautspezies

,Sprache'

erscheint in De anima II 8 noch nicht als Glied der akustischen Dihärese, aber es

werden doch bereits zwei wesentliche Eigenschaften miterfaBt: die Artikulation (420b8) und die Semantizität (b19f.). Allerdings wird das letzte Merkmal bereits Lautäußerungen der Klasse φωνή [Stimme] zugeschrieben, die für Aristoteles immer

Aristoteles (384 - 322)

57

schon ein onpavtixds ψόφος [bedeutsamer Laut] ist (420b32f.). Dihäretisch gefaßt wird die Sprache erst in der Historia animalium IV 9. Hier werden die akustischen

Genera ‚Laut‘ (yóqoc), ‚Stimme‘ (φωνή) und ‚Sprache‘ (διάλεκτος) zur zoologischen Artenbildung verwendet (535a27ff.). Denn man kann die solche, die bloße Geräusche (ψόφοι) hervorbringen, weil sie stimmbildenden Atmungsapparat verfügen (z.B. Insekten) entsprechend ausgestattet, Stimmlaute (φωναΐ) erzeugen (z.B. schließlich in solche, die die Stimme mit Hilfe eines zusätzlichen

Tiere einteilen in nicht über den in solche, die, Säugetiere), und physiologischen

Apparates (Zunge, Lippen, Zähne) zur Sprache (διάλεκτος) artikulieren können (z.B. Vögel, Menschen). διάλεκτος [Sprache] wird also im biologisch-psychologischen Kontext als die mit bestimmten Organen erzielte Artikulation eines mit dem Atmungsapparat erzeugten bedeutsamen Lautes eines belebten, schallproduzierenden Wesens bestimmt. Die genaue Betrachtung dieser Sprachdihärese und einer Reihe von Stützstellen ergibt weitere Differenzierungen: Die mit semantischen (Laut/ Stimme) und physiologischen Merkmalen (Laut / Stimme / Sprache) gezogenen Grenzen im Bereich akustischer Sinnesobjekte fallen nicht mit der Grenze Mensch / Tier zusammen, denn auch Tiere kónnen mit der Stimme kommunizieren und auch

artikulieren (z.B. Vögel). Trotzdem scheint Aristoteles Mensch- und Tiersprache voneinander getrennt zu haben, und zwar zunächst unter semantischem Aspekt: Der menschliche Logos hat ethische, rationale Inhalte im Vergleich zu den bloß affektiven des Tieres (Politica 1,2, 1253a7ff.). Tiere erreichen also φωνή und διάλεκτος, aber

nicht λόγος. Aus semiotischer Sicht läßt sich der Definition des ὄνομα [Nomen] in De interpretatione (16219, 27ff.) und des στοιχεῖον [Sprachlaut, Buchstabe] in De poetica (1456b22ff.) entnehmen, daß Aristoteles die menschliche Sprache weiter durch das Merkmal der Konventionalitdt des bedeutsamen Lautzeichens und durch die Kombinationsfähigkeit der Sprachlaute zu komplexeren Einheiten, also durch die phonematische Struktur des sprachlichen Zeichens, von der Tiersprache absetzt. Aufgrund wahmehmungstheoretischer und zoologischer Überlegungen bestimmt also Aristoteles mit einer zweistufigen physiologischen und einer semantischen Differenz

den ψόφος [Laut] als Kollision und individuelles Hórobjekt, die φωνή [Stimme] als kommunikativen, mit dem Atmungsapparat erzeugten Laut eines Lebewesens und

διάλεκτος [Sprache] als artikulierte Stimme. Außerhalb der Dihärese erscheint die artikulierte Stimmspezies Aóyog [menschliche Sprache], der semantisch besondere Inhalte ausdrückt und semiotisch (1) konventionell bedeutsam und (2) phonematisch strukturiert ist. Aristoteles gelangt also im naturwissenschaftlichen Kontext nicht physiologisch, wohl aber semantisch und insbesondere semiotisch zu einer wenigstens in Grundzügen erkennbaren Abgrenzung der menschlichen Sprache.

3.2. Der pragmatische Aspekt 3.2.1.

Ein Kommunikationsmodell (Rhetorica 1 3)

In Rhetorica 1 3 (1358a36ff.) wird ansatzweise ein sprachliches Kommunikationsmodell entwickelt, aus dem die drei Redegattungen, die Beratungsrede (yévog

συμβουλευτικόν), die Gerichtsrede (γένος δικανικόν) und die Festrede (γένος

Aristoteles (384 — 322)

58

ἐπιδεικτικόν) als Varianten dieses Modells hergeleitet werden. Grundsätzlich gilt für jede sprachliche ÁuBerung (Aóyoc) das Kommunikationsdreieck:

Gegenstand (περὶ οὗ λέγει) Sprecher (ὁ λέγων) —

I

Hörer (πρὸς ὃν A£ye1)

Abb. 3: Das Kommunikationsdreieck

Die drei Redegattungen unterscheiden sich aufgrund bestimmter Eigenarten der drei Konstituenten dieser generellen Sprechsituation, nämlich in der Zeitposition des Verhandlungsgegenstandes (G) und in der Funktion der Instanzen Sprecher ($) und Hórer (H). Unterschiedlich ist auch das Ziel des jeweiligen Kommunikationsvor-

ganges. In der Beratungsrede liegt G in der Zukunft, S rat zu oder ab (προτροπή, ἀποτροπή), H soll zu einer die Zukunft betreffenden Entscheidung aktiviert werden

(ὁ περὶ τῶν μελλόντων

κρίνων). Ziel ist es, den Redegegenstand

als nützlich

(συμφέρον) oder als schädlich (βλαβερόν) erscheinen zu lassen. In der Gerichtsrede

ist G vergangen, S klagt an oder verteidigt (κατηγορία, ἀπολογία), H soll ebenfalls aktiviert werden, aber jetzt über einen vergangenen Fall urteilen (ὁ περὶ τῶν γεγενημένων κρίνων). Ziel ist es hier, den Redegegenstand als gerecht (δίκαιον) oder als ungerecht (ἄδικον) erscheinen zu lassen. In der Festrede ist G zeitlich

neutral, S lobt und tadelt (ἔπαινος, ψόγος), H bleibt passiver Rezipient der Rede (θεωρός). Ziel ist es hier, den Redegegenstand als ehrenvoll (καλόν) oder als tadelnswert (αἰσχρόν) auszuweisen:

(1)

Beratungsrede:

Ziel: Das Nützliche / Schádliche

G (zukünftig)

5 —

H (aktiv)

Zuraten / Abraten

(2)

Entscheiden

Gerichtsrede:

Ziel: Das Gerechte / Ungerechte G (vergangen)

S Anklagen / Verteidigen

H (aktiv) Urteilen

Aristoteles (384 — 322) (3)

Festrede:

59

Ziel: Das Ehrenvolle / Tadelnswerte

G (neutral) S .-Loben / Tadeln

το

ππ)0,ῖ υ;--.-

H (passiv) Rezipieren

Abb. 4: Die Redegenera

3.2.2. ,Sprechakte' Im

Kapitel

4

von

De

interpretatione

(1721-7)

wird,

wie

schon

unter

2.1.2.

beschrieben, das Urteil, der λόγος ἀποφαντικός, einleitend von anderen Aöyog-Arten abgesetzt. Nur das Urteil besitzt Wahrheitswert, andere λόγοι, wie etwa die Bitte

(εὐχή), nicht. Sie sind weder wahr noch falsch, und für ihre Behandlung ist laut Aristoteles die Rhetorik und Poetik zuständig. Damit ist beispielhaft angedeutet, daß Aristoteles über das Urteil hinaus Kenntnis von sprachlichen Phänomenen besaß, die

wir — mit allen Gefahren

solcher Gleichsetzung — nach John R. Searle (*1932)

‚speech acts‘, ‚Sprechakte‘, nennen. Noch deutlicher wird diese Kenntnis im Kapitel

19 von De poetica (1456b8-19). Dort werden zu Beginn der Besprechung der λέξις (vgl. 2.2.1.) solche ,Sprechakte* wieder, aber jetzt beispielreicher, erwähnt: ἐντολή [Befehl], εὐχή [Bitte], διήγησις [Bericht], ἀπειλή [Drohung], ἐρώτησις [Frage] und ἀπόκρισις [Antwort]. Daß diese Beispielreihe unvollständig ist, zeigt das xoi εἴ τι ἄλλο τοιοῦτον [und was es sonst noch derartiges gibt] (b12f.). Aristoteles nennt sie hier σχήματα τῆς λέξεως [Ausdrucksarten] und verweist sie — für uns nicht eben deutlich — in die Vortragskunst (ὑποκριτική). Solches sei nicht Gegenstand der Poetik — ein merkwürdiger Gegensatz zum Verweis in die Poetik in De int. 4. Wenig

später im Kapitel 20 (1457a21-23) heißen dann Frage und Befehl πτώσεις ῥήματος [Fälle des Verbs]. Unstimmigkeiten in der Terminologie der ,Sprechakte‘, ihre bloß beispielhafte, unvollstindige Auflistung und ihr Verweis in andere Disziplinen zeigen, daß Aristoteles nicht an einer systematischen Erfassung dieses Bereichs interessiert war (vgl. aber die Behandlung von Frage und Antwort im dialektischen Gespräch in Topica, Buch 8). Dennoch ist sein Zeugnis wichtig für die Existenz einer ‚Sprechaktlehre‘ wahrscheinlich schon seit Protagoras (ca. 485-415 v. Chr.), die später besonders von den Stoikern rezipiert und systematisiert wurde. (Grundlegend dazu jetzt Schenkeveld 1984; speziell zu Aristoteles: 292-294 und 328: Vergleich mit Searles ‚speech acts‘.)

3.3. Der semiotische Aspekt 3.3.1. Das sprachliche Zeichen (De interpretatione 1) Es ist also das Stimmliche Zeichen psychischer Eindrücke und das Geschriebene Zeichen des Stimmlichen. Und wie nicht alle dieselben Schrifizeichen haben, so sind auch die Stimmlaute nicht bei allen

60

Aristoteles (384 — 322) dieselben. Die psychischen Eindrücke aber, für die Laut und Schrift primár Zeichen sind, sind bei allen dieselben, und so auch die Dinge, deren Abbilder die psychischen Eindrücke sind. (1623-8)

Kaum eine Stelle aus dem Corpus Aristotelicum ist so oft zitiert und interpretiert worden wie diese Zeilen, jedoch scheint bis heute nur ein Konsens darüber móglich, daß es sich hier um den ,einflufireichsten Text in der Geschichte der Semantik‘ handelt (vgl. Weidemann 1982, 241; Oehler 1982, 216; Arens 1984, 1 und Weide-

mann 1991, 176). Dagegen ist man, was den wissenschaftsgeschichtlichen Wert allgemein und viele Details angeht, durchaus verschiedener Meinung. So soll Aristoteles z.B. einerseits das semiotische Dreieck von Charles K. Ogden (18891957) und Ivor A. Richards (1893-1979) vorweggenommen (Lieb 1981, 155) und bereits semantische Funktionen im Sinne von Gottlob Freges (1848-1925) ,Sinn und

Bedeutung‘ oder Willard Van Orman Quines (*1908) ,meaning and reference‘ unterschieden haben (Weidemann 1982, 242). Andererseits soll De interpretatione | laut Norman Kretzmann ,not even a sketch of a general theory of meaning" darstellen (Kretzmann 1974, 5; dagegen Weidemann 1982, passim). Ursache für solche Unstimmigkeiten ist sicher der skizzenhafte, eher andeutende als ausführende Stil der Passage, die sich zudem über Parallelstellen nicht hinreichend absichern zu lassen scheint. Es ist daher vielleicht von vornherein angebracht, mit Hermann Weidemann (1982) nur von ‚Ansätzen zu einer semantischen Theorie‘ zu sprechen und vor einer Überbewertung ex eventu zu warnen. Aristoteles unterscheidet, vereinfacht formuliert, vier an der Konstitution des sprachlichen Zeichens beteiligte

Instanzen: Schrift, Laut, Psyche und Dinge. Zugleich wird der Charakter Beziehungen zwischen diesen Instanzen angedeutet:

l Schiff

Ὁ a

2 Laut

— b

3 Psyche

— c

dreier

4 Dinge

Abb. 5: Konstituenten des sprachlichen Zeichens

a und b zu lesen als: Zeichen bzw. Symbol (σύμβολον) von ...; c zu lesen als: Bild (ὁμοίωμα) von ... Eugenio Coseriu (19752, 73) rechnet als vierte Relation den erst syntaktisch zu gewinnenden Wahrheitswert dazu. Relativ unproblematisch sind die Instanzen (1) und (2). Geschriebenes / Buchstaben (γραφόμενα / γράμματα) stehen

für Laute / Lautäußerungen (zum Doppelsinn vgl. Lieb 1981, 149). τὰ ἐν τῇ φωνῇ [das in der Stimme] - παθήματα zu ergänzen ist mit Rücksicht auf 23a32f. unnötig — umfaBt den stimmsprachlichen Bereich vom Phonem (16a5) bis zum Satz (16a3 in Kombination mit 2401: vgl Lieb 1981, 149-151). Erhebliche Schwierigkeiten

bereiten dagegen die Instanzen (3) Psyche und (4) Dinge. Was (3) τὰ £v τῇ ψυχῇ παθήματα

bezeichnen sollen, hat sich bisher nicht eindeutig aus der Schrift De

anima, auf die 16a8f. verwiesen wird, erschlieBen lassen (vgl. Lieb 151f.; Weidemann 1982, 246-249; Oehler 1984, 207f.). Gesichert ist allerdings als Bezugstext zu

Aristoteles (384 — 322)

61

16a9ff. De anima 3,6 (430a26ff.). Es ist Hans Heinrich Lieb (1981, 151) zuzugeben,

daß πάθη, παθήματα in De anima seelische Vorgänge allgemein von der Wahrnehmung über Affekte bis zu rationalen Operationen bezeichnen kann, aber mir scheint, entgegen Weidemann (1982, 246f.), daB Aristoteles in 1626-8 primär von der Wahrnehmungslehre ausgeht, die παθήματα hier also Wahrnehmungsinhalte meinen. Darauf deutet vor allem das ὁμοιώματα von 1647, das als dritte Relation erst später besprochen wird. Die vierte Instanz, die πράγματα von 1687, sind laut Lieb (1981, 152f.) „beliebige ontologische

Identitäten“.

Ahnlich

weit

legt Weidemann

(1982,

249ff.) die Extension des Begriffs auf den Bereich vom Individuum über den Gattungsbegriff bis zu den von Aussagesätzen formulierten Sachverhalten fest (vgl. auch Oehler 1984, 210). Mir

scheint, daB hier das Parallelmaterial noch intensiver

ausgewertet werden müßte. Der Kontext von 1647 selbst zeigt jedenfalls, daß Aristoteles hier mit πράγματα allein die außersprachliche Realität meint, denn die Instanz ‚Dinge‘ ist ja deutlich von der Instanz ‚Psyche‘ durch die Bildrelation getrennt. Es sind also in 16a3-8 im Zuge einer grundsätzlichen Erfassung der Sprachsemiotik nur solche Schrift- / Lautäußerungen gemeint, die über die psychische Instanz hinaus auf Dinge der auBerpsychischen Realität verweisen können, also in heutiger Terminologie referentielle Bedeutung haben. Daß es daneben auch referenzfreie, aber bedeutungshaltige Sprachelemente gibt, ist Aristoteles bekannt, ohne daß er sie in ein geschlossenes semantisches System gebracht hätte. Es gibt z.B. Wörter, die etwas bedeuten, aber keine Referenz haben, weil sie μὴ ὄντα [Nichtexistierendes] bezeichnen wie τραγέλαφος [Bockshirsch] (vgl. 16a16f. in Verbindung mit 92b5-8 und 208a30f.). Ebenso referenzfrei, aber sprachfunktional sind die Kopula ‚ist‘ und die Konjunktion ‚und‘ (16b19ff.; 1456b38ff. und Ax 1979,

277f.

[hier: 45f.]).

Die πράγματα

von

1647

sind

also

aus

semiotischer

Sicht

außerpsychische Referenzobjekte, die auf die Psyche einwirken und dort abgebildet werden. ‚Psyche‘

Wie man gleich sehen wird, ist die hier angedeutete und

‚Dingen‘

vor allem

Teilgebiet der Psychologie

in der Wahrnehmungslehre

ist, daher der Verweis von

Relationen zwischen den vier Instanzen,

16a8f.

Konstellation entwickelt,

Nun

zu

die

den

von ein

drei

zunächst zweckmäßigerweise zur dritten

Relation c, der Bildrelation zwischen ‚Dingen‘ und ‚Psyche‘: Die Wahrnehmung ist nach De anima 416633, 424al ein πάσχειν, ein passiver, rezeptiver Vorgang. Der Sinn ist dabei zunächst

von

seinem

Objekt

verschieden,

er wird

erst

nach

der

Einwirkung des Objektes gleich (ὅμοιον 418a5f.), wie z.B. am Geschmackssinn erkennbar (422b1f.). Der Sinn ist mit dem realen Sinnesobjekt also nur potentiell

identisch (δυνάμει 424alf.). Er ist dasselbe (ταὐτόν) wie das Objekt, aber sein Sein (εἶναι) ist verschieden (424225f.). Die Identität von Sinneswahrnehmung und Objekt ist der des Ringabdrucks im Siegelwachs mit dem Ring selbst vergleichbar, wobei der Abdruck als Zeichen (σημεῖον) die Qualität des prägenden Objekts annimmt, ohne dessen Materie zu übernehmen (424a17ff.). Wahmehmungs- und Denkinhalte (τὸ

αἰσθητικὸν Kai τὸ ἐπιστημονικόν) sind identisch mit ihren Objekten, aber sie sind nicht die Objekte selbst, sondern ihr εἶδος [Form, Bild]. „Nicht der Stein ist in der

Seele, sondern sein εἶδος“ (431b26-432b1). Das ὁμοιώματα von 1627 bezeichnet also nichts anderes als die Identität psychischer Rezeptionsresultate (παθήματα) mit den sie bewirkenden

außerpsychischen

Gegenständen

(πράγματα),

und

zwar

im

Sinne einer Abbildungs- und nicht einer Wesensidentität. Auf das Sprachzeichen-

62

Aristoteles (384 — 322)

modell von 1623-8 übertragen gilt also z.B. für das Wort ‚Stein‘, daß das außerpsy-

chische Sinnesobjekt ‚Stein‘ über den Wahrnehmungsapparat ein mit ihm im Abbildungssinne identisches psychisches εἶδος [Bild] erzeugt, das durch Laut-/ Schriftzeichen symbolisiert werden kann:

4

c

STEIN



(reales Objekt)

3

b

STEIN



(psychisches Bild)

2

a

STEIN



1 STEIN

(Lautfolge)

L

(Buchstabenfolge)

I Bildrelation

Symbolrelation

Abb. 6: Konstituenten des sprachlichen Zeichens ‚Stein‘

Daß im zweiten Teil des Kapitels 1 von De interpretatione (16a9ff.) nur noch vom νόημα [Gedanke] die Rede ist, muß vielleicht nicht die Sorgen verursachen, die sich Kretzmann und Weidemann darum gemacht haben (Weidemann 1982, 246ff.), weil sie sich bei dieser Verbindung von Wahrnehmungsinhalten und Gedanken zum Ansatz einer inadäquaten Bildtheorie des Denkens bei Aristoteles gezwungen fühlten: Aristoteles läßt keinen Zweifel daran, daß er Wahrnehmen und Denken für

etwas Verschiedenes hält (427b6ff.; 627). Aber andererseits gibt es für ihn kein Denken ohne Wahrnehmung, sind die Denkinhalte (νοητά) in den Wahrnehmungs-

objekten (αἰσθητά) enthalten und ist kein Lernen und Verstehen ohne Wahrnehmung möglich (432a3ff.). Auch für die Vorstellung (φαντασία) gilt die grundsätzliche Abhängigkeit von der Wahrnehmung (427b15f.). Allein diese Auffassung von einer Dominanz der Sinneswahrnehmung über die übrigen psychischen Funktionen und ihre generelle, für den psychischen Apparat reprüsentative Funktion ist meines

Erachtens der Grund für die Vorschaltung der παθήματα für das νόημα von 16a10. Damit sind Unterschiede zwischen Denken und Wahrnehmen nicht ausgeschlossen. Es bleibt trotzdem

zu

erwügen,

ob solche

Stellen wie 431b26ff.

nicht doch

die

Annahme einer Bildtheorie des Denkens bei Aristoteles nahelegen. Die Relationen a

und ὁ kónnen zusammengefaBt werden, weil sie beide mit dem Begriff σύμβολον markiert werden, also offenbar identisch sind. Auch hier wird das Verständnis durch den stichwortartigen, notizenhaften Stil der Ausführungen erschwert (vgl. zum

folgenden Ax 1978, 263-265 [hier: 32-34]). σύμβολον hat zunächst nur die allgemeine Bedeutung eines Zeichens: aliquid stat pro aliquo (vgl. 24b2; 165a6ff.). Es ist deshalb im Prinzip mit σημεῖον (16a6) kontextuell austauschbar. Aber eine andere

Stelle (437a12ff.)

beweist,

daß unter σύμβολον

eine den

Sprachlauten

nicht

wesensgemüfe, vielmehr willkürliche und damit per Konvention festzulegende Beziehung zwischen Laut und Sinn verstanden wird. Von hier aus werden 16a19 und

26-29 verstündlicher, wo das ὄνομα mit dem Begriff σύμβολον als nicht von Natur aus (φύσει), sondern gemäß Verabredung, Übereinkunft (κατὰ συνθήκην) von natürlich bedeutsamen Tierlauten abgesetzt wird. In Richtung Konventionalität weist übrigens auch schon 16a5f.: (konventionelle) Laute und Schriftzeichen können variieren, während der (natürliche) psychische Rezeptionsapparat und die (natür-

Aristoteles (384 — 322)

63

liche) AuBenwelt im Prinzip bei allen Menschen gleich sind. Damit ist natürlich auch

der λόγος [Satz] konventionell bedeutsam (16b33-17a2). Das ὡς ὄργανον [Satz als Werkzeug, Instrument] von 1741 verweist zugleich auf die Lehre vom Wortwerkzeug in Platons Kratylos 386eff. Aristoteles ergreift also in De interpretatione 1-4 — eher thesenhaft als begründend — Partei im Streit um den Konventionalitütscharakter der

Sprachzeichen: Er vertritt die Konventionalitätsthese. Die Versuche, aus der veränderten Formulierung κατὰ συνθήκην (statt συνθήκῃ) einen Neuansatz gegenüber Platons Alternative herauszulesen, haben sich bisher nicht durchsetzen kónnen. Ich

meine vor allem Wolfgang Wielands Versuch (19702, 161-173), die aristotelische Wendung als Hinweis auf ein ‚Übereingekommensein‘ im Sinne einer intersubjektiven Verstündigung (vgl dagegen Tugendhat 1963, 546) und Coserius finalistische

Deutung des κατὰ συνθήκην

als Hinweis auf ein von einer Ausdrucksabsicht

motiviertes, also intentionales Zeichen (Coseriu 19752, 72ff.; 106ff.). In letzter Zeit

ist man im allgemeinen wieder zur einfachen Konventionalitütsthese im traditionellen Sinn zurückgekehrt (Lieb 1981, 154f.; Weidemann 1982, 244, vgl. aber Anm. 19; Oehler 1984, 207; Arens 1984, 37-39). Es sind zum Schluß noch zwei Relationen zu

behandeln, die in 1623-8 nur implizit enthalten sind: (1) Mit dem πρώτως von 16a6 wird eine direkte und eine indirekte semantische Relation unterschieden — insofern,

als Laute / Schriftzeichen primär auf Psychisches und erst sekundär auf AuBerpsychisches verweisen. Man hat darin, wie gesagt, eine Vorwegnahme der modernen

Unterscheidung von Bedeutung und Referenz gesehen (Weidemann 1982, 242). (2) 24b1ff. zeigt, daß der Begriff σύμβολα von 16a4 ursprünglich zur Kennzeichnung der Parallelität von Sprechen und Denken und nicht der Konventionalität dienen sollte. Dies beweist auch der 16a3-8 direkt angeschlossene Gedanke der Parallelitat rein psychischer und lautlich geäußerter Verbindung und Trennung von 16a9ff. Aristoteles steht in diesem Punkt übrigens bis in die Formulierung hinein unter dem Einfluß Platons (vgl. besonders Res publica 2, 382b7-11; weitere Stellen Ax 1986, 105; 146), wobei er keinen Versuch macht, die Parallelitäts- mit der Konventiona-

litätsthese zu harmonisieren.

3.3.2. Sprechen, Denken, Realität Die in De interpretatione 1 festgehaltenen semiotischen Instanzen und Beziehungen bleiben Aristoteles in nahezu allen Schriften bewuBt und werden immer wieder zur Klärung verschiedenster Probleme herangezogen. Es gibt eine beträchtliche Zahl über das gesamte Werk verstreuter Einzelstellen, die das Verhältnis zwischen

lautsprachlichen AuBerungseinheiten (Wort, Satz, Text), gedanklich-begrifflichen Einheiten (Sinn, Begriff, Meinung, Definition etc.) und außerpsychischer Realität (Sachen) wieder aufgreifen und so zur weiteren Differenzierung der lautlich-mentalen (meaning) und sprachlich-dinglichen Relation (reference) beitragen (vgl. dazu vor allem Graeser 1977 und 1978). Aristoteles versucht sogar, seine Beobachtungen zu einem relativ geschlossenen System semantischer Beziehungen auszubauen. Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein. Hier zunächst einige allgemeine Vorbemerkungen. Die drei Instanzen ‚Sprechen, Denken, Realität‘ werden deutlich voneinander geschieden und ihre wechselseitigen Beziehungen je nach den

64

Aristoteles (384 — 322)

Erfordernissen des Kontextes bestimmt. Zunächst zur Referenz: λόγος [geäußertes

Urteil] und δόξα

[bloB gedachtes Urteil] sind wahrheitswertneutral,

ihr Wahr-

heitswert hängt von den Gegebenheiten der Realität ab, auf die sie sich beziehen (,Er

sitzt‘

ist je nach wirklicher Situation ‚wahr‘

unterscheiden

sich

also

Veränderungen

erfahren

insofern kann,

von

vom

oder ‚falsch‘).

πρᾶγμα

denen

dann

[Sache]

λόγος

als

die Qualität

nur der

und das

δόξα πρᾶγμα

beiden

übrigen

Instanzen abhingt (4a21-b13). πρᾶγμα ist also die übergeordnete, verursachende Instanz (αἴτιον 1469-23). Trotzdem besteht im Prinzip Parallelität zwischen λόγος und πρᾶγμα (12b5ff.; 19a32ff.), wenngleich sich sprachliche Verhältnisse nicht mit realen decken müssen (63b23-28). Ebenso klare, teilweise sehr subtile Distinktionen werden zu lautlich-begrifflichen Bedeutungsbeziehungen vorgenommen. Begriffliche Einheiten entsprechen keinesfalls auch lautsprachlichen Einheiten. Ein Begriff (6po¢) kann z.B. durch ein Einzelwort (ὄνομα) oder eine Wortgruppe (λόγος) repräsentiert werden (48a29f.; 49b3ff.), allerdings haben Einzelwort und Wortgruppe einen verschiedenen Bestimmtheitsgrad (184b10f.). Grundsätzlich aber gilt Aquivalenz und damit Austauschbarkeit von ὄνομα und λόγος (101b38ff; 1012a23f.;

1407b26ff.), wobei unter λόγος meist die dem

ὄνομα

zugeordnete

Definition

(ὁρισμός) verstanden wird (93b29ff.; 101b39). Das ist nicht selbstverstándlich, denn

eine Äquivalenzbeziehung kann auch zwischen Titel (ὄνομα) und Text (λόγος) bestehen. Die Ilias ist aber keine Definition (1030a7ff.). Die Definition ist also eine Sonderform des Logos. Für bestimmte Denkoperationen ist es übrigens besser, trotz

Aquivalenz entweder dem ὄνομα oder dem λόγος den Vorzug zu geben, ὄνομα im Syllogismus (49b3ff.) und λόγος in der Definition (149a1ff.). Wichtig ist für das

Verhältnis von ὄνομα und λόγος, und damit für das σημαίνειν überhaupt,

die

schwierige Passage Metaphysica 4 (1006a32ff.). Ein ὄνομα kann zwar viele Bedeutungen, Begriffe (λόγοι) haben, aber diese müssen der Zahl nach begrenzt sein. Eine unendliche Zahl von Bedeutungen würde die Verständigungsfunktion der Sprache aufheben, denn Sprechen und Denken (als Sprechen mit sich selbst) zielen immer auf ein Bestimmtes.

3.3.3. Semantische Relationen

Es folgt eine Skizze des aristotelischen Systems semantischer Relationen. Das Wort ‚semantisch‘ verwende ich dabei als Oberbegriff für die Bedeutungs- und Referenzbeziehung und erinnere noch einmal daran, daß Aristoteles vorwiegend onomasiologisch

verführt,

also

meist

von

der

Sache

her

über

den

Begriff

zur

Bezeichnung kommt. Die aristotelische Semantik ist also eine Gruppierung des Seienden unter dem Aspekt seiner sprachlichen Erscheinungsform. Grundlegend für seine intensiven Bemühungen ist die Einsicht, daß sich die Struktur eines Sach- / Denkbereichs nicht notwendigerweise mit der Sprachstruktur deckt, sondern beide

zum Vorteil besserer Erkenntnis stets gegeneinandergehalten werden müssen. Es ist ihm dabei bekannt, daß der Differenzierungsgrad sprachlicher Bezeichnung von der Vertrautheit mit dem jeweiligen Sachbereich abhängt (vgl. 494b19ff. zu den Kórperteilbezeichnungen). Für Einzelheiten muß auf die weitere ausführliche

Aristoteles (384 — 322)

65

Besprechung der folgenden Begriffe durch Klaus Oehler (1984, werden.

158ff.) verwiesen

3.3.3.1. Anonymie Mit dem Begriff ‚Anonymie‘ (vgl. Bonitz 1870, Eintrag ἀνώνυμος) werden Bezeichnungslücken vermerkt, die sich aus dem Vergleich eines Sachbereichs mit den dafür in der Sprache bereitstehenden Bezeichnungsmóglichkeiten ergeben. Gedacht

ist dabei

fast

ausschlieBlich

an

fehlende

Einzelwórter

(ὀνόματα)

und

hier

insbesondere an fehlende Gattungsnamen. Nicht zufällig wird daher die Anonymie besonders häufig in den biologischen Schriften vermerkt, so z.B. im Bereich geflügelter Tiere (490a12f.) oder lebendgebärender Vierfüßler (490b31ff.). Aber auch beliebige andere Komponenten eines Sachbereichs werden als anonym ausgewiesen, z.B. namenlose Abstrakta wie bestimmte Bewegungsarten (201al2ff.; 226a29ff.) oder aktivierte Sinnesobjekte (426a12ff.). Auch im Tugend-Laster-System der Ethiken werden Anonymien immer wieder notiert (z.B. 1221a3). Hilfsmittel zur Deckung solcher Bezeichnungslücken sind die Wortneubildung (ὀνοματο-ποιεῖν 7a5), die Verwendung einer definierenden Umschreibung (λόγος 41827) oder von Metaphern (1405a35f.). Von den drei Instanzen des Zeichenmodells, ὄνομα [Name],

λόγος [Begriff, Definition] und πρᾶγμα [Sache] her gesehen gilt für die Anonymie:

(Name) ————————-

Begriff —— — — — — Sache

Abb. 7: Schema der Anonymie

3.3.3.2. Homonymie

Homonymie

(vgl Bonitz

Namensgleichheit, ,Lebewesen'

aber

1870, Einträge ὁμωνυμία, Gattungsverschiedenheit

und ,Bild' (7 gemaltes

Lebewesen)

ὁμώνυμος) bezeichnet

(mindestens)

zweier

die

Dinge.

teilen sich im Griechischen

den

Namen ζῷον, aber die damit bezeichneten Dinge gehóren verschiedenen Gattungen an, weshalb sie auch verschieden definiert werden (Cat. 1a1-6). Für das homonym

verwendete ζῷον gilt also: ein Name (ὄνομα), zwei Begriffe / Definitionen (λόγοι): (1) ‚Lebewesen‘, (2) ‚Bild‘, und zwei Dinge (πράγματα): (1) Lebewesen und (2) Bild

(in der Realität). ζῷον ist bereits, wie z.B. auch ὀφθαλμός

als das lebendige,

funktionsfühige Auge im Gegensatz zum blinden oder gemalten Auge (412b18ff.), ein schwer aufzudeckender Sonderfall von Homonymie, weil die beiden Bedeutungen aufgrund einer auf Ähnlichkeit beruhenden Identität (wirkliches / gemaltes Lebewesen / Auge) nahe beieinanderliegen (Aristoteles berücksichtigt keine etymologischen oder bedeutungsgeschichtlichen Vorgänge). Dagegen gibt es deutliche Fälle wie z.B. κλείς [Schlüssel] = (1) ‚Schlüsselbein‘ und (2) , Türschlüssel* (1129a29ff.). Es gilt also für die Homonymie:

Aristoteles (384 — 322)

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Nene τς

Begriff —————

Ding!

Begriff? ——————— ——-

Ding?

Abb. 8: Schema der Homonymie

Der Homonymiebegriff ist von zentraler Bedeutung, denn an zahlreichen Stellen werden Homonymien aufgedeckt, um vor den von ihnen ausgehenden Gefahren unsauberen Denkens und Schließens zu warnen. Zusammenhängend diskutiert wird das Homonymieproblem in der Topik 1,15 (106alff.) und in den Sophistischen Widerlegungen 165b30ff.; 175a36ff.; 177a9ff.) — s. auch 2.1.3.

3.3.3.3. Synonymie

Synonym (vgl. Bonitz

1870, Einträge cvvovupia, συνώνυμος) sind mindestens

zwei Dinge, die mit einem gemeinsamen Namen bezeichnet werden kónnen, aber im Gegensatz zu homonymen Dingen derselben Gattung angehören, also auch nur einen, gemeinsamen Begriff haben (Cat. 126-12). Beispiel ist wieder ζῷον, um zu zeigen, daß man ein- und dasselbe Wort homonym und synonym, also auf gattungsverschiedene und gattungsgleiche Dinge anwenden kann. Das synonym verwendete ζῷον ist also gemeinsamer Name für gattungsgleiche Dinge wie Mensch und Rind. Beide können mit ‚Lebewesen‘ bezeichnet werden, ohne daß die Definition geändert

werden müßte. Es gilt also für die Synonymie:

Ding! Name



ἀρ

Ding? Abb. 9: Schema der Synonymie

Welche Gefahren und Chancen sich aus dieser Unterscheidung für den dialektischen Disput ergeben, zeigt besonders Topica 6,10 (148a23ff.). Neben diesem uns heute fremd gewordenen Synonymiebegriff der Categoriae (bestätigt durch 148a24f. und 162b37f.) kennt Aristoteles auch die uns geläufige Auffassung von Synonymie als der Beziehung zweier oder mehrerer Wörter auf eine Sache (ohne Terminus 10329;

112b21ff. und mit Terminus 1404b39f.). 3.3.3.4. Paronymie Paronym (vgl. Bonitz 1870, Eintrag παρώνυμος) wird ein Ding (D2) genannt, das seinen Namen (N2) von einem anderen Ding (D!) ableitet, das bereits einen eigenen

Aristoteles (384 — 322)

67

Namen (N!) besitzt, von dem (N) sich der abgeleitete Name (N2) dann nur durch eine andere sprachliche Ableitungsform (πτῶσις) unterscheidet (Car. 1312-15). Z.B.

hat der Grammatiker (D2) seinen Namen (N2) von ‚Grammatik‘ (N! von D!) oder der Tapfere (D2) seinen Namen (N2) von ‚Tapferkeit‘ (N! von D). Es gilt also für die Paronymie:

Ν (‚Grammatik‘)



D! (Grammatik)

€-

Y (‚Grammatiker‘) — D?(Grammatiker)

Abb. 10: Schema der Paronymie

Solchen Ableitungen liegen keine linguistisch-morphologischen, sondern rein onomasiologische, sachbezogene Überlegungen zugrunde. Ausgegangen wird von Verhältnissen im Dingbereich, denen dann die Benennungsverhiltnisse parallel entsprechen. Im Dingbereich besteht ein Abhängigkeitsverhältnis von D2 zu D!

insofern, als von DI, einer Eigenschaft, D2, Eigenschaft + Subjekt, abgeleitet ist. Dem entspricht auf der Sprachebene die Ableitung von N? aus N!. Auslóser für den Ableitungsvorgang ist aber D! (nicht N!). Der Paronymievorgang wird noch deutlicher aus Cat. 10a27ff., wo Fälle nicht durchführbarer Paronymien vorgeführt werden. Einerseits kann D! vorhanden sein, aber N! fehlen, wie bei δρομικός [der

Lauffähige], wo N! für ‚Lauffähigkeit‘ fehlt; andererseits kann N! vorhanden sein,

aber nicht zur Ableitung von ΝΖ benutzt werden wie bei ἀρετή

[Tugend]

und

σπουδαῖος [der Tüchtige]. In beiden Fällen wird dann von einem Ersatznamen abgeleitet. Die Paronymie ist also keine Form von Mehrdeutigkeit eines Namens, sondern bezeichnet nur dessen sekundären Ableitungscharakter. Ihre Kenntnis ist ebenfalls wichtig für die richtige Einschätzung der sernantischen und damit auch ontologischen

Verhältnisse,

z.B.

im

Bereich

von

Gattung

und

Art

(109b4ff.;

111a33ff.). Die drei Hauptbegriffe der aristotelischen Semantik bilden also zwei Gruppen: Hom- und Synonymie sind Fälle von Mehrdeutigkeit aufgrund sprachökonomischer Zwänge im Sinne von 165a6ff. Die Paronymie erfaßt Fälle sekundärer Ableitung (anders Oehler 1984, 163ff.). Die ständige Beachtung aller drei Benennungstypen garantiert die Korrektheit und Überlegenheit im Denken, Schließen und Disputieren.

3.3.3.5. Weitere semantische Relationen

(a) Vieldeutigkeit (πολλαχῶς, πλεοναχῶς λέγεσθαι u.ä.). An zahlreichen Stellen wird die vielfache Weise, in der man von einer Sache spricht, semasiologisch ausgedrückt, die Vieldeutigkeit eines Wortes oder Begriffs (Wortgruppe) analysiert, oft durch Proben von der Verwendung des Wortes im Kontext (Satzzusammenhang).

Beispiele für solche Mehrdeutigkeitsanalysen sind 15b17ff. (ἔχειν), 185a20ff. (ὄν), 185b6ff. (ἕν), 210a14ff. (ἄλλο ἐν ἄλλῳ). Das Verfahren der Bedeutungsanalyse,

68

Aristoteles (384 — 322)

d.h. der gliedernden Gruppierung der Bedeutungen eines Wortes / Begriffes, wird als unerläßliche Voraussetzung zur Klarheit des Denkens und zur Erfassung eines Sachbereichs gekennzeichnet (280bIff.; 992b18ff.). Offensichtlich wird dabei die prinzipielle Übereinstimmung von Bedeutungs- und Sachstruktur unterstellt. Die Termini der Vieldeutigkeit kónnen gleichwertig mit dem Terminus ,homonym' verwendet werden (1129a26ff.), aber 110b16ff. zeigt, daß es auch andere als die homonyme Vieldeutigkeit geben kann, z.B. im Bereich der Relativa. (b) Die npóc-Év-Relation. Die omonyme Mehrdeutigkeit beruht auf Zufall, d.h. die von einem Namen bezeichneten Bedeutungen / Dinge sind gattungsverschieden, stehen also in keiner erklarbaren Beziehung zueinander. Dagegen gibt es Falle von Mehrdeutigkeit, bei denen die bezeichneten Bedeutungen / Dinge (wie schon bei der Synonymie) in einer sachlich begründeten Beziehung zueinander stehen, weil ihr

gemeinsamer Name πρὸς ἕν [in bezug auf eines] oder ἀφ᾽ ἑνός [von einem her] verwendet wird. So teilt sich die Vieldeutigkeit (πολλαχῶς λέγεσθαι) als Oberbegriff in (1) die Homonymie und (2) die npóc-Év-Vieldeutigkeit (1003a33ff.). Die Bedeutungen z.B. von ὑγιεινόν [das Gesunde] als (1) Gesundheitbewahrendes (Vorbeugemaßnahme), (2) Gesundheitbewirkendes (Medikament), (3) Gesundheitszeichen (Symptom), (4) Gesundheitstráger (Mensch) stehen in keiner Zufallsbeziehung zueinander, sondern sind durch die Zuordnung zu einem gemeinsamen Sachbereich (ὑγίεια [Gesundheit]) miteinander verbunden. Weitere Informationen bei Hermann Bonitz (1870, Eintrag ὁμώνυμος, 514,61ff.) und ausführlich bei Oehler (1984, 165ff.). (c) Begriffsreihe (συστοιχία). In Topica 2,9 (114a26ff.) werden verschiedene Wörter eines gemeinsamen Sachbereichs unter dem Begriff σύστοιχα, συστοιχία zu einer Begriffsreihe zusammengefaßt, Gerechtigkeit‘, ‚gerecht‘. Das Prinzip

z.B. ‚das Gerechte', ‚der Gerechte‘, ‚die der Zusammenstellung ist ebenfalls wieder

primär sachbedingt, etymologische oder morphologische Kriterien spielen nur eine untergeordnete Rolle. So werden die Adverbien ‚gerecht‘, ‚tapfer‘ u.ä. als Derivationen (πτώσεις) gesondert gekennzeichnet (114a32ff.), aber sie bilden nur eine

Unterart zur Gattung der Begriffsreihe (συστοιχία), der sie untergeordnet werden. Die Systoichie geht nicht auf die Polysemie des Einzelwortes, sondern ist ein Versuch zur Erfassung lexikalischer Relationen auf semantischer, nicht morphologischer Basis. Die Systoichie dient ebenfalls der Argumentationstechnik (114a38ff.;

154a12ff.). Weitere Stellen bei Bonitz (1870, Einträge συστοιχία, σύστοιχος). (d) Amphibolie (ἀμφιβολία). Auf die syntaktische Mehrdeutigkeit, d.h. die Möglichkeit fehlerhafter Interpretation von Satzkonstituenten, wurde schon im Zusammenhang mit De Sophisticis elenchis 4 (166a6ff.) hingewiesen (s. 2.1.3.). (e) ‚Wortfelder‘. Ohne einen Terminus und ohne theoretische Begleitnotizen ist bei Aristoteles ein Streben nach der ErschlieBung eines Sachbereichs mit Hilfe von ‚Wortfeldern‘ erkennbar, von struktureller Aufgliederung eines Sachbereichs durch lexikalische Zusammenstellungen, so z.B. das Feld der Bewegungsarten (122a21ff.), der Gewässerarten (353b17ff.), der Geschmacks- und Farbadjektive (442a12ff.) oder der biologischen Bewegungsarten (639b2ff.).

Aristoteles (384 — 322)

69

Bewegung der Tiere Fliegen

Schwinn

Laufen

^ Kriechen

Abb. 11: Schema des ‚Wortfeldes‘ Bewegungsarten

Solche lexikalischen Reihen sind nicht von Begriffsverwandtschaft wie bei der Systoichie, sondern von der Genus-Spezies-Relation bestimmt. Aristoteles steht hier wie auch sonst oft dicht vor Methoden der Komponentenanalyse der neueren strukturellen Semantik. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist Topica 4,5 (127a4ff.) im Vergleich mit Ernst Leisi (1975, 22).

3.3.4. Morphologische Relationen (πτῶσις) Unter πτῶσις versteht Aristoteles simtliche Flexionsformen, also etwa Kasus und Numerus bei Nomen oder Modi und Tempora beim Verb, ohne allerdings Termini

für die morphologischen Kategorien zu haben (De int. 16a32ff.; 16b16ff.; De poetica 1457al8ff.). Allerdings zeigen Car. 1al3 und andere Stellen (vgl. Bonitz 1870, Eintrag πτῶσις), daß πτῶσις auch eine weitere Bedeutung hat, d.h. jede Art von Ableitung eines Wortes von einem anderen bezeichnen kann, etwa das Wort ‚Grammatiker‘ von ‚Grammatik‘ (1414). πτῶσις umfaßt also nicht nur die Flexion,

sondern auch die Derivation. Wie schon gesagt, ist πτῶσις außerdem eine Unterart der Systoichie.

4. ZUR FORSCHUNGSLAGE

Reichtum und Qualität sprachtheoretischer Ansätze in der Philosophie des Aristoteles stehen auBer Frage. Unter sprachstrukturellem Aspekt gelingen ihm bedeutsame Aussagen zur Natur des sprachlichen Zeichens, er entwickelt ein differenziertes System semantischer Relationen und gelangt im Bemühen um die dihäretische Ausgliederung des Urteils und der Lexis-Teile unter Verwendung hauptsächlich semantischer Kriterien zur Einsicht in die phonematische, morphologische und syntaktische Konstituentenstruktur der Sprache. Zu den strukturellen Ansätzen zählt auch die Kategorientafel, wenn man sie von ihrer linguistischen Seite nimmt. Aus pragmatischer Sicht ist er auf dem Weg zu einem Kommunikationsmodell, zeigt Kenntnis der wichtigsten Sprechakte und verfügt vor allem über eine relativ weit entwickelte Stilistik von Dichtung und Rede. Mit der Verbindung struktureller und stilistischer Aspekte in der Poetik wird er (für uns) zum Vorläufer der spüteren ars grammatica. SchlieBlich führt ihn die biologisch-psychologische Perspektive zu bedeutsamen Charakterisierungen der menschlichen im Gegensatz zur Tiersprache. Dieses beeindruckende Ergebnis sprachphilosophischer Reflexion ist natürlich von der Aristotelesforschung bereits in zahlreichen Beiträgen gewürdigt worden,

die hier nur erwähnt,

aber nicht diskutiert

werden

können.

Den

besten

Aristoteles (384 — 322)

70

Zugang zur Literatur und Forschungsproblematik bieten z.Zt. Flashar (1983, 184f.; 294ff.; 322ff.; 428ff.) und Oehler (1984, passim und 120-151). Gesamtdarstellungen liegen vor von Heymann Steinthal (1971), Pierre Aubenque (1967), Guido Morpurgo-Tagliabue (1967), Richard P. McKeon (1968), Miriam T. Larkin (1971), Walter Belardi (1975), E. Coseriu (19752) und A.E. Sinnott (1989). Weniger gravierende Forschungsprobleme sind etwa die Vorwegnahme von Methoden der strukturellen Linguistik (Tanner 1970; Ax 1978, 245ff. [hier: 19ff.]) oder Aristoteles’ Einstellung zur Konventionalitatsthese (s. 3.3.1.). Von sprachphilosophischer Relevanz ist vor allem eine von Wieland (1962, 141-230; 339f. und 19702 im Nachwort) vertretene These

zur Rolle der Sprache in der Philosophie des Aristoteles, die in

Kernprobleme seines Denkens führt und daher bis heute diskutiert wird. Nach Wieland gewinnt Aristoteles seine Prinzipien aus der Sprachanalyse und deckt damit lediglich die Weise auf, mit der wir unreflektiert von den Dingen sprechen. Die Sprachebene wird nicht verlassen. Sprache und Dinge werden nicht getrennt. Ermittelt werden also vornehmlich Sprach-, nicht Seinsstrukturen (1962, 339), die

zudem noch an die Voraussetzungen historischer Sprachen (Indogermanisch, Griechisch) gebunden sind (1962, 340). Man kann sagen, daß diese Auffassung Wielands heute meist auf Ablehnung stößt, die hier mit Graesers Formulierung wiedergegeben werden soll: Daf den in deskriptiven Sdtzen behaupteten Sachverhalten für Aristoteles reale Strukturen zugrundeliegen, steht außer Zweifel. Ebenso außer Zweifel steht allerdings [...] auch, daß Aristoteles die Art und Weise, wie wir von den Dingen sprechen, an der Art des Gegebenseins der Dinge bemißt, bzw. bemessen wissen will und nicht etwa umgekehrt. (Graeser 1978, 451) Gegen Wielands These (ohne direkten Bezug) argumentiert sehr überzeugend schon Oehler (1963, 20ff.). Weitere Kritik bei Hans Wagner (19792, 337ff.), Heinz Happ

(1971, 47-49; 62), H. Flashar (1983, 184f.; 424) und K. Oehler (1984), der sich auf S. 72f. dagegen ausspricht, „die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie nur noch als sprachliche Phänomene“ und „die aristotelische Philosophie als ein antikes Double der Oxford Ordinary Language Philosophy“ zu werten. In der Tat ist sie, so glaube ich, primár eine Philosophie des Begriffs und der Sache — meist mit Hilfe, aber, wenn es sein muB, auch gegen die Sprache, eine Philosophie jedenfalls der wachen Distanz zu jenem System kollektiv und konventionell vorgegebener, lautfixierter Sinneinheiten, das wir ,Sprache* nennen.

5. LITERATUR ARENS, Hans (1984). Aristotle's Theory of Language and its Tradition. Amsterdam / Philadelphia 1984. AUBENQUE, Pierre (1967). „Aristote et le langage". Annales De La Faculté Sciences Humaines D Aix-en-Provence, Série Classique 43 (1967). 85-105.

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Des

Lettres

Et

Grundbegriffe — aristotelischer

Aristoteles (384 — 322)

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Sprachtheorie: 184f.; 294ff.; 322-335; 428ff.) GRAESER,

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DER EINFLUSS DES PERIPATOS AUF DIE SPRACHTHEORIE DER STOA

Als Zenon von Kition (ca. 333/2 -- 262/1 v.Chr.) etwa um das Jahr 300 seine Vorlesungen in der Stoa poikile in Athen begann, stand der Peripatos unter seinem Leiter Theophrast (ca. 372/69 — 288/5 v. Chr.) ohne Zweifel schon auf seinem Hóhepunkt. 2000 Schüler — so berichtet Diogenes Laertios 5,37 — soll Theophrast gehabt haben, eine eindrucksvolle Zahl, auch wenn man die Gesamtzahl seiner Schüler, nicht die Besucherzahl einzelner Kurse darunter versteht. Daß er jedenfalls mehr Hörer als Zenon hatte, wissen wir von Zenon

selbst.! Es dürfte von vornherein einleuchten, daß eine derart

angesehene und erfolgreiche Philosophenschule auf die sich zu dieser Zeit erst etablierende Stoa Zenons ihren Einfluß ausübte, auch wenn

für die älteren Stoiker, etwa für

Zenon und Chrysipp (ca. 282/77 — 208/4 v. Chr.), kein peripatetisches Studium bezeugt

ist.2 Bevor ich jedoch auf diesen Einfluß unter dem Lemma Sprachtheorie zu sprechen komme, muß ich einige zeitliche und sachliche Präzisierungen vorausschicken, zunächst eine zeitliche. Ich beschränke mich auf den Zeitraum der sog. Älteren Stoa, also auf die

Zeit von etwa 300 bis zum Tod des Diogenes von Babylon (ca. 240 — ca. 150 v. Chr.). Diese Eingrenzung ist dadurch begründet, daß die stoische Sprachtheorie zur Zeit der

bekannten und einfluBreichen τέχνη περὶ φωνῆς des Diogenes etwa um 200 v. Chr. den Punkt einer gewissen Fertigkeit im Ausbau des sprachbeschreibenden Systems, zugleich auch der Bestandsaufnahme

des bis dahin Erarbeiteten erreicht hatte, den Punkt also,

von dem aus die Wirkung auf die pergamenische und alexandrinische Grammatik beginnen konnte. Entsprechend kommen natürlich nur Peripatetiker bis zu diesem Zeitpunkt (um 200 v. Chr.) für mein Thema in Frage. Es genügt zweitens von der Sache her nicht, den peripatetischen EinfluB einfach nur zu unterstellen, er muB auch nachgewiesen werden. Hier gibt es, wie man sich denken

kann, aufgrund der Überlieferungslage Schwierigkeiten, Schwierigkeiten, die so groB sind, daß sie bekanntlich Sandbach (1985) dazu geführt haben, den älteren Stoikern die Kenntnis der Lehrschriften des Aristoteles fast vollständig abzusprechen.? Tatsächlich hat man es nur selten bei einer Wirkung des Peripatos auf die Stoa mit individuellen Namen und einem festumrissenen Sachproblem zu tun wie z.B. bei der Übernahme der vier virtutes dicendi Theophrasts durch die Stoiker und deren Erweiterung um die ovvtopia / brevitas. Vielfach ist man nur auf allgemeine Lehrzusammenhänge und

1

2

3

Vgl. Flashar (1983) 464. Die hier vertretene Meinung,

„nach

einer ÁuBerung

Zenons

von

Kition

besuchten einzelne Kurse Theophrasts mehr Hörer, als die Stoa zu seiner Zeit Schüler besaß“, geht m.E. weder aus Regenbogen (1940) 1358 noch aus dem dort angeführten Zenonzitat hervor. Zenon hórte bei dem Kyniker Krates von Theben, bei dem Megariker Stilpon und bei den Akademikern Xenokrates und Polemon (vgl. D.L. 7,1-5 = FDS 99). Chrysipp hórte den Akademiker Arkesilaos, der immerhin zuerst ein Schüler Theophrasts war. Vgl. D.L. 7,179-185 = FDS 154 und unten Anm. 49. Vgl Sandbach (1985) 55.

74

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

Gruppenangaben wie die Stoiker und die Peripatetiker angewiesen, Angaben, wie man sie z.B. häufig in Ciceros philosophischen Schriften findet, etwa in der Kritik von Fin. 4,2ff., die Stoiker hätten die Lehre der Peripatetiker nicht in der Sache, sondern nur in

der Terminologie erneuert. In nicht wenigen Fällen läßt sich ein Zusammenhang überhaupt nur durch den Vergleich von stoischen mit peripatetischen Lehrmeinungen erschließen, ohne daß man einen Nachweis über den konkreten Weg dieses Einflusses über bestimmte

Autoren

und

Texte

führen

kónnte,

wie z.B.

im

Fall

der

stoischen

Zeichen-, Kasus- und Tempustheorie. Ich werde noch darüber berichten.

Zu prüzisieren ist drittens der Begriff Sprachtheorie der Stoa. Ich meine damit stoische

Überlegungen

z.B.

zum

sprachlichen

Zeichen

allgemein,

Relationen sprachlicher Zeichen, zur Konstituentenstruktur

zu

semantischen

der Sprache (Laut, Wort,

Inn 4

Satz, Text), zu morphologischen Kategorien wie Kasus und Tempus u.ä. Es ist dabei zu beachten, daß diese Themenreihe auf einer vom heutigen Verständnis des Begriffs Sprachtheorie geprügten, durchaus unhistorischen Auswahl beruht, denn die hier genannten Gegenstände erscheinen in der antiken Lehre in völlig anderen, z.T. disparaten Beschreibungszusammenhingen, z.B. die Kasuslehre nicht im Kapitel der Wortarten, sondern in dem der unvollständigen Lekta. Außerdem deckt sich der Begriff Sprachtheorie nicht mit dem weiteren stoischen Begriff der διαλεκτική, ähnlich wie sich der antike Terminus γραμματική nicht mit unserem engen Begriff Grammatik deckt. Zum Schluf ist noch zu fragen, was wir eigentlich an sprachtheoretischen Texten der gewünschten Art vom Peripatos und den Stoikern heranziehen kónnen. Im Peripatos ist es aus Überlieferungsgründen in der Hauptsache Aristoteles, denn schon von Theophrast sind nur wenige Fragmente erhalten, die für diesen Zweck geeignet sind. Von den spiteren Peripatetikern nach Theophrast gibt es mit Ausnahme vielleicht von Eudemos von Rhodos? (* um 350 v. Chr.) kaum nennenswerte sprachtheoretische Beiträge. Pseudo-Demetrios’ De elocutione scheide ich dabei aus, weil die Spätdatierung auf das 1. / 2. Jhdt. n. Chr. nicht auszuschließen ist.6 Auf Seiten der Stoiker ist bekanntlich keine sprachtheoretische Schrift im Originalwortlaut erhalten. Ich stütze mich in der Hauptsache auf das Dialektikreferat in der Zenon-Vita des Diogenes Laertios (7,38-83) und dazu vor allem auf die Fragmentsammlung von Hülser." Diesen Voraussetzungen entsprechend gebe ich also jetzt zunächst einen knappen AbriB der sprachtheoretischen Ansátze des Aristoteles und Theophrast, um dann einen Durchgang durch die stoische Sprachtheorie zu machen — jeweils mit dem Vermerk peripatetischer Einflüsse. Die erhaltenen Lehrschriften des Aristoteles weisen eine Fülle sprachtheoretischer Beobachtungen auf, die sich zu einigen wenigen zusammenhängenden Passagen verdichten, meist aber in einer Vielzahl von Einzelanmerkungen über das gesamte Werk

Vgl. FDS 252 und die weiteren unter 1.3.5 gesammelten Fragmente 248-254.

Vgl. Wehrli VIII 25-29 und Flashar (1983) 530f. Vgl. Fiashar (1983) 546. Vgl. FDS.

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

75

verstreut sind.8 Herausragende sprachbeschreibende Partien sind bekanntlich die Kapitel 1-4 der Kategorien, De interpretatione 1-4, Poetik 19-22 und Rhetorik III 1-12. Die hier und im Verlauf des gesamten Werkes vorgetragenen sprachtheoretischen Beobachtungen erwachsen hauptsächlich aus Beschreibungszusammenhängen 1. der Biologie und Psychologie, 2. der Logik und 3. der Poetik und Rhetorik. Sie betreffen genauer die Sprache als das Produkt einer Lauterzeugung, also den lautphysikalischen bzw. -physiologischen Aspekt, die von den sprachlichen Lautzeichen symbolisierten Denkinhalte und -operationen, also den logisch-semantischen Aspekt und die situations- und gattungsgerechte Sprachverwendung in Dichtung und Rede, also den stilistischen bzw. pragmatischen Aspekt der Sprachreflexion. Aus diesen Beschreibungszielen heraus gelingen Aristoteles wichtige Einsichten in die biologisch-psychologische (Sprache als Naturphänomen), pragmatische (Sprache als Kommunikationsvorgang) und semiotisch-strukturelle (Sprache als Zeichensystem) Eigenart der menschlichen Sprache. Nach diesen drei Aspekten werde ich im folgenden vorgehen. Zur generellen Zielsetzung der sprachtheoretischen Beobachtungen des Aristoteles sei vorausgeschickt, daß es ihm in erster Linie nicht um die Sprache selbst ging, sondern um die Sache, die in der Sprache zur Darstellung gelang. Er war kein Linguist, sondern stets bemüht, den jeweiligen Objektbereich mit Hilfe der Sprache, insofern sie dessen Strukturen widerspiegelt, ebensogut aber auch gegen die Sprache, insofern sie solche Strukturen verdeckt und ihrer Erkenntnis hinderlich im Wege steht, beschreibend zu erfassen.

Zum biologisch-psychologischen Aspekt

kann ich mich hier kurz fassen, weil ich

darüber an anderer Stelle ausführlich berichtet habe.!0 Aufgrund wahmehmungstheoretischer und zoologischer Überlegungen bestimmt Aristoteles dihäretisch das Geräusch (ψόφος) als Kollision fester Körper und als spezifisches Objekt des Gehórs, die Stimme (φωνή) als kommunikativen, mit dem Atmungsapparat erzeugten Laut eines Lebewesens

und die Sprache (διάλεκτος) als artikulierte Stimme (s. Anhang Nr. 1).!! Stimmliche Artikulation und Kommunikation erreicht nur der Mensch

sind also Mensch

und Tier zugänglich. Allerdings

den Logos, der semantisch durch besondere Inhalte (ethisch-

rationaler Art) und semiotisch durch konventionelle Bedeutsamkeit und phonematische Struktur (Kombinierbarkeit der Sprachlaute) von der Tiersprache abzusetzen ist. Unter dem pragmatischen Aspekt wird in Rhetorik I 3 ansatzweise ein sprachliches Kommunikationsmodell entwickelt, aus dem die drei Redegattungen, die Beratungs-, Gerichts- und die Festrede, als Varianten dieses Modells hergeleitet werden (Anhang Nr. 2.1). Hierher gehórt auch seine Kenntnis der wichtigsten Sprechakte. In der 8

Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf meinen 1986 verfaßten ausführlichen Artikel „Aristoteles“, erschienen in: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK), Bd. 7, 1. Halbband, Sprachphilosophie, hrsg. v. M. Dascal u.a., Berlin 1992, 244-259 [hier: 48ff.].

9 10

Oehler (1986) 102. Vgl. Ax (1978 [hier: 19ff.]) und (1986) 121fF.

11

Ich habe die Grafiken und Begriffszusammenstellungen zugunsten der besseren Übersicht und eines bequemen Vergleichs zwischen Peripatos und Stoa am Ende des Aufsatzes zusammengefaBt. Im Text wird auf sie durch den Hinweis „Anhang Nr.“ verwiesen.

76

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

Ausgliederung des Urteilssatzes in Kap. 4 von De interpretatione wird exemplarisch nur die Bitte (εὐχή) genannt. Ausführlicher erscheinen sie im 19. Kapitel der Poetik, wo

Befehl, Bitte, Bericht, Drohung, Frage und Antwort als σχήματα τῆς λέξεως erwähnt werden (Anhang Nr. 2.2). Die Art der Behandlung solcher Phánomene zeigt allerdings, daß Aristoteles sie kannte, aber nicht an einer systematischen Erfassung dieses Bereichs interessiert war. In diesen Zusammenhang gehórt auch die z.T. schon sehr differenzierte Stilistik von Dichtung und Rede im 22. Kap. der Poetik und in der Rhetorik III 1-12. Hier geht es um den richtigen, der jeweiligen Sprechsituation und Wirkungsabsicht

angemessenen Einsatz sprachlicher Mittel (ἀρετὴ τῆς λέξεως) unter Anwendung der Stilnormen Klarheit (σαφές), Sprachrichtigkeit (ἑλληνίζειν) und Angemessenheit (πρέπον) (Anhang Nr. 2.3). Der bedeutendste Aspekt ist der semiotisch-strukturelle Aspekt. Darunter gelingen Aristoteles bedeutsame Aussagen zur Natur des sprachlichen Zeichens, er entwickelt ein differenziertes System semantischer Relationen und gelangt im Bemühen um die diháretische Ausgliederung des Urteils in der Logik und der Lexisteile in der Poetik unter Verwendung hauptsüchlich semantischer Kriterien zur Einsicht in die phonematische, morphologische und syntaktische Konstituentenstruktur der Sprache. Die wichtigste AuBerung zur Natur des sprachlichen Zeichens findet sich bekanntlich am Anfang von De interpretatione (Anhang Nr. 3.1). Aristoteles unterscheidet hier, vereinfacht formuliert,

vier an der Konstitution

des

sprachlichen

Zeichens

beteiligte

Instanzen: Schrift, Laut, Psyche und Dinge. Zugleich wird der Charakter dreier Beziehungen zwischen diesen Instanzen angedeutet: a und b = Zeichen, Symbol von und c = Bild von. Ich kann auf die vielfältigen Probleme der Instanzen und Relationen dieses Zeichenmodells hier nicht eingehen, sondern versuche nur, mit dem Beispiel des Zeichens Stein zu illustrieren, was in etwa gemeint ist. Die in De interpretatione festgehaltenen semiotischen Instanzen und Beziehungen bleiben Aristoteles in nahezu allen Schriften bewußt und werden immer wieder zur Klárung verschiedenster Probleme herangezogen. Er versucht sogar, entsprechende Beobachtungen zu einem relativ geschlossenen System semantischer Relationen auszubauen.!2 Solche Beziehungen sind vor allem die Anonymie, die Homonymie, die Synonymie und die Paronymie (Anhang Nr. 3.2). Ich kann auch hier leider nicht auf Details eingehen. Die Konstituentenstruktur der Sprache wird vor allem in /nt. 1-4 und Poet. 20

behandelt.!3 Am Anfang von Int. geht es um die das Gesamtthema λόγος ἀποφαντικός (= Aussage, Urteil) vorbereitenden Definitionen des Logos und seiner Teile. Mit verschiedenen Differenzen wird der Urteilssatz (ἀπόφανσις) über die Stationen ὄνομα

(Nomen), ῥῆμα (Verb) und λόγος (sinnvolle Wortgruppe, Satz) dihäretisch ausgegliedert 12 13

Vgl. Kategorien, Kap. 1. Die in Cat. 1-4 entwickelte Kategorientafel ist nicht ohne weiteres nur als das Ergebnis einer linguistischen Klassifikation (Konstituenten des Aussagesatzes) zu verstehen. Sie reprüsentieren ebensogut Typen der Prüdikation und Gattungen des Seienden, gehóren also nicht unmittelbar in diesen Zusammenhang.

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

77

(Anhang Nr. 3.3). Dieses System verbleibt noch ganz im Bereich sinnvoller Stimmlaute. Dagegen wird der Gattungsbereich in dem erheblich differenzierteren (und deshalb wohl auch jüngeren) System der Poetik auch auf nichtsemantische Lautgenera erweitert. Ich

meine das bekannte Verzeichnis der μέρη τῆς λέξεως (der Sprachsegmente) in Form einer Sprachkonstituentenanalyse in aufsteigender Linie vom kleinsten, dem Laut (στοιχεῖον), bis zum grófiten Segment, dem λόγος (sinnvolle Wortgruppe, Satz, Text) im 20. Kapitel der Poetik (Anhang Nr. 3.4). Hier werden mit bestimmten Differenzen acht μέρη τῆς λέξεως dihäretisch gruppiert: 1. Laut (στοιχεῖον), 2. Silbe (συλλαβή),

3. Konjunktion (σύνδεσμος), 4. Artikel (ἄρθρον), 5. Nomen (ὄνομα), 6. Verb (ῥῆμα), 7. Flexionsform (πτῶσις) und 8. Wortgruppe, Satz, Text (λόγος). Diesem Verzeichnis läßt sich übrigens die Zahl der Wortarten nicht entnehmen, weil das ἄρθρον heute meist für interpoliert gehalten wird, vor allem aber, weil Aristoteles nicht klar erkennen läßt,

ob er seinem System einen Begriff Wortart im Sinne eines Konstituenten

des Logos

unterstellt, und wenn ja, ob er dann nur dem ὄνομα und dem ῥῆμα oder auch schon dem

σύνδεσμος den Status einer Wortart zuerkennt.!4 Spätere Autoren sprechen ihm die Kenntnis dreier Wortarten zu.!5 Soviel zum sprachtheoretischen Beitrag des Aristoteles. Von Theophrast läßt sich in diesem Punkt aus den genannten Gründen sehr viel weniger sagen. Er hat sich sicher im Anschluß an Aristoteles auch mit sprachtheoretischen Fragen beschäftigt. Wie intensiv und in welcher Gewichtung der drei Aspekte der aristotelischen Sprachtheorie, läßt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren. Daß ihm die biologisch-psychologischen Beob-

achtungen seines Lehrers bekannt waren, zeigt das Fragment De sensibus.!6 Andere Zeugnisse lassen erkennen, daß er auch semiotisch-strukturelle und insbesondere pragmatisch-stilistische Fragen erürterte. Das zeigen vor allem die Fragmente, die sich -

meist nicht zweifelsfrei — der Schrift περὶ λέξεως oder zumindest ihrem Themenbereich zuordnen lassen.!? Der pragmatisch-stilistische Aspekt scheint demnach vorrangig gewesen zu sein, und wie bei Aristoteles stehen solche Beobachtungen im Kontext der Poetik und Rhetorik. Grundlegende Aussagen macht das Fragment 1 Graeser (Ammonius, in Int. 65,31-66,10): Der Sprecher bezieht sich mit einer jeweils verschiedenen Wirkungsabsicht primär auf den Hörer oder auf die Sache.!8 Die erste Beziehung ist Sache der Poetik und 14

15

Die Konjunktion ist Poet. 20 φωνὴ ἄσημος, also ein Teil der Lexis und noch kein (bedeutungsvoller) Konstituent des Logos. Dies sind nur ὄνομα und ῥῆμα (vgl. auch RA. I 2, 1404b26f.). Wenn später Aristoteles drei Wortarten (partes orationis) zugeschrieben werden (s. die folgende Anm.), müBte er einen ungenannten Wortartenbegriff zugrunde gelegt haben, unter dem bedeutungslose (Konjunktion) und bedeutsame Redesegmente (Nomen, Verb) zu einer neuen Gruppe Wortarten zusammengefaßt werden, die nicht mit den Teilen der Lexis identisch ist, denn dazu zäklen auch Laute und Silben. Einen derartigen, rein impliziten Wortartenbegriff zu unterstellen, ist aber von der aristotelischen Dihärese der Lexisteile her gesehen nicht gerechtfertigt. Vgl. Dionys v. Halikarnass, Comp. 2 und Quint. /nst. 1,4,18.

16 17

Vgl. Ax (1986) 6Off. Vgl.Flashar (1983) 499f.

18

"Vgl. Graeser (1973)

F 1 und das Kommunikationsdreieck Anhang Nr. 2.1.

Speziell

zu diesem

78

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

Rhetorik, die zweite die der Philosophie (Anhang Nr. 4.1). Entsprechend unterschiedlich ist der Einsatz sprachlicher Mittel. Der Redner will zum Zwecke der Überredung die Affekte des Hörers ansprechen, verwendet daher bestimmte Strategien in Wortwahl und Wortfügung und hilt sich an die rhetorischen virtutes dicendi. Dem Philosophen geht es um die Sache, um das Wahre und Falsche, und dazu braucht er klare, einfache Urteilssätze. Damit sind auch schon die im einzelnen nicht immer klar bestimmbaren

Gegenstände der Schrift περὶ λέξεως umrissen. Es geht wie bei Aristoteles um die λέξις, den situations- und wirkungsangemessenen Einsatz von Sprache in Dichtung und Rede.

Einsatzgebiete sind dabei die Wahl der Wörter (ἐκλογὴ ὀνομάτων), deren angemessene Verbindung (ἁρμονία) und die Verwendung von Figuren (σχήματα). Geregelt wird der Einsatz durch die vier Stilnormen 'EAAnviouóc, σαφήνεια, πρέπον und κατασκευή, d.h. durch den später höchst einflußreichen Katalog der vier ἀρεταὶ λέξεως / virtutes dicendi:

puritas, perspicuitas, aptum und ornatus (Anhang Nr. 4.2).!9 Spuren semiotisch-struktureller Sprachbetrachtung finden sich in der Paraphrase einer Porphyriosstelle bei Simplikios (in Cat. 10,20ff.), und sie sind wie in Aristoteles' Poetik 19-22 in charakteristischer Verbindung den stilistischen Erörterungen zu den

ἀρεταὶ λέξεως vorgeschaltet. Die thematischen Parallelen zur Poetik sind in der Tat erstaunlich, denn wenn Porphyrios hier tatsächlich dem Aufbau von περὶ λέξεως folgt, hat Theophrast wie Aristoteles zunächst über die μέρη λέξεως (10,24-27 = Poet. 20), dann über die Wortschatzgliederung (10,27-29 — Poet. 21) und schlieBlich über die virtutes dicendi gesprochen (10,30-11,1 = Poet. 22). Er ware dann Aristoteles im Prinzip gefolgt und hatte nur auf Systematisierung und Prüzision gezielt. Dafür sprechen sehr die Andeutungen zu den Lexis-Teilen bei Porphyrios. Ich hatte schon auf die Unschärfe des 20. Poetik-Kapitels im Hinblick auf den Wortartenbegriff verwiesen. Dies scheint schon Theophrast bemerkt zu haben, denn er unterscheidet jetzt genauer zwischen den μέρη

λέξεως und den στοιχεῖα λόγου. Zur Lexis gehórt jede Art von Lautgenus wie Artikel, Konjunktion, Nomen und Verb, nicht aber ohne weiteres zum Logos. Dessen Elemente sind zunichst nur Nomen und Verb, ob auch der Artikel oder die Konjunktion, ist

dagegen durchaus fraglich. Leider erfahren wir nicht, wie sich Theophrast in dieser Frage entschieden hat. Mit dem Begriff der στοιχεῖα λόγου ist jedenfalls die Kategorie der Wortarten neu eingeführt und damit ein wichtiger Fortschritt gegenüber Aristoteles erreicht. Außerdem scheint für Theophrast damit die Kenntnis des Artikels (ἄρθρον) gesichert (Anhang Nr. 4.3). Ich komme jetzt, wie versprochen, zu den Stoikern. Hauptquelle ihrer „Sprachtheorie“ ist — ich erwähnte es schon — das Dialektikreferat bei D.L. 7,43-82, insbesondere das Dioklesfragment 7,49-82. Trotz aller Probleme im Detail läßt sich daraus bekanntlich die Position der Dialektik in der stoischen Philosophie insgesamt, aber auch ihre interne Disposition erschlieBen. Ich habe sie im Anhang unter Nr. 5.1 Fragment vgl. jetzt Fortenbaugh (1990).

19

Zu den Ausgaben der Fragmente und Rekonstruktionsproblemen der Schrift περὶ λέξεως vgl. vor allem Stroux (1912), Regenbogen (1940) (1985).

