Leibhaftigkeit: Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie [Reprint 2014 ed.] 3110162377, 9783110162370, 9783110802559

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Leibhaftigkeit: Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie [Reprint 2014 ed.]
 3110162377, 9783110162370, 9783110802559

Table of contents :
Vorwort
1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung
1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Vier Stationen einer eigenartigen Rezeptionsgeschichte
1.1.1. Philipp Jakob Spener
1.1.2. Friedrich Christoph Oetinger
1.1.3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
1.1.4. Ludwig Feuerbach
1.1.5. Ergebnis
1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung
1.2.1. Zwischen Heterodoxie und Innovation. Jakob Böhme in der lutherischen Theologiegeschichte
1.2.2. Systematisch - theologische Untersuchungen
1.2.3. Ergebnis
1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Klärung einer fundamentaltheologischen Begriffssynthese
1.3.1. Inkarnation als lebensbildende Heilsgegenwart der Christusgestalt
1.3.2. Morphologie als typologische Geschichts- und Schrifthermeneutik
1.3.3. Biblische Prototypen als “Sinnen - Bilder”
1.4. Erläuterungen zur phänomenologischen Terminologie
1.5. Überblick über die weitere Gliederung der Untersuchung
2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit theologischer Besinnung
2.1. Metaphysische Theo - Ontologie oder der ad hominem lebendige Gott
2.2. Metaphysische Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder das ad hominem lebendige Christusbild
2.3. Altphilologische Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen
2.4. Konfessionsmetaphysik oder die lebendige Gesellschaft leibhaftiger Christenmenschen
2.5. Theologie als “Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt”
2.6. Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt christenmenschlicher Selbstbesinnung
3. Inkarnationsmorphologie als situationsdramatische Inszenierung religiöser Durchbruchserlebnisse
3.1. Typisierende Phänomenologie: Eine biblische Szenographie von Böhmes Wiedergeburtserlebnis
3.1.1. Der augenblicksgöttliche Zorneinbruch in die heile Welt eines gottlosen Dahinlebens
3.1.2. Die leibliche Ergriffenheit von Angst und Scham
3.1.3. Das Ringen in der Enge des Leibes um die Weite als Ermöglichungsgrund neuerlichen Stehvermögens
3.1.4. Die Wiedererlangung himmelwärtigen Standes im Auferstehungsleben
3.1.5. Anhang: Die szenographische Überbietung der humoralpathologischen Temperamentenlehre
3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung für die szenographische Gestaltungskraft des Christus praesens
3.2.1. Die Umkehrmotorik des Bußdramas
3.2.2. Die leibliche Ausdrucksmotorik des Taufdramas
3.2.3. Die Verinnerlichungsgestik des Abendmahls
3.2.4. Die szenographische Bildlogik des Kreuzes
3.2.5. Die marianische Prototypik
4. Inkamationsmorphologische Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt
4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität
4.1.1. Die dreifältige Urkonstitution durch die “Infaßlichkeit des schöpferischen Gotteslebens”
4.1.2. Die Weisheit als prototypische Realitätsbildung
4.1.3. Die sieben dynamischen Urgestalten
4.1.4. Die Schlüsselstellung von Leibhaftigkeit und Menschengestalt
4.1.5. Der Sündenfall aus der “Concordantz” in eine rein körperliche Existenz
4.1.6. Die Restitution leiblich - situativ vermittelter Lebensweltphänomenalität
4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität
4.2.1. Das “sprechende Wort” als Urkonstitution
4.2.2. Das “ausgesprochene” oder “geformte Wort” als den Welttext phänomenalisierende Gottesrede
4.2.3. Das menschliche Wort als darstellende Wiederholung der Gottesrede
4.2.4. Der Mensch als Sprachwesen
4.2.5. Der Sündenfall des Menschen aus der den Welttext phänomenalisierenden Gottesrede
4.2.6. Die Restitution worthaft vermittelter Sprachweltphänomenalität durch den “Namen JEsus”
4.2.7. Die Entdeckung der sprachmorphischen Wirkmächtigkeit des Gebets
4.3. Die morphologische Vermittlung der phänomenalen Wahrnehmungswelt
5. Leib und Körper: Die Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber
5.1. Der leibliche Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens
5.2. Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus
5.3. Die Leibfeindlichkeit einer rein körperlichen Existenz
5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten auf die personale Endlichkeit leibhaftiger Lebenswirklichkeit
5.5. Die Bedeutsamkeit des Körpers für die Individualität des christomorphen Habitus
5.6. Individuelle Eschatologie
6. Homiletisch - paränetische Konkretion
7. Schluß und Ausblick
8. Literaturverzeichnis
8.1. Primärtextausgabe und Abkürzungsverzeichnis der Kurztitel
8.2. Sekundärliteratur
9. Register
9.1. Personenregister
9.2. Sachregister

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Christian Bendrath Leibhaftigkeit

Pi 1749

1

1999

l

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle • H.-P. Müüer

Band 97

W DE

_G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Christian Bendrath

Leibhaftigkeit Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bendrath, Christian: Leibhaftigkeit : Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie / Christian Bendrath. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 97) Zugl.: München, Univ., Diss., 1994/95 ISBN 3-11-016237-7

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1994/ 95 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Ludwig - Maximilians - Universität zu München als systematisch - theologische Dissertation zur Erlangung der Doktors der Theologie angenommen. Sie trug damals noch einen überaus langen Titel, dessen barocke Hypertrophie es für die Drucklegung zu verschlanken galt. So wurde aus "Leibhaftigkeit. Die Lebensgestalt des Christus praesens. Frühlutherische Inkarnationsmorphologie am Beispiel Jakob Böhmes" die drucktechnisch elegantere Fassung "Leibhaftigkeit. Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie". Dadurch hat sich in der Sache nichts verändert, wie auch alle anderen Überarbeitungen, Korrekturen und Ergänzungen eher stilistischer Natur als inhaltlicher Art sind. Hinzugekommen sind lediglich eine ganze Reihe von Querverweisen auf aktuelle systematisch - theologische Debatten und Diskurse, für die es die Druckfassung anschlußfähiger zu machen galt. Seit der Promotion im Frühjahr 1995 in München habe ich ein zweijähriges Vikariat in Wedel (Holstein) sowie am Predigerseminar in Preetz absolviert und das anschließende zweite theologische Examen der Nordelbischen Evangelisch - Lutherischen Kirche in Kiel abgelegt. Im Frühjahr 1997 konnte ich auf eine systematisch - theologische Assistentenstelle nach München zurückkehren. Hier war dann wieder die notwendige Zeit für die endgültigen Korrekturen und die Umformatierung der Druckvorlage. Von daher erklärt sich also die relativ lange Zeit bis zur nun endlich geschehenen Drucklegung. Diese arbeits- und umzugsreiche Zeit ist jedoch keineswegs sinnlos verstrichen, sondern effektiv für wünschenswerte Aktualisierungen genutzt worden. Vielfältig habe ich zu danken: zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Hermann Timm, der die Anregung zur Beschäftigung mit Böhme gegeben hat und die Arbeit seit 1992 mit seiner einzigartigen hermeneutischen Empathie zu der Gestalt hat wachsen lassen, in der sie heute gelesen werden kann; sodann dem Korreferenten Prof. Dr. Jan Röhls, dessen kritisch - konstruktive Begleitung und Kommentierung meines Gedankengangs wertvolle Präzisierungen und Ergänzungen ermöglicht hat; dann den Professoren Bayer, Härle und Müller, die dieser Arbeit durch ihre Begutachtung eine Aufnahme in die von ihnen herausgegebene Reihe "Theologische Bibliothek Töpelmann" ermöglicht haben, so daß die Frucht so langer Studien nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann; und schließlich dem Verlag Walter de Gruyter und Herrn Klaus Otterburig für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die sorgfältige verlegerische Betreuung. Herzlichen Dank!

VI

Vorwort

Auch über diesen engsten Kreis hinaus waren viele beteiligt, ohne die meine Promotion 1995 zu keinem so guten Abschluß gekommen wäre und die Arbeit jetzt in ihrer endgültigen Gestalt hätte gedruckt werden können. Zunächst einmal habe ich in diesem Sinne der Studienstiftung des deutschen Volkes zu danken, deren Promotionsstipendium von Oktober 1992 bis Ende 1994 mir in materieller Hinsicht den Rücken freigehalten hat, die aber auch in ideeller Hinsicht vielfältige Unterstützung geboten hat. Stellvertretend für alle diese Unterstützung danke ich meinem Vertrauensdozenten Prof. Dr. Schwichtenberg. Nicht zu unterschätzende, wertvolle geistige Anregung habe ich meinen ehemaligen Kommilitonen aus dem Timm'schen Doktoranden Kolloquium zu verdanken. Ausdrücklich hervorgehoben seien Dr. Markus Buntfuß, Dr. Martin Laube, Dr. Christian Senkel und ganz besonders Prof. Dr. Dr. Klaas Huizing. Sodann danke ich meinem langjährigen Freundeskreis für viele anregende Gespräche und regen geistigen Austausch. Besonders erwähnt sei hier Dr. phil. Michael Großheim, aufgrund dessen Vermittlung ich gleich zu Beginn meiner Studienzeit in Kiel Prof. Dr. phil. Hermann Schmitz kennengelernt habe, durch welchen ich dann in philosophischer (leibphänomenologischer) Hinsicht maßgeblich geprägt worden bin. Drucktechnische Unterstützung von unschätzbarem Wert habe ich empfangen von meinen Münchener Freunden Andrea Beckmann, Florian Gast und Dr. Martin Laube. Die Hauptlast des Korrekturlesens hat all die Jahre meine Frau Juliane getragen, die darüberhinaus den atmosphärischen Rahmen meiner theologischen Existenz geschaffen und immer wieder liebevoll sowie beharrlich für die unverzichtbare Erdung gesorgt hat. Inhaltlich soll die Arbeit für sich selbst sprechen. An ihr ist lange genug gefeilt worden. Ich schließe das Vorwort daher mit einer Widmung. Diese Arbeit ist gewidmet meiner kleinen Tochter Sophie - Charlotte, deren Taufspruch indirekt mit dem um Geburt und Wiedergeburt ringenden Jakob Böhme zu tun hat. Beide stehen nämlich in einer antitypischen Korrelation zum Erzvater Jakob, dessen Prototypik ihrem Leben die wünschenswerte christenmenschliche Gestalt verleihen soll. Ich meine den Merkvers Gen 32, 27: "Und Er sprach: 'Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. ' Aber Jakob antwortete: 'Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. "' München, im Juli 1999

Christian Bendrath

Inhaltsverzeichnis

1.

1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.1.5. 1.2. 1.2.1. 1.2.1.1. 1.2.1.1.1. 1.2.1.1.2. 1.2.1.1.3. 1.2.1.2. 1.2.1.2.1. 1.2.1.2.2. 1.2.1.2.3. 1.2.2. 1.2.1.1. 1.2.2.2. 1.2.2.3. 1.2.2.4. 1.2.2.5. 1.2.2.6. 1.2.3.

Vorwort

V

Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

1

Das Rätsel Jakob Böhme. Vier Stationen einer eigenartigen Rezeptionsgeschichte 5 Philipp Jakob Spener 6 Friedrich Christoph Oetinger 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 12 Ludwig Feuerbach 15 Ergebnis 19 Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung 20 Zwischen Heterodoxie und Innovation. Jakob Böhme in der lutherischen Theologiegeschichte 21 Böhme als heterodoxer Außenseiter des Luthertums im engeren Sinne 22 Heinrich Bornkamm 22 Emanuel Hirsch 26 Erich Beyreuther 28 Böhmes innovatorische Bedeutung für ein Luthertum im weiteren Sinne 29 Kurt Leese 29 Liselotte Richter 33 Erwin Metzke 34 Systematisch - theologische Untersuchungen 39 Werner Eiert: Die Heilserfahrung im individuellen Seelenleben ... 39 Paul Hankamer: Barockzeitalter und Gestaltthematik 43 Alexandre Koyré: Lebensmetaphysik und Inkarnation 46 Ernst Benz und Günther Bonheim: Jakob Böhmes Sprachtheologie 49 Ernst Benz: Jakob Böhme als neuzeitlicher Prophetentyp 51 Eberhard Hermann Pältz: Jakob Böhmes Soteriologie als existenzielle Reintegration des Menschen 53 Ergebnis 56

VIII

1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.2.1. 1.3.2.2. 1.3.2.3. 1.3.3. 1.4. 1.5.

2.

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

3.

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3.

Inhaltsverzeichnis

Inkarnations - Morphologie. Zur Klärung einer fundamentaltheologischen Begriffssynthese Inkarnation als lebensbildende Heilsgegenwart der Christusgestalt Morphologie als typologische Geschichts- und Schrifthermeneutik Typologische Geschichtshermeneutik Typologische Schrifthermeneutik Die morphologische Verknüpfung der typologischen Geschichts- und Schrifthermeneutik Biblische Prototypen als "Sinnen - Bilder" Erläuterungen zur phänomenologischen Terminologie Überblick über die weitere Gliederung der Untersuchung

93 96 106 112

Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit theologischer Besinnung

115

Metaphysische Theo - Ontologie oder der ad hominem lebendige Gott Metaphysische Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder das ad hominem lebendige Christusbild Altphilologische Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen Konfessionsmetaphysik oder die lebendige Gesellschaft leibhaftiger Christenmenschen Theologie als "Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt" Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt christenmenschlicher Selbstbesinnung

Inkarnationsmorphologie als situationsdramatische Inszenierung religiöser Durchbruchserlebnisse Typisierende Phänomenologie: Eine biblische Szenographie von Böhmes Wiedergeburtserlebnis Der augenblicksgöttliche Zorneinbruch in die heile Welt eines gottlosen Dahinlebens Die leibliche Ergriffenheit von Angst und Scham Das Ringen in der Enge des Leibes um die Weite als Ermöglichungsgrund neuerlichen Stehvermögens

57 57 64 64 80

123 134 142 152 158 164

171

172 176 178 185

Inhaltsverzeichnis

3.1.4. 3.1.5. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5.