1527-32, Flashar (1983) 476,

499f.,

S21f. und

Innes

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

79

darzustellen versucht. Die Dialektik ist demnach die Schwesterdisziplin der Rhetorik unter dem Dach der Logik. Sie selbst gliedert sich — ich vernachlässige die

Erkenntnistheorie (7,49-54) — in einen significans- (σημαῖνον, φωνή) und einen significatum-Teil (σημαινόμενον, Aextóv). Unter beiden Lemmata wird Sprachtheoretisches in unserem

Sinn abgehandelt,

unter dem

significans-Aspekt

zunüchst

als

einleitender Teil die linguistisch relevanten Stimmgenera: φωνή, λέξις, λόγος und διάλεκτος (7,55-57), dann 56/7 die Lautlehre (elementa dictionis στοιχεῖα λέξεως), die Wortartenlehre (elementa orationis / pépn λόγου) 57/8, die virtutes et vitia orationis (ἀρεταί und κακίαι λόγου) in 7,59 und schlieBlich weitere Begriffe der Dialektik (60-

62).20 Im significatum-Teil wird zunächst das Aextöv bestimmt und unterteilt (63) und dann die unvollständigen (λεκτὰ ἐλλιπῆ ,-κατηγορήματα) in 7,64 und 7,65-82 die

vollständigen Aextá (A. αὐτοτελῆ, z.B. ἀξίωμα) behandelt. Diese Übersicht soll nun als Leitfaden dienen, um den peripatetischen Einfluß auf die stoische Sprachtheorie zu ermitteln. Unter diesem Aspekt muß ich zuerst eine Bemerkung zur Gesamtdisposition der stoischen Dialektik, insbesondere ihres περὶ qovfjg-Teils machen. Wenn man das gesamte Dialektikschema überblickt und mit dem vergleicht, was wir über die Behandlung entsprechender Themen im Peripatos wissen, so fällt auf, daß sich die Stoiker bemüht haben, frühere sprachtheoretische Ansütze aus disparaten Beschreibungszusammenhingen zu lósen und zu einer geschlossenen Sprachbeschreibung unter dem Dach der Dialektik zu integrieren. Besonders deutlich wird dies aus dem περί qovfic-Teil. Die linguistischen Grundbegriffe des einleitenden Abschnitts enthalten, wie wir noch sehen werden, Bezüge zum platonischen und vor allem zum aristotelischen de

voce-Komplex, der aus dem Kontext naturwissenschaftlicher Schriften stammt.2! Die beiden nüchsten Kapitel der Sprachkonstituenten und Stilvorzüge bzw. -fehler gehóren jedenfalls im Peripatos, wie wir gesehen haben, in die Poetik und Rhetorik. Die Stoiker hätten

also

in

der

Absicht,

ihre

sprachbeschreibende

Dialektik

ab

ovo

aus

den

akustischen Grundlagen herzuleiten, den naturwissenschaftlichen de voce-Komplex in ihre Dialektik überführt, und zwar auf den Anfang der significans-Seite, um ihn dann mit

einem anderen peripatetischen Komplex, den μέρη und ἀρεταὶ

λέξεως

aus dem

poetischen und rhetorischen Kontext, zu einer neuen Beschreibungseinheit zu verbinden. Wie weit hier allerdings die stoische Eigenleistung geht, ist schwer festzustellen. Der Beginn der Dialektik a voce, und damit auch die Transposition naturwissenschaftlicher Gedankengänge in die Dialektik, ist sicher älter als die stoische Dialektik-Version, denn

beides ist schon für Xenokrates belegt. Ob aber auch schon Xenokrates seinen einleitenden gwvn-Teil mit einer Sprachkonstituentenreihe und einer Stilistik verbunden hat, muß aus Uberlieferungsmangel offen bleiben. Eine solche Verbindung könnte also

20

Ich folge hier der traditionell üblichen Gliederung des stoischen τόπος περὶ φωνῆς. Eine neue

21

Einteilung schlágt Schenkeveld auseinandersetzen kann. Vgl. Ax (1986) 176.

(1990)

vor,

mit

der ich

mich

aus

Platzgründen

hier

nicht

80

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

tatsächlich ein stoischer Neuansatz sein, der in diesem Fall auf peripatetische Einflüsse

zurückzuführen wire.22 Als

nächstes

ist

die

Dichotomie

der

Dialektik

in σημαῖνον

/ φωνή

und

onpoivopevov / λεκτόν zu betrachten.23 Sie ist sehr wahrscheinlich eine stoische Innovation und verdankt ihre Existenz dem in hellenistischer Zeit offenbar nicht seltenen Versuch einer Sprachzeichenanalyse, die aus der Diskussion

um den Sitz des Wahren

und Falschen erwachsen ist.24 Zu diesem Zweck wurde von den Stoikern ein Modell des sprachlichen Zeichens (λόγος) entwickelt, das vier Instanzen umfaßte, zwei innersprachliche, Laut und Bedeutung, und zwei auBersprachliche, vom

Sprachzeichen

betroffene, aber von ihnen unabhängige Instanzen. Nur das Aexıöv ist dabei sicher unkórperlich (Anhang Nr. 5.2). Wenn man dieses Zeichenmodell mit dem des Aristoteles (Anhang

Nr.

3.1) vergleicht,

fällt sofort

ein Fortschritt

auf stoischer

Seite auf,

die

zusätzliche Instanz des Aextóv. Bei Aristoteles gibt es noch keine eigene Instanz Bedeutung. Die Laute werden zwar den psychischen Inhalten in einer Zeichenrelation zugeordnet, aber es bleibt ungeklärt, wie diese psychischen Inhalte dann im Kommunikationsvorgang vom Sprecher dem Hórer vermittelt und von diesem mit Hilfe der übermittelten Sprachlaute aktiviert, also verstanden werden. Die psychischen Inhalte, geschweige denn die Objekte selber werden ja beim sprachlichen Vermittlungsvorgang nicht transportiert, man braucht also eine zusätzliche Instanz, und das ist die den Lauten anhaftende Bedeutung, die vom kompetenten Sprecher, nicht aber vom sprachunkundigen Ausländer verstanden wird. Diese Instanz kann dann natürlich nur immateriell sein, denn außer den Lauten wird im Sprechvorgang nichts Materielles

übermittelt.) Ob diese Verbesserung in direkter Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Zeichentheorie

erzielt

wurde,

entzieht

sich

unserer

Kenntnis.

Ich

habe

früher

vermutet,26 daf sich die Stoiker hier wahrscheinlich sophistischen Überlegungen, z.B. des Gorgias, angeschlossen haben. In jedem Fall ist es ein sachlicher Fortschritt im Vergleich zu Aristoteles. Die nächste Station unserer Übersicht über die stoische Dialektik ist die Einführung

der vier Lautgenera φωνή, λέξις, λόγος und διάλεκτος am Anfang des περὶ poviic-Teils (Anhang Nr. 5.1). Ich habe früher ausführlich darüber berichtet und kann mich daher hier

kurz fassen.27 Der fragliche Abschnitt im Dioklesfragment folgt im Prinzip der τέχνη περὶ φωνῆς des Diogenes von Babylon und gliedert sich in einen pwvy-Definitions- und einen Dihäreseteil. Ich habe damals ermitteln können, daß Diogenes sich hier jeweils durchaus 22 23 24 25

26 27

der älteren

stoischen

Lehrtradition

verpflichtet

fühlt,

aber

doch

auch

zu

"Vgl. Frede (1978) 50 und Ax (1986) 159-162. Vgl. Ax (1986) 154-6. Vgl. vor allem Sextus Empiricus, M. 8,11ff. und Ax (1986) 154, Anm. 72. Vgl. Ax (1986) 156, Anm. 78 und LS Vol. I 201. Diese Auffassung, wenn sie denn wirklich stoisch sein sollte (vgl. z.B. Ammonius, /nt. 17,20-28 = FDS 702), kann natürlich vom Erkenntnisstand der heutigen Linguistik her gesehen, die die Begriffe Kode oder Kompetenz zur Erklärung heranzieht, nicht mehr überzeugen. Vgl. Ax (1986) 156, Anm. 78. Vgl Ax (1986) 151ff.

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

bemerkenswerten

Überarbeitungen und Prüzisierungen kommt,

81

die unzweifelhaft auf

peripatetischen, genauer sogar auf aristotelischen EinfluB zurückzuführen sind. So ist z.B. der zweite Teil seiner pwvi-Definition von Aristoteles De anima II 8 wörtlich

übernommen.29 Auch die Bemerkungen zur Physiologie und Psychologie der Stimme in 7,55 stehen unter dem Einfluß des Aristoteles, mit dessen Hilfe frühere stoische Ansätze

zur Trennung von Mensch- und Tiersprache präzisiert werden.2? Ein ähnliches Bild ergibt die gwvij-Dihärese von 7,56-57.30 Diogenes hat in seiner τέχνη περὶ φωνῆς einleitend eine Begriffsreihe eingeführt, die in einem dihäretischen Dreischritt zum eigentlichen Beschreibungsobjekt der Dialektik, dem λόγος, führen sollte. Es sind die

Lautgenera φωνή, λέξις und λόγος (διάλεκτος steht außerhalb der Dihärese) (Anhang Nr. 5.3). Dabei muß er zunächst ein älteres stoisches System akademischer Prägung vorgeführt und diesem dann in präzisierender, wenn nicht gar korrigierender Absicht ein eigenes peripatetisch beeinflußtes System angeschlossen haben. Auf Aristoteles geht dabei die Verwendung des akustischen Dihäreseverfahrens und der speziesbildenden Differenz der Artikulation zurück. Aristotelisches wird allerdings nicht einfach übernommen, sondern auch nach Inhalt und Terminologie weiterentwickelt, denn die Differenzen Artikulation und Bedeutung werden bei Diogenes umgekehrt und so die Aristoteles noch fremde Einsicht gewonnen, daß dem artikulierten Stimmlaut Logos ein

ebenso artikulierter, aber sinnloser Stimmlaut an die Seite zu stellen ist.3!

Ich habe 198632

versucht, das stoische System

φωνή-λέξις-λόγος

auf zwei

AnstóBe zur Erweiterung und Verbesserung der Sprachkonstituentenanalyse des Aristoteles zurückzuführen. Der erste Anstoß könnte darin gelegen haben, daß der λόγος, das Beschreibungsziel der Dialektik, bei Aristoteles noch keiner vollständigen dihäretischen Begriffsreihe der Akustik eingegliedert war, denn die biologisch-psychologische Dihärese führt nur bis zur διάλεκτος und die Systeme von De interpretatione

und der Poetik reichen nur bis zur φωνὴ σημαντική bzw. zur φωνὴ συνθετή (= λέξις), schlieBen also schon die reine φωνή aus (vgl. Anhang Nr. 3.3 und 3.4). Der zweite AnlaB führt m.E. eindeutig auf Aristoteles. Wenn man das System der Poerik (Anhang Nr. 3.4) mit dem stoischen System vergleicht, so fällt sofort auf, daß bei Aristoteles die spätere

stoische Differenzierung von λέξις und λόγος bereits im Keim angelegt ist. Die Sprache konstituiert sich aus semantischen und asemantischen Lautgebilden insofern, als unter die umfassendere, semantisch neutrale λέξις der stets semantische λόγος tritt. Die Stoiker haben diesen bei Aristoteles nur zwischen den Zeilen stehenden Ansatz zu einer Beschreibung der Sprache als eines Doppelelementsystems phonetischer und semantischer „Atome“ (Anhang Nr. 5.4) ausgebaut. Im stoischen System sind λέξις und

λόγος zwei Lautgenera, die jeweils bis auf letzte, nicht mehr aufteilbare Elemente segmentierbar sind, nämlich in die στοιχεῖα λέξεως (die Sprachlaute) und die στοιχεῖα

28 Vgl. Ax (1986) 29 Vgl. Ax (1986) 30 Vgl. Ax (1986) 31 Vgl Ax (1986) 32 Vgl. Ax (1986)

167. 189. 190ff., bes. 202ff. 149 und Anhang Nr. 1. 206f.

82

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

λόγου (die Wortarten). Damit ist sicher wiederum ein bemerkenswerter Fortschritt gegenüber Aristoteles erreicht, der ja die Vorstellung des „Sprachatoms“ nur für die Laute einführt, bei dem aber, wie ich schon bemerkt habe, die Kategorie Wortarten fehlt.

Das Konzept

des semantischen Atoms

ist wahrscheinlich von Chrysipp

in die Stoa

eingeführt worden.33 Er selbst dürfte aber wiederum dem Peripatos verpflichtet sein, denn, wie ich schon erláutert habe, hat bereits Theophrast

im Zusammenhang

mit den

satzbildenden Konstituenten von στοιχεῖα λόγου gesprochen. Wir wissen allerdings nicht, ob schon Theophrast dabei das System der doppelten Artikulation in Laute und

Wörter vorschwebte, denn die entsprechende Kategorie στοιχεῖα λέξεως ist für ihn nicht nachweisbar. Die nun folgenden Hauptkapitel von περὶ φωνῆς sind die Lautlehre (7,56-57), die Wortartenlehre (57-58) und die Sprachvorzüge bzw. -fehler (59). In der Lautlehre (FDS 519-527) sind keine nennenswerten Anderungen gegenüber der akademischen und peripatetischen Tradition festzustellen. In der Lehre von den Wortarten (FDS 536-593) werden die Stoiker in eine Entwicklungsreihe mit Theodektes und Aristoteles gestellt (Anhang Nr. 5.5). Offensichtlich haben sie deren Wortartentrias erweitert, zunüchst zur Zeit Zenons um das ἄρθρον (Artikel) auf vier Wortarten, dann auf fünf durch die Einführung der προσηγορία, des Gattungsnomens, seit Chrysipp. Später kamen weitere Wortarten hinzu. Auch hier waren die Stoiker also durchaus produktiv und sind offensichtlich dabei auch von peripatetischen Vorlüufern ausgegangen. In der Lehre von

den ἀρεταί und κακίαι λόγου (FDS 594-604a) stoBen wir erstmals auf einen eindeutig bestimmbaren peripatetischen EinfluB, den ich schon anfangs erwühnt habe. Die vier

virtutes dicendi Theophrasts

sind von den Stoikern

in diesen

Teil der Dialektik

übernommen und um die virtus der συντομία / brevitas erweitert worden (Anhang Nr. 5.6). Die gleiche Lehre spielte sicher auch in der stoischen Rhetorik, und zwar in der elocutio-Lehre eine Rolle.4 Im übrigen stößt die Rekonstruktion des stoischen Anteils an der Lehre von den Sprachfehlern und -vorzügen und die Bestimmung von eventuellen peripatetischen Einflüssen auf besonders hinderliche Schwierigkeiten.35 Im vierten Teil von περὶ φωνῆς, dem dialektischen „Glossar“, (7,60-62) ist kein nennenswerter AnschluB an Aristoteles oder andere Peripatetiker zu verzeichnen. Aus den Fragmenten FDS 621-649, bes. 632-638, wird jedoch deutlich, daB sich die Stoiker auch mit semantischen Relationen, besonders mit der Amphibolie und auch der Synonymie beschüftigt haben. Analysen der Amphibolie, wie sie bei Galen, De captionibus 4,21-25 Ebbesen (= FDS 633) den Stoikern zugesprochen werden, erinnern natürlich an ähnliche Erwägungen in Aristoteles’ Sophistici Elenchi, ohne daß wir, soweit ich sehe, sichere Beziehungen ermitteln kónnen. Semantische Analysen der genannten Art führen eher zu den Dialektikern, z.B. zu Diodoros Kronos

FDS 636).

33

Vgl. Ax (1986) 206, Anm. 289.

34

Vgl. Schenkeveld (1990) 100.

35

Vgl. FDS, S. 674f.

(vgl. Gell.

11,12,1-3 =

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

83

Wie bereits gesagt, enthält auch der zweite Teil der Dialektik περὶ σημαινομένων (7,63-82) viel Sprachtheoretisches in unserem Sinne. Berühmt ist zunüchst die Kasuslehre, die in der nach Bezeichnung, Zahl und Reihenfolge der Kasus für uns noch heute gültigen Form erstmals den Stoikern zugeschrieben wird (Anhang Nr. 5.7). Die stoischen Kasus werden im Dioklesfragment 7,64-65 im Zusammenhang mit den Prädikaten, den unvollständigen Lekta, nur gestreift, aber weitere Fragmente (FDS 773-

788) vervollständigen

das Bild. Danach

haben

die Stoiker bekanntlich

fünf Kasus

(πτώσεις) unterschieden: einen casus rectus (ὀρθὴ πτῶσις) und vier casus obliqui (πλάγιαι πτώσεις): γενική, δοτική, αἰτιατική und κλητική, und es gibt einen guten

Grund, dieses Kasussystem schon für Chrysipp anzusetzen.36 Was den peripatetischen Einflu8 angeht, so kónnen wir wiederum nur den Stand der Theorie bei Aristoteles vergleichen und die stoische Weiterentwicklung festhalten, aber nichts Bestimmtes über das tatsächliche Ausmaß und den Weg dieses Einflusses sagen. Und doch gibt es gerade im Fall der Kasuslehre einen konkreten Berührungspunkt zwischen Peripatetikern und Stoikern,

der

die

Vermutung

stützt,

daß

die

Stoiker

hier

aristotelische

Ansätze

weitergeführt haben. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Der gravierendste Unterschied in der Kasustheorie der Stoiker im Vergleich zu Aristoteles ist die Einengung des nt@o1c-Begriffs auf die Flexionsformen des Nomens. Aristoteles

versteht

unter πτῶσις

sümtliche

Flexionsformen

nicht nur des

Nomens,

sondern auch des Verbs. Der Begriff reicht sogar noch weiter, denn auch durch Derivation gebildete Formen (z.B. Grammatiker von Grammatik, Cat. 1a14) heiBen bei ihm πτῶσις. Der zweite wichtige Unterschied ist der, daf Aristoteles zwar die Flexionsformen, darunter auch die Kasus, der Sache nach kennt (z.B. /nt. 2, 16a32f.), aber noch nicht an der Entwicklung einer morphologischen Terminologie und Systematik interessiert war. Das Verdienst der Stoiker liegt eben darin, diese Lücke geschlossen zu haben, und zwar so effektiv, daß wir noch heute davon Gebrauch

machen.

Wir haben

hier jedenfalls ein weiteres Zeichen dafür, wie kritisch und produktiv die Stoiker frühere sprachtheoretische Ansätze rezipierten und weiterentwickelten. DaB die Stoiker bei ihrer Kasustheorie tatsichlich Aristoteles vor Augen hatten, kann man aus einer Diskussion zwischen späteren Peripatetikern und Stoikern erschlieBen, von der uns vor allem die Aristoteleskommentare berichten (FDS 775-780, bes. Ammonios in Int. 42,30-43,24 = FDS 776). Es ging um die Zahl der Kasus, genauer um den Streitpunkt, ob man wie die Stoiker auch den Nominativ Kasus nennen dürfe, also fünf Kasus annehmen müsse, oder wie die Peripatetiker nur vier, weil nicht das

ὄνομα selbst, sondern nur die casus obliqui den Namen Kasus verdienten. Die These der Peripatetiker läuft natürlich auf eine Bestätigung des Aristoteles hinaus, der ja ebenfalls die Grundform des ὄνομα und ῥῆμα nicht zu den πτώσεις zählt (vgl. Int. 2,16b1ff. und 16ff.).37 Ich kann auf die z.T. wunderlichen Argumente dieses Streits nicht eingehen, 36

Vgl. Chrysipps Schrift περὶ τῶν πέντε πτώσεων D.L. 7,192.

37

Allerdings ist die Sache bei Aristoteles so einfach nicht, wie es die späteren Peripatetiker und die heutige communis opinio, die ich oben wiedergebe, sehen wollen. Aristoteles unterscheidet n&mlich APr. 1 36, 48b35ff. zwar xAfjoi-Nennfall, Nominativ und πτώσεις (Kasus), aber ebenda werden auch

84

aber

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

er beweist

unangebrachte

doch,

daß

die

Peripatetiker

,,Verschlimmbesserung“

der

die

Lehren

stoische ihres

Kasustheorie

Meisters

ansahen

als

eine

und

daß

zumindest spátere Stoiker sich mit der peripatetischen Lehre auseinandersetzen muBten. Die Analyse der Prädikate in D.L. 7,64 ergibt bekanntlich Prüdikatsklassen, die als Vorläufer der späteren Verbdiathesen Aktiv, Passiv, Medium, sowie des Typs absolut gebrauchter Verben gelten können (FDS 800-806) (Anhang Nr. 5.8). Von peripatetischen Vorarbeiten ist mir nichts bekannt. Immerhin hatte schon Aristoteles Car. 4,2a3f. die

Kategorien ποιεῖν und πάσχειν eingeführt. Die stoische Tempuslehre des Verbs (Anhang Nr. 5.9) ist zwar nicht im Dioklesfragment überliefert, so daB ihr systematischer Ort ungesichert ist, aber sie wird allgemein unter dem significatum-Teil der Dialektik abgehandelt (FDS 807-826). Ich kann auf die komplizierten Rekonstruktionsprobleme der stoischen Tempustheorie nicht eingehen, und verweise statt dessen auf C. H. M. Versteegh.38 Danach haben die Stoiker drei tempora perfecta (Aorist, Perfekt und Plusquamperfekt) und drei tempora imperfecta (Präsens, Imperfekt und Futur) unterschieden. Im Hinblick auf eventuelle peripatetische Einflüsse zeigt sich das gleiche Bild wie bei der Kasuslehre. Wir haben wiederum kein Zeugnis dafür, daß sie sich mit peripatetischen Tempus-Theorien auseinandergesetzt hätten, und können wieder nur feststellen, daß sie ihre Tempuslehre im Prinzip anders und wesentlich differenzierter als Aristoteles, den wir hier allein zum

Vergleich heranziehen können, angelegt haben. Aristoteles hatte als wesentliches Merkmal des ῥῆμα die Zeitangabe bestimmt (/nt. 3, 16b6ff. und Poet. 20, 1457al 16. Die Tempora

sind ihm natürlich der Sache nach wieder bekannt, aber er faBt sie als

πτώσεις ῥήματος, ohne sonderliches Interesse an deren Bezeichnung und Systematisierung. Dagegen bauen die Stoiker ihr Tempussystem von den Aspekten (perfekt / imperfekt) her auf und sind um vollständige terminologische und systematische Erfassung bemüht. Ob dabei nun ein direkter Anstoß von der Unfertigkeit des aristotelischen Ansatzes ausgegangen ist oder nicht, muß unentschieden bleiben. Auf jeden Fall ist die stoische Theorie ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zu der des Aristoteles. Als letztes Beobachtungsfeld komme ich auf die Sprechakte und Verbmodi zu sprechen, die in den Bereich der vollständigen Lekta gehören (7,65-68 = FDS 874, weitere Fragmente FDS 875-913) (Anhang Nr. 5.10). Mit einer sprechakttheoretischen Begründung wird eine Liste von 10 vollständigen Lekta gegeben, hier bei Diokles’ Urteil (ἀξίωμα), Satzfrage, Wortfrage, Befehl, Eid, Fluch, Annahme, Beispielsetzung, Anrede und Quasiaussage. Die Geschichte dieses Systems ist kürzlich grundlegend von Schenkeveld aufgearbeitet worden mit dem Ergebnis, daB es einen stoischen Kanon von 10 Sprechakten gegeben hat, der sehr wahrscheinlich schon auf Chrysipp zurückzudatie-

38

Fülle des Nominativs unter die πτώσεις gerechnet. Er scheint also eine syntaxfreie Nennung und syntaxgebundene Verwendungen im Aussagesatz (zu dem natürlich auch der Nominativ gehört) zu unterscheiden. Vgl. dazu Steinthal (1971) Bd. I, 265ff. und J. Thorp (1989). Vgl. Versteegh (1980) und Frede (1993).

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

85

ren ist.39 Laut Schenkeveld haben die Stoiker auf der Grundlage ihrer Sprechakttheorie auch schon Modi

des Verbs, also Indikativ, Optativ,

Konjunktiv,

Infinitiv, Imperativ

etc. unterschieden.*0 Dieses Modussystem muß vor ca. 160 v. Chr. fertig vorliegen, weil es bereits auf Aristarchs grammatische Kategorien eingewirkt hat (FDS 909-913).

Allerdings warnt Hülser*! vor einer vorschnellen Gleichsetzung stoischer Unterscheidungen mit den späteren grammatischen Modi des Verbs. Für die Frage nach einem peripatetischen Einfluf ist wiederum Schenkevelds Studie wichtig. Ich habe schon erwühnt, daB Aristoteles zwar die Sprechakte kennt, ihnen aber,

wie Unstimmigkeiten

in der Terminologie,

ihre

unvollstindige

Auflistung

und

ihr

Verweis in andere Disziplinen zeigen, keine sonderliche Aufmerksamkeit widmen wollte.

Auch in der Zeit zwischen Aristoteles und den Stoikern scheint es keine systematische Behandlung der Sprechakte gegeben zu haben, denn das von den Aristoteleskom-

mentatoren als peripatetisch bezeichnete System der fünf εἴδη λόγου ist laut Schenkeveld in das 5. Jahrhundert n. Chr. zu datieren.42 Insofern käme den Stoikern, wahrscheinlich schon Chrysipp, das Verdienst der ersten umfassenden terminologischen und systematischen Erfassung der Sprechakte zu. Mit der möglichst vollständigen Aufnahme auch der nichtaxiomatischen Sprechakte in die Dialektik ist übrigens eine bemerkenswerte Aufwertung von Sprechhandlungen verbunden, die Aristoteles als jeweils irrelevant in die Poetik bzw. Rhetorik oder in die Vortragskunst verwiesen hatte. Schenkeveld hat diese Aufwertung mit dem Interesse der Stoiker an der Sprache und

ihrem Interesse an systematischer Vollständigkeit begründet.4 Trotz der Erwähnung eines peripatetischen Systems läßt sich also auch hier wieder kein direkter AnschluB an Aristoteles oder spütere Peripatetiker nachweisen, sondern nur feststellen, daß die Stoiker ein offensichtlich noch brachliegendes sprachtheoretisches Gebiet mit großem Engagement und großer Wirkung auf die spätere Grammatik terminologisch und systematisch neu zu bearbeiten versuchten. Abschließend möchte ich nun das bisher Ermittelte überschauen und ordnen. Zunüchst ist nach dem Grad der Sicherheit der Beziehung zwischen dem Peripatos und der Stoa zu fragen. Unter diesem Aspekt sind drei Typen der Beziehung denkbar: Typ(1) wäre die direkte namentliche Bezeugung von Beziehungen zwischen individuellen Philosophen oder wenigstens zwischen den beiden Philosophenschulen, so etwa von der Art: Zenon fügte der Wortartentrias des Aristoteles noch eine weitere Wortart hinzu oder Die Stoiker verbesserten die Zeichentheorie der Peripatetiker. Im Typ (2) wäre die Beziehung zwar nicht ausdrücklich namentlich bezeugt, aber sie ließe 39 40 41 42

Vgl Schenkeveld (1984) 323f. Vgl. Schenkeveld (1984) 331ff. Vgl. FDS, S. 1132f. Vgl. Schenkeveld (1984) 249ff. Diese Datierung muß, wie mir J. Barnes mitteilt, sicher korrigiert werden. In Wallies’ Ausgabe von Alexander in APr., CAG II 1, Berlin 1883, muß 17,4 nach

ἐντολῇ mit dem Laurentianus LXXII 11 und der Aldina «ἢ ἐν τῇ ἐρωτήσει» ergänzt werden

43

(Autopsie Barnes). Das System der fünf peripatetischen Sprechakte ist also zumindest schon für das 2. Jahrhundert n. Chr. belegt. Vgl.Schenkeveld (1984) 319ff., 324.

86

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

sich im günstigsten Fall durch einen wórtlichen, sonst aber wenigstens durch einen terminologischen oder sachlichen Anschluf einer stoischen an eine eindeutig peripatetische Quelle erschlieBen. Ein solcher Fall liegt z.B. vor, wenn D.L. 7,59 fünf stoische Stilnormen

aufzählt,

und

wir aus einer anderen

Quelle wissen,

daß

vier davon

auf

Theophrast zurückgehen. Im Typ (3) ist überhaupt keine direkte oder indirekte Evidenz gegeben, und es ist lediglich eine vergleichende Gegenüberstellung der stoischen und peripatetischen Theorie möglich, verbunden mit der stillen Hoffnung, daß sie etwas miteinander zu tun haben kónnten. Man sieht, eine Typologie sich steigernder Unsicherheit. Wenn wir unsere Ergebnisse überschauen, so muß ich leider zugeben, daß Typ (1) in unserem Material überhaupt nicht vertreten ist, denn nirgendwo ist ein sprachtheoretischer Einfluf vom Peripatos auf die Stoa explizit bezeugt. Die Diskussion zwischen Peripatetikern und Stoikern um die. Anzahl der Kasus ist ja eine nachtrügliche Reaktion nachstoischer Peripatetiker. Allerdings haben wir entschieden mehr Glück beim Typ (2). Die Stimmdefinition und die Dihärese der genera vocis ließen z.B. erkennen, daß Diogenes sich hier z. T. wörtlich, z.T. in der Sache Aristoteles anschließt. Daß aber auch schon Chrysipp auf peripatetischen Fundamenten weiterbaut, zeigt der terminologische Anschluß an Theophrast im System der doppelten Artikulation (στοιχεῖα λόγου), demzufolge ihm auch die Wortartenlehre Theophrasts nicht entgangen sein dürfte. Hierher gehórt natürlich auch der für die Stoiker allgemein bezeugte Katalog der Stilnormen Theophrasts, den ich schon beispielshalber erwähnt habe. Und wenn dieser Teil von περὶ φωνῆς nachweislich von Theophrast beeinfluBt ist, dann liegt natürlich die Vermutung nahe, daB auch die den Stilnormen vorgeschaltete Sprachkonsti-

tuentenanalyse, die elementa dictionis und orationis, auf Theophrasts

περὶ λέξεως

basieren kónnte, wie schon Frede überzeugend dargelegt hat.44 Das sind immerhin fünf Bereiche mit so gut wie sicherem Anschluß an den Peripatos. Alles andere gehört allerdings leider zum Typ (3): die Zeichentheorie, die semantischen Analysen, die Kasus- und Tempuslehre, die Verbdiathesen und die Sprechakte. Trotzdem ist das Verhältnis von unsicher (Typ (3) 6 Fälle) zu so gut wie sicher (Typ (2) 5 Fälle) immer noch so ausgeglichen, daß man einen zumindest partiellen peripatetischen Einfluß nicht in Abrede stellen kann. Die nächste Frage zielt auf die inhaltlichen Berührungspunkte zwischen beiden Sprachtheorien und auf eventuell gleiche oder unterschiedliche Schwerpunkte. Wie zu sehen war, haben die Stoiker eigentlich sämtliche Bereiche sprachtheoretischer Ansätze des Peripatos wiederaufgenommen und in ihre Dialektik integriert, die Ansätze des biologisch-psychologischen Bereichs am Anfang des περὶ gwviig-Teils, den pragmatischstilistischen Ansatz in ihrer Stilistik am Ende von περὶ φωνῆς und in der Sprechakttheorie im Teil der vollständigen Lekta und den semiotisch-strukturellen Ansatz in ihrer Zeichentheorie und in der Konstituentenanalyse im Mittelteil von περὶ φωνῆς. Eine Schwerpunktbildung in dem Sinne, daB das eine wichtiger ware als das andere, ist für 44

Vgl. Frede (1978) 38ff.

Der EinfluB des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

87

mich dabei nicht erkennbar. Das gilt sicher ebenso auch schon für Aristoteles, für dessen Beschreibung sachlicher und begrifflicher Verhältnisse semiotisch-strukturelle Sprachbeobachtungen nicht weniger unentbehrlich waren als solche pragmatisch-stilistischer Art. Der gravierende Unterschied ist nur der, daB solche Beobachtungen bei Aristoteles noch disparaten Kontexten verhaftet sind, wührend sie bei den Stoikern zu einer umfassenden Sprachbeschreibung unter dem Dach der Dialektik zusammengeführt wurden. Gerade die Vollständigkeit in der Berücksichtigung peripatetischer Ansätze ist dabei übrigens für mich ein weiteres Zeichen für die Richtigkeit der Annahme eines solchen Einflusses. Damit sind wir schon bei der dritten Frage, der nach der Leistung der Stoiker in der

Verarbeitung peripatetischer Ansätze. Hier ist im Ganzen wie im Detail ein durchaus kritischer, produktiver Umgang mit der Lehrtradition festzustellen, der zu erheblichen Erweiterungen, Verbesserungen, ja sogar zu völligen Neuansätzen geführt hat. In der Zeichentheorie lag der Fortschritt in der Einführung des Lekton, im System der genera vocis wurde die Dihürese verbessert und wurden aristotelische und theophrastische Ansütze zum System der doppelten Artikulation der Sprache ausgebaut. Der Wortartenund Stilnormenkatalog wurde erweitert, die Kasus- und Tempuslehre terminologisch und systematisch völlig neu entwickelt und schließlich die von Aristoteles und Theophrast vernachlüssigten Sprechakte ebenso systematisiert und mit neuen Termini versehen. Die bedeutendste Leistung aber habe ich schon genannt, die Transposition und Integration verschiedener disparater Ansütze in die Dialektik und damit der Gewinn einer umfassenden und geschlossenen Beschreibung des Logos. Für den Einfluß des Peripatos spricht

in diesem Fall, daß die Stoiker sich immer

da zu

Verbesserungen

oder zum

SchlieBen einer Lücke veranlaBt fühlten, wo wir bei Aristoteles und Theophrast

ein

Defizit erkennen können, ein Befund, der wohl kaum auf Zufall beruhen kann.

Dieser imponierende Adaptionsprozeß kann auch noch zeitlich und nach Personen differenziert werden. Chrysipp scheint eine besondere Rolle gespielt zu haben, denn sein Name kann mit dem System der doppelten Artikulation, den Wortarten, der Kasuslehre und der Sprechakttheorie in Verbindung gebracht werden. Aber nur an einer Stelle, den στοιχεῖα λόγου, ist direkter Anschluß an Theophrast mehr als wahrscheinlich. Klarer ist der peripatetische Einflu8 erst gut eine Generation spáter bei Diogenes von Babylon greifbar, der, wie wir gesehen haben, ältere akademisch geprägte Systeme mit peripatetischer Hilfe zu prüzisieren und zu verbessern suchte. Wenn ich hier also zum Schluß dafür plädiere, einen gewichtigen peripatetischen Einfluß auf die Sprachtheorie der Stoa anzunehmen, so will ich damit keinesfalls die Bedenken Sandbachs für null und nichtig erklären. Jeder Schluß, den wir aus unserem

spärlichen

und

auf

Überlieferungszufall

beruhenden

Material

ziehen,

läßt

einen

unbefriedigenden Rest von Unsicherheit zurück, der eben auch die Möglichkeit nicht ausschließt, daß man wie Sandbach zu der Ansicht kommt, die älteren Stoiker hätten

keinen

signifikanten

Einfluß

von

Aristoteles

erhalten

und

seien

demzufolge

eher

88

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

unabhängig von ihm auf ähnliche Gedanken

gekommen.

Ich persönlich

allerdings, daß wir trotz solcher durchaus ernstzunehmender Bedenken

glaube

in diesem Fall

größere Berechtigung zur Zuversicht als Sandbach haben. Es stimmt natürlich, daß der peripatetische EinfluB in Sachen Sprachtheorie letztlich nicht zufriedenstellend abzusichern ist, aber das gilt natürlich auch für die akademische

Lehrtradition,

deren

Wirkung auf die Stoiker doch ausdrücklich bezeugt ist. Wir wissen trotz dieser Bezeugung — von Einzelheiten abgesehenfó — ebenso wie bei den peripatetischen Vorlüufem nicht genau, was Zenon von Xenokrates bzw. Polemon oder Chrysipp von Arkesilaos in diesem Punkt gelernt haben. Ich will z.B. gem zugeben, daB das von mir gezeichnete Bild vielleicht sogar erheblich modifiziert werden müDte, wenn

wir mehr

über Xenokrates’ Dialektik und Lexis-Theorie wüßten,?7 und ich sollte überhaupt an dieser Stelle, um

Einseitigkeiten

zu

vermeiden,

betonen,

daß

die

Sprachtheorie

der

Stoiker natürlich wesentliche Impulse auch aus der platonisch-akademischen Richtung empfangen hat. So wie die Dinge aber bei dem jetzigen Stand unserer Überlieferungsbasis liegen, besteht die Unsicherheit auf beiden Seiten und kann daher nicht einseitig gegen den peripatetischen EinfluB ins Feld geführt werden.

Wie Sandbach außerdem selber zugibt,48 ist die Vermittlung peripatetischer Lehren nicht unbedingt davon abhängig, daß ein Stoiker eine esoterische Lehrschrift des Aristoteles im Peripatos einsieht. Es gab andere Kanäle, die exoterischen Schriften des Aristoteles, Vermittlung durch spätere Peripatetiker u.a.m., wie ich überhaupt nicht glauben kann, daB die Stoiker selbst bei minimaler Wirkung der Lehrschriften des Aristoteles so hermetisch von der Lehre des Peripatos abgeschnitten waren, daf sie unabhängig davon ähnliche Theorien neu zu entwickeln hatten. Im Fall von Chrysipp und Diogenes gibt es übrigens sogar Beziehungen zum Peripatos, die man persónlich benennen kann. Chrysipp studierte, wie schon gesagt, bei dem Begründer der Mittleren

Akademie, Arkesilaos, und der war immerhin Schüler Theophrasts.49 Diogenes war seinerseits gut mit dem Peripatetiker Kritolaos bekannt, mit dem er und Karneades die

Philosophengesandtschaft des Jahres anzunehmen,

daß

es

zwischen

diesen

155/6 nach Rom Männern

nicht

bestritten.59 Es ist kaum auch

zum

Austausch

peripatetische Lehransichten gekommen ist. Wie dem auch immer gewesen sein mag, es scheint mir, nach dem, was

über

ich hier

dargelegt habe, mehr als wahrscheinlich, daf die Philosophen der Alten Stoa, um in der

ihnen so am Herzen liegenden Erfassung der sprachlichen Seite des Logos von ihren Vorgüngem zu lernen, des ófteren nicht nur die 1600 Meter von der Stoa poikile zur

45 46 47 48 49 50

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl Vgl.

Sandbach (1985) 55. z.B. zu Xenokrates’ Einfluß auf die stoische Dialektik Flashar (1983) 49f. Frede (1978) 50. Sandbach (1985) 55. D.L. 7,179-185 = FDS 154 und D.L. 4,29. Gell. 6,14,8-10 = FDS 165.

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

Akademie,

sondern auch die 1000 Meter

zum

Lykeion

— und

89

sei es auch

nur in

Gedanken — gewandert sind.5!

LITERATUR

AX, Wolfram (1978). „Yöpos, φωνή und διάλεκτος als Grundbegriffe aristotelischer Sprachreflexion". Glotta 56 (1978). 245-271 [hier: 19-39]. AX,

Wolfram (1986). Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie (Hypomnemata 84). Göttingen 1986. AX, Wolfram (1992). „Aristoteles“. In: DASCAL, Marcelo et al. (Hrsgg.). Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK). Bd. 7, 1: Sprachphilosophie. Berlin / New York 1992. 244-

259 [hier: 48-72]. FLASHAR,

Hellmut (1983). GrundriB der Geschichte der Philosophie.

Bd.

3: Die Philosophie der

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51

Vgl. LS Vol. 1 4.

90

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

ANHANG

Aristoteles

1. System

ψόφος

-

Οφωνή

-

διάλεκτος

[= Kollision/ spezifisches Objekt des Gehörs]

Geräusch (ψόφος)

[= kommunikativer, mit dem Atmungsapparat erzeugter Laut eines Lebewesens]

Stimme (φωνή)

(= artikulierter Stimmlaut von Mensch/ Tier]

Sprache (διάλεκτος)

2.1 Kommunikationsdreieck

Gegenstand (περὶ ob λέγει) > Hórer(mpóg

Sprecher (ὁ λέγων) Beratungsrede/Gerichtsrede/Festrede

2.2 Sprechakte

Befehl, Bitte, Bericht, Drohung, Frage und Antwort 2.3 Stilnormen (1) Klarheit (σαφές) (2) Sprachrichtigkeit (ἑλληνίζειν) (3) Angemessenheit (πρέπον)

3.1 Das sprachliche Zeichen 1 Schrift

2 > Laut

3 > Psyche

a

4 Stein

c

4 > Dinge

b

3 > Stein

b

c

2 > Stein

(Reales

(Psych.

(Laut-

Objekt)

Bild)

folge)

a

I > Stein (Graphen-

folge) j

T

Bildrelation

1f

Symbolrelation

ὃν λέγει)

Der Einfluf des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

91

3.2 Semantische Relationen

1. Anonymie:

2. Homonymie:

(Name)

Begriff

Sache

Begriff 1

Sache 1

Begriff 2

Sache 2

Name

Sache 1 3. Synonymie:

Name

— — —-

Begriff — Sache 2

4. Paronymie:

Name 1 (Grammatik) ——>

Name 2 (Grammatiker)

Sache 1 (Grammatik)«———

Sache 2 (Grammatiker)

3.3 Sprachkonstituenten (De interpretatione 1-4) Differenzen

Gattungen

Bedeutsamer Stimmlaut

(φωνὴ σημαντική) t konventionell

t teilbedeutsam + Zeitangabe

— Tierlaute (φύσει)

_ —Nomen

(ὄνομα) t Wahrheitswert

+ Affirmation

+ Sprache (Wort/Satz) (κατὰ συνθήκην)

-@

+ Wortgruppe

(Ayos)

+ Verb/Prädikat

(ᾧῆμα) - Bitte (εὐχή) — Negation

(ἀπόφασις)

* Urteil (ἀπόφανσις) + Affirmation

(κατάφασις)

Der Einfluf des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa

92

3.4 Sprachkonstituenten (Poetik 20)

Gattungen (μέρη τῆς

Differenzen

λέξεως)

Stimmlaut (φωνή)

+ kombinierbar

+ segmentierbare Laute ($. συνθετή)

— segmentierbare ($. ἀδιαίρετος

+ segmentierbar

+ Phoneme — Tierlaute ($. T. θηρίων) (στοιχεῖα) - Silbe, Konjunktion

+ bedeutsam

+ bedeutsame Laute (6$. σημαντική)

Artikel (?)

(φ. ἄσημος) + teilbedeutsam

- teilbedeutsam

t teilbedeutsam

(9) +Zeit/t verbunden

| -Nomen

(ὄνομα)

Qyos)

+ Verb/Prüdikat

(ῥῆμα)

— Satz

Qédyos') | Qóyos?)

Theophrast 4.1 Kommunikationsdreieck (Fragment 1 Graeser) Sache

Philosophie _

τ » Hórer

Sprecher Poetik/Rhetorik

4.2 Stilnormen (ἀρεταὶ

λέξεως)

(1) ᾿ΕἙλληνισμός, (2) σαφήνεια, (3) πρέπον 4.3 Wortarten (στοιχεῖα λόγου) (1) Nomen (2) Verb (3) Konjunktion (4) Artikel

+ Text

und (4) κατασκενή

93

Der Einfluß des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa Stoiker

5.1 Stoische Dialektik (Diokles = D.L. 7.49-82) Logik

Ethik

Physik

—Á———

Rhetorik

——

Dialektik (49-82)

significans (φωνή) (55-62)

*tenficanum QuxTóv) (63-82)

| 1. genera vocis (55-7)

1. Aekróv (63)

(φωνήλέξις Λόγος)

Definition und Unterarten

|

2. elementa dictionis (57) (στοιχεῖα λέξεως) Laute

2. Unvollständige λεκτά (64) — Kasuslehre

|

| — Tempuslehre (7)

3. elementa orationis (57/8)

3. Vollständige λεκτά (65-82)

(στοιχεϊα μέρη λόγου) Wortarten

— Sprechakte

4. virtutes et vitia orationis (59) (ἀρεταὶϊλκακίαι λόγου)

|

5. Dialektische Begriffe (60-2)

5.2 Sprachliches Zeichen Logos TU

significans

significatum ——> Sprachl. Vorstellung ——> Dinge

(φωνή)

Qekróv)

5.3 Lautgenera (D.L. 7.55-57) Differenzen

(φαντασία λογική)

— Jüngeres System des Diogenes von Babylon Gattungen

t Luftkollision

+ Stimmapparat X Artikulation + Bedeutung

(τυγχάνον)

+ Geräusch (φωνή)

+ Stimme (φωνή) + Art. Äußerung Q£&g) + Sprache (λόγος)

- (Ὁ) | -

(0)

© (z.B. βλίτυρι)

94

Der Einfluf des Peripatos auf die Sprachtheorie der Stoa 5.4 System der doppelten Artikulation

Stimme (φωνή) ἊΝ

d

Art. Äußerung (MEıs)

.s Phonetische Atome (Laute/ororxela λέξεως) Sprache (λόγος)

mn

Semantische

Atome

(Worarten/oToıxela

λόγου)

5.5 Wortarten (D.L. 7.57-58) Zenon: (1) Nomen (2) Verb (3) Konjunktion (4) Artikel Chrysipp: (1) Eigennamen (2) Gattungsnamen (3) Verb (4) Konjunktion (5) Artikel 5.6. Stilnormen und -fehler (ἀρεταὶ /xaxlar

λόγου (7.59)

(1)! Ἑλληνισμός (2) σαφήνεια (3) συντομία (4) πρέπον (5) κατασκενή 5.7 Kasus (D.L. 7.64-65)

Chrysipp:

1 casus rectus (ὀρθὴ πτῶσις)

(1) ὀρθή

4 casus obliqui (πλάγιαι πτώσεις)

(2) γενική

(3) δοτική (4) αἰτιατική

(5) κλητική 5.8 Vorläufer der Verbdiathesen in der Analyse der unvollständigen Lekta (Prädikate) (D.L. 7.64) (1) Aktiv (2) Passiv (3) Medium (4) absoluter Gebrauch

5.9 Tempuslehre (nach Versteegh)

E



imperfekt

Präsens

Imperfekt

perfekt

Futur

finit

infinit hove

Perfekt

Plusquamperfekt

5.10 Sprechakte als Vorläufer der Verbmodi in der Analyse der vollständigen Lekta (7.65-68) (1) Urteil (2) Satzfrage (3) Wortfrage (4) Befehl (5) Eid (6) Wunsch/Fluch (7) Annahme (8) Beispielssetzung (9) Anrede (10) Quasiaussage

SPRACHE ALS GEGENSTAND DER ALEXANDRINISCHEN UND PERGAMENISCHEN PHILOLOGIE

1. VORBEMERKUNG

Da die Begriffe „alexandrinische‘“ und „pergamenische Philologie" jeweils längere Zeiträume umfassen — unter alexandrinischer Philologie könnte man z.B. die Zeit von ca. 300 v. bis 400 n. Chr. verstehen — muß zunächst eine zeitliche Eingrenzung vorgenommen werden. Der hier herausgegriffene Zeitraum beginnt mit der Lebensspanne des vierten Leiters der alexandrinischen Bibliothek, des Aristophanes von

Byzanz

(ca.

257

-

180

v.Chr),

und

er

endet

vor

der

Generation

des

Aristarchschülers Dionysios Thrax (ca. 160 — 90 v. Chr.). Die Wahl dieses Ausschnittes läßt sich leicht begründen: Aus Pfeiffers grundlegender Darstellung der hellenistischen Philologiegeschichte geht hervor, daß uns keine nennenswerten sprachtheoretischen Beiträge von den Philologen vor Aristophanes bekannt sind.! In der Generation des Dionysios Thrax wird dagegen mit guten Gründen die Entstehung der ersten „Grammatik“ in unserem Sinne? vermutet, weshalb sie ein eigenes Kapitel

in Schmitter 1991, 302ff. (Kap. 3.2) erhält. Ich beschränke mich also in meiner Untersuchung auf die Zeit von etwa 230 — 140 v. Chr. und greife hier nur die bedeutendsten Philologen heraus: auf alexandrinischer Seite Aristophanes von Byzanz und dessen Schüler Aristarch von Samothrake (ca. 216 — 144 v. Chr.) und auf pergamenischer Seite den Zeitgenossen Aristarchs, Krates von Mallos (ca.

200 - 150 v. Chr.). Zu einer solchen Auswahl ist man schon deshalb berechtigt, weil vor allem die Namen dieser drei Philologen schon in der Antike erscheinen, wenn es die ersten und wichtigsten Vertreter der Téchne grammatiké zu nennen gilt, z.B. bei Sextus Empiricus (2. Jhdt. n. Chr.).3 Eine Rivalität zwischen Alexandria und Pergamon ist dabei von vornherein unverkennbar, nicht nur bei Sextus^, sondern vor allem auch bei

wm —

Varro (116 — 27 v. Chr.), der in seiner Schrift de /ingua Latina insbesondere Krates und Aristarch zu Antipoden einer Auseinandersetzung um das Analogieprinzip in der Sprache macht.5 Es werden deshalb zunächst die Alexandriner Aristophanes und Aristarch und darauf Krates einzeln behandelt, gefolgt von einem eigenen Abschnitt über den (mutmaBlichen) Streit zwischen Krates und Aristarch. Eine Darstellung der durch die genannten Philologen geleisteten Sprachbetrachtung stößt dabei auf besondere Schwierigkeiten: — Sämtliche Originalschriften sind verlorengegangen. Wir müssen uns an ihrer Stelle mit einer bisweilen nur geringen Zahl an Testimonien und Fragmenten aus spiteren, Vgl. Pfeiffer (1978) 135ff., 156ff. und 191ff. Vgl. Ax (1982) 96f. [hier: 128f.] und unten Kap. 2.1. Vgl. Sext. Emp., adversus mathematicos 1,44 am Beginn seines skeptischen Referates über die

Grammatik. 4

Vgl

Sext. Emp.

adv. math.

1,79 und 248. Zu den philologischen Rivalitäten vgl. Pfeiffer

(1978) 289-293, 295. 5

Vgl. ausführlich dazu unten Abschnitt 4.

96

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

sekundären

Quellen®

zufriedengeben,

die

natürlich

nur

ein

lückenhaftes,

auf

Überlieferungszufall beruhendes Bild ergeben. Außerdem ist gerade aufgrund der sekundären Vermittlung oft nur schwer erkennbar, ob ein linguistischer Terminus oder Kommentar dem hellenistischen Originalautor selbst oder dem späteren Referenten gehört. — Es gibt nur wenige, zudem meist angezweifelte Zeugnisse, die als direkte schriftliche Beiträge zur grammatischen und sprachtheoretischen Diskussion der fraglichen Zeit zu werten sind. Man

ist meist darauf angewiesen, eine „Grammatik“

des hellenistischen Philologen indirekt aus der Anwendung grammatischer Kategorien bei seiner philologischen Arbeit, etwa am Homertext, zu erschließen. So erreicht man aber keine Grammatik im Sinne eines eigenständigen Beitrags zur Evolution der antiken Grammatik, sondern nur eine „Grammatik im Kopf“, die aus dem jeweiligen Bildungsgang erworbene grammatische Kompetenz eines Philologen, die er bei seiner Textarbeit zur Anwendung bringt. Rückschlüsse auf die Geschichte der Grammatik in dieser Zeit sind daher nur mit großer Vorsicht zu ziehen. — Schließlich ist der Forschungsstand ein weiteres Problem. Die Forschung zur Sprachbetrachtung der hellenistischen Philologen des 3./2. Ihdts. v.Chr. steht trotz bedeutender Vorleistungen gerade der letzten Zeit immer noch am Anfang. Vieles bleibt besonders noch für Aristarch und Krates zu tun.” Allerdings ist insgesamt ein stark zunehmendes Interesse auch an dieser Phase in der Entwicklung der antiken Grammatik erkennbar, das mit der erneuten Diskussion um die Echtheit der Techne

des Dionysios Thrax und um das Verständnis, ja die Existenz des AnalogieAnomalie-Streites zusammenhängt. Wie man nämlich beide Phänomene einzuschätzen hat, hängt entscheidend von unserer Kenntnis der sprachtheoretischen Leistung der hellenistischen Philologen des 2. Jhdts. v.Chr. ab. Und in diesem Punkt ist man alles andere als einer Meinung. So hat man z.B. den früheren Alexandrinern von einer völligen grammatischen Unkenntnis bis hin zu einer voll ausgeprägten Regelkenntnis

alles oder nichts zugetraut. Ich habe 1982 ausführlich darüber berichtet.

2. ALEXANDRIA

2.1 Aristophanes von Byzanz (ca. 257 — 180 v.Chr.) Aristophanes

von

Byzanz,

vierter

Leiter

der

Bibliothek

in

Alexandria

nach

Eratosthenes (seit ca. 195 v.Chr.) ist der Philologe unseres Zeitraums, dem augenblicklich das intensivste Forschungsinteresse gilt — gerade auch im Hinblick auf seine Sprachbetrachtung.? Seine Fragmente wurden bereits zweimal gesammelt: 1848

6 7 8 9

Hauptquellen sind die antiken Homerkommentare, insbesondere die Homerscholien, die grammatischen Schriften Varros und die Schriften der griechischen und römischen Grammatiker. Dieentsprechenden Arbeiten werden jeweils in den einzelnen Abschnitten genannt. Vgl. Ax (1982) 96-100 [hier: 128-131]. Seither erschienene neuere Literatur wird an entsprechender Stelle genannt. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daB bei Aristophanes anders als bei Aristarch die Fragmente der Zahl nach überschaubar sind und bereits zwei Fragmentsammlungen vorliegen.

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

97

von Nauck und 1986 von W. Slater.!Ü Einen ausführlichen Überblick über sein gesamtes philologisches Werk gibt Pfeiffer.!! Speziell zur Sprachbetrachtung bei Aristophanes

liegt jetzt

sogar eine Monographie

vor, die Dissertation

von

C.

Callanan.!? Wenn man den Anteil des Aristophanes und anderer hellenistischer Philologen an der Entwicklung der antiken Sprachtheorie in der hier gebotenen Kürze geordnet darstellen will, bietet es sich an, vom antiken Verständnis der Téchne grammatiké

auszugehen.!3 Dieser Begriff ist bekanntlich nicht mit unserem Begriff „Grammatik“ deckungsgleich. Er bedeutet vielmehr seit hellenistischer Zeit „Kunde von der Literatur in Poesie und Prosa" im weitesten Sinn, also etwa das, was wir heute unter „Philologie“ verstehen. In der Téchne grammatiké

wird dabei die eigentliche, an

konkrete Texte gebundene philologische Arbeit, also Textkritik und -exegese (μέρος

iSiaitepov

= der eigentümlichere,

speziellere Teil)

mit

zwei

weiteren,

eher

systematischen Teildisziplinen verbunden: 1. mit einer Art philologischer Realien-

kunde (μέρος iotopixóv = Wissensteil), in der Sachfragen verschiedenster Art (z.B. Personen, Geographica, Mythen) geklärt wurden, zu der aber auch lexikographische

Sammlungen gehórten!4, und 2. mit der Grammatik im heutigen Sinne einer systematischen

Sprachbeschreibung

(μέρος

τεχνικόν

= technischer Teil).!5

Unsere

Grammatik ist also nur ein Teil der antiken Téchne grammatiké. Daraus geht hervor, daß es im folgenden nur um Leistungen im technischen Teil der antiken Téchne grammatiké gehen kann und daß Leistungen auf den beiden anderen Gebieten weitgehend ausgeschlossen werden müssen. Der technische Teil muß allerdings seinerseits noch in weitere Teilgebiete

differenziert werden.16 Im technischen Teil werden nämlich systematische Sprachbeschreibungen versucht, die aufgrund ihrer thematischen Schwerpunkte

in zwei

Darstellungstypen gegliedert werden können: 17 l. in die Darstellung der Sprachelemente in aufsteigender Linie vom Laut bis zum Satz mit dem Schwerpunkt auf der Lehre von den Wortarten

(μέρη λόγου / partes orationis) und 2. in die Darstellung des korrekten Griechisch oder Latein (hellenismds / latinitas), die zur richtigen Verwendung (Aussprache, Betonung, Schreibung, Flexion, Bedeutung etc.) des Einzelwortes und der 10 11

"Vgl. Nauck (1848) und Slater (1986). Vgl. Pfeiffer (1978) 213-257.

12

Vgl. Callanan (1987), dort auch die ältere Literatur zu Aristophanes, die hier nicht im einzelnen berücksichtigt werden kann. Definitions- und Einteilungsversuche der Techne sind erst seit der Zeit des Dionysios Thrax nachweisbar (vgl. Sext. Emp. adv. math. 1,57ff. und 1,91ff.). Sie kónnen also bei den Philologen vor dieser Zeit nicht als ein ihnen bewuBter, verbindlicher theoretischer Bezugsrahmen, sondern nur als willkürlich gewähltes Ordnungsschema gewertet werden. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 1,251 und 253. Ich verwende also das dreigliedrige Schema von Sext. Emp. adv. math. 1,91-96. Zu diesem und anderen antiken Einteilungsversuchen vgl. Ax (1982) 96f. (hier: 128f.] mit der dort genannten Literatur, der noch Glück (1967) 17-23 beizufügen ist.

13

14 15

16

Vgl Ax (1982) 97 [hier: 128f.].

17

Sie sind bereits von Sext. Emp. adv. math. 1,92 angedeutet.

98

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

Wortfügung durch Anwendung vor allem der Sprachnormen Analogie, Etymologie, Sprachgebrauch und literarische Tradition führen soll.18 Solche Differenzierungen sind bestens geeignet, detaillierte Kriterien für die Einordnung der philologischen Beiträge des fraglichen Zeitraums zur antiken Grammatik in unserem Sinne zu gewinnen. Aristophanes war natürlich in erster Linie Philologe und hat sich daher, um mit

Sextus Empiricus zu sprechen, vor allem um das μέρος ἰδιαίτερον verdient gemacht. Wir müssen aber hier der eben erläuterten Einschränkungen wegen auf eine Würdigung seiner philologischen "Verdienste, insbesondere seiner editorischen Tätigkeit, verzichten.!? In unserem Zusammenhang darf allerdings eine wichtige Arbeit

nicht unterschlagen

werden,

die ebenfalls

nicht

in den

technischen

Teil,

sondern in das μέρος iotopixóv gehört: seine große lexikographische Sammlung mit

dem Titel AéEeig.20 Die λέξεις waren nach Sachgruppen geordnete Wörterverzeichnisse mit zahlreichen Belegen aus Poesie und Prosa, eine Sammlung schwieriger,

erklärungsbedürftiger Wörter, die in ihrem Gebrauch umfassend erläutert wurden. Für unsere Zwecke sind zwei Schlüsse wichtig, die Pfeiffer aus seiner Betrachtung

der A&&eıg-Fragmente zieht: 1. Aristophanes habe sein Material — zumindest im ersten Abschnitt der λέξεις — chronologisch differenziert, indem er ,,alte und „neuere“ Wörter unterschied und ihren Gebrauch unter diesem Aspekt kommentierte. Aristophanes seien also wenigstens im Ansatz sprachhistorische Einsichten, eine Art Vorwegnahme diachroner Sprachbe-

trachtung, zuzugestehen.2! Dieser Ansicht Pfeiffers ist von Callanan widersprochen worden.22 2. Aristophanes sei über seine philologische Arbeit an literarischen Texten hinaus auch an Problemen der Umgangssprache seiner Zeit

interessiert gewesen.23 Beide Schlüsse Pfeiffers — mag auch der erste nicht völlig abzusichern sein — sind natürlich wichtig für die Beurteilung des Sprachtheoretikers Aristophanes, denn er erscheint hier immerhin als ein Vorläufer sprachwissenschaftlicher Diachronie und wählt als Objekt seiner lexikographischen Studien auch die 18

19 20 21 22

23

Entsprechende Monographien zu beiden Darstellungstypen sind z.T. erhalten (Dionysios Thrax’ Techne), z.T. nur nachweisbar (Traktate zum Hellenismos). Vgl. dazu grundlegend Siebenborn (1976) und Ax (1982) 97 [hier: 128f.]. "Vgl. dazu Pfeiffer (1978) 215-243. "Vgl. Pfeiffer (1978) 243-249. Vgl. Pfeiffer (1978) 245-247, bes. 247: εἰπε wertvolle vorbereitende Arbeit für das Studium der Entwicklung der griechischen Sprache". "Vgl. Callanan (1987) 75-82 und 49, Anm. 47. Sicher hat Callanan mit seiner Kritik an Pfeiffers Argumentation recht, aber mir scheint seine rigorose Ablehnung der Diachronie bei Aristophanes und in der antiken Sprachtheorie allgemein überzogen. Ich habe dies in meinem in der Zeitschrift Glotta 68 (1990) 4-18 erschienenen Aufsatz Aristophanes von Byzanz als Analogist. Zu Fragment 374 Slater [...]" [hier: 116-127] näher begründet. Vgl. Pfeiffer (1978) 249. Diese Ansicht wird von Callanan (1987) 58, Anm. 8 allerdings versteckt und eher nebenbei zugegeben.

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

99

Umgangssprache seiner Zeit, eine wichtige Voraussetzung für ein Interesse an gemeingrammatischen Fragen, das ja weniger auf die literarische Tradition als auf den aktuellen Sprachgebrauch zielt.

Nun zu seinen Beiträgen im Bereich des eigentlichen μέρος teyvixdv: Es gibt kein Zeugnis

dafür, daB Aristophanes

— wie

vor ihm

Aristoteles,

zu

seiner Zeit die

Stoiker und nach ihm die Grammatiker des 2./1. Jhdts. v.Chr. — eine systematische Darstellung der Sprachkonstituenten vom Laut bis zum Satz verfaBt oder auch nur zu Teilbereichen, etwa zu bestimmten Wortarten, explizit Stellung genommen hat. Wir kónnen nur aus den Fragmenten seiner textkritischen und lexikographischen Arbeit auf eventuell darin implizit vorhandene Kenntnisse solcher Art schlieBen. Dieser mühevollen Aufgabe hat sich Callanan in seiner verdienstvollen Arbeit unterzogen, und ich kann hier dankbar, allerdings nur auszugsweise, auf seine Ergebnisse zurückgreifen. Schon aus den Fragmenten zur Akzentlehre (Callanan 1987, 26-31) wie auch später (59-61) ergibt sich, daß Aristophanes eine empirisch gewonnene Regelkenntnis im Bereich der Deklination hatte (26f.). Bekannt war ihm wahrscheinlich auch die Lehre von den Definitionen und Charakteristika der Redeteile (ἴδιον), zumindest das ἴδιον der Präposition (29f.). Im Bereich der Nomina (33-61) wird erkennbar, daß er Nomen und Adjektiv bzw. Eigennamen und Appellativ nicht trennt, der späteren alexandrinischen Tradition entsprechend (33f.). In einem das nominale Genus betreffenden Fragment verwendet er fast schon die später kanonisch gewordene

Terminologie, für das neutrale οὐδέτερον bietet Aristophanes sogar den ersten Beleg (36f.). Im Wortbildungsbereich (42-50) unterscheidet er Grundwórter und abgeleitete Wörter,

wobei

sein Ableitungsbegriff Derivation

und

Komposition

umfaßt.

Ein

Systematisierungsversuch ist dabei nicht erkennbar (42f.). Aristophanes kannte die drei Numeri (51-56) wenigstens der Kategorie nach; welche Termini er dabei benutzte, ist unklar (51). Die Kasusfragmente (57-65) vermitteln wieder eine „Vorstellung von Regelmüfigkeiten in der Deklination“ (60), besonders die für Aristophanes bezeugten Regeln zur Ermittlung richtiger Deklinationsformen (57f.). Davon später mehr. Sie bezeugen außerdem die Kenntnis der Kasusfunktion und terminologie (61). Beiträge zum Verb (62-74) lassen auf „eine Art theoretisches Verbalsystem“ schlieBen, ohne daB die Verwendung einer grammatischen Terminologie erkennbar wäre (63f.). Daß Aristophanes grammatische Phänomene und Kategorien kannte, aber sie — jedenfalls unserem

Kenntnisstand

nach — noch nicht

terminologisch erfaBte oder sogar in ein System brachte, zeigt z.B. auch seine Berücksichtigung der verbalen Modi (74). Ein solcher Auszug aus den Ergebnissen Callanans macht deutlich, daß wir doch ein erheblich differenzierteres Bild als bisher von der Sprachbetrachtung des Aristophanes aus seinen Fragmenten gewinnen können. Allerdings gestattet auch dieses neue Bild notwendigerweise nur einen vagen Einblick in die Rolle, die er in der Geschichte der Lehre von den Redeteilen gespielt haben mag. Zu lückenhaft ist unsere Kenntnis von dem wirklichen Ausmaß seiner begrifflichen und terminologischen Kompetenz auf diesem Gebiet. Andererseits ist nach Callanans Arbeit soviel klar, daß man sicher nicht von einer Unkenntnis im ersten Komplex des μέρος texvixév bei Aristophanes sprechen darf. Er ist vielmehr im Rahmen seiner

100

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

philologischen Arbeit immer wieder auf morphologische Probleme gestoBen und hat es hier zu beachtenswerten Einsichten in Fragen der Wortbildungs-, Wortarten- und Formenlehre gebracht. Im zweiten Komplex des μέρος texvıxöv, der Lehre vom guten Griechisch (Hellenismos), wird Aristophanes vor allem mit der Sprachnorm ,Analogie' in Verbindung gebracht, jedoch ist auch die ‚Etymologie‘ so für ihn bezeugt, daß sich ein kurzer Blick darauf lohnt. Laut Varro, der in ling. Lat. 5,7f. vier Stufen etymologischer Erkenntnis unterscheidet, soll Aristophanes die zweite Stufe, die

Etymologie poetischer Wórter, erreicht und Varro deshalb in diesem Punkt als Quelle gedient haben (5,9 = 371 Slater). 6,2 (= 372 Slater) wird Aristophanes wieder als eine der etymologischen Autoritäten genannt, und es wird zusätzlich auch in seinem Namen auf die Theorie der Entstehung der Wortableitungen durch Lautveründe-

rungen verwiesen, die in der Etymologie beachtet werden müssen.24 Varro scheint also Aristophanes hier eine etymologische Theorie und Praxis unterstellen zu wollen, die ihn -- jedenfalls in Varros Augen — zu einer Autorität in Sachen Etymologie macht. Dies wird jedoch in der Forschung gänzlich anders gesehen: Nach Pfeiffers

und vor allem Callanans Ausführungen?? hat sich Aristophanes nur selten und in nüchterner Zurückhaltung etymologisch betätigt.26 Seine etymologische Praxis läßt erkennen,

daß

er die Etymologie

zur

Erklärung

schwieriger,

meist

homerischer

Ausdrücke, von echten Glossen, aber auch zur Absicherung korrekter Formen und

Schreibungen verwendete.27 Aristophanes etymologisierte also mit dem Ziel textkritischer Emendation oder zur bloBen Erlüuterung lexikographischer Probleme. Immerhin ist damit, wenn auch nur in bescheidenem Umfang, auch ein normativer Umgang mit der Etymologie zu verzeichnen. Auf Aristophanes’ Verhältnis zur Analogie gibt es drei explizite Hinweise, die Fragmente 373-375 Slater. Sie sind insgesamt auf Skepsis gestoßen bzw. z.T. nicht beachtet worden. Das bekannteste Zeugnis ist Charisius 149,26ff. Barwick (= 375 Slater):

149,22ff. wird die Analogie

zunächst

als „Zusammenstellung

zueinander-

passender Wörter“ definiert und ab 149,26 wird dann Aristophanes ein Katalog von fünf oder sechs Bedingungen für die korrekte Durchführung solcher Analogien

zugeschrieben28: Wörter dürfen nicht willkürlich in die analogistische Gleichung eingesetzt

werden,

sondern

müssen

in Genus,

Kasus,

Endung,

Silbenzahl

und

Akzent übereinstimmen??, wie z.B. im Fall von amor : amori = dolor : dolori oder 24

Pfeiffer gründet

auf dieses Testimonium

die These,

daß Aristophanes

„mit

der methodisch-

philologischen Behandlung der πάθη und ἔτυμα begonnen zu haben scheint".

Vgl.

Pfeiffer

(1978) 248. Dies klingt, als wolle Pfeiffer Aristophanes zum Vorläufer der Pathologie machen, wie sie Wackernagel auf Tryphon zurückgeführt hat. Vgl. dazu Ax (1987) 25f. und 30 [hier: 196f. und 201]. Eine solche These 14ßt sich aber m.E. aus der Stelle nicht ableiten. Die Lautünderungskategorien gehóren in die declinatio-Theorie, die ihrerseits von der Etymologie beachtet werden müssen. Es wurde allerdings schon von F. Sommer, Lucilius als Grammatiker,

Hermes 44 (1909) 70-77, die These vertreten, daß die Pathologie älter als Tryphon sei.

25 26 27 28

Vgl. Pfeiffer (1978) 248 und Callanan (1987) 23-25 und 97-102. Vgl. Pfeiffer (1978) 248 und Callanan (1987) 97. Vg]. Callanan (1987) 99-102 und 23-25. Eine solche Zusammenstellung ähnlicher Wörter kann zwei- oder viergliedrig sein. Siebenborn (1976) 63-66 und Callanan (1987) 115-119.

29

Die sechste Bedingung:

„Kein Vergleich von Simplicia mit Komposita!“

Vgl.

soll auf Aristarch

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

101

rex : regi = lex : legi (Varro, ling. Lat. 10,42,47). Derartige Analogien können dann zur Absicherung einer zweifelhaften Flexionsform dienen, indem von drei zweifelsfreien auf eine vierte unsichere Form geschlossen wird, z.B. κτῆσις :

κτᾶσθαι = χρῆσις : χρᾶσθαι (und nicht χρῆσθαι) (Sext. Emp., adv. math. 1,197). Es handelt sich also um einen morphologisch bereits recht differenzierten Katalog von Ahnlichkeitsbedingungen zur analogistischen Ermittlung richtiger Flexionsfor-

men, hier auf den Nominalbereich beschränkt.?0 Nach 373 Slater (Varro, ling. Lat. 10,68) sollen Aristophanes und andere Autoren über sog. perfekte Analogien, wie

z.B. bonus : malus = boni : mali geschrieben haben.3! SchlieBlich wird an einer bisher zu Unrecht mißachteten Varrostelle (ling. Lat. 9,12 = 374 Slater) behauptet, daß Aristophanes in einer bemerkenswerten Zahl von Fällen nicht dem Sprachgebrauch, sondern der Analogie folgte. Mit Hilfe des Kontextes dieser Stelle läßt sich prüzisierend sagen, daß dabei an einen gemäßigt innovativen Einsatz der Analogie zur Verbesserung eines als fehlerhaft empfundenen ülteren Sprachgebrauchs gedacht ist. Aristophanes erhält hier in Parallele zu Cäsar in Ciceros Brutus $ 261 die Rolle eines

analogistischen Sprachneuerers und -besserers.32 Diese

drei Testimonien

scheinen

Aristophanes

als einen Theoretiker und

Praktiker des Sprachnormprinzips „Analogie“ zu empfehlen, und schon Nauck hat daraus den weitreichenden Schluß gezogen, daß Aristophanes im Anschluß an

Chrysipps Anomalietheorie eine Monographie περὶ ἀναλογίας schrieb, in der er die Prinzipien der grammatischen Analogie darlegte — meist ohne den Beifall der spáteren

Forschung. Mag man also über das in den Fragmenten Überlieferte hinaus nichts Sicheres ermitteln kónnen, so darf man doch, wenn auch mit gebotener Vorsicht, festhalten, daß Aristophanes um Ermittlungsverfahren für Regelmäßigkeiten in der Nominalflexion bemüht war, Bedingungen für korrekte Analogiegleichungen formulierte und die Analogie in Maßen auch zur Anwendung brachte. Merkwürdigerweise steht aber selbst dieses vorsichtig formulierte Urteil über die Analogie bei Aristophanes in deutlichem Gegensatz zu dem, was Callanan aus den übrigen Fragmenten ermittelt hat. Zwar hält auch Callanan an der Zuweisung der

Ahnlichkeitsbedingungen von 375 Slater fest34, aber die Prüfung der sonstigen Zeugnisse ergibt für ihn, dal) Aristophanes keine normativen oder analogistischen Eingriffe vornahm, sondem vielmehr neutral-deskriptiv, Ausnahmen akzeptierend und erläuternd verfuhr: „Überall beschreibt und systematisiert er; niemals schreibt er

vor.“ (Callanan 1987: 106)35 Aristophanes sei nicht der Analogist, den man seit mehr als 100 Jahren in ihm gesehen habe (112). Wir erhalten damit das merkwürdige, widersprüchliche Ergebnis, daß Aristophanes in den Fragmenten 373-375 als zurtickgehen, vgl. 149,30-150,2 Barwick.

30 31 32 33 34 35

Zur Skepsis an diesem Zeugnis vgl. Ax (1982) 98 [hier: 129], Anm. 8, zu den Ahnlichkeitsbedingungen vor allem Siebenborn (1976) 72-83. Perfekt heißt diese Analogie deshalb, weil die verglichenen Wörter der Form und Bedeutung nach ähnlich sind. Zum Zweifel an diesem Fragment vgl. Callanan (1987) 107f. Vgl. ausführlich dazu meinen oben in Anm. 22 genannten Aufsatz. Vgl. Nauck (1848) 267f. Vgl. dagegen Steinthal (1891) 81", Pfeiffer (1978) 249-251 und Callanan (1987) 107f. Vgl. Callanan (1987) 57f. "Vgl. Callanan (1987) 40, 47, 59, 61, 63f., 69, 103-106, 109, 112, 122.

102

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

Theoretiker und Anwender der Analogie, in den übrigen Zeugnissen dagegen als ein am Einsatz von Sprachnormen eher uninteressierter, deskriptiver Sprachbetrachter erscheint, ein Resultat, das sich wahrscheinlich nur mit Uberlieferungszufall erklären

14ßt.36 Unser Überblick hat gezeigt, daß Aristophanes’ begriffliche und terminologische Leistung für beide Teile des μέρος texvıröv leider nur in vagen Umrissen greifbar ist. Mit aller Vorsicht läßt sich resümieren, daß er zwar keinen Abrıß der Wortarten verfaßte, aber bereits bemerkenswerte morphologische Kenntnisse besaß. Er beschäftigte sich mit Problemen der Sprachnormen „Etymologie“ und „Analogie“ und brachte sie in Textkritik und Sprachpflege zur Anwendung; in welchen Werken und in welchem Ausmaß, ist ungewiß. Ob er etwas mit dem später für Krates und

Aristarch bezeugten Analogie-Anomalie-Streit zu tun hatte, läßt sich ebenfalls nicht absichern.

2.2 Aristarch von Samothrake (ca. 216 — 144 v.Chr.) Aristarch von Samothrake, der bedeutendste Schüler des Aristophanes von Byzanz, war der sechste Leiter der Bibliothek von Alexandria. Über sein philologisches Werk, Kommentare und Monographien vor allem zu Homer, aber auch zu anderen Autoren,

informiert das Aristarch-Kapitel bei Pfeiffer37 Eine Fragmentsammlung existiert bisher nicht, ein wesentlicher Nachteil für die Aristarch-Forschung, auch im Bereich

des μέρος texvıröv.38 Schon allein aus diesem Grunde müssen die folgenden Bemerkungen als nicht vollständig gesichert und vorläufig angesehen werden. Das Fehlen einer Fragmentsammlung ist allerdings nicht der einzige Grund für den derzeit noch wenig zufriedenstellenden Stand der Forschung: Nach verheißungsvollen Ansätzen zur Erforschung der Sprachbetrachtung Aristarchs im 19. Jhdt. durch Friedlánder und Ribbach geriet die gesamte sprachwissenschaftsgeschichtliche Fragestellung in bezug auf die früheren Alexandriner in Vergessenheit. Es wurde nicht versucht, Urteile über Aristarchs ,,Grammatik" auf eine umfassende Prüfung seiner Fragmente zu gründen, sondern man begnügte sich mit einer selektiven und zudem noch stichprobenhaften Berücksichtigung der drei wichtigsten Quellenbereiche: der Homerscholien, der griechischen Grammatiker und Varros de lingua Latina. Von einer Darstellung, die auf einer Sichtung des gesamten Materials

36

Es bleiben allerdings Zweifel, ob man Callanans Abschwüchung der analogistischen Position des Aristophanes in dieser Eindeutigkeit folgen kann. Mir scheint, daß er den drei expliziten Analogiefragmenten zu wenig Gewicht beimiBt. Ist ein Theoretiker der Analogie denkbar, der sich in seiner praktischen Sprachbetrachtung so völlig von analogistischen Eingriffen freihält? Allerdings gibt es eben auch keinen Beweis für einen solchen Eingriff. Vgl. dazu meinen in Anm. 22 genannten Aufsatz.

37

Vgl. Pfeiffer (1987) 258-285.

38

Vgl oben Anm. 9 zur Situation bei Aristophanes. [Nachtrag: Inzwischen ist eine Sammlung der Fragmente zur Wortartenlehre Aristarchs mit umfassender Interpretation erschienen: Stephanos Matthaios, Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortarteniehre, Góttingen 1999 (Hypomnemata 126).]

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

103

beruht, sind wir also bis heute noch weit entfernt. (Vgl. aber jetzt die in Anm. 38 genannte Arbeit von St. Matthaios.] Friedlander hatte 1853 unter Beschrünkung auf die Aristonikos-Scholien den vielversprechenden Versuch einer Schematologie des Aristarch vorgelegt, von dem gleich

noch

die Rede

sein

wird.39

Ribbach

war

Quellenbereiche zu berücksichtigen versuchte,

1883

der erste,

notwendigerweise

der

alle

drei

in lückenhafter,

exemplarischer Erfassung.*0 Steinthals Darstellung von 1891 basierte weitgehend auf Stichproben und den Ergebnissen von Friedlander und Ribbach.4! In Fehlings einfluGreicher Dissertation von 1956/57, einem wichtigen Beitrag auch zur Sprachbetrachtung

der

frühen

Alexandriner,

sind

die

Homerscholien

nicht

beachtet?

während 20 Jahre später Siebenborn zwar alle drei Quellenbereiche (in Stichproben) heranzog, aber nicht Friedlünders Schematologie in sein Entwicklungsmodell der Grammatik einbrachte.43 BewuBt beschrünkt sich Erbse (1980) auf Stichproben aus den Scholien und auf eine Erinnerung an Friedlanders Schematologie und Ax (1982) auf die Aristarchfragmente bei Apollonios Dyskolos.44 Kein Wunder, daß die Meinungen stark divergieren, wie ich 1982 beschrieben habe.45 Dabei geht es vor allem um die Frage, ob Aristophanes und Aristarch schon eine hochentwickelte Kenntnis sprachlicher Strukturen und Regeln, eine Art fertiger Grammatik (Fehling, Erbse), oder noch

Unkenntnis

und tastende

Vorarbeit

zu

unterstellen

Ausbau und Systematisierung erst später, in der Zeit des Dionysios

ist,

deren

Thrax und

seiner Schüler, erfolgte (Steinthal, Barwick, Siebenborn).

Trotz dieser wenig zufriedenstellenden Situation möchte ich im folgenden doch zu resümieren versuchen, was wir zur Zeit über die Sprachbetrachtung Aristarchs zu

wissen glauben: Aristarchs sprachtheoretischer Kenntnisstand ist für uns vor allem aus seiner Arbeit am Homertext erschließbar. Bekanntlich braucht bis heute jeder Philologe bei seiner Textarbeit auch einen grammatischen Beschreibungsapparat, mit dessen Hilfe er seine textkritische Entscheidung oder sprachliche Erläuterung formulieren und begründen kann. Dieser Beschreibungsapparat läßt sich eben auch für Aristarch bis zu einem gewissen Grade aus den genannten Quellen, vor allem aus dem reichen Scholienmaterial, erschließen, und seine Detailaspekte sollen hier unserer

Systematik entsprechend angeordnet werden.46 Im Bereich der Sprachkonstituenten (Laut-Silbe-Wort-Satz) hat Aristarch bei seiner Arbeit am Homertext eine Fülle von Beobachtungen gemacht: Orthographische, prosodische und metrische Probleme führen ihn im Laut- und

Silbenbereich zu Urteilen über Konsonantenhäufung und -assimilation (v + oA8), über Vokalquantitäten, über die Spiritus und über Getrennt- und Zusammenschrei-

39 40 41

Vgl. Friedlander (1853). Vgl. Ribbach (1883). Vgl Steinthal (1891) 82-111.

42

Vgl. Fehling (1956/57). Er wird dafür von Siebenborn (1976) 71 getadelt.

43 44 45

Vgl. Siebenborn (1976) 27-29, 30f., 71f., 76-78, 83f., 162f. u.d. Vgl. dazu Erbse (1980) 242. "Vgl. Erbse (1980) und Ax (1982) [hier: 128-139]. Vgl. Ax (1982) 98-100 [hier: 129-131].

46

Es ist ein Nachteil früherer Arbeiten, von zu undifferenzierten Begriffen wie „Regelkenntnis, Regelsystem, normative Grammatik" etc. auszugehen.

104

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

bung.47 Über seine Ansichten

in strittigen Akzentuierungsfragen sind wir durch

besonders zahlreiche Fragmente unterrichtet.48 Vor allem hier wird deutlich, daß sich Aristarch zur Ermittlung der richtigen Akzentuierung der Zusammenstellung ühnlicher Formen, der Analogie also bediente, und zwar in Form einer zweigliedrigen (z.B. 198a: οἰῶν [nicht οἵων] wie αἰγῶν)99 und einer viergliedrigen Proportion (z.B.

Q 8a: ἔκειρε : κείρων = Éneipe : πείρων [nicht neip@v]).59 Neben der Analogie spielte aber auch

die Etymologie

und

der Sprachgebrauch

eine (allerdings eher

untergeordnete) Rolle.5! Im Bereich der Wortformenlehre (Morphologie) ist zunüchst die Lehre von den Wortarten und ihren Akzidenzien und, soweit es sich um flektierbare Wortarten handelt, auch die Flexionslehre (Deklination / Konjugation) zu beachten. Schon immer galt Aristarch als die erste Autorität für das alexandrinische System der acht

Wortarten.52 Jedoch ist bisher nur in Ansätzen versucht worden, dieses System aus

den Fragmenten selbst genauer zu erfassen.53 Die wichtigste Vorarbeit hat hier der bereits erwühnte Friedlander, ohne eigentlich darauf abzuzielen, im ersten Kapitel seiner Ausgabe der Aristonikos-Fragmente mit dem Titel Fragmenta Schematologiae Aristarcheae geleistet. In diesem Kapitel werden die in den Aristonikos-Scholien festgehaltenen Beobachtungen Aristarchs zur syntaktischen Abweichung (σχῆμα) des homerischen im Vergleich zum Sprachgebrauch seiner eigenen Zeit gesammelt und nach Wortarten und Veränderungsprozeduren (Austausch, Weglassung, Zusatz) systematisiert. So erscheint z.B. bei Homer ein Passiv statt eines Aktivs (Verb), ein Nominativ statt eines Genitivs (Nomen), ein einfacher Kasus statt einer Prüposition,

ein Adjektiv statt eines Adverbs etc. Schon allein aus diesem Material läßt sich das aristarcheische System der Wortarten leicht herauslósen, wobei allerdings immer mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß durch Aristonikos eine spätere Terminologie miteingeflossen ist. Jedoch sprechen bestimmte Anzeichen dafür, daß

wir es hier doch mit Aristarchs eigener Terminologie zu tun haben.54 Demnach sah das System der Wortarten bei Aristarch wie folgt aus?5: 1. Nomen (ὄνομα) unter Einschluß der Appellative und wahrscheinlich auch des Adjektivs?6, 47 48 49 50

Vgl. Vgl. 240f. Vgl. Vgl.

Ribbach (1883) 12f., 14-16, 7-10, 10f. und Erbse (1980) 239. Ribbach (1883) 16-34, Siebenborn (1976) 29, Anm. 5 und 71 und Erbse (1980) 238f., Ribbach (1883) 21 und Erbse (1980) 241. Ribbach (1883) 16-34, bes. 16, Siebenborn (1976) 71f. und Erbse (1980) 237f., 239f.

Siebenborn hatte die viergliedrige Proportion für Aristarch nicht gelten lassen wollen wie schon Steinthal (1891) 103. Den Gegenbeweis führt Erbse an der genannten Stelle.

51

Vgl. Ribbach (1883) 8, 32, Siebenborn (1976) 29, 145 und Erbse (1980) 241.

52 53 54

Vgl. Quint. inst. 1,4,20 und Ax (1982) 98 [hier: 129], Anm. 9. Vgl. Steinthal (1891) 107, Anm. und Erbse (1980) 238. Inden von Friedlander (1853) 29 angeführten Stellen wird das Adverb μεσότης genannt (s. dazu

unten Anm. 58) im Gegensatz zu dem zur Zeit des Aristonikos sicher üblichen éxippnpa. Bei

55 56

Friedlander (1853) 14 wird ein neutrales ἀπαρέμφατον und προστακτικόν verwendet. Hier ist später das Femininum üblich (zu ergänzen ist ἔγκλισις). Aristonikos bewahrt also eine ältere Terminologie. Aus Platzgründen kann ich hier nicht jeden einzelnen Terminus bei Friedlander nachweisen. Bei der übersichtlichen Disposition seines Kapitels lassen sich aber die Belege leicht finden. Den EinschluB des Appellativs bezeugt für Aristarch Quint. inst. 1,4,20. Für das Epitheton läßt

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

105

2. Verb (ῥῆμα), 3. Partizip (μετοχή), 4. Artikel (ἄρθρον), 5. Pronomen (ἀντωνυμία), 6. Präposition (πρόθεσις), 7. Adverb (μεσότης), 8. Konjunktion (σύνδεσμος). Dieser Wortartenkatalog entspricht vollständig dem bei Dionysios Thrax überlieferten, und damit gehen die wichtigsten Charakteristika des alexandrinischen Systems, die Unterordnung der Appellative unter das Nomen und die Trennung von Artikel und Pronomen schon auf das Konto Aristarchs.57 Aber es gibt

auch eine wesentliche Differenz: Aristarch nannte das Adverb

nicht ἐπίρρημα,

sondern μεσότης. Damit scheint er in diesem Punkt der stoischen Tradition näher zu

stehen.5 Friedlánders Kapitel erdffnet aber auch Einblicke in Aristarchs Kenntnis der Akzidenzien: Im Bereich des Verbs kennt er die Diathesen Aktiv und Passiv

(παθητικόν / ἐνεργητικόν). Es fehlt das Medium. Weiter sind ihm bekannt die Tempora (χρόνοι), z.B. das Imperfekt (παρατατικός) und das Futur (μέλλων), die (stoische) Unterscheidung der Aktionsarten ,durativ* und ,perfektiv* (παρατατικῶς /

συντελικῶς), die Modi59, darunter sicher der Infinitiv (ἀπαρέμφατον) und der Imperativ (προστακτικόν), die Numeri, z.B. der Dual (Svixdg sc. ἀριθμός) und der Plural (πληθυντικός sc. &p.), und schlieBlich die Personen (2. Person περί τινος, 3. Person πρὸς αὐτόν). Aristarch kennt die fünf Kasus der Nomina (πτώσεις), den Nominativ (ὀρθή, ὀνομαστική sc. πτῶσις), Vokativ (κλητική), Genitiv (γενική), Dativ (δοτική), Akkusativ (αἰτιατική), natürlich auch die Genera (γένη), das Neutrum (οὐδέτερον) und das Maskulinum (ἀρσενικόν) und die Numeri.60 Wieder zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung mit dem System des Dionysios Thrax, aber es fallen auch ebenso wichtige Unterschiede auf. Aristarch kennt das später μεσότης (!) genannte Medium noch nicht und hat noch keine

Bezeichnung für Verbmodi (spüter ἐγκλίσεις genannt) Als Aktionsart hat er das stoische ovvteAixév bewahrt. Er verwendet manche Termini in anderer Form als bei

Dionysios Thrax, z.B. παθητικόν statt πάθος, τὸ ἀπαρέμφατον statt ἡ ἀπαρέμφατος

(ἔγκλισις).

Damit

ist erstens

bewiesen,

daß Aristarch

bereits über

ein

differenziertes System von acht Wortarten und ihren Akzidenzien verfügte und zweitens, daß dieses System zwar schon die wesentlichen Merkmale

des Systems

von Dionysios Thrax vorwegnimmt, aber doch auch Eigenschaften aufweist, die es in zwei Punkten in die Nähe des stoischen Systems rücken, und Lücken, die es als ein noch ausbaufühiges Vorlüufersystem erscheinen lassen. Es sollte übrigens nicht

57 58

59 60

es sich nach Friedlander (1853) 29 und Dionysios Thrax, Gramm. Graec. I 1,43,3ff. Uhlig nur vermuten. Aristarchs Auffassung vom ὄνομα entspricht also genau der des Dionysios Thrax. Die Stoiker hatten Artikel und Pronomen noch unter dem Terminus ἄρθρον zusammengefaßt. Vgl. Schol. Dion. Thrax, Gramm. Graec. 1 3,518,33ff. Hilgard. Als sechsten Redeteil soll laut Diog. Laertius VII 57 der Stoiker Antipater die μεσότης eingeführt haben. DaB damit wirklich das Adverb gemeint ist, wird allerdings erst durch die oben genannten Aristarchbelege abgesichert. Ein Problem liegt darin, daB Antipater jünger ist als Aristarch. Die Prioritäten sind also unklar, die Parallele zur Stoa aber gewiß. Es gibt noch keine eigene Bezeichnung für Verbmodi bei Aristarch. Er subsumierte sie offensichtlich unter ῥῆμα. Vgl. Friedlander (1853) 7. Zuden Genera vgl. Ribbach (1883) 10. Die Kenntnis der Numeri läßt sich analog zur Kenntnis der verbalen Numeri erschlieBen.

106

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

übersehen werden, daß Friedländers Schematologie ja in erster Linie dazu diente, Aristarchs Kenntnis der syntaktischen Abweichungen bei Homer nachzuweisen. Seine Beobachtungen erhellen also nicht nur das morphologische System Aristarchs, sondern beweisen auch ein Gespür für die Satzerginzungen in der Syntax des einfachen Satzes (z.B. der Ersatz eines prüpositionalen Ausdrucks durch einen bloBen Kasus an derselben Satzgliedstelle).

Zur

Flexionslehre

Aristarchs

scheint überraschenderweise

nur

sehr

wenig

überliefert zu sein, obwohl nach Varros Zeugnis Aristarch und seine Schule z.B. auf die Kasuslehre besondere Mühe verwendeten.6! Meist wird als Beispiel das

Scholion E 299b angeführt62, wo Aristarch die heteroklitische Form ἀλκί (statt ἀλκῇ) mit der Analogie σάρκα : ἄλκα = σαρκί : ἀλκί zu verteidigen sucht. Wie weit das Wenige,

das Ribbach

über die Deklinations-

und

Konjugationsformen

zusammengetragen hat®3, wirklich die uns noch zugängliche Leistung Aristarchs abdeckt, müssen spätere Forschungen zeigen. Mit der Spärlichkeit der Zeugnisse kontrastiert jedenfalls merkwürdigerweise der hohe Stellenwert der Flexionslehre für

die Position der früheren Alexandriner in der Geschichte der antiken Grammatik.64 Laut Fehling (und Erbse) sollen ja bereits Aristophanes und Aristarch über eine voll ausgeprägte Flexionslehre verfügt haben, die spätere Grammatiker im wesentlichen

nur weiterzugeben brauchten.Ó5 Unsere derzeitige Materialbasis scheint aber in bezug auf die Flexionslehre eine solche Schluffolgerung nicht zuzulassen. sondere scheint mir nach

Siebenborns

Argumentation

Insbe-

sicher, daf) Aristarch

noch

nicht im Besitz der voll ausgebildeten Flexionsschemata (κανόνες) war, wie wir sie etwa später bei Herodian finden.96 Man war also offensichtlich noch auf dem Wege, eine Flexionslehre zu entwickeln, und es blieb Raum für Weiterentwicklungen. Natürlich ist damit keineswegs eine ausgedehnte empirische Kenntnis von Flexionsformen und eine Vorstellung von Regelmäßigkeiten in der Flexion bei Aristarch ausgeschlossen. DaB man vielmehr trotz dieses Belegmangels noch Rudimente einer Derivations- und Flexionstheorie Aristarchs erkennen

kann, wird

in dem

Kapitel

über den Analogie-Anomalie-Streit zur Sprache kommen (vgl. Kap. 4). Soviel zum grammatischen Beschreibungsapparat Aristarchs, der bisher aus seiner Arbeit am Homertext ermittelt worden ist. Es kann jedoch darüber hinaus noch nachgewiesen werden, daB Aristarch grammatische Kategorien nicht nur auf literarische Texte anwendete, sondern auch Fragen der Morphologie als Gegenstand sui generis behandelte. Wir wissen, daß Aristarch eine einflußreiche Definition des Pronomens vorgelegt, für ein bestimmtes Pronomen einen terminologischen Neuvorschlag gemacht und sich auch mit der Funktion bestimmter Wortarten beschäftigt

hat.67 Es zeigen sich also schon bei ihm die ersten deutlichen Ansätze zu einer

61

Vgl. Siebenborn (1976) 71 und Varro, ling. Lat. 8,63.

62 63 64

Vgl. Ribbach (1883) 21, Siebenborn (1976) 71, Anm. 2 und Erbse (1980) 238, Anm. 4. Vgl. Ribbach (1883) 41-44 und 44-47. Vgl. Ax (1982) 98-101 [hier: 129-132].

65

Vgl. Fehling (1956) 214f., 260ff. und Erbse (1980) 237. Bekanntlich hat Fehling, Gnomon 51 (1979) 489, diesen Standpunkt wieder zurückgenommen.

66

Vgl. Siebenborn (1976) 71f., 78, dagegen Erbse (1980) 237.

67

Vgl. Ax (1982) 107-109 [hier: 136-138].

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

107

Verselbständigung grammatischer Probleme aus ihrer ursprünglichen Einbindung in die philologische Textarbeit. Was den Bereich der Sprachnormen angeht, so war schon zu beobachten, daB

Aristarch

bei

Problemfällen

seinen vor

orthographischen,

allem

die

Analogie

prosodischen zur

Anwendung

und

morphologischen

brachte,

daneben

aber

bisweilen auch die Etymologie und den Sprachgebrauch gelten ließ, u.U. sogar gegen die Analogie. Die Analogie als Sprachnorm scheint er aber auch, wenn wir Varros -

Zeugnis glauben wollen, theoretisch behandelt zu haben.68 Daß er sich jedenfalls auch hier vom Homertext löste und in die Diskussion um Fragen des richtigen Griechisch seiner Zeit (Hellenismos) eingriff, ist von Siebenborn und mir gezeigt

worden.69 Ich komme im Zusammenhang mit dem Analogie-Anomalie-Streit auf die Sprachnormfrage bei Aristarch zurück. Nach diesem Kurzüberblick läßt sich in aller Vorsicht folgendes resümieren: Aristarch setzte seine grammatische Kompetenz in erster Linie als ein Hilfsinstrument für seine philologischen Zwecke, die Textemendation und Texterläuterung, ein. Aber schon bei ihm sind erste deutliche Anzeichen zu einer Verselbständigung des μέρος τεχνικόν aus der Philologie zu beobachten. Er verfügte über einen hochentwickelten grammatischen, insbesondere morphologischen Beschreibungsapparat. Das alexandrinische System der acht Wortarten und ihrer Akzidenzien ist von ihm in allen wesentlichen Punkten vorgeprägt, wenn es auch späteren Grammatikern aufgrund terminologischer Eigenarten und begrifflicher Lücken noch ausbaufähig schien. Seine Leistung in der Flexionslehre ist bisher noch nicht ausreichend geklärt, jedoch scheint eine Kenntnis der späteren Kanones noch nicht vorhanden gewesen zu sein. Hier konnten Weiterentwicklungsbemühungen

ansetzen. Im Sprachnormbereich läßt sich anders als bei Aristophanes für Aristarch sicher sagen, daß er bei seiner Sprachbetrachtung nicht nur deskriptive, sondem auch normative Ziele verfolgte, als Philologe zum Zweck der Emendation literarischer Texte und als Sprachpfleger zur Verbesserung des Hellenismos. Ebenso eindeutig läßt sich sagen, daß Aristarch vor allem die Sprachnorm ‚Analogie‘ zur Anwendung brachte. Er war sicher Analogist, wenn auch mit Maß und linguistischer Einsicht, wie

später noch zu hören sein wird. Bei alldem ist zu bedenken, daß wir nur Aristarchs „Grammatik im Kopf“,

seine

grammatische Kompetenz, erfaßt haben. Welches Gewicht Aristarch diesen Fragen beimaß und wie und wo er sie schriftlich behandelte, schon thematisch konzentriert

oder beiläufig in seinen philologischen Schriften, entzieht sich unserer Kenntnis. Ein Abriß der Wortarten, eine Monographie de pronominibus oder de analogia ist für ihn ebensowenig nachweisbar wie für Aristophanes. So bleibt Raum genug für

systematisierende und erweiternde Bemühungen seiner Schüler.’0 Aber selbst, wenn man

unterstellt,

daß

Aristarch

die zuvor

skizzierten

Resultate

seiner

Sprachbe-

obachtungen seinen Schülern nur mündlich oder im Rahmen seines philologischen 68

Vgl. Varro, ling. Lat. 9,1. Vgl. außerdem die Erweiterung des

bedingungen durch Aristarch oben Anm. 29. 69

Vgl. Siebenbom (1976) 30f. und Ax (1982) 109 [hier: 138].

70

Vgl. Ax (1982) 109 (hier: 139] und (1986) 229.

Katalogs

der Ähnlichkeits-

108

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

Werkes

vermittelt

hat, muß

sein Anteil

an

der

Entwicklung

der

hellenistischen

Grammatik als außerordentlich bedeutend bezeichnet werden. Schon die frühen Alexandriner waren jedenfalls in einem MaBe an Fragen der Redeteilsystematik und der Sprachrichtigkeit interessiert, da man nicht erst ins erste Jhdt. v.Chr., also in die

zweite Generation nach Aristarch, gehen mu8, um sprachsystematische

Abhand-

lungen in beiden Teilen des μέρος τεχνικόν anzunehmen.

3. PERGAMON:

KRATES VON MALLOS

(CA. 200 — 150 V.CHR.)

Krates von Mallos, stoischer Philosoph und Philologe, war Leiter der Bibliothek in Pergamon unter Eumenes II. (197 — 158 v.Chr.). Er war Schüler des Diogenes von Babylon und Lehrer des Panaitios. Einziger Fixpunkt seines Lebens ist für uns seine Teilnahme an einer Gesandtschaft nach Rom 168 v.Chr., in deren Verlauf er sich ein Bein brach und die Genesungszeit dazu nutzte, die Rómer durch Vorlesungen in die

Philologie einzuführen.7! Daß er häufig neben Aristarch als der Hauptvertreter der Téchne grammatiké genannt wird und daß seine philologischen und linguistischen Studien in einem rivalisierenden Gegensatz zu denen Aristarchs standen, habe ich schon erwahnt.72 Aus diesem Gegensatz erklärt es sich auch, daß er sich mit dem SelbstbewuBtsein des Logikers und Philosophen nicht γραμματικός, sondern

κριτικός nannte.’3 Die wichtigsten (nicht alle) Fragmente sind von H. J. Mette in zwei Bänden gesammelt worden.7^ Über Krates’ philologisches Werk informiert Pfeiffer.75 In unserem Zusammenhang ist Krates vor allem wegen seiner Teilnahme an dem sog. Analogie-Anomalie-Streit von Bedeutung. Krates galt als der Vertreter des

Anomalieprinzips und damit als Antipode des Analogisten Aristarch.76 Da dieser Streit aber als Ganzes behandelt werden soll, werden die entsprechenden Ansichten des Krates erst im nächsten Abschnitt behandelt. Bleibt also noch die Frage nach einem eventuellen Beitrag des Krates zum

Sprachkonstituententeil

des

μέρος

teyvixóv.

Obwohl

es eigentlich

bei

einem

dialektisch versierten Philosophen wie Krates sicher sehr viel eher als bei den alexandrinischen Philologen vorstellbar, ja zu erwarten wäre, daß er einen

systematischen Traktat über die Elemente der Sprache verfafte77, gibt es leider keinen Hinweis auf eine derartige Schrift des Krates. Nur ein winziger Rest aus diesem Themenbereich ist mit dem Fragment Parateresis 52 Mette erhalten. Es ist 71

Vgl. Sueton, gramm. et rhet., cap. 2 und Pfeiffer (1978) 287, Anm. 6 und 299.

72

S. oben S. 95 mit Anm. 3-5.

73

Vgl. Sext. Emp. adv. math.

74

"Vgl. H. J. Mette (1936) und Mette (1952), dazu Pfeiffer (1978) 292, Anm.

75

dieser Sammlung besteht darin, daß Mette ganze Passagen aus Varro oder Sextus aufnahm, ohne daf ihre Zuweisung zu Krates wirklich gesichert ware. Vgl. Pfeiffer (1978) 287-299. Eine Übersicht über Krates’ Sprachtheorie versucht Mette (1952)

76

1-48. Vgl. vor allem Varro, ling. Lat. 9,1 und (von Varro abhüngig) Gellius, Noctes Atticae 2,25,4.

77

1,79 und 248.

In dem Philologiemodell des Kratesschülers Trauriskos vorgesehen. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 1,248.

ist ein solcher

38. Das Problem

Teil

ausdrücklich

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

eine Definition des Sprachlauts (στοιχεῖον).78 In welchem

109

Kontext Krates diese

Definition verwendet hat, ist unbekannt. Sollte sie tatsächlich aus einer Grammatik in der Art der Téchne des Dionysios Thrax stammen, wäre dies ein wichtiger

Hinweis auf die von Barwick postulierte und vor die alexandrinische Téchne datierte „stoisch-pergamenische Techne.*79 Doch gibt es eben dafür keinen Beweis. Immerhin ist so wenigstens gesichert, daB sich auch Krates mit diesem Teil des

μέρος τεχνικόν befaBte.

4. DER ANALOGIE-ANOMALIE-STREIT

Das Problem des Analogie-Anomalie-Streits besteht vor allem darin, da8 offenbar nur Varro in den Büchern 8-10 von de lingua Latina darüber berichtet und dabei

Krates und Aristarch als Antipoden nennt.80 Von besonderer Wichtigkeit sind dabei die Stellen 8,23 und 9,1£, weil hier der Streit in seinen Grundthesen

und

seinen

Leitbegriffen skizziert wird, dazu Autoren und Kontrahenten genannt werden und sogar der Versuch gemacht wird, zwischen den Parteien zu vermitteln. Im Zusammenhang mit der Einführung der beiden declinatio-Arten, der declinatio voluntaria (Derivation) und der declinatio naturalis (Flexion) (8,21f.) bemerkt Varro 8,23, daß sich aufgrund des Vorkommens von Regelmäßigkeiten und Anomalien in beiden declinatio-Arten zwei Parteien gebildet hatten, eine Analogistenpartei, die als

Grundthese eine Regelmäßigkeit im Ableitungsvorgang (ἀναλογία) annimmt und diese zur Norm

erhebt,

und

eine Partei der Anomalisten,

die das Prinzip

der

Unregelmäßigkeit in der declinatio (ἀνωμαλία) zugrundelegt mit der Folge, daß nicht die Analogie, sondern allein die consuetudo, der Sprachgebrauch, normative Geltung

beanspruchen dürfe. Leider wird nur eine anonyme Quellenangabe gemacht, denn es heißt nur: „de eo Graeci Latinique libros fecerunt multos.^ Varros Vermittlungsversuch besteht nun an dieser Stelle darin, daf er beiden Sprachnormen zu ihrem Recht

verhilft: die Analogie gelte nur in der Flexion, die Anomalie nur in der Derivation. Es liegt also nach Varros Meinung ein Mißverständnis vor insofern, als beide Parteien

den Geltungsanspruch ihrer Sprachnorm jeweils auf die gesamte declinatio ausdehnen wollen. Dazu paft die zweite Stelle 9,1f. sehr gut. Hier wird die Information von 8,23 bestätigt, zugleich aber auch erweitert und präzisiert. Wieder werden Gegner und Argumente genannt, aber diesmal mit Namen. Der Streit wurde zwischen Krates und Aristarch geführt, und unzweifelhaft vertrat der eine (Aristarch) das Prinzip der Analogie und der andere (Krates) das der Anomalie. Allerdings erscheint hier nur Krates, der apologetischen Funktion des neunten Buches entsprechend, als der wenig einsichtige Initiator eines eigentlich überflüssigen Streits, der ganz im Sinne von 8,23 78 79 80

„Laut ist der kleinste, nicht mehr weiter aufteilbare Teil der buchstabierbaren, schreibbaren Stimme." Vgl. Mette (1952) 67f. und meine Korrektur in Ax (1986) 218-223. Zum Problem der einstrüngigen oder zweistrüngigen Entwicklung der frühen griechischen Grammatik vgl. Ax (1986) 245-252. Vgl. Fehling (1956) 264-270. Laut Fehling (1956) 223f. und 266 ist Gellius, Noct. Att. 2,25 als von Varro abhängig auszuschließen und ebenfalls Sext. Emp. adv. math. 1,176ff., der nichts von einem Streit weiß und keine Namen nennt. Skepsis meldet Calboli (1962) 177f. an, der vor

allem auch den Einbezug Ciceros und Cäsars vermißt.

110

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

auf einem Mißverständnis, hier des Krates, beruht. Krates kämpft mit den Waffen Chrysipps gegen Aristarch, aber er verkennt dabei dessen Intention, die mit der Aristarchs nichts zu tun hat. Chrysipp nahm Anstoß an Fallen wie μάχομαι, das der Form nach medial ist, vom Sinn her aber aktiv „ich kimpfe* bedeutet. Solche Fälle gehören in die Lehre vom Verhältnis ‚Wort-Sache‘, also in die impositio verborum. Aristarch hatte dagegen nur vorsichtig behauptet, daß man im Bereich der declinatio similitudinem quandam", die Analogie bis zu einem gewissen Grade also, zu befolgen hátte, aber stets unter Wahrung des Sprachgebrauchs (consuetudo). Wieder wird also darauf verwiesen, daß der Fehler des Streits in einer Unklarheit über den Geltungsanspruch der Sprachnorm ,Analogie' besteht. Beide Prinzipien, Analogie und Anomalie, kónnen nur jeweils bestimmte Terrains für sich beanspruchen, wobei für die Analogie gilt, daB sie nur im Bereich der declinatio, und hier nur in der Flexionslehre, ihren Anspruch geltend machen, dabei aber keinesfalls die consuetudo (συνήθεια) aufer Kraft setzen will. Analogie und Sprachgebrauch sind also keinesfalls konkurrierende Normen, die sich gegenseitig ausschlieBen, woraus folgt, daß Analogisten und Anomalisten eigentlich einer Meinung sein müßten. Aber die Einschützung des Streits darf natürlich nicht nur von solchen Einzelstellen ausgehen. Vielmehr müssen die gesamten Bücher 8-10 dazu herangezogen werden, um die Hauptargumente und die Kontrahenten des Streits noch deutlicher zu konturieren.8! Zuerst zu den Argumenten: Die Anomalisten, als deren Hauptvertreter Krates 8,64, 8,68 und 9,1 genannt wird, bestreiten das Gesetz

der Analogie in der Sprache und behaupten statt dessen die Anomalie. Anomalien seien allenthalben in der Sprache nachzuweisen, insbesondere im Flexionssystem, Defizienzen z.B. im Genus-, Numerus-

und Kasussystem

der Nomina,

aber auch

Wortbildungs- und Flexionslücken, die bei Geltung des Analogieprinzips gefüllt sein müßten. Weder das Grundgesetz der Analogie treffe zu, noch seien die Erklärungsmethoden der Analogisten ausreichend. Norm sei allein der Sprachgebrauch, Zweck die Verständigung, die auch mit Hilfe anomaler Sprachformen erreicht werde. Dagegen verteidigen die Analogisten, Aristarch und seine Schüler (8,63; 8,68; 9,1; 9,43 und 9,91), die Geltung des Analogieprinzips in der Sprache wie bei anderen Natur- und Kulturphünomenen auch. Aber sie wehren sich gegen den Vorwurf eines totalen Geltungsanspruches. Analogie wird nicht für die Derivation, sondern nur für die Flexion behauptet und auch da nur unter Wahrung der obersten Instanz, des Sprachusus (8,23; 9,1; 9,34-35; 9,50; 10,16). Anomalien im Flexionssystem und in der Wortbildung sind ohne weiteres zuzugeben, aber sie sprechen nicht gegen die Existenz der Analogie. Anomalien müssen nur richtig erklürt werden, semantisch aus

dem Verhältnis von Bezeichnung und Sache, pragmatisch aus den Verhältnissen des Sprachbenutzers (matura / usus) heraus (9,36-39; 9,50-94). So ist es z.B. aus pragmatischen und semantischen Gründen verfehlt, ein Femininum zu „Rabe“ (9,56),

einen Plural zu „Blei“ (9,66) Das Analogieprinzip ist also Anwendung als Sprachnorm besteht allgemein aus dem 81

oder einen Komparativ zu „einäugig“ (9,72) zu fordern. gültig, nur muß man bestimmte Bedingungen bei seiner beachten. Das Verfahren zur Ermittlung von Analogien Vergleich je zweier Verhältnispartner, die jeweils in

Eskann hier nur die Quintessenz der Bücher 8-10 unter weitgehendem Verzicht auf die Angabe von Einzelstellen gegeben werden.

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie gleicher Relation (ratio) zueinanderstehen, also zB.

111

a: b = c : d (ratio 1 = ratio 2).

Diese Formel ist vielseitig verwendbar, z.B. in der Mathematik:

1:2

=

5:8

f

_,

atio gleich, nämlich das Doppelte,

nz

aber eben auch in der Sprache: amor:amori

_

— dolor:dolori

f

_

Nominativ / Dativ

Tr

Ist nun eins dieser Proportionsglieder unsicher oder unbekannt, kann es mit Hilfe der Proportionsgleichung abgesichert oder erschlossen werden. Im Sprachbereich darf man aber eben Wörter nicht beliebig in diese Formel einsetzen, sondern muß bestimmte Vergleichsbedingungen beachten. Man darf nur Wörter aus dem gleichen morphologischen

Bereich (deklinabel / indeklinabel; Derivation / Flexion), von der

gleichen Wortart und mit den gleichen Akzidenzien zusammenstellen (Genus, Kasus, Numerus, Endung, Akzent etc.). Man

erkennt unmittelbar, welch hochdifferenzierte

Morphologie solchen Überlegungen bereits zugrundeliegt. Soviel zu den Argumenten des Streits. Die historische Dimension des Streits wird nur aus den hier und da wie Streiflichter aufleuchtenden Namensnennungen faßbar. Der Gegensatz zwischen Krates

und

Aristarch

steht

außer

Frage,

und

zwar

treten

beide

durchaus

als

argumentierende Individuen in Erscheinung. Aristarch erscheint allerdings an drei Stellen nur indirekt als Schulhaupt der Aristarchei (8,63; 10,16; 10,42). Von Cratetei

ist nirgendwo die Rede, doch werden auch die Anomalisten durch ein pluralisches dicunt, reprehendunt etc. als eine Art Schule eingeführt und Aristarch gegenübergestellt. Auf alexandrinischer Seite wird zweimal Aristophanes von Byzanz als

Vertreter der Analogie genannt.82 Aristarch erscheint zunächst als Verfechter der These vom eingeschränkten Geltungsanspruch der Analogie (9,1), einer These, die auch 10,16 seinen Schülern zugeschrieben wird. Von Aristarch und seiner Schule wird außerdem behauptet, daß sie sich vor allem um die Kasuslehre bemühten (8,63) und das Analogieprinzip sorgfältiger als andere zur Anwendung brachten (10,42). Besonders an den Namen Aristarchs ist eine Teilargumentation geknüpft, die ich die Vokativthese nenne und die zumindest nach 8,68 als Spur einer direkten Ausein-

andersetzung zwischen Krates und Aristarch gelten kann.83 Sie ist für Varro so attraktiv, daß er sie noch zweimal ohne Nennung des Krates für Aristarch vermerkt (9,43; 9,91).84 82

5. oben S. 100f.

83

Krates muB, wie aus 8,68 hervorgeht, gegen das Analogieprinzip „Von gleichen Wörtern werden gleiche Wörter auf gleiche Weise abgeleitet!“ mit dem Einwand polemisiert haben, daß von gleichen Wörtern durchaus ungleiche Ableitungen entstehen können, z.B. lat. /upus : lepus * lupi : leporis. Aristarch erklärt unter Zuhilfenahme des unterschiedlichen Vokativs (Jupe : lepus)

die Analogieproportion für ungültig. Dagegen halten die Anomalisten (8,69), daß es nicht ge84

stattet sei, Hilfe von außen zu suchen. Weitere anonyme Stellen zur Vokativthese 8,42f.; 9,39; 10,28f. Vgi. außerdem Fehling (1957)

112

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

Krates selbst erscheint, wie schon gesagt, als Verkenner der Tatsache, daf es sich bei der gesamten Kontroverse um ein Mißverständnis handelt. Daß er 8,68 gegen das Analogieprinzip durch Nachweis anomalistischer Flexionsformen polemisiert, habe ich eben erklärt. 8,64 vertritt er die anomalistische

Defizienzthese

mit dem

Argument, daß z.B. bei Annahme von Flexionsanalogien auch die Buchstabennamen Kasusformen haben müfiten, also alpha, alphatos etc. Weitere Namensnennungen zeigen, daß Varro vor allem ältere griechische Quellen benutzt hat, denn er nennt die Stoiker Kleanthes (331 — 232), Chrysipp (282 — 208), Antipater (f 137), Krates (ca. 200 — 150), Apollodor (ca. 180 — 120) und die Alexandriner Aristophanes von Byzanz (ca. 257 — 180), Aristarch (ca. 217 — 144) und zwei Aristarchschüler

Parmeniskos (ca. 100) und Dionysios Sidonius (2. Jhdt.).85 Der zeitliche Rahmen der namentlich fixierbaren Quellenautoren liegt also zwischen etwa 300 — 100 v.Chr.,

wobei natürlich die Lebenszeit des Krates und des Aristarch (ca. 200 — 150 v.Chr.) den eigentlichen zeitlichen Kernbereich des Streits darstellt. Soviel in Quintessenz zu dem, was sich über den Streit, so wie ihn Varro uns vermittelt, sagen läßt. Hören wir

nun, was die Forschung daraus gemacht hat.86 Man darf mit Siebenborn (1976: 2) sagen, daß der Analogie-Anomalie-Streit in seiner Entstehung, seinem Verlauf und in seiner Wirkung auf die spätere Grammatik bisher alles andere als geklärt ist. Ist Varro wirklich die einzige Quelle oder läßt sich auch Sextus Empiricus, adv. math. 1,176ff. als eine Polemik gegen die alexandrinische Analogie verstehen? Ist die verglichen mit anderen grammatischen Schriften der Antike so eigenwillige Terminologie und Systematik auf Varro selbst oder auf das Alter und die Qualität seiner Quellen zurückzuführen? Lassen sich überhaupt gesicherte Ergebnisse erzielen? Wie groB hier der Spielraum für die verschiedensten Schlußfolgerungen ist, zeigt der Gang der Forschung. Von einer anfänglich auf tausend Jahre berechneten Streitdauer mit Auswirkungen auf die gesamte antike Sprachtheorie (Lersch) ausgehend hat man den Streit in seiner zeitlichen Ausdehnung und in seinem sachlichen Gewicht immer weiter einschränken wollen, zunächst auf

einen wissenschaftlichen Gärungsprozeß in der Techne von Krates’ und Aristarchs Zeiten bis in die Zeit Varros, dem Hóhepunkt der Kontroverse (Steinthal). Als

nächste Reduktionsstufe

folgte dann

die Beschränkung

auf „Randgebiete“

der

Grammatik wie die Morphologie, vor allem die Flexionslehre und Prosodie (Barwick, Pohlenz). Es war zu erwarten, daß am Endpunkt dieser Forschungslinie die Existenz des Streits überhaupt in Frage gestellt wurde, und genau dies hat Fehling in seiner Dissertation von 1956/57 getan, indem er die These vertrat, Varro habe den Streit

erfunden.87 Zunächst

muß präzisiert werden, daß Fehling nicht so weit

gehen will zu

leugnen, daB es eine Polemik zwischen Krates und Aristarch gegeben habe.88 Es geht 85 86 87 88

94. Die Stellen lassen sich leicht über die Indizes der Varroausgaben finden. Ich kann hier nur knappe Hinweise geben und stütze mich vor allem auf den Forschungsbericht von Siebenborn (1976) 2-13. Vgl. außerdern auch den Bericht von Blank (1982) 1-5. Vgl. Fehling (1956 und 1957). Er beklagt sich Gnomon 41 (1969) 274 mit einem gewissen Recht darüber, daß seine These im allgemeinen verkürzt wiedergegeben werde. Es müsse heifen: ,Die Kontroverse hat nicht existiert, wie die Forschung sie sich vorzustellen pflegt."

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

113

ihm vielmehr darum nachzuweisen, daf Varro seine Kenntnis von dieser Polemik aus grammatischen Lehrbüchern seiner Zeit, Einleitungen in die Flexionslehre, bezogen und sie eigenmächtig zu einer Kontroverse aufgebläht habe, die „weitere Kreise

gezogen und eine Literatur von Streitschriften hervorgerufen habe.“89 Nur in diesem Sinn, der Vortäuschung einer wirkungsvollen und hochrangigen Kontroverse zweier Schulen, soll also die These von der Erfindung des Streits durch Varro verstanden

werden. Zum Beweis dieser These glaubt Fehling zeigen zu kónnen, daf Varro die schon bei den früheren Alexandrinern fertige und später im wesentlichen einheitliche Analogielehre nicht verstanden und schlecht verarbeitet und seinem Gegenstand die von Ciceros philosophischen Schriften her bekannte pro- und contra-Disposition des „disputare in utramque partem" übergestülpt habe mit der Folge, daß der Eindruck entstand, es habe eine entsprechende Kontroverse wirklich gegeben. Fehlings These

ist bis heute umstritten.” Und in der Tat ist es bei der oben skizzierten Quellenlage nicht leicht, einen eigenen begründeten Standpunkt zu finden. Ich kann hier leider aus Platzgründen nicht detailliert auf die schwierige Problematik eingehen. Ich möchte aber abschließend trotzdem sagen, daß es für mich keinen Grund gibt, an dem Analogie-Anomalie-Streit zwischen Alexandrinem und Pergamener zu zweifeln, mag das wirkliche Ausmaß und die Auswirkung des Streits auch niemals ermittelt werden können. Es ist keinesfalls sicher, daß bereits in der

Frühzeit der Grammatik vor Dionysios Thrax der Hóhepunkt der Flexionslehre anzusetzen ist, dem eine schnelle Erstarrung folgte.?! Und damit entfällt eine wesentliche Voraussetzung für den Vorwurf gegen Varro, denn nun bleibt eben doch Raum für einen kontroversen Entwicklungsprozeß der Grammatik vor Varro, der sich in de lingua Latina niedergeschlagen haben kónnte. Ferner haben die unbestreitbaren Darstellungsmängel von de lingua Latina nicht notwendigerweise zur Folge, daB diese Schrift als Quelle für die alexandrinischen und pergamenischen Lehren wertlos ist. Es gibt Passagen von hohem linguistischem Niveau darunter, z.B. 9,36-39 und 50-94, die man gerade dann, wenn man Varro für dumm hilt, nicht für

von ihm erfunden halten kann. Ohne Zweifel haben sie Quellenwert, aber sie müssen wie in einem byzantinischen Bauwerk verbaute Blócke hellenistischer Bauten aus ihrem neuen

Kontext

herausgelóst

und,

wenn

möglich,

in

ihrem

ursprünglichen

Zusammenhang rekonstruiert werden. SchlieBlich war das Analogieproblem eben keine rein akademische Frage von eher nebensächlicher Bedeutung, und es war auch

nicht auf Probleme der grammatischen Flexionslehre beschränkt.?2 Es entstand in 89 90

91 92

Vgl. Fehling (1956) 270. Vorsichtig korrigierend äußerte sich schon Dihle (1957) 203-205, skeptisch bis ablehnend Collart, Dahlmann und Schróter in Entretiens (1963) 120, 135, 136. Vgl. dazu Fehling, Gnomon 41 (1969) 274. Für übertrieben halt Fehlings These auch Pfeiffer (1978) 250, Anm. 211 und 251, Anm. 217. Abgelehnt wurde sie von Calboli (1962) 155-157, von Siebenborn (1976) 9-13; 68-71; 98, Anm. 1 und von Cavazza (1981) 114f. Dazu muf die Stellungnahme von Siebenborn als besonders begründet hervorgehoben werden. Vgl. dazu aber Fehling, Gnomon 51 (1979) 488-490. Zustimmung findet Fehling bei Pinborg (1975) 110, bei Blank (1982) 1-4 (bisher wohl am nachdrücklichsten) und bei Taylor (1987) 6-8. Diese für Fehlings Argumentation so überaus wichtige Voraussetzung wird in seiner Siebenbornrezension, Gnomon 51 (1979) 489, wieder zurückgenommen. Vgl. dazu vor allem Dihle (1957) 203-205.

114

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

Alexandria und Pergamon aus dem Ringen um den richtigen Text der Klassiker und um das angesichts einer Vielfalt von Sprachstufen und Dialekten immer dringlicher gewordene Problem einer Normierung der Sprache, das nicht nur die wissenschaftliche Philologie, sondern auch den Literaturunterricht in der Schule betraf. Und

natürlich spielte es auch für die Rhetorik eine erhebliche Rolle.93 Dies wird für die Zeit Varros schon allein daraus deutlich, daß Cäsar 55/4 v.Chr. ein Buch de analogia

schrieb und daß auch Cicero in rhetorischem Zusammenhang der virtus elocutionis latinitas und puritas immer wieder auf das Analogieproblem zu sprechen kam.94 Es handelt sich also um eine durchaus emstgenommene, für alle Stufen des damaligen Bildungssystems wichtige Sprachnormdiskussion, an der die besten Geister jener

Zeit lebhaft teilnahmen.95

Daß die Diskussion

um

den Geltungsanspruch

der

Analogie nicht erst zur Zeit Varros begann, sondern ihre griechischen Vorläufer hatte,

ist mehr als wahrscheinlich.96 Als eine der Sprachnormen neben dem Sprachgebrauch und der literarischen Tradition ging dann die Analogie in den normativen Teil der spüteren Grammatik ein, wie man noch bei Quintilian, inst. 1,6,3ff. beobachten kann,

und behauptete diese Stellung bis zum Ausgang der Antike.

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Lehre von

Glotta 58 (1980).

der Analogie und

der

93 94

Zur Beziehung von Analogie und Rhetorik grundlegend der gesamte Aufsatz von Dihle (1957). "Vgl. z.B. Cicero, Orator $8 155-162. Vgl. dazu neben Dihle (1957) auch Siebenbom (1976)

95

Interessant ist in diesem Zusammenhang die plausible Vermutung, daß Cicero seine Ausfithrungen zur Analogie von Varro übernahm. Vgl. Dihle (1957) 197. Hier bieten sich natürlich Krates und Aristarch an. Bei der vielfach bezeugten Rivalität in philologischen Fragen ist übrigens kaum einzusehen, warum sich ein solcher Gegensatz nicht auch in ihren linguistischen Ansichten gezeigt haben soll.

111-116.

96

Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie

115

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ARISTOPHANES VON BYZANZ ALS ANALOGIST. ZU FRAGMENT 374 SLATER (7 VARRO, DE LINGUA LATINA 9,12)

Im neunten Buch von Varros de lingua Latina werden im Gegenzug zum achten bekanntlich Argumente zugunsten der Analogie in der Sprache vorgeführt. Wie schon das achte Buch ist dabei auch das neunte in einen allgemeinen ($8 7-35) und einen besonderen Teil (88 36-110) gegliedert, deren erster wiederum zweigeteilt ist, denn in den $5 8-23 geht es um das Verhältnis der beiden Sprachnormen consuetudo (Sprachgebrauch) und analogia (Analogie), wührend die $8 23-35 die Analogie als ein umfassendes Naturphänomen, also auch als Phänomen der Sprache vorstellen sollen. Der Abschnitt 9,8-23 zeigt das für viele Partien von Varros Schrift charakteristische Bild einer Reihe von Argumentationsteilen, die, wie aus einem Zettelkasten recht und schlecht zusammengeklebt, zu einer neuen pseudo-originellen Einheit verbunden wurden, eine Art Patchwork aus älteren Quellen also.! Dennoch läßt sich eine Folge von neun Argumenten ermitteln, die, ineinander verschachtelt, insgesamt drei Themenbereichen zuzuordnen sind: 1. Es finden sich zunächst allgemeine Äußerungen zum Verhältnis von consuetudo und analogia, die von Varro in diesem Abschnitt

auch

ratio similitudinum,

similium

verborum ratio, meist aber einfach ratio genannt wird.2 Analogie und Sprachgebrauch sind keinesfalls konkurrierende Normen, die sich gegenseitig ausschlieBen (§§ 8-9; 18). Wer der consuetudo folgt, folgt zugleich auch der Analogie, denn das System analog flektierter Wörter ist Bestandteil des Sprachgebrauchs und wird durch ihn kontrolliert. Die Analogie ist also in der consuetudo enthalten, allerdings nur in der recta consuetudo,

die das Ergebnis der heilsamen Wirkung eben der Analogie ist.3 2. Solche Äußerungen sind eng mit dem zweiten Themenkomplex verbunden ($5 1011; 14; 15-16; 16): Der Analogist wirkt wie ein Arzt und Lehrer, er heilt Krankheiten der

consuetudo, betreibt Spracherziehung und muB dabei bestimmte Krankheits- bzw. Fehlertypen und Personenkreise unterscheiden und entsprechend unterschiedlich behandeln.

Es wird

deshalb,

wie schon

angedeutet,

eine

recta

und

eine

mala

oder

depravata consuetudo unterschieden.4

1

Solche zweifellos vorhandenen Darstellungsmängel sagen allerdings nichts über den Wert der Quellen Varros aus. Es gibt vielmehr Partien, die ein hohes sprachwissenschaftliches Niveau der verarbeiteten Quellen erkennen lassen, z.B. 9,36-39 oder 50-94. Eine Zusammenfassung der Partie

9,8ff. gibt auch E. Siebenborn, Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihren Kriterien, Amsterdam

1976, 113f. 2 3

Wgl 149,4; 149,15; 149,7; 150,2; 9; 13; 14; 17 Goetz-Schoell. Bei genauer Stellenangabe zitiere ich nach Seite und Zeile der Ausgabe von Goetz-Schoell, Leipzig 1910. In diesem Sinne heiBt es schon in der Einleitung zum neunten Buch: consuetudo et analogia coniunctiores sunt inter se, quam iei credunt (9,2 = 147,12f.).

4

ZB.9,11 (149,27f.) und 9,18 (150,28; 30).

Aristophanes von Byzanz

117

3. Der dritte Themenbereich ist derjenige, auf den es hier besonders ankommt ($$ 1213; 17; 19-22): Er ist ganz auf die These gegründet, daß der Sprachgebrauch sich in einem standigen, und zwar qualitativen Wandel vom Besseren zum Schlechteren und umgekehrt befindet: consuetudo loquendi est in motu: itaque solent fieri et meliora deteriora «et deteriora? meliora (150,23-25, § 17). Entsprechend wird ein neuer (verbum novum u.ä.) und ein alter Sprachzustand (vetus consuetudo u.ä.) unterschieden.) Die Analogie wirkt nun in diesem WandlungsprozeB als innovierende Kraft, die Neuerungen und damit zugleich auch Verbesserungen gegen den alten Sprachgebrauch durchsetzt. Die innovative Funktion der Analogie wird mit mehreren Argumenten verteidigt bzw. näher illustriert: GroBe Persónlichkeiten aus der bildenden Kunst,

dem Militár oder anderen Bereichen

haben sich nicht an das Althergebrachte (vetus consuetudo) ihrer Fachgebiete gehalten, sind neue Wege gegangen und sind dafür noch gelobt worden. Warum sollte das für Neuerer im Sprachbereich nicht gelten, wie z.B. für Aristophanes von Byzanz (δὲ 1213)? Vielleicht nicht gerade die Redner, aber gute Dichter, in erster Linie die Dramatiker,

sind besonders geeignet, analogistische Neuerungen im Sprachgebrauch durchzusetzen (8 17).6 Analogistische Innovationen bedeuten zugleich auch die Wiedergewinnung alten unverdorbenen Sprachguts ($ 19). Alles, Kleidung, Gesetze (δ 20), Gefäße (8 21), Sklaven-, Schmucknamen (δ 22), unterliegt einem beständigen Wandel gegen das früher Übliche. Warum also nicht auch Neuerungen in der Sprache? Das Fazit muf also zugunsten der Analogie lauten: verbum quod novom et ratione introductum, quo minus recipiamus, vitare non debemus (δ 20,151,6f.), „Wir dürfen der Aufnahme eines neuen

und durch Analogie eingeführten Wortes nicht im Wege stehen.“ Innerhalb dieses dritten und letzten Themenbereichs ist die Nennung des alexandrinischen Philologen Aristophanes von Byzanz (ca. 257-180 v.Chr.) in 9,12 natürlich von besonderer Bedeutung, weil sie zu den insgesamt nur drei Zeugnissen gehört, die explizit etwas über Aristophanes’ Verhältnis zum Sprachnormprinzip Analogie aussagen." Überraschenderweise ist jedoch das Fragment 374 Slater (= Varro, ling. Lat. 9,12) bisher im Vergleich zu den beiden anderen Fragmenten, besonders zu Fragment 375, weder in der Varro- noch in der Aristophanesforschung auf sonderliches Interesse gestoßen. Man übersah die Stelle oder beschränkte sich auf den bloßen, meist

5

6 7

Vgl 9,17 (150,20): novae declinationes; 150,26: nunc dicuntur, 9,19 (151,6): verbum novum. Dagegen 9,13 (149,34) und 9,20 (151,9): vetus consuetudo; 9,21 (151,13): antiqua consuetudo (im

Vergleich); vocabula. Da solche genommen Es sind die

9,17 (150,25): dicta apud antiquos; 9,22 (151,18): prisca nomina; 9,22 (151,19): vetera Sprachneuerungen zugleich auch Sprachverbesserungen sind, gehört $ 17 genau zum Innovations- und zum Erziehungs- / Heilungsmotiv. Fragmente 373-375 in der Sammlung von W. J. Slater, Aristophanis Byzantii Frag-

menta, SGLG 6, Berlin / New York

1986,

138f. Slater hat die Fragmente 370-375

im Kapitel XII

unter dem nicht gesicherten Werktitel De analogia zusammengefaBt (Slater S. 137-139). Aber nur die Fragmente 373-375 gehóren mit Sicherheit zum Analogiekomplex. Zur Sprachnorm Analogie in der antiken Theorie vgl. Siebenborn (o. Anm. 1) 56ff.

118

Aristophanes von Byzanz

unkommentierten Verweis.8 Es lohnt sich daher, diese Varrostelle etwas näher zu betrachten. An der Sinndeutung von 9,12 gab es aufgrund des oben skizzierten Kontextes bisher eigentlich keinen Zweifel: Aristophanes hat in etlichen Fällen (in quibusdam)? das Prinzip der Analogie gegen den (von ihm vorgefundenen ülteren) Sprachgebrauch zur Anwendung gebracht und ist nach Meinung Varros dafür nicht zu tadeln. So hat schon K. O. Müller in seiner Varro-Ausgabe von 1833 die Stelle erklárend paraphrasiert: num Aristophanes ... improbandus erit, quod quaedam propter rationem in consuetudine emendaverit?, „Muß man Aristophanes tadeln, weil er manches der Analogie wegen im

Sprachgebrauch verbessert hat?*10 Diese Erklärung wurde sehr bald von Nauck (cuius loci lectio incerta, sententia apertissima) und später auch von Steinthal akzeptiert! !, und so lautet sie, wenn überhaupt etwas zu dieser Stelle gesagt wird, im Prinzip bis heute.12 Den Wortlaut des Fragments hat eigentlich nur Nauck an eben genannter Stelle als ungewiB bezeichnet, ansonsten gilt er in allen mir erreichbaren Ausgaben und sonstigen Zitationen der Stelle als gesichert. Im Laurentianus F lautet die fragliche Zeile 149,41f.: Aristophanes improbandus, consuetudinem secutus?

qui potius

in quibusdam

veteritatem

quam

Dies konnte natürlich wegen des anstößigen *veteritatem nicht die richtige Lesung sein, und so wurde schon im Codex Basiliensis F IV 13 (7 p Spengel) und in der Editio princeps von Pomponius Laetus (Rom 1471) das veteritatem in ein von der 8

In der Aristophanesliteratur wird die Stelle erwähnt und kurz kommentiert bei A. Nauck, Aristophanis Byzantii Grammatici Alexandrini Fragmenta, Hildesheim 1963 (= Halle 1848), 269,

nur erwähnt bei H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römem,

10 11

Hildesheim / New York 1971 (= Berlin 21890/1), Vol. 2,81* und R. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 21978, 249, Anm. 10. Von Slater wird die Stelle S. 138 kurz kommentiert. Überhaupt nicht erwähnt wird die Stelle von Ch. K. Callanan, Die Sprachbeschreibung bei Aristophanes von Byzanz, Hypomnemata 88, Güttingen 1987 (s. dazu unten Anm. 38). In den Varroeditionen und in der Varroliteratur wird die Stelle noch weniger berücksichtigt. Überhaupt nicht erwähnt wird sie in so bedeutenden Werken über Varro wie J. Collart, Varron. Grammairien Latin, Paris 1954, R. Schröter, Studien zur varronischen Etymologie, Wiesbaden 1960 und W. Pfaffel, Quartus gradus etymologiae. Untersuchungen zur Etymologie in Varros De lingua Latina, Königstein 1981. Die Bedeutung der Stelle hat eigentlich nur F. Cavazza, Studi su Varrone etimologo e grammatico, Firenze 1981, 21, Anm. 13 erkannt und (allerdings unzureichend) kurz kommentiert (s. dazu unten Anm. 23). Von den Varroeditoren haben, soweit ich sehe, nur K. O. Müller in seiner Ausgabe von 1833, 200f. und A. Traglia, Opere di M. T. Varrone, Turin 1974, 371, Anm. 5 die Stelle kurz kommentiert. in quibusdam muß eine irgendwie bemerkenswerte Zahl von Fällen meinen. Es hätte sonst keinen Sinn, sie überhaupt zu erwähnen. Vgl. K. O. Müller 200f. Vgl. Nauck (o. Anm. 8) 269 und Steinthal (o. Anm. 8) II 81".

12

S. vor allem Traglia (o. Anm. 8) 371, Anm. 5 zu consuetudinem von 9,12 (149,32): ,,Cioé all’ uso

9

antico, o non corretto, o superato. In questo senso gli analogisti erano propulsori di modernitá ...“

Aristophanes von Byzanz

119

Buchstabenfolge her naheliegendes veritatem geandert.!3 Der heute allgemein akzeptierte Text lautet also: Aristophanes improbandus, consuetudinem secutus?

qui potius

in

quibusdam

veritatem

quam

Es ist eigentlich erstaunlich, daß diese Textfassung der Editio princeps allgemein so bedenkenlos, ohne zumindest den Versuch einer Erläuterung des schwierigen veritatem übernommen wurde. Man begnügte sich einfach damit, weil der Sinn der Stelle auf der Hand lag, das irgendwie unbequeme veritatem kommentarlos mit rationem (Müller) oder analogiam (Steinthal) gleichzusetzen oder entsprechende, bisweilen etwas gequilt

wirkende Übersetzungen und Kommentare zu geben.!4 Dabei ist die Gleichsetzung von veritas mit Analogie an dieser Stelle alles andere als selbstverständlich, denn veritas ist,

soweit ich sehe!5, in Varros de lingua Latina überhaupt nicht belegt. Mir ist zumindest

kein Fall einer terminologischen Aquivalenz von veritas mit analogia / ratio bekannt. Der Text der Editio princeps muB also in Bezug auf das veritatem, wenn schon nicht geändert, dann doch wenigstens plausibel erläutert werden. Vom Kontext der Stelle her würde sich eigentlich die folgende lateinische Version empfehlen: Aristophanes improbandus, qui potius in quibusdam veterem consuetudinem secutus?

rationem

quam

Denn Aristophanes soll ja als Exponent einer Sprachpflege eingeführt werden, die den alten Sprachgebrauch (vetus consuetudo) mit Hilfe der Analogie (ratio) erneuert. Aber leider

ist nicht

rationem,

sondern

ve[te]ritatem

und

nicht

veterem

consuetudinem,

sondern allein consuetudinem überliefert. Weder der engere Kontext von 9,12 noch die gesamte Schrift können also das Überlieferte erklären, und so kann Hilfe nur von außen kommen. Zum Glück gibt es tatsächlich außerhalb von de lingua Latina eine in der VarroLiteratur übersehene Passage, die diese Hilfestellung leistet, und sie liefert den Beweis,

daß der Text der Editio princeps, jedenfalls in Bezug auf das veritatem, die richtige 13 14

Vgl. den Apparat zur Stelle in der Ausgabe von R. G. Kent, Cambridge (Mass.) 1967, Vol. II 448. Vgl. Müller 201, Steinthal II 81". Kent übersetzt II 449 das veritatem ohne Erläuterung mit „reality“, Traglia (o. Anm. 8) 371 richtig mit „vera regola", aber ebenfalls ohne Erläuterung des veritatem. Slaters Kommentar (o. Anm. 7) (S. 138) trifft sicher nicht das Richtige, denn 1. paBt der von ihm als Beispiel herangezogene Fall (Fragm. 25 C Slater) nicht zu ling. Lat. 9,12, denn in 25 C wird nur eine abweichende Dialektform (yepévtoic) analogistisch erläutert, aber nicht die consuetudo als die richtige Form

15

empfohlen, und 2. kann man schwer nachvollziehen,

wieso eine

»false deduction" mit veritas bezeichnet werden kann. Zu Cavazzas Kommentar s. unten Anm. 23. Leider fehlt bisher ein Index zu den grammatischen Schriften Varros, der hier allein völlige Sicherheit schaffen kónnte. [Inzwischen ist der Index erschienen: Concordantia in M. Terenti Varronis libros de lingua Latina et fragmenta ceterorum operum (pars I), 2 Bande, Hildesheim 1995.]

120

Aristophanes von Byzanz

Lesart liefert. Ich meine Cicero, Orator $8 155-162. In diesem Abschnitt werden die Eingriffe der Analogisten der Zeit Ciceros in die vielfältigen Varianten der consuetudo zurückgewiesen.!6 Erlaubt ist, was die consuetudo zuläßt und was dem Redner nützt,

auch wenn

man sich der eigentlich korrekten

durchaus, wenn dies üblich oder opportun

Wortform

bewußt

ist. So kann

man

ist, deum statt deorum (§ 156), nosse statt

novisse (§ 157) oder scripsere statt scripserunt (§ 157) sagen. Man ist sich deshalb trotzdem im klaren darüber, daß die längeren Formen die eigentlich richtigen sind. Wichtig ist hier, da8 der Gegensatz zwischen korrekter, richtiger Form und der

angezweifelten Variante im Sprachgebrauch in der gesamten Passage terminologisch mit verum / veritas auf analogistischer Seite und mit consuetudo auf der Sprachgebrauchsseite erfaßt

wird.!7

Kein

Zweifel:

Verum

bedeutet

hier „korrekt,

regelhaft“,

veritas

„Richtigkeit, Korrektheit"!8, und beide Termini verweisen ebenso unzweifelhaft auf analogistische Eingriffe in den Sprachgebrauch, wie bereits die Orator-Kommentatoren

Sandys und Kroll gesehen haben.!9 Allerdings ist diese Erklärung noch nicht genau genug. Verum ist eigentlich, wie man

längst bemerkt hat20, eine Übersetzung des griechischen ἔτυμον, also gehört verum/ veritas eigentlich in die Etymologie, neben der Analogie ein weiteres Kriterium für

Sprachrichtigkeit, mit dessen Hilfe man

eine Wahl

zwischen

Alternativen

in der

consuetudo begründen kann.2! Ob man z.B. medidies statt meridies den Vorzug geben soll, kann man nur mit Hilfe der Etymologie entscheiden (Orator $ 157), die natürlich medidies als die etymologisch „richtige“ Variante empfehlen würde. Im Gegensatz zur Analogie, die ihre Eingriffe mit Hilfe von Verhültnisgleichungen, also durch Hinzuziehung ähnlicher Wortformen vomimmt, rekurriert also die Etymologie auf die ursprüngliche, korrekte, „wahre“ Wortform. Jedoch wird schon aus der Oratorpassage deutlich, daß unter dem Stichwort verum / veritas auch analogistische Verfahren mitverstanden wurden, denn die Entscheidung für /iberorum statt liberum (§ 155), armorum statt armum ($ 155) oder iudicavisse statt iudicasse (δ 157) läßt sich nicht etymologisch, sondern nur analogistisch durch den Vergleich mit anderen Flexionsformen

begründen. Gleichwohl werden solche Falle ebenfalls unter veritas subsumiert (§ 156).22 16

Zum Hintergrund dieser Passage vgl. vor allem A. Dihle, Analogie und Attizismus,

Hermes 85

(1957) 170-205 und Siebenborn 116. 17

18 19

20 21 22

Vgl. Cicero, Orator § 156: quid verum sit, intellego: sed alias ita loquor, ut concessum est, ... alias ut necesse est, ... quod in his consuetudo varia non est; § 157: et scripserunt (statt scripsere) esse verius sentio, sed consuetudini ... obsequor, dulcius visum est ..., quam ut veritas postulabat; 8 159: consule veritatem: reprehendet; refer ad aures: probabunt. Vgl. OLD s.v. veritas 9. Weitere Belege: Quint. inst. 1,6,32; 1,7,8. Vgl. J. E. Sandys (Ed.), M. T. Ciceronis ad M. Brutum Orator, Hildesheim / New York 1973 (= Cambridge 1885), 172, 178, 179 und W. Kroll, M. T. Ciceronis Orator, Berlin 1913 (Nachdrucke) 140. Hier auch der, wenn ich richtig sehe, einzige Hinweis auf die Zusammengehörigkeit von ling. Lat. 9,12 und Orator 155ff. Vgl. spüter noch Dihle (o. Anm. 16) 197f. Vgl. Reid bei Sandys (o. Anm. 19) 172. Vgl. zur Etymologie als Sprachnorm Siebenborn (o. Anm. 1) 116 und 140-146. Im Fall von pertisus statt pertaesus ($ 159) nach analogen Formen wie insipiens, iniquus etc.

Aristophanes von Byzanz

121

Veritas wurde also als ein Oberbegriff sprachlicher Korrektheit in den Bereich der Analogie übertragen, und die Varrostelle ist dann neben der Oratorpassage ein weiterer

Beleg dafür.23 Wir dürfen also jetzt, unterstützt durch Ciceros Orator, mit gutem Gewissen das veritatem

von

149,32

halten und

mit rationem

oder analogiam

gleichsetzen, ja wir

dürfen sogar noch weitergehen und behaupten, daB nicht etwa Cicero Varro, sondern

umgekehrt Varro Cicero in der terminologischen Verwendung von veritas beeinflußt hat, denn man hat mit guten Gründen vermutet, daß Cicero in der genannten Passage des Orator von Varros grammatischen Schriften Gebrauch macht.24 Wenn also das veritatem jetzt gesichert ist, weil es erklart werden kann, so kónnte man allerdings immer noch versuchen, das bloBe consuetudinem von 149,32 in Zweifel

zu ziehen. Es bietet sich nämlich an, zwischen quam und consuetudinem ein veterem einzuschieben. Dafür sprechen die bereits anfangs erläuterten allgemeinen Bezüge im Kontext der Stelle, die enge Verbindung der consuetudo von 149,32 mit der von 149,30 und 34, vor allem aber das seltsame veteritatem von 149,32 im Laurentianus F, eine Verschreibung, die sich leicht aus der Vorwegnahme eines auf quam folgenden veterem erklären lieBe.25 Allerdings läßt sich ein solcher Einschub auch nicht zweifelsfrei absichern, denn in 150,1 wird das veterem consuetudinem

von

149,34

ebenfalls nur

durch ein einfaches consuetudinem wiederaufgenommen. Es muß also wohl bei der alten Textfassung bleiben. Aus dem vertieften Verständnis für Wortlaut und Sinn der Stelle läßt sich jetzt folgendes resümieren: Varro wollte offenbar zum Ausdruck bringen, daß Aristophanes nicht

immer,

aber doch

in einer bemerkenswerten

Zahl

von

Füllen nicht dem

alten

Sprachgebrauch, sondern dem Analogieprinzip folgte, also auf analogistischem Wege Sprachneuerungen (= Sprachverbesserungen) gegen die vetus consuetudo zu erreichen

suchte26, ein Bild, das übrigens wieder eine überraschende Parallele bei Cicero findet. spricht die analogistische Normierung sogar gegen die Etymologie, die allein pertaesus zulassen würde. Analogie und Etymologie würden also in diesem Fall konkurrieren, und beide Formen,

pertisus und pertaesus, würden aus der Sicht der jeweils gewählten Norm als verum = korrekt 23

bezeichnet werden. Es ist das Verdienst Cavazzas (o. Anm. 8), als, soweit mir bekannt, einziger Vertreter der Varroforschung die Stelle ling. Lat. 9,12 in diesen Zusammenhang eingeordnet zu haben (S. 21, Anm. 13). Allerdings erwähnt er merkwürdigerweise die Oratorpassage nicht, sondern vergleicht nur Quintilian 1,7,8. DaB sich Cicero und Varro in diesem Punkt berühren, wurde also bisher nur in der Oratorforschung gesehen. Es gibt übrigens eine weitere bisher offenbar übersehene Verwendung von veritas in den grammatischen Schriften Varros: das frg. 3 Funaioli (= frg. 46 Goetz-Schoell) aus der Schrift De origine linguae Latinae. Es geht hier um den Laut agma, der entweder n oder g geschrieben wurde. Für die Schreibung n (also in-gerunt statt iggerunt) spricht, daB so die etymologische Richtigkeit (veritatem, Zeile 6) der Wörter besser durchschaut werden kann. Veritas gehört also hier eindeutig in den Bereich der Etymologie. Immerhin ist diese Stelle ein weiterer Beleg für veritas aus Varros Schriften selbst.

24

Vgl. Kroll (o. Anm. 19) 138 und Dihle (o. Anm. 16) 197.

25

Ähnliche Fehlertypen beschreiben Goetz-Schoell (o. Anm. 2) XXVI.

26

So deutlich schon Traglia (o. Anm. 12).

122

Aristophanes von Byzanz

Nur ist es hier nicht Aristophanes, sondern Cäsar, dem im Brutus § 261 ganz ähnliche Absichten unterstellt werden:

Caesar autem rationem adhibens consuetudinem vitiosam et corruptam pura et incorrupta consuetudine emendat.