4.

4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.1.6. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.2.5. 4.2.6. 4.2.7.

IX

Die Wiedererlangung himmelwärtigen Standes im Auferstehungsleben Anhang: Die szenographische Überbietung der humoralpathologischen Temperamentenlehre Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung für die szenographische Gestaltungskraft des Christus praesens Die Umkehrmotorik des Bußdramas Die leibliche Ausdrucksmotorik des Taufdramas Die Lebensbedeutsamkeit der Ab- und Aufwärtsbewegung Die Lebensbedeutsamkeit des Wassers Die Verinnerlichungsgestik des Abendmahls Die szenographische Bildlogik des Kreuzes Die marianische Prototypik

199 204 208 209 213 217 222 228

Inkarnationsmorphologische Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

233

Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität Die dreifaltige Urkonstitution durch die "Infaßlichkeit des schöpferischen Gotteslebens" Die Weisheit als prototypische Realitätsbildung Die sieben dynamischen Urgestalten Die Schlüsselstellung von Leibhaftigkeit und Menschengestalt... Der Sündenfall aus der "Concordantz" in eine rein körperliche Existenz Die Restitution leiblich - situativ vermittelter Lebensweltphänomenalität Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität Das "sprechende Wort" als Urkonstitution Das "ausgesprochene" oder "geformte Wort" als den Welttext phänomenalisierende Gottesrede Das menschliche Wort als darstellende Wiederholung der Gottesrede Der Mensch als Sprachwesen Der Sündenfall des Menschen aus der den Welttext phänomenalisierenden Gottesrede Die Restitution worthaft vermittelter Sprachweltphänomenalität durch den "Namen JEsus" Die Entdeckung der sprachmorphischen Wirkmächtigkeit des Gebets

192 196

237 238 242 248 25 3 257 260 263 265 268 271 273 274 276 280

X

4.3.

5.

5.1.

Inhaltsverzeichnis

Die morphologische Vermittlung der phänomenalen Wahrnehmungswelt

283

Leib und Körper: Die Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

289

5.6.

Der leibliche Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus Die Leibfeindlichkeit einer rein körperlichen Existenz Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten auf die personale Endlichkeit leibhaftiger Lebenswirklichkeit Die Bedeutsamkeit des Körpers für die Individualität des christomorphen Habitus Individuelle Eschatologie

319 321

6.

Homiletisch - paränetische Konkretion

329

7.

Schluß und Ausblick

337

8.

Literaturverzeichnis

355

8.1. 8.2.

Primärtextausgabe und Abkürzungsverzeichnis der Kurztitel Sekundärliteratur

355 356

9.

Register

375

9.1. 9.2.

Personenregister Sachregister

375 378

5.2. 5.3. 5.4. 5.5.

291 297 308 311

1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung Eine Monographie über Jakob Böhme wird im gegenwärtigen akademischen Forschungs- und Lehrbetrieb sicherlich zunächst einmal kritisch beäugt: Jakob Böhme? Das ist doch wohl eher ein Fall für esoterische Buchhandlungen, weniger aber für die evangelische Theologie, zumal diese sich als Geisteswissenschaft unter den Bedingungen von Religionskritik und Säkularisierung mit ganz anderen Problemen konfrontiert sieht, als sich gerade mit einem der dunkelsten Autoren der eigenen Tradition beschäftigen zu sollen. Jakob Böhmes Texte geben diesem Vorurteil auf Anhieb reiche Nahrung: Eine wahre Bilderflut bricht über den Leser herein, der als nachaufklärerischer Zeitgenosse zudem größte Probleme hat, nachzuvollziehen, was denn nun eigentlich mit diesen paracelsischen, kabbalistischen, astrologischen, alchemischen und pansophischen Metaphern bedeutet werden soll und was um alles in der Welt dann noch die zahlreichen Anspielungen auf biblische Szenen, Typen, Gleichnisse, Sentenzen und Bilder besagen sollen. Theo-logie im akademischen Sinne wird man hier wohl nicht erwarten können und dürfen. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung? Doch wohl eher nicht! Jakob Böhme als Gegenstand einer kirchenhistorischen Untersuchung? Das klingt schon etwas plausibler. Jakob Böhme gehört zu den radikalen Ausläufern der Reformation im Umfeld des Spiritualismus und inspiriert den sektiererischen Pietismus. Er ist religiöser Subjektivist und hat eine immense Wirkungsgeschichte im frühpietistischen Konventikelwesen. Von daher böte sich bei Jakob Böhme reiche Nahrung für eine sozialgeschichtliche Untersuchung der religiösen Privatkultur am Rande der großen Konfessionskirchentümer. Diese Frage hat sogar eine europäische Dimension: Böhme wird ins Englische übersetzt, inspiriert den esoterisch und pansophisch orientierten Puritanismus und wird in Amsterdam das erste Mal mit einer Gesamtausgabe verlegt, was prompt zu regelrechten Gemeindeneugründungen führt. Kirchengeschichte und Sozialgeschichte also; da kann Jakob Böhme eine fruchtbare Fragestellung sein. Religöser Subjektivismus, private kirchenferne Religionskultur, Esoterik, Konventikelwesen, Desinteresse am Konfessionalismus, wohl aber Interesse an der weisheitlichen Komponente der H. Schrift, individuelle Weltanschauung... - das ist doch nicht mehr nur abständige Kirchengeschichte. Das ist kirchliche Zeitgeschichte! Man könnte angesichts dieser Aufzählung aus dem Fragehorizont des sozialgeschichtlich vorgehenden Kirchenhistorikers heraus doch ohne weiteres meinen, eine Signaturbestimmung unserer religiösen Gegen-

2

1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

wartskultur vor sich zu haben. Spätestens hier wendet sich der vermeintlich rein historische Forschungsgegenstand in einen systematischen, wird aus dem Kirchenhistoriker notwendig ein Systematiker. Denn Kirchengeschichte beschreibt ohnedies niemals abständige Geschichte, sondern schreibt immer genau diejenige Geistesgeschichte, von der die jeweils erlebte Gegenwart maßgeblich mitgeprägt ist. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung? Ja, unbedingt! Zunächst einmal drängen sich aus dem von der religiösen Gegenwartssituation vorgegebenen Fragehorizont viele Fragen nach den Schriften und dem Gedankengang Böhmes auf. Wie kommt es denn, daß der Schuster aus Görlitz für esoterisch begeisterte Zeitgenossen noch heute ein gern und viel gelesener Autor ist? Wird Böhme in der esoterischen Szene aber richtig verstanden, wenn die biblische Metaphorik in seinen Texten marginalisiert wird? Gibt es da nicht auch eine exzellente Astrologiekritik Böhmes, der derartige Metaphern freilich benutzt, aber eben Metaphern bleiben läßt und gerade nicht zu einer detaillierten Lebensberatung überdehnt? Von diesem eher propädeutischen Feuilleton - Niveau kommt die neu entdeckte Fragwürdigkeit Jakob Böhmes dann sehr schnell auf das akademische Niveau universitärer Theologie. Der Kirchenhistoriker weiß als Theologiegeschichtler sehr wohl um die hochinteressanten Zusammenhänge, die den Systematiker als eine Vergangenheit, die nicht vergeht, immer wieder umtreiben: Wie kommt der fromme Christ Böhme dazu, mit ein Gründervater desjenigen neuzeitlichen Subjektivismus zu werden, der bis in "Unsere postmoderne Moderne" 1 hinein andauert? Haben sich nicht Hegel, Feuerbach, Schelling, Jacobi, die Romantiker Jung - Stilling, Novalis und Schlegel, Franz v. Baader, aber auch spitzzüngige Aphoristiker wie Lichtenberg gerade von Böhmes höchst artifiziellen Gedankenbildungen inspirieren lassen, um dann ihrerseits zeitgemäß denken und schreiben zu können? 2

1

2

Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, bes. S. 66 - 72 zu Begriff und Charakter der neuzeitlichen Zäsur in der Geistesgeschichte des Abendlandes. Welsch macht sie an der Entdeckung der Selbstgewißheit fest, der sich dann die cartesische Mathesis universalis verdankt. Die cartesische Reductio mathematica oder das spinozistische More geometrico bestimmen Neuzeit und Moderne jedoch keineswegs exklusiv. Ganz im Gegenteil bedingen sie quasi automatisch die mythopoetische Kritik ihrer rationalistischen Methoden als Kehrseite ein- und derselben neuzeitlichen Medaille. Spätestens seit der Reformation besteht diese Realdialektik von Rationalismus/ Metaphysik und Spiritualismus/ Mythopoetik; vgl. H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt. Zur Postmodernisierung der Religion, Gütersloh 1990, S. 33 f. 36 f. 4 2 - 4 4 . Böhmes Beitrag zur Genese genuin neuzeitlicher Subjektivität im Gefolge der Reformation Martin Luthers betont zuerst G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke. Bd. 20, Frankfurt/ Main 1986, S. 64. 69 f. 94. 96 f. D i e s e Namensliste zur Wirkungsgeschichte Böhmes bis zur Romantik bietet J. Hamberger, Die Lehre des deutschen Philosophen Jakob Böhme in einem systematischen Auszuge aus dessen sämmtlichen Schriften dargestellt und mit erläuternden Anmerkun-

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

3

Die Antwort zu all diesen Fragen liegt für den Kirchenhistoriker wie für den Systematiker in den Texten allein. Geisteswissenschaftliche Theologie muß nach diesen eher rhetorischen Vorüberlegungen nun ihrer universitären Verpflichtung nachkommen und mit sorgfältiger hermeneutischer Methodologie ans Werk gehen. 3 Sie wird auf der Grundlage der Texte Jakob Böhmes einen aus der Theologiegeschichte heraus sich einzigartig anbietenden Beitrag erstellen, der zur inhaltlichen Positionsbestimmung einer leibhaftig lebbaren christlichen Religiosität inmitten des Spannungsfeldes aus modernem Individualismus und postmoderner Esoterik dient. Bei Jakob Böhme befinden wir uns nämlich in der Ursprungssituation einer Glaubenslehre für das alltägliche Leibesleben des Christenmenschen. Jakob Böhme dient dieser systematisch theologischen Untersuchung als geschichtlicher Anknüpfungspunkt, von dem sehr wohl Einsichten zu theologischen Gegenwartsfragen gewonnen werden können. Umgekehrt betrachtet gilt es also, aus der soeben festgestellten gegenwärtigen Fragwürdigkeit unseres Untersuchungsgegenstandes heraus den Gedankengang Böhmes gut nachvollziehbar zu rekonstruieren, um aus der amorphen Bilderflut seiner Texte die geistige Gestalt dieser Leibtheologie auftauchen zu lassen. Böhmes Gedankengang wird also von vornherein so perspektiviert, daß die systematisch - theologische Anregung Böhmes vor dem Hintergrund unserer Zeitgenossenschaft phänomenalisiert werden kann. Der Titel "Leibhaftigkeit. Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie" enthält in seiner eigenwilligen Begriffsrhetorik eine Reihe methodischer und inhaltlicher Vorüberlegungen, die es einleitend zu entfalten gilt. Ausgangs- und Zielpunkt der Untersuchung der Schriften Jakob Böhmes 4 ist der für Böhmes

3

4

gen begleitet, Hildesheim 1975 = [Nachdruck] München 1844, S. LV ff., auch S. XXXIV f. Der systematisch - theologische Rückgriff auf die Traditionslinie Dilthey - Rothacker ist Programm dieser Arbeit. Sie geht in deutlicher Abgrenzung zu positivistischen Wissenschaftsidealen davon aus, daß Weltanschauungshermeneutik und Geschichtswissenschaft, subjektive und objektive Tatsachen sowie individuelle Lebensbedeutsamkeit und allgemeine Gültigkeit untrennbar zusammenhängen; vgl. im Unterschied dazu A. L. Molendijk, Wissenschaft und Weltanschauung. Max Weber und Eduard Spranger über "voraussetzungslose Wissenschaft" und Theologie, in: NZSTh 31, 1989, S. 82 - 108, hier bes. S. 92 - 98. Vgl. Jakob Böhme, Theosophia Revelata. Oder: Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens von Altseidenberg, hier: Faksimile - Neudruck der Ausgabe von 1730 in 11 Bänden. Begonnen von August Faust. Neu hg. v. Will - Erich Peuckert, Stuttgart 1942 - 1961. Zur Erklärung der Zitationsweise nach Abkürzungen s. u. im Literaturverzeichnis bei 8.1. W. Buddecke bezeichnet diese Ausgabe als die "beste und vollständigste" (vgl. seine Rezension in: T h L Z 89, 1964, Sp. 5 1 - 5 4 , hier: Sp. 51). Für eine systematische Untersuchung bietet sie zudem den Vorteil, daß sie die am weitesten verbreitete Ausgabe ist. Ihre Einteilung von Kapiteln und Absätzen ist auch von anderen Ausgaben übernommen worden, so daß die hier angegebenen Fundorte auch in anderen Ausgaben wiedergefunden werden können. Sie basiert auf der von Johann Georg Gichtel 1682 in Amsterdam besorgten Gesamtausgabe und bietet auch dessen Summarien und Register, die zum Auffinden einzelner Stellen auch dem heutigen Leser recht hilfreich sind. Von einer Benützung der von W. Buddecke selbst besorgten Ausgabe der Urschriften, Bd. I und II,