Die

Brutusstelle

ist zwar

etwas

anders

gewichtet27,

aber im Prinzip

erhalten

Aristophanes im Kontext von 9,8-23 und Cäsar im Brutus die gleiche Rolle, nämlich die Rolle des analogistischen Spracherneuerers und damit auch des Sprachverbesserers. Wie vertrügt sich nun aber dieses aus 9,12 gewonnene Bild des Aristophanes mit dem, was wir sonst über seine Einstellung zur Analogie wissen? Ist er wirklich ein analogistischer Sprachverbesserer? Kennen wir vielleicht sogar konkrete Fülle, bei denen er sich zugunsten einer analogistisch verbesserten Wortform gegen eine wie immer geartete vetus consuetudo entschied? Solche Fragen sind natürlich bei der Spärlichkeit unserer Zeugnisse schwer zu beantworten. Explizite Hinweise zur Analogie bei Aristophanes gibt es, wie schon gesagt, nur

drei, die Fragmente 373-375 Slater. Wir erfahren von Charisius 149,26ff. Barwick (375 Slater), daß Aristophanes einen Katalog von fünf oder sechs Bedingungen für richtige

Flexionsanalogien formuliert haben soll.28 Nach 373 Slater sollen Aristophanes und andere

Autoren

über perfekte

Analogien

wie

z.B.

bonus

: malus

=

boni

: mali

geschrieben haben.29 Dazu tritt das eben beschriebene Fragment 374 Slater (Varro, ling. Lat. 9,12). Die hauptsüchlich aus diesen Stellen gewonnene These Naucks, Aristophanes habe

eine Monographie

περὶ ἀναλογίας

geschrieben, in der er für die Analogie,

also

Regelmäßigkeit in der Flexionslehre (κλίσις) plädiert und Bedingungen zur Auffindung analoger, regelmäßiger Flexionsformen formuliert habe, ist schon von Steinthal (wie meist auch später) mit Recht zurückgewiesen worden, weil es sich nicht beweisen 148t.39 Wir

können eigentlich auf der Grundlage der drei Fragmente nur vorsichtig behaupten, daß Aristophanes sich mit gróBter Wahrscheinlichkeit um die Flexionslehre im Bereich des Nomens bemüht hat, dort um Ermittlungsverfahren für Regelmäßigkeiten besorgt war und dabei erstmals Bedingungen für solche Analogievergleiche aufgestellt hat. Unsere Überlegungen zu 9,12 setzen uns allerdings in den Stand, prüziser und besser begründet als vorher festzuhalten, daB die Anwendung des Analogieprinzips durch Aristophanes 27

In der Cäsarstelle wird nicht auf den Gegensatz „alt - neu“, sondern „korrupt - korrekt" abgehoben. Aber daB mit dem korrupten oft auch der althergebrachte Sprachgebrauch gemeint ist, zeigt Ciceros emendatur antiquitas von Orator ὃ 155. Zur analogistischen Position Cäsars vgl. Siebenborn

(o. Anm. 1) 111-113. 28 29

"Vgl. zur Skepsis an diesem Zeugnis: W. Ax, Aristarch und die „Grammatik“, Glotta 60 (1982) 96109 (hier: 128-139], 98 [hier: 129], Anm. 8. Perfekt heißt diese Analogie deshalb, weil die verglichenen Wörter der Form und der Bedeutung nach ähnlich sind, vgl. Varro, ling. Lat. 10,68 (= 373 Siater). Auch dieses Testimonium wird angezweifelt. Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 107.

30

"Vgl. Nauck (o. Anm. 8) 267ff., Steinthal (o. Anm. 8) II 81* und Callanan (o. Anm. 8) 107.

Aristophanes von Byzanz

123

nicht indirekt aus 373 und 375 Slater erschlossen werden muß, sondern in 9,12 explizit von Varro behauptet wird, und daß sie zusätzlich mit der Vorstellung verbunden wird,

daB es sich dabei um einen gemäßigten innovativen Einsatz der Analogie zur Verbesserung eines als fehlerhaft empfundenen ülteren Sprachgebrauchs handelt. Aus diesen drei Fragmenten allein läßt sich allerdings nur ein sehr vages Bild von der Bedeutung unserer Varrostelle für die Analogie bei Aristophanes ermitteln. Es gibt jedoch inzwischen zwei im Material wesentlich weitergreifende Darstellungen, ich meine das Aristophaneskapitel in Pfeiffers Geschichte der Klassischen Philologie und vor allem die bereits genannte Dissertation von Callanan.3! Sie kónnen hier vielleicht weiterhelfen. Pfeiffer zeigt sich mit Recht zurückhaltend angesichts der vielfältigen Spekulationen,

die an die drei genannten Fragmente geknüpft wurden.32 Über das in den Fragmenten Überlieferte hinaus sei nichts Sicheres zu ermitteln. Eine Monographie ,Über die Analogie", in der Aristophanes etwa Chrysipps Anomalietheorie zu widerlegen versuchte, lasse sich nicht nachweisen und sei auch kaum glaubhaft: ,, Aristophanes ... betrat nie den Kampfplatz, auf dem die Philosophen stritten, er beschrünkte sich in diesem Fall wie in anderen auf das philologische Gebiet der Grammatik" (250). Auch mit dem vieldiskutierten Analogie-Anomaliestreit habe Aristophanes nichts zu tun (251). Es ist nicht die Zurückhaltung Pfeiffers in Sachen Analogie bei Aristophanes, die seine Ausführungen für unseren Zusammenhang interessant macht. Sein Aristophaneskapitel enthält vielmehr an einer anderen Stelle Beobachtungen, die nicht unmittelbar mit dem Analogiekomplex in Verbindung stehen, die aber gerade für das Verstündnis von 9,12 von Bedeutung sind. Ich meine Pfeiffers Bericht über das AéEe1¢-Kapitel „Wörter, von denen man annimmt, daB sie den Alten unbekannt waren“ (245-247). Nach Pfeiffers Deutung hat Aristophanes in diesem Abschnitt seines groBen lexikographischen Werkes sein Material „unter chronologischem, um nicht zu sagen historischem Gesichtspunkt behandelt“, indem er Wörter, die die Alten (παλαιοί) kannten und verwendeten, von

solchen unterschied, die ihnen unbekannt gewesen sein sollen, den καινότεραι λέξεις (245). Die Fragmente würden, wie Pfeiffer 245-247 an zwei Beispielen vorführt, noch erkennen lassen, daß Aristophanes die von ihm behandelten Wörter offenbar jeweils der einen oder der anderen Wortklasse zugewiesen habe. Er habe sich also um die Problemlösung „der chronologischen Unterscheidung zwischen altem und modernem Sprachgebrauch und móglicherweise des lokalen Ursprungs des letzteren" bemüht, eine Leistung, die als eine ,,wertvolle vorbereitende Arbeit für das Studium der Entwicklung der griechischen Sprache" gelten könne (247). Weitere Beobachtungen ergeben, daß für Aristophanes nicht nur „Kenntnis der Dialektformen in der Literatur“, sondern auch ein

„besonderes Interesse an der Umgangssprache seiner eigenen Zeit" zu belegen sei (249). Und so resümiert Pfeiffer: ,, Aristophanes war nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis der erste, der neben seiner ungeheuren Belesenheit auf die Volkssprache hórte

und so aus der Beschränkung auf die Literatur heraustrat“ (249).

31 32

Vgl. Pfeiffer (o. Anm. 8) 213-257 und Callanan (o. Anm. 8) passim. Vgl. Pfeiffer (o. Anm. 8) 249-251. Er wird dafür von Callanan 15f. (o. Anm. 8) gelobt.

124

Aristophanes von Byzanz

Daß die Ausführungen Pfeiffers für unser Varro-Testimonium von größter Wichtigkeit sind, liegt auf der Hand, denn hier finden immerhin zwei der drei wesentlichen Informationen, die ling. Lat. 9,12 bietet, ihre Bestätigung. Laut Varro muB Aristophanes

1. sprachhistorisch differenziert haben (vetus consuetudo / nova verba), 2. mit Hilfe der Analogie (veritas) eingegriffen und 3. zum Objekt dieses Eingriffs die consuetudo, den

allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit, gemacht haben.?3 Pfeiffers Aristophaneskapitel stützt die erste und dritte Information von 9,12. Einerseits werden nämlich Aristophanes hier wenigstens im Ansatz sprachhistorische Unterscheidungen und Einsichten, also eine Art Vorwegnahme diachroner Sprachbetrachtung zugesprochen. Andererseits wird ihm ein Interesse an Problemen der Umgangssprache seiner Zeit über die textbezogene philologische Arbeit hinaus bescheinigt. Leider fehlt in Pfeiffers Kapitel jede Bestätigung für normative Eingriffe im Sinne der Analogie.

Wenn man nach Pfeiffers Buch Callanans Dissertation von 1987 zu Rate zieht?4, wird die Freude über die Bekräftigung von wenigstens zwei der drei Aussagen von ling. Lat. 9,12 schnell getrübt. Callanan vermag weder die Auffassung Pfeiffers von einer diachronen Sprachbetrachtung bei Aristophanes zu teilen (Punkt 1), noch sieht er in den Fragmenten Ansätze, die dazu berechtigen, von einer normativen Bewertung des von Aristophanes vorgefundenen Sprachmaterials oder sogar von analogistischen Eingriffen in den Sprachgebrauch seiner Zeit zu sprechen (Punkt 2). Im Sinne unseres dritten Aspektes wird eigentlich nur zugegeben, daß Aristophanes auch an nichtliterarischen,

allgemeinen Sprachproblemen interessiert war.?5 Somit besteht die Gefahr, daB die zentralen Aussagen

der Varrostelle von dem

Befund aus, den

Callanan

ermittelt hat,

nicht nur keinerlei Bestätigung erfahren, sondern sogar im Widerspruch dazu stehen. Was die Frage des diachronen Ansatzes in der Sprachbeschreibung des Aristophanes angeht,

so

hat

Callanan

zweifellos

Recht,

wenn

er

Pfeiffers

Interpretation

einer

chronologischen Trennung in zwei Wortschatzgruppen und eine primär sprachhistorisch orientierte Zuweisung am Anfang der λέξεις durch Aristophanes zurückweist. Die wenigen Fragmente, insbesondere ihre Zuordnung zu dem ebenfalls nicht zweifelsfreien

Titel des ersten Kapitels der λέξεις, erlauben keine klaren Schlüsse.36 Aber ist deshalb, um es vorsichtig auszudrücken, eine sprachhistorische, diachrone Komponente in der linguistischen Arbeit des Aristophanes wirklich so dezidiert gegen Pfeiffer auszu-

schlieBen, wie das Callanan formuliert?37 Immerhin steht das von ihm nicht beachtete 33

Der anfangs skizzierte Kontext der Varrostelle und andere Belege (vgl. Siebenborn [o. Anm.

34 35 36

zeigen ja, daB hier nicht etwa die literarische Überlieferung (Siebenborn 85ff.), in die der Philologe mit Hilfe der analogistischen Textkritik eingreift, sondern nur der vom literarischen Text losgelöste allgemeine Sprachgebrauch in seinem normativen Anspruch gemeint sein kann. S.o. Anm. 8. Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 58, Anm. 8. Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 75-82, bes. 75f. und 49, Anm. 47, wo Pfeiffers offensichtlich verfehlte

1] 90f£)

Deutung der καινότεραι λέξεις als ,nachattisch"* überzeugend korrigiert wird. 37

Vgl. z.B. Callanan (o. Anm. 8) 79: „Er zeigt kein Bewußtsein von Diachronie gegenüber Synchronie in der Sprachbetrachtung." oder 81: „Zugespitzt gesagt scheint Aristophanes zwar einen unterschiedlichen Sprachgebrauch, nicht aber eine Sprachentwicklung zu kennen."

Aristophanes von Byzanz

125

Fragm. 374 Slater dagegen, das eindeutig im Kontext einer sprachhistorischen Perspek-

tive steht.38 Außerdem zeigen einige Homerscholien, daß zumindest in der alexandrinischen Philologie allgemein ein diachrones Sprachbewußtsein vorhanden war.3? Überhaupt scheint mir die rigorose Ablehnung des diachronen Ansatzes in der antiken

Sprachtheorie allgemein bei Callanan überzogen.40 Schwerer wiegt allerdings Callanans Einschützung des zweiten Aspekts, der Frage nach eventuell allgemein normierenden und insbesondere analogistischen Bestrebungen in der Sprachbetrachtung des Aristophanes. Durchweg sieht Callanan Aristophanes eher als neutralen, nicht wertenden,

sich deskriptiv,

nicht normativ

verhaltenden

Sprach-

betrachter, ein Resümee, das an verschiedenen Stellen gezogen wird?!, am deutlichsten auf S. 106: „Wenn ... Aristophanes den Sprachgebrauch seiner eigenen Zeit tatsächlich korrigieren will, geschieht dies nicht aus analogistischen oder überhaupt sprachtheoretischen

Gründen,

sondern

anscheinend

nur

aufgrund

klassischer

Autoritüten

Nirgends sonst finden wir bei Aristophanes Versuche, die Sprache seiner Zeit, sei es gemäß attizistischen Vorstellungen, sei es nach analogistischen oder sprachtheoretischen Regeln, zu reformieren oder zu maßregeln. Überall beschreibt und systematisiert er; nirgends schreibt er vor." Der hier formulierte Eindruck bestütigt sich für Callanan auch nach einer Überprüfung der Analogie bei Aristophanes (107-122). Mit der Anomalie Chrysipps habe Aristophanes nichts zu schaffen (109), wohl aber sei er auf Anomalien in der 38

S. oben S. 116-119. Callanan hat It. mündlicher Auskunft das ihm natürlich bekannte Fragment wegen zu geringer Zuverlässigkeit und wegen bisher fehlender Deutung bewußt ausgelassen.

39

Vgl z.B. die Scholien A 135-7; B 805b; H 328b; K 68c; A 657-8a!; M 29a!; N 351/3; N 353 in der Ausgabe von Erbse. Hier werden durchaus ältere Sprachphänomene vermerkt und terminologisch

mit ἀρχαία χρῆσις, φράσις, ἀρχαικόν, σχῆμα ἀρχαικόν, ἀρχαῖον σχῆμα, τὸ τῆς φράσεως ἀρχαῖον etc. gekennzeichnet. A 657-8 und a 274 sind gute Beispiele für die Kenntnis der ἀρχαία

40

συνήθεια in den Homerhandschriften, also die Verwendung des alten Alphabets (vgl. dazu A. Ludwich, Aristarchs homerische Textkritik nach den Fragmenten des Didymos, Erster Theil, Leipzig 1884, 11, Anm. 10). Sollten solche Unterscheidungen Aristophanes noch unbekannt gewesen sein? Aber natürlich ist dies kein Beweis. Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 79-81. Natürlich kann nicht von einer voll entwickelten diachronen Sprachbeschreibung im heutigen Sinn die Rede sein, aber erste Ansätze und Prinzipien sprachlicher

Diachronie sind zweifellos schon in der Antike formuliert, z.B. in Platons Kratylos (vgl. W. Ax / A. Sideras, Zu Platons Kratylos 398d5, Hermes 107, 1979, 146-156 [hier: 9-18], 150 [hier: 12], Anm. 18) oder bei Varro, ling. Lat. 5,3 und 9,17. Insbesondere muß natürlich jeder Etymologie, also auch der antiken, eine Sprachentstehungs-

und

Entwicklungstheorie

inhärent sein, wie

z.B. in Augustinus’ de dialectica, Cap.VI, mag man solche Theorien auch für noch so primitiv hal-

ten. Sie sind deshalb um nichts weniger Ansätze zur Diachronie. Vgl. zu diesem Komplex W. S. Allen, Ancient Ideas on the Origin and Development of Language, Transact. of the Philological Society, Oxford 1948, 35-60. Im übrigen müßte zwischen einer „chronologisch differenzierten Sprachbetrachtung", die Callanan 102 immerhin Aristophanes zugesteht, und wirklicher linguistischer Diachronie, die It. Callanan Aristophanes noch abgeht, klarer differenziert werden, als dies bei Callanan der Fall ist. Was ist „ein Bewußtsein von Diachronie" oder ein „Bewußtsein über diachrone Sprachveränderungen“ (Callanan 79f.)?

41

Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 40, 47, 59, 61, 63f., 69, 103-106.

126

Aristophanes von Byzanz

Wortbildungslehre, z.B. auf Derivationslücken intensiv eingegangen, ohne solche Fälle allerdings analogistisch regeln zu wollen (110-112): ,,Nichtsdestoweniger akzeptiert er diese Anomalie ohne eine Spur von analogistischem Widerwillen. ... er ist kein Analogist in der Weise, wie man ihm dies seit mehr als einem Jahrhundert unterstellt hat. Gegen

Ausnahmen zu der Regel hat er nämlich nichts einzuwenden: er verteidigt sie geradezu“ (112). Im Flexionsbereich kónne man Aristophanes noch nicht die Kenntnis von Flexionskanones, wohl aber die Verwendung der viergliedrigen Flexionsanalogie unterstellen (115-119).

Jedenfalls müsse, so Callanan am Schluß seiner Arbeit

(122), „die

gängige Ansicht, die Aristophanes zu einem ‚Vertreter der Analogie‘ macht, der wissenschaftlich und polemisch gegen die Anomalie und ihre Vertreter gekämpft haben soll, als

unbegründet zurückgewiesen werden“. Tatsächlich scheint eine Prüfung des Materials, das Callanan vorlegt, keine anderen als seine Schlüsse zuzulassen, aber ein solches Resultat steht natürlich, wie schon befürchtet, in klarem Widerspruch zu unserer Auffassung von der Varrostelle, die

Aristophanes

in Parallele zu

Cäsar

in Ciceros

Brutus

die Rolle eines, wenn

auch

gemäßigten, analogistischen Sprachneuerers zuweist.42 Wie ist ein solcher Widerspruch zu erklären? Es liegt natürlich nahe, sich auf den Überlieferungszufall zu berufen und anzunehmen, daß Fälle, wie sie von 9,12 her zu erwarten wären, eben nicht tradiert sind.

Man würe dann gezwungen, den Widerspruch stehen zu lassen und sich darauf zurückzuziehen, daß sich aus den wenigen, zufällig erhaltenen Resten kein schlüssiges, in sich stimmiges Bild gewinnen läßt. Ein solches „non liquet" ist ebenso ehrenwert wie unbefriedigend, aber wahrscheinlich hier die einzig mógliche Reaktion auf die Beleglage. Trotzdem bleiben für mich bei allem Verständnis für dogmatische Zurückhaltung und gebotene Skepsis doch Zweifel, ob man Callanans Abschwächung der analogistischen Position des Aristophanes in Richtung auf eine deskriptive, an dem Einsatz von Sprachnormen eher uninteressierte Sprachbeschreibung in dieser Eindeutigkeit folgen kann. Bleibt es doch schwer vorstellbar,

daß

ein Theoretiker

der Analogie,

der, wie

Callanan durchaus zugibt43, einen differenzierten Katalog von Ahnlichkeitsbedingungen zur analogistischen Ermittlung richtiger Flexionsformen entwickelt hat (375 Slater), seine Erkenntnisse nicht auch in sprachlichen Zweifelsfillen der consuetudo allgemein normierend zur Anwendung gebracht haben soll. Es fehlt uns allerdings dafür der Beweis“4, und so muß der skizzierte Widerspruch zwischen dem viel zu wenig beachteten Fragment 374 Slater (= Varro, ling. Lat. 9,12) und den übrigen Fragmenten des Aristophanes stehen bleiben - bis vielleicht, wie Rudolf Pfeiffer es schon für die Techne 42

Das einzige Fragment, das auf normatives Eingreifen schließen läßt, das Fragm. 23 A-C Slater (s. Callanan [o. Anm. 8] 105f.), steht sogar im vollen Gegensatz zur Varrostelle, denn hier wird gerade ein Wort der vetus consuetudo (ἡ στίμμις) aufgrund eines Belegs in der klassischen Literatur

empfohlen und der aktuelle Sprachgebrauch (τὸ otippt) als fehlerhaft getadelt. Immerhin gibt es aber auch bei Aristophanes korrigierende Eingriffe in die Wortform mit Hilfe der Etymologie, die, ob von

Aristophanes ist unsicher, ὀρθότερον bzw. κυριώτερον genannt werden. Vgl. Callanan 24f. 43 44

Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 57f. Das Scholion O 606 bezeugt ja leider nur die Anwendung der Analogie zur Korrektur Homertextes, nicht der Umgangssprache allgemein. Vgl. Callanan (o. Anm. 8) 33, 117, 121.

des

Aristophanes von Byzanz

127

des Dionysios Thrax gewünscht hatte, auch für Aristophanes ,,ein freundlicher Papyrus

eines Tages die fata libelli enträtselt“.*5

45

Vgl. Pfeiffer (o. Anm. 8) 328.

ARISTARCH UND DIE ,,GRAMMATIK“

Mit dem wiederauflebenden Interesse an der antiken Sprachtheorie ist auch die spärlich bezeugte Frühzeit der antiken Grammatik, d.h. etwa die Zeit von Aristophanes von Byzanz bis Dionysios Thrax, spürbar attraktiver geworden!. Schon dieser erste, so harmlos klingende Satz verlangt nach einer Prüzision. Wenn hier das Wort „Grammatik“ in dem uns geläufigen Sinn einer systematischen Sprachbeschreibung verwendet wird, so deckt sich dies keineswegs mit dem erheblich weiteren antiken Grammatikbegriff, der bekanntlich die textbezogene philologische

Arbeit (μέρος ἰδιαίτερον) mit den nicht primar textgebundenen Disziplinen, der Realienkunde (μέρος ἱστορικόν) und eben der „Grammatik“ in unserem Sinne (μέρος τεχνικόν), zu einer Einheit verbindet2.

Unser Wort

„Grammatik“

bezeichnet im

folgenden also nur das τεχνικὸν μέρος der antiken τέχνη γραμματική. DaB aber diese Ausgliederung des τεχνικὸν μέρος noch nicht ausreicht, daB es vielmehr selbst in weitere Teilbereiche differenziert werden muß, ist vor allem seit K. Barwicks Forschungen und in seiner Folge neuerdings von Siebenbom ins rechte Licht gerückt?. Danach hat das τεχνικὸν μέρος zwei thematische Schwerpunkte, die zu hauptsächlich zwei Monographietypen geführt haben’:



zur Darstellung der μέρη λόγου bzw. partes orationis, wie sie uns in Dionysios

Thrax’

Techne und in den römischen artes grammaticae

erhalten ist;



|

zur Darstellung des Hellenismos bzw. der Latinitas, d.h. zur Lehre von einem vomehmlich durch Analogie, Sprachgebrauch und literarische Tradition geregelten Griechisch oder Latein, das zu einer korrekten Aussprache, Schreibung, Flexion und Verwendung des Einzelwortes und zur richtigen Wortverknüpfung führen soll. Monographien dieses Typs, die τέχναι περὶ Ἑλληνισμοῦ bzw. de latinitate sind nicht erhalVgl. die neuerdings wieder lebhafte Diskussion der Thesen von D. Fehling, Varro und die grammatische Lehre von der Analogie und Flexion, Glotta 35 (1956) 214-270 und 36 (1957) 48-100 (Der Analogie-Anomaliestreit ist eine Erfindung Varros) und von V. di Benedetto, Dionisio Trace e la techne a lui attribuita, Annali della scuola normale superiore di Pisa, Serie II, Vol. 27 (1958) 169-210, Vol. 28 (1959) 87-118; La techne spuria, ibidem, Classe di lettere e

2

filosofia III, 3 (1973) 797-814 (Der sprachsystematische Teil der Techne ist unecht) bei Pinborg, Classical antiquity: Greece, in: Current trends in linguistics, Vol. 13: Historiography of linguistics, ed. Th. Sebeok, The Hague-Paris 1975, 69-126, 103ff.; bei E. Siebenborn, Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihren Kriterien, Studien zur antiken normativen Grammatik, Amsterdam 1976, 27ff., 68ff. u.6. (Vgl. dazu die Besprechungen von Fehling, Gnomon 51 [1979] 488-90 und von mir, Indog. Forschungen 84 [1979] 302-307 und bei H. Erbse, Zur normativen Grammatik der Alexandriner, Glotta 58 [1980) 236-258.) Vgl. Sext. Emp. adv. math. I 91ff. Andere antike Einteilungsversuche besprechen H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Rémem, 2 Vol., 2. Aufl.

v

II 181ff. und vor allem K. Barwick, Remmius Philologus Suppl. XV 2, Leipzig 1922, 215ff. 4

1890/1,

Vol.

Palaemon und die römische Ars grammatica,

Vgl. Barwick, Rem. Pal. 227ff., Siebenborn 32ff.

Diesist um der Deutlichkeit willen vereinfacht gesagt. In Wirklichkeit gibt es mehrere Typen, die sich zudem inhaitlich überschneiden kónnen. Vgl. dazu Siebenborn 33ff.

Aristarch und die „Grammatik“ ten, aber erschließbar, z.B. aus Sextus 2405.

Empiricus,

129 adv.

math.

I 176-

Wer also eine Entwicklungslinie von den frühen alexandrinischen Philologen zu ihren Nachfolgern, wie z.B. Dionysios Thrax, Asklepiades v. Myrlea oder Tryphon, ziehen will, muB dieser Differenzierung Rechnung tragen und sein Beobachtungsmaterial auch daraufhin befragen, ob es dem Komplex ,Redeteile" oder der Lehre vom Hellenismos zuzuordnen ist. Nur so kónnen unklare Verbindungslinien, etwa zwischen Aristarch und Dionysios'

Techne vermieden werden, die in diesem

Fall

primär im Bereich der Redeteile, nicht in dem des Hellenismos verlaufen müssen. In der Tat sind Aristophanes und Aristarch immer wieder — wenn auch nicht unbestritten — als Archegeten beider Traditionsstróme in Anspruch genommen worden. Es wird uns nümlich einerseits vor allem von Varro berichtet, daB Aristo-

phanes und Aristarch über das Normprinzip Analogie geschrieben hätten, d.h. genauer über die Regularität des Sprachbaus und die daraus resultierenden Möglichkeiten, unsichere Formen durch einen (wie wir seit Erbses Aufsatz sicher wissen’) schon bei ihnen viergliedrigen Vergleich mit sicheren Formen zu verfestigen. Sie sollen sogar anderen Zeugnissen zufolge einen Katalog von Bedingungen erstellt haben, unter denen solche Vergleiche sinnvoll durchgeführt werden kónnen?. Aus der evolutionären Perspektive betrachtet wäre dies ein erster und zugleich Schon überraschend differenzierter Beitrag der alexandrinischen Philologie zur spáteren Hellenismostheorie, und zwar zu deren Kriterium Analogie. Andererseits

haben wir das Zeugnis Quintilians, wonach die alexandrinische Achtzahl der Redeteile sich auf die Autorität Aristarchs berufen kann?. Dies wäre die Spur einer ersten und zu diesem Zeitpunkt wieder überraschend „fertigen“ Vorarbeit zur späteren Systematisierung der Redeteile. Wie nun allerdings der Anteil der frühen Alexandriner an der Entwicklung des

τεχνικὸν

μέρος im einzelnen zu bewerten

ist, darüber gehen

die Forschungs-

meinungen weit auseinander, ja es scheint, als würde die Beleglage jeden Schluß zulassen: —

So meint z.B. Steinthal, der sich insbesondere Aristarch widmet, daß bei

diesem wohl von einer umfassenden Sprachkenntnis, aber noch nicht 5

Zum Aufbau und Inhalt solcher Traktate vgl. Barwick, Rem. Pal. 227ff., Fehling, Varro I 258ff.

6

und vor allem Siebenborn, passim, dessen gesamte Studie ja im Prinzip dieser Schriftgattung gilt. Hier gibt es in der Forschung bisweilen unklare, weil zu pauschale Äußerungen über die Entwicklung der ,,Grammatik, Sprachsystematik, Regelkenntnis" etc.

7 8

Wgl Erbse 238. Die komplizierte Problematik der Analogie bei den frühen Alexandrinem und des ihnen zugeschriebenen Katalogs der Áhnlichkeitsbedingungen kann hier nicht behandelt werden. Statt dessen verweise ich auf den hier besonders skeptischen Steinthal, der II 81, Anm. gegen Nauck weder an einen 'peculiaris liber' de analogia des Aristophanes v. Byzanz noch an die Authentizität der Ahnlichkeitsbedingungen des Aristophanes und Aristarch glaubt; Barwick, Rem. Pal.

9

Vgl. Quint. inst. orat. 1 4,20. Auch dieses Zeugnis trifft auf Skepsis. trends 107 und Frede in der unten Anm. 17 genannten Arbeit, p. 55.

179ff., Fehling 1 240ff., 260 und Siebenborn 72ff. Vgl. Pinborg, Current

130

Aristarch und die „Grammatik“

von einer fertigen Formenlehre, Syntax oder Grammatik die Rede sein könne. Den eigentlichen Zeitpunkt ihrer Fixierung läßt er unbestimmt, denkt aber wohl doch an die Zeit des Dionysios Thrax, dessen Techne

er für echt halt!0, —

Barwick, der erstmals klar zwischen Hellenismos und Redeteilen trennt, glaubt ebenfalls nicht an ein System der Formenlehre bei den frühen Alexandrinern. Erst spátere Forschung habe hier zu einer systematischen Ordnung geführt. Das alexandrinische System der Redeteile fixiert sich für ihn ebenfalls erst später, und zwar mit der für echt gehaltenen Techne

des

Dionysios

Thrax,

in der dieser, von

der stoischen

mepi

φωνῆς τέχνη des Diogenes v. Babylon veranlaßt, ältere alexandrinische

Vorstudien verarbeite! ! . —

Für Fehling, der in der Folge Barwicks eine „Flexionslehre“!2 und Redeteile unterscheidet, liegt seiner Quellenanalyse zufolge die Entstehungszeit der ,,Flexionslehre“ jedenfalls vor 50 v. Chr. Sie sei jedoch, wie der Kanon der Áhnlichkeitsbedingungen zeige, schon bei Aristophanes und Aristarch fertig. In der Generation ihrer Schüler sei bereits eine Erstarrung eingetreten, wovon nicht zuletzt die Techne zeuge, die die Flexionslehre voraussetze. Da Fehling auch sonst überall mit einem frühen Höhepunkt und schneller Erstarrung rechnet, gilt diese Entwicklungskurve auch für die Redeteile, obwohl dies nur angedeutet



Siebenborn, dessen Arbeit von vornherein ausschließlich dem Hellenismos gewidmet ist, glaubt gegen Fehling nicht an ein fertiges Regelsystem bei den frühen Alexandrinern. Sie hátten, in erster Linie mit dem Dichtertext beschäftigt, nur vage Vorstellungen von den morphologischen Gesetzmäßigkeiten der Sprache gehabt, deren Systematisierung erst in der zweiten Grammatikerepoche, etwa zur Zeit des Asklepiades v. Myrlea (2./1. Jh. v. Chr.) anzusiedeln sei. Die aus der Techne des Dionysios gewonnenen früheren Datierungsansütze seien

und nicht gesondert behandelt wird!3.

mit der Athetese der Techne durch Di Benedetto hinfällig!®. In seiner Siebenborn-Rezension gibt Fehling — inzwischen von der Athetese Di Benedettos beeindruckt — seine frühere Ansicht von einer fertigen „Grammatik“

der frühen Alexandriner wieder auf. Es handele

sich wohl doch um eine spätere z.Zt. Cäsars und Varros neue, moderne Lehre, als deren Vollender sich immer mehr Tryphon herausstelle!5,



Dagegen restituiert Erbse in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Siebenborn die alte Position Fehlings, indem er einerseits mit Hilfe von

10 11 12

13

"Vgl. Steinthal II 82ff., 100, 189 Anm. Vgl Barwick, Rem. Pal. 92ff., 180ff., 229ff. Man sollte doch eher von ,,Analogielehre" als von ,,Flexionslehre“ sprechen, weil die Analogie nicht nur in der Flexion, sondern auch in anderen Bereichen wie Akzent, Schreibung etc. normierend wirkt. Vgl. dazu Siebenborn 71 Anm. 1. Vgl. Fehling 1 214f., 260ff.

14

Vgl. Siebenborn 27 Anm. 2, 69 Anm. 2, 71f., 76, 83f., 162f. u.d.

15

Vgl. Fehling, Gnomon 51 (1979), 489.

Aristarch und die ,,Grammatik"

131

Stichproben aus den Homerscholien insbesondere Aristarch wieder ein System grammatischer Regeln, eine Art normativer Grammatik, zuweist und andererseits die Echtheit der Techne erneut zu verteidigen sucht!6. Man sieht leicht, daß in allen Entwicklungsmodellen die Echtheitsfrage der Techne eine entscheidende Rolle spielt, nämlich die des Terminus ante quem. Hält man sie für echt, sieht man sich — zumindest im Bereich der Redeteile — zur Annahme einer

sprachsystematischen Vorarbeit gedrüngt, denn die Techne ist setzungsloses Neuprodukt. Hält man sie für unecht, gewinnt neigt eher dazu, eine kontinuierliche Entwicklung von ersten Anfängen bis zur späteren Systematisierung, meist im ersten

sicher kein vorausman Spielraum und frühalexandrinischen vorchristlichen Jahr-

hundert anzunehmen!”. Will man hier Fortschritte erzielen, muß ein Weg eingeschlagen werden, der — freilich mit jeweils unterschiedlichem Resultat — von Siebenborn und Erbse, lang vor

ihnen aber schon von Ribbach beschritten worden ist!8, Die Fragmente der frühen Alexandriner müssen vollständig durchgesehen

und

auf ihren Sprachbetrachtungs-

modus überprüft werden. Dazu

Umfang

will der vorliegende Aufsatz,

verfolgen

konzentriere

mich

kann, von

einen

kleinen,

vornherein

der dieses Ziel natürlich nicht im vollen

klar

umgrenzten

auf Aristarch,

von

dem

Beitrag für

liefern.

unsere

Ich

Zwecke

geeignetere, weil zahlreichere und explizitere Zeugnisse vorliegen als von Aristophanes. Dabei greife ich von den beiden wichtigsten Beleggruppen der „Grammatik“ Aristarchs, den Homerscholien und den Zeugnissen der antiken Grammatiker, nur die

zweite Gruppe heraus — nicht weil die Scholien weniger wichtig wären!?, sondern weil die von den Grammatikern bewahrten Thesen Aristarchs noch am ehesten versprechen, sich vom Homertext und dessen Sprachgebrauch gelóst und den gesuchten Status allgemeingültiger grammatischer Aussagen erreicht zu haben. SchlieBlich beschrinke ich mich auch hier noch auf die Belege bei Apollonios Dyskolos, denn es geht nicht um die zahlreichen Detailregeln Aristarchs zu Form und Akzent einzelner Wörter, die z.B. Herodian bewahrt, sondern um Zeugnisse, aus denen sich seine Position im allgemeinen Entwicklungsbild der „Grammatik“

16 17

Vgl. Erbse 236ff., 244ff. Eher zurückhaltend äußern sich R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship, Oxford

1968, 202f.,

228f. und Pinborg, Current trends 106ff. Für Frede, der sich in diesem Zusammenhang vor allem den Stoikern gewidmet hat, sind zwar grammatische Kenntnisse bei den frühen Alexandrinem durchaus denkbar, der Ursprung der ,technischen" Grammatik im Sinne der Techne des Dionysios Thrax liegt aber für ihn ausschlieBlich in der stoischen Dialektik. Vgl. M. Frede, The origins of traditional grammar, in: R. E. Butts, J. Hintikka (eds.), Historical and philosophical dimensions of logic, methodology and philosophy of science, Dordrecht-Boston

1977, 51-79, 52-56. 18

19

"Vgl. Siebenborn 71f., Erbse 236ff. und

Ribbach,

De Aristarchi

Samothracis

arte grammatica,

Schulprogramm Naumburg a. S. 1883. Dies hat Erbse am Beispiel von Schol. £2 8a und weiteren Stellen überzeugend deutlich machen kónnen. Vgl. Erbse 237ff. Ein anderes Beispiel ware Schol. B 397b, dem man die Regel Aristarchs entnehmen kann: ,Homer verbindet auch pluralische Neutra mit pluralischen Verbformen."

132

Aristarch und die „Grammatik“

erschließen läßt. Solche Zeugnisse finden sich, wie

ich glaube, überwiegend

bei

Apollonios20, Natürlich prüsentiert sich Aristarch auch bei Apollonios, wie kaum anders zu

erwarten, zunüchst als Homerphilologe. Hierher gehóren die Beobachtungen Aristarchs zum homerischen Sprachgebrauch, die, wie man auch bei Apollonios noch deutlich sehen kann?!, aus der Arbeit am Homertext erwachsen und ihm zugleich als Regulativ für Zweifelsfälle wieder zugeführt werden. Diese Zeugnisse, die hier als wichtige Vorstufen zu den gesuchten gemeingrammatischen Thesen berücksichtigt werden müssen, sollen unserem Ziel entsprechend nach Redeteilen gegliedert und weiter noch in spezielle, bestimmten

Einzelwórtern

und

generelle, dem

Gebrauch

eines Redeteils allgemein gewidmete Äußerungen eingeteilt werden. Wenn ich nichts übersehen habe, besitzen wir bei Apollonios

solche

AuBerungen

zum

Pronomen,

Artikel, Adverb und zur Konjunktion22. In bezug auf die homerischen Pronomina sind die generellen Zeugnisse in der Überzahl. Wir haben nämlich bei Apollonios nur eine Meinungsäußerung Aristarchs, die sich auf einen konkreten Einzelfall bezieht, und zwar auf die Possessivpronomina

ἐμός, σός. ὅς. Nach Apollonios, pron. 109,4ff. hielt auch Aristarch die Genetive ἐμοῖο, σοῖο, oto für thessalische Formen. Die generellen Zeugnisse stammen meist ebenfalls aus de pronominibus: —

Wie Apollonios

berichtet23,

sollen Aristarch

und

seine

Schüler zum

Gesetz24 erhoben haben, daß den Personalpronomina der dritten Person (also οὗ, οἷ, ἕ etc.) immer dann, wenn sie orthotoniert werden, die Be-

deutung des ,,zusammengesetzten“, d.h. des Reflexivpronomens zu unterstellen sei. οὗ steht also für ἑαυτοῦ, of für ἑαυτῷ etc. Diese Regel, die z.B. zur Athetese von E 64 mit seinem οἷ τ᾽ αὐτῷ geführt hat, weist Apollonios zurück.



Aus Aristarchs Ablehnung der Lesart Zenodots ἑῇ ἐν πατρίδι γαίῃ im Vers [244 (statt φίλῃ ἐν πατρίδι ...), auf die Apollonios, pron. 48,7ff. anspielt,

läßt

sich

erschließen,

daß

er die

Possessiva

bei

Homer

grundsätzlich für reflexiv hält, also im Fall von Γ 244 das éfj in ein ἑαυτῆς umwandelt, was zu Beziehungsschwierigkeiten im Vers führt. Auch hier ist Apollonios anderer Meinung, denn die Possessiva vertreten für ihn nicht nur das reflexive, sondern

20 21

22

auch

das einfache

So schon implizit durch Verweis auf Apolloniosstellen Pinborg, Current trends 107, Siebenborn 30f. und Erbse 244. Vgl.z. B. de pronominibus (= pron.) 109,22 zu v 320. Ich zitiere die kleinen Schriften nach der kommentierten Ausgabe von R. Schneider, Gramm. Graec. II 1,1 und 2 und die Syntax (= synt.) nach der Ausgabe von G. Uhlig, Gramm. Graec. II 2. Ich übergehe dabei für unseren Zusammenhang unerhebliche Einzelfälle wie pron. 88,2, pron. 106,14 und synt. 173,11.

23 24

pron. 42,17ff. Zum näheren Zusammenhang dieser und weiterer Stellen aus den kleinen Schriften ist jeweils Schneiders Kommentar zur Stelle zu vergleichen. Ob damit wirklich, wie Schneider ergänzt, ein Gesetz homerischen Sprachgebrauchs gemeint ist, ist nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, weil in der gesamten Passage nur mit Homerversen operiert wird.

Aristarch und die „Grammatik“ Pronomen,



weshalb

man

das éj von

Γ 244

133 ebensogut

auch

in ein

problemloses αὐτῆς verwandeln kónne. Aristarch verdächtigt, wie Apollonios meint zu Recht25, den Vers v 320, weil sich das Possessivum in der Wendung φρεσὶν flow nur auf eine dritte, nicht auf die hier zustündige

erste

Person

des redenden

Odysseus beziehen kann. Homer mache aber (im Gegensatz zu anderen Dichtern) keine Fehler beim Gebrauch der Pronomina.



Apollonios gibt synt. 223,14f. der Lesung Aristarchs ἀπὸ ἕο χειρὶ παχείῃ in Y 261 statt Zenodots ἀπὸ οὗ χειρὶ ... den Vorzug, weil er bei Aristarch eine Regel in Homers Pronominagebrauch beachtet sieht: Homer vermeidet den Zusammenfall von Formen des Personal- und Possessivpronomens (z.B. ἐμοῦ von ἐγώ und ἐμός) durch Beschrän-

kung auf bestimmte Dialektformen26, Zenodots ov ist also doppeldeutig, nicht aber Aristarchs ἕο, das eindeutig zum Personalpronomen gehürt. Zum Artikelgebrauch bei Homer vermittelt Apollonios eine allgemeine Regel Aristarchs, zu der ihn laut Apollonios das ἔθιμον τοῦ ποιητοῦ bewegt zu haben

scheint27, —

Bei Homer

ist der Artikel, so Aristarch, wenn

er gesetzt wird, nicht

überflüssig, aber gewöhnlich läßt ihn der Dichter aus. Die rigorose Anwendung dieser Regel führt Aristarch zur Streichung des Artikels auch in Fallen, wo er nach Apollonios’ Meinung vom Sinnzusammenhang her unbedingt erforderlich ist, wie z.B. im Vers K 408, bei dem

Aristarch lieber δαὶ statt αἱ liest.

Eine Sonderregel Aristarchs gibt es beim Adverb28. —

Aristarch lehrt — diesmal mit Unterstützung des Apollonios --, daß das gewohnlich lokal zu verstehende Adverb ὧδε bei Homer ausschlieBlich in modaler Bedeutung verwendet werde.

SchlieBlich berichtet Apollonios noch von Aristarchs

Ansicht

zum

homerischen

Gebrauch der Konjunktion γάρ29. —

γάρ, so führt Apollonios aus, gehöre zu den nachgestellten Konjunktionen insofern, als ein mit γάρ versehener Kausalsatz immer an zweiter Stelle stehen müsse. Die Falle einer Voranstellung bei Homer lieBen sich nicht gegen diese Regel

ins Feld

führen,

auch

wenn

sie

Aristarch der Ὁμηρικὴ συνήθεια folgend sanktioniert habe. Es sei bei 25 26 27 28 29

Vgl. pron. 109,20ff. Vgl. synt. 217,5ff. und 223,11 ff. Vgl. synt. 6,4ff. und 106,1ff. Vgl.deadverbiis 178,25ff. Schneider. Vgl. de coniunctionibus 239,9ff., bes. 239,23f. Schneider.

134

Aristarch und die „Grammatik“ Homer

allenthalben mit Eigenarten zu rechnen,

man solche yap-Verwendungen

und

außerdem

müsse

Homers, wie z.B. B 284, richtig als

Hyperbata interpretieren. Schon diese wenigen Stellen vermitteln den Eindruck eines komplexen Regelwerks der homerischen Sprache, das sich, hätten wir weitere Schriften des Apollonios, wohl

noch erheblich erweitern ließe und mit Hilfe der Scholien sicher auch erweitert werden wird. Begnügen wir uns vorerst damit, das aus Apollonios Fixierbare noch einmal zusammenzufassen: Pronomina:

Speziell:

1. ἐμοῖο, σοῖο, oto sind thessalische Formen.

Generell:

1. Die orthotonierten Personalpronomina der dritten Person sind bei Homer reflexiv. 2. Die Possessivpronomina sind bei Homer grundsätzlich reflexiv. 3. Homer macht beim Gebrauch der Pronomina keinen Fehler. 4. Homer vermeidet den Zusammenfall von Formen des Personal- und Possessivpronomens.

Artikel: Generell:

1. Der Artikel fallt bei Homer gewóhnlich weg.

Adverb: Speziell:

1. Das Adverb ὧδε ist bei Homer ausschließlich modal.

Konjunktion: Speziell:

1. Homer verwendet die Konjunktion γάρ nicht regelwidrig auch in erster Position.

So rudimentär die Reste dieser „Grammaire Homérique"

sind, sie zeigen doch ein

klares Bild von deren Herkunft und Verwendungszweck: Der homerische Sprachgebrauch wird sorgfältig beobachtet, in Regeln gefaßt und — bisweilen rigoros — als normierende Instanz für textkritische Zweifelsfille herangezogen. Ausgangspunkt und Ziel dieser „Grammatik“ ist also die homerische Dichtung. Wir haben aber auch Meinungsäußerungen, ja z.T. ganze Argumentationsfolgen Aristarchs bei Apollonios, die nicht mehr Homer, sondern die griechische Sprache allgemein, also auch die aktuelle Gegenwartssprache Aristarchs betreffen. Beginnen wir am besten mit einem Fall, bei dem der homerische Sprachgebrauch trotzdem noch

Aristarch und die „Grammatik“

135

eine Rolle spielt?0. Nach unserer Beleggruppierung handelt es sich dabei um ein spezielles Zeugnis zum Pronomen.



Apollonios berichtet zweimal?! von einer Kritik Aristarchs an den pluralischen

1.

Formen

der

,zusammengesetzten",

d.h.

reflexiven

Pro-

nomina der dritten Person, also ἑαυτῶν, ἑαυτοῖς etc. Aristarch verwendet dabei drei Argumente: Von einer aus singularischen Bestandteilen zusammengesetzten Form, wie z.B. ἑ + αὐτόν, kann sinnvollerweise kein Plural gebildet werden,

weil dann, so müssen wir erklárend hinzufügen, ein singularisches é und ein pluralisches Element, etwa ein αὐτούς, zusammenkämen. 2.

Die Pronomina der ersten und zweiten Person haben keine zusammen-

gesetzten, sondern nur getrennte Pluralformen, z.B. ἡμᾶς αὐτούς oder ὑμᾶς αὐτούς. Analog muß dies auch für die Pronomina der dritten 3.

Person gelten. In der Sprache Homers, bei dem, wie Aristarch bei Apollonios, pron. 71,25 meint, τὰ tod Ἑλληνισμοῦ ἠκρίβωται, finden sich nur die

getrennten Formen der dritten Person, also σφῶν αὐτῶν, σφᾶς αὐτούς etc.

Es lohnt sich, die ebenfalls von Apollonios referierten Gegenargumente Habrons, eines Grammatikers der augusteischen Zeit, dagegenzuhalten, um so einen Eindruck von den durchaus kontroversen Diskussionen in der grammatischen Lehrtradition zu vermitteln. Habron wendet gegen Aristarch ein:

1.

Der Plural von ἑνδέκατος, nämlich évOéxatot, beweist, daß Zusam-

2.

mensetzungen der von Aristarch bemängelten Art durchaus möglich sind. Flexionsformen der dritten Person setzen nicht notwendigerweise die Existenz gleicher Formen bei anderen Personen voraus. Es gibt z.B. einen Nominativ Dual der ersten und zweiten (v, σφώ), nicht aber der

dritten Person. AuBerdem kónnen analoge Formen zu ἑαυτούς auch bei den

anderen

Personen

ursprünglich

vorhanden

gewesen,

aber

inzwi-

schen wieder aus dem Sprachgebrauch verschwunden sein. 3.

Im nachhomerischen Sprachgebrauch, z.B. bei Platon, sind die zusam-

mengesetzten Formen belegt. Wir verzichten auf die für Aristarch durchaus ehrenhafte Widerlegung Habrons durch

Apollonios?2. Die Bedeutung dieser Apolloniospassage liegt, wie schon Siebenborn an genann-

ter Stelle skizziert hat33, darin, daß die drei Normprinzipien, die aus Aristarchs 30

Vgl. hier Siebenborns Interpretation 30f.

31 32

Vgl. pron. 71,20ff. und synt. 244,10ff. Vgl. pron. 72,4ff. und synt. 247,1ff.

33

Siehe Anm. 30.

136

Aristarch und die „Grammatik“

Argumentation deutlich werden, nämlich syntaktische Verträglichkeit, Flexionsanalogie und Homerische Sprache, nicht mehr auf den Dichtertext, sondern auf den Sprachgebrauch allgemein, auf den Hellenismos also wirken sollen. Besonders auffällig ist dabei natürlich, daß Aristarch den Autoritätsanspruch der Sprache Homers offenbar auf den Hellenismos allgemein erweitert zu haben scheint — ein für seine Schule vielleicht charakteristischer Zug, denn wir haben die ironische Notiz des Sextus Empiricus (adv. math. I 203ff.), daB die Anhünger des Aristarchschülers Ptolemaios Pindarion für ein gutes Griechisch tatsächlich die Ὁμήρου συνήθεια

empfohlen hätten, was zu Lächerlichkeiten wie μάρτυροι statt μάρτυρες und dergleichen Absurditäten mehr führen würde. Aber Apollonios bewahrt auch gemeingrammatische Äußerungen Aristarchs, die ohne Bezugnahme auf Homer und seine Sprache auskommen. Es sind dies zunächst zwei weitere Zeugnisse zu den Pronomina, deren erstes wiederum von einer Kritik Habrons an Aristarch zu berichten weiß. —

Synt. 137,9ff., wie vorher schon pron. 3,12ff., wird Aristarch eine Definition des Pronomens zugewiesen, die in der Schrift de pronominibus mit Habrons Argumenten, aber ohne Nennung seines Namens zurückgewiesen, in der Syntax aber mit Kritik an der jetzt namentlich erwühnten Habronschule verteidigt wird. Aristarch hatte die Pronomina

λέξεις κατὰ πρόσωπα συζύγους genannt, also Worter, die sich nach Personen zu Gruppen zusammenfinden — eine Definition, die immerhin noch Priscian für wichtig genug hielt, um sie aus Apollonios' Schriften

zu exzerpieren34, Habron hilt diese Definition für verfehlt, weil sie auch das Verb einschlieBe, ja dieses

noch viel eher treffe als die Pronomina. Denn allein die Verbformen seien wirklich — und zwar nach Lautstand, Silbenzahl und wohl auch Tempus und Akzent σύζυγοι

(z.B. λέγω. λέγεις, λέγει etc.), nicht jedoch die Pronomina, wie man an ihrer Deklination sehen kónne (z.B. ἐγώ, ἐμοῦ, vo, ἡμεῖς). Mit Recht weist Apollonios Habrons Kritik zurück, denn sie verwechselt ein morphologisches (gleiche Flexionsformen) mit einem semantischen Kriterium (gleiche Bedeutung von Wortgruppen)35.



Das

zweite Zeugnis

gilt dem

Pronomen

αὐτός36,

Weil es jedem

orthotonierten Personalpronomen und, wie Apollonios später hinzufügt, auch den Possessiva im Genetiv beigefügt werden kann, nannte Aristarch es auch das „epitagmatische“, d.h. Stütz- oder Hilfs-

pronomen.

34

Vgl. Prisc. inst. gramm., Gramm. Lat. IIl 144,7ff. und 198,10ff. Hertz.

35

Deshalb sollte man vorsichtig sein, hier eine Linie von Aristarch zu Dionysios Thrax zu ziehen,

36

bei dem συζυγία eindeutig morphologisch verwendet wird, nämlich die Konjugationsklassen des Verbs bedeutet. Vgl. Techne, Gramm. Graec. I 1,53,5ff. Uhlig. Zu den obengenannten Apolloniospassagen vgl. die ausführliche Interpretation von A. Thierfelder, Beiträge zur Kritik und Erklärung des Apollonius Dyscolus, Leipzig 1935, 1-19. Vgl. pron. 62,16f. Diese Stelle erwähnt Erbse 244.

Aristarch und die „Grammatik“

137

Es bleiben noch zwei Aristarchbelege, die dem Adverb und dem Artikel gewidmet sind:



Der Spezialbeleg zum

Adverb ἄνεῳ37

ist zugleich ein generelles

Zeugnis für Aristarchs Auffassung vom Nomen und Adverb. Das Wort

ἄνεῳ (= still, stumm) ist für Apollonios, der hier unter dem Einfluß früherer Theorien steht, ein pluralisches Nomen, das entweder aus der

Folge & + id (Stimme) > &viog > att. &vews > pl. ἄνεῳ (nach νεώς, veg) oder aus à + αὔω (schreien) > ἄνανος > ἄναος > att. ἄνεως > pl. &veq entstanden ist. Apollonios ist aber so ehrlich zuzugestehen, daß es hier auch andere Meinungen gibt, z.B. die Aristarchs und seiner Schule, wonach ἄνεῳ kein Nomen, sondern ein Adverb

ist, und zwar

aus folgendem Grund: Das Wort erscheint in nur einer Form und verbindet sich auBerdem mit singularischen und pluralischen Verb-

formen, was den Nomina nicht zu eigen sei?8. Dahinter steckt natürlich



die allgemeine Regel, daß das Adverb indeklinabel und daher kongruenzneutral, dagegen das Nomen deklinabel und damit kongruenzfähig sein muß. Das letzte Zeugnis gilt dem Artikeß?. Es ist jedoch nur ein negatives Zeugnis insofern, als für ein bestimmtes Wort festgelegt wird, daß es nicht zur Klasse der Artikel zählt. Es handelt sich um das dem Vokativ vorangestellte à, das Aristarch — anders als nach ihm Tryphon — nach Apollonios’ Schlußfolgerung nicht zu den Artikeln gerechnet haben

kann^0, Auch jetzt sollen die Belege wieder zu einer kleinen Grammatik zusammengestellt werden: Nomen:

Generell:

1. Die Nomina sind deklinabel und daher kongruenzfähig.

Pronomen:

Speziell:

1. Die Pluralformen des zusammengesetzten, reflexiven Pronomens der dritten Person (z.B. ἑαυτούς) sind inakzeptabel.

37

Vgl. de adverbiis 145,5}. Schneider. Das Wort scheint bis heute Schwierigkeiten zu machen. Vgl. Schwyzer, Griech. Gramm. I 550 (HbAW II 1,1): &vew — ohne Iota subscriptum ein Instrumentalis Singular?

38

Wenn Apollonios hier mit dem παρείπετο von de adverbiis

39 40

klingen läßt, wäre dies ein erster Beleg für die späteren παρεπόμενα der Redeteile. Vgl. synt. 71,10ff. Dies steht im Gegensatz zu Dionysios Thrax, der das ὦ wahrscheinlich zu den Artikeln zählte. Vgl. Techne 62,5 Uhlig.

145,9 den Wortlaut Aristarchs an-

138

Aristarch und die „Grammatik“

2. Das Pronomen αὐτός kann auch „epitagmatisches“ Pronomen genannt werden. Generell:

1. Pronomina sind Wörter, die sich nach Personen zu

Gruppen verbinden. Adverb:

Speziell:

1. Das Wort ἄνεῳ ist ein Adverb.

Generell:

1. Das Adverb ist indeklinabel und daher kongruenzneutral.

Artikel: Speziell:

1. Das dem Vokativ vorangestellte ὦ ist kein Artikel.

Auch diese „Grammatik“ macht natürlich zunächst aber wir sollten wie bei den Homerbelegen auch hier nur das Zufallsergebnis der Apolloniosüberlieferung wenigen Zeugnisse, wie ich glaube, Schlüsse auf Grammatiktradition zu:

den Eindruck von Spärlichkeit, nicht vergessen, daB sie ebenfalls ist. Trotzdem lassen selbst diese die Stellung Aristarchs in der

1. Aristarch war nicht nur im Besitz eines komplexen Regelwerks zur homerischen Sprache, sondern war darüber hinaus auch an gemeingrammatischen Fragen interessiert. 2. Es finden sich bei ihm Spuren beider grammatischer Traditionsstróme, der Lehre vom Hellenismos und der Systematik der Redeteile:

2.1. Die Kritik an ἑαυτῶν, ἑαυτοῖς etc. bezeugt Aristarchs Teilnahme an der Diskussion um die Normen des korrekten Griechisch. Hier lieBen sich für Aristarch drei Normen nachweisen, denen wir aus

der Vorarbeit Siebenborns*! zwei weitere anschließen können: — Syntaktische Verträglichkeit - Flexionsanalogie — Homerischer Sprachgebrauch

— Aktueller Sprachgebrauch42

— Etymologiet? 2.2. Die restlichen Zeugnisse gehören in die Tradition der Redeteile, und hier haben wir immerhin — eine Redeteildefinition (Pronomen) — einen terminologischen Neuvorschlag (epitagmatisches Pronomen) — Spuren eines allgemeinen Rásonnements zum Nomen und Adverb — Spuren von Beschäftigung mit konkreten Einzelwörtern (&veq, à).

41

Siehe Anm. 30.

42

Nach Varro, ling. Lat. IX 1.

43

Nach Herodian, de orthographia 431,4 Lentz (Gramm. Graec. II] 2,2,1).

Aristarch und die ,,Grammatik"

139

Wir kónnen natürlich nicht wissen, welches Gewicht Aristarch diesen allgemeinen grammatischen Fragen zumaß und in welcher Form er sie schriftlich niederlegte — ob nur beiláufig als philologisches Nebenprodukt oder schon thematisch konzentriert, wie z.B. später Tryphon. Aber es läßt sich doch, wie ich glaube, mit gutem Gewissen soviel sagen, daB die Sprachbetrachtung schon bei Aristarch derart an Niveau, Differenzierungsgrad und Eigenständigkeit gewonnen hatte, daß systematisierende Bemühungen in beiden Schwerpunkten der „Grammatik“ schon bei seinen Schülern durchaus denkbar sind.

DISPUTARE IN UTRAMQUE PARTEM. ZUM LITERARISCHEN PLAN UND ZUR DIALEKTISCHEN METHODE VARROS IN DE LINGUA LATINA

8 — 10

Daß eines der Hauptwerke Varros, de lingua Latina (= LL) in 25 Büchern, aus umfangreichen Vorarbeiten entstanden sein muB, steht aufer Frage. Schon das berühmte Lob Ciceros am Anfang der Academici libri (1,9) vom Juli 45, zu einer Zeit also, wo LL sicher noch nicht publiziert war, zeigt ja, daB von Varro damals bereits

bedeutende literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten vorgelegen haben müssen.! Wir sind allerdings zum Nachweis von linguistischen Vorarbeiten für LL nicht allein auf Cicero angewiesen. Varro selbst läßt deutlich genug erkennen, daß sein Werk — jedenfalls streckenweise — nicht nur aus Vorstudien, sondern sogar aus bereits fertigen und in einem Fall wohl auch schon veróffentlichten kleineren Abhandlungen zusammengestellt, um nicht zu sagen: kompiliert ist. Wie wir nämlich ling. 5,1 und 7,109 entnehmen kónnen, waren die Etymologie-Bücher 2-4 als separate Schrift dem Publius Septumius, dem Quaestor Varros, gewidmet und sehr wahrscheinlich schon früher publiziert worden.? Und an gleicher Stelle erfahren wir auch, daß die Bücher 5-7 noch einer anderen Person gesondert gewidmet waren — einer Person, hinter der man heute aufgrund externer Testimonien allgemein Cicero vermutet. Ich komme gleich darauf zurück.

Die folgenden Überlegungen sind von der Überzeugung veranlaßt, daß in Varros Schrift in Parallele zu den Büchern 2-4 und 5-7 auch die Bücher 8-10 zunächst als separate Einheit mit einem bestimmten literarischen Eigencharakter angelegt waren, um dann später in den Gesamtablauf von LL eingegliedert zu werden. Allerdings enthält diese Buchtrias keine Widmung und gibt auch keinen Anlaß zur Annahme einer separaten Vorpublikation wie im Fall der Bücher 2-4 oder 5-7. Bevor ich jedoch darauf zu sprechen komme, móchte ich zum besseren Verstündnis meiner Ausführungen noch einmal kurz Aufbau und Entstehungsgeschichte von LL, soweit wir sie

|

Vgl. Cic. Acad. post. 1,9: plurimum quidem poetis nostris omninoque Latinis et litteris luminis et verbis attulisti ... Cicero kann damit nur philologische und sprachwissenschaftliche Arbeiten aus der ersten großen Schaffensperiode Varros (ca. 59 - 49 v.Chr.) gemeint haben, die wir allerdings nur schemenhaft kennen und meist nicht sicher datieren kónnen, z.B. de origine linguae Latinae ad Pompeium Magnum (sicher vor 48 v.Chr.) de sermone Latino ad Marcellum (vor 45 v.Chr.), de similitudine verborum und de utilitate sermonis (nicht datierbar). Besonders die beiden letzten Schriften berühren sich eng mit LL B. 8-10, kónnten also vielleicht direkte Vorarbeiten darstellen. Vgl. für den ersten Überblick über die grammatischen

Schriflen Varros H. Dahlmann, Terentius (84), RE Suppl. 6 (1935)

2

1202-1220.

Die letzte

Fragmentsammlung stammt von A. Traglia, Opere di M. T. Varrone, Turin 1974, 498-579 (nach der Edition von Goetz-Schoell 1910), der letzte größere Forschungsbericht von B. Cardauns, Stand und Aufgaben der Varroforschung, Wiesbaden 1982, 5f. und 14ff. Ich zitiere hier die Fragmente nach der Sammlung von H. Funaioli, Grammaticae Romanae Fragmenta, Leipzig 1907, de lingua Latina nach der Ausgabe von Goetz-Schoell, Leipzig 1910 (mit z.T. eigener Zeichensetzung). Vgl .Dahlmann, RE 1204f.

Disputare in utramque partem

heute noch nachvollziehen Aufbauskizze:

kónnen,

in Erinnerung

141

rufen.

[ch

gebe

zuerst

eine

de lingua Latina (25 Bücher)

(1) Einleitungsbuch

impositio — (Etymologie B.2-7)

Theorie

contra

Q)

pro

3

declinatio (Morphologie B.8-13)

Praxis

de



Theorie

Orr

Zeit

Dicht.

contra

pro

6)

(9

QU

(8)

(9)

coniunctio verborum (Syntax B.14-25)

Praxis

Theorie (?)

Praxis (?)

/N

(o)

(11) (12) (13) (14-19)

(20725)

erhaltene Bücher

Das Gesamtwerk umfafite also 25 Bücher, wobei den 24 Büchern der eigentlichen Abhandlung ein Einleitungsbuch vorausging. Die Bücher 2-7 galten der Etymologie, geteilt in einen Theorie-

(2-4)

und

einen

Praxisteil

(5-7),

die

Bücher

8-13

der

Morphologie, wieder nach Theorie (8-10) und Praxis (11-13) gegliedert. Die Verhältnisse im Syntaxteil sind unklar. Die Buchtriaden der Theorie und der praktischen Anwendung auf das Lateinische sind jeweils nach Sachkriterien aufgeteilt, die Theorieteile 2-4 und 8-10 dabei in genauer paralleler Entsprechung nach einer contra-, pro- und de-Systematik. Erhalten sind mit Lücken nur die Bücher 5-7 und 8-10. Nun zur Entstehungsgeschichte von LL, in der die Widmung eine besondere Rolle spielt.) Daß Varro das gesamte Werk Cicero gewidmet hat, wird heute allgemein anerkannt, jedoch sind die Einzelheiten nicht immer zur vollen Zufriedenheit durchschaubar. Die Widmung an Cicero ist zunächst durch eine Reihe von Grammatikerzitaten belegt, die aus Varros Schrift zitieren und im günstigsten Fall das Buch und den Adressaten nennen, z.B. Fragm. 6 und 7 Funaioli: Varro ad Ciceronem tertio. Unser wichtigster Zeuge ist aber zunächst Cicero selbst. Cicero befindet sich bekanntlich im Juni 45 mitten in dem explosionsartigen Schub der Abfassung zahlreicher philosophischer Abhandlungen. Atticus hatte in diesem Zusam3 4

Vgl.dazu vor allem Dahlmann, RE 1203-1205 und K. Barwick, Widmung und Entstehungsgeschichte von Varros de lingua Latina, Philologus 101 (1957) 298-304. Solche Widmungen sind für eine Reihe von Büchern erhalten, und wir kommen mit ihnen bis zu Gellius (Fragm. 22 Funaioli), der die Widmung für das 24. Buch bezeugt. Allerdings belegt auch schon Quintilian, inst. 1,6,37, die Widmung an Cicero zumindest für das 5. Buch, aus dem

er exzerpiert.

Wahrscheinlich

hat also schon

Quintilian,

sicher aber Gellius LL

in

25

Büchern mit einer Gesamtwidmung an Cicero vorgelegen. Wichtig sind hier natürlich auch die Subskriptionen in der handschriftlichen Überlieferung von LL. Vgl. Barwick, Widmung 298f. [Bestimmte Charisius-Exzerpte (2.B. Varro frg. 13 und 18 Fun.) zeigen, daB auch schon Plinius d.Ä. in seinem Werk De dubio sermone libri octo (um 65 n.Chr.) aus Varros Werk zitiert hat (Buch 11 und 13).]

142

Disputare in utramque partem

menhang angeregt, auch einmal Varro eine Schrift zu widmen oder ihn in einem Dialog auftreten zu lassen.> Cicero hat — so lautet seine Entschuldigung in seinem Antwortbrief vom 23. Juni 45 (13,12,3 = 13,24,3 Kasten) — bis zum Beginn seiner zweiten literarischen Periode im Jahre 46 dazu noch keine Gelegenheit gefunden und sich dann ab 46 in diesem Punkt bewufit zurückgehalten, denn Varro hatte ihm zwei Jahre vor dem Brief, also im Sommer 47, eine „ganz große, bedeutende Widmung“ angekündigt, aber nichts darauf folgen lassen: Aber wir kennen Cicero. Nur allzu leicht läßt er sich von Atticus umstimmen, schreibt seine Academica auf Varro um,

widmet und schickt sie ihm im Juli 45, um ihn endlich zur Einlósung seines Versprechens zu bewegen. Aus dem erhaltenen Widmungsschreiben (fam. 9,8) und der Einleitung des Dialogs (1,2f.) geht übrigens hervor, daß Cicero zwar nach wie vor ein magnum opus erwartet, aber immer noch nichts Näheres darüber weiß. Wir kónnen also aufgrund dieser Zeugnisse resümieren, daB Varro im Sommer 47 Cicero die Widmung eines bedeutenden Werkes ankündigt, aber im Juni 45 damit noch nicht zu Ende gekommen ist, und daß Cicero offensichtlich das Projekt nicht näher kennt. Daß dieses Hauptwerk nur LL sein kann, läßt sich zwar nicht mit zeitgenössischen Testimonien belegen, dürfte aber nach den erwähnten Widmungshinweisen späterer Autoren seit Quintilian so gut wie sicher sein. Wenn man nun, mit diesen Informationen versehen, die Widmungsverhältnisse in LL selbst betrachtet, werden die Dinge leider wieder komplizierter. Varro sagt, wie bereits erwühnt, 5,1 und 7,109 selber, daB er die Bücher 2-4 seinem Quaestor

Septumius gewidmet

habe. An gleicher Stelle (5,1 und 7,109£) werden dann einer zweiten mit te/ tibi anonym angeredeten Person unmißverständlich nur die Bücher 5-7 gewidmet. Daß damit Cicero gemeint ist, wird allgemein nicht bezweifelt, aber man muß dabei ehrlicherweise zugeben, daß dies eben leider wieder nur aus den späteren Widmungstestimonien zurückgeschlossen werden kann, denn Varro erwühnt Cicero hier und in den sonst noch zugänglichen Teilen von LL nicht.Ó Das sieht nun ganz so aus, als hätte Varro Cicero nur die Bücher 5-7 und nicht das gesamte Werk gewidmet, eine Vermutung, die nur schwer mit dem magnum opus des Atticusbriefes und der Academica zu vereinbaren ist und die deshalb der Forschung entsprechende Kopfschmerzen verursacht hat. Man hat zunächst gemeint, daß Varro seine Bücher tatsächlich stückweise in Triaden veröffentlicht und Cicero zu seinen Lebzeiten wohl wirklich nur die drei Bücher 5-7 erhalten habe. Spätere Bücher könnten dann auch noch nach Ciceros Tod veróffentlicht worden sein und einer ursprünglichen Absicht Varros entsprechend in der weiteren Überlieferungsgeschichte des Werkes nachtrüglich die Widmung an Cicero erhalten haben.” Aber das Zeugnis Ciceros hatte doch ein zu starkes Gegengewicht, und so ging man später eher davon aus, daß nur die Septumius-Bücher bereits vor der Widmungsankündigung an Cicero publiziert 5

Diese Bitte hatte Atticus übrigens schon sehr viel

6 7

geäußert, was gern übersehen wird. Vgl. Cic. Att. 4,16,2 (= 4,17,2 Kasten). DaB Widmung und Teilnahme an einem Dialog zwei verschiedene Formen der literarischen Würdigung sind, hat schon J. Ruppert, Quaestiones ad historiam dedicationis librorum pertinentes, Diss. Leipzig 1911, 35ff. am Beispiel der Academica posteriora Ciceros zu zeigen versucht. Für ihn liegt hier keine echte Widmung an Varro, sondern nur eine Teilnahme am Dialog vor. Vegi. aber das Tullius von ling. 8,10, wo Cicero wenigstens im Beispiel erwähnt wird. Vgl. A. Riese, Die varronische Literatur seit dem Jahre 1858, Philologus 27 (1868) 296-298.

früher, nämlich

schon

im

Juli

54 v.Chr.,

Disputare in utramque partem

143

waren. Die Cicero-Bücher 5-7 seien dagegen als Sonderpublikation zunüchst nur geplant gewesen, dann aber zusammen mit den Septumius-Büchern unter Beibehaltung ihrer Sonderwidmung in das Cicero gewidmete Gesamtwerk eingegliedert worden. Entsprechende Hinweise Varros werden in dem verloren gegangenen ersten Ein-

leitungsbuch vermutet.8 Was läßt sich nun aus diesen Widmungsumstünden für die Entstehungsgeschichte von LL folgern? Varro begann wahrscheinlich schon im Frühjahr 47 mit der Arbeit an LL, denn die Widmungsankündigung vom Sommer 47 setzt ein festes Gesamtkonzept voraus. Die Schrift solite offensichtlich nicht in allen Teilen vóllig neu verfaBt, sondern z.T. aus bereits veróffentlichten oder geplanten Sonderpublikationen zusammengesetzt werden. Über den weiteren Verlauf der Arbeit ist durch Cicero für das Jahr 45 bezeugt, daB Varro nur sehr langsam vorankam und sein Projekt geheim hielt. Der folgende Zeitraum von 45 bis zum eigentlichen Erscheinen des Werkes liegt für uns leider im Dunkeln. Man

kann nur vermuten, daB Varro ab 45

nach der inzwischen erfolgten Dedikation der Academica sich erheblich wird, um Ciceros Wunsch nach Einlösung seines Widmungsversprechens Das könnte die unzweifelhaften Spuren von Zeitdruck und Flüchtigkeit ren. Ob Varro aber das Werk tatsächlich noch vor Ciceros Tod am 7. 12.

beeilt haben zu erfüllen. in LL erklä43 abschlie-

Ben und ihm zusenden konnte, ist unbekannt, denn für den Erhalt von LL gibt es bei

Cicero kein Zeugnis, obwohl die Briefe ja bekanntlich bis tief in das Jahr 43 hineinreichen, und Cicero durchaus registriert, wenn ihm etwas von Varro angekündigt oder

zugeschickt wird. Will man hier trotzdem weiterkommen, mu8 man vor allem entscheiden, ob man

die Widmung an Cicero als beweiskrüftiges Indiz für die Publikation von LL vor Ciceros Tod gelten läßt oder nicht. Die Mehrzahl der Varroforscher läßt sie in diesem Sinne gelten und plädiert mit dem Argument, daß die Stellen in LL, wo Cicero angeredet wird, nur Sinn machen, wenn man sich ihn als noch lebend denkt, für eine

Bearbeitungsdauer von 4 bis 4 !/; Jahren und für eine Publikation vor dem Dezember 43.10 Hält man es dagegen für möglich, daß Varro keinen Grund dafür sah, nicht auch noch nach dem Tode Ciceros an der Widmung festzuhalten!!, gewinnt man zwei Möglichkeiten für eine spätere Datierung. Entweder hat Varro in der Zeit nach 43 weiter an LL gearbeitet und das Werk noch vor seinem Todesjahr 27 v.Chr. selbst verdffentlicht!2, oder man unterstellt eine dann wohl erst postume

Edition

durch

einen fremden Herausgeber.!? 8

9 10

ll

12

So verstehe ich Dahlmann, RE 1203-1205. Barwick glaubt allerdings (Widmung 300-304) wieder daran, daB auch die Bücher 5-7 gesondert vorab publiziert und Cicero vor der versprochenen Übersendung des Gesamtwerks gewissermaBen als Anzahlung zugeschickt wurden.

Vgl Cic. Att. 15,13,3 (= 16,8,3 Kasten) vom Oktober 44, Att.

16,11,3 und

16,12 vom

November 44 v.Chr. Vgl. L. Spengel, Über die Kritik der varronischen Bücher, München 1854, 15ff.; A. Wilmanns, De M. T. Varronis libris grammaticis, Berlin 1864, 37ff.;, H. Funaioli, 187f.; G. Goetz-F. Schoell (Edd.), M. T. Varronis de lingua Latina ..., Leipzig 1910, IX; Dahlmann, RE 1204 und Barwick, Widmung 304. Diese Möglichkeit schließt übrigens auch Barwick, Widmung 304, nicht aus: „...es wäre an sich denkbar, daß Varro auch dem toten Cicero sein Werk gewidmet hat ...“, er hält sie dann aber doch „nach Lage der Dinge“ für „nicht wahrscheinlich". Stürkstes Argument für die Selbstveröffentlichung ist die von Hieronymus im Katalog der

144

Disputare in utramque partem

Beide Auffassungen haben ihre Schwierigkeiten, auf die ich leider nicht weiter eingehen kann. Für den hier gewählten Zusammenhang ist es aber wichtig, daß sich schon aus den Ergebnissen der Forschung zur Widmungs- und Entstehungsgeschichte von LL der Verdacht ergibt, daB es sich um ein bisweilen flüchtig aus fertigen oder geplanten Vorarbeiten kompiliertes, jedenfalls irgendwie unfertiges, wahrscheinlich nicht bis zur Endredaktion gelangtes Werk handelt. Vor diesem Hintergrund des Aufbaus und der Entstehungsgeschichte von LL möchte ich nun, wie angekündigt, den literarischen Eigencharakter von Buch 8-10 untersuchen, um die These von einer ursprünglich separaten Einheit und deren späterer Eingliederung in das Gesamtwerk abzusichern. Wie ebenfalls schon angedeutet, gewinnt diese Annahme

allein schon daraus an Plausibilitit, daß die Bücher

8-10

parallel zu den Büchern 2-4 angelegt sind, von denen wir ja wissen, daß sie als selbständige literarische Einheit angelegt und wahrscheinlich auch vorpubliziert waren. Die eigentliche Absicherung kann aber erst durch die Analyse der Bücher selbst erreicht werden. Das entscheidende, weil einheitsbildende Charakteristikum der Bücher 8-10 ist

die Darbietung des Stoffes nach der contra-, pro- und de-Systematik. Varro hat sie schon an zwei Stellen des Etymologieteils erwähnt, 5,1 und 7,109:

1)

De his (sc. libris 2-7) tris (2-4) ante hunc feci, quos Septumio misi:

in quibus est de disciplina, quam vocant ἐτυμολογικήν: quae contra

2)

eam dicerentur, volumine primo (2), quae pro ea, secundo (3), quae de ea, tertio (4). (5,1) priores (i.e. libros 2-4) de disciplina verborum originis, ... in primo volumine (2) est, quae dicantur, cur ἐτυμολογική neque ars sit neque ea utilis sit, in secundo (3), quae sint, cur et ars ea sit et utilis sit, in tertio (4), quae forma etymologiae. (7,109)

Erst die zweite Stelle läßt das Verfahren der Stoffaufbereitung genauer erkennen. Zur Diskussion steht eine Frage, zu der jeweils in einem Buch Stellung genommen wird, und zwar zuerst im Sinne der Negation und dann der Affirmation:

13

Schriften Varros bezeugte Epitome von LL in 9 Büchern, die ja eigentlich nur Sinn macht, wenn LL bereits fertig vorlag. Vgl. z.B. Goetz-Schoell p. IX. Vgl. dagegen aber schon F. Ritschl, Die Schriftstellerei des M. Terentius Varro, Opuscula philologica III, Leipzig 1877, 466: Die Epitome kónnte auch von einem noch unfertigen, unpublizierten Manuskript hergestellt worden sein. So zuerst K. O. Müller, M. T. Varronis de lingua Latina ..., Leipzig 1833, p. IV-XI, 1839 bestárkt von K. Lachmann, Kleinere Schriften zur Classischen Philologie, hrsg. v. J. Vahlen, Berlin 1876, II, 164f., und 1848 von Ritschl, Opuscula III, 465f. Müller glaubt nicht an eine Publikation der 25 Bücher vor Ciceros Tod. Die noch unfertige Schrift sei Varro vielmehr während der Proskriptionswirren von 43 v.Chr. (vgl. Gellius, noct. Att. 3,10,17) abhanden gekommen und sei erst spüter (wann, vor Varros Tod oder postum, wird nicht gesagt) von einem unbekannten Editor unter Beibehaltung der Widmung an Cicero und der sprachlichen und sachlichen Ungereimtheiten ohne Wissen und Zustimmung des Autors ediert worden. Die postume Edition gleich nach Varros Tod behauptet explizit erst Lachmann a. a. O. mit Hinweis auf Vitruv, Buch IX praef. 17. F. Ritschl bestätigt vage a. a. O. die Herausgabe eines unfertigen Werkes, ohne sich auf die Herausgeberfrage und den Zeitpunkt der Edition einzulassen. Unklar auch Riese 1868, 298.

Disputare in utramque partem

145

Frage: Ist die Etymologie eine ars, und ist sie nützlich? 1.

Nein, sie ist keine ars und nicht nützlich! contra Buch 2

2.

Doch, sie ist eine ars und ist nützlich! pro Buch 3

Es folgt dann in einem dritten Schritt eine systematische Darstellung der Disziplin (de bzw. forma) in Buch 4. Dasselbe Verfahren gilt auch für die Bücher 8-10, wie man den folgenden vier Stellen entnehmen kann: 1)

2)

prioris tris (sc. libros 8-10) de earum declinationum disciplina .. primus erit hic (8), quae contra similitudinem declinationum dicantur, secundus, quae contra dissimilitudinem (9), tertius (10) de similitudinum forma. (8,24) quod huiusce libri (8) est, dicere contra eos, qui similitudinem sequuntur, ... dicam prius contra universam analogiam, dein tum de singulis partibus. (8,25)

3)

4)

nunc (9) iam primum dicam pro universa analogia, cur non modo videatur esse reprehendenda, sed etiam cur in usu quodammodo sequenda; secundo de singulis criminibus, quibus rebus possint, quae dicta sunt contra, resolvi, dicam ... (9,7) de qua re primo libro (8), quae dicerentur, cur dissimilitudinem ducem haberi oporteret, dixi, secundo (9) contra, quae dicerentur, cur potius

similitudinem

conveniret

praeponi:

...

ipse

eius

rei

formam exponam (10). (10,1) Wieder läßt sich eine Fragestellung herauslósen, auf die zuerst mit contra und dann mit pro reagiert wird, und jetzt wird auch deutlich, daB sie jeweils von einem Sprecher vorgetragen werden: Frage: Gibt kann Sprecher 1: Sprecher 2:

es eine Ähnlichkeit, Regelmäßigkeit in der Wortableitung, und diese als Kriterium der Sprachrichtigkeit (Analogie) gelten? Nein, das ist abzulehnen! contra Buch 8 Doch, die Frage ist positiv zu beantworten! pro Buch 9

Und wieder folgt eine systematische Darstellung der Disziplin (eius rei forma) in Buch 10. Diese Art der Stoffdarbietung stellt in der antiken sprachwissenschaftlichen Fachliteratur, ja unter den antiken wissenschaftlichen Fachbüchern überhaupt,

nach

meiner Kenntnis einen einmaligen Sonderfall dar.!4 Bevor ich jedoch näher darauf 14

Wohlgemerkt in der Fachliteratur im Sinne von nicht-literarischen Lehrschriften in Prosa, nicht

im literarischen Dialog, für den die pro- und contra-Aufbereitung eher der Normalfall ist, etwa in Ciceros philosophischen Dialogen mit ihrem Prinzip des disputare in utramque partem. Dazu gleich mehr. Im Dialog können dann auch sprachwissenschaftliche Themen auf diese Weise dargeboten werden, so schon in Platons Kratylos, wo zunächst gegen die, dann wieder

eher zugunsten der vöpwp-These des Hermogenes plädiert wird. Daß Varro jedenfalls der erste war, der die contra- und pro-Systematik in die grammatische Literatur übertrug, behaupten

146

Disputare in utramque partem

eingehe, móchte ich die Bücher 8-10 selbst noch etwas genauer auf ihre Art der dialektischen Stoffaufbereitung, und das heiBt in diesem Fall auf die Sprecherrollen

hin, untersuchen.!5 Varro nimmt unverkennbar in den Büchern 8-10 drei Sprecherrollen an, die in der ersten Person Singular oder Plural erscheinen kónnen: die Rolle des allwissenden Autors, der über dem gesamten Argumentations- und Gliederungszusammenhang steht und entsprechende Hinweise gibt, die Rolle des contra analogiam- und die des pro analogia-Anwalts. Die Gegenpartei, gegen die sich der contra- oder pro-Anwalt jeweils richtet, erscheint dann durchweg

in der dritten Person Plural, z.B.

dicunt,

negant, reprehendunt etc. Gehen wir unter diesem Aspekt die Bücher 8-10 durch. In den $8 1-24 des achten Buches, der Einleitung in die Lehre von der declinatio, spricht durchweg der allwissende Autor, der Gliederungshinweise zu seiner Schrift gibt und die einzelnen Dispositionspunkte durchführt. In § 7 und 8 deckt sich allerdings sein Standpunkt mit dem des analogistischen Verteidigers, eine Interferenz, die auch spüter noch in $ 23 vorkommt. Hier führt Varro als allwissender Autor die beiden Gegenpositionen der Anomalisten und Analogisten vor und nimmt dabei selbst (ut ego arbitror) eine vermittelnde Position ein, die er dann später in der Rolle des Analogieanwalts 9,35 wiederholt.

Nach § 25 beginnt der erste, allgemeine Hauptteil (26-43). In 25 wird explizit die Sprecherrolle gewechselt. Jetzt kündigt Varro an, in der ersten Person (dicam) gegen die Analogisten (contra eos, qui similitudinem sequuntur) plüdieren zu wollen. Zunächst wird aber ($8 26-38) ausschließlich in der ersten Person Plural plädiert. Die Gegnerseite wird selten deutlich herausgearbeitet, sondern verschwindet hinter un-

persónlichen Formulierungen und Argumenten. Erst in 39 tritt sie wieder klar hervor (qui haec dicunt ... ignorant), und jetzt erscheint auch das Rollen-Ich wieder (quaero 40, dixi 42, inquam 43). Am Ende von 8 43 spricht dann wieder der allwissende Autor. Es folgt der zweite Hauptteil ‚Gegen die Analogie im Einzelnen‘ (44-84). Das Rollen-Ich erscheint zunächst bis 62 spärlich (dicam, ponam, videamus etc.), und so

auch die Gegenseite (dicunt, ostendunt).!6 Allerdings ist unzweifelhaft, daß, auch wenn rein sachlich, unpersönlich argumentiert wird, der gesamte Passus durchgängig vom contra-Anwalt vorgetragen wird. Das ändert sich schlagartig, wie schon früher gesehen wurde, in den $8 61 -74.!7 Jetzt wird plötzlich der anomalistische Angriff nicht mehr in der ersten Person des Rollenanwalts vertreten (eine Ausnahme ist allerdings $ 64), sondern vom allwissenden Autor in der dritten Person referiert

schon H. Dahlmann, Varro, de lingua Latina Buch VIII, Hermes Einzelschriften 7, Berlin

15

1940,

! und D. Fehling, Varro und die grammatische Lehre von der Analogie und der Flexion I, Glotta 35 (1956) 268. Vgl. dazu schon H. Dahlmann, Varro und die hellenistische Sprachtheorie, Berlin-Zürich 21964

(= 11932), 73-75, 81 und 81-86; ders., RE 1174f.; ders., Varro, LL VIII, 117£., 150f., 175 und Fehling, Varro und die grammatische Lehre von der Analogie und der Flexion II, Glotta 36 (1957) 82 mit Anm. 2.

16

Der Hinweis auf die librarii am Ende von § 51 gehört dem allwissenden Autor, ebenso auch das

17

omitto am Ende von § 55. Vgl. Dahlmann, Sprachtheorie 74; ders., Varro, LL VIII, 118, 150 und Fehling (wie Anm.

15).

Disputare in utramque partem

147

(dicunt, negant etc.), die vorher der Gegnerseite vorbehalten war. Der Rest des achten Buches (75-84) gehórt dann wieder, wie üblich, dem contra-Anwalt.

Schon in der Einleitung des neunten Buches (1-6) scheint das Rollen-Ich des proAnwalts zu sprechen. Wie schon im achten Buch folgt dann zunächst ein allgemeiner Teil ($8 7-35), der von einem klaren Rollenhinweis eingeleitet wird (7: nunc iam dicam pro universa analogia). Die Verteidigung folgt dann dem üblichen Schema, daB die Argumente der Gegenpartei (Anomalisten) in der dritten Person referiert und dann widerlegt werden, ohne daß immer ein argumentierendes ego deutlich in Erscheinung treten muB.!8 Im Spezialteil ($8 36 -112) wird ebenso verfahren, z.B.

§ 40: quod rogant ... respondemus a voce oder 46: quod dicunt ... respondeo oder 47: rogant ... ad quae dico etc., wobei hier das argumentierende Rollen-Ich durchgangig an der Oberfläche erkennbar bleibt. Im Epilog des Buches ($8 113 -114), der noch ein Argument für die Analogie nachträgt, finden sich schließlich wieder Hinweise des allwissenden Autors (113 Anfang, 115). Ganz anders liegen die Verhältnisse im zehnten Buch, weil hier kein parteiisches Rollen-Ich, sondern allein das allwissende Autor-Ich Varros aktiv wird. Varro will

nach dem Austausch der pro- und contra-Argumente die Theorie der Analogie neu begründen und darstellen. Entsprechend gibt es nur Gliederungshinweise und Querverweise des allwissenden Autors in der ersten Person dicam §§ 2, 18, 23 oder

ut dixi $ 49. Ebenso fehlt natürlich eine Gegenpartei, auf die etwa in der dritten Person Bezug genommen wird. Insgesamt zeigt sich also folgende Rollenverteilung: Der allwissende Autor beherrscht in den Büchern 8 und 9 zunächst die Einleitung 8,1-24 und läßt sich dann im weiteren Verlauf nur an wenigen Stellen blicken. Allerdings muß ihm auch die auffällig aus dem

Kontext

der contra-Sprecherrolle

herausfallende

Partie 8,61-74

zugeschrieben werden. Die Hauptpartien des achten Buches werden sonst durchweg vom contra-Anwalt getragen in unterschiedlich intensiver Auspragung des argumentierenden Ichs in der ersten Person Singular oder Plural und der attackierten Gegenpartei der Analogisten in der dritten Person Plural. Genauso wird — jedoch ohne Fremdkörper — auch im pro-Plädoyer des neunten Buches verfahren. Das zehnte Buch gehórt dann allein dem allwissenden Autor. Es gibt also durchaus ein nachvollziehbares, schlüssiges Konzept der Sprecherrollenverteilung, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und Einheitlichkeit. Trotz aller Nachvollziehbarkeit muß dem unvoreingenommenen Leser dieses Prinzip der Stoffdarbietung in einem an sich literarisch anspruchslosen, eher an der Sache orientierten wissenschaftlichen Fach- oder Lehrbuch seltsam genug erscheinen. Wenn der Autor seinen Stoff auf drei verschiedene Sprecherrollen verteilt, wirkt das

merkwürdig umständlich und aufgesetzt, denn das Pro und Contra eines Sachbereichs läßt sich sehr gut und viel einfacher noch in einer normalen ‚rollenfreien‘ Argumentation allein durch den Fachbuchautor selbst diskutieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Besprechung der Analogie

durch

Quintilian,

inst.

1,6,3-27,

der von

3-11

die

Möglichkeiten der Analogie, ab 12 aber ihre Grenzen aufzeigt. Muß sich dagegen bei Varros Methode der Autor nicht dem Vorwurf der Schizophrenie aussetzen, weil er

im Wechsel verschiedene Ich-Identitäten annimmt, die ihn sogar zwingen, wider18

Dies geschieht dann allerdings um so deutlicher § 34/5: qui dicunt ..., . ego ... puto.

148

Disputare in utramque partem

sprüchliche Meinungen zu äußern, und die beim Leser ein Gefühl der Unsicherheit darüber hinterlassen, welche Meinung Varro denn nun eigentlich selbst vertritt?19 Einwände dieser Art lassen sich wesentlich entkräften, wenn man Varros Methode in die philosophisch-dialektische und rhetorische Tradition stellt. Dies hat bereits die frühere Varroforschung getan und das aus der akademischen Dialektik stammende disputare in utramque partem assoziiert, wie es für uns besonders deutlich nachvollziehbar in den philosophischen Dialogen Ciceros zur Anwendung kommt. Varro habe — und dies wohl als erster — unter dem Einfluß seines philosophischen Lehrers Antiochos von Askalon und vielleicht sogar unter direkter Einwirkung der Dialoge Ciceros, etwa von de finibus oder de natura deorum, das disputare in utramque partem aus der philosophischen Dialektik der Akademie auf

seinen grammatischen Stoff übertragen.20 Ich werde im folgenden dieser Forschungsthese erneut nachgehen, nicht, weil ich sie für falsch halte — im Gegenteil —, sondern

aus zwei

anderen

Gründen:

Die

Verbindung zu Ciceros Dialogen und zum Prinzip des disputare in utramque partem ist erstens bisher nur ansatzweise in beiläufigen Nebenbemerkungen gezogen worden, so daß eine gründlichere Prüfung hier sicher lohnt. Zum zweiten und vor allem ist aber die Wiederaufnahme deshalb wichtig, weil die Varroforschung bisher bei der bloBen Assoziation stehengeblieben ist und keine weiterführenden Schlüsse in bezug auf die Absichten gezogen hat, die Varro zu seiner Wahl der Stoffaufbereitung veranlafit haben kónnten — eine nicht unerhebliche Grundlage für die Beurteilung der Bücher 2-4 und 8-10 von LL. Ich werde also jetzt mit der hier gebotenen Kürze zusammenzufassen versuchen, welche Aussagen sich nach unserem Kenntnisstand zu den Typen und zur Geschichte der hier zur Debatte stehenden Methode machen

lassen, und wie Varro in diese Typik und Tradition einzuordnen ist.2! 19

Wie

irritierend dieses Verfahren des Rollentausches

auch auf erfahrene Varroleser wirkt, kann

man der Deutung von 8,61-74 bei Dahlmann, Hell. Sprachtheorie 74 Anm. Anm.

20

1 und Fehling (wie

15) 82 Anm. 2 entnehmen.

Vgl. J. Reitzenstein, M. Terentius Varro und Johannes Mauropus von Euchaita, Leipzig 1901, 47; Dahlmann, Sprachtheorie 73; RE 1174f.; ders., Varro, LL VIII, 1f.; Fehling (wie Anm. 14) 268 und F. Cavazza, Studio su Varrone etimologo e grammatico, Firenze 1981, 108f. Die hier

21

geäußerte Ansicht ging dann in die Literaturgeschichten ein. Vgl. M. v. Albrecht, Geschichte der rómischen Literatur I, Bern 1992, 478. Zur Typologie und Geschichte der dialektischen Methode in der Akademie stütze ich mich vor allem auf H. J. Krümer, Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin-New York 1971, 14-58. Daneben sind noch einschlägig: H. Throm, Die Thesis, Paderborn 1932, 166-189; A. Weische, Cicero und die neuere Akademie, Münster 1961, 73ff; M. Ruch, La 'disputatio in

utramque partem' dans le ‘Lucullus’ et ses fondements philosophiques, REL 47 (1969) 310335 und A. D. Leeman und H. Pinkster, De oratore libri III, Bd.

1, Heidelberg 1981, 67-70.

Speziell zum disputare in utramque partem findet sich, soweit ich sehe, in der sonstigen neueren Literatur zur jüngeren Akademie und deren Einfluß auf Cicero und Varro nur wenig, bisweilen gar nichts. Vgl. J. Glucker, Antiochus and the Late Academy, Hypomnemata 56, Göttingen 1978 (nichts zum d. i. u. p.!); M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, Geschichte der Philosophie IIl, hrsg. von W. Röd, München 1985, 191-200, bes. 195; A. A. Long / D. Sedley, The Hellenistic Philosophers, CUP 1987, I 438-445, 445-449, II 432-443,

510f. und E. Lefévre, Cicero als skeptischer Akademiker, in: Antikes Denken — Moderne Schule, hrsg. v. H. W. Schmid und P. Wülfing, Gymnasium Beihefte 9, Heidelberg 1988, 108132 (nichts zum d. i. μ. p.!). Trotz der genannten Vorarbeiten scheint mir also noch sehr viel

Disputare in utramque partem

Das disserere, dicere in utramque partem

149

galt schon in der Antike als eine

bestimmte, ganz besonders für die Akademie charakteristische Unterart der dialek-

tischen Methode. Ihr liegt das generelle Konzept von Dialektik als einem Verfahren zugrunde, das mit Hilfe einer pro- und contra-Argumentation zu einer bestimmten Fragestellung die Auffindung der Wahrheit oder des Wahrscheinlichen ermöglichen soll.22 Unter verschiedenen Kriterien lassen sich dabei verschiedene Typen der dialektischen Methode unterscheiden. Zuerst nach der Art der sprachlichen Darbie-

tung: 1. Sprachliche Darbietung: 1. Wechselgespräch: These

-| contra | -| pro |- | contra |- | pro |-|

contra |- | pro |_|

contra |- | pro

2. Rede / Gegenrede: pro

These

|

——

|

contra

|

Die pro- und contra-Argumentation kann sich in der Form eines Wechselgesprächs oder in einer Abfolge zweier kontinuierlicher Reden, einer Rede und Gegenrede, entfalten. Die Form des dialektischen Wechselgesprüchs ist literarisch aus den platonischen Dialogen und als Übungsgesprüch in der akademischen Lehrpraxis aus der aristotelischen Topik bekannt. Die Gesprächssituation dieser dialektischen

Übungen war in Vereinfachung der Beschreibung bei Krämer23 folgende: 1. Zwei Sprecher führen ein dialektisches Streitgesprich vor einem Auditorium. 2. Sie übernehmen dabei die Rolle des fragenden Angreifers und des antwortenden Verteidigers einer zu diskutierenden Thesis. 3. Der Angreifer fragt nach der Meinung des Verteidigers zu einem bestimmten Thema, dieser antwortet mit einer These, der Angreifer opponiert dagegen, der Angegriffene verteidigt seine Auffassung, und beide Sprecher versuchen, sich im weiteren Verlauf des Gesprüchs

von These und Gegenthese zu

überzeugen. 4. Die Sprecher nehmen aus Übungszwecken ihre Gesprüchsrolle ohne Rücksicht auf ihre eigene Überzeugung ein. Die Rollen sind daher auch austauschbar, derselbe Sprecher muB die pro- und contra-Rolle spielen kónnen, etwa in zwei Disputen zum gleichen Thema. Diese prinzipielle Beliebigkeit der Sprecherrolle ist übrigens für alle Formen der dialektischen Methode typisch.24

zur Geschichte des disputare in utramque partem zu tun übrig. Die hier gebotene Skizze erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. — Korrekturzusatz: Zu spät bekannt geworden ist mir der Aufsatz von R. Granatelli, L'in utramque partem disserendi exercitatio nell'evoluzione del pensiero retorico e filosofico dell’ antichità, Vichiana 3a, Ser. I (1990)

165-181, eine sehr

22

nützliche Zusammenstellung der Zeugnisse, die aber speziell zur Varro-Problematik des vorliegenden Aufsatzes nichts erbringt. Vgl. Cicero, Lucullus 1,7: neque nostrae disputationes quicquam aliud agunt nisi ut in utramque partem dicendo et audiendo eliciant et tamquam exprimant aliquid, quod aut verum sit aut ad id quam proxime accedat.

23 24

Vgl. Krämer 25-27. Vgl. Krämer 26f. und 47.

|

150

Disputare in utramque partem

Beispiele für den dialektischen Typ der pro- und contra-Argumentation in Form von zusammenhüngender Rede und Gegenrede finden sich zur Genüge in Ciceros Dialogen, etwa in den Academici libri, de finibus, de natura deorum und de divina-

tione literarisch bezeugt.25 Ich brauche die hier angewendete Technik nicht im einzelnen zu exemplifizieren. Sie ist übrigens auch als propädeutische Übung in der akademischen Lehrpraxis nachgewiesen. Ich komme gleich darauf zurück. Als nächstes Kriterium dient die Sprecherverteilung auf die Rollen. In der Regel wird die pro- und contra-Seite jeweils mit einem Sprecher versorgt; so vertritt etwa im ersten Buch von Ciceros de finibus Torquatus die pro-Epikur- und Cicero die contra-Seite. Im Wechselgesprách ist die Verteilung auf zwei Sprecher unabdingbar, sonst entstünde die Form eines pro- und contra-Selbstgesprüches. Im Bereich der oratio continua ist dies jedoch keineswegs gesichert, denn hier kann die pro- und contra-Seite auch von nur einem Sprecher getragen werden. Das berühmteste Beispiel sind die Reden, die Karneades in Rom an zwei Tagen des Jahres 155 v.Chr. erst für und dann gegen die Gerechtigkeit hielt. Sie werden im dritten Buch von Ciceros

de re publica 3,9f. erwühnt.2Ó Interessant ist, wie im Dialog Ciceros mit dieser Technik der Ein-Sprecher-Rolle gespielt wird. Philus wird im dritten Buch aufgefordert, eine Rede gegen die Gerechtigkeit zu halten, und es wird kein Hehl daraus gemacht, daB er dabei eine Rolle gegen seine Überzeugung übernehmen soll (rep. 3,8). Aber gerade diese Rolle, die consuetudo contrarias in partes disserendi, liegt ihm als

Dialektiker. Offensichtlich soll er aber dann auch im Anschluß an Karneades die proRede

übernehmen,

gibt diesen

Part

aber an Laelius weiter (3,32).

Aus

der Ein-

Sprecher wird also die sonst im Dialog übliche Zwei-Sprecher-Rollenverteilung. Die beiden Möglichkeiten der Sprecherverteilung (Sprecher = S) lassen sich schematisch, wie folgt, verdeutlichen: 2. Sprecherverteilung: 1. pro

contra

2. pro

Tof

$1

$2

contra

\ 7

oder

S1

In engem Zusammenhang mit der Sprecherverteilung steht das Kriterium Rollenfestlegung. Die Rollen sind im Prinzip austauschbar, jeder, der die Kunst dialektischen Argumentation beherrschen will, muß beide Rollen einnehmen nen.27 Trotzdem kommt auch einseitige Rollenfestlegung vor. So berichtet 25

26

27

der der kónz.B.

Cicero kennzeichnet seine Methode selbst in de fato 1: quod autem in iis libris feci, qui sunt de natura deorum, itemque in iis, quos de divinatione edidi, ut in utramque partem perpetua explicaretur oratio, quo facilius id a quoque probaretur, quod cuique maxime probabile videretur, id in hac disputatione de fato casus quidam, ne facerem, impedivit. Das Ziel dieser Demonstrationsreden wird von Laktanz (Cic. rep. 3,9), wie folgt, bestimmt: Kameades sprach nicht philosophi gravitate, cuius firma et stabilis debet esse sententia, sed quasi oratorio exercitii genere in utramque partem disserendi; quod ille facere solebat, ut alios quidlibet adserentes posset refutare. Und er tat dies nicht (Cic. rep. 3,11), quia vituperandam esse iustitiam sentiebat, sed ut illos defensores eius ostenderet nihil certi, nihil firmi de iustitia disputare. Vgl. oben Anm. 24.

Disputare in utramque partem

151

Cicero, fin. 2,2, daß Arkesilaos im dialektischen Gespräch sich stets auf die contra-

Rolle festlegte und daß zu Ciceros Zeit in der Akademie unter völligem Verzicht auf die Gesprüchsform perpetua oratione überhaupt nur contra, und zwar gegen eine anfangs geäußerte pro-These argumentiert wurde.28 Wieder sind also zwei Typen zu unterscheiden. Im ersten Typ sind die Rollen austauschbar, im zweiten Typ sind sie festgelegt: J. Rollenfestlegung: l. pro

contra

S1

2. pro

S 2 (austauschbar)

S1

contra

$2 (fest)

Das nüchste Kriterium ist der Grad der literarischen Verarbeitung. Es gibt in der Dialektik bloBe Ubungsgespriiche und Reden, die, wenn sie überhaupt schriftlich festgehalten wurden, der püdagogischen Praxis angehórten und sicher keinen

literarischen Anspruch erhoben.?? Hier ist übrigens noch weiter zu unterscheiden, ob es sich um Übungen im Fach Philosophie oder Rhetorik handelt. Das dialektische Wechselgesprüch, von dem ich eben schon berichtet habe, gehórt eher in die Philosophie, die Argumentationsübungen in kontinuierlicher Rede und Gegenrede werden zumindest von Cicero überwiegend als rhetorisch bezeichnet.30 Ein Beispiel für den letzten Typ habe ich mit den Karneadesreden ebenfalls schon angeführt, die

allerdings den Sonderstatus der Ein-Sprecher-Rolle aufweisen. Die gleichen dialektischen Methoden kommen aber auch in anspruchsvoller literarischer Verarbeitung vor, wie z.B. in den platonischen Dialogen (Wechselgesprach) oder in Form von pround contra-Reden, wie etwa in den ciceronischen Dialogen. Es gilt also: 4. Literarische Verarbeitung:

c

1. Praktische Übung

2. Literarische Verarbeitung (Dialog)

1. Philosophie

SchlieBlich ist auch noch Normalerweise 28

2. Rhetorik

die Abfolge

der Argumentationsrichtung

zu

beachten.

sollte die pro- und die contra-Seite vertreten sein, allerdings steht

Vgl. zu dieser für die verschiedenen dialektischen Methoden sehr wichtigen Stelle Cic. fin. 2,2 den Kommentar von O. Gigon und L. Staume-Zimmermann, M. T. Cicero, Über die Ziele menschlichen Handelns, München und Zürich 1988, 442f. Weitere Stellen zur sokratischen Methode in der akademischen Skepsis z.B. Tusc. 1,8; 5,11 und de nat. deor. 1,11.

29 30

Vgl. Krämer 16-27 zu den dialektischen Übungsformen im akademischen Lehrbetrieb. Vgl. Cic. Orator 46, de oratore 3,80, fin. 5,10 und rep. 3,9 (Laktanz). Aber natürlich ist auch für die rhetorische Übungsform des perpetua oratione disputare in utramque partem eine philosophische Vorstufe anzunehmen. Vgl. Krämer 30-32 und explizit Cic. de oratore 1,263.

152

Disputare in utramque partem

ihre Abfolge nicht fest. Es kann mit der contra-Seite begonnen werden wie im dialektischen Wechselgespräch, aber natürlich auch, wie überwiegend in Ciceros Dialo-

gen, mit der pro-Seite, auf die dann die contra-Seite folgt: 5. Abfolge der Argumentationsrichtung: l. contra / pro

2. pro / contra

Aus dieser Übersicht der dialektischen Argumentationstypen und den jeweils herangezogenen Beispielen wurde schon deutlich, daß man die jeweilige konkrete Realisierung einer dialektischen pro- und contra-Argumentation nur mit einer Kombination der genannten Kriterien erfassen kann. Die Karneadesreden würen z.B. Dialektik in kontinuierlicher Rede und Gegenrede (1.2), von einem Sprecher in der pro- und contra-Rolle (2.2) getragen, eher im nichtliterarischen Übungsbereich der Rhetorik angesiedelt (4.1.2), mit der Abfolge der Argumentationsrichtung von pro nach contra (5.2). An welche Stelle unseres Schemas dialektischer Argumentationsformen gehórt nun das in utramque partem disserere, von dem wir anfünglich als einer Unterart ausgegangen waren? Mit dieser Wendung kann zunächst die dialektische Methode der pro- und contra-Argumentation ganz allgemein gemeint sein. Nach unseren Zeugnissen ist damit aber zunächst und natürlich vor allem dann, wenn der Zusatz

perpetua oratione gemacht wird (vgl. Anm. 25), die Methode der praktischen dialektischen Argumentationsübung (4.1) in Form von kontinuierlicher Rede und Gegenrede (1.2) gemeint. Sie kann von einem oder zwei Sprechern (2.1 oder 2.2) in beliebiger, austauschbarer Rolle (3.1) bestritten werden und dient vor allem dem Ziel der rhetorischen Ausbildung (4.1.2). Im Dialog kann diese Methode natürlich auch in literarischer Verarbeitung (4.2) erscheinen. Sie enthält beide Argumentationsrichtungen, wobei die Reihenfolge nicht a priori festzuliegen scheint (5.1 oder 5.2). Diese Methode

wird auf Aristoteles’ Rhetorikunterricht zurückgeführt, der seine Schüler

zu bestimmten allgemeinen Fragestellungen (θέσεις) jeweils pro- und contra-Reden halten lief, um die für die Rhetorik nützliche Fähigkeit der pro- und contra-Argumentation zu stärken.3! Übungen solcher Art galten lange als Grundvoraussetzung, entsprechend ausgebildete Fahigkeiten als wichtigstes Kennzeichen des idealen Red-

ners.32 Wir haben ein Beispiel von der Geläufigkeit dieser Methode in Ciceros Briefen (Att. 9,4). Cicero stellt sich zur Ablenkung

θέσεις πολιτικαΐ, politische

Fragen, z.B. ,Soll man im Vaterland bleiben, wenn es von einem Tyrannen beherrscht 31

Vgl. besonders Cic. Orator 46: haec igitur quaestio a propriis personis et temporibus ad universi generis rationem traducta appellatur θέσις: in hac Aristoteles adulescentes non ad philosophorum morem tenuiter disserendi, sed ad copiam rhetorum in utramque partem ut ornatius et uberius dici posset mit Krolls Kommentar z.St. Vgl. dazu die bereits genannten Stellen Cic. de oratore 3,80; fin. 5. 10 und off. 2,8.

32

Vgl. besonders Cic. de oratore 3,80. Zur Geschichte der rhetorischen Thesis-Übungen vgl. Throm, Thesis, passim; S. F. Bonner, Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire, Berkley-Los Angeles-Liverpool 1949, 1ff; M. L. Clarke, The Thesis in the Roman Rhetorical Schools of the Republic, CQ 45 (1951) 159-166 und P. L. Schmidt, Die Anftinge der institutionellen Rhetorik in Rom, in: E. Lefévre (Hrsg.), Monumentum Chiloniense. Kieler Festschrift für E. Burck, Amsterdam 1975, 202f.

Disputare in utramque partem

153

wird?', und diskutiert das Pro und Contra in griechischen und lateinischen Übungs-

reden: in his ego me consultationibus exercens et disserens in utramque partem tum

Graece tum Latine ..., übrigens wieder ein Beispiel für die Ein-Sprecher-Rolle.33 Die literarische Verarbeitung im ,aristotelischen Dialog‘ ist also gewissermaßen nur eine Sublimierung dieser aristotelischen Übungsmethode. Soviel zur typologischen Einordnung des disputare in utramque partem. Die geschichtliche Entwicklung der dialektischen Methode in der Akademie hat

vor allem Kramer an genannter Stelle behandelt.34 Die akademische Dialektik als philosophische Methode steht in der eleatisch-sophistischen Tradition. Für Protagoras sind schon beide Formen, das Wechselgesprüch und die oratio continua, bezeugt. In der Akademie wurde zunüchst vor allem das Wechselgesprüch gepflegt, es wurde dann aber im weiteren Verlauf der akademischen

Schulpraxis mehr und mehr, und

zwar über die Entstehung längerer vorgefertigter pro- und contra-Argumentationsfolgen und unter Einwirkung des Lehrvortrags und der Lehrschriften, durch die Dialektik von Rede und Gegenrede ersetzt, Wendepunkt ist hier Aristoteles mit der geschilderten Übungspraxis und seiner Dialogtechnik. Allerdings besteht auch das sokratische Wechselgespräch kontinuierlich weiter bis hin zu Arkesilaos, für dessen vor allem von Cicero her bekannte dialektische Methode die Frage- und Antwortform wieder von vorrangiger Bedeutung ist. Daneben hat er aber offensichtlich auch das in utramque partem disserere (Rede und Gegenrede) gepflegt, das dann für den weiteren Verlauf der Akademie, besonders für Karneades, als typisch galt. Vor diesem Hintergrund kónnen wir jetzt den Versuch machen,

Varros

dialektische Methode in den Büchern 8-10 zu bestimmen. Dialektisch gestaltet sind genaugenommen nur die Bücher 8 und 9, denn 10 steht außerhalb der pro- und contra-Argumentation. DaB von der Art der sprachlichen Darbietung her die oratio continua, der zusammenhüngende Lehrvortrag (1.2) gewühlt ist, bedarf keiner Diskussion. Im Hinblick auf die Sprecherverteilung ist (wie im Fall des Karneades) das Ein-Sprecher-Modell (2.2) gewählt, denn Varro trägt beide Seiten der Argumentation selbst. Eo ipso ist damit auch eine Rollenfestlegung (3) von vornherein ausgeschlossen. Unter dem Aspekt (4) der literarischen Verarbeitung bietet die Zuordnung ein besonderes Problem, auf das ich gleich noch zu sprechen komme. In der Abfolge der Argumentationsrichtung ist die Folge contra / pro (5.1) gewählt. Damit ist die grundsätzliche Einordnung des von Varro gewählten Typs dialektischer Methode klar. Es ist ein eindeutiger Fall des disserere im utramque partem in der Tradition der aristotelischen Thesis-Ubungen35 in zusammenhüngen33

Als wichtige Prazisierung ist noch nachzutragen, daß man zwischen Theseis = quaestiones infinitae und Hypotheseis = quaestiones finitae unterschied, z.B. ,[st Tyrannenmord zu rechtfertigen?‘ (Thesis) oder ‚Ist die Ermordung Caesars zu rechtfertigen?‘ (Hypothesis). Die Thesis gilt im Prinzip als Objekt der Philosophie, die Hypothesis als Gegenstand der Rhetorik. Vgl. Cic. Top. 79; Quint. inst. 3,5,5-16 und Throm 33ff., bes. 61.

34

35

Vgl. Krämer 14-58 und Throm 160-184. Speziell für Protagoras ist immer noch unentbehrlich H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, Leipzig 1912, 127-200. Wichtig für die nachplatonische Tradition des disputare in utramque partem im literarischen Dialog C. W. Müller, Die Kurzdialoge der Appendix Platonica, München 1975, 262-271, bes. 268. Vgl. auBerdem den Korrekturzusatz in Anm. 21. Den Thesis-Begriff verwendet übrigens schon Dahlmann, RE 1174.

154

Disputare in utramque partem

der pro- und contra-Rede, und so ist es eigentlich kein Wunder, daß sich Krämers

zusammenfassende Bemerkungen von S. 46f. zum disputare in utramque partem wie

eine Beschreibung der Methode Varros lesen.36 So weit, so gut. Es gibt allerdings bei aller prinzipieller Gemeinsamkeit auch bestimmte wichtige Besonderheiten. Wie Aristoteles geht auch Varro, das habe ich schon gesagt, von einer Thesis aus: Gibt es ein Ahnlichkeitsprinzip in der Sprache, und kann dieses als Sprachnorm dienen? Dazu wird dann in einem kontinuierlichen contra- (B. 8) und pro-Lehrvortrag (B. 9) Stellung genommen. Daß Varro dabei beide Rollen selbst übernimmt, darf nach der dialektischen Tradition, in der er steht, jetzt nicht mehr verwundern.

Der Vorwurf

der Schizophrenie muß also entfallen. Wie steht es aber mit dem Grad der literarischen Verarbeitung? Die Lehrvortráge der Bücher 8-9 sind einerseits keine unliterarischen

Übungs-

oder

Demonstrationsreden,

denn

sie

sind

weder

reine

Argumentationsübungen zur rhetorischen Propüdeutik (Aristoteles) noch die philosophische Demonstration akademischer Skepsis (Karneades). Vielmehr ist die dialektische Übungstechnik von der Rhetorik und Philosophie auf die Sprachwissenschaft und das sprachwissenschaftliche Handbuch

übertragen,

ein, wie

ich schon

bemerkt habe, erstmaliger und einmaliger Vorgang. Andererseits sind die Lehrvortrüge von 8 und 9 auch keine klar abgesetzten Reden im Rahmen eines literarischen Dialogs, dieja, wie das Beispiel des Philus in de re publica zeigt, durchaus auch als von einem Sprecher getragen gedacht werden kónnen. Trotzdem hat Varro seine Form des Lehrvortrages für literaturfähig gehalten, denn er hat die Bücher 2-4 sehr wahrscheinlich schon separat vorpubliziert, und die Bücher 8-10 liegen uns ja in schriftlich fixierter, also zumindest zur Publikation vorbereiteter Form

vor. Damit

erhalt seine Realisation des disputare in utramque partem eine seltsame Zwischenstellung zwischen der Stufe der nichtliterarischen Übung und der Stufe hoher literarischer Verarbeitung im Dialog, ein ebenfalls nach meiner Kenntnis einmaliger Fall. Es handelt sich also bei Varro um das Unikum einer in ein sprachwissenschaftliches Handbuch

übertragenen

aristotelischen

Thesis-Dialektik,

die zwischen

den

Extremen einer philosophisch-rhetorischen Übungsform ohne literarischen Anspruch und hoher literarischer Verarbeitung gewissermaBen auf einer literarischen ,Mittellage* das Niveau fachliterarischer Darstellung zu erreichen versucht. Die von Varro gewählte Abfolge in der Argumentation contra / pro wirkt auf den ersten Blick befremdlich, denn der contra-Anwalt beginnt trotz 8,23 ziemlich kom-

mentarlos, ohne daß die pro-These explizit entwickelt worden wäre.37 Aber diese 36

"Vgl. Krämer 47: „Es liegt jedoch im

Wesen

des dialektischen Verfahrens selbst,

daB die

Vertreter von These und Antithese ihre Positionen fast beliebig vertauschen kónnen: ... Daraus erwächst ein engerer Begriff des in utramque partem disserere: die Fähigkeit des geübten Dialektikers, zu einem bestimmten Thema je nach Bedarf bald pro, bald contra zu argumentieren. Eine weitere, noch engere Bedeutung stellt sich dann folgerichtig von selbst ein: daß der Dialektiker die Rollen des Anwalts pro und contra nacheinander selbst durchspielt, sei es in Vorbereitung auf das dialektische Turnier, sei es in der Praxis wie Karneades in den römischen

37

Reden, sei es literarisch wie Aristoteles und Cicero, wenn sie als Autoren Disputationsdialoge entwerfen und in Szene setzen." (Hervorhebung von mir) Der contra-Beginn setzt übrigens zumindest implizit eine pro-These voraus, denn der Sprecher des achten Buches polemisiert bereits gegen die pro analogia-These einer Gegenpartei. Schon Dahlmann hat daher (Hell. Sprachtheorie 55-70) eine dreifache Parteiung unterschieden: 1. die pro-Partei des Aristarch und seiner Schüler (implizit als Objekt der Polemik des achten

Disputare in utramque partem

155

Folge ist aus der Geschichte der Dialektik durchaus bekannt, z.B. aus dem Wechsel-

gesprüch, aber auch aus dem disputare in utramque partem. Sie hat z.B. eine direkte Parallele im Lucullus Ciceros. Dort beginnt Lucullus contra Academicos eine nach

Antiochos von Askalon gearbeitete Rede gegen die These nihil posse percipi (17ff.), und auf diesen Angriff folgt die Verteidigung Ciceros (64ff.). Daß dann aber bei Varro den contra- und pro-Büchern mit Buch 10 noch ein de-Teil angeschlossen wird, ist

ein weiterer, mir sonst nicht bekannter Einzelfall.38 Wie ist diese merkwürdige Sonderstellung Varros in der Geschichte des in utramque partem disserere zu erklären? Bei der schlechten Quellenlage der für Varro verbindlichen hellenistischen Philosophie-, Rhetorik- und Grammatiktradition sind wir leider allzu oft auf bloße Vermutungen angewiesen, aber vielleicht läßt sich doch

einiges ermitteln, das eine gewisse Evidenz für sich beanspruchen kann. Zwei Fragen sind zu stellen. Woher kannte Varro die Technik des disputare in utramque partem, und warum wihlte er diese dialektische Methode für sein Fachbuch? Das Woher ist leichter zu beantworten. Wie Cicero hat sich mit groBer Wahrscheinlichkeit auch Varro mit der neuakademischen Skepsis durch Philon von Larissa, der ab 88 v.Chr. in Rom war, bekanntgemacht, und wir wissen, daß Philon auch Rhetorik lehrte, und

dabei auch rhetorische Übungen zu Theseis und Hypotheseis eigentlicher Lehrer war

allerdings bekanntlich

abhielt.39 Varros

der Philonschüler

Antiochos

von

Askalon, den er 84-82 in Athen hórte und für dessen Lehre er laut Ciceros Zeugnis

eine besondere Schwäche hatte.40 Antiochos wandte sich von der Skepsis seines Lehrers ab und wieder der Dogmatik zu, aber wir wissen, daß er den aristotelischen

Ursprung der dialektischen Methode des disserere in utramque partem kannte (fin. 5,10) und diese Methode auch selbst beherrschte, denn der Bericht des Lucullus über die philosophischen Disputationen mit und um Antiochos in Alexandria (Luc. 11ff.) und seine (schon genannte) nach Antiochos gearbeitete Rede contra Academicos (Luc. 17ff.) beweisen, daß Antiochos diese Technik im Dialog und in konkreter

Disputation selbst verwendet hat.4! Da Antiochos

38

39

aber, wie gesagt, eben kein

Buches), 2. die Gegenpartei des Krates und seiner Schüler (Buch 8) und 3. die pro-Partei, die die Aristarchei gegen Krates und seine Schule in Schutz nehmen (Buch 9). Dahlmanns Deutung dieser Trias als These-Antithese-Synthese (Varro, LL VIII, If. und RE 1174f.) und seinen Vergleich mit Ciceros Dialogen de fin. und de nat. deor. kann ich nicht nachvollziehen, denn 1. ist so der Ablauf bei Varro (contra-pro-de) kaum angemessen wiedergegeben und 2. gibt es bei Cicero keine vermittelnde Stellungnahme am Schluß, die man Synthese nennen kónnte. Vgl. Cic. de oratore 3,109-110; Tusc.

2,9; B.

Wisniewski,

Philon

von

Larissa, Testimonia

und Kommentar, Wroclaw 1982, Fragm. 6 und 24, dazu den Komm. S. 38 und H. J. Mette, Lustrum 28-29 (1986-1987) 24. Daß Varro Philon gehört hat, ist nicht direkt überliefert, aber doch mehr als wahrscheinlich. Vgl. Varros Wertschätzung Philons bei Cicero, Acad. post. und J. Glucker, Antiochos 20. Zu Philons Romaufenthalt vgl. auBerdem Wisniewski 24f.

40

1,13

Vgl. Cicero, Att. 13,12,3 (= 13,24,3 Kasten), 13,19,5 (= 13,29,5 Kasten) und Cic. Acad. post. 1,12.

Zu

Varros

philosophischer

Bildung

und

Praxis

vgl.

immer

noch

E.

Zeller,

Die

Philosophie der Griechen III i, 51923, 692-699 und Dahlmann, RE 1174 und 1259-1268; zu Antiochos vgl. jetzt H. J. Mette, Lustrum 28-29 (1986-1987) 25-63 und J. Barnes, Antiochus 41

of Ascalon, in : M. Griffin, J. Barnes (Hrsg.), Philosophia togata, Oxford 1989, 51-96. InCic. fin. 5,10 wird das peripatetische disputare in utramque partem von Piso erwähnt, der hier, wie aus fin. 5,8 ersichtlich, die Lehre des Antiochos referiert. Vgl. zu der gegen Philon gerichteten Schrift Sosos (wahrscheinlich ein Dialog) G. Luck, Der Akademiker Antiochos, Bern

156

Disputare in utramque partem

Skeptiker mehr sein wollte, hat er diese Technik sicher nicht wie

Karneades

mit

seinen iustitia-Reden dazu verwendet*?, die Unmöglichkeit sicherer Aussagen über einen Gegenstandsbereich zu demonstrieren. Hier kónnte also der Grund dafür liegen,

daB es Varro nicht einfach bei dem ,skeptischen' Part der contra- und pro-Bücher 2 und 3 bzw. 8 und 9 mit aporetischem Ausgang belieB, sondern jeweils ein Buch anschloB, das die Probleme in dogmatischer Weise neu anging und einer Lósung

näherzubringen suchte.43 Mit dieser Herkunftsbestimmung ist allerdings der restliche Sondercharakter der Thesis-Dialektik Varros noch nicht ganz geklart, es bleiben noch ihre Übertragung in das sprachwissenschaftliche Fachbuch und ihr literarischer Zwischenstufencharakter übrig. Worin der Grund dafür liegt, das disputare in utramque partem auf den linguistischen Stoff zu übertragen, ist schwer zu beantworten, und schon Fehling hat bemängelt, daß von der Sache her eigentlich kein Grund dazu vorliegt, daß dem Stoff im Gegenteil ein gewissermafen fachfremdes Schema aufgezwungen wird, das zu dem, wie er meint, verhängnisvollen Schluß geführt habe, daß es einen (für Fehling so nicht existenten) Streit der Etymologisten und Anti-Etymologisten oder Anomalisten und Analogisten gegeben habe.44 Ferner ist auf den ersten Blick ebenfalls kaum eine Erklürung dafür denkbar, warum Varro seine dialektischen Thesis-Lehrvortrüge nicht

für unliterarisch und unpublizierbar hielt, sondern sie gewissermaßen auf einer literarischen Zwischenstufe ansiedelte und sie zumindest im fachliterarischen Bereich für durchaus publikationsfähig erachtete. Wenn man hier weiterkommen will, darf man nicht allein vom Text ausgehen, sondern man muf m.E. die anfangs behandelten Überlegungen zur Entstehungsgeschichte und Publikation von LL hinzuziehen und sich daran erinnern, daß sich

allein schon von daher der Eindruck des Vorlüufigen, noch Unfertigen, vielleicht nicht bis zur Endredaktion Gelangten ergeben hatte. Im Anschluß an diese Erwägungen möchte ich nämlich jetzt folgende These äußern: Varro verfolgte zumindest mit den Büchern 8-9 ursprünglich einen anderen literarischen Plan. Er wollte keine ‚Fachbuchsektion‘, sondern einen literarischen Dialog schreiben. Dieser Plan wurde aber

aus Gründen, die wir nicht mehr kennen, nicht durchgeführt, sondern seine Realisierung blieb gewissermaßen auf halbem Wege stecken, und zwar im Stadium der

und Stuttgart 1953, 52f., der dem Dialog des Antiochos zwar die dialektische pro- und contraArgumentation unterstellt, aber in Form des Wechselgesprächs, nicht der Rede und Gegenrede, die Luck erst Cicero zuschreibt. Vgl. zum Sosos noch J. Barnes 1989, 70-78 und L. StraumeZimmermann, F. Broemser und O. Gigon, Hortensius, Lucullus, Academici libri, München-

Zürich 1990, 379-381. 42

Vgl. Anm. 26.

43

Damit wäre wenigstens vermutungsweise eine Besonderheit von Varros dialektischer Methode erklärt. Jedenfalls kann man, wie ja auch schon früher geschehen, mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß Varro die von ihm für LL gewählte dialektische Methode aus seiner dialektischen Schulung durch die neuere Akademie, und dabei eben auch von Antiochos von Askalon bezog.

Varro beruft sich allerdings zu Beginn seines de-Buches (10,1) nicht auf Antiochos, sondem

44

kündigt nur an, jetzt als erster das Wesen einer bisher kontrovers diskutierten Materie neu und grundlegend bestimmen zu wollen. Vgl. Fehling (wie Anm. 14) 267-270.

Disputare in utramque partem

157

Thesis-Dialektik, die den Dialog vorbereiten sollte.45 Die beiden Thesis-Bücher wurden dann um ein drittes de-Buch erweitert und die Buchtrias als Bücher 8-10 in das Gesamtwerk eingefügt Diese These von einem ursprünglichen Dialogplan kónnte zumindest die Stoffaufbereitung nach dem dialektischen Prinzip des disputare in utramque partem gut erklären, vielleicht aber auch die Tatsache, daß Varro

auch nach Aufgabe des Dialogplans die Vorstufe der Thesis-Dialektik immer noch für publikationswürdig hielt, weil so wenigstens die mit viel Mühe und in eingüngiger Weise ‚literarisch-dialogisch‘ nach contra- und pro-Argumentation aufgearbeitete Darstellung erhalten blieb. Dies ist jedoch zunächst nur eine kühne These. Sie muß auch bewiesen oder doch wenigstens einer gewissen Evidenz zugeführt werden. Daß Varro zumindest im Fall der für uns überprüfbaren Bücher 8 und 9 ursprünglich nicht bei der bloBen Thesis-Dialektik stehenbleiben wollte, dafür gibt es, wie ich meine, bestimmte An-

zeichen im Text der beiden Bücher selbst, denen wir uns jetzt zuwenden wollen. Zu einem literarischen Dialog gehören Zeit und Ort des Gesprächs, Gesprächsteilnehmer, eine bestimmte Gesprächssituation und eine über das Niveau der Alltags-

oder Fachsprache stilisierte Kunstprosa. Ort und Zeitangaben eines fingierten Gesprächs scheint es bei Varro zunächst nicht zu geben, ebensowenig Dialogteilnehmer, denn der Fachbuchautor übernimmt die contra- und pro-Rolle selbst. Fündig wird man allerdings in bezug auf die Gesprächssituation und die sprachliche Stilisierung. Die Gesprächssituation des Dialogs ist insofern anders als die des Thesis-Dialektikers,

als zu den

in der ersten

Person

des Rollen-Ichs

geäußerten

Urteilen über die Gegenpartei in der dritten Person (z.B. Wenn sie behaupten, es gebe Analogie, so sage ich, sie irren) noch die zweite Person des Dialogpartners hinzukommt: so sage ich Dir, sie irren. Für diese Gesprächssituation gibt es in Ciceros Dialogen naturgemäß zahllose Beispiele, z.B. wenn Cicero im vierten Buch von de finibus die entsprechenden Lehrsätze der Stoiker widerlegt und dabei Cato immer wieder als Dialogpartner in Erinnerung bringt oder im zweiten Buch auf dieselbe Weise im ständigen Kontakt mit Torquatus gegen Epikur polemisiert. Viele Passagen zeigen dabei effektvolle rhetorische Stilisierung, um die fachsprachliche Schlichtheit und Spannungslosigkeit zu vermeiden.

45

Vgl. dazu das Zitat von Krämer oben Anm. 36, der ja ähnliche Vorarbeiten bei Cicero und Aristoteles voraussetzt. Wenn sich diese These als richtig erweist, wäre z.B. manche

Unsystematik in der Abfolge und Wiederaufnahme der Argumente von Buch 8 in Buch 9 oder manch andere Divergenzen einfach dadurch zu erklären, daß sie auf die Argumentationen zweier Dialogteilnehmer zu verteilen sind, die sich ja auch in Ciceros Dialogen nach Inhalt und Systematik nicht immer genau entsprechen müssen. Auf den ersten Blick könnte die These Fehlings Annahme von der Erfindung des Streits durch Varro stützen, denn Varro hätte dann das von ihm vorgefundene Material tatsächlich künstlich zu einer dialogischen Antithetik aufbereitet. Hier würde ich trotzdem zu Vorsicht raten, denn die von Varro zweifellos aus griechischen Quellen übernommene linguistische Argumentation zeigt deutlich, daß es bereits vor ihm eine Auseinandersetzung auf hohem linguistischen Niveau im griechischen Bereich gegeben haben muß. Vgl. W. Ax, Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie, in: P. Schmitter (Hrsg.), Sprachtheorien der abendländischen Antike, Geschichte der Sprachtheorie 2, Tübingen 1991, 293-295 [hier: 112-114].

158

Disputare in utramque partem

Ein Beispiel dafür ist Cic. fin. 2,48ff.: habebis undique expletam et perfectam, Torquate, formam honestatis ... wendet sich Cicero an seinen Dialogpartner, um ihm Epikurs Auffassung vom honestum zu erläutern. Die zweite Person des Angesprochenen bleibt dabei wührend der Ausführungen stets prüsent, z.B. 49: videsne quam sit magna dissensio? Bisweilen erscheint zur Verlebendigung des Gesprächsablaufs auch ein Epikurzitat, von einem inquit in dritter Person begleitet, z.B. 48. Vom Stil her ist auffällig, daß immer wieder in einer Kette von rhetorischen Fragen argumentiert wird, die ihrerseits rhetorisch durch Anaphern und kolische Gliederung intensiviert werden, etwa 50: quid munc honeste dicit? idemne, quod iucunde? ergo ita: non posse honeste vivi, nisi honeste vivatur? an nisi populari fama? ... quid turpius quam ... pendere? quid ergo ... honestum? (3x quid) oder 52: cur tandem ? an quod ita callida est, ut ... voluptates? cur iustitia laudatur? aut unde est ... ? oder 74: quid? illud Torquate, quale tandem videtur, te isto nomine, ingenio, gloria, quae facis, quae cogitas, quae contendis, quo referas, cuius rei causa perficere quae conari velis, quid ... dicere? quid enim mereri velis ... quid merearis igitur? Solche Partien sind typisch für den rhetorischen Stil der Argumentation im Dialog. Im achten und neunten Buch in Varros LL gibt es nun einige Stellen und Passagen, die m.E. nicht anders als für einen Dialog gedacht verstanden werden kónnen. Auf die Gesprichssituation verweisen einige im Duktus des Lehrvortrags merkwürdig

isoliert dastehende Anreden an die zweite

Person,

die keinen

klaren

Bezug haben. Es sind dies: 8,47: his discretis partibus singulas perspice, quo facilius nusquam esse analogias, quas sequi debeamus, v ideas. 8,53: in nullo horum analogiam servari v idebis.

9,31f.: an non v ides, ut Graeci habeant eam quadripertitam ... sic nos habere? ecquid verba nescis .. esse apud nos? equidem non dubito, quin animadverteris (konjiziert aus animadvertunt) ... 9,37: animadvertito

Solche seltenen und unmotiviert wirkenden Anreden an eine zweite Person kónnen durchaus harmlos sein. Man könnte sie als Anreden an den Leser verstehen oder an den Widmungspartner wie wahrscheinlich die zweite Person in 7,2-3 oder einfach als Ersatz für das unpersönliche ‚man‘. Daß dahinter aber vielleicht doch Rudimente eines ursprünglich geplanten Dialogpartners stecken, zeigt besonders die Stelle 9,31f. im Kontext der gesamten Partie 9,8-35. Diese Passage enthült die Argumente für die Analogie allgemein, und es ist schon früher aufgefallen, daß insbesondere die Partie 23-35

stark

rhetorisch

gefärbt ist.47 Schon

9,8-22

hebt

sich

von

der

einfachen

Lehrbuchprosa in Aussagesätzen durch gehäufte Verwendung von rhetorischen Fragen deutlich ab (9,10.11.12.14.15.20.21.22). Diese Tendenz wird, verbunden mit sonstiger rhetorischer Stilisierung, deutlich verstärkt ab 23-35

— ganz

im Stil der

erwühnten Partien von de finibus. Es wird ausschlieBlich mit anaphorisch verstürkten 46

So Dahlmann, Varro, LL VIII, 130.

47

Vgl Fehling (wie Anm. 15) 84.

Disputare in utramque partem

159

rhetorischen Fragen argumentiert, die sehr häufig in sich parallel mit vergleichenden Konjunktionen gegliedert sind. Z.B. 24: nonne ut ... sic? non quantum, tantundem? non ..., 25: num aliter sol ... ac, nonne luna ut ... sic ..., 27: non in terra ... nec cuius modi, similia ... et cuius modi ... sic ..., 28: non ut ... sic ... Dazu kommt eine klar

erkennbare Tendenz zur rhythmischen Gestaltung. Es kann hier nur exemplarisch auf die rhetorische Stilisierung der Partie hingewiesen werden, man muB sie ganz und laut lesen, um

sie nachzuvollziehen.

Wie

sehr der Lehrbuchstil

hier

ins

Rhetorische

umgesetzt ist, zeigt besonders ein Vergleich der schon erwähnten Stelle 9,31f. mit den entsprechenden Passagen 8,44 und 10,17. Es geht um die Vierteilung der deklinablen Wortarten: 8,44: nunc ponam potissimum eam, qua dividitur oratio secundum naturam in quattuor partis: in eam, quae habet casus et quae habet tempora et quae habet neutrum et in qua est utrumque. 10,17: ea dividuntur in partis quattuor: in unam, quae habet casus neque tempora, ut docilis et facilis, in alteram, quae tempora neque casus, ut docet, facit, in tertiam quae utraque, ut docens, faciens, in quartam quae neutra, ut docte et facete. 9,31f. dagegen: an non vides, ut Graeci habeant eam quadripertitam, unam,

in qua sint casus, alteram,

in qua tempora,

tertiam,

in qua

neutrum, quartum, in qua utrumque, sic nos habere? ecquid verba nescis ut apud illos sint alia finita, alia non, sic utraque esse apud nos? ecquidem non dubito, quin animadverteris item in ea innumerabilem similitudinem numerum ut trium temporum verba, ut trium per-

sonarum. Unverkennbar ist hier, wie auch in dem hier nicht mehr ausgeschriebenen Rest von 9,32, die trockene Lehrbuchsystematik in einen lebendigen, rhetorisch gefärbten

Dialogstil umgesetzt. Es wird nicht einfach in Aussagesätzen, sondern in rhetorischen Fragen, wieder mit parallelen Vergleichspartikeln und Kolongliedern versehen,

argumentiert, der Sprecher wird stark markiert und eine angesprochene zweite Person eingearbeitet. Da es in dieser Passage übrigens nicht primär um die Vierteilung der deklinablen Wortarten geht, sondern inhaltlich um Ahnlichkeiten

im zwischen-

sprachlichen Vergleich (Griechisch, Latein und andere Sprachen haben gleiche morphologische Kategorien), die die Analogie in der Natur allgemein beweisen sollen, gewinnen wir auch die Nationalität der beiden Sprecher: Es sind Römer. Ich habe keinen Zweifel, daß wir an dieser Stelle, ja mit der gesamten Passage 9,8-35 das Rudiment eines Dialogs vor uns haben, und ich glaube, daB man von hier aus

extrapolieren kann, daB die Bücher 8-9 insgesamt ursprünglich als separater Dialog geplant waren, daß aber dieser Plan aus Gründen, die wir nicht mehr kennen, nicht zur Ausführung kam, sondern im vorbereiteten Stadium der dialektischen Aufberei-

tung der Argumente mit Hilfe der Thesis-Dialektik steckenblieb. Titel (de analogia?), Ort und Zeit dieses nur in Ansätzen ausgeführten Dialogs lassen sich natürlich nicht bestimmen, denn die Zitation des Hortensius oder Sisenna

160

Disputare in utramque partem

erbringt hier keine Fixierung.48 Interessant ist aber im Hinblick auf eine Datierung des geplanten Dialogs die Stelle 9,21, die ja in den Kontext der besonders dialogverdüchtigen Passage 9,8-35 gehört. Hier verweist der Sprecher auf den modischen Wechsel aller Dinge, das Neue lóst das Alte ab — in der Sprache wie in anderen Bereichen -, z.B. im Bereich der HaushaltsgefaBe: nonne inusitatis formis vasorum recentibus e Graecia adlatis obliteratae antiquae consuetudinis sinorum et capularum species? (,,Sind denn nicht durch die ungewóhnlichen, kürzlich aus Griechenland importierten Gefäßformen die altmodischen Formen der sina und capulae in Vergessenheit geraten?) Wenn man diesen Hinweis datieren könnte, hätte man einen Anhaltspunkt für die Zeit des fiktiven Gesprüchs. sinum und capula werden von Varro noch ling. 5,121 und 123 erwühnt. Sie gehóren zur Ausrüstung des Weingeschirrs (5,121-124) auf der mensa vinaria. capula war ein gehenkeltes Wein-

trinkgefäß, sinum ein bauchiges Weingefäß.49 Dabei wird die capula explizit als zum Zeitpunkt Varros (so müssen wir ja wohl den Sprecher des nicht dialogverdichtigen fünften Buches auffassen) antiquiert und nur noch für sakrale Zwecke verwendet charakterisiert (5,121): harum figuras in vasis sacris ligneas ac fictiles antiquas

etiam nunc videmus.50 Da wir das fünfte Buch genau datieren können, erlaubt dieses nunc eine Datierung der ÁuBerung Varros auf das Jahr 46 v.Chr.5! Es liegt nun nahe, dieses Datum - jedenfalls annähernd — auch der Äußerung des Sprechers von 9,21 zu unterstellen, denn hier erscheint die gleiche Charakterisierung der capula (und zusätzlich des sinum) als Beispiel für antiquierte, aus der Mode gekommene Gefäße. Man würde für 9,21 noch größere Sicherheit gewinnen, wenn man den hier von Varro

erwühnten Importeinbruch (inusitatis formis vasorum recentibus) griechischer und die Ablösung altrómischer Gefüfformen genauer archäologisch datieren könnte.

Immerhin stößt man hier in der archäologischen Literatur auf das Jahr 50 v.Chr.52 48

Die Hortensiuszitate 8,14 und 10,78 dienen nur dem Beleg des singularischen cervix. Ebenfalls

morphologischen Besonderheiten gilt die Erwähnung Sisennas 8,73 (patres familiarum) und Fragm. 12 Funaioli [Buch 8 von LL] (adsentio): Hieraus kann man keinen zufriedenstellenden Terminus post quem gewinnen, wie auch nicht aus der schon erwühnten Stelle 8,11: consul fuit Tullius et Antonius. 49 50

Vgl. W. Hilgers, Lateinische Gefäßnamen, Düsseldorf 1968, 140 und 280f. Von 9,21 aus können wir dann schließen, daß dies auch für das sinum galt.

51

Vgl. Barwick, Widmung 303. Eine Stütze enthält die Datierung von ling. 5,121 auf die Mitte der vierziger Jahre noch durch Nonius 574,11, ein Fragment aus Varros Schrift de vita populi Romani, die man etwa auf 43 v.Chr. datiert: etiamnunc pocula, quae vocant capulas ac capides ... Die capula erscheint also wieder als ein vom Standpunkt des J. 43 v.Chr. aus geschen eigentlich veraltetes Weingefäß. Vgl. z.B. J. P. Morel, Das Handwerk in augusteischer Zeit, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Berlin 1988, 83-86; A. Stenico, ,Aretini, Vasi', Enciclopedia dell’ Arte

52

Antica I (1958), 612f.; H. Comfort, ‚Terra Sigillata', ebenda Suppl. (1973) 870ff. und Ch. Goudineau, La céramique arétine lisse, Paris 1968, 317ff. Diese Hinweise verdanke ich M.

Bentz (Regensburg) und M. Bergmann (Göttingen). Bentz teilte mir brieflich mit: „Der große Umbruch

von

,altrémischer‘,

d.h.

vor allem

in der Farbe

dunkler und

in

der

Form

etwas

plumperer Keramik zur neuen roten, dünnwandig-eleganten Keramik, Terra sigillata bzw. zunichst ,Prá-sigillata', findet um 50 v.Chr. statt (die eigentliche Sigillata mit Reliefverzierung setzt dann erst um

30 v.Chr.

ein). Dieser Umbruch

wahrscheinlich ist, daB dies bei Varro gemeint ausschlieBen,

daB er den schon

ist in der Tat sehr radikal, so daß es sehr

ist.

Man

kann

vor 50 sichtbaren hellenistischen

aber natürlich nicht völlig EinfluB meint,

auch wenn

Disputare in utramque partem

161

Wenn man also den Sprecher von 9,21 für einen fiktiven Dialogpartner halt, spricht sehr viel dafür, sich das Gesprüch als zeitgenóssisch, also als zur Zeit Varros spie-

lend, vorzustellen, wie das ja von Ciceros Dialogen her bekannt ist. Wer dabei die contra- und wer die pro-Rolle übernahm, muß natürlich Spekulation bleiben (Cicero würde die überlegene pro-Rolle spielen wie in den Academica posteriora). Der Dialogplan paßt übrigens gut zu einer Widmung an Cicero. Meine eingangs geäußerte These, daB es sich bei den Büchern 8-10 um eine separate Einheit mit literarischem Eigencharakter handele, die später in das Gesamtwerk integriert worden sei, hat sich hoffentlich bestätigt. Die Bücher 8-9 lassen auch in ihrem jetztigen Zustand noch erkennen, daß sie ursprünglich als Dialog, und zwar als Dialog nach dem Muster der ciceronischen Dialoge im Stil des

disputare in utramque partem geplant waren.53 Dieser Plan wurde indessen nicht voll realisiert, sondern es blieb bei der vorbereitenden Verteilung des Stoffes auf zwei

Bücher in Form einer von nur einem Sprecher getragenen Thesis-Dialektik. Ein drittes Buch (B. 10) kam hinzu, das, vielleicht unter dem Einflu8 der Dogmatik des Antiochos, die Aporie der skeptischen Dyade durch ein theoretisch neu fundiertes,

sicheres Urteil aufheben sollte. Diese so entstandene Trias wurde in den Gesamtplan von LL eingearbeitet. Wieder einmal zeigt sich der Charakter des Vorläufigen, noch Unfertigen, Aufhalbem-Wege-Stehen-Gebliebenen von LL,

vielleicht nicht im Gesamtplan,

sicher

aber in einzelnen Passagen bis hin zu der Gesamtanlage ganzer Bücher, wie in unserem Fall der Bücher 8-10. Was davon geht nun aber auf das Konto Varros? Die Antwort auf diese Frage hüngt davon ab, wie man die Entstehungsgeschichte und Publikationsumstände von LL beurteilt, von denen ich anfangs berichtet habe. Hält

man LL in der überlieferten Form für eine vom Autor so wissentlich und endgültig verabschiedete Publikation, sei es nun vor Ende 43 oder vor 27 v.Chr., kommt man

nicht umhin, ihm Halbfertigkeiten, Flüchtigkeiten, Fehler, ja streckenweise die Unfihigkeit zuzuschreiben, kohärente Textpartien zu verfassen.5* Glaubt man dagegen an die vielleicht sogar postume Publikation einer vorläufigen, unfertigen Redaktion, können die unzweifelhaften Müngel nicht ohne weiteres dem Autor selbst angelastet

dieser noch nicht so stark war." Diese Einschätzung des archäologischen Hintergrunds von 9,21 würde natürlich glünzend zu meiner These der Datierung der Sprechsituation des geplanten Dialogs auf die vierziger Jahre passen. Doch gebe ich gerne zu, daB von den doch recht vagen und im Kontext und Detail auch unterschiedlichen Äußerungen Varros 5,121-124 und 9,21

53

aus

keine letzte Sicherheit zu gewinnen ist (so M. Bergmann). Ein solcher Dialog stünde dann allerdings ganz im Gegensatz zu dem Dialogtyp, den die res rusticae Varros reprásentieren. Vgl. dazu den aufschluBreichen Vergleich der res rusticae mit Ciceros Dialogtechnik bei Dahlmann, RE

1186f. mit dem wichtigen Hinweis, daB Varro hier

das Prinzip des disputare in utramque partem gerade vermeidet. Zum Dialogtyp der res rusticae vgl. auBerdem die wichtige, aber zu wenig beachtete Arbeit von R. Heisterhagen, Die literarische Form der Rerum rusticarum libri Varros, Diss. masch. Marburg 1952. Hier übrigens S. 106-110 einige wichtige Hinweise zum disputare in utramque partem im aristotelischen Dialog. 54

Dies ist die Grundthese Fehlings, vgl. bes. deutlich Glotta 36 (1957)

100. Es ist ein wesent-

licher Nachteil seiner Untersuchung, daB er an keiner Stelle, soweit ich sche, die Problematik der Entstehungsgeschichte des Werks heranzieht.

162

Disputare in utramque partem

werden, der vielleicht einfach nicht mehr dazu gekommen

ist, seinen Text in einer

Endredaktion zu korrigieren oder zu überarbeiten. Unser Fall des halbfertigen Dialogs in den Büchern 8 und 9 läßt sich allerdings

nicht einfach einer der beiden Seiten der Alternative zuschlagen. Zweifellos ist die Aufgabe des Dialogplans Varro selbst zuzuschreiben, denn die uns jetzt vorliegende Buchtrias 8-10 ist in ihrer Anordnung (contra / pro / de), in ihrer Ausführung als einer in der Ein-Sprecher-Rolle durchgeführten Thesis-Dialektik und in ihrer Einbindung in das Gesamtkonzept von LL sicher von Varro selbst geplant und durchgeführt worden. Das zeigen die anfangs (S. 141) erläuterte Gesamtdisposition des Werks und die oben (S. 146f.) zitierten entsprechenden Dispositionshinweise Varros in aller Deutlichkeit. Und aus eben diesen Zeugnissen wird auch deutlich, daß wir bei den Büchern 2-4 mit denselben Umständen zu rechnen haben. Wenn es stimmt, daß

die Bücher 2-4 separat vorpubliziert wurden, und zwar in der Form der später für LL sicher zu unterstellenden Form der Thesis-Dialektik, dann kónnen wir sogar daraus schließen, daß Varro schon sehr früh, noch vor Ciceros Tod, den Plan zu einer

literarisch-dialogischen Ausarbeitung des linguistischen Stoffes zugunsten der bloBen Thesis-Dialektik wieder hat fallenlassen. Jedoch kann es hier natürlich aufgrund der Spárlichkeit der Zeugnisse zu den Büchern 2-4 keine Sicherheit geben. Es ist also die Möglichkeit auszuschließen, daß die Bücher 8-9 nur provisorische, uns aus einer postumen Redaktion zugingliche Vorarbeiten zu einem Dialog darstellen, den Varro zu seinen Lebzeiten noch hat ausführen wollen, aber seines Todes wegen nicht mehr hat ausführen können. Vielmehr muß Varro, wie wir gesehen haben, den Dialogplan

bewuBt und noch zu seinen Lebzeiten aufgegeben haben. Andererseits ist es dann allerdings schwer zu erklüren, warum

Varro nicht die

Spuren seines ursprünglichen Dialogplans verwischt, sondern vielmehr Partien wie den ,rhetorischen Fremdkörper‘ 9,8-35 in seinem Text stehengelassen hat, der den aufmerksamen Leser ja neben der seltsamen Aufbereitung des Gesamtstoffes nach contra und pro überhaupt erst auf die Idee bringt, hier einen ursprünglichen Dialogplan zu vermuten. Ich glaube, daB solche Partien wie 9,8-35, besonders 9,8-23,

von der ich einmal gesagt habe, sie zeige „das für viele Partien von Varros Schrift charakteristische Bild einer Reihe von Argumentationsteilen, die, wie aus einem Zet-

telkasten recht und schlecht zusammengeklebt, zu einer neuen pseudo-originellen

Einheit verbunden wurden, eine Art Patchwork aus älteren Quellen also*55, nicht auf das Konto der Unfahigkeit Varros gehen, sondern nur durch die postume Herausgabe eines noch unfertigen Manuskripts zu erklären sind. Die Aufgabe des Dialogplans geht also sicher zu Lasten Varros, nicht aber der Zustand der uns überlieferten Fas-

sung der Bücher 8-10. Ohne dies hier näher begründen zu können, bin ich nämlich wie schon manche Varroforscher des 19. Jh.s der Meinung, daß Varro sein linguistisches Hauptwerk zwar insgesamt so, wie es uns noch zugünglich ist, geplant und bis zu dem uns vorliegenden Stadium der Ausarbeitung auch vorangetrieben hat. Ob er es aber in dieser Form, die nur allzu oft den Charakter des Provisorischen trügt, auch

aus der Hand gegeben hat, ist jedenfalls für mich wenig wahrscheinlich. Doch dies nachzuweisen, würe Gegenstand einer eigenen umfangreichen Untersuchung. 55

W. Ax, Aristophanes von Byzanz als Analogist. Zu Fragment 374 Slater (= Varro, de lingua Latina 9,12), Glotta 68 (1990) 4 [hier: 116].