4

1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

theologische Schriftstellerei konstitutive Zusammenhang von Erfahrungssoteriologie einerseits, d. h. Inkarnation bezogen auf die gegenwärtige Bildung einer leiblichen Gestalt des Christenmenschen, und applikativer Schrifthermeneutik andererseits, d. h. Morphologie qua typologischer oder figuraler Schriftexegese in Bezug auf Haltung, Rolle, Habitus oder Entwurf des sich angesichts der Texte leiblich - lebensweltlich konstituierenden Christenmenschen. Von dem eben in aller Kürze beschriebenen Zusammenhang ausgehend läßt sich der 'plot' des mythopoetischen "Romans"5 Jakob Böhmes rekonstruieren und also das organisierende Prinzip seiner religiösen Vorstellungswelt aufzeigen. Es geht dieser Untersuchung mithin nicht um eine systematische Inventarisierung der Metaphern der Bildwelt Böhmes. 6 Dieselben sollen stattdessen vielmehr auf ihre expressive und deskriptive Funktion bei der Explikation des inkarnationsmorphologischen Zusammenhangs hin befragt werden. Die beiden Problemkreise von Inkarnation qua an der leiblichen Gestalt orientierter Erfahrungssoteriologie und Morphologie qua Lebensgestalt applizierender Schrifthermeneutik sind im Rahmen dieser Einleitung hinsichtlich ihrer systematisch - theologischen Verknüpfbarkeit zu einem organisierenden Prinzip von Theologie zu untersuchen. Dazu wird in aller Kürze ihre jeweilige Problemgeschichte zu analysieren sein. Erst aus der Synopse beider Problemkreise, d. h. aus ihrer wechselseitigen "Doppellektüre"7, läßt sich nämlich ein

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Stuttgart - Bad Cannstadt 1963 und 1966, wird wegen der fehlenden Kapitel- und Absatzeinteilung bewußt abgesehen. Eine philologisch einwandfreie Textkritik der Werke Böhmes muß aus Platzgründen unterbleiben. Die Traditionslinie Gichtel - Ueberfeld Faust - Peuckert ist ohnedies hochgradig originalgetreu. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, dans: Bibliothèque d'Histoire de Philosophie, Paris 1929, S. 504, spricht zur Charakterisierung des eigenwilligen Stils der Schriften Böhmes von einem "roman méthaphysique". R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München [45. 49. Tausend] 1987 [= 1979 = 1963], S. 132, äußert sich ähnlich: "Drollig sind die Konstruktionen und Analogien, mit denen hier ein chemisch - fysikalischer Roman Gottes gedichtet wird". Beide Beobachtungen nehmen den mythopoetisch - narrativen Stil in Böhmes Gesamtwerk jedoch nur kritisch wahr. Zu einer positiven Würdigung literarischer Formen in Philosophie und Theologie kommt erst jüngst, G. Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. H. Grunsky, Jacob Boehme, Stuttgart 1956, versucht, Böhmes naturphilosophische Metaphorik als ein regelrechtes "System" auszuweisen, dessen inhaltliche sowie lebenspraktische Bedeutung aber völlig unklar bleibt, da Grunsky Böhmes Metaphern nur inventarisiert und nicht interpretiert. Damit ist m. E. Grunskys Versuch als gescheitert anzusehen. Vgl. H. Timm, Zwischenfälle. Eine religiöse Grundierung des All - Tags, Gütersloh [2. Auflage] 1984, S. 15 - 17. Timm zielt dort auf den hermeneutisch unhintergehbaren Zusammenhang von Gegenwarts- und Geschichtswahrnehmung. Phänomene verdanken sich der wechselseitigen Auslegung von gegenwärtigem Eindruck und geistes- bzw. sprachgeschichtlich präformiertem Ausdruck. Das ist letztlich die Grundstruktur allen typologischen bzw. figuralen Denkens; dazu siehe unten 1.3.2.2. Hier soll dagegen "Doppellektüre" ganz allgemein auf die heuristische Verschränkung zweier Problemkreise angewandt werden.

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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für Böhmes Soteriologie, die den "biblischen Christus" 8 morphologisch auf die christenmenschliche Lebenspraxis appliziert, adäquates Deskriptionsinstrumentarium gewinnen. Unter 1.3. soll deshalb auf theologiegeschichtlichem Wege gezeigt werden, wie erstens Inkarnation, Christus praesens, Erfahrungssoteriologie und Gestaltthematik systematisch miteinander verknüpft sind (1.3.1.) und zweitens Morphologie, typologische bzw. figurale Exegese, applikative Schrifthermeneutik und christenmenschliche Lebensgestalt zusammenhängen (1.3.2.). Die systematischen Vorüberlegungen finden unter 1.4. mit einem Überblick über die terminologischen Anleihen, die diese Untersuchung bei der Phänomenologie des XX. Jahrhunderts macht, eine zum besseren Verständnis der eigentlichen Textuntersuchung notwendige Ergänzung. Den Schlußpunkt der Einleitung markiert dann ein kurzer Überblick über die Gliederung der eigentlichen Textuntersuchung (1.5.). Die Einleitung beginnt jedoch zuerst mit einem kurzen Blick auf die Rezeptionsgeschichte Böhmes, die von einer hochgradigen Unsicherheit im Umgang mit den Texten Böhmes und einem sehr ambivalenten Urteil über das rätselhafte Phänomen Jakob Böhme gekennzeichnet ist. Die Böhme - Rezeption verläuft theologischerseits am Rande breiterer Strömungen neuzeitlicher Geistesgeschichte (1.1.). Daran schließt sich ein kurzer Überblick über die Forschungsgeschichte, die ebenfalls von Unsicherheiten und Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Böhme wird meist theologiegeschichtlich inventarisiert, selten auf seine systematischen Anregungen hin perspektiviert und auch dann zumeist nur im Kontrast zur gesunden Kirchenlehre (insbesondere zur Rechtfertigungslehre) gezeichnet. Eine gegenwärtige Relevanz wird ihm nur vereinzelt zugebilligt. Solche Stimmen gilt es im Sinne dieser Untersuchung besonders stark zu machen (1.2.).

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Vier Stationen einer eigenartigen Rezeptionsgeschichte So ambivalent wie das Urteil der unmittelbaren Rezipienten Böhmes ist auch die Bewertung seiner Rezeptionsgeschichte im Ganzen durch die gegenwärtige Jakob Böhme - Forschung. Pältz bewertet sie höchst optimistisch als einen kometenhaften Aufstieg: "Niemand hat es ahnen können, daß der Görlitzer Schuster Jakob Boehme, dessen Grab verfemt und verwüstet worden war, für die neuere Geistesgeschichte eine Bedeutung haben sollte, die nur Luthers,

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V g l . M. Kahler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, neu hg. v. E. Wolf, in: ThB. Bd. 2, München [4. Auflage] 1969, S. 30 ff.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Hamanns, Herders oder Schleiermachers vergleichbar ist." 9 Bonheim dagegen urteilt skeptisch, ja geradezu pessimistisch, ob Böhmes Denk- und Explikationsleistung überhaupt jemals inhaltlich beachtet worden sei: "Böhme war und blieb über Jahrhunderte ... immer derselbe, der Schuster, der Wundermann, der Psychopath ... Nur einer war er in den seltensten Fällen, einer, den man verstehen wollte, um möglicherweise etwas von ihm zu lernen." 1 0 Da die offensichtlich immense intellektuelle Begabung einem akademisch völlig ungebildeten Schuster kaum zuzutrauen gewesen sei, habe man sich entweder an seiner Genialität berauscht oder aber seinen Wahnsinn verspottet. 1 1 Beide Einschätzungen gilt es nun an vier Beispielen zu überprüfen.

1.1.1. Philipp Jakob Spener 12 Spener steht als einer der Gründerväter des Pietismus in Deutschland selbst im Kreuzfeuer der Kritik der altprotestantischen Lehrorthodoxie. Sein in den "Pia desideria" 1 3 vorgelegtes Reformprogramm zur innerkirchlichen Pflege der Frömmigkeit des Einzelnen wird immer wieder dogmatisch als heterodox und ekklesiologisch als für Separatismus anfällig eingestuft. Gleichzeitig mit dieser orthodoxen Kritik an Spener haben sich Altona und Amsterdam Anhänger der in der Frühzeit des Pietismus weit verbreiteten und recht beliebten Schriften Jakob Böhmes in die Separation bewegt. Obwohl nun Spener selbst ganz ähnlich wie Böhme der individuellen Heilsaneignung des religiösen Subjekts eine zentrale Bedeutung zumißt, kann er es sich nicht leisten, als Befürworter Böhmes aufzutreten, da er sonst Gefahr läuft, seinerseits mit dessen heterodoxen und separatistischen Auswirkungen identifiziert zu werden. Nichtsdestotrotz widersetzt sich der "erfahren(e) Kirchenpolitiker Spener" aber einer eindeutigen Verurteilung Böhmes, um einer rigiden kirchenamtlichen und aka9 10

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Ε. H. Pältz (Hg.), Jakob Boehme. Glaube und Tat. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Berlin 1957, S. 9. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jakob Böhme, in: Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 87, Würzburg 1992, S. 41. Vgl. auch H. Bornkamm, Luther und Böhme, in: AKG. Bd. 2, Bonn 1925, S.4: B ö h m e sei "zu einer rührenden Kuriosität erniedrigt worden". Vgl. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 6 ff. 12 ff. Vgl. Ph. J. Spener, Letzte Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten. Teil III, Halle 1711, in: ders., Schriften, hg. v. E. Beyreuther, Band X V / 2: Korrespondenz, Hildesheim/ Zürich/ N e w York 1987. Dazu vgl. H. Obst, Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners, in: ZRGG 13, 1971, S. 2 2 ff.; ders., Zum "Verhör" Jakob Böhmes in Dresden, in: Pietismus und Neuzeit. Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus. Bd. I, Bielefeld 1974, S. 25 - 31. Vgl. auch J. Hamberger, Die Lehre des deutschen Philosophen Jakob Böhme, S. LXIV - LXVI. Vgl. Ph. J. Spener, Pia desideria, hg. v. K. Aland, in: Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen. Bd. 170, Berlin [3. Auflage] 1964. Dazu vgl. auch J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus in Deutschland, in: Beiträge zur historischen Theologie. Bd. 42, Tübingen 1970; dort zu Speners Böhme - Urteil S. 322 - 324.

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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demischen Ausgrenzung jeglicher Reformbestrebungen, also auch der eigenen, geschickt vorzubeugen. 14 Mit unglaublicher Schärfe widerspricht Spener sogar offen der wüsten Polemik Abraham Calovs gegen Böhmes Schriften: "Es hat sich aber auch Hr. Doct. Calovius (vermuthlich da er viribus ingenii sowol als corporis vor alter abgenommen) mit solchem scripto fast eher prostituirt/ als nutzen geschaft." 15 Allerdings hält sich Spener auch Böhmes Schriften gegenüber nicht mit Kritik, v. a. an deren Stil, zurück. Ihn störe "sonderlich die so dunckele und fast von allen biblischen und sonsten christlichen lehreren/ gebräuchlichen stylo abgehende schreib = art/ darunter ich nicht sehe/ warum der H. Geist die in der schrift sonsten deutlich vorgetragene warheit ... in diesen Schriften erst verdunckeln und verstehen wollen" 16 . Er selbst könne Böhmes Schriften durch die häufig verwendeten, ihm aber völlig fremden "términos chymicos" nicht verstehen, sodaß "ich des autoris sinn an wenig orten begriff/ manchmal nichts als wort laß/ da ich kaum einigen bequemen verstand fand" 17 . Ihm seien die Schriften zumeist "aufs wenigste verdächtig", manchmal sogar "zimlich suspect", da sie in einigen Teilen "der reinen lehr und göttlichem wort widersprechen/ und also nicht aus göttlichem licht herkommen können". Er "mißrathe" deshalb "allen denen/ die mich darüber fragen/ dieselbigen zu lesen". Man solle lieber bei der "H. bibel/ so das unzweiffentliche GOttes wort ist", bleiben. Dort sei allemal genug zur Erbauung zu lernen. Böhmes Schriften seien somit überflüssig. Sie lohnten der Mühe nicht, die man in ihr Verständnis zu investieren habe. 18 Zu einer prinzipiellen Verurteilung der Schriften Böhmes reichten diese Einwände jedoch nicht aus. Im Gegenteil: Spener könne nämlich grundsätzlich nicht verurteilen, was er nicht verstehe. 19 Die kirchlichen Autoritäten hätten zudem Böhme bislang nicht verdammt, so daß Spener seinerseits nicht der erste sein wolle, der dies ändere. Es gebe sogar Stimmen, die Böhme einen hervorragenden Leumund ausstellten. 20 Dunkle Stellen gebe es auch in der Bibel, so daß es nicht abwegig sei, trotzdem anzunehmen, daß Böhme wertvollste Anregungen biete, die sich sehr wohl dem H. Geist und nicht etwa, wie fälschlich behauptet, dem Teufel verdankten. Böhme korrigiere nämlich 14

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Vgl. H. Obst, Zum "Verhör", S. 29 - 31. Spener distanziert sich lediglich von "Gichteis enthaltung der h. communion" (Letzte Theologische Bedencken. Teil III, S. 121 ff.) und vom "Motus in Hamburg" (ebd., S. 279 ff.). Spener, ebd., S. 282; vgl. auch S. 191. Er bezieht sich auf Abraham Calov, Anti Boehmius, in qua docetur, quid habendum de secta Jacobi Boehmen, sutoris Goerlicensis, Leipzig 1684. [2. Auflage] 1690. Spener, ebd., S. 136; auch S. 124 141. 159. Spener, ebd., S. 135; auch S. 141. 159 163 f. Spener, ebd., S. 164 und 136, vgl. S. 141; auch S. 124. 160 f. 164. Vgl. ebd., S. 159. 163 f. Vgl. ebd., S. 134. 159. Für Spener gilt das "Verhör" Böhmes in Dresden als ein wichtiges Indiz seiner Hochschätzung von amtlich theologischer Seite; dazu vgl. S. 125. 137. 142. 190 f.; auch H. Obst, Zum "Verhör".

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

falsche Auslegungen der H. Schrift, wie einst das NT falsche Auslegungen des AT korrigiert habe. Das gelte besonders von der Verfälschung der imputativen Rechtfertigungslehre zu billiger Gnade. 21 Spener hat deshalb bei einer vorschnellen Verdammung die "sorge", "daß wir mit praecipuirten judiciis mehrmal uns an GOtt und dem nechsten versündigen können", weil möglicherweise "das gantze werck und seine Theologia eine göttliche Wahrheit" enthalte. 22 Dafür sprächen die positiven Wirkungen, die Böhme mit seinen Schriften bei seinen Lesern zeitige, nämlich "wie ernstlich er von der sünde den menschen abziehe/ wie er den grund des bösen hertzens so trefflich offenbare/ daß ungemeine regungen zu ernstlicher büß bey unterschiedlichen vorhin gewesten weit = leuten aus dem lesen entstanden (davon ich exempel weiß) wie lauterlich er den menschen auf Christi verdienst und den glauben weise/ und diesem alle kraft der rechtfertigung zulege/ wie kräftig er nachmal die früchten eines h. wandels treibe/ [...]/ daß derer viel die ihn lesen/ nachmal des lesens der schrift weniger satt werden können/ und meinen/ daß ihnen diese so viel kräftiger alsdann einfliesse und einleuchte." 23 Ein endgültiges Urteil kann Spener zufolge nur dann über Böhme gefällt werden, wenn eine gründliche theologische Expertise über das Gesamtwerk vorliege, "welche mit verständlichen und uns sonsten gebräuchlichen terminis die gantze Theologiam ex analogia Boehmiana kürtzlich aufsetzte/ aber dermassen/ daß man sich gewiß darauf verlassen dürfte/ das alles eigentlich ex sensu Boehmii geschrieben wäre"24. Diese Expertise soll Böhmes Gesamtwerk also trotz aller stilistischen Schwierigkeiten in propositionale Aussagen übersetzen, indem sie diese geradezu historisch - kritisch, d. h. ohne die in den "controversiis specialibus" einem wirklichen Verstehen so abträglichen "fleischliche affecten", aus Böhmes Metaphern herleite. Dann könne man "in pleno systemate" die "harmonía" aller seiner Aussagen überschauen und deren Zusammenstimmigkeit mit dem kirchlichen Bekenntnisstand überprüfen. 25 Bis dahin aber sei der müßige Streit um Böhmes Hetero- oder Orthodoxie regelrecht zu suspendieren. 26 So zurückhaltend Spener sich auch gibt, so deutlich wird doch die Ahnung eines gewaltigen systematisch - theologischen Denkanstoßes, den Böhme im Hinblick auf eine an der frommen Lebenspraxis orientierte theologische Denkform möglicherweise bedeutet.

21 22 23 24 25 26

Vgl. Spener, ebd., S.124 f. 127. 136 f. 158. Ebd., S. 164. 190. Ebd., S. 123. 125. Ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 126. 141. 164 f. 168 ff. Vgl. ebd., S. 160. 190.

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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1.1.2. Friedrich Christoph Oetinger 27 Oetinger versucht, die von Spener der Theologie gestellte Aufgabe zu lösen. Er fertigt das von Spener beschriebene Gutachten an, allerdings mehr zum privaten Gebrauch, als zur öffentlichen kirchenamtlichen Rehabilitierung des hinsichtlich seiner Stellung zur Orthodoxie angezweifelten Böhme. Oetinger zielt auch weniger auf den Nutzwert der Schriften Böhmes zur individuellen Erbauung des religiösen Subjekts, als vielmehr auf dessen Inkarnationslehre und deren grundsätzliche philosophische Bedeutung. Alles Denkbare stehe unter der Bedingung leiblicher Gestalthaftigkeit, das sei die zentrale These Böhmes: "Alles Himmlische, alles Unsichtbare hat seine Gestalt, Form und Figur, wie das Irdische. Das ist die Summe von J. Böhm, darum hat ihn Gott uns gesandt. [...] Auf diese Art lernet man: daß Gottes Herrlichkeit sich in leiblichen Eigenschaften veroffenbaret: daß Leib ein reelles Bild der Gottheit sei; daß die Seele die Figur eines Menschen habe; daß Gott sich in Menschengestalt auf dem Throne sitzend präsentiere, nicht nur menschlicherweise, sondern höchst wahrhaftig und Gott geziemend. Daher sagt die Heil. Offenbarung zu allen körperlichen Figuren: diese Worte sind gewiß und wahrhaftig. Dies ist, warum J. Böhm als ein Prophet in unsere philosophische Welt, als ein Elias gesandt worden." 2 8 Geist basiere nicht auf "Apparenzen" ohne "leibliche Subsistenz". Das sei gerade angesichts der aufklärerischen Philosophie in Anschlag zu bringen: "(D)ie Beraubung der Philosophie ist das, daß alles auf Idealismum, auf Erscheinungen, auf Apparenzen hinausläuft." 29 Oetinger hält mit Böhme der aufklärerischen Fiktion reiner, weil völlig bildloser Begriffssprachen den metaphorischen Realismus der Bibel entgegen: "Die Heilige Schrift stellt uns Gott zu glauben sehr begreiflich vor: ... Alles hat eine Gestalt, Figur und umschränktes Bild. Jeder Geist geht aus in ein leibliches Continuum; [...] Nun hört, wie die Wolfische Lehre uns vom wörtlichen Sinn abführt. Die Wolfische Lehre geht aus auf Apparenzen, nicht auf leibliche Subsistenz, worauf J. Böhm führt." Darin widerspreche Wolff im Unterschied zu Böhme zunächst einmal der intentionalen Grundstruktur menschlicher Vernunft, die erst anhand leiblicher Gestalten und Dynamik Begriffe bilden könne: "Wir haben etwas in uns, das verlangt, in der Wahrheit und realité zu subsistieren. ... Unsere Gedanken wollen ruhen in dem, wozu wir geschaffen sind, nämlich im leiblich = geistlichen Genuß der Wahrheit." 30 Sodann widerspreche 27

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Vgl. Fr. Chr. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit oder: Kurzer Auszug aus den Schriften des deutschen Philosophen Jakob Böhme, in: H. Kayser (Hg.), Schriften Jakob Böhmes. Ausgewählt, Leipzig 1923, S. 54 - 94. Ebd., § V S. 54; § XVIII/ S. 88; vgl. auch § XVII/ S. 87. Ebd., § XVI/ S. 86 f.; vgl. auch Anhang/ S. 91: "die philosophische depraedation der Akademien". Ebd., § II/ S. 54. § XVI/ S. 86 f. Zur leiblich - intentionalen Grundstruktur menschlicher Vernunft im Horizont der Lebenswelt vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Wolff der von Böhme herausgearbeiteten inkarnationsmorphologischen Mitte der H. Schrift. Die Inkarnation sei für Böhme der Dreh- und Angelpunkt der biblischen Schöpfungstheologie: "J. Böhm lehrt, daß die körperliche Subsistenz aller Dinge aus Christi Menschwerdung und Auferstehung fließe ... Die ganze Heil Schrift ist voll Reden, die die Subsistenz in der Menschheit Jesu verklären. Diese massiv klingenden Ausdrücke sind das Herrlichste der Schrift: essen und trinken mit Christo an seinem Tische, vom Gewächse des Weinstocks trinken körperlich,... Gott will, daß, weil in Christo die Gottheit leibhaft wohnt, alles Geistliche im Leiblichen seine Subsistenz habe; daraus müssen die massiven Ideen des Alten und Neuen Testaments erklärt werden." 31 Das gleiche Gefälle der göttlichen Schöpfungsintentionalität in die leibhaftige Ausdifferenzierung der menschlichen Lebenswelt, das Böhme aus der Inkarnationsfigur herauslese, werde beim alltäglichen Bekennen des Glaubens strukturanalog wiederholt. Oetinger hebt mit Böhme die performative Dimension der genuin christlichen Glaubenssprache hervor: "Der Glaube ist nicht nur eine Beredung von der Wahrheit göttlichen Worts, sondern eine wesentliche Grundstellung der Dinge, die man hofft, Ebr. 11, 1. ... Der Glaube ist eine gänzliche Übergabe in den Dienst Jesu Christi, er bildet unsere Seele nach dem Muster Jesu Christi." 32 Wenn Inkarnation wie bei "Mahomet und alle(n) Simplizisten" doketistisch verflüchtigt werde, verenne sich das Denken des Menschen in viele "labyrinthische Irrgänge", etwa im Bereich der Anthropologie: "Daraus entspringt der andere Irrtum der Akademisten, als ob die Seele als eine Monade und Substanz dem Leibe zugefügt würde; welches falsch ist: denn die Seele wird per traducem aus der Tiefe des Leibes herausformiert, Ps. 139, sie wird erst eine Substanz." Erst am Ende dieses vitalen Bildungsgeschehens repräsentiere sie den ganzen Menschen über den "sterbli(ch) grob(en), von Gras und Fleisch gewebt(en) Leib" hinaus, da sie dann "die Figur eines Menschen" im Lebensvollzug erworben habe. 33 Oetinger zeigt zusätzlich zur Inkarnationslehre Böhmes, wie dieser durch die pansophische Doppellektüre jüdisch - kabbalistischer und christlich - figu-

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transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. v. W. Biemel, in: Husserliana. Bd. VI, Haag [2. Auflage] 1962, § 50/ S. 173 - 176, sowie S. 108 - 111. Auch R. Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, in: Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Bd. 14, München 1986, S. 54: "Die je eigene Sinnerfahrung ist für Husserl wesentliches Moment des intentional auf die Außenwelt gerichteten Bewußtseins - Ich als dem unbezweifelbaren Anfang aller Philosophie." Zur formalen Rolle des Begriffs der "Lebenswelt" in diesem Zusammenhang vgl. ebd. bes. S. 73 f. 77 ff. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XVI f./ S. 86 - 88. Ebd., § XI/ S. 70. Ebd., Anhang/ S. 89; § XVIII/ S. 88. Oetinger bezieht sich offensichtlich auf Mr 15, 5 bei Böhme: "Gleichwie der Leib die Seele gebäret ...: Und gleichwie die Seele ein sonderliches ist, wenn sie geboren ist, und ist doch mit dem Leibe verbunden, und kan ohne den Leib nicht bestehen ...".

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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raier Schriftexegese, 3 4 die ihn zur Annahme einer auf der polaren Spannung zweier Urkräfte basierenden, dynamischen Kosmogonie bewegte, zu einem Inspirationsquell für Newtons Beschreibung von Schwer- und Fliehkraft bei kreisförmigen Bewegungen von Festkörpern um einen Mittelpunkt geworden sei: "Gott setzt die zwei ersten Zentralkräfte, die widerwärtig sind, aus freier schöpferischer Willkür zusammen, das nennt J. Böhm die ewige Gebärerin, die vires centrales Neutons." 35 Angesichts der fundamentalen Weiterentwicklung der Inkarnationslehre und der Ermöglichung einer physikotheologischen Deskription des Zusammenspiels von Kraft, Masse und Raum kommt Oetinger zu dem Schluß, "daß alle Lehrer den göttlichen Beruf J. Böhms einsehen, die puncta normativa Heil. Schrift zu beleuchten, um ihren Vortrag spirituel zu machen." 36 Böhme gilt Oetinger als Ideengeber zu einer applikativen Schrifthermeneutik, die dem Menschen qua Bibelleser seine gegenwärtige Wahrnehmungswelt mit den sprachlichen Mitteln der Bibel deskriptiv - phänomenologisch zu erschließen vermag. In dieser inspirierenden Funktion tauge er allerdings nicht als ein allgemeines "Lehrbuch", zumal er "kontradiktorisch", unverständlich oder einfach "anstößig" schreibe, so daß die Böhme - Interpretation einer "Perlenfischerei" gleichkomme. 37 Es bedürfe einer ganz besonderen Besonnenheit und Pietät des Interpreten, um Böhme nicht grob mißzuverstehen oder gar zu geistlichem Hochmut zu mißbrauchen, sondern tatsächlich als applikativen Schrifthermeneuten wahrnehmen zu können. 38 Im Unterschied zur "apparente(n)

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Genauer dazu unten 1.3.2.2. und 1.3.3. Vgl. auch F. Häussermann, Theologia Emblematica. Kabbalistische und alchemistische Symbolik bei Friedrich Christoph Oetinger und deren Analogien bei Jakob Boehme, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte, 1968/ 69, S. 207 - 346 und ebd., 1972, S. 71 - 112; W. Huber, Die Kabbala als Quelle zur Anthropologie Jakob Böhmes, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie 13, 1971, S. 131 - 150; G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/ Main 1957, S. 259 ff., auch S. 282 - 289. Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VII/ S. 61 Anhang/ S. 92: "Neuton ..., der größte Philosoph, muß notwendig J. Böhm auch aufs fleißigste geprüft haben: denn zu seiner Attraktionslehre hat er in J. Böhm seinen ersten Stoff angetroffen." Vgl. auch § VII/ S. 60 den Hinweis auf "Rad, Zirkularkraft" bei Böhme, "welches aus Neutons Orbitis deutlich zu verstehen." Und S. 63: "(S)o gibt J. Böhm glaublich ... vor: Gott habe drei englische Reiche in dem unendlichen Raum, spatio Neutoni, circumscribirt". Vgl. auch S. Hobhouse, Isaac Newton and Jacob Boehme. An Enquiry, in: ders., Selected Mystical Writings of William Law, London 1949, S. 397 - 422; K. Poppe, Über den Ursprung der Gravitationslehre. Jakob Böhme - Henry More - Isaac Newton, in: Die Drei 34, 1964, S. 3 1 3 - 3 4 0 . Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, Anhang/ S. 92. Vgl. ebd., Anhang/ S. 91 - 93. Vgl. ebd., § XVI/ S. 86: "Zu diesen Einsichten können uns die Bücher J. Böhms viel beitragen, aber man muß sie nicht lesen aus Vorwitz, um bald groß zu werden am innern Menschen, sondern nur die kleinen Wörtlein der Schrift zu erklären. J. Böhm führt nach seinem zentralischen Lauf eine unnachahmliche Tiefe: wer mäßig von sich hält, Rom. 12, wird finden, wie er ihn lesen muß." Vgl. auch Anhang/ S. 93 f.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Scheinerklärung Heil. Schrift" bei Swedenborg 39 handele es sich bei Böhmes Applikationen um Lebensweisheit ganz im Rahmen der göttlichen Offenbarung: "Weisheit in der Tiefe hat Böhm gehabt: aber die Weisheit in stylo Jesu Christi hat er nicht gehabt. ... Worte aus dem Blitze der Einleuchtung führt Böhm, Luk. 11, 34. Aber diese kann man nicht in gemeinen Sinn bringen, wie Salomo und Jesus es angezeigt. Daher gehören andere Leute dazu, die dies tun sollen." 40 Wie Spener fordert auch Oetinger also eine weitergehende Auseinandersetzung mit Böhme, um den Ausgangs- und Zielpunkt seines Denkens noch klarer fassen zu können.