Disputare in utramque partem

163

Wenn die hier vertretene These Zustimmung finden würde, wire jedenfalls zweierlei für die weitere Forschungsdiskussion um Varros de lingua Latina gewonnen: 1. Die unzweifelhaft vorhandenen Unfertigkeiten und Ungereimtheiten dürften nicht einfach auf das Konto der Unfähigkeit Varros gesetzt, sondern es müßte zumindest der Versuch gemacht werden, sie auch aus der literarischen Genese des Werkes zu erklären. 2. Es wäre erneut zu prüfen, ob die These so bedeutender Varroforscher wie K.

O. Müller, K. Lachmann und F. Ritschl von einer möglicherweise sogar postumen Edition des Werkes durch die hier vorgetragenen Überlegungen nicht doch mehr an Wahrscheinlichkeit gewinnt, als ihr die communis opinio der späteren Varro-

forschung zuerkennen wollte.56

56

Zu Varro und Antiochos vgl. jetzt W. Górler in: H. Flashar, Die Philosophie der Antike IV 2, Basel 1994, 971 ff.

PRAGMATIC

ARGUMENTS

IN MORPHOLOGY.

VARRO'S

DEFENCE

OF ANALOGY IN BOOK 9 OF HIS DE LINGUA LATINA

Books 8-10 of Varro's De lingua Latina (7 L.L.) deal with the theory of the declinatio verborum, the derivation of words from preexisting roots, which were coined in the impositio verborum. The declinatio verborum thereby encompasses the entire domain of morphology, i.e. inflection, derivation and composition. In this context Varro considers the primary point at issue to be whether regularity exists in the derivation process, which can be determined by a comparison of similar words,

so, eg., amor : amori = dolor : dolori, or rather whether the principle of morphological anomaly reigns. Standardization of the language would be based in the first case on analogia, analogy, in the second case on consuetudo, usage. This dispute is conducted in the rhetorical style of disputare in utramque partem, since the author argues against analogy in book 8 and for analogy in book 9.! Especially the defence of the analogy principle in book 9 results in remarkable distinctions in the way morphological characteristics of Latin are viewed. In the main part of my paper I would like to convey an impression of these distinctions and finally I shall discuss very briefly what could perhaps be said about Varro as a source for the Hellenistic analogy-anomaly-quarrel in the light of my results. The criticisms of the anomalists presented in book 8 (44-84) extend to morphological asymmetries found in the declinable parts of speech, noun (pronouns, proper names, participles included), verb and adverb, though only the section on the noun has survived.2 I shall present examples of the anomalists’ criticisms: All kinds of noun forms should take gender, number and case in the same way, if analogy is valid (8,46-49). Yet this is not the case. Indeed humanus,

-a, -um exist, but only

cervus, cerva, and not *cervum (gender). The forms pater and patres do indeed exist, yet words such as cicer and siser appear only in the singular and not, however, in the plural, e.g., *cicera, *sisera. Some words appear only in the plural like salinae, the singular *salina is not in use (number). There are nouns appearing only ] 2

See Ax (1995) [this volume: 140ff.]. Varroin the role of the contra analogiam speaker of the eighth book introduces 8,44s., to dispose his linguistic material, a system of the parts of speech which is different system he normally uses (cf. 6,36; 8,44; 9,31; 10,17), although he identifies both wrongly here (or should we read with the Laurentianus: has vocant quidem?). Sec problem esp. Fehling (1957: 51-60). The system of book 8: pars appellandi (noun),

in order from the systems on this dicendi

(verb), adminiculandi (adverb) and iungendi (conjunction) contains the whole set of the parts of speech (declinabilia and indeclinabilia), whereas the “normal” system covers on a lower level

only the declinable parts of speech: noun (+ casus / - tempus), verb (- casus / + tempus), participle (+ casus / + tempus) and adverb (- casus / - tempus). The adverb belongs to the declinable section,

because

it allows

comparison (see esp. 6,36

or 10,17),

a feature, which

Fehling (1957: 58s.) seems to have overlooked. In the remaining text of book 8 only the treatment of the pars appellandi has survived: 1. articuli = relatives (9,50) and pronouns (9,51), 2. nominatus — appellations, nouns (9,52-79) and proper names (9,80-84). The different dispositions corresponding to different word classes in books 8 and 9 is in my opinion not a mistake, but can be explained by Varro's dialogue plan, which I have tried to prove in Ax (1995) (see n. 1). Both speakers are not obliged to use the same system or disposition in their speech.

Pragmatic arguments in morphology

165

in the casus rectus, such as Juppiter, and only in the oblique case, such as Jovis (case). There is also much in derivation of nouns, proper names and verbs which contradicts the analogy theory (8,53-60). Ovile is formed from ovis, but there is no *bovile from bos. There are the forms Parma / Parmenses, but not Roma / *Romenses, amare / amator, but not ferre / *fertor. Composition also demonstrates this (8,61-62): a tibiae / tibicines is not paralleled by a cithara / *citharicen. In the section devoted to declension (8,63-74) Varro shows that the number of cases differs; some words have only one case form (the letter A), some three (praedium, -ii, -io), some four (mel, -lis, -li, -le), etc., up to six cases (unus, -ius, -i, -um, -e, -0). There are case forms which compete with one another, such as ovi 7 ove or puppis / -es, and various oblique case forms for the same nouns, e.g., gens, mens, dens — gentium / gentis; mentium / mentes; dentum / dentes. Finally there are also anomalies in comparison (8,75-78), e.g, bonum, melius, optimum not bonum, *bonius, *bonissimum. The attacks of the anomalists follow along these lines, yet since, as stated, the 8th book is incomplete, Varro examines arguments in book 9 which can no longer be checked in book 8. Book 9 consists of an introduction (9,1-6), a section with arguments in favour of analogy in general (9,7-35) and a special section dedicated solely to pure linguistic analogy (9,36-110), in which many of the specific questions concerning morphology posed in book 8 are treated — now under the heading of the four declinable parts of

speech: noun, verb, participle, and adverb.? The argumentation of the 9t book has as its primary objective the rejection of the criticisms of the anomalists as being linguistically unsophisticated. This is already apparent in the introduction (9,4-6): in evaluating morphological anomalies it is necessary to take into consideration that the derivations of words are subject to certain conditions and limitations of usage. One must consider whether (1) natura or usus permit analogies (criterion of usage) (cf. infra), whether (2) analogy applies to all or only to a majority of words (criterion of quantity) or (3) for which group of speakers (group-of-speakers criterion) analogies are claimed to be applicable, since other norms apply for an entire nation, rather than for a subgroup, such as orators and poets, who enjoy greater licence. Varro introduces further distinctions in the first general section (9,7-35): it is necessary to correctly determine the relationship between the linguistic criteria of regulation, analogy and usage. They are in no way competitive, mutually exclusive criteria, since the system of analogously inflected words is an element of consuetudo (9,8s.; 18). He who follows consuetudo also follows simultaneously analogy. The analogist appears to be like a doctor or teacher; he heals the morphological anomalies of consuetudo as if they were illnesses and administers the appropriate language education (9,10-11; 14; 15s.). Like everything else, language is subject to continuous change, a process in which analogy acts as an innovative force which implements reforms and thus at the same time initiates improvements directed against former usage. Poets are primarily called for here and, to a lesser extent, orators (9,12-13; 17; 3

Varro uses here the “normal” system as shown in the previous note, but although the noun is

treated 9,50-94 and the verb 9,95-109, the participle is dealt with cursorily (9,110) and the adverb is not treated at all.

166

Pragmatic arguments in morphology

19-22).4 Paragraphs 31-32 are also of interest in this section: the linguistic comparison made here between Greek, Latin, and other languages proves the universality of morphological categories, e.g., of the four declinable parts of speech, of the tenses, persons, numbers and moods, and therefore also demonstrates the existence

of analogy. Varro starts the discussion on the existence of analogy in detail (9,36-110) with a catalogue of restrictions on derivation (9,36-39) similar to that found in the introduction: 1. The thing must exist. It is useless to ask for *terrus, if only

terra

exists (natura). 2. The thing has to be in use to the extent (usus) that one may demand morphological distinctions, e.g., singular and plural among people Terentius / Terentii, but not in the case of faba (bean / beans), where

there is no practical reason for forming the plural (the singular represents a collective plural). 3. The words have to be declinable (as is not the case for letter names) and 4. The evidence for analogy must be externally derivable, e.g., by examining the vocative case (lupus : lepus not = lupo : lepori is not evidence

against analogy, since they have different vocatives: lupe and lepus).5 It is apparent that in defending analogy, one is forced to make important distinctions in linguistic analysis, even in the general approach to the argumentation, in order to explain the suspect analogies. I would like now to present particular examples which show how cleverly Varro (respectively, the speaker of the ninth book) proceeds on this.

In §§ 40-49 six arguments of the 8th book are summarized. It is important to note here the distinction between grammatical and natural gender (9,40-42), so as to clarify the fact that analogy resides only in the phonetic form and not in the essential objective meaning of two words. This is of particular importance, if grammatical and natural gender diverge:

4 5

On9,8-23, esp. on 9,12 (= Aristoph. Byz. fr. 374 Slater), see Ax (1990) [this volume: 116ff.]. Against Fehling (1957: 67 and 84) I am convinced that we have to understand the fourth restriction in combination with 9,39 and 9,91-94 and should read with the Laurentianus 9,37:

et similitudo figura verbi ut sit ea, quae ex se declinata (not with Spengel declinatu) genus

prodere certum possit = "and the resemblance of the word's form should be such that declined from itself (i.e. a case form like vocative or nom. plural cf. 9,94) it can produce a sure class".

Pragmatic arguments in morphology Perpenna

167

Alfena

grammatical gender the same

sound

f

natural gender different

meaning

abies

grammatical gender different

sound

natural gender the same

meaning?

f m —

N

paries

n

Arguments against analogy may therefore refer only to the phonetic form. In § 44 Varro recommends that the oblique case be consulted to ascertain the similarity of words. The ablatives cruce and Phryge demonstrate the dissimilarity of crux and Phryx. In the section "In favour of Analogy in the Case of the Noun" (9,50-94), Varro

rejects analogy's claim to validity with respect to derivation, a claim which applies only for inflection. 51 and 52 contain a counterargument against the demand for case forms in the case of letter names. Like syllables, they belong to the indeclinable words. In spite of this it is still possible to maintain analogy, if one separates case form and case usage. In this situation even words with only one case form have all cases: the A, A's, to the A, the A. Varro rejects the criticism of gender anomaly in 55-62. Analogous to the three genders in nature, three genders are also required in language, as in albus / alba / album. Deficiencies argue against this, e.g.: m | Metellus f Metella n

-

| tragoedus —

Marcus -

| corvus | *corva

"pantherus panthera

--



-

The explanation for these apparent deficiencies is extremely interesting (9,56): Ad haec dicimus, omnis orationis quamvis res naturae subsit, tamen si ea in usum non pervenerit, eo non pervenire verba: ideo equus dicitur et equa: in usu enim horum

discrimina; corvus et quaedam aliter olim columbae, quod non domesticos usus quod

6

corva non, quod sine usu id, quod dissimilis naturae. itaque ac nunc: nam et tum omnes mares et feminae dicebantur erant in eo usu domestico quo nunc, et nunc contra, propter internovimus, appellatur mas columbus, femina columba.

Perpenna, -ae: name of a man, Alfena, -ae: name of a woman: according to Varro's argumentation here, 9,41, and also in 10,27, Perpenna is a man's name with a feminine form (muliebri forma). This contradicts 8,41 and 8,81, where a nonexistent Perpennus is called for.

Both names would therefore grammatically, on the level of sound be feminine (haec Perpenna = haec Alfena), of course not on the level of meaning (man / woman). This argument is obviously not sound, because Perpenna is always used grammatically as hic Perpenna, cf, e.g., M. Perpenna censorius [...) narrare solitus est (Corn. Nepos, Cato 1,1). The second example hic paries, -etis ("house-wall") and haec abies, -etis ("fir-tree") is, however, correct. But this "mistake" is not my point here. Useful in any case is the differentiation of grammatical (genus) and natural gender (sexus).

168

Pragmatic arguments in morphology “To this we say that although the object is basic for the character of all speech, the words do not succeed in reaching the object if it has not come in our use; therefore equus (‘stallion’) and equa (‘mare’) are said, but not corva besides corvus, because in that case the factor of unlike nature is without use to us. But for this reason some things were formerly named otherwise than they are now: for then all doves, male and female, were called columbae, because they were not in that domestic use in which they are now, and now, on the other hand, because we have come to make a distinction on account of their uses as domestic fowl, the male is called columbus and the female

columba."? The fruitfulness of the conditions natura and usus (cf. 9,37) is demonstrated here

with application to a practical example. The first fundamental condition for the linguistic formation of gender is the presence of a dual gender in nature (*terrus / terra). But even then, when dual gender exists in reality (natura), this does not necessarily lead to a corresponding distinction in the language, since this depends on usus. The morphological distinction corresponds to the state of practical familiarity, the utility of objects. This is the reason why, e.g, the gender distinction among domesticated animals (equus / equa) is the rule which, on the other hand ceases to exist corresponding to the animals’ lack of utility from the point of view of man (corvus / *corva). And this "cultural" condition of usage (usus) has of course also a historical dimension. Non-domesticated species of animals are not distinguished according to gender (columbae), but rather in accordance with their domestication (columbus / columba). The question as to whether the distinction extends to all three genders depends therefore on the natura / usus conditions of the word (9,57-58). Doctus, docta, doctum are acceptable, since natura and usus pass through the three genders, which already natura doesn't do in the case of femina, so that *feminus or *feminum cannot exist. Surdus ("deaf") (9,58), however, can of course modify vir and mulier, whereas in the neuter form it can only modify objects associated with acoustics, e.g., theatrum surdum ("deaf theater"). *Cubiculum surdum ("deaf bedroom") would be nonsense, since it belongs ad silentium, not ad auditum; in contrast, cubiculum caecum (blind, dark bedroom") is quite conceivable, if it has no windows. The use

of the neuter form is therefore restricted by practical circumstances

(natura aut

usus).

The gender distinction in proper names (9,59) is due to usus. Only the names of free citizens in Latium can be categorized in three genders: Terentius vir, Terentia femina and Terentium genus, since membership in a gens is relevant here. This, however, does not apply to the names of slaves and gods, and therefore we are not allowed to expect *Zovem and *Iovam for the son and daughter of Jupiter (9,55). Varro again formulates (9,62) the fundamental principle of the dependence of analogy on practical circumstances and conditions of usus:

7

For text and translation cf. Kent (1951: 480s.).

The

first sentence should,

1 think,

better be

translated as follows: "To this we say that although every object of language (omnis — nominative to res — orationis res) exists in nature (naturae dative to subsit), the words do not reach it, if it has not come in our use."

Pragmatic arguments in morphology

169

Quare quocumque progressa est natura cum usu vocabuli, similiter proportione propagata est analogia [...] “Therefore as far as the nature and the use of a word have jointly advanced, so far has regularity been extended in like manner by a corresponding relationship, [...]” (Kent 1951: 484s.).

Natura and usus are also of help in number anomalies (9,63-69). First of all with respect to the singular. Three types of singular have to be distinguished. There is a natural singular, since the object also counts only as one, equus, and a second one arising from usage, since in human usage several things are connected to form one unit, bigae (“a team of two horses") Plural forms appear in this “conjoined” singular, but they nevertheless denote the singular, e.g., unae bigae (“one two horse team"). A third apparent plural, in reality a singular, is, e.g., utri poetae (“which of both groups of poets", collective singular). The presence of these types of singular forms naturally precludes the existence of corresponding plural forms (9,63-65). Neither can plural forms be formed from measurement and weight nouns due to the intrinsic nature of the material or substance. This is possible only in the case of countable things. There is therefore no plural for acetum ("vinegar") or garum ("fish sauce"), and one does not say *argenta ("*silvers") or *plumba (“*leads”), rather, should the need arise, multum plumbum (“a lot of lead”). However a plural can also be formed for measurable and weighable substances,

if various kinds are involved,

such as vina ("sorts of vine"), aceta ("various kinds of vinegar"), etc. Once again natural and cultural conditions should be observed, before analogies are called for

(9,66-67). Number anomalies in plural have, e.g., cultural and historical causes (9,68-69). The word balneum borrowed from the Greek supplanted /avatrina and appears as the term for public baths exclusively in the plural feminine form balneae, and for private baths only in the neuter singular balneum. The reason for this is that the public baths had two bathrooms separated according to sex, the private baths had only one common bathroom. (Naturally this does not explain the heteroclisis.) Pluralia tantum such as aquae caldae and scalae arose from similar practical and cultural circumstances. Warm medicinal springs and stair steps do not usually occur single. In 9,70-71

Varro defends case anomalies,

but unfortunately

the text here is

lacunary, though 9,75-80 provide somewhat of a replacement. Missing casus recti as in frugis, -i, -em do indeed exist or can be reconstructed analogously (9,75s.). Oblique cases can be formed from Diespiter: Diespitri, Diespitrem, fully valid case forms, even if they are uncommon (9,77). The correct declination class of a noun can be determined by analogy comparisons, if existing forms do not allow reliable conclusions. Fici or ficus ? fici is correct, since nummis : nummi = ficis : fici (9,80). 88 72-73 are directed against the criticism regarding missing comparative and superlative forms (comparison). The forms stultus, stultior, stultissimus do indeed exist, but not /uscus (“one-eyed”) *luscior, *luscissimus, since it is impossible, in the nature of things, to become more one-eyed. It is quite possible, however, to become more stupid. Verbal comparative and superlative forms can therefore only be formed to denote things which can be graded in reality. This also applies to temporal

170

Pragmatic arguments in morphology

concepts such as mornings, evenings and hours, which permit a before and after, but not more. Mane,

*manius, *manissime therefore cannot be called for.

A fundamental methodological error of the anomalists is revealed in the case of numerals (9,81-88) and elsewhere, too. Uniformity cannot be expected between random words, rather only for words belonging to one declination class, not there-

fore for as (“copper piece"), dupondius (“2 copper pieces”) and tressis (“3 pieces”), which all belong to different declination classes. In 9,83 we read:8 Quare quoniam ad analogias quod pertineat non opus est ut omnia similia dicantur, sed ut in suo quaeque genere similiter declinentur |...) “Since therefore so far as concerns the regularities it is not essential that all words that are spoken should be alike in their systems, but only that they should be inflected alike each in its own class (...]" (Kent 1951: 504s.).

The section devoted to the verb extends from 9,95 to 109. Apparent

the tenses (9,96-109) can be explained of the tense series, which is based on having the same aspect, imperfective analogy thus continues to be observed incorrect

didici

correct

tenses discebam didiceram

incorrect

amatus sum

disco

discam

disco | didici

discam didicero

amor

amabor

aspects imperfective perfective

lenses

correct

anomalies in

as stemming from an error in the arrangement a blending of aspects. However, only tenses and perfective tenses, may be listed together; (9,96-97):

aspects

amabar

amor

amatus eram|

amatus sum | amatus ero.

amabor

imperfective | perfective

Apparent defects in the formation of person and tense can again be explained by reference to practical constraints. Imperative forms can only be formed from imperfective tenses lege, legito, legat and do not include all persons (9,101). The suspect equivalency of meaning between active and passive (avare / lavari) (9,105107) is not disturbing, as long as the speaker consistently sticks to the paradigm he has chosen. Moreover there are, upon closer examination, differences in meaning depending upon usage. Lavamur (“we bathe ourselves") is active with respect to the entire body, /avo with respect to body parts, lavo manus, pedes (“I wash (am washing) my hands"). In ail analogy evaluations the determination of the appropriate relevant conjugation paradigms is of decisive importance. It is possible to determine for the second person, whether meo, neo and ruo are conjugated the same: meo meas, neo nes, and ruo ruis show that the three verbs belong to different conjugations (9,109). As regards participles (9,110), analogy is also only maintained for the respective conjugational scheme. 8

as, assis m., dupondius, -ii m., tressis, -is m., but sgl. hoc tressis.

Pragmatic arguments in morphology

171

I find that this is really an impressive panorama of linguistic distinctions for warming us against errors of judgment in morphology. They can be summarized as follows: a comparison of languages (Greek vs. Latin) proves that analogy exists and also demonstrates the universality of morphological categories. Morphological anomalies are explicable and do not therefore annul the analogy principle, since they can be explained with reference to other conditions, that is to say restrictions which are referentially (through natura) or pragmatically (through usus) based. This means that morphological irregularities reside either in the nature of the thing or that they arise through usage which simply renders certain distinctions unnecessary. In addition some objections to morphological anomalies are based on a false generalization of the regulative principles or on lack of theoretical linguistic distinctions. Apparent morphological deficiencies therefore are based on conditions in the

specific area of reality, to which the vocabulary refers, e.g., the lack of gender distinctions (*terrus), the absence of comparative and superlative forms (*luscior) or the formation of the plural (*plumba). The claim to validity of analogy as a regulative criterion does not extend to the entire sphere of morphology, rather only to inflection, not therefore to derivation and composition. Even with regard to inflection the analogy postulate is restricted to the respective relevant inflectional classes. Analogy therefore does not contradict the higher instance of usage (consuetudo). The lack of linguistic insight on the part of the anomalists leads to errors of judgment in morphology, since important structural features of the language such as, e.g., sound (phonetics), meaning (semantics), grammatical and natural gender, natural, conjoined and collective singular, case form and case usage or imperfective and perfective aspect are not distinguished. Varro's pragmatical arguments seem to me the most important of all. They are derived from observations made on the relationship of symbols and symbol-users (usus). The distinction according to speaker-groups is fundamental. Special groups such as orators and poets enjoy a certain licence in the application of analogy in contrast to general usage. Especially poets can ensure the introduction of new forms in the continuous process of language. Furthermore, morphological differentiation is subject to cultural conditions, especially to the status of "utility" of the designated object for human life. The historical dimension ought to be observed here, since language adapts itself to cultural change. The gender distinction in animal names depends on the state of their domestication, that of proper names on the social status of the bearer. Certain pecularities in the formation of number can be explained with reference to the characteristic of the artefact (bigae), to the existence of numerous types of quantitative phenomena (vina) or to certain cultural and historico-cultural conditions, e.g., concerning bathing (balneae, aquae caldae). This very elegant defence of analogy in book 9 succeeds, as I hope to have shown, in important explanations of morphological asymmetries with especially striking pragmatic arguments, which still could be interesting even in modern linguistic discussions. But unfortunately I cannot go into the details of this point here.? 9

In Ax (1978: 246s. [this volume: 20]) I have already mentioned the striking parallels between

172

Pragmatic arguments in morphology

What, however, I would like to do at the end of my paper is to discuss very briefly what could perhaps be said about Varro as a source for the Hellenistic analogy-anomaly-quarrel in the light of the results presented here. There are, as well known, people who believe in the existence of the controversy, for instance Siebenborn (1976) and Ax (1991), and others who do not, such as Fehling (1956-

1957), Taylor (1987) and Blank (1994).19 Of course, I cannot discuss the whole set of pro- and contra-arguments here. The only point I would rather like to discuss is whether I am right to think that my results could perhaps be used as evidence in favour of the existence of that controversy. There can be, I think, no doubt that passages like L.L. 9,36-39 and 9,50-94 are

based on a remarkably high linguistic level. The first question therefore must be whether this is the result of Varro's own linguistic capability or just a merit of his Greek or Latin sources. The answer to this question depends on how far one is willing to trust Varro as a linguist and author of technical literature. There are, as is

well known, two very opposite positions in the research on Varro's L.L.: at one extreme you will find Fehling (followed later by Blank) blaming Varro for his total linguistic incompetence and dishonesty in blowing up moderate Hellenistic discus-

sions on morphology into a quarrel which never existed.!! At the other extreme you have Taylor (with a certain support from Cavazza [1981] and Pfaffel (1987]) who has the utmost trust in Varro being an original and independent linguistic thinker who initiates an admirable method of describing the Latin language which was unknown up to his own time and which became a model for later grammarians.12 Let us see now what consequences each position will have for our appreciation of the passages discussed here. If Varro really is a scientific fool, a dishonest technical author and a bad borrower of earlier thought, as Fehling claims, then the consequence must be: he cannot have invented these passages, but must have borrowed them. And if so, then there must have been, even if we suppose intermediate Roman sources,!3 Greek sources of high quality, which provided him with the linguistic arguments and counterarguments interchanged in books 8 and 9. And there are indeed certain indications in Varro's text that some of them in fact go back

10

11 12 13

Varro's L.L. 9,56 and corresponding observations in modern semantics. Concerning modem morphology my friend and colleague Dieter Cherubim (Göttingen), who is an expert in both ancient grammar and modem German linguistics, told me that today mainly the viewpoint of pragmatical control is of interest, which could be easily illustrated by examples, e.g., the contemporary feministic debate of gender motivation. I would like to thank him for his useful information. Cf. pro: Siebenborn (1976: 97-104, esp. 98, n. 1), Ax (1991: 289-295 [this volume: 109-114]) and Cavazza (1981: 106-116, esp. 114s.); contra: Fehling (1956-1957: passim), Taylor (1987: 6-8), Blank (1994: 149-158). For further references see Ax (1991: 294 with n. 90 [this volume:

113]). Cf. also Schenkeveld (1994: 287). Cf. Fehling (1956: 218, 267-270; 1957: 49-51, 91-100), Blank (1982: 1-4) and Blank (1994: 1525.) Cf. Taylor (1975, 1988, 221s.) See note 15.

1991). See also Cavazza (1981:

13-15) and Pfaffel (1987: 208 and

Pragmatic arguments in morphology

to Hellenistic origins (cf. Crates 8,64; 68; 9,1; Aristarchus

173

8,63; 68; 9,1; 9,43;

9,91).14 If on the other hand we believe in Taylor's linguistic genius Varro, then it is indeed possible to think that the entire passages under discussion are Varro's own. But in this case I find it difficult to explain other passages just mentioned, where the names of Crates and Aristarchus occur, esp. 9,1, and also general passages like 8,23, where Varro says: de eo Graeci Latinique libros fecerunt multos.\5 And even in the passages I have discussed here we can find clear hints on the Greek origin of Varronian arguments. For instance: the admirable catalogue of the four restrictions of word-declination (9,37s.) in part 3 and 4 certainly goes back to Aristarchus and Crates (3: declension of letter names = Crates 8,64 and 4: vocative as support for

analogies = Aristarchus 9,91s.).16 Let us now ask the second question, namely, whether according to these two opposite judgments on Varro’s linguistic capability the quarrel should have existed or not. Strange enough to say, if we follow Fehling, we have only the option to 14 15

For further information, see Ax (1991: 290-293 [this volume: 109-112]). Cf. also 9,111; 10,1; 10,9. Greek authors on linguistic analogy are probably already Aristophanes and Aristarchus (see Ax 1991: 281s. and 287s. [this volume: 100-102 and 107]), certainly their pupils Ptolemaios Pindarion (cf. Sext. Emp. adv. math. 1 203-205), Dionysios Sidonios and Parmeniskos (cf. Varro L.L. 10,10). We should not forget either that in the original Tékhné of Dionysios Thrax there was as μέρος γραμματικῆς an ἀναλογίας ἐκλογισμός (cf. Sext. Emp. adv. math. 1 250). In the middle of the first century B.C. Philoxenos, Tryphon and Didymos, contemporaries of Varro, wrote a lot about analogy, esp. Tryphon. Several works

on analogy of Tryphon are known at least by title, e.g., περὶ τῆς ἐγκλίσεως ἀναλογίας (cf. De Velsen, Chapter IV, p. 23 in his collection of Tryphon's fragments: De argumento nihil traditum; non ambigendum tamen, quin Trypho in iis quoque substantivis, quae fere anomala vocitantur, analogiam quandam valere demonstraverit). On Latin analogy we have even three authors before Varro's L.L.: Antonius Gnipho (ca. 110-60 B.C.), Staberius Eros (died after 65 B.C.) and I. Caesar (100-44 B.C.). Gnipho, Caesar's teacher, came from Alexandria to Rome and was certainly an analogist. He wrote two books de sermone Latino, in which analogy must have played an important role (cf. fr. 4 G.R.F. Funaioli). Staberius Eros, the teacher of Brutus and Cassius, wrote de proportione = On analogy (see G.R.F. p. 106s. Funaioli, and Papke [1988: 21-26]) and I. Caesar wrote in 54 B.C. his famous de analogia in two books (a work which is now comprehensively treated by Papke [1988]). To these works before Varro can be added Varro's 5 books de sermone Latino (before 45 B.C.), where analogy certainly was discussed (cf. Fehling 1956: 232). The testimonia and fragments of the mentioned Latin authors can easily be found in Funaioli's Grammaticae Romanae fragmenta. There is, I think, no doubt that there was a vivid discussion on analogy both in Greek and Latin technical literature before and in the time of Varro. Cf. also Ax (1991: 294s. [this volume: 113s.]). I would therefore like

to say that Varro in L.L. 8,23 is totally right.

16

But part 1 (natura) and 2 (usus) may also go back to Greek discussions on the φύσει- or θέσειcharacter of language, as Fehling supposed, comparing Sext. Emp. adv. math. | 148-154

(Fehling 1957: 70s.). In the same context of the older linguistic φύσει- and Oécev-discussion belongs also the distinction of genus analogiae naturale and voluntarium, as L.L. 9,34 clearly shows. There is no analogy in language: in verbis non esse (sc. analogias), quod ea homines ad suam quisque voluntatem fingat, itaque de eisdem rebus alia verba habere Graecos, alia Syros, alia Latinos. The distinction of naturalis and voluntaria concerning analogy must therefore be older than Varro's introduction of declinatio voluntaria and naturalis in L.L. 8,21 and only the transfer of naturalis on the inflection part of morphology may be new and Varro's own (cf. ego ... puto in 9,34).

174

Pragmatic arguments in morphology

conclude that the quarrel existed, for then the very elegant and sophisticated arguments and counterarguments given in Varro's morphology are most probably not due to him but already to his Greek sources, which provides in my opinion a very strong evidence that already in the times of Crates and Aristarchus there was at least a morphological “discussion” at a high linguistic level and to a considerable extent. If on the other hand we follow Taylor, we are surely not obliged to suppose a quarrel, because it is then more probable that the whole text, the passages of high quality of course included, are of Varronian origin and hence there is no need to transfer the pro-and-contra-analogia-discussion back to earlier Greek sources. If I am finally allowed to express my own opinion here, then I would like to say that, especially after examining the passages mentioned above, I am now as before convinced that there was a controversy between Aristarchus and Crates, even if we should never be able (and I think we are not) to reconstruct the analogy-anomalycontroversy in its full extent. I do not believe either in Fehling's linguistic fool Varro or in Taylor's original genius of linguistics, and I suppose that as everywhere and always the truth lies in between. Varro was surely a better linguist and author than Fehling thought, because Fehling, who saw only Varro's "mistakes", started from presuppositions which are now outdated or at least controversial (e.g., the authenticity of the Tékhné) and did not take into account the genesis and special literary character of Varro's work.!7 On the other hand Taylor, who has his merits in concentrating on the text of De lingua Latina and correcting the exaggerated approach with methods of Quellenforschung, has, as it seems to me, too much trust in Varro's originality and linguistic competence and thinks too little of the results of the Quellenforschung, which always have to be kept in mind when we study Varro.!8 Whatever we think of Varro's linguistic competence, I would be very cautious about claiming that Varro is original, i.e., independent of the grammatical, esp. of the Greek tradition before him. I am, however, sure, as I have already argued, 17

18

See esp. Ax (1995) [this volume: 140ss.]. I think that many of Fehling's criticisms of Varro's “mistakes” esp. in the second part of his study (1957) can be rejected. Others, esp. the inconsistencies in the structure and disposition of the three books, remain, unless one tries to explain them as caused by the dialogue character of books 8 and 9 or by an edition of an unfinished treatise after Varro's death, as I have tried to do in Ax (1995) [this volume: 140ss.]. Even if we cannot identify any Greek sources, we can in no case be sure that there are none and therefore Varro is original. For nearly all features of the Varronian description model which Taylor appreciates so much (e.g., impositio, declinatio, coniunctio verborum; genus fecundum, sterile; declinatio naturalis; voluntaria) a Greek origin is claimed in the older esp. German Quellenforschung (e.g., Barwick, Dahlmann, Mette, Fehling, Siebenborn) and these results have always to be checked carefully (See also note 16 above). On the other hand there is of course a meritorious originality in Varro's application of the Hellenistic theories and methods on Latin — necessarily, because every Roman grammarian has to describe a lot of peculiarities of his own language, which have no model in Greek. So far I would agree with Taylor. Concerning the general quality of Varro as a linguist and technical author I would say, that even if we could reject many of Fehling's objections, there are, as I have already remarked in the previous note, deficiencies and inconsistencies enough — cf., e.g., L.L. 9,8-23 and my commentary on this passage in Ax (1990: 4-6 [this volume: 116s.]) — to conclude that there is no literary and linguistic genius at work. The only way to save Varro's reputation is to prove, as I always incline to do, because I like him, that the text as we have it now is unfinished and published not before but rather after Varro's death.

Pragmatic arguments in morphology

175

that especially in the "good passages" I have discussed here Varro leaves clear traces of a morphological discussion of high quality in the second century of Hellenistic Greece which was too sophisticated to have been invented even by a brave Roman author like Varro.

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WISSEN UND HANDELN EIN BEITRAG ZUM VERSTANDNIS DES 14. KAPITELS DER ARISTOTELISCHEN POETIK (1453 B 26 — 54 A 9)

Im siebten bis vierzehnten Kapitel der Aristotelischen Poetik geht es im Rahmen der Tragódientheorie (Kap. 6-22) um die richtige Handlungsführung in der Tragódie, den Mythos. Verschiedenste Aspekte des Mythos werden behandelt, wie die folgende Gliederungsskizze zeigt: Kap.

7-14 7. 8. 9. 10. 11.

Mythos (μῦθος = σύστασις τῶν πραγμάτων) Ganzheit und Größe (ὅλον / μέγεθος) Einheit der Handlung (£v) Gegenstand des Mythos: das Allgemeine (τὸ καθόλου) Einfache und komplexe Handlungen (μῦθοι ἁπλοῖ, πεπλεγμένοι) Peripetie, Anagnorisis, Pathos (περιπέτεια, ἀναγνώρισις, πάθος)

12.

Die quantitativen Teile (πρόλογος, ἐπεισόδιον, ἔξοδος, πάροδος, στάσιμον etc.)

13-14

Modelle des Handlungsverlaufs und ihr Verhältnis zu φόβος und

ἕλεος! In Kapitel 13 und 14 sollen nun die in 7-12 erarbeiteten allgemeinen Charakteristika des Mythos in eine Prüfung von tragischen Handlungsverläufen eingebracht werden. In Kapitel 13 wird daher zunächst durchgespielt, welche Möglichkeiten des Handlungsverlaufs sich aus der Kombination des Glückswechsels und der moralischen Qualität des Handelnden ergeben und welche Handlungskurve am ehesten die

erwünschte Mythos,

Wirkung von φόβος

und ἔλεος zu erzielen verspricht:

in dem ein Charakter mittlerer moralischer Qualitit

Glück ins Unglück erlebt, wie z.B. Odipus.

Im

14. Kapitel

einen

wird

Es ist ein

Wechsel

zunüchst

vom

der

Gedanke eingefügt, daß die Wirkung des φοβερόν und ἐλεεινόν nicht durch die Inszenierung, sondern durch die Handlung selbst zustandegebracht werden solite (1453b1-14). Doch welche Ereignisse bringen diese Wirkung in der Tragódie hervor? (1453b14f.) Der Antwort auf diese Frage gilt der Abschnitt 1453b15-26: Ein Pathos, ein schrecklicher Vorfall, etwa eine Verwundung oder Tótung?, kann zwischen Feinden, sich Nahestehenden (Verwandten oder Freunden) oder zwischen Leuten, die in dieser Hinsicht neutral sind, stattfinden. Aber nur ein Pathos, das sich unter nahestehenden Menschen ereignet, z.B. ein Bruder- oder Muttermord, kommt für die

Tragódie in Frage, weil nur hier die gewünschte Wirkung von φόβος und ἔλεος | 2

Dazu gehören natürlich noch die Nachträge zum Mythos in Kap. 16-18. Definiert wurde das Pathos als dritter Teil des Mythos neben Anagnorisis und Peripetie in Kapitel

11 (1452b9-13), b11-13: „Das schwere

Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches

Geschehen, wie z.B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und der-

gleichen mehr." (πάθος δέ ἐστι πρᾶξις φθαρτική ἢ ὀδυνηρά, olov of te ἐν τῷ φανερῷ θάνατοι καὶ αἱ περιωδυνίαι καὶ τρώσεις καὶ ὅσα τοιαῦτα.) Diese und weitere Übersetzungen nach: Aristoteles, Poetik, griechisch/deutsch, übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann (Reclams Universal-Bibliothek, 7828), Stuttgart 1982, hier S. 37.

Wissen und Handeln

177

zustandekommen kann. Der nächste Abschnitt (1453b26-54a9) behandelt nun folgerichtig das Problem der möglichst wirkungsvollen Gestaltung solcher Pathos-Situationen unter Nahestehenden in der Tragódie. Um diesen Passus soll es hier vor allem gehen.

Der fragliche Textausschnitt gliedert sich in einen systematischen (1453b27-37) und einen wertenden Teil (1453b37-54a9). Der erste, systematische Teil führt die möglichen Pathos-Fälle vor, die sich aus der Kombination von Wissen des Täters oder Tatwilligen (d.h. seiner Kenntnis oder Unkenntnis der beteiligten Personen und Umstände der schrecklichen Tat) und Handeln (d.h. der Ausführung oder Nichtausführung der schrecklichen Tat) ergeben. Der wertende Teil nimmt die im Systematikteil erarbeiteten Fülle wieder auf und ordnet sie in eine vom schlechtesten zum besten

Fall der Pathosgestaltung aufsteigende Werteskala ein.3 Im Systemteil (1453b27-37) werden insgesamt drei Móglichkeiten der Pathosgestaltung vorgeführt, von denen nur die ersten beiden auch Beispiele erhalten. Der erste Fall unterstellt dem Handelnden Einsicht in die Tatumstände und läßt ihn die Tat ausführen, so wie die Medea des Euripides, die ihre eigenen Kinder in voller Kenntnis der Situation tótet. Im z weiten Fall führt der Handelnde die Tat in Unkenntnis der Tatumstände aus und kommt erst nach vollzogener Tat zur Erkenntnis. Dabei wird natürlich zuerst an den Vatermord des Odipus bei Sophokles erinnert. Der dritte Fall ist etwas komplizierter. Jemand plant ohne Einsicht in die Tatsituation etwas Leidvolles, kommt aber vor der Tat zur Erkenntnis und handelt dann nicht. Hier nennt Aristoteles kein Beispiel, aber dies kann leicht aus der

Wiederaufnahme im wertenden Teil ergänzt werden. Es ist der jeweils durch Anagnorisis verhinderte Sohnes- oder Brudermord der Merope im Kresphontes und der Iphigenie in der /phigenie bei den Taurern des Euripides. Weitere Möglichkeiten als diese drei gibt es laut 1453b36f. nicht: „Denn notwendigerweise führt man die Tat entweder aus oder nicht, und zwar wissentlich oder nicht wissentlich." (ἢ yap

πρᾶξαι ἀνάγκη ἢ μὴ καὶ εἰδόταςἢ μὴ εἰδότας). Der wertende Teil (1453b37-54a9) beginnt zunächst überraschenderweise mit einem Fall, der im Systemteil

nicht erwähnt

worden

ist. Jemand

plant

in voller

Kenntnis der Situation eine Tat und führt sie dann nicht aus, wie z.B. Haimon in der Antigone des Sophokles, der den Vater tóten will, diesen aber, weil er flieht, verfehlt

und daraufhin sich selbst den Tod gibt. Diese in der tragischen Produktion eher seltene und hier nur in der Nebenhandlung vorkommende Möglichkeit halt Aristo3

4

Ahmlich ist die doppelte Präsentation der sechs qualitativen Teile der Tragödie im sechsten Kapitel angelegt. Sie werden zunächst gewissermaßen von außen nach innen vorgeführt (1449b21-1450a14) und dann in eine Reihe abnehmender Wichtigkeit umgeordnet (1450a15b20). Vgl. Fuhrmann, Poetik (vgl. Anm. 2), S. 109f. (Kap. 6, Anm. 5). lchübergehe dabei zunächst die Unterscheidung von 1453b31-34, wonach sich ein Pathos dieses Typs außerhalb der Bühne oder auf der Bühne selbst abspielen kann. Als Beispiele für das Pathos auf der Bühne selbst nennt Aristoteles die nicht erhaltenen Tragödien Alkmeon von Astydamas,

5 6

in

der

Alkmeon

in

Unkenntnis

der

Situation

seine

Mutter

tötet,

und

den

Verwundeten Odysseus des Sophokles (?), in dem Telegonos den Vater Odysseus unwissentlich tödlich verwundet. Vgl. Fuhrmann, Poetik (vgl. Anm. 2), S. 119f. (Kap. 14, Anm. 6). Als drittes Beispiel wird die Auslieferung der unerkannten Mutter an die Feinde durch den eigenen Sohn in der sonst unbekannten Tragödie Helle genannt (1454a7-9). Vgl. Sophokles, Antigone, V. 1231-1243. Der Vorgang wird durch einen Boten geschildert.

178

Wissen und Handeln

teles für die schlechteste (χείριστον), weil sie ein μιαρόν, etwas Abscheuliches?, aber kein τραγικόν, keine tragische Wirkung aufweise, denn sie sei ἀπαθές, ihr fehlt also das zur tragischen Wirkung nótige Pathos-Ereignis (1453b38f.). Der zweite,

bessere Fall (δεύτερον) wurde wie die beiden noch fehlenden Falle schon im Systemteil erwähnt: Es ist der Fall des wissentlich ausgeführten Verwandtenmordes. Eine Begründung und Beispiele für diesen Platz in der Werteskala werden allerdings hier nicht gegeben, aber es läßt sich leicht auf das Beispiel ,,Medea" im Systemteil (1453b29) zurückschlieBen. Es folgt auf dem nächsten Rang an dritter Stelle

(βέλτιον) der Fall „Ödipus“, die unwissentlich ausgeführte Tat mit nachträglicher Erkenntnis, wieder ohne Beispiel, aber mit Begründung: Dieser Fall hat kein μιαρόν

und die Anagnorisis „ruft Erschütterung hervor“ (ἐκπληκτικόν). Die beste Möglichkeit (κράτιστον) ist laut Aristoteles der Fall „Iphigenie“, die in Unkenntnis der Situation die Tótung ihres Bruders plant, sie aber nach erfolgter Anagnorisis nicht ausführt. Wie schon erwähnt, werden diesem Fall sogar drei Beispiele mitgegeben, aber — leider — wird keinerlei Begründung für den ersten Rang geliefert. Es ergibt sich also folgendes Bild: Systemteil (1453b27-37)

Wertender Teil (1453b37-54a9) l. Wissentlich handeln dann nicht handeln:

wollen Haimon

und

4. Rang (χείριστον) Begründung: μιαρόν, ἀπαθές l.

Wissentlich

handeln:

2. Unwissentlich

Medea

handeln

und

2. Wissentlich handeln: [Medea] 3. Rang (δεύτερον) Begründung:— dann|

3. Unwissentlich

erkennen: Odipus

Begründung: Kein zeugt Schrecken 3. Unwissentlich erkennen

und

deln: [Iphigenie]

handeln

und

dann

erkennen: [Ödipus] 2. Rang (βέλτιον)

handein dann

wollen,|4.

nicht

han-

μιαρόν,

Anagnorisis

Unwissentlich

handeln

erkennen

dann

und

er-

wollen,

nicht

han-

deln: Iphigenie

1. Rang (κράτιστον) Begründung:-[] = Beispiel ergänzt

Die systematische Reihe (S 1-3) wird also, wie schon anfangs bemerkt, im wertenden Teil in derselben Reihenfolge erneut abgehandelt, hier aber — unter Hinzufügung eines neuen, vierten Falles — in eine neue wertende Rangfolge (W 1-4) umgeordnet:

7

Zum Begriff des μιαρόν vgl. den Kommentar von D. W. Lucas, Aristotle, Poetics. Introduction, commentary and appendixes, Oxford 1968, S. 153 (zu 53b39) und Fuhrmann, Poetik (vgl. Anm. 2), S. 117 (Kap. 13, Anm. 3) und S. 120 (Kap. 14, Anm. 8).

Wissen und Handeln

S1



Medea

S2



Odipus

S3

— _

Iphigenie

Wi

179



Iphigenie

(Ξ5

3)

W2



Odipus

(=S 2)

W3 W4

— —

Medea Haimon

(7S 1) (= 6)

Nach dieser Zusammenstellung scheint der Schluß unausweichlich, daß Aristoteles im Systemteil den Fall W 4 — Haimon unterschlagen hat, eine Unterlassung, die um so wahrscheinlicher wird, als das System im Wertungsteil auf den ersten Blick geschlossener wirkt als das des Systemteils: Auf zwei Fälle des wissentlichen Handelns oder Handelnwollens (W 4 und 3) folgen zwei Fälle des unwissentlichen Handelns oder Handelnwollens (W 2 und 1). Es ist kaum verwunderlich, daß diese ganz offensichtliche Unstimmigkeit die Interpreten seit Johannes Vahlen in nicht geringe Schwierigkeiten gebracht hat. In den Beiträgen zu Aristoteles’ Poetik von 1866 vertritt Vahlen die Ansicht, daß

Aristoteles den Fall Haimon (W 4) tatsächlich in der ersten Aufzählung (S 1-3) übergangen haben müsse, „was dadurch nicht hinreichend begründet ist, daß er in der folgenden Abschätzung als untragisch abgewiesen wird“.8 In diesem Fall bleibt nur die Annahme einer Textlücke, und so soll der Text von 1453b34-36 ursprünglich gelautet haben: ἔτι δὲ τρίτον παρὰ ταῦτα (τὸ μελλῆσαι γινώσκοντα xoi μὴ ποιῆσαι καὶ τέταρτον) τὸ μέλλοντα ποιεῖν τι τῶν ἀνηκέστων δι᾽ ἄγνοιαν ἀναγνωρίσαι πρὶν ποιῆσαι. Außerdem gibt es noch eine dritte Möglichkeit: (Jemand will wissentlich handeln und handelt nicht, und eine vierte:) Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt.

In der 1885 erschienenen dritten Auflage seiner Poetikausgabe hat Vahlen diese bis heute durchaus ernstgenommene Lückenthese? überraschenderweise wieder annulliert, und zwar genau mit dem Argument, das er in den Beitragen als unzureichend zurückgewiesen

hatte:

Aristoteles

habe den

Fall

„Haimon“,

so

Vahlen,

bewußt

ausgelassen, weil er ihn für untragisch hielt. Aber Vahlen fügt an gleicher Stelle noch ein weiteres Argument hinzu, das aufhorchen läßt: Ein Blick auf Physik V, Kap.

1,

225al-11 zeigt, daB die aus den Kriterien Wissen und Handeln gewonnene Vierergruppierung nur drei Möglichkeiten zuläßt.10 Ich komme darauf zurück. 1907 übernimmt Samuel Henry Butcher die Konjektur Vahlens, ohne irgendwo erläuternd

darauf einzugehen.!! Gegen Vahlen sieht 1909 Ingram Bywater keinen Grund zur 8

Beiträge zu Aristoteles’ Poetik, 4 Hefte, Wien 1865-1867, Heft 2 (1867 = Sitzungsberichte der

kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien Bd. 52 / 1866, Wien 1867, S. 89-175), S. 2327, hier S. 23; neu hrsg. von Hermann Schóne, Leipzig / Berlin 1914; Nachdruck: Hildesheim

1965, S. 50-54, hier S. 51. 9

Vgl. z.B. den Apparat zu 1453b34 in der Ausgabe von Rudolf Kassel (Aristotelis de arte poetica

10

Aristotelis de arte poetica liber, Leipzig 31885 [11867], S. 161, Anm.

11

Aristotle’s Theory of Poetry and Fine Art. With a critical text and a translation of the Poetics,

liber, Oxford 1965, S. 22) oder Fuhrmann, Poetik (vgl. Anm. 2), S. 120 (Kap. 14, Anm. 7). London 41907 [11895], S. 50.

180

Wissen und Handeln

Annahme einer Lücke, übergeht aber im Kommentar das Problem stillschweigend.2 1934 versucht Alfred Gudeman in seinem Poetikkommentar eine neue Lésung.!3

Gestützt auf den Text von Σ, TV und MV14 unterstellt er anders als Vahlen im Text eine Lücke nach 1453b29 (Μήδειαν: und füllt sie mit den Worten (ἔστι δὲ μὴ πρᾶξαι εἰδότας) („Es ist aber auch möglich, wissentlich nicht zu handeln"). Die von 1453b36f. her geforderten vier Fülle würen somit im Text vorhanden, natürlich mit

der Folge, daß dann das τρίτον von

1453b34

gestrichen oder in ein τέταρτον

geändert werden müßte. Es ergäbe sich damit im Systemteil die Folge Medea (S 1),

Haimon (S 2), Ódipus (S 3) und Iphigenie (S 4).15 Gudeman erläutert seine Textgestaltung im Kommentar (S. 261) und im ,,Kritischen Anhang" (S. 467) wenig klar und schlecht dokumentiert. Der von Vahlen wieder geltend gemachte Einwand gegen die Lückenthese, Aristoteles habe mit der Auslassung seinem Werturteil vorgegriffen, wird dabei als „absurdes Verlegenheitsprodukt" (S. 261) zurückgewiesen.

Augusto Rostagni beläßt es 1945 in der zweiten Auflage seiner Ausgabe bei dem überlieferten Text und wiederholt im wesentlichen den schon bekannten Einwand

gegen die Lückenthese: Die Möglichkeit

W 4 — Haimon sei ἀπαθές (senza cata-

strofe^) und müsse daher, weil sie gar nicht oder selten vorkomme, ausgeschlossen

werden.!6 Ausführlich befaßt sich 1957 Gerald F. Else mit unserer Stelle.!7 Seine Überlegungen bestitigen die Auffassung Gudemans, wonach Aristoteles ursprünglich auch im Systemteil vier Möglichkeiten berücksichtigt haben müsse. Es ist also eine Textlücke anzusetzen, für deren Füllung ihm Gudemans Vorschlag am plausibelsten erscheint (S. 418f.). Damit ist noch kein Fortschritt über Gudeman hinaus erzielt. Und doch gibt es zwei äußerst wertvolle weiterführende Hinweise bei Else: Mit Hilfe eines Diagramms der möglichen Kombinationen von Wissen und Handeln gelingtes Else erstens, die Entdeckung von Vahlen (s.o. S. 179, Anm.

10) entschei-

dend zu verdeutlichen: Es ergibt sich eine vierte, leere, abstrakte Kategorie, die vernachlässigt werden kann (S. 419). Und zweitens wird Else am Diagramm klar, daß der Fall Iphigenie (S 3 / W 1) kein einfacher, sondern ein zusammengesetzter Modus ist (S. 420). Es ist schade, daB Else diese wichtigen Verdeutlichungen und Neuan-

12

Aristotle on

the Art of Poetry.

A revised text with

critical introduction,

translation and

commentary, Oxford 1909, S. 40 und S. 223.

13

Aristoteles, Περὶ ποιητικῆς. Mit Einleitung, Text und adnotatio critica, exegetischem Kommentar, kritischem Anhang und indices nominum, rerum, locorum, Berlin / Leipzig 1934, S. 49 (Text), S. 256-258 (Beispiele für die vier möglichen Pathosfälle in Tragódien), S. 261 (Kommentar zur Stelle 53b26) und S. 467 (Kritischer Anhang zur Stelle 53b34).

14

Laut Gudemans Sigla (Περὶ ποιητικῆς, S. 29) ist Z die arabische Übersetzung und sind TY und MY lateinische Übersetzungen. Der griechische Wortlaut stammt also von Gudeman.

15

Diese Reihenfolge ist schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil Aristoteles, wie oben S.

178f.

erläutert, offensichtlich in beiden Teilen die gleiche Reihenfolge (nicht die Rangordnung) beibehalten will, wie man übrigens längst vor Gudeman gesehen hat (vgl. Vahlen, Aristotelis de arte poetica liber [vgl. Anm.

10]), S. 162). Außerdem übersieht Gudeman völlig die von Vahlen

S. 161 angedeutete Warnung, daf nicht vier, sondern nur drei Fülle vom System her gefordert werden, das Postulat eines vierten Falles also womdglich verfehlt ist (s. oben S. 179, Anm. 10). Ich komme später darauf zurück. 16

La Poetica di

Aristotele.

Con

introduzione,

commento

e appendice

(11927), S. 80. 17

Aristotle’s Poetics. The Argument, Leiden 1957, S. 417-423.

critica,

Torino

71945

Wissen und Handeln

181

sätze nicht dazu nutzt, über Gudemans Position hinauszukommen. Lucas begnügt sich 1968 in seinem Aristoteleskommentar damit, die Aporie der Stelle kurz darzustellen und auf Gudemans Lósung zu verweisen, ohne sich wirklich darauf festzulegen.!8

In letzter Zeit hat sich Werner Söffing in seinem Poetikbuch von 1981 auch um das 14. Kapitel bemüht.!9 Er behandelt hier das thematische Problem der Pathosgestaltung (S. 122-125), dann die drei Figurenkonstellationen (S. 125), die hier interessierenden vier Konstellationen von Handeln und Wissen (S. 126-128) und schließlich das Problem der Bewertung dieser vier Möglichkeiten durch Aristoteles (S. 128f.). Unsere vier Fülle werden dem wertenden Teil von 1453b36-54a9 folgend in einer nützlichen Tabelle (S. 127) dargestellt und mit dem Hinweis auf „eine leichte Unstimmigkeit" kommentiert, daß nämlich im „ersten Durchgang (1453b27-36) nur drei Modelle vorgeführt werden, bei der anschließenden Bewertung jedoch plötzlich von vier Modellen die Rede ist (1453b37-54a9)“ (S. 128). Zur Lösung dieses Problems schließt sich Söffing ohne nähere Diskussion dem Vorschlag Gudemans, also der Annahme einer Textlücke nach 1453b29, an (S. 128). Man

sieht

also,

daß,

soweit

ich die

Erklärungsversuche

zu

unserer

Stelle

übersehe29, die Deutung im Grunde auf dem Stand von Gudeman stehengeblieben ist.2! Um Aristoteles nicht dem Vorwurf der Flüchtigkeit oder mangelnder gedanklicher Kohárenz auszusetzen, wird eine Textlücke unterstellt, die dann das so offen-

sichtlich Fehlende abdeckt. Der letzte Zeuge für diese Ansicht ist Fuhrmann, der in einer Anmerkung seiner Poetikausgabe von 1982 die Meinung äußert: Aristoteles hätte eigentlich noch eine vierte Möglichkeit erwähnen müssen, mit der er sich im folgenden Absatz an erster Stelle befaBt: Jemand plant eine Tat in vollem Wissen von deren Bedeutung und führt sie dann nicht aus. Die Unstimmigkeit ist wahrscheinlich durch einen Textverlust in der handschriftlichen Überlieferung

verursacht.2? 18 19

Poetics (vgl. Anm. 7), S. 152. Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles (Poetica Beihefte, 15), Amsterdam 1981, S. 122-129. Zu vergleichen ist auch Ada Babette Neschke, Die Poetik des Aristoteles. Textstruktur und Textbedeutung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1980, Bd. 1, S. 142-149,

bes. S. 148f. Sie geht allerdings nicht auf das Problem der Vertrüglichkeit von System- und Wertungsteil ein.

20

Neben der bisher genannten Literatur habe ich noch eingesehen: Aristote, La poétique. Le texte grec avec une traduction et des notes de lecture, hrsg. von Roselyne Dupont-Roc und Jean Laliot, Paris 1980; Domenico Pesce, Aristotele, La poetica. Introduzione, traduzione, parafrasi e note,

Milano

1981

und

Stephen

Halliwell,

The

Poetics

of

Aristotle.

Translation

and

commentary (Paperduck), London / Chapel Hill 1987. Nur Dupont-Roc / Lallot gehen auf das engere Problem dieses Aufsatzes ein. Sie liefem im Kommentar (S. 256f) eine (wenig übersichtliche) Tabelle und bleiben ansonsten bei der traditionellen Erklärung des Gegensatzes zwischen System- und Wertungsteil. Vom

Titel her würde sich noch anbieten: Viviana Cessi,

Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles (Beiträge zur Klassischen Philologie, 180), Frankfurt a. M. 1987. Aber die Arbeit behandelt ausschlieBlich das 13.

Kapitel der Poetik und die àsaptia-Problematik. 21 22

Von Gudeman wohlgemerkt, denn Vahlen war ja von seiner eigenen abgerückt (s. oben S. 179, Anm. 10). Fuhrmann, Poetik (vgl. Anm. 2), S. 120 (Kap. 14, Anm. 7).

Lückenthese

wieder

182

Wissen und Handeln

Ist damit nun wirklich der Stein der Weisen für die schwierige Partie 1453b26-54a9 gefunden? Zur Beantwortung dieser Frage muß der gesamte Textausschnitt noch einmal geprüft werden, zunächst der Systemteil (1453b27-37): Aristoteles geht von einem System mit zwei jeweils positiv oder negativ gepolten Merkmalen (+ Handeln/+ Wissen) aus (1453b36f.). Aus der Kombination dieser Merkmale ergeben sich vier mögliche Fälle: System

+ Wissen

— Wissen

+ Handeln

S 1 Medea

|S2 Ódipus

— Handeln

S 3 Iphigenie|S 4 ©

Die Skizze zeigt deutlich, daß nur drei Fülle, S 1 bis S 3, für die Erörterung der Handlungskonstellationen in Frage kommen, denn S 4 (Nicht-Wissen und NichtHandeln) ist eine bloD abstrakte, leere, inhaltlose Kombination, die in einer Tragódie natürlich nicht realisiert werden kann. Ein tragischer Held, der unwissentlich nicht

handelt, ware eine Absurdität.23 Es verbleiben also die drei Möglichkeiten: S 1 Medea:

* Wissen

* Handeln

S 2 Ödipus:

- Wissen

* Handeln

S3 Iphigenie:

+ Wissen

— Handeln

Diese Zusammenstellung ist allerdings noch bei weitem nicht genau genug. Zunüchst muß S 2 noch die Anagnorisis (= A) nach vollzogener Tat beigegeben werden. AuBerdem wurden ja zwei Varianten von S 2 genannt, denn das Geschehen kann sich außerhalb der Bühne oder auf der Bühne selbst abspielen. S 2 müßte also genauer lauten: S2

:

— Wissen

+ Handeln / A

2a Ódipus

:

auflerhalb der Bühne

2b Alkmeon

:

aufderBühne

Komplizierter ist der Fall S 3. Er ist nur vom Effekt her an der Systemstelle S 3 (+ Wissen / - Handeln) einzuordnen, aber damit noch nicht vollständig erfaßt. Das Nichtzustandekommen des Handlungsvollzugs setzt námlich einen Vorsatz, den Plan

zum Handeln, voraus. Man

muB also bei S 3 Planung und Ausführung der Tat

unterscheiden, wie Aristoteles das selbst durch das μέλλοντα von 53b34f. andeutet.

Wenn man den Fall „Iphigenie“ so ausführt, erlebt man eine Überraschung: S 3 ist,

wie

bereits

von

Else

erkannt24,

kein

einfacher,

sondern

ein

aus

zwei

Möglichkeiten des Systems „Wissen / Handeln“ zusammengesetzter Fall, wie die folgende Formel beweist: 23

Dies war bereits im Ansatz von Vahlen (s. oben S. oben S. 180f.) erkannt worden.

24

S.oben S. 180f.

179, Anm.

10) und deutlich von Else (s.

Wissen und Handeln

183

S 3 Iphigenie: Plan [- Wissen * Handeln] S2

Ausführung [*Wissen - Handeln] S3

A^? A?

Iphigenie will unwissentlich handeln, kommt aber zur Erkenntnis und handelt dann nicht. Es wird also gewissermaßen ein „Ödipus“ (S 2) geplant, durch eine Anagnorisis verhindert und in die einfache ,,Iphigenie“ (S 3) überführt. Unser System mu8

also genauer, wie folgt, formuliert werden: S 1 Medea $2

: :

+ Wissen + Handeln — Wissen + Handeln / A

2a Ödipus

:

außerhalb der Bühne

2b Alkmeon S3 Iphigenie

:

aufder Bühne

Plan [- Wissen Ὁ Handeln]

A>

Ausführung [+ Wissen — Handeln]

S2

A?

S3

Prüfen wir jetzt den Wertungsteil (1453b37-54a9) auf seine Harmonisierbarkeit mit dem Systemteil. Die Fälle W 3 — W 1 entsprechen problemlos den Fallen S 1 - S 3: W3

Medea

=

S1

Medea

W2

Ódipus

=

S2

Odipus

WI!

sIphigenie

=

S3

Iphigenie

Wohin nun aber mit dem unerwünschten

Stórenfried W 4 — Haimon?

Schon das

μελλῆσαι von b38 zeigt, daB hier ebenfalls Plan und Ausführung unterschieden werden müssen, daß wir es also wieder wie bei S 3 — Iphigenie mit einem kombinierten Modus zu tun haben. Bei dessen Ausführung erlebt man die zweite Überraschung, die noch wirksamer wird, wenn man den Modus Iphigenie zum Vergleich darunter

schreibt: W 4 Haimon: Plan [+ Wissen ^ Handeln] 5]

V» ν» (V-»

Ausführung [+ Wissen — Handeln] 53 Verfehlen, Mißgeschick)

S 3 Iphigenie: Plan [- Wissen * Handeln] S2

A^? A?

Ausführung [+ Wissen — Handeln] S3

184

Wissen und Handeln

Aus dieser Übersicht ergibt sich: Haimon reprüsentiert keinen eigenen vierten Systemfall, sondern er gehört wie Iphigenie vom Effekt, von der Ausführung her gesehen zum Typ S 3 und stellt ansonsten, ebenfalls wie Iphigenie, einen kombinier-

ten Modus dar. Hier gibt es allerdings Unterschiede: Haimon will seinen Vater tóten, aber dieser entzieht sich ihm durch Flucht, und daher kommt die Tat nicht zustande.

Es wird also hier zunächst eine „Medea“ (S 1) geplant, aber durch ein Mißgeschick verhindert und in die einfache ,Iphigenie" (S 3) überführt. Die erheblichen Vorteile

von S 3 gegenüber W 4 liegen auf der Hand: Bei Haimon wird der Umschlag durch eine Art technischen Fehler bewirkt (V), und daher beruht sein Nichthandeln nicht auf einem moralisch zu bewertenden Schluß, sondern ist die zwangsläufige Folge der technisch bedingten Verfehlung. Bei Iphigenie erfolgt dagegen der Umschlag durch ein wichtiges Element der Tragödie, die Anagnorisis, und wird der Entschluf zum Nichthandeln aus freier moralischer Entscheidung gefaßt. Außerdem ist der Plan zum Verwandtenmord bei Haimon (= S 1) ein μιαρόν, etwas Schändliches, während Iphigenie ja nicht wissentlich die Tótung eines Verwandten plant. Haimon (W 4) muB jedenfalls unserem System als Fall S 3b neben Iphigenie als Fall S 3a eingegliedert werden. Das System sieht also, vervollständigt und vereinfacht, jetzt so aus: δ]:

Medea

S2a:

Ödipus

S2b: S 3a: S 3b:

Alkmeon Iphigenie Haimon

Es sind jetzt alle [Informationen zusammen,

um

die nótigen

Schlüsse

aus diesem

Befund zu ziehen: Ein vierter Fall ist im Systemteil 1453b27-37 weder vom System her gefordert, denn S 4 kann aus den genannten Gründen vernachlässigt werden, noch vom Fall W 4 — Haimon her, denn dies ist kein eigenstündiger vierter Fall, sondern er gehdrt

mit dem Fall Iphigenie als kombinierter Modus an die Position S 3 unseres Systems. Es ist also keineswegs erforderlich, eine Textlücke im Systemteil zu vermuten oder das tpitov von b34 anzutasten. Vielmehr ist der Text in der überlieferten Form durchaus verständlich und widerspruchsfrei. Es bleibt allerdings immer noch zu fragen, warum Aristoteles, auch wenn Haimon für eine vierte Systemposition nicht in Frage kommt, ihn im Systemteil nicht erwähnt, denn immerhin hat er ihn ja für wichtig genug gehalten, in den Wertungsteil aufgenommen zu werden. Die Antwort dürfte nicht allzu schwer fallen. Aristoteles hátte Haimon bei pedantischer Durchführung seines Systems nur unter $ 3 (1453b34-36) erwühnen kónnen, aber erstens wird bei S 3 auf eine Exemplifi-

zierung überhaupt verzichtet25, und zweitens ist nicht einzusehen, warum gerade die später als untragisch und schlecht zurückgewiesene Variante „Haimon“ an dieser wichtigen Systemstelle zur Exemplifizierung von S 3 hatte herangezogen werden 25

Allerdings geht aus der Definition des Falles S 3 von 1453b34-36 klar hervor, daB Aristoteles hier nur an den Fall S 3a — Iphigenie gedacht hat.

Wissen und Handeln

185

sollen. In diesem Sinn hat sich ja auch die frühere Poetikforschung schon geäußert.26 Es ist jedenfalls durchaus zu verstehen, daß Aristoteles für S 3 nur eine brauchbare, positive Variante, S 3a — Iphigenie, gelten lassen will, die zudem später noch an die erste Stelle der Wertungsskala (W 1) gerückt werden soll (1454a4-9). Im Lichte der Analyse von 1453b26-54a9 kann schlieBlich ein weiteres Problem des 14. Kapitels gelóst werden, das von Lessing bis heute zu den am meisten diskutierten, aber immer noch ungelösten Aporien der Poetik zählt. Es ist die Frage,

warum Aristoteles im Wertungsteil von 1453b37-54a9 gerade diese Rangfolge erstellt, und vor allem, warum er dem Typ „Iphigenie“, also S 3a, einen so deutlichen Vorzug vor dem Typ „Ödipus“ (S 2) gibt. Schließlich wird doch im Handlungsverlauf der /phigenie das Eintreten des Pathos durch rechtzeitige Anagnorisis verhindert, also die Handlung zum Guten gewendet, während Aristoteles noch ein Kapitel zuvor behauptet hatte, der ideale Handlungsverlauf einer Tragódie führe

infolge eines schweren Fehlers (ἁμαρτία), der einem Helden von mittlerer Qualität unterläuft, vom Glück zum Unglück (Kap. 13, 1453a7-23), wobei natürlich an erster Stelle der Name Ödipus fällt (1453a11). Es scheint zunächst unumgänglich, hier einen klaren, noch dazu in einem überschaubaren Kontext unterlaufenen Widerspruch

zu vermerken, der um so gravierender ist, als er eine für die Poetik grundlegende Aussage über den besten Handlungsverlauf in der Tragödie betrifft. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Rangfolge des Wertungsteils durch eine Synopse der Handlungsmodelle, wobei ich aus Vergleichsgründen auch S 1

Medea und S 2 Odipus nach Plan und Ausführung differenziere: Rangfolge W4

Haimon:

Plan [tW

+H] S1

W 3 Medea:

[+W

W2

S1 [-W+H] S2

Ödipus:

W 1 Iphigenie:

+H}

[-W

+H]

S2

Ausführung

System

V» V» > > > >

FW-H S3 [+ W +H] S1 [-W *H]A S2

=$3b

A>

FW

Ξ5 3a

A>

-H]

=S1 =S2

$3

Es läßt sich unserer Übersicht leicht entnehmen, daß die Rangfolge des Wertungsteils zwar durchaus mit dem Systemteil kompatibel ist, aber zugleich auch ein eigenes System darstellt. Die Fálle W 4 — W 1 sind nach den Merkmalen t μιαρόν

(+ schändlich) und + πάθος (+ Leid, Unglück) geordnet.27 W 4 und W 3 sind Fälle wissentlich geplanten und in W 3 auch ausgeführten Verwandtenmordes, sie fallen also unter die Kategorie des μιαρόν, des Schündlichen. Dagegen gehóren W 2 und W 1 nicht zum μιαρόν -- so Aristoteles wörtlich 145423 zum Fall Odipus -, denn das Verwandtschaftsverhültnis ist im Fall

W 2 und W

26

S.oben S. 179-181.

27

Beide Merkmale werden 1459b39 von Aristoteles genannt.

1 unbekannt, bei Ódipus bis

186

Wissen und Handeln

zur Anagnorisis nach der Tat, bei Iphigenie sogar nur in der „Planungsphase“ bis zur Anagnorisis vor der Tat, die deren Ausführung dann verhindert. Weitere Unterschiede schafft das Merkmal des Pathos. W 4 — Haimon gehört zum μιαρόν, ist aber zusätzlich noch dadurch gekennzeichnet, daß kein Pathos

eintritt. Dagegen führt W 3 — Medea — ebenfalls zum μιαρόν gehörig — wenigstens zur Durchführung eines Pathos. In W 2 — Ódipus liegt erstmals kein μιαρόν, aber ein Pathos vor, das allerdings erst durch die Anagnorisis nachträglich erkannt wird. In W 1-Iphigenie wird dagegen das Eintreten des Pathos durch die Anagnorisis verhindert. Das System des Wertungsteils läßt sich also wieder wie im Systemteil als ein Kombinationssystem zweier je positiv und negativ gepolter Merkmale darstellen, allerdings mit dem Unterschied, daß es in diesem System keine Leerstelle gibt:

+schändlich

+ Pathos | W 3 Medea

— Pathos W 4 Haimon

—schündlich

| W 2 Odipus

| W 1 Iphigenie

In der Rangfolge der Fálle untereinandergeschrieben ergibt sich: W4 W3

— —

Haimon: Medea:

+schindlich +schindlich

— — Pathos + Pathos

W2



Odipus:

-schandlich

+ Pathos

Wi



Iphigenie:

—schündlich

— — Pathos

Warum Haimon sicherlich zu Recht ganz unten rangiert, wurde oben S. 183f. schon

im Vergleich mit W

1 begründet.

Ihn trifft der doppelte

(Schändlichen) und des ἀπαθές (Leidlosen = Untragischen). höhere Bewertung von W 3 -- Medea etwas Schündliches, aber sie kommt

Vorwurf des μιαρόν Von hier aus ist die

leicht zu verstehen, denn die Tat ist zwar doch wenigstens zustande und mit ihr die

tragische Wirkung. Es entfällt also der Vorwurf des ἀπαθές. Auch die dritte Stufe W 2 - Ódipus ist noch ohne größere Schwierigkeiten nachvollziehbar, denn jetzt ist das vollkommene Gegenteil von W 4 erreicht. Beide Vorwürfe entfallen. Kein μιαρόν

und kein ἀπαθές! Um so erstaunlicher ist die Einordnung von W 1 -- Iphigenie auf die letzte, höchste Stufe, die zwar mit

W 2 den Vorzug des Nicht-Schändlichen teilt,

dafür aber kein Pathos zustandekommen läßt, also eigentlich wie W 4 ebenfalls den Vorwurf des Untragischen auf sich ziehen müßte. In diesem Übergang von W 2 zu W 1 liegt die eigentliche Crux der Erklärung. Man muß sich zunächst klar machen, daß es Aristoteles hier gar nicht so sehr auf das wirkliche Zustandekommen des Pathos in der Tragódie ankommt, sondern daB er

neben dem aktuellen auch ein potentielles, neben dem geschehenen auch ein drohendes Pathos (μέλλον πάθος) zuläßt, das ebenfalls die tragische Wirkung entfalten kann.