1.1.3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 41 Zu Beginn seiner philosophiegeschichtlichen Ausführungen zu Jakob Böhme konstatiert Hegel den eigenartigen Verlauf von dessen bisheriger Rezeptionsgeschichte: "Dieser Jakob Böhme, lange vergessen und als ein pietistischer Schwärmer verschrieen, ist erst in neueren Zeiten wieder zu Ehren gekommen; Leibniz ehrte ihn. Durch die Aufklärung ist sein Publikum sehr beschränkt worden; in neueren Zeiten ist seine Tiefe wieder erkannt worden. Es ist gewiß, daß er jene Verachtung nicht verdient, aber auch andererseits nicht die hohen Ehren, in der er hat erhoben werden sollen." 42 Jenseits von altprotestantischer Polemik und radikalpietistischer Überschätzung bestehe das Phänomen Jakob Böhme jedoch darin, daß der unbedeutende Schuster aus der Lausitz, dessen "wir ... uns ... nicht zu schämen" hätten, der Gründervater der Neuzeitphilosophie in Deutschland sei: "Er ist genannt worden der philosophus teutonicus\ und in der Tat ist durch ihn erst in Deutschland Philosophie mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten."43 Böhme erreiche diese Bedeutung durch die Übersetzung der reformatorischen Neubewertung der Innerlichkeit des religiösen Subjekts in ein allgemeines philosophisches Denkprinzip: "Was Böhme auszeichnet und merkwürdig macht, ist das ... protestantische Prinzip, die Intellektualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen, und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war." 44 Der Ausgangs- und Zielpunkt seines Denkens sei fest im Luthertum verankert, aus dessen Rahmen er sich Zeit seines Lebens nicht hinausbewegt 39 40 41 42 43 44

Vgl. ebd., § XVI/S. 86. Ebd., Anhang/ S. 93. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen, S. 61 ff. 91 - 119. Ebd., S. 91. Ebd., S. 91.94. Ebd., S. 94. Vgl. auch H. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 182: "Von den beiden Voraussetzungen im Gottesbegriff und der sittlichen Grundanschauung aus hat Böhme mit genialem Spürsinn die Probleme empfunden und trotz seiner mangelhaften Schulung mit bewundernswerter Strenge weitergedacht, so daß sein System eine der wichtigsten Grundlagen für die Entwicklung der neueren deutschen Philosophie geworden ist."

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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habe. 4 5 Böhme bleibe dadurch zwar dem christlichen Sprachspiel noch sehr verhaftet, weil er "die sinnliche Weise und die Weise der vorstellenden Religion, sinnliche Bilder und Vorstellungen,... ineinander" bringe 46 ; ihm gelinge es aber gerade deshalb, die "Idee des Christentums", d. h. das "Prinzip der inneren Versöhnung des Geistes", der spätmittelalterlichen Trennung von religiöser Innerlichkeit und sinnlicher Äußerlichkeit entgegenzusetzen und dieselbe im Sinne des christlichen Versöhnungsprinzips zu überwinden. 47 Deshalb gehöre Böhme eindeutig zur Neuzeitphilosophie, deren Signatur Hegel, wie folgt, charakterisiert: "Der Mensch hat Zutrauen zu sich selbst, zu seinem Denken als Denken, zu seinem Wahrnehmen, zu der sinnlichen Natur außer und in ihm gewonnen; er hat Interesse, Freude gefunden, Entdeckungen zu machen in Künsten, Natur. Im weltlichen Wesen ging der Verstand auf; ... Dem Endlichen, Gegenwärtigen ist seine Ehre gegeben; das ist an sich seiende Versöhnung des Selbstbewußtseins mit der Gegenwart." 4 8 Diese typisch neuzeitliche Entdeckung der konkreten Geistesgegenwart erreiche Böhme nun im Unterschied zum Empirismus eines Francis Bacon auf spekulativem Wege innerhalb des christlichen Sprachspiels, indem er nämlich aus der Trinitätsfigur einen "Pantheismus der Dreifaltigkeit" 49 entwickele, der die Funktion habe, die eben beschriebene Versöhnung von Selbstbewußtsein und sinnlicher Gegenwart zu explizieren: "Die Grundidee bei ihm ist das Streben, alles in einer absoluten Einheit zu erhalten, - die absolute göttliche Einheit und die Vereinigung aller Gegensätze in Gott. Sein Haupt-, ja sein einziger Gedanke, der durch alles hindurchgeht, ist, ... in allem die göttliche Dreieinigkeit aufzufassen, alle Dinge als ihre Enthüllung und Darstellung; so daß sie das allgemeine Prinzip ist, in welchem und durch welches alles ist, und zwar so, daß alle

45 46 47 48

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Vgl. Hegel, Vorlesungen, S. 92. Ebd., S. 96. Ebd., S. 62. Ebd., S. 62 f. Auch hinsichtlich seiner Herkunft aus dem Handwerksstand gehört Böhme durchaus zum Typus des genuin neuzeitlichen Philosophen, der nicht mehr wie im Mittelalter einem besonderen Stand und einem besonderen Bezirk hinter Klostermauern zugehörig ist; vgl. S. 71 f.: "Wir sehen hier die Philosophen im ganzen im Zusammenhang der Welt in irgendeiner Tätigkeit, in einem gemeinschaftlichen Stande mit anderen im Staate; sie sind abhängig und in Verhältnis. Sie leben in bürgerlichen Verhältnissen oder im Staatsleben; oder sie sind auch wohl Privatpersonen, so daß der Privatstand sie ebensowenig von den anderen Verhältnissen isoliert." Vgl. auch W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 69. Hegel, Vorlesungen, S. 70. Vgl. auch L. Richter, Immanenz und Transzendenz im nachreformatorischen Gottesbild, in: Forschungen zur systematischen Theologie und Religionsphilosophie. Band I, Göttingen 1955, S. 24 ff. zu Böhme, S. 103 ff. zu Hegel. Ähnlich in Bezug auf den Spinoza - Streit seit 1785 auch H. Timm, Gott und die Freiheit, Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. I: Die Spinozarenaissance, in: Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 22, Frankfurt/ Main 1974, und ders., Fallhöhe des Geistes. Das religiöse Denken des jungen Hegel, Frankfurt/ Main 1979.

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1. Jakob B ö h m e als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Dinge nur diese Dreieinigkeit in sich haben, nicht als eine Dreieinigkeit der Vorstellung, sondern als reale, - die absolute Idee." 50 Eine eklatante Schwäche sieht Hegel in Böhmes "Form der Anschauung und des Gefühls; denn Anschauung und inneres Fühlen, Beten und Sehnen und die Bildlichkeit der Gedanken und dergleichen sind zum Teil für die wesentliche Form der Philosophie gehalten. Aber es ist nur der Begriff, das Denken, worin die Philosophie ihre Wahrheit haben, worin das Absolute ausgesprochen werden kann und auch ist, wie es an sich ist. Von dieser Seite aber ist er vollkommen Barbar". Böhme verwechsele permanent Gedanken- mit sinnlichen Bestimmungen, die wesentliche Form des Gedankens mit sinnlichen Formen. 51 Er verwende sinnliche Eindrucksqualitäten wie Begriffe, so daß es nicht recht eigentlich zu einer rein gedanklichen Reintegration wahrer Geistesgegenwart qua Subjekt - Objekt - Identität komme, in der der Gegensatz von Innen und Außen dann wirklich miteinander vermittelt sei. Hegel unterliegt hier offensichtlich der schon von Oetinger vehement kritisierten Illusion einer bildfreien Begriffssprache. 52 In der Tat läßt sich eine Selbstexplikation der reinen Vernunft im Sinne des idealistischen Purismus bei Böhme nicht wiederfinden. Indem Hegel die "Form des Selbstbewußtseins" mit "dem Gestaltlosen" identifiziert, d. h. "dem Begriff", der sich für Hegel ja gerade durch seine Amorphie auszeichnet, gelingt es ihm nicht, Böhmes inkarnationsmorphologisches Potential wahrzunehmen. Die Vielfalt sinnlicher Metaphern findet er eher lästig: "Er bleibt auch nicht bei einer Form, sondern wirft sich in mehrere Formen herum, weil weder die sinnliche noch religiöse genügen kann. Populäre, derbe Weise der Vorstellung, vollkommene Parrhesie kommt vor, die uns oft gemein erscheint. ... (S)o ist Böhmes großer Geist in harte knorrige Eiche des Sinnlichen, - in knorrige, harte Verwachsung der Vorstellung eingesperrt." 53 50 51 52

53

Hegel, Vorlesungen, S. 98. Ebd., S. 91 f. Vgl. a u c h S . 92. 94 f. 97. 113. 1 1 7 - 119. Hegel folgt hierin dem cartesischen Programm einer Mathesis universalis. Die Wissenschaftlichkeit objektiver Erkenntnis ist erst dann gewährleistet, wenn die Res cogitans sich von allen Gestaltmerkmalen der Res extensa zu ihrer reinen Eigentlichkeit befreit hat. D i e s e m Programm folgte auch der Vernunftpurismus Kants. Erst Husserl nimmt Oetingers diesbezügliche Einwände wieder auf. Bei einer Vereinseitigung rein geistiger Vernunfteinsichten drohe der Naturwissenschaft der Verlust ihrer unhintergehbaren empirischen Basis. Vgl. Husserl, Die Krisis, S. 128 f.: "Es ist natürlich die eine, allgemeinsame Erfahrungswelt, in der auch Einstein und jeder Forscher sich als Mensch, und auch während all seines forschenden Tuns weiß. [...] Aber während der Naturwissenschaftler in dieser Art objektiv interessiert und in Tätigkeit ist, fungiert andererseits doch für ihn das Subjektiv - Relative nicht etwa als ein irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch - logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benüzt als wirklich seiend, und nicht als Illusionen; also das wirklich lebensweltlich Seiende als gültiges ist eine Prämisse." Ebd., S. 97 f. Vgl. auch H. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 8: Die "verwirrende Fülle ... naturphilosophischer Kunstausdrücke" mute geradezu "närrisch" an. So auch später

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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Trotz aller Abneigung gegenüber Böhmes sinnlicher Metaphorik erkennt Hegel jedoch, daß Böhmes Leistung darin besteht, ganz aus der deutschen Sprache heraus zu denken ("ein aus sich selbst Sprechen" 54 ). Die Darstellung von Böhmes Gedanken sei deshalb an seine Terminologie gebunden; sie könne nicht einfach übersetzt werden. 55 Hegel folgt virtuos Böhmes Gedankenentwicklung aus sprachlichen Assonanzen heraus. So zeigt er, wie "Qual", "Quelle", "Quallen", "Quellen", "Qualität" für die Korrelation von dynamischem (Geburts-) Prinzip und konkret ausdifferenzierender Bestimmtheit oder wie "Nichts", "Ichts", "Ich", "Selbheit" für den Zusammenhang von Negation und materialer Selbstsetzung stehen. 56 Auch am Ende von Hegels Ausführungen bleibt dem Hörer bzw. Leser somit unklar, inwieweit Hegels Bewunderung Böhmes nicht doch die Kritikpunkte letztlich überwiegt. Völlig widersprüchliche Beurteilungen stehen hier nämlich unverbunden nebeneinander: "Zu erwähnen ist noch sein frommes Wesen, das Erbauliche, der Weg der Seele in seinen Schriften ..., diese Tiefe und Innigkeit... Aber es ist eine Form, mit der man sich nicht versöhnen kann und die keine bestimmte Vorstellung über das Detail zuläßt. Man wird nicht verkennen, welches tiefe Bedürfnis des Spekulativen in diesem Menschen gelegen hat." 57

1.1.4. Ludwig Feuerbach 58 Wie Hegel stößt sich auch Feuerbach an Böhmes Verwechselung von "Erkenntnisse gewährende(n) Denkbestimmungen" mit "Formen des Gemütslebens und der Sinnlichkeit", so daß "sinnliche Beschaffenheiten" unmittelbar "zur Bezeichnung der Gegenstände" angewendet würden, obwohl sie "ebenso dunkel ... wie die Gefühle und sinnlichen Empfindungen" seien. Völlig willkürlich, ohne "Methode und Logik" verwende Böhme deshalb kurioseste "Zeichen und Hülfsmittel". 59 Die chaotische Inszenierung seines Denkens nehme schließlich "Umfang und Aussehen einer schusterlichen Wohnung" an. Aus diesem Grunde habe Böhme vor allem auf jene Menschen gewirkt, "die sich wohler, heimischer fühlen in einer beschränkten Schusterwohnung als in den großen, weißen Tempeln und Hallen der reinen Philosophie [...], die mit nichts weniger als mit dem Denken etwas zu schaffen haben wollen." Diese Leute hätten ihn "gehegt und gefeiert ..., als wäre er einer ihresgleichen, weil