Der tragische Effekt (φόβος und ἔλεος) ist also nicht davon abhängig, ob das Pathos wirklich eintritt oder nicht. Darauf hat schon Vahlen in aller Deutlichkeit

Wissen und Handeln

187

verwiesen, ohne daß dies später immer hinreichend berücksichtigt worden ware.28 Wäre dem nicht so, dürfte W 1-Iphigenie gar nicht in der Wertungsreihe von 1453b37ff. erscheinen oder bestenfalls in der Nahe von W 4 — Haimon einzuordnen sein, mit dem einzigen Vorzug, daf bei ihrem Tatvorsatz kein μιαρόν vorliegt. Der Schritt von W 2 zu W 1 kann also nicht allein darin begründet liegen, daB in W 2 ein Pathos und in W 1 kein Pathos eingetreten ist. Es muB vielmehr um die unterschiedliche Intensität und Wirksamkeit des tragischen Effekts gehen, der von dem aktuellen oder potentiellen Pathos in der Tragódie ausgeht. Zum Glück bringt Aristoteles einen weiteren Faktor mit ins Spiel, der den Unterschied zwischen W 2 und W 1 deutlich macht: die Anagnorisis (145424). Wenn man für W 2 als Beispiel den Ódipus Tyrannos zugrundelegt, ergibt ein Vergleich mit W 1 folgendes Bild: W2 — Ódipus

4 geschehenes Pathos (Vatermord) Unglück

Glück

Md

WI — Iphigenie drohendes Pathos (Brudermord)

A

Im Odipus liegt das geschehene Pathos, der Vatermord, so weit vor der Bühnenhandlung zurück, daß es selbst keine tragische Wirkung entfalten kann. Phobos und Eleos werden hier hauptsächlich von der Anagnorisis getragen: καὶ ἡ

ἀναγνώρισις ἐκπληκτικόν („und die Wiedererkennung ruft Erschütterung hervor“, 145434). Anders dagegen in der /phigenie. Hier wirkt das Pathos, der Brudermord, selbst, auch wenn es nur potentieller Natur ist. Die tragische Wirkung des Pathos kommt hier nicht indirekt über die vermittelnde Instanz der Anagnorisis zur Entfaltung, sondern wird direkt aus dem Pathos selbst bezogen, und, wenn dies gelingt, ist es nicht mehr so sehr von Belang, ob die leidvolle Tat wirklich zustandekommt oder nicht. So gesehen kann also ein bloß drohendes Pathos stärker wirken als ein tatsächlich geschehenes. Die Anagnorisis dient dagegen nicht wie im Ödipus zur Stützung, sondern zur Lósung der Pathoswirkung. Wenn man also die Optimierung der Pathosgestaltung im Auge hat, wie Aristoteles im 14. Kapitel der Poerik, ist es schon verständlich, daß ein aus sich selbst wirkendes Pathos einem nur durch das

Medium der Anagnorisis wirkenden Pathos vorgezogen wird.29 28 29

Vgl. Vahlen, Beiträge (vgl. Anm. 8), Heft 2, S. 27, Neuausgabe S. 54. Diese Deutung hat auch Bestand, wenn das Pathos, z.B. der Muttermord Alkmeons (S 2b, s. oben S. 177, Anm. 4), auf der Bühne stattfindet. Denn auch in diesem Fall entfaltet das Pathos seine tragische Wirkung nicht unmittelbar, sondern erst über die Anagnorisis. Das gleiche würde auch für den Ódipus gelten, wenn der Vatermord auf der Bühne dargestellt worden wäre.

188

Wissen und Handeln

Man kann allerdings mit solchen Überlegungen nur den Vorrang erklären, den die Pathosgestaltung vom Typ „Iphigenie“ im 14. Kapitel erhält. Der seit Lessing so häufig diskutierte Widerspruch zwischen dem 13. und dem 14. Kapitel ist damit aber noch nicht aus dem Weg geräumt. Die Verhinderung eines potentiellen Pathos durch eine Anagnorisis kann die Handlung nur zum Glück führen, und damit steht ein solcher Handlungsverlauf, wenn Pathos und Anagnorisis keine Nebenelemente sind, sondern die Handlung wesentlich strukturieren wie eben in der /phigenie, im Widerspruch zu der als ideal bezeichneten tragischen Handlungskurve vom Glück zum Unglück in Kapitel 13 (1453a7-30). Viel hat der von Lessing initiierte und von Vahlen im wesentlichen wiederaufgenommene Harmonisierungsversuch zur Abschwächung dieses Gegensatzes geleistet: Es geht Aristoteles in Kapitel 13 um den Mythos insgesamt, um die Handlungsführung der gesamten Tragödie und die darin verwickelten Charaktere, in Kapitel 14 dagegen um die isoliert gesehene Pathossituation. Diese muf nicht notwendigerweise zugleich auch das Element des Mythos darstellen, das den wesentlichen Umschlag der Handlung bewirkt, sondern sie kann ebensogut nur als Einzelszene an einer Nebenstelle des Dramas in Erscheinung treten. Was also für die beste Pathosgestaltung gilt, muf nicht auch für den besten Handlungsverlauf unter dem

Aspekt des Glückswechsels gelten.30 Dazu sollte beachtet werden, daß Aristoteles im 18. Kapitel (1455b34) unter den vier Tragódienarten auch eine τραγωδία παθητική, eine pathosbestimmte Tragödie, nennt?! An Tragódien dieser Art könnte Aristoteles im 14. Kapitel vor allem gedacht haben, in der Absicht, das Modell der Iphigenie als besonders geeignet für den Fall zu empfehlen, daB die tragische Wirkung nicht in erster Linie aus der Peripetie und der Anagnorisis, sondern aus dem Pathos selbst bezogen werden soll. Wer allerdings in solchen und anderen Erklärungsversuchen noch keine wirklich zufriedenstellende Lósung sehen kann, sollte sich bei der weiteren Arbeit

30

am

14.

"Vgl. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 37. und 38. Stück (in: Lessings Werke, hrsg. von

Kurt Wölfel, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1967, Bd. 2: Schriften 1, S. 121-533, hier S. 268-277) und Vahlen, Beitráge (vgl. Anm. 8), Heft 2, S. 21-27, bes. S. 26£; Neuausgabe S. 48-54, bes. S. 53f. Gudeman, Περὶ ποιητικῆς (vgl. Anm. 13), S. 266 schlieBt sich Vahlens Deutung an; Else, Aristotle's Poetics (vgl. Anm. 17), S. 450-452, Lucas, Poetics (vgl. Anm. 7), S. 155 und Söffing, Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik (vgl. Anm. 19), S. 129 lassen dagegen den Widerspruch zwischen Kapitel 13 und 14 bestehen. Von besonderem Gewicht ist dabei Lucas’ Argument gegen Lessing und Vahlen, daß sich eine Pathossituation wie die von W 1 - Iphigenie eigentlich nur als ein zentrales Element der Handiungsführung denken läßt

(S. 155: „But it should be clearly stated that within the restricted compass of a Greek play there

31

is rarely, if ever, room for a single scene to be developed to this point, unless it is the essential turning-point of the whole plot.'*). Neschke versucht die Bevorzugung des Typs ,,Odipus" in Kapitel 13 herunterzuspielen, um so den Widerspruch zwischen 13 und 14 zu nivellieren. (Die Poetik des Aristoteles [vgl. Anm. 19], Bd. 1, S. 146f. und Anm. 96). Auch der Harmonisierungsversuch von Dupont-Roc / Lallot (Aristote, La poétique [vgl. Anm. 20], S. 258f.) kann wie auch der von Halliwell (The Poetics of Aristotle [vgl. Anm. 20], S. 135- 139) — keinesfalls alle Zweifel ausräumen. Ich kann darauf nicht näher eingehen. Vgl. Söffing, Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik (vgl. Anm. 19), S. 129, Anm.

142. Ähnlich vor Söffing schon Neschke,

Bd. 1, S. 147 und S. 159f.

Die Poetik

des Aristoteles (vgl.

Anm.

19),

Wissen und Handeln

Kapitel der Poetik von keinem geringeren als von Lessing warnen

189

lassen, der zu

Beginn des 38. Stücks seiner Hamburgischen Dramaturgie sagt: Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen

lieber in meinen, als in seinen Verstand.32

32

Lessings Werke (vgl. Anm. 30), S. 273.

QUADRIPERTITA RATIO: BEMERKUNGEN ZUR GESCHICHTE EINES AKTUELLEN KATEGORIENSYSTEMS (ADIECTIO — DETRACTIO — TRANSMUTATIO — IMMUTATIO)* Seit Heinrich Lausbergs verdienstvollem Handbuch sind, wie man weiß, zahlreiche Publikationen zur Begründung einer „neuen“, „allgemeinen“ oder ,,modernen“ Rhetorik erschienen. Man findet darin überwiegend anerkennende Urteile über die Leistungen der antiken Rhetorik, bisweilen aber doch auch deutliche Tóne herabsetzender Kritik — so wie man sich einer altehrwürdigen, aber eben doch als überholt empfundenen Institution gegenüber zu verhalten pflegt. Gute Beispiele für diese Art von Kritik finden sich in neueren Reformversuchen der berühmten Lehre von den Tropen und Figuren. So beklagt die Lütticher Gruppe y in ihrer ausschließlich der Figurenlehre gewidmeten Rhetorique generale von 1970 das Überangebot der antiken Terminologie und zugleich deren sachliche Unzulänglichkeit — nach ihrer Meinung die eigentliche Ursache für den Niedergang der „Paläorhetorik“ (Dubois 1970: 9, 23).

Ähnlich äußert sich der Anglist Heinrich F. Plett in einem Aufsatz seines Rhetorikbandes von 1977: Die antike Figurenlehre zeige bestenfalls Ansätze und lasse, was die semiotische Grundlage, die Gruppierungsprinzipien und Terminologie betreffe,

erhebliche Mängel erkennen.! Wer die genannten Neuentwürfe prüft, wird sich darüber wundern, daß gerade hier solch nachdrückliche Zweifel an der Qualität antiker Systematik geäußert werden. Es stellt sich nämlich schnell heraus, daß sie dem antiken Vorbild nicht nur

in peripheren Vorleistungen verpflichtet sind, sondern ihr elementares Auffindungsund Dispositionsprinzip einem weitgehend ungeprüft übernommenen antiken Kategoriensystem verdanken, nämlich den von Quintilian (Institutio oratoria 1 5,38) als quadripertita ratio bezeichneten vier Anderungskategorien. Es sind dies bekanntlich die adiectio — Zugabe, detractio - Wegnahme, transmutatio — Platztausch und immutatio — Austausch. Im Modell der Gruppe u beispielsweise werden die als Normabweichungen verstandenen rhetorischen Figuren oder Metabolien mit explizitem Verweis auf Quintilian nach den vier antiken Anderungskategorien und zugleich nach den jeweils davon betroffenen Sprachebenen disponiert.2 So finden sich morphologische Veränderungen, die Metaplasmen, syntaktische „Normverstöße“, die Metataxen, die den antiken Tropen entsprechenden Metasememe und schlieBlich die etwa den antiken Gedankenfiguren gleichkommenden Metalogismen jeweils zu einer Figurengruppe zusammen:

Dieser Aufsatz geht auf meine Antrittsvorlesung zurück, die am 12. Juli 1984 Historisch-Philologischen Fachbereich der Universität Göttingen gehalten wurde.

|

vor

dem

Vgl.Plett, „Die Rhetorik der Figuren", in Plett (1977: 125-165, 132-133). Vgl. ebenda auch Helmut Bonheim „Für eine Modernisierung der Rhetorik“ (109-124, 120-122).

2

Vgl Dubois (1970: 49) (Tabelle vereinfacht und ins Deutsche übersetzt). Der Verweis auf Quintilian befindet sich auf S. 23. Sogar die Erzählfiguren werden mit Hilfe der Anderungskategorien

disponiert (171-199).

191

Quadripertita ratio Metabolien oder Rhetorische Figuren Ausdruck Operationen Detraktion Adjektion Immutation Transmutation

Inhalt

Metaplasmen

Metataxen

(Morphologie)

(Syntax)

(Semantik)

Ellipse Polysyndeton Anakoluth Hyperbaton

Asemie Synekdoche Metonymie =

z.B. z.B. z.B. | z.B.

Apokope Alliteration Archaismus Anagramm

Metasememe

Metalogismen

— (Logik) reticentia Hyperbel Allegorie Inversion

In ähnlich grundsätzlichem Anschluß an das antike Vorbild entwirft auch Plett seine Figurenlehre,

indem

er die regelverletzenden

Operationen

Addition,

Subtraktion,

Substitution und Permutation auf die Sprachebenen Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Graphemik wirken läßt und so ebenfalls auf der Grundlage der quadripertita ratio zu seiner Figurengruppierung gelangt (Plett 1977: 130 und Plett

1979: 142ff.):3 I. linguist.

Operat.

linguist.

Ebenen II. 1. phonologisch 2. morphologisch

regel-

regelverletzend

verstärkend

1. Addition | 2. Subtraktion| 3. Substitution | 4. Permutation | 5. Aquivalenz

3. syntaktisch 4. semantisch 5. graphemisch

Die Verwendung der vier Kategorien in der modernen Rhetorik wäre schon Grund genug, sie für unvermindert aktuell und nützlich zu halten. Dieser erste Eindruck verstärkt sich aber noch dadurch, daß sie sich auch in anderen Disziplinen wiederfinden lassen. Schon Plett hat in seinem Buch Texrwissenschaft und Textanalyse darauf hingewiesen, daB sein von Quintilian übernommenes Quartett regelverletzender Operationen den aus der generativen TG bekannten Elementartransformationen entspricht (Plett 1979: 148). Wie die rhetorischen Figuren, so kónnen auch die aus der syntaktischen Tiefenstruktur durch Umformung gewonnenen Oberflüchenstrukturen als das Ergebnis von vier elementaren Anderungsverfahren erklärt werden. Es kann auf dem Weg von der Tiefen- zur Oberflächenstruktur ein Element gestrichen, eingefügt, ersetzt oder umgestellt werden (Bechert 1974: 119ff. und Baumgärtner 1973: 255f.):

3

Unbeschrünkte Anerkennung finden die Anderungskategorien auch bei Kopperschmidt (1976 II:

163-164).

192

Quadripertita ratio 1. Tilgung (detractio)

b

a

2. Insertion (adiectio)

a

a

b

acb

3. Substitution (immutatio)4. Permutation (transmutatio)

a

b

a

b

b

a

Die Identität der Elementartransformationen mit den rhetorischen Anderungskategorien liegt auf der Hand, wenn ich auch bisher nicht habe ermitteln kónnen, ob die linguistischen Kategorien auf direkte oder indirekte Einwirkung der antiken Rhetorik zurückzuführen sind. Gesichert ist die antike Herkunft dagegen in einem auf den ersten Blick überraschend weit von Rhetorik und Linguistik entfernten Wirkungsbereich, der Parodieforschung. Hier war es der Germanist Erwin Rotermund, der, von Lausbergs Hand-

buch angeregt, 1963 die vier rhetorischen Anderungskategorien, wenn auch in umstrittener Neufassung, in die Parodieforschung einbrachte, um mit ihrer Hilfe die Veränderung des Originals durch den Parodisten besser in den Griff zu bekommen (Rotermund 1963). Rotermunds Verfahren — insbesondere der stillschweigende Ersatz der antiken transmutatio durch „Karikatur“ — ist kritisiert worden, und es

wurde zugleich die begriffliche Verfeinerung der Kategorien, vor allem aber die gründliche Überprüfung ihrer Anwendbarkeit gefordert. Dennoch ist gerade in der neuesten Parodieforschung der heuristische Wert des antiken Systems ausdrücklich bestätigt worden

(Karrer

1977: 66-69,

186; Verweyen

& Witting

1979: 83-93

und

Freund

1981: 9). So erweist sich die quadripertita ratio als hilfreiches Instrument, zu dem auch moderne Disziplinen greifen, wenn es Veränderungen von einem Zustand in einen anderen zu beschreiben gilt, z.B. von der Sprachnorm zu deren Abweichungen, von der syntaktischen Tiefen- zur Oberflächenstruktur und vom literarischen Original zu dessen Nachahmung. Bei solchem Stand der Dinge fühlt sich ein Klassischer Philologe sofort versucht, der Geschichte dieses so überraschend wirksamen antiken Kategoriensystems nachzuspüren, und er ist dazu, wie ich glaube, um so mehr berechtigt, als gerade die Vertreter der „modernen“ Rhetorik nach einer solchen Rückbesinnung verlangen. So sagt Gert Ueding

in seiner Einführung

in die Rhetorik von

1976:

,Eine wirklich

zukunftsträchtige, vergangene Fehler und Vorurteile vermeidende Rezeption der Rhetorik bedeutet zuallererst die kritische Aneignung ihrer Geschichte ...“ (Ueding 1976: 2 und Plett 1977: 131). Ich wage es also, durch solche Äußerungen bestärkt, im folgenden einige Bemerkungen zur Geschichte der quadripertita ratio vorzulegen, soweit Quellenmangel und die bisher nur kümmerliche Forschung dies überhaupt zulassen. Betrachten wir zunüchst zur Vorbereitung chronologischer Überlegungen einige antike Ver-

Quadripertita ratio

193

wendungsweisen der vier Kategorien, die vor allem im Bereich der Grammatik und Rhetorik zu finden sind.

In der Rhetorik, mit der wir beginnen wollen, fand das System der vier Ánderungskategorien vor allem im Bereich der schon erwühnten Lehre von den Tropen und Figuren Anwendung.* Diese Lehre hat bekanntlich ihren traditionellen Ort im Bereich des ornatus, der neben dem korrekten Latein (latinitas) und der Klarheit (perspicuitas) zu den drei Formulierungsnormen einer guten Rede zählte. Im ornatus werden nun zur Abwehr überredungshemmender Langeweile sprachliche und gedankliche Mittel bereitgestellt, die insgesamt als das Ergebnis effektvoller Abweichungen von einer als wirkungslos empfundenen Normalstufe verstanden werden kónnen. Und eben diese Mittel sind in der Hauptsache die bekannten Tropen und Figuren. Geben wir dazu vier Beispiele: 1)

geminatio:

Sic, sic iuvat ire per umbras (Vergil, Aen. 4,660)

2)

zeugma:

cecidere illis animique manusque (Ovid, met. 7,347)

3)

hysteron proteron:

moriamur et in media arma ruamus (Vergil, Aen. 2,353)

4)

metaphora:

populus est domi leones, foras vulpes (Petron, 44,14)

Im ersten Beispiel verstößt Dido zwar gegen die Stilnorm der Wiederholungsvermeidung, aber sie kann durch das doppelte sic ihrer Trauer viel wirkungsvolleren

Ausdruck geben. Wenn Ovid im zweiten Beispiel „den Mut und die Hände zugleich sinken“ läßt, so ist dies zweifellos ein Verstoß gegen die semantische Kongruenz. Trotzdem ist so ein überraschender, einprägsamer Ausdruck entstanden. Im dritten Beispiel, einem Hysteron Proteron, ist zwar gegen die zeitliche Folge der Satzglieder gesündigt, denn gestorben wird erst, nachdem man sich in die Waffen gestürzt hat. Aber gerade dadurch wird der Ausdruck effektvoll verfremdet. Wir beschließen die Beispielreihe viertens mit Petron, der einen Ganymed metaPhorisch sagen läßt: „Zuhause sind die Leute Löwen, draußen Füchse!“ Gewi ist hier das eigentliche Wort vom uneigentlichen verdrángt worden, aber wieviel wirkungsvoller sind die Tiernamen als ein blasses „stark“ oder „feige“. Man wird schon bemerkt haben, daß unsere Beispielreihe nicht zufällig, sondern

nach den vier Ánderungskategorien geordnet ist. Beispiel 1 entsteht durch adiectio, 2 durch eine detractio, 3 durch eine transmutatio und 4 durch eine immutatio verborum. Eben dies ist die Aufgabe der vier Ánderungskategorien. Sie systematisieren die Mittel

des ornatus, z.B. im verbalen Bereich, insofern, als alle Abweichungs-

oder Aus-

4

Vgl. dazu ausführlich Lausberg (1960: I 250ff.).

wa

prozeduren unter den Rubriken Addition, Subtraktion, Transposition tausch von Wörtern oder Wortgruppen erfaßt werden können:

Seltsamerweise haben die antiken Theoretiker dabei die immutatio verborum, die eigentlich problemlos in das System der Wortfiguren passen sollte, zu einer selbständigen Gruppe mit einem eigenen Namen, den Tropen, vereinigt. Vgl. Lausberg (1960: $ 601).

194

Quadripertita ratio

elocutio

latinitas

— perspicuitas

ornatus

verborum adiectio — detractio z.B |geminatio zeugma

sententiarum transmutatio hyst. prot. J

— immutatio [ metaphora |

d.

figurae

tropi

Es ist zum Schluß kaum nötig hinzuzufügen, daß das gleiche Verfahren auch auf der Seite des gedanklichen ornatus zum System der Gedankenfiguren bzw. Gedankentropen führte. Wenn man als nüchstes das Schrifttum der antiken Grammatik überblickt, so ist

man über die reiche Verwendung der quadripertita ratio überrascht, mit der die Grammatiker so etwas wie einen Generalschlüssel zur Lósung der unterschiedlichsten Sprachabweichungsprobleme zu besitzen glaubten. Beginnen wir mit der bekannten Lehre von den Barbarismen und Solózismen und deren Lizenzen Metaplasmen und Schemata.6 Ein Barbarismus ist nach der antiken Systematik ein Fehler im Einzelwort, ein Solózismus ein Fehler in der Wortverbin-

dung. So dürfte es dem Schüler eines rómischen Grammaticus schlecht ergangen sein, wenn er statt disciplina displicina las oder gar statt intus sum (ich bin drinnen) intro sum (ich bin herein) zu formulieren wagte. Nicht so die hochgeschatzten Dichter, die ohne Tadel wie Lukrez potestur oder wie Vergil pars secant statt secat schreiben durften. Solche „Verstöße“ galten vielmehr als unumgänglich, dienten Schmuckabsichten oder waren einfach durch die Autorität des Dichters legitimiert. Sie hießen deshalb auch zum Unterschied von den Profanfehlern Metaplasmus und Schema. Dennoch sind beide Gruppen Abweichungen von der Norm, die eine tabuisiert, die andere lizenziert, wenn nicht sogar positiv bewertet (Quintilian, Jnstitutio oratoria I 5,11):

Einzelwort

vitium Barbarismus.

displicina / disciplina

potestur / potest

Wortverbindung

Solözismus

Schema

intro sum / intus sum

pars secant / secat

u

virtus Metaplasmus

Was uns aber hier eigentlich interessiert, ist die Rolle der Änderungskategorien in der antiken Sprachfehlerlehre. Als Beispiel soll uns dabei das Barbarismuskapitel der ars

grammatica Donats dienen:?

6 7

Zur Stellung dieser Lehre in der Geschichte der ars grammatica vgl. Siebenborn (1976: 32-33). Nach Donat, ars grammatica, Grammatici Latini, ed. Keil, IV 392,5ff. Die Beispiele wurden zum Teil aus den Donatkommentaren ergänzt.

Quadripertita ratio

adiectio richtig

detractio

falsch

r

immutatio f

littera

reliquias |relliquias infantibus| infantibu

syllaba

abisse

tempus

Italiam | Ttaliarh |

tonus

híc

adspiratio | orcus

195

transmutatio

r

f

illi

olli

f

f

Euander | Euandre

| abiisse | salsasalmen- | pernicies | permities|disciplina | displicina mentum | tum

hic | horcus

üniüs

ünlüs

Róma

Róma

|öratörem

omo

|Carthago|Chartago{

| homo

| fervére | fervére

déós

déós

|óratórem malesänusimalesanus Thracia | Trachia

Donat versteht durchaus im Einklang mit der sonstigen antiken Lehre den Barbarismus als eine ,,pars orationis vitiosa in communi sermone", also als eine fehlerhafte

Abweichung vom normalen Sprachgebrauch. Um aber in die Vielfalt der Fehler System zu bringen, werden zunächst die vier Anderungskategorien eingeführt und jeweils auf die Sprachelemente bezogen, auf die sie normverletzend einwirken. Bei Donat sind dies /ittera, syllaba, tempus (der metrische Zeitwert), tonus (der Akzent) und die adspiratio. Ich kann hier nicht auf die Fülle der auf diese Weise ermittelten Einzelfehler eingehen und bitte den Leser, sich durch das Studium der Tabelle selbst einen Einblick zu verschaffen. Aber zum allgemeinen Verfahren möchte ich doch etwas sagen: Faszinierend finde ich an dieser Fehlersystematik Donats weniger den vergleichsweise mageren Ertrag an Abweichungstypen, obwohl man nicht vergessen darf, daß praktisch-pädagogische Ziele gerade zur Auswahl dieser Fehlertypen geführt haben. Für den antiken Schüler war die Kenntnis z.B. der Silbenlehre, der

metrischen Quantitäten und des Akzents für das Lesen von Versen unerläßliche Voraussetzung. Man denke z.B. nur an die metrische Dehnung des kurzen i von Italiam im zweiten Vers der Aeneis — ein Fehlertyp, der in unserer Tabelle als adiectio temporis festgehalten ist. Mich überrascht vielmehr die im Prinzip gleiche Ermittlungsprozedur, mit der der antike Grammaticus und die moderne Gruppe μ ihre Abweichungstypen ermitteln (s. S. 190f.). DaB man auch die Fehler in der Wortverbindung, die Solózismen, mit Hilfe der vier Anderungskategorien zu ordnen versuchte, stand zu erwarten, und so finden wir

denn auch bei Quintilian und den Grammatikern dafür Beispiele genug (Lausberg 1960: ὃ 504ff. und Quintilian, Institutio oratoria 1 5,38-40): Ein enim zuviel ergibt den Solózismus per adiectionem, ein ex zuwenig den Solózismus per detractionem und ein falsch gestelltes quoque den Solózismus per transmutationem. Beim Solözismus per immutationem ergibt sich allerdings die Sonderschwierigkeit, daß hier eine derart große Anzahl an Fehlertypen möglich ist, daß das Sammeln und Ordnen größte Anforderungen stellten. Denn während die Veränderung in den ersten drei Gruppen immer nur ein Wort betrifft, so können in der letzten Gruppe alle acht Wortarten und dazu noch deren Akzidenzien wie Person, Kasus, Numerus, Modus etc. fehlerhaft miteinander vertauscht werden, was zu einer riesenhaften Fehlerzahl

führen muß. Ich habe hier zur Vorsicht jeweils nur ein Beispiel gegeben, einen fehlerhaften Austausch von Partizip und Verb (volo datum statt volo dare) und von Plural und Singular (pars secant statt secat):

196

Quadripertita ratio Solözismus per

falsch

richtig

adiectionem

nam enim

nam

detractionem

Aegypto venio

ex Aegypto venio

quoque ego

ego quoque

transmutationem immutationem

apud amicum eo

partium orationum | volo datum (Partizip) accidentium

pars secant (Plural)

ad amicum eo volo dare (Verb) | pars secat (Singular

Übrigens hat diese Beispielflut nicht erst die spätantiken Grammatiker bedrängt, heißt es doch schon von Lucilius, daß er in einer seiner Satiren von 100 Arten des Solözismus zu berichten wußte (Lucilius frg. 1100 Marx = 399 Terzhagi = 1110

Krenkel). DaB die vier Anderungskategorien auch in der antiken Etymologie, Orthographie, ja sogar in der Merrik Verwendung fanden, soll hier nur im Vorübergehen erwähnt werden (Barwick 1922: 98; Siebenborn 1976: 44-45; Leo 1889: 289; Varro, de lingua Latina V 6; Scaurus, in: Grammatici Latini VII 11,1 und Caesius Bassus, ebenda VI

271,5). Betrachten wir zum Schluß noch einen Verwendungsbereich, der uns vor allem in

der antiken griechischen Grammatik begegnet. Es ist die leider immer noch völlig unzureichend erforschte Pathologie. Laut Wackernagels Dissertation von 1876 — übrigens die einzige, bis heute unersetzte Monographie zu diesem Gegenstand - ist sie das Verdienst der alexandrinischen Philologie und ihre Erfindung kann, wie er glaubt, sogar namentlich dem Grammatiker Tryphon im ersten vorchristlichen Jahrhundert zugeschrieben werden (Wackernagel 1876).8 Die Pathologie war, soweit wir heute wissen,? ein Versuch, sprachlichen Unregelmäßigkeiten, etwa im Bereich der

Flexions- und Dialektformen beizukommen. Dies geschah aber nicht mit dem eher aus dem grammatischen

Schrifttum der Rómer bekannten Verfahren, die Anomalie

mit einem analogistischen Eingriff in den normalen Sprachgebrauch zu beseitigen, etwa durch einen Dativ /uppitri statt Jovi. In der Pathologie wird nicht ersetzt, sondern der Versuch gemacht, den irreguláren Befund zu erklüren, und zwar mit Hilfe

von Anderungskategorien. So wird z.B. von κύων mit Verweis auf den Vokativ κύον ein regulärer Genetiv *«bovog postuliert und die vermeintlich anomale Form κυνός einfach mit dem Verlust (συγκοπή) des o erklärt. Ebenso wird z.B. nach dem Vorbild

von φύλαξ / φύλακος ein ἄναξ / *üvaxog gefordert und das ἄνακτος durch eine Zugabe (πλεονασμός ) des τ erklart. Das Erklärungsprinzip besteht also darin, der Sprache eine ursprüngliche Regularitát zu unterstellen und die Anomalien als das Ergebnis eines Lautveründerungsprozesses zu erklüren, eben als eines entstellenden Pathos, dem die Ursprungsform im Laufe der Zeit ausgesetzt war. Aufgabe des Grammatikers ist es nun, dieses Pathos nicht zu heilen, sondern durch die Aufdeckung des Veränderungsprozesses wenigstens

verstehbar

zu

machen.

Dazu

verwendete

man,

wie

Lentz

in seiner

Herodian-Ausgabe ermittelt hat, hauptsächlich unsere vier Kategorien, daneben aber 8 9

Hilfreich auch Lentz’ Herodianausgabe, Grammatici Graeci III 1, praefatio p. LXXXVff. Ich stütze mich im folgenden mangels eigener Forschung ganz auf Siebenborn (1976: 108-109).

Quadripertita ratio

197

auch noch andere, wie z.B. Kontraktion und Distraktion (Herodian, Gramm. Graec. III 1, praef. LXXXVII, ed. Lentz):

πλεονασμός συγκοπή τροπή ὑπέρθεσις διαίρεσις συναίρεσις

— Ξ = = =

adiectio detractio immutatio ftransmutatio distractio contractio

Es ist klar, daß auf diese Weise nur rein äußerliche Beschreibungen und keine echten

Erklärungen von Flexionsanomalien zustande kommen konnten, und ich will nicht leugnen, daß darunter Beobachtungen sind, die zum Lachen reizen. So versucht z.B.

unser primus inventor Tryphon Aınög „Hunger“ vom Verb λείπω in der Bedeutung „fehlen, mangeln“ abzuleiten, weil Hunger eben „Mangel an Lebensmitteln" bedeute.

„Eigentlich

müßte

also“,

so fährt Tryphon

fort,

„Aınög

mit

Diphthong

(also

*Aeuióc) geschrieben werden. Aber hier hat die Lautgestalt mit dem Inhalt mitgelitten. Da die Laute námlich einen Mangel anzeigen, erleiden sie deshalb selbst auch die

Einbuße eines Vokals.“10 Wir sollten aber bedenken, daß die antiken Grammatiker eben noch nicht von den

Ergebnissen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft profitieren konnten. Sie hätte ihnen beim Beispiel κυνός die schwundstufige Bildung des Genetivs als Erklärungshilfe angeboten und beim Beispiel ἄνακτος darauf hingewiesen, daß die

Irregularität nicht beim Genetiv, sondern beim Nominativ ἄναξ liegt, der hier nach der Lautregel „Dental vor o entfällt“ sein x des Stammauslauts verloren hat.

Trotzdem halte ich die Vielzahl von Einzelbeobachtungen der griechischen Grammatiker keinesfalls für wertlos. Nicht selten treffen sie das Richtige. Herodian erklart an einer Stelle (Herodian, Gramm. Graec. III 1,406,14-22 Lentz) die Genetive

der Verwandtschaftsnamen μητρός, ἀνδρός, πατρός durch Synkope aus "μητέρος, ἀνέρος, ra tépoc entstanden. Wieder fehlt die Kenntnis der schwundstufigen Bildung

der Genetive. Die Erklárung des 6 von ἀνδρός ist dagegen von der unsrigen kaum verschieden. Das durch Ausfall des e zunächst entstandene *àvpóc mußte, so Herodian, mit einem 6 vervollständigt werden, weil die Konsonantengruppe

v p

weder in einer Silbe verbunden noch auf zwei Silben verteilt vorkommt.!!

Im

Schwyzer finden wir zwar eine differenziertere, aber im Prinzip gleiche Erklärung (Schwyzer, Griechische Grammatik, Handb. d. Alt. Wiss., Vol. 1 276ff., 323ff.). Während die Pathologie die Änderungskategorien nur zur Erklärung des irregulären Lautstandes heranzieht, so sei zum Schluß der Verwendungsbeispiele aus der Grammatik noch hinzugefügt, daB Apollonios Dyskolos am Beginn seiner Syntax ihren Wirkungsbereich noch erheblich erweitert. (Apollonios Dyskolos, de constructione, Grammatici Graeci II 2, B. I, $8 2-13, ed. Uhlig). Apollonios entwickelt dort zunüchst sein atomistisches Sprachmodell, wonach sich die Laute zu Silben, die 10

Vgl. Tryphonis Grammatici Alexandrini Fragmenta, ed. A. De Velsen, Berlin 1853, frg. 130.

11

Ich sehe keine andere Deutung für die Termini σύλληψις und διάστασις von Herodian, Gramm. Graec. III 1,406,21-22, ed. Lentz.

198

Quadripertita ratio

Silben zu Wórtern und diese wiederum zum Satz verbinden. Apollonios zeigt nun, daß die Anderungskategorien nicht nur auf der Stufe des Lautes und der Silbe wirken, sondern analog auch im Bereich von Wort und Satz. So gibt es nicht nur pleonastisch gesetzte Buchstaben und Silben, sondern auch Wörter und ganze Sätze, und wie ein

Laut oder eine Silbe gestrichen sein kann, so kann auch ein Wort oder sogar ein Satz fehlen. Ebenso können wie bei Lauten und Silben auch ganze Wörter und Sätze ihren Platz tauschen. Sehen wir auf die eben gegebene Beispielreihe zurück, so zeigt sich eine erstaunlich reiche Palette von Versuchen, das Phänomen „Abweichung von einer Norm“ mit Hilfe der vier Änderungskategorien in den Griff zu bekommen: 1)

2)

In der Rhetorik diente die quadripertita ratio zur Ordnung der von einer als wirkungslos empfundenen Nullstufe effektvoll abweichenden Schmuckformen, den Tropen und Figuren. In der Grammatik verhalfen die Änderungskategorien zu einer Syste-

matik der Regelverstöße im Bereich des Einzelworts (Barbarismus)

3) 4)

und der Wortverbindung (Solözismus). In gleicher Weise wurden auch die lizenzierten Verstöße, die Metaplasmen und Schemata, geordnet. Die Kategorien dienten auch in der Orthographie, Etymologie und Metrik zur Ermittlung und Ordnung von Abweichungsvorgängen. Schließlich wurde auch in der Pathologie der Versuch gemacht, sprachliche Anomalien, besonders im Bereich der Flexionslehre und

der Dialektologie, mit Hilfe des nach Änderungskategorien geordneten Lautwandels zu erklären. Ich wäre glücklich, was die Geschichte der quadripertita ratio angeht, eine ebenso reichhaltige Palette anbieten zu können. Aber jeder Forscher, der sich mit Elan und Entdeckerfreude auf die Suche nach dem Ursprung eines aus der Spätantike bekannten Systems begibt, merkt schnell, daB sie ihn unweigerlich in das Trümmerfeld der hellenistischen Fachliteratur

führt, wo

er dann

mühsam

rekonstruierend,

immer wieder den verführerischen Anfechtungen der Spekulation ausgesetzt, die kärglichen Reste zu einem halbwegs stabilen Gebäude zu vereinigen sucht. Daß das Ergebnis dieser Mühe oft nur ein Kartenhaus ist, wird ihm alsbald von wohlmeinen-

den Kollegen nachgewiesen. Nicht anders ist die Lage in unserem Fall. Die quadripertita ratio hat ihren Platz hauptsáchlich in der Grammatik und Rhetorik. Aber gerade diese beiden Disziplinen zeigen, was die Zeit ihrer schópferischen Ausprägung angeht, schmerzliche Lücken. Denken wir daran, daß in der Rhetorik zwischen Aristoteles und dem Auctor ad Herennium eine Fülle wichtiger rhetorischer Traktate verlorengegangen ist, in denen z.B. der Grundstein für eine systematische Tropen- und Figurenlehre gelegt worden ist. Nicht anders steht es in der Grammatik. Hier fassen wir nach den spärlichen Resten der alexandrinischen Philologie und der in ihrer Echtheit umstrittenen Techne des Dionysios Thrax erst wieder bei Apollonios Dyskolos, also im 2. Jhdt. n. Chr., sicheren Fuß. Über den

schlechten Überlieferungsstand der hellenistischen Philosophie mit ihrer wichtigen Vorläuferfunktion für die Fachdisziplinen brauche ich mich hier nicht weiter zu

Quadripertita ratio

199

verbreiten. Es bleibt also nur der Weg der Rekonstruktion aus den spüten Quellen und der Prüfung der Fragmente der fraglichen Ursprungszeit — eine Mühsal, von der vor allem Karl Barwicks Bücher beredtes Zeugnis ablegen. Bestimmen wir zunüchst noch einmal den Gegenstand. Wir fragen nach der Geschichte der quadripertita ratio, also nach den Ánderungskategorien, die in bestimmter Zahl, weitgehend übereinstimmender Reihenfolge und Terminologie im Bereich der Grammatik für die Sprachfehlerlehre und im Bereich der Rhetorik für die Figurenlehre das Dispositionsprinzip gestellt haben. Mit dieser Frage ist die Bestimmung nach der Geschichte der Anderungskategorien überhaupt ausgeschlossen, denn es gab neben der quadripertita ratio andere Systeme, die der Zahl, Reihenfolge und Terminologie nach variierten, ja in denen bereits Untergliederungsversuche vorgenommen wurden. (Lausberg 1960: I 250ff.). Besonders frei war hier offensichtlich die Pathologie. So verwendet schon der Grammatiker Philoxenos, ein Zeitgenosse

Varros, in seinen Werken eine nicht an die Vierzahl gebundene und terminologisch variable Anzahl von Kategorien (Theodoridis 1976: passim). Ein spätantiker An-

onymus weiB in seinem Traktat πάθη τῶν λέξεων sogar von 27 Arten sprachlicher Abweichung zu berichten (Anecdota Graeca, ed. J. Fr. Boissonade, Vol. III 321f.). Wir beschrünken uns also hier auf die vier Anderungskategorien und gehen zunächst von dem aus, was wir sicher wissen: Im Bereich der spätantiken /ateinischen Grammatik haben wir mehrere Traktate, in denen die Lehre vom Barbarismus

und Solózismus nach den vier Kategorien geordnet ist.!2 Daß diese Lehre aber sehr viel früheren Ursprungs ist, bezeugt Quintilian, der in seinem ersten Buch exakt die gleiche Sprachfehlersystematik vorlegt (Quintilian, Jnstitutio oratoria | 5,5ff.). Das ergibt als terminus ante quem das erste nachchristliche Jahrhundert. Im griechischen Bereich der Grammatik besitzen wir nur einige spátgriechische Traktate — fast alle in Naucks Lexikon Vindobonense gesammelt —, die die Sprachfehlerlehre eindeutig nach der quadripertita ratio anlegen.!? Frühere entsprechend disponierte Darstellungen

sind mir aus dem griechischen Bereich nicht bekannt.!4 In der Rhetorik besitzen wir im lateinischen Bereich keine Figurenlehre, die die

vier Änderungskategorien durchgängig verwendet. Daß es sie aber trotzdem gegeben haben muß, können wir wieder aus Quintilian erschließen, der die quadripertita ratio in seinem neunten Buch als Dispositionsprinzip der Figurenlehre nennt, aber selbst nicht durchgängig danach verfährt (Quintilian, Institutio oratoria IX 3,27; 28; 58; 66).

Eine klar nach den vier Kategorien disponierte Figurenlehre kennen wir eigentlich nur

aus zwei spütgriechischen Traktaten: der pseudo-plutarchischen Schrift de vita et poesi Homeri und der Figurenlehre des Phoibammon aus dem 5./6. Jhdt. n. Chr. (VII 329-462 Bernardakis und Rhetores Graeci 8,492-519 Waltz).

Der Bestand, von dem wir ausgehen müssen, ist also denkbar schlecht: Wir stützen uns überwiegend auf spätantike Traktate und haben - allerdings für Rhetorik 12 13 14

Vgl. die Zeugnisse bei Barwick (1922: 35, 96). Vgl. die Belege bei Barwick (1922: 96, Anm. 5). Sextus Empiricus (adversus mathematicos I 210ff) verwendet keine Anderungskategorien, Dionysios Thrax hat überhaupt keine Sprachfehlerlehre und von Diogenes von Babylon sind nur die bloßen Namen und die Definitionen von Sprachfehlern überliefert (vgl. Diogenes Laertios VII

44 und VII 59).

200

Quadripertita ratio

und Grammatik — nur das Zeugnis Quintilians für den terminus ante quem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Es ist ein Glück, daß wir die jetzt nötige Rekonstruktionsarbeit nicht ohne Hilfe leisten müssen. Wie kaum anders zu erwarten, hat sich vor allem Karl Barwick im Rahmen seiner bedeutsamen Entwicklungsmodelle der antiken Grammatik und Rhetorik auch Gedanken über die Geschichte der vier Anderungskategorien gemacht, ja sie bisweilen als Leitfossil für eine fachliterarische Gruppierung verwendet, von der wir noch hóren werden. Zunüchst zur Grammatik:

Bekannt ist Barwicks These,

die römische ars grammatica sei primär auf stoische Vorbilder, und zwar über eine

pergamenische Zwischenstufe auf die berühmte περὶ φωνῆς τέχνη des Stoikers Diogenes v. Babylon (2. Jhdt. v. Chr.) zurückzuführen. Stoisch ist ihm daher alles an der rómischen ars, und so natürlich auch die Lehre von den virtutes et vitia orationis

mit deren Unterabteilung ,,Barbarismen und Solózismen" (Barwick

1922: 94-96).

Wenn also die Sprachfehlerlehre der rómischen artes von den Stoikern stammt, was

liegt dann näher, als ihnen auch die Disposition nach den vier Anderungskategorien zuzuschreiben. Diese Vermutung verhürtet sich für Barwick dadurch zum Beweis, daß auch die griechischen Traktate über Barbarismen und Solözismen, die nach den

Änderungskategorien disponiert sind, deutlich stoisches Gepräge tragen. Und so gibt es für ihn keinen Zweifel, „daß die Stoiker es gewesen sind, die die vier Kategorien

πρόσθεσις, ἀφαίρεσις, μετάθεσις, ἐναλλαγή in die Lehre vom Barbarismus und Solózismus eingeführt haben“ (Barwick 1922: 97f.).15 Zumindest für den Bereich der Grammatik hatten wir damit, wenn wir Barwick Glauben schenken wollen, schon jetzt eine klare Antwort. Die Stoiker haben die vier

Anderungskategorien zwar nicht selbst erfunden, aber doch als erste in die Sprachfehlerlehre eingeführt und so einen Darstellungstyp entwickelt, der für die spätere ars grammatica verbindlich wurde. So plausibel diese These Barwicks klingt, so ungesichert ist sie auch, wenn man sie näher überprüft. Der erste Einwand: Daß die Stoiker die vier Kategorien in ihrer Sprachfehlerlehre verwendet haben, ist nirgendwo belegt, sondern von Barwick aus dem vermeintlich stoischen Gesamtcharakter der Texte, in den sie eingebettet sind, erschlossen worden. Tatsächlich wissen wir nur, daß Diogenes die beiden Fehler-

kategorien am Ende seiner περὶ φωνῆς τέχνη behandelt haben muB, aber es gibt

keinen Hinweis über die Art ihrer Behandlung.!6 Der zweite Einwand: Schon Calboli hat davor gewarnt, etwa das Fehlen einer Sprachfehlerlehre in der alexandrinischen Techne des Dionysios Thrax zum Anlaß zu nehmen, diese einseitig den Stoikern zuzuweisen (Calboli 1962: 139-142, 156f., 162, 167f., 169-171). Sicher haben sich auch alexandrinische Grammatiker mit dem Hellenismos, dem richtigen Griechisch,

befaßt und Traktate über den Barbarismus und Solózismus geschrieben, wie wir nach einem Bericht des Sextus Empiricus vermuten dürfen (Sextus Empiricus, adversus 15 16

Diese These Barwicks wurde zuletzt von Holtz (1981: 72) ungeprüft übernommen. Vgl. Anm. 14 und bes. Karlheinz Hülsers neue Fragmentsammlung „Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker“ (1982; Bd. III, Nr. 594}, bes. S. 363). Auch die Verbindung von Augustinus, de dialectica,

cap. 6 mit

Varro, de lingua

Latina

5,6

ist kein Beweis

für die

stoische Herkunft der Ánderungskategorien (so Barwick 1957: 31). Varro spricht an genannter Stelle nur von den Ánderungskategorien, ohne sie bestimmten Vorläufern zuzuweisen.

Quadripertita ratio mathematicos

1 176ff., 210ff.).

Wir haben

zwar

201 auch

auf alexandrinischer

Seite

keinen Beleg fiir die Verwendung der vier Kategorien in der Sprachfehlerlehre. Aber es ist jedenfalls nicht sicher auszuschließen, daß die späteren artes auch von hier aus zur Einführung der quadripertita ratio angeregt worden sind. Daß jedenfalls nicht nur die Stoiker,

sondern

auch

die Alexandriner

Lautveründerungskategorien

kannten,

allerdings im Bereich der Etymologie, beweist das Zeugnis Varros in ling. Lat. 6,2: In der Etymologie der Zeitwórter stütze ich mich auf Chrysipp und Antipater (Stoiker) und auf jene, die zwar nicht solche Geistesschdrfe, dafür aber mehr Literaturkenntnisse haben, unter ihnen Aristophanes und Apollodoros (Alexandriner). Sie alle schreiben, daß Wörter so von Wörtern abgeleitet werden, daß sie bisweilen Buchstaben dazunehmen, bisweilen abnehmen, bisweilen vertauschen.!?

Wenn wir also aus Barwicks Überlegungen keine Sicherheit gewinnen können, so steht noch ein anderer, ebenso bekannter Rekonstruktionsversuch zur Verfügung, den Hermann Usener bereits 1892 vorgelegt hat (Usener 1918: 265-314). Usener nennt seinen Aufsatz mit Bedacht „Ein altes Lehrgebäude der Philologie“, denn er

will damit dem breiten, Literatur und Sprache umfassenden Bereich der antiken τέχνη γραμματική gerecht werden. (Wir vergessen ja nur allzu leicht, daß unser Wort „Grammatik“ im Sinne einer systematischen Sprachbeschreibung das Ergebnis einer Bedeutungsverengung des ererbten Begriffes ist.) Usener erschließt aus seinem Belegmaterial ein Philologiemodell, das durchweg auf Vierteilung beruht: Philologie

(τέχνη γρᾳμματική) Arbeitsschritte am Text

Kenntnisse, Hilfsmittel

(μέρη)

Gere)

| Lesen

Wortschatz

Erláutern

Realien

Verbessern

Metrik

Werten

Grammatik (ὄργανον texvıxöv)

Da sind zunächst die μέρη, die vier Operationen

bei der Textbehandlung:

Lesen,

Erläutern, Verbessern und Werten, dann die vier ὄργανα, die Werkzeuge des gram-

maticus, das für seine Tätigkeit nötige Wissen. Es sind dies Wortschatz, Sachwissen,

Metrik und schlieBlich das ὄργανον τεχνικόν, die Grammatik im engeren Sinne, und auch hier findet Usener durchweg Vierteilungen, z.B. in der Orthographie, in der Etymologie, im Hellenismos, in den Redeteilen. Für uns ist nun wichtig, daß Usener auch Quintilians Darstellung des Barbarismus und Solózismus zum Beweis einer weiteren Viergliederung im Bereich der Grammatik nimmt (Usener 1918: 300-302). Auf der Suche nach Zeit und Herkunft des Systems ergibt sich für Usener ein klarer terminus ante quem: Varro. Varro kennt die vier officia grammaticae, die vier 17

Dies gibt auch Barwick (1957: 78) durchaus zu.

202

Quadripertita ratio

Kriterien der latinitas, in der Etymologie die vier Arten der Lautveränderung, viergliedrige Redeteilsysteme u.a.m. (Usener 1918: 278, 297, 298f.). Usener erschlieBt

daraus als die römische Adeptenreihe des Vierersystems: Varro - Remmius Palámon - Quintilian - Römische

artes.

Als

griechischen

Archegeten

des

Vierermodells

versucht er mit Argumenten, deren Erörterung hier zu weit führen würde, den älteren

Tyrannion, den berühmten Grammatiker und Zeitgenossen Varros, einzusetzen (Usener 1918: 303ff., 310f.). Natürlich ist auch an Useners Modell Kritik geübt worden, aber nicht an der Substanz seiner These von einer auf Vierteilung beruhenden Techne grammatike. Man hat nur Anstoß an Tyrannion genommen, das Modell lieber namenlos in das erste Jahrhundert verlegt oder andere Grammatiker, z.B. Tryphon, vorgeschlagen (Haas 1977: 171; Siebenborn 1976: 162; Fehling 1979: 489; Glück 1967: 20). Wir kónnen also aus Useners Aufsatz als bisher anerkannt resümieren, daß im ersten vorchristlichen Jahrhundert im Ringen um eine Systematisierung

der τέχνη γραμματική ein Vierermodell entwickelt wurde, das bald andere konkurrierende Systeme überwand und schlieBlich, für uns insbesondere aus der rómischen

Tradition erkennbar, später verbindliches Modell wurde.!8 Was bedeutet dies nun für unsere Ausgangsfrage nach der Geschichte der vier Änderungskategorien? Leider lassen sich auch auf der Basis von Useners Modell nur Vermutungen anstellen. Ein namentlich nicht bekannter Grammatiker des 1. Jhdts.

v.Chr. könnte in seiner grundsätzlich auf Vierteilung beruhenden τέχνη γραμματική in deren technischem, vom guten Griechisch tion dem allgemeinen kategorien eingeführt

also dem eigentlich grammatischen Teil im Rahmen der Lehre auch eine Sprachfehlerlehre vorgelegt haben, zu deren Dispositetradischen Prinzip entsprechend auch die vier Ánderungswurden. Dies ist jedoch ebensowenig ein Beweis wie Barwicks

These von der direkten Übernahme

aus der Barbarismuslehre

der Stoa, denn

wir

haben auch hier keinen eindeutigen Beleg. Es scheint mir jedoch sehr viel plausibler, die deutlich von der Vierzahi geprägte römisch-grammatische Tradition auch in diesem Punkt enger an das näherliegende und unmittelbar wirksame Vierermodell Useners als an die weiter entfernte Techne des Diogenes von Babylon anzubinden. Was die Einführung der vier Kategorien in die Rhetorik angeht, scheinen wir mehr Glück zu haben. Es ist das unbestreitbare Verdienst Barwicks, als den für die Einführung Verantwortlichen Caecilius von Calacte, einen einfluBreichen Redelehrer der augusteischen Zeit, ausfindig gemacht zu haben (Barwick 1957: 103-107). Aus den Fragmenten der Schrift περὶ σχημάτων des Caecilius (Caecilius von Calacte, Fragmenta, ed. E. Ofenloch, frg. 73-76) ist klar ersichtlich, daß er die Figuren nach den Ánderungskategorien geordnet haben muB, ein Novum im Vergleich zu dem Typ früherer Figurenlehren, wie sie uns beim Auctor ad Herennium oder in Ciceros de

oratore 3,200ff. begegnen.!9 Caecilius ist hier also tatsächlich der gesuchte Neuerer, dessen Einfluß schon allein daraus deutlich wird, daß Quintilians Figurenlehre im neunten Buch sich Caecilius zum Vorbild nimmt. Wenn ich Barwick also darin durchaus folgen möchte, so scheint mir eine andere SchluBfolgerung, die er aus 18

Ähnlich resümiert Siebenborn (1976: 159ff.).

19

Allerdings ergibt sich aus Auctor ad Herennium IV 29, daß zumindest in Unterbereichen, hier der adnominatio, die vier Lautveründerungskategorien auch in diesem Typ von Figurenlehre bekannt waren und verwendet wurden.

Quadripertita ratio

203

seinem Befund zieht, nicht annehmbar. Barwick glaubt, weil ihm die Anderungskategorien unzweifelhaft stoisch sind, in Caecilius den Kronzeugen für einen stoischen Typ von Figurenlehre fassen zu kónnen, der von einem eher peripatetischen Typ ohne Verwendung der Ánderungskategorien zu trennen sei (Barwick 1957: 102f.). Diese These muß, wie ich glaube, schon daran scheitern, daß die Ande-

rungskategorien, wie wir gesehen haben, eben nicht als sicher stoisch gelten kónnen. Unsere Überlegungen zur Einführung der vier Kategorien in Grammatik und Rhetorik haben also aufgrund von Quellenmangel nur zu überaus vorsichtigen Vermutungen führen können. Es spricht sehr viel dafür, daß im 1. Jhdt. v. Chr. im Rahmen eines auf Viergliedrigkeit beruhenden Philologiemodells im ὄργανον texvıκόν eine Sprachfehlerlehre entwickelt wurde, die unsere vier Anderungskategorien erstmals verwendete. Sie scheint von Varro in die rómisch-grammatische Tradition eingeführt und von da an die spätrömischen artes weitergegeben worden zu sein. Die Einführung der vier Kategorien in die Figurenlehre der Rhetorik erfolgte allem Anschein nach ebenfalls im ersten Jahrhundert, und zwar durch Caecilius von Calacte. Wir haben bis jetzt unsere historische Fragestellung nur insoweit erledigt, als wir Urheber und Zeitpunkt der Einführung der vier Kategorien in die Sprachfehlerlehre der Grammatik und Figurenlehre der Rhetorik zu bestimmen versuchten. Natürlich ist das Kategorienquartett selbst älter und nicht erst den Grammatikern und Rhetoren des ersten Jahrhunderts bekannt. Dazu im folgenden noch einige Bemerkungen: Wir haben von Varro gehört, daß in der Etymologie die Lautveründerungskategorien den Stoikern und Alexandrinern bekannt waren. Aber schon Barwick hat darauf hingewiesen, daß die Suche am meisten Erfolg verspricht, wenn sie in Richtung Peripatos weitergeht. Die Stoiker sollen nämlich laut Barwick die vier Anderungskategorien aus der peripatetischen Physik übernommen haben, was ihm eine Stelle aus Philons Schrift „Über die Unvergänglichkeit der Welt" zu beweisen scheint (Philon, de incorruptione mundi, cap. 22, ed. F. H. Colson, London:

Loeb,

1967, Vol. IX, p. 262 und Barwick 1922: 98). Im 22. Kapitel der Schrift Philons wird tatsächlich von peripatetischer Seite gegen die Stoiker für die Unvergänglichkeit der Welt plädiert, und zwar mit unseren vier Kategorien und in exakt gleicher

Terminologie und Reihenfolge, nämlich πρόσθεσις (adiectio), ἀφαίρεσις (detractio), μετάθεσις (transmutatio) und ἀλλοίωσις (immutatio). Die vier Kategorien werden mit Beispielen erläutert und dann der Nachweis geführt, daß alle vier Veränderungsarten auf das Weltganze nicht anwendbar sind, also seine Zerstórbarkeit nicht beweisen kónnen. Diese Stelle ist ein erster,

wichtiger Beleg dafür, daB

die vier

Anderungsarten nicht auf den grammatisch-rhetorischen Bereich fixiert sein müssen,

sondern als Kategoriensystem durchaus bewegungsfähig waren, also auch z.B. der Physik dienlich sein kónnen. Ein Beweis für die Übernahme der Kategorien durch die Stoiker ist die Stelle meiner Ansicht nach nicht, denn wir hóren nur von der Polemik

von Peripatetikern gegen eine stoische Ansicht, woraus nicht notwendigerweise folgt, dab die Stoiker die bei dieser Polemik verwendeten Kategorien übemommen

haben. 20

Die Stoiker scheinen im Gegenteil das peripatetische System der Veründerungsarten deutlich umgestaltet zu haben, wie Stoicorum Veterum Fragmenta 1l 492 von Arnim zeigt. Stoicorum

204

Quadripertita ratio

Die nächste peripatetische Spur führt gleich zu Aristoteles, denn die einschlägigen Fragmente des Theophrast zeigen in diesem Punkt ein zu unklares Bild, um

hier vorgeführt zu werden.2! Bei Aristoteles findet man Ansätze zu einer Systematisierung von Anderungskategorien in seiner Physik. Zu Beginn des fünften Buches (Aristoteles, Physik VI, 224a21-226b17) wird ein System der μεταβολαί versucht, das von vier denkbaren Veränderungsvorgängen ausgeht:

1) Aus Nichts wird Etwas

02

x

(γένεσις)

2) Aus Etwas wird Nichts

x >

0

(φθορά)

3) Das Etwas bleibt wührend der Veründerung erhalten

x

x

(κίνησις)

4) Aus Nichts wird Nichts

0



0

Weil die vierte Möglichkeit ausscheidet, verbleiben drei μεταβολαί, deren erste Aristoteles γένεσις, deren zweite er φθορά und deren dritte er κίνησις nennt. Aristoteles überprüft nun die verbleibenden drei μεταβολαί mit Hilfe seiner Kategorientafel. γένεσις und φθορά können nur einer Kategorie, nämlich der οὐσία zugeordnet

werden,

denn

Werden

und Vergehen

betrifft

immer

das Sein bzw.

Nichtsein des Gegenstandes. Dagegen kann die dritte Veründerung, die κίνησις, auf drei Kategorien verteilt werden, auf Qualität, Quantität und Position. Ein Gegenstand kann sich qualitativ verändern, größer oder kleiner werden oder seine räumliche Position wechseln. So entsteht das System:

21

Veterum Fragmenta Il 494 zeigt Nähe zum Peripatos, aber nichts deutet auf stoische Herkunft des Galenzitats, weshalb seine Aufnahme in die Stoikerfragmente mir mehr als fragwürdig erscheint. Vgl. Mayer (1910). Was Mayer hier S. 75ff. und 197ff. vorträgt, halte ich für höchst fragwürdig und ungesichert.

Quadripertita ratio Kategorien

Veránderungen

Existenz οὐσία

Werden. Vergehen γένεσις. φϑορά

Qualitat ποῖον

Umwandlung ἀλλοίωσις

Quantitat ) πόσον

Zunahme, Abnahme M ; αὔξησις. φϑίσις

Position κατὰ τόπον

Ortswechsel φορά

Dieses in der Physik entwickelte anderen

205

Kontexten

Psychologie??

verwendbar,

System so

z.B.

(z.B. Aristoteles, de anima

,

L— πίνησις

ist tatsächlich beweglich

und

in

oder

der

Kategorienschrift

I 3,406a12ff.

auch in

und Kategorien

in der

XIV,

15al3ff.). Aber schon bei Aristoteles kann man beobachten, daß es — jedenfalls der Sache, nicht der Terminologie nach — auch im grammatisch-rhetorischen Bereich zur Anwendung kam, und dies sogar, wie spüter in der ars grammatica, im Bereich der

ἀρεταὶ λέξεως, der virtutes dicendi. Es scheint námlich, als ware die Brücke zu dem bisher Entwickelten eher im 21. und 22. Kapitel der Poetik zu finden. Mit dem 21. Kapitel der Poetik schlieBt Aristoteles dem Verzeichnis der μέρη

τῆς λέξεως, den Sprachkonstituenten in Kapitel 20, einen lexikalischen Abschnitt an, in dem er den Wortschatz nach morphologischen (Simplex / Kompositum) und stilistischen Kriterien gliedert. Aus stilistischer Sicht teilt er den Wortschatz in zwei GroBgruppen, in den Wortschatz des Üblichen, Passenden, Gewóhnlichen unter der

Überschrift ὄνομα κύριον und in den Wortschatz des Ungewóhnlichen, Abweichenden, Fremdartigen unter dem Stichwort ὄνομα Eevixdv.23 Zum ξενικόν zählt die Glosse (das ungebräuchliche, seltene Wort), die Metapher,

das Schmuckwort,

die

Neubildung und — jetzt wird es interessant — das erweiterte, verkürzte und ausgetauschte Wort. Im Verlauf des Kapitels werden für diese drei Wortarten jeweils Beispiele gegeben (1457b35-145827):

1) ὄνομα ἐπεκτεταμένον

=

Πηληιάδεω) Πηλείδου

=

κρῖ [κριθή (Gerste)

erweitertes Wort 2) ὄνομα ἀφῃρημένον

verkürztes Wort 3) ὄνομα ἐξηλλαγμένον

δῶ / δῶμα (Haus) =

ausgetauschtes Wort

4)

22 23



δεξιτερόν / δεξιόν (Komp.)

=

(Positiv)

δωμάτων ἄπο, ἀπὸ δωμάτων ᾿Αχιλλέως πέρι / περὶ ᾿Αχιλλέως

Zur voraristotelischen Tradition der Bewegungslehre vgl. Oehler (1984: 285-86). Dies wird allerdings erst mit Beginn des 22. Kapitels völlig deutlich (vgl. 1458a22f.).

206

Quadripertita ratio

Auf den ersten Blick leuchtet ein, daß hier drei der vier Anderungskategorien, nämlich adiectio, detractio und immutatio als ordnungsstiftendes Prinzip wirken. Aber Kap. 22 zeigt, daß Aristoteles auch die vierte Kategorie, die transmutatio kennt, ihr

allerdings keinen Namen gibt, wenn er nämlich die Kritik an poetischen Wendungen wie δωμάτων ἄπο und ᾿Αχιλλέως πέρι zurückweist (1458b33ff.). Ich habe sie daher als vierte Kategorie in die obige Tabelle mit aufgenommen. Aber Aristoteles begnügt sich nicht damit, die lexikalischen Veränderungsarten im 21. Kapitel zu katalogisieren. Er macht sich im 22. Kapitel auch Gedanken über ihre Funktion. Sie ergibt sich schon aus dem Zusammenhang der beiden Kapitel. Der lexikalische Gruppierungsversuch von 21 ist ja nicht Selbstzweck, sondern er soll

dem Dichter das Rüstzeug für die ἀρετὴ τῆς λέξεως, für die richtige Verwendung der Sprache in der Dichtung, an die Hand geben. Dies ist das Thema von 22, und hier erweisen sich die beiden Wortschatzgruppen als äußerst wichtig für die Qualität der poetischen Sprache. Sie muB aus einer Mischung zwischen Gewóhnlichem und

Erhabenem, zwischen Alltäglichem und Fremdem, zwischen κύριον und ξενικόν, kurz zwischen Norm und Abweichung bestehen. Bewegt sich der Dichter nämlich ausschließlich im Bereich des κύριον, so wirkt seine Dichtung banal, verfährt er ebenso im Bereich des ξενικόν, so wirkt sie fremdartig bis zur Unverständlichkeit. DaB bei der richtigen Mischung gerade die drei Veründerungsformen eine wichtige Rolle spielen, sagt Aristoteles selbst: Durchaus nicht wenig tragen sowohl zur Klarheit als auch zur Ungewóhnlichkeit der sprachlichen Form die Erweiterungen, Verkürzungen und Abwandlungen der Worter bei. Denn dadurch, daB sie anders beschaffen sind als der übliche Ausdruck und vom Gewohnten abweichen, bewirken sie das Ungewöhnliche, dadurch aber, daß sie dem Gewohnten nahestehen, die Klarheit. (Aristoteles, Poetik 22, 1458a34-b5. Ich zitiere

nach der Übersetzung Fuhrmanns.) Ich zweifle nicht, daß wir mit diesen beiden Kapiteln der Poetik einen der möglichen Ursprungsbereiche24 gefunden haben, von dem aus die spätere Lehrtradition der Poetik und Rhetorik die Anderungskategorien übernehmen und weiterentwickeln konnte. Dürfen wir Aristoteles verlassen, ohne seinen Lehrer Platon nicht wenigstens

kurz zu erwühnen? Ich glaube, nein. Natürlich kennt auch Platon das Kategorienquartett, wie bereits Barwick ermittelt hat (Barwick 1957: 71). In seinem Dialog Kratylos wird mehrfach behauptet, daß der Lautstand des Wortes für seine Bedeutung, also auch für die Etymologie, unwesentlich sei. Hier herrscht Willkür, denn so z.B. Platon 394b: ,,Wer sich auf die Würter versteht, der sieht auf ihre Bedeutung und erschrickt nicht, wenn da ein Buchstabe dazugetan, versetzt oder weggenommen ist" Da sich schließlich, wie wir Sokrates’ Eingangsworten entnehmen können (Platon, Kratylos 384b und c), auch die Sophisten intensiv mit der im Kratylos vorgeführten Problematik bescháftigt haben, verliert sich die Spur der quadripertita ratio

für uns im Streit des fünften Jahrhunderts um die ὀρθότης τῶν ὀνομάτων, um die Richtigkeit der Namen. 24

Es hat wahrscheinlich noch weitere Bereiche gegeben, die uns jedoch aus Überlieferungsmangel unbekannt sind.

Quadripertita ratio

207

Ich komme zum Schluß: Der bedauernswerte Verlust vieler wichtiger Texte, insbesondere der hellenistischen Zeit, hat uns leider nur einen lückenhaften Einblick

in die Geschichte der quadripertita ratio gewinnen lassen. Wir werden dafür durch die Vielfalt von Informationen über die Verwendungsarten der vier Kategorien entschädigt, die bei Quintilian und in den spätantiken artes ausführlich dokumentiert sind. Hier wurde deutlich, daß man sicher oft einen allzu schematischen, übertrie-

benen, bisweilen naiven Gebrauch von den Änderungskategorien

machte. Dafür

wurde aber andererseits ein Instrument

heute

geschaffen,

das uns

noch

in vieler

Hinsicht brauchbar erscheint. Und wenn die Parodieforschung nach Verfeinerung der

Kategorien und Überprüfung ihrer Anwendbarkeit verlangt (s. S. 192), so können sicher auch die antiken Texte noch manches dazu beitragen. Wir haben schon erwähnt, daß es in der Pathologie einen Verfeinerungsversuch gegeben hat (s. S. 199), und, was die Anwendbarkeit angeht, so läßt sich fraglos aus den zahllosen Einzelfällen der Anwendung von Änderungskategorien in der antiken Sprachfehler- und Figurenlehre noch immer Nutzen ziehen. So zeigt sich, daß es auch in diesem Punkt lohnt, Kontinuität zu wahren und die antiken Antworten auf unsere Fragen nicht völlig zu vernachlässigen.

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208

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DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG BEI QUINTILIAN

„Auch

die

Geschichtsschreibung

kann

den

Redner

mit

reichhaltigem

und

angenehmem Saft nähren. Aber sie muß ebenfalls so gelesen werden, daß uns klar ist,

daß der Redner die meisten

ihrer Vorzüge

meiden

muß.

Sie steht

nämlich

der

Dichtung sehr nahe und ist gewissermaßen ein Gedicht in Prosa.“ „Est enim proxima

poetis, et quodam modo carmen solutum est." Was Quintilian hier im zehnten Buch seiner Institutio oratoria (10,1,31) von der Geschichtsschreibung sagt, gehört wohl zu den bekanntesten Zeugnissen für die antike theoretische Reflexion über diese bedeutende Prosagattung. Aber schon der Kontext dieser Stelle zeigt natürlich auch, daß es nicht in der Absicht Quintilians liegt, eine Art Theorie der Historiographie zu entwerfen. Die Geschichtsschreibung wird vielmehr — dies allerdings in einer betrüchtlichen Zahl von Stellen — stets aus einer gewissermaBen fachdidaktischen Perspektive heraus einbezogen und tritt nur dann in Erscheinung, wenn sie einen Beitrag zur Erziehung des Redners leisten kann. Trotz dieser Einengung auf eine administrative Funktion bleibt der literaturtheoretische und gattungsgeschichtliche Wert der AuBerungen Quintilians zur Geschichtsschreibung jedoch so groB, daB es sich ihnen immer noch nachzuspüren lohnt.! Die Historiographie? ist als Gattung und in ihren Hauptvertretern in zahlreichen Einzelstellen eigentlich über das gesamte Werk hin präsent, vom ersten Unterricht beim Literaturlehrer, dem grammaticus, bis

hin zur letzten Phase des Rhetorikstudiums. Thematisch konzentriert wird sie als Gattung allerdings nur in drei Abschnitten des zehnten Buches behandelt (10,1,3134; 73-75; 101-104), auf die ich noch gesondert zu sprechen komme. Verfolgen wir

zunächst das Erscheinen der Historiographie bei Quintilian in der Reihenfolge seines rhetorischen Curriculums. Im Unterricht beim Literaturlehrer taucht die Historiographie erstmals

1,6,2

und 11 auf. Hier geht es im Zusammenhang mit den Normen des richtigen Sprechens (1,6) um die Norm der auctoritas, der Autorität der literarischen Tradition, die etwa 1

2

Vgl. dazu die äußerst solide, aber natürlich knappe Darstellung bei A. D. Leeman, Orationis Ratio, 2 Bde., Amsterdam 1963, 1 329-332 und die von Stellenmaterial und Literaturauswertung her völlig unzureichende Darstellung von E. Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Formen der Geschichtsschreibung, Beiträge zur Historik, Bd. IV, hrsg. v. R. Koselleck u.a., München 1982, 47-50. Nur gelegentlich wird die Historiographie von G. Kennedy, Quintilian, New York 1969 erwähnt, bes. 105. Das wichtigste Stellenmaterial in der Quintilianausgabe von Spalding-Zumpt-Bonell, 17981834, 6 Bde. Band 6 (Lexicon Quintilianeum), 383f. s.v. historia und historicus und (unvollständig) bei J. Cousin (Ed.), Quintilien, Institution oratoire, Coll. Bude, 7 Bde., Paris 1975-1980, Tome VII, 290. Es ist zu beachten, daß historia von Quintilian doppeldeutig verwendet wird. Im Kontext des Grammatikunterrichts heißt historia ,Sachwissen, Sachkommentar, Sacherläuterung‘ entsprechend dem méros historikön der antiken Grammatik, so 1,2,14; 1,4,4; 1,8,18; 1,9,1; 2,1,4. (Daher auch das textkritische Problem dieser Stelle, wo historici m.E. nur „Wissenschaftler“ o.ä. heißen kann.) Mit historia im Singular ist die Gattung, im Plural sind eher konkrete Geschichtswerke gemeint. Vgl. W. Peterson, Quintiliani institutionis oratoriae Liber X, Oxford 21903, Part I: Introduction and Text, Part II: Notes, II 47 zu 10,1,75.

210

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

zur Wahl von bestimmten Wörtern und Wendungen berechtigt. Maßgebend ist hier der Sprachgebrauch der Redner und Historiker, nicht der der Dichter. Seltsamerweise ist aber nirgendwo im Grammatikteil des ersten Buches (1,4-9) von der dazu nótigen Historikerlektüre die Rede, die man jedenfalls zwischen den Zeilen auch für den Grammatikunterricht bei Quintilian voraussetzen muß.“ Dies hängt ohne Zweifel mit der Tendenz Quintilians zusammen, im Kompetenzstreit

und Rhetorik? die Grammatik Prosa,

darunter auch

zwischen Grammatik

auf die Dichtererklärung zurückzudrüngen

die Historikerlektüre,

für die

Rhetorik

zu

und die

reklamieren,

so

explizit 2,5,1.6 Die Geschichtsschreibung und ihr Gegenstand begegnen uns sogleich wieder in der ersten Phase der Ausbildung beim Redner (2,1-10). Zu den Anfangsübungen zählt die historia, die an der Historiographie orientierte schriftliche Nacherzählung historischer Vorgänge, die als spezifisch rhetorisches Propüdeutikum zwei anderen, poetischen Arten der narratio, fabula und argumentum, gegenübergestellt wird. Sie fallen in die Kompetenz des Grammatikers.’ Historische Themen und Formen der Historiographie spielen auch bei weiteren rhetorischen Vorübungen eine Rolle, ohne daB dies immer explizit gesagt würde: Die Abschwüchungs- und Stürkungsübungen

(ἀνασκευή

κατασκευή) z.B. kónnen auf die Annalen zurückgreifen, weil hier vieles

ebenso diskussionswürdig ist wie in der Dichtung, wovon der Zweifel des Livius und die Unstimmigkeiten der Historiker untereinander zeugen (2,4,18f.). Auch die Übung „Lob und Tadel großer Männer“

(2,4,20) bedient sich natürlich historischer Sujets,



obwohl Quintilian hier wie auch bei der nächsten Übung, der comparatio (σύγκρισις) (2,4,2D), als die dafür zuständige Gattung eher die Biographie als die eigentliche Historiographie vorschweben dürfte. Hier wird erstmals auch der Gewinn von Sachkenntnis und von Exempla aus der Beschäftigung mit Geschichte ausgesprochen. Zu den produktiven Vorübungen der genannten Art tritt als Mittel rezeptiver Propädeutik die Prosalektüre, also die Lektüre von Rednern und Historikern (2,5). Auch hier also leistet die Historiographie ihren pädagogischen Dienst, aber es kann kein Zweifel daran sein, daB Quintilian den Schwerpunkt auf die Rednerlektüre gelegt

4

5 6 7

Zur praktischen Anwendung und zu den Grenzen der auctoritas vgl. 1,6,42. Dies läßt sich jedenfalls aus 1,4,4 (omne scriptorum genus) und aus dem im Vergleich zum engeren poetarum enarratio (1,4,2) weiteren enarratio auctorum (1,9,1) erschlieBen. Die von I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, München 1977, 512, Anm. 62 genannten Stellen 1,8,18 und 2,1,4 sind kein Beleg für Historikerlektüre im Grammatikunterricht, weil historia / -ici hier nichts mit Geschichte zu tun haben. Vgl. dazu 2,1,1-6, wonach die Grammatik, sehr zum Mißfallen Quintilians, 2.T. schon bis zu den Suasorien in das Terrain der Rhetorik vorgedrungen ist. Dies wird auch indirekt deutlich an dem Lektürekatalog für den Grammatikunterricht 1,8,5-12, in dem nur Dichtung vorkommt. Vgl. 2,42-17. Fabula und argumentum orientieren sich an Stoffen der Tragödie und Komödie, historia orientiert sich an denen der Historiographie. Die 2,4,2 gegebene Dreiteilung der narratio (extra causam) \4Bt sich über Auct. Her. 1,13 und Cicero, inv. 1,27 bis zu Asklepiades v. Myrlea bei Sext. Emp., adv. math. 1,252 zurückverfolgen. Zur Bedeutung dieser Stelle für den peripatetischen Ursprung der tragischen Geschichtsschreibung vgl. F. W. Walbank, History and Tragedy, Historia 9 (1960), 216-235, 225.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

211

haben will.® Die Historiographie erscheint erst spät (in der Lektüreempfehlung von 2,5,18-26) und hier an nur einer Stelle (2,5,19), an der Livius dem Sallust als Anfängerautor vorgezogen wird.? Die pädagogische, nicht sachorientierte Tendenz dieses Vorschlages wird unmittelbar deutlich. Nicht die auctores minores, sondern gleich die auctores optimi sollen von Anfang an gelesen werden. In der Geschichtsschreibung empfiehlt sich daher unter den auctores optimi eher Livius als Sallust. Zwar ist Sallust der bessere Historiker, kann aber nur Fortgeschrittenen zugemutet werden. Dagegen gehört Livius zu den sehr klaren und leicht zugänglichen, also auch schon für Anfänger geeigneten Autoren. Neben der Lektüre hilft auch das Auswendiglernen mit, die ersten Fundamente

für die Rednerausbildung zu legen (2,7). Dazu gehört auch das Einprägen ausgewählter Partien aus Reden und Geschichtswerken (2,7,2). Solche Übung trainiert das Gedáchtnis und schafft einen Vorrat an Mustern,

die zur Nachahmung,

zur Wort-

schatzsteigerung und als Argumentationshilfe vor Gericht stets zur Verfügung stehen

(2,7,3-4): Zum Schluß der rhetorischen Propädeutik (2,1-10) erscheint die Historiographie noch einmal in Kapitel 8, wo es um die Begabungsunterschiede der Schüler geht. Der Lehrer hat darauf zu achten, ob ein Schüler eher für die Historiographie, für die Dichtung oder für das Rechtsstudium geeignet ist, und seine Stoffwahl entsprechend darauf einzurichten (2,8,7).