54 55 56 57 58 59

noch ders., Jakob Böhme. Leben und Wirkung, in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Göttingen [2. Auflage] 1966, S. 315 - 331, S. 327. Hegel, Vorlesungen, S. 118. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 1 0 0 - 1 1 0 . Ebd., S. 118 f. L. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, hg. v. J. Höppner, Leipzig [2. Auflage] 1990. Vgl. ebd., S. 133.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

sie unvermögend, die Form vom Inhalt, das Äußere vom Innern, das Partikuläre eines Schriftstellers von seinem Wesen zu unterscheiden." 60 Feuerbach wirft Böhmes Stil also vor, daß er auf die falschen Leute wirke. Keineswegs will Feuerbach grundsätzlich kritisieren, daß bei Böhme alles wie "in einem praktischen Enchiridium oder Kompendium kurz und gut beieinander" sei. Feuerbach ist kein idealistischer Purist, so daß für ihn die Weite der reinen Philosophie die einzige Denkmöglichkeit darstellte; im Gegenteil: "(D)enn mit dem Räume erweitert sich auch die Aussicht und verliert sich der einzelne aus dem Gesichte, sieht sich als einen Punkt im Ganzen verschwinden; in einem engen Räume aber, da findet sich der Mensch zu Hause, wird er auf sich gedrängt, verliert er sein beschränktes Dasein nicht aus dem Auge und hat er alles, was er ist und hat." 61 Genau hier in der alltäglichen Beschränktheit ist Feuerbach zufolge auch die eigentliche Leistung Böhmes zu verorten. Böhme sei ein Anthropologe, der unmittelbar aus der Beschränktheit seines Lebens heraus auf dessen psychologische Konstitutionsbedingungen reflektiere. Mit seiner "esoterischen Psychologie" sei er deshalb ein ebenso typischer Neuzeitphilosoph wie Descartes (im Text als "C."): "J. B. ist der tiefste unbewußte und ungebildete Psycholog. Was er namentlich über das Wesen der Begierde, über die Pein der Leidenschaft, über die Lust der Freiheit und Gemütsidentität, den Affekt der Affektlosigkeit sagt, ist ebenso tief als wahr, ebenso poetisch als ergreifend ..., weil er den Stoff seiner Darstellung aus der Quelle aller Leiden und Freuden, aus der Empfindung schöpft. J. B. ist der lehrreichste und zugleich interessanteste Beweis, daß die Mysterien der Theologie und Metaphysik in der Psychologie ihre Erklärung finden ..., denn alle seine metaphysischen und theosophischen Bestimmungen und Ausdrücke haben pathound psychologischen Sinn und Ursprung. ... Wie nämlich C. von sich ausgeht, in sich das Prinzip der Philosophie findet so geht auch J. B. von sich aus, macht sich 'mein eigen Buch, das ich selber bin' ('Theos. Sendbr.', Nr. 34, § 9), d. h. den Menschen zum Grund seines Dichtens und Denkens." 62 Der "esoterischen Psychologie" entsprechend gehe es Böhme als einem Anthropologen allerdings nun nicht etwa um eine völlig losgelöste seelische Innerlichkeit, sondern immer um "die Einheit der Seele mit dem Leibe, das Leben oder lebendige Wesen des Menschen", das er als Ausgangs- und Zielpunkt verwende, indem er es zum "Ur- und Grundwesen" mache: "J. B. macht nicht die Seele, den Willen, den Geist des Menschen als ein abgezogenes, 60

61 62

Ebd., S. 135. 129. Vgl. auch S. 134: "(D)er Grund von dem zauberhaften Eindruck, den J. B. auf viele Gemüter macht, denn in dem Lichte, das in einem Dom durch buntbemalte Fenster oder durch trübe Glasscheiben in die Stube eines Schusters fällt, ist es vielen Menschen wohler zumute als in dem Lichte, das durch reine, ungefärbte Fenster fällt oder unmittelbar aus der Hand der Natur uns zukommt." Ebd., S. 135. Ebd., S. 173 - 175. Vgl. auch S. 170: Der Mensch sei der "eigentlich(e) Schlüssel und Hebel der J. Böhmeschen Theosophie". Vgl. auch W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 68 f.

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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metaphysisches Wesen, er macht den ganzen Menschen, den an den Leib gebundenen Geist zum Gott und Welt erzeugenden Prinzip." 63 Daraus ergibt sich nun für Feuerbach die vollständige Strukturanalogie von Theo- und Kosmogonie einerseits (§ 44 - 52) und psychologischer Anthropogonie andererseits (§ 53), die die theosophische und naturphilosophische Schriftstellerei Böhmes wie ein roter Faden durchziehe. Der schöpferische Ausdifferenzierungsprozeß Gottes verlaufe aus dessen differenzloser Aseität und Einheit heraus (§ 44) bis hinein in die sinnlich materielle Konkretion und Individuation der irdischen Lebenswirklichkeit durch die Vermittlung einer innergöttlichen Urdifferenz (§ 45: Selbstgefühl oder Selbstbeschaulichkeit) und des "Principi(i) der Negativität" (§ 46 - 52), d. h. des in der freien Selbstsetzung des Teufels bzw. des Bösen bestehenden Principium individuationis. Wie Hegel hält sich auch Feuerbach dabei sehr genau an die sprachlichen Vorgaben Böhmes, den er zu jedem Gedankenschritt in extenso zitiert (z. B. § 48): "(I)n und mit der Selbstbeschaulichkeit erwacht der Trieb zur Ich- und Selbstheit, die Begierde nach Selbstoffenbarung, nach Selbstunterscheidung, nach bestimmter Selbsterkenntnis. Der Wille nämlich modelt ... sich in sich ein, er imprimiert durch die Imagination in sich das Spiegelmodell von sich, und mit dieser Impression der Phantasie erwacht die Begierde, die Phantasie in wirkliche, bestimmte Figur, Gestalt und Wesen zu bringen, d. i. etwas zu sein, Selbst- und Ichheit anzunehmen." 64 "Subjektivität" qua "Geist der Ichheit" basiere bei Böhme somit in naturphilosophischer Hinsicht auf "Negativität", "Konzentration", "Einfassung", "Formung", "Bestimmung", "Sonderung". 65 Die durch die Vermittlung des Teufels ausdifferenzierte Vielheit bleibe allerdings auf die ursprüngliche Einheit bezogen. Es gebe keinen linearen Verfallsprozeß, sondern vielmehr die Aufhebung der Differenzen in einer restituierten Geisteseinheit: "(D)enn nur so, als in sich wieder einund zurückgehender, ist er ein sich empfindlicher, offenbarer, wirklicher und lebendiger Geist." 66 Ansonsten komme es zum schmerzlichen Erlebnis eines unvermittelten Bösen. Sollte dieser theosophische Gedankengang rein naturphilosophisch gemeint sein, fiele das Urteil im direkten Vergleich mit Bacon desaströs aus, da Böhmes "unsinnigste und abgeschmackteste Phantastik" sich nicht "durch das profane, enttäuschende Sinnenlicht" bzw. "durch keine Einwürfe der Empirie in dem Glauben an ihre Allwissenheit" aufklären Hesse. In Bezug auf die außer dem Menschen liegende Natur vertrete der "Philosophus Teutonicus" nur eine "sich als göttliche Allwissenheit geltend machende menschliche Unwissenheit." 67 "(A)us dem Schutthaufen seiner anderweitigen trüben Vorstellungen" 63 64 65 66 67

Feuerbach, Geschichte, S. 172. 171. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 148. Hierin folgt Feuerbach Hegel, Vorlesungen, S. 100 - 110. Feuerbach, Geschichte, S. 169. Ebd., S. 134.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

gelte es, den "wesentliche(n) Gehalt seines Geistes" hervorzugraben, den Böhme selbst schon "oft in der reinsten und erhabensten Sprache, fast mit wissenschaftlicher Bestimmtheit", dem "Licht des Bewußtseins" darbiete. 68 Deshalb befragt Feuerbach die neuplatonisch anmutende Naturtheologie auf ihren anthropologisch - psychologischen Skopos hin: "Derselbe Prozeß findet aber auch im Menschen statt." 69 Die den Menschen zu einem körperlich eigenständigen Lebewesen individuierende, ursprüngliche Differenz resultiere aus "der Begierde, aus der Leidenschaft. Die Begierde ist der Verlust der Freiheit und Einheit. ... Aber die Begierde will eben, daß es sei; sie ist ungeistlich, materialistisch; sie will haben, besitzen, genießen. ... Erst in der Begierde bekomme ich Eigenschaften, werde ich ein bestimmtes Wesen - ein hungriges, durstiges, weib-, ehr-, habsüchtiges - ein Selbst, ein Etwas." 70 Genau darin konstituiere sich "(d)as harte, zusammengezogene, greifliche, d. i. körperliche Wesen des Menschen." 71 So kommt Feuerbach zu dem Resultat: "J. B. ist ein religiöser Sensualist, ein theosophischer Materialist."12 Böhme bleibe nun aber keineswegs bei einem unvermittelten und insofern "absoluten Sensualismus" stehen, wenngleich dieser auch den wesentlichen Teil menschlicher Erfahrungswirklichkeit ausmache. Der Mensch unterscheide sich nämlich durch die gleichmäßige Entwicklung aller seiner Sinne und die universale Freiheit zu deren ästhetischem Gebrauch wesentlich von der biotopisch gebundenen sinnlichen Ausdifferenzierung des Tieres. 73 Der in sinnlicher Totalität nach allen Seiten gleichzeitig Begierden entwickelnde Mensch erlebe als "absoluter Sensualist" in seiner chaotischen, weil rein sinnlichen Gestaltlosigkeit den "Tod der Freiheit und der mit ihr identischen Seligkeit und Einigkeit - die Quelle aller Qual und Pein, aller Angst und Unruhe." Der ohne jede Gestaltwahrnehmung dahinfühlende Mensch drohe, die Einheit seines Selbstbewußtseins an eine amorphe Fülle chaotischer Sinneseindrücke zu verlieren. Daraus resultiere eine von Böhme adäquat beschriebene Erlösungssehn68 69 70 71 72 73

Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 169. Ebd., S. 172. Ebd., S. 171. Ebd., S. 155. Vgl. L. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele. Fleisch und Geist, in: ders., Gesammelte Werke hg. v. W. Schuffenhauer. Bd. 10: Kleinere Schriften III (1846 1850), Berlin 1971, S. 122 - 150, dort S. 144. Feuerbach wirkt mit dieser These bis in die Anthropologie des XX. Jahrhunderts; vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/ München [6. Auflage] 1962, S. 38 - 41 unter dem Stichwort "Weltoffenheit des Menschen". Eine hervorragende Unterscheidung des Feuerbachschen Sensualismus vom dialektischen Materialismus bei Marx/ Engels/ Lenin zeigen F. Tomasoni, Materialismus und Mystizismus. Feuerbachs Studium der Kabbala, in: W. Jaeschke (Hg.), Sinnlichkeit und Rationalität. Der Umbruch der Philosophie des 19. Jahrunderts: Ludwig Feuerbach, Berlin 1992, S. 57 - 62, und U. Reitemeyer - Witt, Apotheose der Sinnlichkeit?, in: H. J. Braun/ H. - M. Sass/ W. Schuffenhauer/ F. Tomasoni (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, Berlin 1989, S. 259 - 284.

1.1. Das Rätsel Jakob Böhme. Eigenartige Rezeptionsgeschichte

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sucht: "Der Mensch sehnt sich daher aus der Gefangenschaft der Begierde wieder nach Freiheit, aus dem Streit der Leidenschaft nach Ruhe und Frieden." 7 4 Auf diese Weise hat für Feuerbach die bei Böhme naturtheologisch präformierte Reintegration und Restitution der ursprünglichen Einheit als einer sich ihr selbst voll bewußt gewordenen einen anthropologisch - psychologischen Sinn. Die glückliche Aufhebung der möglichen Aporien eines "absoluten Sensualismus" in einer gleichwohl sinnlich vollkommen ausdifferenzierten Bewußtseinsidentität vor Ort des menschlichen Körpers, die Feuerbach als Böhmes Intuition herausarbeitet, verknüpft er in der Einleitung der "Geschichte der neuern Philosophie" mit der Inkarnation (dort allerdings ohne Bezug auf Jakob Böhme): "(I)m Christentum ... wurde der Λογος σαρξ, d. h. die allgemeine Vernunft, das alle Völker und Menschen umfassende, alle feindseligen Differenzen und Gegensätze zwischen den Menschen auflösende, allgemeine und reine, deshalb mit dem göttlichen Wesen identische Wesen der Menschheit Gegenstand unmittelbarer Gewißheit, Gegenstand der Religion. Christus ist nichts anderes als das Bewußtsein des Menschen von der Einheit seines Wesens mit dem göttlichen Wesen, ein Bewußtsein, welches ... sich als unmittelbare Tatsache aussprechen, in eine Person sich zusammenfassen, zunächst als ein Individuum sich verwirklichen, und der ganzen, noch in der Finsternis des alten Widerspruchs der Volkspartikularitäten liegenden Welt als Schöpfer eines neuen Weltalters entgegensetzen mußte." 75

1.1.5. Ergebnis Oetinger, Hegel und Feuerbach bieten eine tiefgehende systematische Würdigung der Gedanken Jakob Böhmes, auch wenn sie sich zum Phänomen Jakob Böhme ambivalent verhalten. Der Kritikpunkt ist seit Spener prinzipiell unverändert. Immer wieder wird die sinnliche Metaphorik Böhmes, die Dunkelheit seines Ausdrucks und seiner Schreibweise kritisiert. In systematischer Hinsicht hat Spener bereits die Ahnung, daß hinter den rätselhaften Texten elementare theologische Einsichten insbesondere zur individuellen Heilsaneignung sowie zur frommen christlichen Lebenspraxis verborgen seien, die es in sauberer hermeneutischer Arbeit ans Tageslicht zu fördern gelte. Oetinger wagt dazu einen ersten Entwurf. Böhme denke von der Inkarnation ausgehend, daß alles geistige wie irdische Leben wesentlich auf leib74

75

Feuerbach, Geschichte, S. 173. Vgl. auch S. 169: "Die Unruhe, Pein und Qual des Bösen ursachet, daß der Mensch sich wieder aus der Differenz seiner Ichheit in seinen Urständ und Ursprung zurücksehnet und in die Form seiner Ichheit den Willen der ewigen Einheit einfasset, die jetzt erst an dem Gegensatze des schmerzlichen Bösen als Einheit, als süße Milde, als Wohltat empfunden und erkannt ist." Ebd., S. 6.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

licher Gestalthaftigkeit basiere. Darin sehe Böhme den elementaren philosophischen Aussagegehalt der H. Schrift. Bis auf die Tatsache, daß Oetinger weniger auf Böhmes Erfahrungssoteriologie, sondern auf eine soteriologisch reformulierte Schöpfungstheologie abhebt, kann man sagen, daß Oetinger bereits ansatzweise Böhmes inkarnationsmorphologischen Denkzusammenhang von gegenwärtiger Leibhaftigkeit und applikativer Schrifthermeneutik wahrnimmt. Hegel betont ebenfalls den schöpfungstheologischen Zusammenhang, innerhalb dessen es Böhme auf spekulativem Wege gelinge, anhand der christlichen Trinitätsfigur die konkrete Geistesgegenwart im menschlichen Bewußtsein mit dem absoluten Geist zu vermitteln. Die elementare philosophische Einsicht sei allerdings durch eine "barbarische" Verwechselung von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit praktisch unkenntlich gemacht. Nichtsdestoweniger gelingt es Hegel, durch einen virtuosen philologischen Nachvollzug des Sprachdenkens Böhmes, d. h. seines Denkens ganz aus der Sinnlichkeit der Alltagssprache und ihrer Assonanzen heraus, also: seiner "sprachmorphischen" 7 6 Denkstruktur, den "Pantheismus der Dreieinigkeit" in seiner begrifflichen Bedeutung herauszupräparieren. Feuerbach schließlich knüpft deutlich an Hegel an. Er erdet jedoch die von Böhme anhand der naturphilosophischen Metaphorik beschriebene Entwicklung einer in vollendeter Geistesgegenwart sinnlich voll ausdifferenzierten Bewußtseinsidentität vor Ort des menschlich inkorporierten Seelenlebens. Feuerbach macht deutlich, daß der Ausgangs- und Zielpunkt von Böhmes Denken in Anthropo- und Psychologie verankert sei, also in menschlicher Empfindung und Lebenserfahrung. Dadurch greift Feuerbach unwillkürlich auf Oetingers Entdeckung der Bedeutung zurück, die der Leibhaftigkeit als dem elementaren Präsenzmodus des Lebens im Denken Böhmes zukommt. Damit wird abschließend deutlich, daß im Verlauf der Rezeptionsgeschichte wenigstens ansatzweise immer wieder einmal ein inkarnationsmorphologischer Denkzusammenhang als Lösungsmöglichkeit des 'Rätsels Jakob Böhme' in Erwägung gezogen worden ist.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung Der Forschungsüberblick gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste (1.2.1.) beobachtet die theologiegeschichtliche Einordnung Jakob Böhmes in den Rahmen des nachreformatorischen Luthertums. Je nach Einschätzung der Interpreten gilt Böhme entweder als Vertreter heterodoxer Positionen und Be76

Vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht. Sprachmorphische Anthropologie, in: ders., Phänomenologie des Heiligen Geistes. Bd. II: Dialektik, Gütersloh 1992, S. 10 f.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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griffe und wird vom orthodoxen Luthertum im engen Sinne kritisch abgegrenzt oder als innovationsorientierter Verknüpfer vielfältiger Traditionslinien und wird in ein neues Verständnis von Luthertum integriert. Der zweite Abschnitt (1.2.2.) präsentiert dann genuin systematisch - theologische Auswertungen der rätselhaften Schriften Böhmes. 77

1.2.1. Zwischen Heterodoxie und Innovation. Jakob Böhme in der lutherischen Theologiegeschichte Den mit der Überschrift markierten Problemhorizont der theologiegeschichtlichen Einordnung Böhmes in das nachreformatorische Luthertum hat Karl Holl beschrieben. Seine lapidare Feststellung, daß Böhmes theologische Schriftstellerei sich selbstverständlich primär der Anregung Luthers und nicht etwa paracelsischer oder sonstiger Esoterik verdanke, ermöglichte der an ihn anknüpfenden Forschung, von dem Daß einer solchen Zuordnung Böhmes zum Luthertum abzusehen und sich von vornherein auf das Wie zu konzentrieren, dessen Problemlage Holl, wie folgt, beschrieb: "Sein Gottesbegriff, der den Widerspruch, die 'Qual', in Gott feststellt, ist tatsächlich nichts anderes als die spekulative Ausgestaltung der lutherischen Gegenüberstellung von Zorn und Liebe in Gott. Luther selbst hätte sich freilich lebhaft dagegen gewehrt, daß man den Gegensatz von Zorn und Liebe, der sich bei ihm auf einen sich selbst bestimmenden zielhaften Willen bezog, ins Metaphysische umsetzte und damit Gott selbst einer naturhaften Notwendigkeit unterwarf." 78 Diese mangelhafte Orthodoxie in Böhmes Luther - Rezeption habe aber durchaus positive Wirkungen gezeitigt: "Aber die Tatsache bleibt doch bestehen, daß Böhme eigenartig lutherischen Antrieben innerhalb der Philosophie des deutschen Idealismus Anerkennung verschafft hat. Sie bedeuten dort eine Vertiefung der ganzen Weltanschauungsfrage. In Böhmes Philosophie trat eine Betrachtungsweise auf, die wiederum ganz streng auf das Sittliche eingestellt war und die deshalb auch den Willen - im Gottesbegriff und bei den Menschen für wichtiger hielt als das Denken. Sie zeigt Kampf und Widerspruch, wo Leibniz nur gleitende Übergänge wahrgenommen hatte; ... Die Lutheraner haben dieses Lutherische in Böhme immer wieder wohl herausgefühlt. Es ist kein Zufall, daß J. Böhme 77

78

Damit legt sich der hier vorgenommene Forschungsüberblick klare Grenzen auf. Es sollen nicht alle möglichen traditionsgeschichtlichen, z. B. die genuin philosophiegeschichtlichen, Untersuchungen zu Jakob Böhme dargestellt werden. Zur philosophiegeschichtlichen Einordnung Böhmes kann an dieser Stelle nur auf die umfängliche Jakob Böhme Forschung in der ehemaligen DDR verwiesen werden. Stellvertretend seien genannt: E. H. Lemper, Jakob Böhme. Leben und Werk, Berlin 1976; S. Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung. 1550 - 1650, Berlin 1988, S. 677 740. K. Holl, Die Kulturbedeutung der Reformation, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. I.: Luther, Tübingen [6. Auflage] 1932, S. 468 - 543, S. 531.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

in den Kreisen des Luthertums, soweit es spekulativen Sinn besaß,... jederzeit seine Anhänger gefunden hat." 79 In genau dieser Ambivalenz, die Holl als erster formuliert hat, bewegt sich die theologiegeschichtlich orientierte Jakob Böhme - Forschung: Bedeutet Böhme durch die Aufnahme ganz fremder Traditionslinien ein heterodoxes Mißverständnis Luthers (1.2.1.1.) oder eine wesentliche subjektive Vertiefung und Ergänzung der vor allem auf eine propositional objektivierende Darstellung der Rechtfertigungslehre Luthers zielenden Lehrorthodoxie (1.2.1.2.)?

1.2.1.1. Böhme als heterodoxer Außenseiter des Luthertums im engeren Sinne 1.2.1.1.1. Heinrich Bornkamm 80 Im expliziten Anschluß an K. Holl geht es dem Kirchenhistoriker Bornkamm, der einer der Pioniere der theologischen Böhme - Forschung im XX. Jahrhundert ist, darum, sowohl Jakob Böhmes Denken, als auch seine Frömmigkeit nicht allein in seinem Zusammenhang mit Paracelsus und der Alchemie zu untersuchen, sondern vielmehr mit der deutschen Mystik, Luther, Schwenckfeld und Weigel. 81 Die Schlüsselstellung komme Luther zu, da er alle anderen Einflüsse auf Böhme eigenartig modifiziere, d. h. die naturphilosophische Spekulation versittliche und der mystischen Frömmigkeit Böhmes zuallererst das Profil verleihe. 82 Angesichts der Tatsache, daß Böhme seine Einflüsse nicht in Zitation und Diskussion explizit benenne, könne in methodischer Hinsicht für die theologiegeschichtliche Einordnung nur auf terminologische Ähnlichkeiten zurückgegriffen werden, deren eigentümliche Darbietungsweise dann Hinweise auf Böhmes denkerische Abhängigkeit oder Originalität biete. 83 79 80

81

82 83

Ebd. Vgl. H. Bornkamm, Luther und Böhme; ders., Jakob Böhme. Leben und Wirkung; ders., Jakob Böhme, der Denker, in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Göttingen [2. Auflage] 1966, S. 331 - 345. Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. V f. 5 - 9. Den Neueinsatz einer Jakob Böhme Forschung begründet Bornkamm später in Jakob Böhme. Leben und Wirkung, S. 331, folgendermaßen: "Seit der Überwindung des aufgeklärten Naturalismus im Denken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat die neu einsetzende Forschung Böhmes Bild wieder lebendig gemacht. Hinter dem treuherzig - rührenden Wirrkopf, hinter dem phantastischen Verkündiger höherer Welten, zu dem man ihn herabgewürdigt hatte, stieg seine ursprüngliche Gestalt wieder auf." Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 131 ff., bes. 134. 167. 182 (zum Denken). S. 258 (zur von Luther geprägten mystischen Frömmigkeit). Vgl. ebd., S. 75. Anm. 3. 78. 102: Man müsse deshalb "auf den philologischen Nachweis von Berührungen verzichten." 166 f.: Es komme daher auf den "ideengeschichtliche(n) Charakter" der Abhängigkeiten an. Vgl. auch G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), in: ders., (Hg.), Klassiker der Naturphilosophie. Von den Vorsokratikern bis zur Kopenhagener Schule, München 1989, S.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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Gemäß der Zielsetzung, sowohl Denken, als auch Frömmigkeit Böhmes theologiegeschichtlich einzuordnen, untersucht Bornkamm in einem ersten Teil Luthers Einfluß auf Gotteslehre und Naturphilosophie im spekulativen System Böhmes, dessen Entstehung Bornkamm werkgeschichtlich nachzeichnet. 84 Ein zweiter Teil widmet sich der lutherisch - mystischen Frömmigkeitsgestalt Böhmes, worunter Bornkamm Böhmes applikative Christo- bzw. Soteriologie mitbegreift: 85 1. Wie Holl zeigt Bornkamm, daß Böhme die sittliche Polarität von Gottes Liebe und Zorn bei Luther auf dem Wege metaphysischer Spekulation in eine Kosmogonie bzw. Kosmologie übersetzt habe, 86 wobei seine auf dem psychischen Erleben aufbauende 87 Naturphilosophie die pantheistischen und ontologischen Tendenzen der deutschen Mystik ganz im Sinne von Luthers

158 - 170, S. 161: "Diese Einflüsse sind zwar deutlich, aber auch unbestimmt. Man kann sie als atmosphärisch bezeichnen: Böhme bezieht sich niemals 'diszipliniert' auf Vorgänger oder Traditionen, d. h. durch Zitat und Diskussion, sondern er verwandelt sich Terminologien, Lehrstücke, Modelle in höchst freier Weise an." G. Böhme benennt mit diesem Hinweis ganz klar die Grenze jeder primär traditionsgeschichtlichen Forschung zu Jakob Böhme. Sicher steht dieser in einem komplexen Geflecht so verschiedener Traditionslinien wie neuplatonischer Metaphysik, hermetisch - pansophischer, kabbalistischer und mittelalterlicher Mystik sowie paracelsischer, schwenckfeldischer und weigelscher Vorstellungen neben allen genuin biblischen und lutherischen Motiven. Dennoch beantwortet der Aufweis impliziter Abhängigkeiten von all diesen Traditionslinien noch nicht die Frage danach, was für eine eigenständige Theologiegestalt bei Böhme daraus entsteht. Insofern bleibt im Fall Böhmes die werkimmanente Interpretation der Königsweg. 84