Mit dem Kapitel 2,11 tritt die chronologische, curriculare Perspektive zurück und macht der fachsystematisch orientierten Behandlung Platz. Wir haben damit zugleich das Gebiet des eigentlichen Rhetorikunterrichts erreicht. In der Erörterung der Grundlagen der rhetorischen Theorie (2,11-3,5) treffen wir nur an einer Stelle (2,18) auf die Historiographie, hier aber in einem neuen, überraschenden Zusammen-

hang. Die Rhetorik, so heißt es dort, ist primär eine praktische Kunst, aber sie hat auch Züge der theoretischen und poetischen Kunst, letzteres, weil der Redner seine Produkte auch schriftlich fixieren kann, darunter eben nicht nur Reden, sondern auch

Geschichtswerke (2,18,5). Sie werden von Quintilian ausdrücklich dem Redner als

mögliches Betätigungsfeld zugestanden. !0 In ihrer gewohnten Dienstleistungsfunktion begegnen wir der Historiographie dann wieder im Rahmen der inventio (3,6ff.), und zwar in dem der Beratungsrede gewidmeten Kapitel 3,8. Die Besprechung der Suasorie, der Übungsrede im genus deliberativum, läßt deutlich erkennen, daß hier Beratungssituationen mit Hilfe von Themen aus der griechisch-römischen Geschichte fingiert werden, z.B. aus dem Alexanderzug, den Punischen Kriegen, dem Samnitischen Krieg, Cäsars Gallischem

Krieg u.a.m. (3,8,16ff.).!! Oft nimmt der Beratende auch die Rolle einer historischen Person an, eine Übung, die Quintilian nicht nur für den angehenden Redner, sondern auch für den kommenden Historiker (historiarum futuris scriptoribus) und Dichter 8 9 10 11

So Quintilian direkt 2,5,1 und indirekt durch die Tatsache, daß die Probleme der Anfängerlektüre nur anhand der Rednerlektüre erläutert werden (2,5,5-17). Die Erwähnung der Gracchen und Catos 2,5,21 zielt ganz offensichtlich auf deren Reden, nicht etwa auf ein Geschichtswerk wie Catos Origines. Vgl. 2,18,5: ,,... historiis, quod ipsum opus in parte oratoria merito ponimus." Vgl. dazu M. L. Clarke, Die Rhetorik bei den Römern, Göttingen 1968, 118.

212

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

für wichtig hilt (3,8,49). Historische (und poetische) Themen sind indessen nicht nur in Suasorien, sondern auch in den Kontroversien,

also in den

Übungen

zum

genus iudiciale, und auch im genus demonstrativum üblich (3,8,52f.). Überhaupt läßt sich das Wesen der Beratungsrede weniger aus der rhetorischen Theorie als aus der Lektüre von Reden auch in Geschichtswerken nachvollziehen (3,8,67). Die Geschichtsschreibung übt also auch im Fortgeschrittenenbereich der Deklamationsübungen administrative Funktionen aus — als Reservoir für Themen und Musterreden. Ich übergehe einige weniger wichtige Nennungen der Historiographie im vierten, sechsten und achten Buch!2 und gehe gleich zu zwei Stellen im neunten Buch über, die für den Unterschied von Rede und Geschichtsschreibung wichtig sind: 9,4,18 und

129.13 Es geht in 9,4 um die compositio verborum, die Wortfügung, und in diesem Zusammenhang differenziert Quintilian an den beiden genannten Stellen Rede und Geschichtsschreibung. Die Historiographie verlangt einen flüssigen, fortlaufenden Stil, zu dem die staccatohafte Kolon- und Klauseltechnik der Periode in der Rede

nicht passen würde. Trotzdem gibt es natürlich Ansätze zur Rhythmisierung auch in der Geschichtsschreibung, z.B. schon bei Herodot. Bereits Leeman hat darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung in der aristotelischen Tradition der Trennung von

λέξις eipouévn und κατεστραμμένη steht.!4 Im zehnten Buch wird die Historiographie auBer in den schon genannten zusammenhängenden Passagen (10,1,31-34; 73-75; 101-104), die gleich zur Sprache kommen, noch an drei Stellen kurz behandelt, von denen ich im Moment nur 10,5,15 erwähnen möchte. Hier wird, wie schon 2,442, die historische Erzählung (historia) als

schriftliche Übungsform empfohlen.!5 Die Reihe der Erwähnungen der Historiographie endet im vierten Kapitel des 12. Buches.!ó Neben der Rechtskenntnis muß der Redner zur Stärkung seiner Durchsetzungskraft vor Gericht auch über eine Fülle von Exempla, Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart, verfügen. Hier hilft u.a. die Lektüre von Geschichtswerken. Die Beschüftigung mit Geschichte erweitert überhaupt den Horizont über die eigene Lebensphase des Lernenden hinaus und ersetzt die autoritütsschaffende Weisheit

des Alters.

So liefert die Lektüre

der Historiker,

wie

spüter

12,11,17

resümierend gesagt wird, dem Redner die exempla rerum, wührend die Lektüre der Redner selbst zur Beschaffung von exempla dicendi dient. Nun zu den Passagen, in denen Quintilian in konzentrierter Form von der Gattung Historiographie spricht: Das zehnte Buch gibt Ratschlüge für die praktische 12

Vgl. 4,2,2:

Historiker verwenden die narratio causarum;

urbanitas aus der Geschichte; Historikern.

8,2,15:

6,3,44

und

Parenthese eher Historikerstil;

98: 8,6,65:

Gewinnung Anastrophe

13

Nicht berücksichtigt wird die Stelle 9,2,37: Prosopopoiie in Erzählform bei Livius.

14 15

Vgl. Leeman 1963, 1 330 und Aristoteles, Rhetorik 3,9,1-3. 10,2,7 betrifft die aemulatio als treibende Kraft der Literaturgeschichte,

graphie. Die besprochen. 16

wichtige

Stelle

10,2,21f.

wird

spüter

im

bei

so auch der Historio-

Zusammenhang

Der Untertitel von 12,4 lautet: „item historiarum «sc. necessariam dazu auch 10,1,34.

von

mit

10,1,31-34

oratori scientiam>.“

Vgl.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

213

Verfestigung der elocutio-Theorie von Buch 8 und 9. Man kann seinen Stil durch Lektüre (10,1) und Nachahmung (10,2) von Musterautoren und durch praktische

eigene Übungen (10,3-7) erweitern.!7 10,1 ist also der Lektüre guter Autoren gewidmet. Nach einer den Vorteil der Lektüre allgemein betreffenden Einleitung (88 1-26) wird die Lektüre der drei Gattungen Dichtung ($8 27-30), Geschichtsschreibung ($8 31-34) und Philosophie (88 35-36) stets aus der Sicht des rhetorischen Pädagogen

diskutiert. Es folgt nach einer Vorbemerkung ($8 37-45)!8 der berühmte Lektürekanon griechischer ($8 46-84) und rómischer Autoren ($8 85-131), jeweils nach Gattungen in der Reihenfolge Dichtung, Historiographie, Beredsamkeit und Philosophie geordnet. Wir finden also entsprechend dieser Aufteilung die Geschichtsschreibung an drei Stellen: als Gattung allgemein ($8 31-34) und als Katalog griechischer (§§ 73-75) und rómischer Historiker ($8 101-104). Quintilians Äußerungen über den Lektürewert der Geschichtsschreibung allgemein ($88 31-34) müssen mit dem Abschnitt über die Dichtung (δὲ 27-30) zusammengesehen werden: Die Dichtung nützt dem Redner vor allem, denn in ihr findet er gedankliche Anregung, hohes sprachliches Niveau, musterhafte Affekt- und Charaktergestaltung oder einfach nur Erholung von der täglichen forensischen

Betriebsamkeit.!9 Aber dennoch ist Vorsicht geboten: Die dichterische Freiheit im Wort- und Figurengebrauch ist dem Redner nicht erlaubt. Die Dichtung dient der Zurschaustellung (ostentatio), dem Vergnügen (voluptas) und schreckt dabei nicht vor der unwahrscheinlichen oder völlig unglaubwürdigen Fiktion zurück. Zudem bringt der Verszwang zahlreiche sprachliche Lizenzen mit sich, die in Reden fehl am Platz sind. Der Redner verfolgt dagegen ein anderes Ziel. Er ist ein ernsthafter Kämpfer, der nicht unterhalten, sondern wichtige Entscheidungen suchen und dabei siegen will. Eine poetische Sprachgebung würde ihn da nur behindern. Man merkt, daB es Quintilian vor allem auf den Funktionsunterschied von Dichtung und Rede ankommt, für den die von ihm genannten sprachlichen Einzelzüge nur Indizien sind. Die Dichtung will Unterhaltung, die Rede will die kampferische Auseinandersetzung mit dem Ziel, sich durchzusetzen. Mit der Geschichtsschreibung ist es nicht viel anders als mit der Dichtung. Auch sie ist dem

Redner

nützlich,

aber nur unter Vorbehalten,

die wiederum

aus der

unterschiedlichen Zielsetzung beider Gattungen erwachsen. Die Geschichtsschreibung steht der Dichtung sehr nahe, sie teilt also mit ihr das Ziel der Unterhaltung und

des Vergnügens, denn ihr geht es um das bloße Erzählen (narrare)29, nicht um den Beweis (probare). Ihr liegt nicht der gegenwärtige Streitfall, sondern die Bewahrung des Vergangenen und das Prestige des Schriftstellers am Herzen. Sie darf sich daher 17 18

19

Zur Disposition von Buch 10 vgl. Peterson 21903, Part. I, XVf. und Leeman 1963, 1311. Hier wird $ 42 und 45 die pädagogische Tendenz des Lektüredurchgangs betont: Erstrebt wird eine Auswahl der besten Autoren, die natürlich nicht vollständig sein kann. Es heißt § 45: »paucos (sunt enim eminentissimi) excerpere in animo est.“ und später § 104: „sunt et alii scriptores boni, sed nos genera degustamus, non bibliothecas excutimus." Zur Tradition und Wirkung der hier von Quintilian geäußerten Ansichten vgl. Peterson 21903, I1 17-19 und Leeman

20

1963, 1 311ff.

Narrare gehört zwar ebenfalls zu den Aufgaben des Redners, aber eben nur als eine Teilaufgabe, die in Kapitel 4,2 geschildert wird.

214

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

auch der Dichtung in der freieren Wortwahl und Figurierung nähern. Die Rede muß darauf achten, ihre Wirkung auf den Adressaten, den Richter, nicht zu verfehlen, ihre

Sprache der Redesituation und dem Argumentationsziel anzupassen. Daher ist die brevitas des Sallust in der Rede unangebracht, ebenso auch die lactea ubertas des Livius, denn jene würde das Verständnis erschweren, diese nicht Belehrung leisten

(docere) und Glaubwürdigkeit (fides) vermitteln.?!

Kurz:

Der Redner muB die

Gattungsstile um ihrer Funktion willen auseinanderhalten.22 Erlaubt ist die Eleganz des Historikers nur in Exkursen der Rede. Nachdrücklich wird jedoch zum Schluß des Abschnitts der Wert der Historikerlektüre für die Sachkenntnis des Redners und für dessen Vorrat an historischen Exempla unterstrichen, die der rednerischen Argu-

mentation sehr zugute kommen.

Jedoch ist dies ein Vorzug, der nicht in den

stilistischen Zusammenhang des zehnten Buches gehört. Es ist schon auffällig, wie stark Dichtung und Geschichtsschreibung hier von Quintilian parallelisiert und gemeinsam von der Rede abgesetzt werden. Sie treffen sich in wesentlichen Funktionsmerkmalen, in ihrer dadurch bedingten Sprachgebung und sind eigentlich nur durch das Verskriterium voneinander absetzbar. Ab § 46 beginnt der Lektürekanon. Die lange Reihe illustrer Literaten beruht auf einer stets didaktisch orientierten und bewußt unvollständigen Auswahl der besten

Autoren.2? In diesem Sinne folgt auf den Katalog griechischer Dichter ($8 46-72) der Kanon empfehlenswerter griechischer Historiker (88 73-75). Natürlich machen die

auctores optimi Thukydides2^ und Herodot (in dieser Reihenfolge) den Anfang, vorgestellt in Form einer Synkrisis, wie schon bei Cicero im Orator § 39. Verglichen wird unter stilistischem Aspekt: Der Stil des Thukydides zeigt gedrängte Kürze, der Herodots ist von wohltuender, flüssiger Klarheit. Unterschiede zeigen sich auch in

der Affekt- und Redengestaltung25,

so wie allgemein in der Grundtendenz

der

Dynamik (vis) bei Thukydides und des Charmes (voluptas) bei Herodot. Es folgt

Theopomp^6 — selber lange Zeit Redner, bevor er Geschichte schrieb — und wird für seine Nähe zur Beredsamkeit gelobt. Philistos27, der nächste, steht seinem Vorbild 21

In diesem Sinne hatte sich schon Cicero über Thukydides und Xenophon im Orator 39 und 62

22

geäußert. Vgl. Quintilian 10,1,33. So ausdrücklich 10,2,21f. — eine Stelle, auf die ich später zurückkomme.

23

Vgl. oben Anm. 18. Welche Auswahlprinzipien zur Anwendung kommen und in welcher Tradition sie stehen (alexandrinische Kanones), hat P. Steinmetz am Beispiel des griechischen Literaturabrisses gezeigt: Gattungen und Epochen der griechischen Literatur aus der Sicht Quintilians, Hermes 92 (1964) 454-466. Erstes Prinzip ist die Einteilung nach Gattungen (Dichtung nach Metren geordnet, Kunstprosa in der Aufgliederung Historiographie, Rede, Philosophie). Im Einzelkatalog ist das Wertprinzip (die Besten zuerst!) bestimmend, chronologische Reihung kommt vor, ist aber zweitrangig. Die Wertung berücksichtigt vor allem die stilistische Gestaltung. Quintilian zeigt gegenüber der Tradition eigene Ansätze.

24

Vgl. zu Thukydides noch 10,1,33.

25

Thukydides’ Stärke liegt im Pathos (Emotionen mehr spontaner Natur), Herodots im Ethos (dauernde Charakterzüge). Die Reden sind bei Thukydides stilisierter als Herodots eher

26

Theopompos, geb. ca. 378 v. Chr., angeblich Schüler des Isokrates, schrieb 12 Bücher Hellenika im Anschluf an Thukydides (über die Zeit von 411-394 v. Chr.) und 58 Bücher Philippika (über die Zeit von 360-336 v. Chr.). Beide Werke sind nicht erhalten. Philistos (ca. 430 bis 356 v. Chr.) schrieb eine nicht erhaltene Geschichte Siziliens in zwei

gesprächsmäßige sermones. Vgl. Peterson 21903, II 45.

27

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

215

Thukydides deutlich nach, aber sein Stil ist weniger gesucht. Des weiteren werden

Ephoros28 und Kleitarch?? genannt, aber wegen Schwunglosigkeit des einen und mangelnder Glaubwürdigkeit des anderen zurückgesetzt. Die Reihe schlieBt mit dem augusteischen Geschichtsschreiber Timagenes, der hier dafür gelobt wird, das Interregnum der Geschichtsschreibung nova laude (7 mit neuem Lob, Erfolg) beendet

zu haben.30 Xenophon?! wird am Ende des Katalogs den Philosophen zugewiesen. Die Ratio dieses Historikerkanons läßt sich leicht aus einem Vergleich mit ühnlichen Zusammenstellungen bei Cicero und Dionysios v. Halikarnassos ermit-

teln.32 Sie stimmen in den wichtigsten Namen überein, entsprechen also offensichtlich einer gángigen kanonischen Auswahl.33 Die Reihenfolge der Autoren ist dagegen unterschiedlich angelegt. Cicero reiht chronologisch?4, Dionys ist eher auf Synkrisis bedacht, während Quintilian eine didaktisch begründete Werteskala (in einer von den auctores optimi zunüchst absteigenden und mit Timagenes offensichtlich wieder ansteigenden Folge) erstellt, derzuliebe chronologische und sachliche Zusammenhänge durchbrochen werden.35 K. Heldmann hat in dieser Folge vor einiger Zeit eine

28

29 30

Teilen (13 Bücher Sikelika). Ephoros (um 340 v. Chr.) verfaBte eine (verlorene) Universalgeschichte (Historiai) bis auf seine Zeit in 30 Büchern. Er soll wie Theopomp zu den Schülern des Isokrates gezählt haben. Vgl. dazu Cicero, Brutus $ 204 und de oratore 2,57 und 3,36 sowie Quint. 2,8,11. Kleitarchos, ein Zeitgenosse Alexanders des Großen, schrieb gegen Ende des vierten Jhdts. eine Alexandergeschichte in mindestens 12 Büchern. Sie ist ebenfalls nicht erhalten. Timagenes, seit 55 v. Chr. in Rom, mit Asinius Pollio befreundet, schrieb eine (verlorene) universale Königsgeschichte von den Anfängen bis mindestens zu Cäsar. Auffällig ist, daß hier (wie auch sonst in der /nstitutio) Polybios nicht erwähnt wird, der genau in die Lücke zwischen Kleitarch und Timagenes fällt. (Es fehlt auch Poseidonios!) Vgl. dazu Leeman 1963, I 331 und

Cousin 1975-80, VI 310. 31

32

Xenophon (ca. 430 - nach 355 v. Chr.) wird an dieser Stelle natürlich vor allem seiner Hellenika in sieben Büchern wegen erwähnt, mit der er Thukydides fortsetzte (Ereignisse von 411 - 362 v. Chr.). "Vgl. Cicero, de oratore 2,55-58 und Dionys von Halikarnass, de imitatione, Vol. II 207,5 210,10 Usener-Radermacher. Vgl. dazu auch Peterson 21903, II 44, Leeman 1963, I 330f. und

Cousin 1975-80, VI 306ff. 33

34

35

Die Reihe lautet bei Cicero: Herodot, Thukydides, Philistos, Theopomp, Ephoros, Xenophon, Kallisthenes und Timaios; bei Dionys: Herodot-Thukydides, Philistos-Xenophon, jeweils in Synkrisis, und einzeln Theopomp (dieselbe Folge auch epist. ad Pompeium, cap. 3-6); bei Quintilian: Thukydides, Herodot, Theopomp, Philistos, Ephoros, Kleitarch, Timagenes (und Xenophon) Fünf Autoren sind allen gemeinsam, Ephoros erscheint nur bei Cicero und Quintilian, die beiden letzten Autoren Ciceros sind bei Quintilian ausgetauscht, aber immerhin ist die Zahl acht gewahrt. Allerdings darf man nicht vergessen, daß der chronologischen Reihe Ciceros - dem Argumentationsziel des Redners Antonius entsprechend — ein sachliches Kriterium übergeordnet ist. Es sind alles eloquentissimi homines, die, im forensischen Geschäft unerfahren (also auch ohne Hilfe rhetorischer Theorie), ihre Beredsamkeit mit groBem Erfolg in den Dienst der Historiographie gestellt haben. Offenbar ist also Theorie zur stilistischen Meisterschaft nicht nótig. Natürlich ist der chronologische Rahmen (Herodot-Timagenes) gewahrt, aber der Vergleich mit

Ciceros Reihe zeigt, daB das Prinzip zeitlicher Folge nicht wesentlich ist bzw. zugunsten der Werteskala aufgegeben wird: Thukydides erscheint vor Herodot, Theopomp vor Philistos. Aber auch Sachzusammenhänge werden aufgelöst, wie die gemeinsame Zuweisung von Theopomp und Ephoros zu Isokrates bei Cicero, de or. 2,57 (vgl. dazu oben Anm. 28). Damit trifft

216

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

Parallele zu dem üblicherweise bei Dionys von Halikarnass nachgewiesenen klassizistischen Dreischritt „Klassik als Muster, Niedergang infolge Abfalles von der Klassik, Wiederaufstieg infolge von Neuorientierung an der Klassik" gesehen. Ich

komme darauf zurück.36 Ausdrücklich will Quintilian den rómischen Historikerkanon (10,1,101-104) auf den griechischen ($8 73-75) unter dem Aspekt des Wettbewerbs bezogen sehen, wie überhaupt der Gedanke der aemulatio den gesamten römischen Literaturabriß bestimmt.37 Die rómische Geschichtsschreibung kommt nach Meinung Quintilians der griechischen gleich (δ 101)98, denn Sallust läßt sich dem Thukydides und Livius dem Herodot an die Seite stellen. Auch die rómische Historiographie hat also wie die

griechische zwei auctores optimi39, die untereinander zwar verschieden sind, sich aber im Rang gleichkommen. Die Synkrisis fällt jedoch an dieser Stelle rein quantitativ sehr zugunsten des Livius aus.60 Von Sallust wird nur die immortalis velocitas, seine Kürze also (wie schon 10,1,32), erwühnt, wührend Livius ein mehrere Zeilen langes, überschwengliches Lob mit deutlichem Rückbezug auf Herodot 10,1,32 erhalt.4! Livius ist ein angenehmer, klarer Erzähler, perfekt besonders in der sach- und personenangemessenen Gestaltung der Rede und der milderen Affekte, Eigenschaften, mit denen er andere Vorzüge Sallusts ausgleichen kann. §§ 102 und 103 werden dann zwei Historiker der tiberianisch-claudischen Zeit

genannt: Servilius

Nonianus und Aufidius

Bassus?€?, wobei der erstgenannte

Steinmetz’ Urteil (s. oben Anm. 23) auch für den Historikerkanon zu: Hierarchie der optimi auctores unter stilistischem Aspekt. Trotzdem werden auch hier literaturhistorische Zusammenhinge berücksichtigt, z.B. in der Lückenthese von

10,1,75

(vgl.

Steinmetz

1964,

464).

Laut

Steinmetz 1964, 463 zeigt Quintilian Selbstandigkeit in der Aufnahme des Timagenes (Fortführung des Kanons u.U. bis auf die eigene Zeit) und in dem Ausschluß Xenophons (eigenständige Gestaltung des Kanons). 36 37

38

"Vgl. K. Heldmann, Dekadenz und literarischer Fortschritt bei Quintilian und bei Tacitus, Poetica 12 (1980) 1-23, 2 mit Anm. 12. Zum Problem s. unten S. 222 mit Anm. 71 / 72. Vgl. Leeman 1963, I 331.

Und damit ist für ihn das ftir Cicero noch ausstehende Ziel (de leg. 1,5) erreicht. Vgl. Leeman 1963, I 330.

39

So eindeutig Quintilian schon an der erwahnten Stelle 2,5,19.

40

"Vgl. die Synkrisis von Thukydides und Herodot von 10,1,73, die ja fast symmetrisch ausgewogen ist. Die hier eigentlich fällige Nachfolgertopik, vergleichbar etwa mit Dionys von Halikarnass (de imitatione

4| 42

11 208,1ff. Usener-Radermacher):

Herodot-Xenophon,

Thukydides-

Philistos ist geschickt verwischt, um den Eindruck von unabhängiger Gleichrangigkeit zu erzielen. Zu vergleichen sind zur Synkrisis Sallust-Livius noch die genannten Stellen 2,5,19 und 10,1,32. Zum schwierigen Problem der Rangfolge Sallust-Livius bei Quintilian vgl. Leeman 1963, I 331f. Servilius Nonianus (cos. 35 n. Chr., gest. 59/60 n. Chr.) schrieb ein Geschichtswerk, von dem nichts Näheres bekannt ist (vgl. Tac. ann. 14,19). Wahrscheinlich hat er auch Zeitgeschichte behandelt. Aufidius Bassus, Freund und Altersgenosse Senecas (ep. 30,1), verfaßte das von Quint. 10,1,103 erwähnte Bellum Germanicum und Historiae, die vermutlich von Cäsars Tod

bis in die Zeit des Claudius reichten. Es wurde von Plinius d. A. fortgesetzt (a fine Aufidii Bassi). Keines der beiden Werke hat sich erhalten. Beide Historiker erscheinen als Exponenten der modernen im Vergleich zur alten Historiographie in der Rede Apers bei Tacitus, Dialogus

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

217

Servilius als der Jüngere, wie Quintilian klar erkennen läßt (10,1,103), eigentlich erst

nach Aufidius Bassus genannt werden dürfte, aber wegen seines Urteils über die

Gleichwertigkeit von Sallust und Livius vorgezogen wird.43 Auch diese beiden Historiker werden gelobt, Aufidius mehr noch als Servilius, der letzte für Klarheit und Sentenzenreichtum, der erste für seinen gattungsgerecht konzisen Stil. Doch ist auch ein gewisser Abstieg in der Wertung Quintilians unverkennbar: Servilius erreicht nicht die nótige Dichte des historischen Stils, Aufidius bleibt hinter seinen eigentlichen Möglichkeiten zurück. Die Epoche Quintilians ($ 104 aetatis nostrae) wird, entsprechend seinem Vorsatz, keine noch lebenden Autoren beim Namen zu nennen (3,1,21), durch einen viel umrütselten Anonymus reprisentiert, der heute zu Recht, wie ich meine, mit einem der bedeutendsten Historiker der neronischflavischen Zeit, Fabius Rusticus, identifiziert wird.44 Was die Namensuche hier so schwer macht, ist die Tatsache, daß der Anonymus eher mit starken Worten

gepriesen als mit irgendwie greifbaren Konturen gezeichnet wird. Das SchluBlicht bildet Cremutius Cordus, ein zeitlicher Rücksprung, denn er gehört bekanntlich in die

augusteisch-tiberianische Zeit.45 Daß er erst jetzt genannt wird, gewissermaßen unter der Rubrik „Problemfälle“, ist angesichts seiner rigoros republikanischen Ausrich-

tung und des Schicksals seiner Person und seines Werkes nicht verwunderlich.46 Gelobt werden sein Pathos und seine gedankliche Kühnheit. Die Ratio des Kanons der sechs rómischen Historiker bei Quintilian ist nun nicht so einfach zu ermitteln wie beim griechischen, denn es gibt keine vergleichbaren Zusammenstellungen.*? Offenbar liegt die Kombination eines wertenden und eines 23. Sie waren also offensichtlich die bedeutendsten Historiker der tiberianisch-claudischen Zeit. Vgl. dazu Leeman 1963, I 243ff., bes. 251 und E. Noé, Storiografia imperiale pretacitiana,

Florenz 1984, 78-84. 43

Die vorgezogene Nennung des Servilius ist hier das Ergebnis einer Assoziation. Quintilian erinnert sich im Zusammenhang mit seiner Synkrisis Sallust-Livius an das Statement des ihm persönlich bekannten Historikers. Auch solche eher zufälligen Faktoren können also bei der Kanongestaltung eine Rolle spielen.

44

Vgl. dazu Peterson 21903,

45

II 69f,

Leeman

1963,

I 256

und

Cousin

1979,

325.

Die

Identifikation wird vor allem nahegelegt durch Tacitus, Agr. 10: ,Livius veterum, Fabius Rusticus recentium eloquentissimi auctores." Fabius Rusticus (gest. wohl erst nach 108 n. Chr.) begann sein Geschichtswerk wahrscheinlich mit Claudius, behandelte aber sicher die Epoche Neros. A. Cremutius Cordus schrieb Annalen, die wohl mit Cäsars Tod begannen und hauptsächlich die Regierungszeit des Augustus darstellten. Wegen republikanischer Gesinnung angeklagt, wählte er 25 n. Chr. den Freitod. Sein zur Vernichtung bestimmtes Werk konnte in einzelnen Exemplaren überleben und wurde unter Caligula neu veröffentlicht. Quintilians Hinweis von 10,1,104 läßt auf eine purgierte Ausgabe schließen. Vgl. dazu Leeman 1963, I 251f., Noé 1984, 71-77 und D. Timpe, Geschichtsschreibung und Prinzipatsopposition, in: Entretiens 33 (1986)

65-95. 46

Quintilian neigt dazu, solche „Problemfälle“ aus dem Katalog herauszunehmen und für das Kapitelende aufzusparen, so z.B. 10,1,75 Xenophon und bes. deutlich Seneca 10,1,125ff. Ein Autor wie Cremutius durfte Rhetorikstudenten seiner Zeit möglicherweise nicht ganz ohne Bedenken empfohlen werden.

47

Vgl. den Kommentar von Peterson 21903, II 67-70, Leeman 1963, I 243ff. und bes. 331f. und Cousin 1975-1980, VI 98 und 324f.

218

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

chronologischen Reihungsprinzips vor. Es werden drei Epochen unterschieden und jeweils deren historische „Highlights“ genannt, nämlich die Epoche der späten Republik und frühen Kaiserzeit mit Sallust und Livius, die tiberianisch-claudische Epoche mit Aufidius Bassus und Servilius Nonianus*® und die flavische Epoche mit

Fabius Rusticus (?). Dabei fällt die Wertkurve von der ersten zur zweiten Epoche ab, um dann mit dem Anonymus in der Zeit Quintilians wieder anzusteigen. Damit liegt es nahe, das von Heldmann aus dem griechischen Historikerkatalog ermittelte Bild eines ,,klassizistischen Dreischritts“

literarischer Entwicklung

bei Quintilian

auch

dem rómischen Historikerkanon zu unterstellen.49 Cremutius firmiert, wie gesagt, als

Sonderfall.50 Soviel zu den Stellen der Institutio, wo die Historiographie als Gattung isoliert oder in zusammenhängenden Passagen in Erscheinung tritt. Es bleibt noch zu fragen, in welcher Weise einzelne Historiker bei Quintilian Beachtung finden. Natürlich sind AuBerungen zu einzelnen Autoren meist in den bereits vorgestellten Gattungsrahmen eingeordnet, und viele Historiker erscheinen überhaupt nur in den Lektürekatalogen von 10,2,73-75 und 101-104.5! Deshalb ist in solchen Fállen das Wichtigste schon gesagt. Aber bestimmte Autoren des Kanons werden auch noch an anderer Stelle genannt und müssen daher noch einmal kurz behandelt werden. Wenn man das

entsprechende Stellenmaterial priift52, wird allerdings sehr schnell deutlich, daß dies eigentlich nur für die auctores optimi und hier wiederum nur für die rómischen Historiker Livius und Sallust lohnt. Herodot wird insgesamt nur viermal erwühnt, auBer im griechischen Kanon in der Synkrisis mit Thukydides (10,1,73) und im rómischen als griechisches Pendant zu Livius (10,1,101) nur noch 9,4,16 und 18, wo

es um seine Leistung für die compositio verborum geht.53 Thukydides erscheint sechsmal, an den beiden soeben genannten Hauptstellen 10,1,73 und 10,1,101, jeweils in Verbindung mit Herodot und Sallust, und an vier weiteren Stellen von

geringerer Bedeutung.54 Livius wird dagegen immerhin 15mal55, Sallust sogar 21mal genannt. Livius dient zunüchst zur Exemplifizierung sprachlicher und stilistischer 48

Zur Umstellung s. oben Anm. 43.

49

S. oben Anm. 36.

50

Wiederum fehlen wichtige Autoren (vgl. dazu oben Anm. 30 und Peterson 21903, II 70), z.B. Nepos, Asinius Pollio, Velleius Paterculus, Plinius d. À., Curtius u.a.; vgl. aber 10,1,104 (s.

51 52

53

54

55

oben Anm. 18). So Philistos, Kleitarch, Timagenes (noch 1,10,10 erwähnt) und Xenophon als Historiker in 10,1,73-75 und Servilius Nonianus, Aufidius Bassus und Cremutius Cordus in 10,1,101-104. Das Material ist leicht zugänglich in den Indizes der Ausgaben. Gelegentlich werden auch Historiker genannt, die nicht im Kanon vertreten sind, so Cato d. À. (12,11,23, wo conditor historiae mit dem Blick auf 8,3,29 über Sallust nicht unbedingt „Begründer der GeschichtsSchreibung" heißen muB), Sisenna (1,5,13; 8,3,35), Fabius Pictor (1,6,12) oder Apollodor (11,2,14). Damit wird er nur einmal mehr erwähnt als Theopomp

(2,8,11; 9,4,35;

10,1,74) und Ephoros

(2,8,11; 9,4,87; 10,1,74). Vgl. 9,4,16 (Vorleistungen auf dem Gebiet der compositio verborum); 9,4,78 (Fehler im Prosarhythmus); 10,1,33 (Thukydides und Xenophon nicht von Nutzen für den Redner, vgl. oben Anm. 21) und 10,2,17 (verfehlte Nachahmung des Thukydides und des Sallust). 8,6,9 ist allerdings interpoliert.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

219

Phiinomene?6, wobei durchaus auch das Merkmal des von der Norm Abweichenden,

ja Fehlerhaften festgehalten werden kann. Er verwendet z.B. durchaus im Einklang mit anderen Autoren die Formen tenuere, scripsere statt -erunt (1,5,44), er wird von Asinius Pollio wegen der für uns so schwer faßbaren patavinitas getadelt (1,5,56 und 8,1,3), wozu vielleicht die orthographischen Varianten sibe, quase gehören (1,7,24).

Er liefert Beispiele für eine fehlerhafte Makrologie (8,3,53), für einen fehlerhaften Versanfang am Satzbeginn (9,4,74), aber auch, ganz ohne Tadel, für einen Tropus

(8,6,20) und eine Gedankenfigur (9,2,37). Zweimal taucht er als literaturdidaktische Autorität auf, als der Quintilian natürlich hochwillkommene Ciceronianer Livius, der die Ciceronähe zum Maßstab der Lektüreeignung anderer Autoren macht (2,5,20 und 10,1,39). Livius als Historiker betreffen vier weitere Stellen, die ich sámtlich schon

erwähnt habe. Vom häufigen Zweifel des Livius an seinen Quellen habe ich schon

gesprochen (2,4,19)57, wichtiger aber wohl war, daß er sich eher zur Anfängerlektüre eignet als Sallust (2,5,19)58, daB sich seine lactea ubertas zwar nicht als Muster für die Rede eignet (10,1,32), daß er aber als römischer Herodot unbegrenztes Lob

verdient (10,1,101).59 Im ganzen gesehen ist dies eine äußerst positive Zeichnung des Livius, der Klarheit und leichten Zugänglichkeit seiner erzählerischen Darbietung, seiner reichen und angenehmen Eloquenz. Daß er dabei gelegentlich, wie wir gehört haben, auch von der gebotenen Stilnorm abweicht, ja sogar Fehler macht, kann dieses Lob nicht beeinträchtigen, unterlaufen doch sogar einer so hochgeschätzten Autorität wie

Cicero stilistische Versehen.60 Auch Sallust dient wie Livius primo loco zur Exemplifizierung verschiedenster Phänomene der Rede, am häufigsten natürlich solcher der elocutio.$! Auch hier kann

Kritik vorkommen®2, jedoch überwiegt die neutrale oder lobende Erwähnung deutlich. Ich kann hier nur exemplarisch darauf eingehen: Sallust teilt mit dem genus demonstrativum das weithergeholte Proómium (3,8,9)63, zeigt geschickte moralische 56

61

Exemplifizierung auch mit Hilfe von Dichtern und Historikern, nicht nur von Rednern, ist für die gesamte elocutio-Lehre Quintilians, aber auch sonst (vgl. 3,8,9) üblich. Aber immer wieder wird auf die Gattungsunterschiede zwischen der freieren Dichtung und der Prosa hingewiesen, z.B. 8,6,16 und 18. S. oben S. 210. S. oben S. 211. S. oben S. 213f. und 216. Zum Begriff lactea ubertas und zum Urteil Quintilians über Livius allgemein vgl. F. Quadibauer, Livi lactea ubertas. Bemerkungen zu einer quintilianischen Formel und ihrer Nachwirkung, in: Livius, Festschrift für E. Burck zum 80. Geb., hrsg. v. E. Lefévre und E. Olshausen, München 1983, 347-366, 347-355. "Vgl. z.B. 8,3,51 oder 9,4,75f. und andere Stellen. Leeman legt 1963, I 332 m.E. auf solche Stellen zu großes Gewicht, wenn er z.B. aus 8,3,53 auf eine Zurücksetzung des Livius hinter Sallust schließt. 13 von21 Nennungen fallen darauf. Zum Problem vgl. oben Anm. 56.

62

So z.B. 3,8,9 (ein solches Proómium

57 58 59

60

ist eigentlich nach 4,1,71

ein vitium) und

9,4,77

(zu

starke Rhythmisierung). In 8,3,44 steckt kein Tadel, weil hier der Fehler nicht bei Sallust, sondern beim Leser / Hörer liegt.

63

Daß hier Sallust in einem Zug mit dem genus demonstrativum genannt wird, ist nicht so überraschend, wie Rahn in seiner Quintilianausgabe, Vol. I 1972, 362, Anm. 70, glaubt, denn die Historiographie wurde schon von Cicero (Orator 66) in die Nähe des genus demonstrativum

220

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

Motivaufbesserung in der Beratungsrede (3,8,45), liefert ein Beispiel für eine Apo-

strophe im Proómium (4,1,68) und für eine narratio personae (4,2,2). Natürlich erscheint er im Bereich des ornatus als Archaist (8,3,29), wird seine brevitas gelobt

(8,3,82) und seine Neigung zu Grüzismen betont (9,3,17).64 Die Stellen, die Sallust als Historiker betreffen, habe ich, wie bei Livius, ebenfalls

schon

fast alle behandelt.

Sallust ist der historiae

maior

auctor,

der

größere

Historiker, aber schwerer verstündlich, also eher eine Lektüre für Fortgeschrittene

(2,5,19). Seine brevitas und sein abruptum sermonis genus sind für sich genommen verdienstvoll,

aber für den Redner

nicht nachahmenswert,

weil

nicht

funktions-

gerecht (4,2,45 und 10,1,32). Mit seiner immortalis velocitas ist er der rómische

Thukydides.65 Das Bild, das sich hier von den beiden großen Historikern Roms in der Instirutio abzeichnet, erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, denn Quintilian läßt

einerseits keinen

Zweifel

daran

aufkommen,

daß

er Sallust

für den

besseren

Historiker hält (2,5,19). Andererseits scheint er Livius den Vorzug zu geben, denn

das Bild Sallusts wird an den wesentlichen Stellen der Synkrisis stark auf einen einzigen Zug, die brevitas, reduziert (10,1,32 und 10,1,101f.), wirkt also weniger differenziert, fast ein wenig distanziert, während Livius im spürbar wärmeren Licht

erscheint und sein Stil sehr viel deutlichere Konturen erhält.66 Schon Leeman hat

versucht, dieses Paradoxon aufzulösen6’: Die positiven Anteile des Livius bei Quintilian führt er auf den Einfluß der historiographischen Theorie Ciceros zurück,

die sich eher dem Stilideal Herodots verpflichtet fühlt.68 In praxi gebe Quintilian aber Sallust den Vorzug - im Einklang mit dem literarischen Geschmack seiner Zeit, in der sich kein Geringerer als Tacitus anschickte, Geschichte im Stil des Sallust zu schreiben. Mir scheint, daß sich dieser scheinbare Widerspruch weniger aus der Theoriegeschichte, sondern eher aus den verschiedenen Maßstäben erklären läßt, mit

denen die beiden Historiker hier von Quintilian gemessen werden. Unter literaturbzw. gattungsimmanentem Aspekt muß Livius dem Sallust weichen, aber aus rhetorisch-didaktischer Sicht, um die es in der /nstitutio vor allem geht, ist Livius der

geeignetere Autor, weshalb auf seiner Empfehlung ein stärkerer Nachdruck liegt. Wenn wir nun das Ergebnis dieses Durchganges überblicken, so bestätigt sich, daß die Geschichtsschreibung unter den drei Aspekten in der /nstitutio oratoria in Erscheinung tritt, die ich schon anfangs angedeutet habe. Alle drei Aspekte führen zu wichtigen Aussagen über Wesen und Aufgabe dieser literarischen Gattung. An erster Stelle steht der didaktische Aspekt, aufgrund dessen das Genus Historiographie

65

gerückt. Vgl. Leeman 1963, I 180. Weitere Stellen: 8,5,4 (Beispiel für Sentenz), 8,6,59 (für Periphrasis), 9,3,12 (für eine Wortfigur), 9,3,89 (fictio personae als Wortfigur). 2,13,14 ist keine exemplifizierende Erwähnung, sondern die Verwendung eines Sallustzitats als autoritatives Zeugnis. Vor verfehlter Nachahmung Sallusts mit der Folge der obscuritas wird 8,3,82 und 10,2,17 gewarnt. 10,3,8 gilt dem Lob des sorgfültig wiederholt redigierenden Schriftstellers.

66

Dieser Eindruck stützt sich natürlich eher auf 10,1,101f., denn 10,1,32 erhalt Sallust ja ebenfalls

67 68

ein groBes Lob. "Vgl. Leeman 1963, 1 331f. "Vgl. Leeman ebd., 172.

64

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

221

jeweils in seiner pädagogisch-administrativen Funktion eingeführt wird. Unter dieser übergreifenden Perspektive wird auch ein zweiter literatur-, genauer gattungstheoretischer Aspekt wirksam insofern, als zur Erreichung bestimmter püdagogischer Ziele, z.B. der funktionsgerechten Formulierung der Rede, die im Erziehungsprozeß wirksamen literarischen Gattungen Dichtung, Geschichtsschreibung und Rede in ihren wesentlichen formalen und funktionalen Unterschieden erfaBt werden müssen. Schließlich läßt sich drittens auch ein literatur- bzw. gattungsgeschichtlicher Aspekt erkennen, denn es wird versucht, die Gattung in ihrem geschichtlichen Verlauf und mit ihr einzelne Autoren in ihrer gattungsgeschichtlichen Position zu bestimmen. Der didaktische Aspekt erbrachte eine Reihe interessanter Äußerungen zu den pädagogischen Aufgaben der Geschichtsschreibung im rhetorischen Erziehungsproze8: Schon im Grammatikunterricht werden Historiker gelesen und ihr Sprachgebrauch als Norm beachtet. In der rhetorischen Propädeutik steigt die Zahl ihrer Funktionen: Sie liefert Muster, Stoffe, Themen für viele wichtige schriftliche und mündliche Vorübungen und gehórt von Anfang an auch zum Lektürekanon. Im rhetorischen ,,Hauptstudium“ spielt sie die gleiche wichtige Rolle: Sie bietet den Deklamationsübungen der Suasorien und Kontroversien Stoffe und hält in ihren Reden Muster für solche Übungen bereit. Ihre Lektüre — mit Vorsicht betrieben — schult den Stil

und

vermittelt

vor

allem

für

den

Redner

unverzichtbare

Sachkenntnisse,

besonders die Exempla, die er für sein Argumentationsziel einsetzen kann.69 Der gattungstheoretische Aspekt führte zu wichtigen Unterscheidungsmerkmalen von Dichtung, Geschichtsschreibung und Rede. Dichtung und Historiographie werden unter dem Aspekt ihrer Funktion eng verklammert und der Rede gegenübergestellt. Beide wollen Vergnügen bereiten, unterhalten, nicht sich argumentierend durchsetzen, und sie haben dabei einen größeren stilistischen Freiraum in Wortwahl und Figurierung als die Rede, in der streng auf den argumentationsgerechten Einsatz der sprachlichen Mittel geachtet werden muB. Unter dem gattungsgeschichtlichen Aspekt ergaben sich sicher ebenso interessante Ergebnisse: Was die literarhistorische Entwicklung der Geschichtsschreibung als Gattung betrifft, so zeigt sich bei Quintilian das Bild einer bestimmten Verlaufskurve, die, von dem Motiv der aemulatio bestimmt, für den griechischen und

römischen Bereich im Prinzip gleich angelegt ist.” Am Anfang steht der Höhepunkt zweier auctores optimi, in einer Synkrisis als verschieden, aber gleichwertig 69

Zum didaktischen Wert der Geschichtsschreibung in der antiken Schule vgl. Marrou 1977, 314 und 512, G. Avenarius, Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung, Meisenheim/Glan 1956, 175177, H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1966, 9-11 und St. F. Bonner, Education in ancient Rome, London 1977, 261ff., 276ff. Nicht zugänglich war mir A. Ferrill, History in Roman Schools, The Ancient

World 1 (1978) 1-5. 70

Die römische Verlaufskurve ist dabei der griechischen im klassizistischen Sinn nachkonstruiert: Beide beginnen beim Hóhepunkt der auctores optimi, aber Herodot und Thukydides stehen am Anfang der griechischen Geschichtsschreibung, Sallust und Livius nicht. Es fehlt also das Kurvenstück „Aufstieg — Höhepunkt", wie es Cicero in de or. 2,51-55 und de leg.

1,6-7 vorlegt

(natürlich mit sich selbst als gedachtem Hóhepunkt). Zur aemulatio als treibender Kraft der literarischen Gattungsgeschichte vgl. Quint. 10,2,7 und K. Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, Zetemata 77, München 1982, 35ff.

222

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

vorgestellt. Von hier aus fällt die Verlaufskurve — besonders deutlich im römischen Katalog erkennbar — trotz bedeutender Autoren epochenweise ab. Es liegt aber deshalb keineswegs ein einseitiges Modell literarischer Dekadenz vor, denn die Kurve kann ja auch wieder steigen, wie mit dem augusteischen Historiker Timagenes und dem Anonymus der Epoche Quintilians. Ohne Zweifel wird man also hier ~ im Bereich der Historiographie — an den ,klassizistischen" Dreischritt „Klassik — Dekadenz — Wiederaufstieg“ erinnert — aber, wie ich meine, doch mit gewissen Einschränkungen: Es läßt sich m.E. weder bei Timagenes noch beim Anonymus mit

letzter Sicherheit nachweisen, daf jeweils eine Dekadenzperiode mit Hilfe einer

Neuorientierung an klassischen Mustern überwunden wurde.7!/72 Für Quintilian ist übrigens die Kontinuität einer Gattung nicht ohne weiteres gewährleistet, denn im griechischen Bereich hat es ein Interregnum gegeben (10,1,75). Einzelne Autoren werden in ihrer gattungsgeschichtlichen Position bestimmt, insofern sie der Verlaufskurve der Gattung zugeordnet werden, z.B. die auctores optimi am Anfang, dann deren Nachahmer usw. Allgemein überwiegt aber im Gattungsbereich nicht die literaturhistorische, sondern eine didaktisch oder gattungsimmanent wertende Perspektive,

z.B.:

Livius

ist

didaktisch

geeigneter

als

Sallust,

Sallust

der

bessere

Historiker.

Es wäre zum Schluß an der Zeit, die drei bei Quintilian ermittelten Aspekte über ihn hinaus in die literaturhistorische bzw. allgemeine Bildungstradition der Antike einzuordnen. Ich kann das in dem hier gegebenen Rahmen nur ansatzweise für einen Aspekt tun und wähle dazu die für die Geschichte der antiken Historiographie sicher spektakulärste Kennzeichnung der historia als eines quodam modo carmen solutum, also die unter gattungstheoretischem Aspekt gewonnene Trennung von Rede auf der einen und Dichtung bzw. Historiographie auf der anderen Seite. Die von Quintilian vorgenommene enge Verklammerung von Historiographie und Dichtung ist im Lehrzusammenhang der Rhetorik nicht selbstverständlich. Schon ein Vergleich mit Cicero zeigt, daß das Verhältnis der drei Literaturgattungen Rede, Geschichtsschreibung und Dichtung auch anders gesehen werden kann, wobei die jeweilige Extension des Rhetorikbegriffs eine groBe Rolle spielt. In Ciceros de oratore wird die Kunst der Beredsamkeit von Crassus und Antonius in einem sehr 71

72

Vgl. Heldmann

1980, 2, Anm.

12 und oben S. 215f. und 218. Beide Historiker werden cher als

Beweis für die Kontinuität einer Gattung eingeführt, die in jeder Epoche ihre herausragenden Vertreter hat, die den Vergleich mit ihren Vorgängern nicht zu scheuen brauchen. Timagenes wurde vermutlich seiner Kleitarchnachfolge wegen in den Kanon aufgenommen, worauf ja auch die Auslassung des Polybios hindeutet. Die Überwindung eines dekadenten Asianismus Kleitarchs durch den Attizisten Timagenes im Sinne des klassizistischen Dreischritts lift sich m.E. aus 10,1,75 nicht sicher herausdeuten. Zum Attizismus des Timagenes vgl. A. Klotz, Caesarstudien 1910, 84, Anm. 3 und F. Jacoby, Fr. Gr. Hist. 88, T2 und Τό, ar Kleitarchnachfolge Jacoby, ebenda F 3, jeweils mit Kommentar. Das positive Urteil Quintilians stammt vielleicht von Timagenes selbst (RE VI A 1, 1936, 1063-1071, Laqueur, 1065, s.v. Timagenes). Vgl. zum gesamten gattungsgeschichtlichen Problemkomplex Heldmann 1980 und 1982, der bei Quintilian allgemein keine dem Dialogus des Tacitus entsprechende Verfallstheorie sieht, sondern die Vorstellung einer vom Optimismus getragenen qualitativen Kontinuität der Gattung. Vgl. bes. Heldmann 1982, 138f., 156f., 169f.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

223

weiten, und zwar nicht inhaltlich, sondern formal bestimmten Sinne verstanden: Der

Redner — in diesem Punkt dem Dichter gleich — ist nicht auf einen bestimmten Bereich sprachlicher Aktionen, etwa auf den politisch-juristischen Bereich, eingeschrünkt, er kann vielmehr im Prinzip aufgrund seiner formalen Kunst über beliebige

Gegenstände

kompetent

reden.

Es gehören

also nicht

nur

Gerichts-

und

Beratungsreden, sondern auch beliebig viele andere prosaische Betätigungsfelder zu seinen

Aufgaben,

zu

denen

Antonius

z.B.

Ermahnungen,

Anweisungen,

Trost-

schriften etc., vor allem aber auch die Geschichtsschreibung zahlt.74 Die Historiographie ist also unter dem Dach dieses weiten Rhetorikbegriffs einer nicht inhaltlich bestimmten

,Kunst

des guten

Redens"

eine

von

vielen

prosaischen

Schwester-

disziplinen der persuasiven Rede, die insgesamt der metrischen Dichtung gegenüberstehen:

Prosa

Rede

Historiographie

Dichtung

Trostschrift

Lehre

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß Quintilian diese Konzeption kennt und auch übernommen hat, denn die weite, formal verstandene Extension ist geradezu konstitutiv für seine Auffassung von Rhetorik, die ebenfalls nicht auf den zivilen Bereich beschrinkt, sondern allgemein als bene dicendi scientiam (2,15,34) begriffen

werden soll. Es ist dann nur folgerichtig, wenn auch Quintilian in einem Reflex der Auffassung Ciceros die Geschichtsschreibung zu den Aufgaben des Redners zählt (2,18,5). Diese ciceronische Konzeption steht nun im deutlichen Gegensatz zu der Auffassung, die wir unserer fraglichen carmen solutum-Stelle (10,2,31) zugrunde legen müssen. Wenn hier Dichtung und Historiographie in ihrer bloB unterhaltenden Funktion verbunden und der persuasiven Rede, mit der Mahnung versehen, die eine Gattung mit den beiden anderen nicht zu vermischen, gegenübergestellt werden, so kann

dies nur bedeuten,

daB

Quintilian

hier von

einem

engeren,

auch

inhaltlich

bestimmten Rhetorikbegriff ausgeht, dessen Objektbereich auf persuasive politischjuristische Reden beschränkt ist, und dann die drei Gattungen unter funktionalem Aspekt differenziert:

Reden (persuasiv)

Dichtung / Historiographie (unterhaltend)

73

Vgl. Cicero, de or. 1,70 und 2,34.

74

Vgl. Cicero, de or. 2,36; 2,62 und 64; de leg. 1,5 und Avenarius

1956, 175.

224

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

Unsere Aufgabe ist es nun, wenn wir die carmen solutum-Stelle verstehen wollen, zu fragen, wie die spezielle Konstellation von 10,1,31, also die Verklammerung von

Dichtung und Geschichtsschreibung und ihr gemeinsamer Gegensatz zur Rede, zu

erklären ist.75 Man ist natürlich zunächst geneigt, die Stelle aus der gattungstheoretischen Tradition zu erklären, also aus der antiken

Diskussion

um

das Verhältnis

zwischen Dichtung, Geschichtsschreibung und Rede vor Quintilian, mindestens bis

hin zum neunten Kapitel der Poerik des Aristoteles und noch darüber hinaus.’6 Aus dieser Diskussion ergibt sich folgendes Bild: Zur Debatte steht jeweils das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Rede und Geschichtsschreibung und Dichtung, wobei jeweils Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit beider Gattungen vertreten wird. Rede und Geschichtsschreibung können parallel gehen, in einer rhetorisierenden, auf Lob und Tadel bedachten Historiographie, die dem genus demonstrativum nahesteht.77 Dagegen polemisieren vor allem Polybios und Lukian, die die parteiische Amplifikation der Lobrede (des Enkomions) aus der Geschichtsschreibung entfernt

sehen wollen, denn diese müsse auf Wahrheit bedacht sein.78 Auch Quintilian trennt, wie wir gesehen

haben,

Geschichtsschreibung

und

Rede,

aber

nicht

unter

dem

Aspekt „Wahrheit / parteiische amplificatio", sondern unter dem der Dichtung angepaBten funktionalen Unterschied von Unterhaltung und Argumentation. Mit dieser Trennung steht er in der gattungstheoretischen Tradition, soweit ich sehe, allein.79 Alle Autoren sehen übrigens stilistische Unterschiede zwischen beiden Gattungen.80 Eine ähnliche Sonderstellung Quintilians ergibt sich, wenn man gattungstheoretische Äußerungen zum Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung zum Vergleich heranzieht. Er ist für uns der einzige, bei dem die enge Verwandtschaft von

75

Es gibt bisher zu dieser berühmten Stelle, soweit ich sehe, nur andeutende Erläuterungen, und

zwar bei F.

Jacoby,

Griechische Geschichtsschreibung,

in:

Abhandlungen

zur griechischen

Geschichtsschreibung von F. Jacoby, hrsg. v. H. Bloch, Leiden 1956, 98, E. Norden, Die anti-

ke Kunstprosa, Darmstadt 1974 (= 21909), 2 Bde., I 92 (vermutlich nach Theophrast), Leeman 1963, 1 184, 11 436, Anm.

105 (Stelle auf Sallusts color poeticus zu beziehen) und D. Flach,

Einführung in die rómische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, 10 (im Widerspruch zu Aristoteles, Poetik, Kap. 9). Als Gegenposition zu Aristoteles und Polybios wird die Stelle jetzt auch von A. J. Woodman, Rhetoric in classical Historiography, London & Sidney 1988, 99 erwähnt.

76

Das Stellenmaterial bei Norden 1974, I 81-91 (Rede / Geschichtsschreibung), 91-95 (Poesie / Geschichtsschreibung), bei Avenarius

1956,

13-16 (Rede / Geschichtsschreibung) und

(Dichtung / Geschichtsschreibung), bei T. P. Wiseman, Clio's

77

78

79

80

Cosmetics,

16-22

Leicester 1979, 27-

40 (History and Rhetoric) und 143-153 (Poetry and History) und bei A. J. Woodman 1988, 9598 (Historiography and Epideictic) und 98-101 (Historiography and Poetry). Daß es eine derartige enkomiastische Geschichtsschreibung gegeben hat, wissen wir vor allem aus der Polemik des Polybios. Vgl. Norden 1974, I 82 und Avenarius 1956, 15. Explizit parallelisiert Cicero das genus demonstrativum mit der Geschichtsschreibung Orator 66 (s. oben Anm. 63), aber er nennt zugleich stilistische Unterschiede. Vgl. zum gesamten Komplex besonders Wiseman 1979, 27-40 und Woodman 1988, 95-98. "Vgl. Polybios 10,21,8, Lukian, hist. conscrib., cap. 7 und Avenarius

1956, 13 und 15.

Plin. epist. 5,8,9 bleibt zu vage, um als Parallele herangezogen zu werden. AuBerdem ist die Stelle natürlich später als Quintilian 10,1,31. Allerdings warnt schon Cicero, Orator 30-32 mit ähnlichen Argumenten vor einer Nachfolge des Thukydides. Vgl. auch Orator 66-68. Siche dazu oben S. 212 und Anm. 14.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

225

Poesie und Geschichtsschreibung explizit behauptet und begründet wird®!, und schon Leeman hat darauf hingewiesen, daß z.B. Cicero an keiner Stelle so weit geht,

Dichtung und Geschichtsschreibung in dieser Weise zu verknüpfen.82 Dagegen sind die für uns noch erkennbaren Vertreter der Trennungspartei relativ zahlreich. Für uns

wiederum hauptsächlich durch Polybios und Lukian83 vertreten, argumentieren sie mit dem Unterschied des Wahren als Telos der Geschichtsschreibung und des Fingierten, Erfundenen

als Charakteristikum der Dichtung, und

daher steht

auch der

lehrreiche Nutzen auf der einen gegen das bloße Vergnügen auf der anderen Seite.94 Man weiß, daß sich diese Argumentationslinie bis auf Thukydides zurückverfolgen

148t.85 Mit anderen Argumenten trennt Aristoteles an der berühmten Stelle Poetik, Kap. 9 (1451a36-51b11), die Geschichtsschreibung von der Dichtung.86 Die Dichtung schildert nicht das wirkliche, sondern das mógliche Geschehen,

und sie zielt

nicht auf das Einzelne, sondern auf das Allgemeinere, weshalb sie einen hóheren Anspruch erheben darf als die Geschichtsschreibung. Quintilian steht also mit seiner Funktionsparallele allein gegen eine Partei, die Dichtung und Geschichtsschreibung verschiedene Funktionsmerkmale zuschreiben, sie also voneinander trennen will. Natürlich ist nicht auszuschlieBen, daB die isolierte

Stellung Quintilians in der gattungstheoretischen Diskussion nur das Ergebnis von Überlieferungsmangel ist. Daß er Vorläufer hatte, ist möglich, und verdächtig ist hier vor allem der von Lukian verwendete Ausdruck πεζὴ ποιητική (Prosadichtung), was

natürlich exakt dem carmen solutum entspricht.97 Trotzdem reicht unser Material nicht aus, um 81

82

10,1,31

einer festen gattungstheoretischen Tradition zuzuschreiben.

Wiseman 1979, 143-153 sieht in der engen Verbindung von Poesie und Geschichtsschreibung eher die normale Auffassung schon seit Herodots Zeiten, in der Polemik etwa des Aristoteles oder des Polybios eher die (überzogene) Ausnahme. Dichtung und Geschichtsschreibung sind für ihn also im allgemeinen GattungsbewuBtsein der Antike eng verknüpft. Allerdings gibt es dafür eben nur das theoretische Zeugnis Quintilians, das Wiseman merkwürdigerweise nicht erwähnt. Woodman trägt es 1988, 99 nach. "Vgl. Leeman 1963, I 330. Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten. Man kónnte immerhin Cicero, Orator 66-68 vergleichen, wo Dichtung und Geschichtsschreibung gemeinsam von der

Rede abgesetzt werden. Die Stellen Dionys v. Halikarnass, ep. ad Pompeium, cap. 3 (vgl. Leeman 1963, Π 436, Anm. 105) und die von Norden 1974, 1 92 angegebenen Stellen haben sümtlich nicht die Programmatik der Quintilianstelle.

83 84

Vgl. Polybios 2,56,11-12, Lukian, hist. conscrib., cap. 8, Norden 1974, 1956,16-22.

192 und Avenarius

Immerhin wird bei Quintilian wenigstens auf das Merkmal des Fiktionalen in der Dichtung verwiesen (10,1,28), aber dieses Merkmal wird im Abschnitt „Geschichtsschreibung“ (10,1,31-

34) nicht wieder aufgenommen und für eine Unterscheidung von Dichtung und Historiographie mit Hilfe der Kriterien „Erfindung / Wahrheit" genutzt — ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr es ihm auf eine Parallelisierung der beiden Gattungen ankommt.

85

Vgl. Avenarius 1956, 19-22.

86

Vgl. dazu auch cap. 23 (1459 a 21-29), wo es um die Einheit der Handlung im Epos geht, die die Geschichtsschreibung ihrer Aufgabe entsprechend nicht erreichen kann. Zur Bedeutung von Aristoteles’ Poetik für die spätere Theorie der Geschichtsschreibung s. unten Anm. 87. Vgl. Lukian, hist. conscrib., cap. 8. Der Unterschied liegt aber darin, daB Lukian diesen Ausdruck verwendet, um auf den Gegensatz „Wahrheit / Erfindung" abzuheben, Quintilian dagegen, um die Verknüpfung von Dichtung und Geschichte zu betonen. Nach Lukian sollte die Geschichtsschreibung kein Prosagedicht sein, nach Quintilian ist sie eins.

87

226

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

Noch am ehesten bietet es sich an, die carmen solutum-These

in die theoretische

Tradition der sog. tragisch-peripatetischen Geschichtsschreibung einzuordnen, wenn

es denn überhaupt eine solche Theorie gegeben hat.88 Autoren wie Duris (ca. 340270 v. Chr.) und Phylarchos (3. Jhdt. v. Chr.) haben ja bekanntlich Geschichte mit

den Mitteln der Tragódie geschrieben, also Dichtung und Geschichtsschreibung wieder eng zusammengerückt,

wie wir wiederum

aus der Polemik des Polybios

wissen.89 Es kónnte nun sehr gut sein, daB Quintilian eine solche Tradition vor Augen hatte und dabei an ähnlich angelegte römische Geschichtswerke seiner Zeit dachte, von denen wir leider wenig bis gar nichts wissen.99 Von 10,1,31 aus läßt sich

jedenfalls nichts Genaueres darüber sagen. Aber es gibt durchaus auch noch andere Erklärungsmöglichkeiten als die gattungstheoretische Tradition. Zunächst muß, ehe man Gattungsdifferenzen aus einer Stelle abstrahiert, stärker auf den Kontext geachtet werden. Wie wichtig das ist, kann das Beispiel der Cicero-Stelle de oratore 1,70 zeigen. Crassus móchte dort

nachweisen, daß der Redner über Gegenstände beliebiger Art auch ohne eigene Sachkenntnis kompetent reden kann (1,64ff.), und zieht zum Vergleich Dichter wie Arat und Nikander heran (1,69), für die das gleiche gilt. Es heißt dann 1,70: „Der Dichter steht nämlich dem Redner nahe ..., jedenfalls stimmt er sicherlich darin fast vollständig mit ihm überein, daß er sich durch keine Grenzen sein Recht einschränken und begrenzen läßt, die Freiheit nämlich, mit derselben ausdrucksreichen Beredsam-

keit sich zu bewegen, wo er will.“9! Niemand wird aus dieser Äußerung für Cicero die These von einer grundsätzlichen Gemeinschaft von Dichtung und Rede herauslösen wollen. Vielmehr wird aus ihrem Kontext sehr schnell deutlich, daß es sich hier

um die stellengebundene Betonung eines gemeinsamen Zuges handelt, der in einer bestimmten Argumentationsabsicht eingebracht wird, in der Absicht nämlich, die These von der universalen Kompetenz des Redners durch die Analogie der gleich universalen Dichterkompetenz zu stärken. Selbstverständlich läßt sich auch ein anderer Kontext denken, in dem es eher geraten scheint, auf die Unterschiede zwischen Dichtung und Rede abzuheben, und ein solcher Kontext ist z.B. Cicero, Orator 66-68. Ganz ähnlich ist, wie ich meine, auch Quintilian 10,1,31 zu deuten. 88

Von einer These von E. Schwartz ausgehend, wonach Aristoteles’ Tragódientheorie im Peripatos auf die Geschichtsschreibung übertragen worden sein soll, hat man sich besonders in den fünfziger Jahren mit kontroversen, ja widersprüchlichen Ergebnissen um den peripatetischen Ursprung der tragischen Geschichtsschreibung (z.B. von Aristoteles über Theophrast zu Duris) bemüht. Vgl. u.a. Avenarius 1956, 20f, 136ff, 168f. (gegen peripatetischen Ursprung), N. Zegers, Wesen und Ursprung der tragischen Geschichtsschreibung, Diss. Köln 1959, passim und 83f. (für peripatetischen Ursprung über Theophrast), F. W. Walbank 1960 und Flach 1985, 42-52, bes. 50f. Die Frage scheint aus Mangel an Überlieferung kaum klärbar.

89

Vgl. Polybios 2,56,11ff., Norden I 92 und Avenarius 1956, 17.

90

Norden exemplifiziert diesen „poetischen“ Typ von Geschichtsschreibung 1974, I 93 mit Kleitarchos und Tacitus. Leeman (s. oben Anm. 75) vermutet eher, daf Quintilian hier Sallust als Beispiel für den Typ carmen solutum, und zwar seines color poeticus (z.B. Verwendung von Ennianismen) wegen, vorschwebte. „Est enim finitimus oratori poeta ... in hoc quidem certe prope idem, nullis ut terminis circumscribat aut definiat ius suum, quo minus ei liceat eadem illa facultate et copia vagari qua

91

velit.

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

227

Speziell an dieser Stelle und in diesem Kontext wird ein gemeinsamer Wesenszug von Dichtung und Historiographie mit einem bestimmten Argumentationsziel nachdrücklich herausgestellt, was keinesfalls bedeutet, daB Quintilian bei anderer Gelegenheit

nicht auch das beide Gattungen

Trennende hätte herausstellen können.92 Doch

welche Absicht kónnte ihn hier zur Verklammerung von Dichtung und Geschichtsschreibung veranlaßt haben? Es ist, wie ich glaube, ein stilpädagogisches Anliegen, das das zehnte Buch und darüber hinaus große Teile der Institutio prägt und das ich schon

in

meinem

Referat

über

die

Abschnitte

„Dichtung“

(10,1,27-30)

und

»Geschichtsschreibung“ (10,1,31-34) herausgestellt habe. Es ist bekannt, daß Quintilian, wenn man auch Heldmann durchaus zugeben muß, daß er Optimist und kein Anhänger der Dekadenztheorie gewesen ist, doch die ständige Gefahr stilistischer Entartungserscheinungen gesehen und bekümpft hat. Er nennt sie corruptum dicendi genus (12,10,73) und hat ihnen, wie man weif, eine verlorene Schrift de

causis corruptae eloquentiae gewidmet, deren stilkritische StoBrichtung man aus manchen Partien der Znstitutio rekonstruieren kann.93 Die Ursachen liegen bekanntlich für ihn in dem heruntergekommenen, auf die bloBen Effekte der voluptas zielenden Deklamationsbetrieb seiner Zeit (5,12,17ff.).9% Schon Eduard Norden hat dieses corruptum

dicendi genus

der

kaiserzeitlichen

Deklamationen,

das

er den

„neuen Stil" nennt, eingehend beschrieben und ausführlich belegt.95 Was diesen neuen Stil, für ihn nichts anderes als die Fortsetzung des Asianismus, kennzeichnet, ist „deklamatorisches Pathos, pointierte Sentenzen, zerhackter Satzbau, völlige

Rhythmisierung, singende Vortragsweise“ und etwas, worauf wir unser besonderes Augenmerk richten müssen, das „Aufgehen der Prosa in der Poesie".96 In diesem letzten Merkmal zeigt sich nämlich ein Fehlverhalten, um das es Quintilian bei seinem Kampf gegen das corruptum dicendi genus vor allem geht: um den Fehler der Gattungsmischung. Die Grenzen zwischen den großen literarischen Gattungen Dichtung, Geschichtsschreibung und Rede waren zu seiner Zeit lüngst eingerissen und hatten einer als widernatürlich und pervers empfundenen Vermischung der Stile Raum gegeben, die es zu bekämpfen galt. Wir können diese Diagnose sogar mit Quintilians eigenen Worten formulieren, der 10,2,21f. sagt: „Id quoque vitandum, in quo magna pars errat, ne in oratione poetas nobis et historicos, in illis operibus oratores aut declamatores imitandos putemus. Sua cuique proposito lex, suus decor est.“ „Auch folgender Irrtum ist zu vermeiden, der sehr verbreitet ist, die Meinung nümlich,

wir

dürften

in der

Rede

Dichter

und

Geschichtsschreiber,

Gattungen aber Redner und Deklamatoren nachahmen. 92 93

94

95 96

Jedes Vorhaben

in

diesen

hat seine

Er hat es, wie oben Anm. 84 erläutert, 10,1,28 zumindest angedeutet. "Vgl. Norden 1974, 270ff, die wichtigsten Stellen 278-80, Schanz-Hosius, Geschichte der römischen Literatur, HbAW VIII 2, 41935, 747f., Clarke 1968, 131f£., 152-4, Heldmann 1982, 138f., 156f., 169f., M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, München und Zürich 1984, 69f. Interessant ist, daß ein und derselbe Funktionsbegriff negativ oder positiv besetzt sein kann, je nachdem, ob er die der Gattung eigene, also richtige Funktion anzeigt. Die voluptas ist als Ziel der Dichtung gattungsgerecht (10,1,28; 8,6,17), aber als Ziel der declamatio verfehlt (5,12,17 und 20). "Vgl. Norden 1974, 270-300. "Vgl. Norden 1974, 299 und zur Mischung von Poesie und Prosa im neuen Stil 286f.

228

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

eigene Gesetzmäßigkeit, seine eigene Schicklichkeit.“97 Durch das Eindringen fremder Gattungsstile wird demnach das Eigengesetz jeder Gattung, die ihr eigene

Wirkung, Funktion empfindlich gestört.?® Abhilfe kann da nur die Entwirrung der unheilvoll ineinander verflochtenen Gattungsstile erbringen, die nur Erfolg haben kann, wenn man sich auf die ursprüngliche Funktion der Gattungen zurückbesinnt. Genau dies hat Quintilian 10,1,27-34 versucht, und weil es ihm natürlich vor allem darum ging, der persuasiven Rede den ihrer Funktion angemessenen Stil zurückzugewinnen, lag es nahe, die Gemeinsamkeit der beiden anderen von ihm hochgeschätzten, aber doch auch auf Distanz gehaltenen Gattungen zu betonen, sie eng aneinanderzurücken und sie so von der Provinz der reinen Rede fernzuhalten, in die sie mit

so schlimmen Folgen eingedrungen waren. Es scheint also, daß die These von der historia als einem quodam modo carmen solutum eher aus einer zeitgeschichtlich begründeten Sorge um den Redestil als aus einer gattungstheoretischen Tradition entstanden ist, und so dient, wie alles in der Institutio oratoria, auch die Formel vom

prosaischen Gedicht nicht unserer literaturtheoretischen Erkenntnis, sondern Erziehung zum orator perfectus, zum vollkommenen Redner.

der

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97

Übersetzung von Rahn

1975, 493/5. Die Gattungskonstellation entspricht hier genau 10,1,27-

34: Dichtung / Geschichtsschreibung versus Rede. Hierher gehört natürlich auch 8,6,17: „in illo

vero plurimum erroris, quod ea, quae poetis, qui et omnia ad voluptatem referunt et plurima vertere etiam ipsa metri necessitate coguntur, permissa sunt, convenire quidam ctiam prosae putant."

= „Darin

aber liegt ein Hauptirrtum,

daß manche

meinen,

das, was

den

Dichtern

erlaubt sei, die ja bei allem nur unterhalten wollen und auch schon durch den Verszwang genótigt werden, sehr viele Ausdrücke zu veriindem, schicke sich auch für die Prosa." (Rahn

1975, 225). 98

Wie z.B. der Stil Sallusts oder des Livius in der Rede zu Funktionsstórungen führen würde

(10,1,32).

Die Geschichtsschreibung bei Quintilian

229

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