85 86 87

Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 3 ff. Bornkamm unterteilt Böhmes Gesamtwerk in drei biographisch und inhaltlich unterschiedene Schaffensphasen: 1. 1612: Mr (vgl. S. 50 ff.); 2. 1618 - 1620: 3P und 3fL (vgl. S. 60 ff.); 3. 1620 - 1624 ("Reifezeit"): alle Schriften ab Mw (S. 68 ff.). M. E. gehört 3fL eindeutig zur "Reifezeit", da diese Schrift von jenen in keinster Hinsicht terminologisch oder stilistisch zu unterscheiden ist. Mr und 3P können tatsächlich von allen späteren Schriften unterschieden werden, da sie noch terminologische und stilistische Unsicherheiten aufweisen. Trotzdem ist Mr für eine phänomenologisch orientierte Untersuchung von unschätzbarem Wert. 3P dagegen kann aufgrund der terminologischen und stilistischen Unsicherheiten, die die Übergangsphase im Schaffen Böhmes kennzeichnet, vernachlässigt werden, zumal sie gegenüber den Schriften der "Reifezeit" inhaltlich nichts spektakulär Abweichendes bietet. Es wird mithin deutlich, daß werkgeschichtliche Unterscheidungen lediglich in terminologisch - stilistischer Hinsicht sinnvoll sind, da inhaltliche Unterschiede sich m. E. nicht in dem von Bornkamm angenommenen Maße verifizieren lassen. Gerade durch die zeitliche Nähe der Niederschrift der Werke 3P und 3fL verstärkt sich der Eindruck, 3P habe Böhme nur als eine Art Vorschrift gedient, um die terminologischen und stilistischen Unsicherheiten der Anfangsphase endgültig abzulegen und seine eigene Art sprachlicher Konsistenz zu gewinnen. Zu Fragen der Werkgeschichte vgl. auch W. Buddecke, Rezension, Sp. 51 - 54; W. - E. Peuckert, Einleitung, in: Theosophia Revelata. Bd. III, S. [5] - [11]. Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 185 ff. Vgl. ebd., S. 8 ff. Vgl. ebd., S. 66: In seiner mittleren Schaffensperiode nehme Böhme "eine psychologische Unterbauung seiner Metaphysik" vor, wodurch er sich dann endgültig von jedem "naturalistischen Pantheismus" (S. 19) distanziere.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Fassung des Problems des Bösen zurückdränge. 88 Unlutherisch blieben aber die identitätsmystische Erkenntnisgrundlage 89 der Böhmeschen Kosmologie und die trotz der metaphorischen Darstellungsweise wesentlich rationalere Fassung des Bösen qua Sünde und des Freiheitsproblems. Böhme bleibe hierbei hinter dem personalistisch - theistischen Reflexionsniveau des voluntaristischen Allmachtsbegriffs Luthers in "De servo arbitrio" zurück. 90 Im Unterschied zu Luther halte er an einer prinzipiellen Freiheit des Menschen, auch des Sünders, zum Guten im Rahmen einer supralapsarischen und insofern ewigen kosmologischen Ordnung fest. 2. Die eben angesprochene identitätsmystische Erkenntnisweise der kosmogonischen und -logischen Geheimnisse hat Bornkamm zufolge ihre Wurzel in einer von Paracelsus und Schwenckfeld maßgeblich geprägten Umakzentuierung von Luthers Wiedergeburtslehre bzw. Fassung der individuellen Heilsaneignung. 91 "Böhmes Christusmystik"92 behaupte eine wesentliche Einwohnung des Christus praesens im wiedergeborenen "Adam", zu der dieser aufgrund der an der Adam - Christus - Typologie (Rom 5, 12 ff.) orientierten wesentlichen Korrelation von Schöpfung und Neuschöpfung auch tatsächlich in der Lage sei. Durch die neuschöpferische Einwohnung des Christus praesens komme es jedoch nicht zu einer Vermischung des alten körperlichen Menschen 88

Vgl. ebd., S. 75 ff. 79 ff. 92 ff. 96 ff. 157 ff. Böhmes spekulative Metaphysik gehe nämlich von der Leitfrage aus: "Wie kann man die Gesamtwirklichkeit aus dem Gottesgedanken ableiten, ohne von der schrecklichen Wahrheit, die sie bietet, auch nur etwas zu verschleiern?" (S. 19) Die Doppelfrage bestehe aus zwei Einzelfragen: 1. "Wie läßt sich eine Verbindung oder gar eine Einheit herstellen zwischen Gott und Natur?" 2. "Wie wird man mit dem dann sich erhebenden Problem des Bösen fertig, das dieser Verbindung immer wieder in den Weg tritt?" (S. 15) Mit dieser Problemstellung verlaufe der Gedankengang dann "vom Absoluten herab zur Materie" (S. 33). Eine regelrechte Naturphilosophie lesen auch G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), und P. Deghaye, Jakob Böhmes Theosophie: Die Theophanie in der ewigen Natur, in: P. Koslowski (Hg.), Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, Zürich/ München 1988, S. 157 - 167, aus Jakob Böhme heraus. Daraus erwächst der abwegige Eindruck, als handele es sich bei Böhme um einen neuplatonisierenden, ansonsten aber realitätsfernen metaphysischen Grübler. Bornkamm vermeidet diesen Eindruck durch seinen zweiten Teil, der m. E. noch besser am Anfang einer Böhme - Untersuchung stehen sollte. Bei Böhmes Frömmigkeit handelt es sich nicht etwa um eine nachtheoretische Elementarisierung seiner spekulativen Gedankengänge, sondern um ein hochgradig komplexes Ineinander von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Zu dieser Terminologie vgl. G. Sauter, Die Begründung theologischer Aussagen - wissenschaftstheoretisch gesehen, in: ZEE 15, 1971, S. 299 - 308; W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/Main 1973, S. 295ff. 323 f.

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Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 46 ff. bes. 49; auch S. 185 "Identitätssystem"; S. 197. 205 "Identitätsgedanke von Böhmes Mystik"; S. 262 "Identitätscharakter seiner Spekulationen". Vgl. ebd., S. 149 ff. zum Bösen qua Sünde; S. 118 ff. bes. S 129 zur Freiheitsproblematik; S. 111 zum personalistisch - theistischen Allmachtsgedanken des lutherischen Voluntarismus, mit S. 20 ff. 126 f. 129. 162 - 166. 201. Vgl. ebd., S. 197 f. 206 ff., zu Schwenckfeld, S. 215 ff., zu Paracelsus. Ebd., S. 223; vgl. auch S. 224: "lebendige Christusmystik".

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1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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mit dem himmlischen Leib des neuen Menschen. 93 Im Gegenzug zur Aufnahme der paracelsischen Vorstellung zweier Leiber des Menschen, eines irdischen und eines himmlischen, und der schwenckfeldischen Vorstellung einer vollkommen spiritualisierten Heilsgegenwart Jesu Christi im individuellen Christenmenschen gelinge es Böhme, mit Luther den synchronen Zusammenhang von altem und neuem Menschenleib sowie eine diachrone Kontinuität des einen Menschenleibes im Eschaton zu betonen und die spiritualistische Verflüchtigung der Heilsgegenwart Jesu Christi zu vermeiden. 94 Im Spätwerk trete die Umakzentuierung der Rechtfertigungslehre Luthers als leibhaftig erlebte Wiedergeburt zurück. 95 Böhmes Polemik gegen die die Rechtfertigung verflachende Imputationslehre Melanchthons sei sogar gut lutherisch. 96 Trotzdem verfalle Böhme letzten Endes dem Synergismus: "Die Mitwirkung der Seele wird zur Bedingung, die das Werk der Rechtfertigung erst ermöglicht. ... Er hat nicht den ganzen Luther verstanden. Er hat den starken Antrieb zur Wiedergeburt, den tätigen lebendigen Glauben aus seiner Gedankenwelt empfangen, aber nicht die rechtfertigende Lösung der Spannung zwischen uns und Gott, mit der Gott sein erneuerndes Wirken im Menschen erst möglich macht." 97 Durch die theologiegeschichtliche Reduktion des Augenmerks auf Böhmes dogmatisch - propositionalen Standort verstellt sich Bornkamm den Blick auf die applikative Schrifthermeneutik. In einem späteren Aufsatz betont Bornkamm dementgegen, daß Böhme mit neuen "Schemata" versuche, "eine Welt überkommener Vorstellungen zu durchbrechen und das Geheimnis Gottes auf neue Weise fühlbar zu machen." 98 Böhme betone die "Erfahrung des Lebendigen", um der seit dem Spätmittelalter andauernden sprachlichen Entleerung des "antik - mittelalterlich(en) Begriff(s) des Seins" entgegenzuwirken. 99 Bornkamm beobachtet, wie Böhme dem authentischen Sprechen in der deutschen Alltagssprache eine lebens- und erfahrungsgestaltende Bedeu-

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Vgl. ebd., S. 212 - 216. 228 f. 223 f.: "Mittels des übergreifenden Gedanken seiner Mystik hebt Böhme Menschwerdung und Tod Christi aus ihrer geschichtlichen Einmaligkeit heraus und macht sie zum immer wiederholten und doch ewig gültigen Ereignis in allen neugeschaffenen Menschen. So sammelt sich das innere Erleben des Menschen um die Wiedergeburt." Vgl. ebd., S. 212. 221. Vgl. ebd., S. 222 f. Vgl. ebd., S. 265. Vgl. ebd., S. 269 f. Bornkamm, Jakob Böhme, Der Denker, S. 338 f.; vgl. auch ebd., S. 343 f.: "Der neuplatonisch, in lutherische Begriffe verkleidete Mythos, die Zahlensymbolik und die alchymistische Begriffswelt sind die drei wichtigsten Schemata, in die Böhme seine Grundintuition: die unendliche Einheit über der Dialektik der Gegensätze, eingeschlossen hat." Vgl. ebd., S. 336. 339.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

tung zumißt. 100 Anstelle einen hier zugrundeliegenden inkarnationsmorphologischen Denkzusammenhang zu elaborieren, spricht Bornkamm lediglich von rein subjektiven "Denkerlebnissen"101 Böhmes, denen daher offensichtlich keine weitere systematische Relevanz zugemessen wird. Es bleibt nichtsdestoweniger das bleibende Verdienst der Arbeit Bornkamms, den unlöslichen Zusammenhang von immer schon gelebter Frömmigkeitsgestalt und Soteriologie bei Böhme herausgearbeitet zu haben, auch wenn dessen systematische Implikationen nicht weiter expliziert werden.

1.2.1.1.2. Emanuel Hirsch 102 Jakob Böhme bildet für Hirsch das wesentliche Bindeglied zwischen den schwärmerischen Ausläufern der Reformation und dem radikalen, weil kirchenfern bis -feindlich gesinnten Pietismus. 1 0 3 Im Unterschied zu Bornkamm bildet für Hirsch bei Böhmes Betonung der Wiedergeburt im Sinne Schwenckfelds nicht etwa der Synergismus das zentrale Problem, sondern ein typisch neuzeitlicher religiöser Subjektivismus und Individualismus. 104 Denn gerade das Extra nos einer unmittelbar gegenwärtigen und individuell persönlichen Intervention des göttlichen Geistes bei Schwenckfeld und Böhme sei für die autoritativen Institutionen des kirchlichen Lehr- und Bekenntnisstandes (Schrift, Kirche und Amt) so gefährlich. Böhme behaupte prompt, eine ihn den Aposteln und Propheten gleichstellende, über die Schrift hinausgehende Sonderoffenbarung empfangen zu haben. 105 Er löse die Kirchengemeinschaft qua äußerlicher Konfessionszugehörigkeit in die unsichtbare Kirche der wahrhaft Wiedergeborenen auf, die im Idealfall auch ohne explizite Christuserkenntnis die gesamte Menschheit miteinschließe. 106 Im Hinblick auf das Amt 100 Vgl. ebd., S. 335. 336 f.: "Genau den gleichen Gedankenzug vom Ungeformten zum Geformten meint das Bild des Sprechens." 101 Vgl. ebd., S. 333. So urteilt auch W. - E. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, Jena 1924, S. 150: Böhme gehe uns "als Philosoph nichts mehr an, und er ist kein Theologe gewesen." 102 Vgl. E. Hirsch, Jakob Böhme und seine Einwirkung auf die Seitenbewegungen der pietistischen Zeit, in: ders., Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 2, Gütersloh 1951, S. 208 - 255. 103 Vgl. ebd., S. 209. 223 f. 104 Vgl. ebd., S. 223 f. 230. 240 zu Schwenckfelds Einfluß auf die Wiedergeburt bei Böhme; S. 244. 249 zu Böhmes Solus Christus, Sola gratia und Sola fide: "(D)er Glaube ist bei Böhme nicht genährt von der Erfahrung eigner Vollmacht im Überwinden der Sünde, sondern entspringt allein aus dem verborgenen Ziehen des Vaters zu Christus in der Seelen und wird kräftig allein aus dem verborgenen sich Hineinschenken der göttlichen Liebe und Gnade ins Herz, wider alles im Gewissen gefühlte Zeugnis." (S. 244); S. 208. 213. 242: "das Subjektiv - Moderne, dem Geist der neuen Zeit entsprechende". 105 Vgl. ebd., S. 211. 106 Vgl. ebd., S. 229 ff. bes. 232 f. 236 f. 255.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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schließlich nehme Böhme die typisch neuzeitliche Polemik gegen kirchliche und akademische Amts- und Würdenträger vorweg, deren Kompetenz er aus seiner Inspirationsvollmacht heraus in Frage stelle. 107 Mit "erstaunlichem Scharfsinn" trage Böhme seine Theologiekritik vor und berufe sich auf die neuzeitliche Kategorie des "Ich". 108 So entlarve Böhme ζ. B. die anthropomorphen Kategorien der altprotestantischen Gottesvorstellung eines göttlichen Urhebersubjekts, das angesichts des Problems des Bösen in der Schöpfungs- und Prädestinationslehre zu unauflösbaren Aporien führe. 109 Er rationalisiere auch Christo- und Anthropologie in puncto körperlicher Auferstehung durch die Einführung eines Geistleibs im Sinne Schwenckfelds. 110 Damit arbeite Böhme dem gegenwärtigen dogmatischen Indifferentismus vor. 111 Hirsch zeichnet Böhmes "rein aus dem Innern ausgeborene Allwissenschaft" 112 ausschließlich im Kontrast zur orthodoxen Kirchenlehre hinsichtlich aller spekulativen Modifikationen derselben. Trotzdem bemerkt er eine "außerordentliche" 113 Nähe zu Luther, die sich in der Aufnahme des Deus absconditus zur Betonung von Gottes vitalem Geheimnischarakter und in der Ubiquitätslehre manifestiere. 114 Böhmes Kritik an der Imputationslehre könne durchaus auf Luther zurückgeführt werden. 115 Schließlich sei Böhmes erlebnisintensive Fassung des Bußkampfes lutherischer als bei Spener und Francke, die Hirsch im Unterschied zu Böhme als "lau und schal" einstuft. 116 Hirsch fällt auf, daß Böhmes Soteriologie und individuelle Heilsaneignung auf eine "Christwerdung ... nach Seele und Leib" zielen. Böhme spreche hierbei die "Einbildungskraft (Imagination) des Menschen" an. Die "Christwerdung" durch die Vermittlung der in Christus restituierten "Einbildungskraft" manifestiere sich schließlich im "Ausgeborenwerde(n) der himmlischen, in Christus lebenden und mit Gott einigen wahren Seele des Menschen", d. h. in der "Gelassenheit" eines frommen Lebenswandels, frei "von aller Selbheit, Eigensucht und begehrenden Lust", im "Atmen und Leben in Gott und seinem Willen". Das in Gottes Wilen eingelassene Leben des wahren Menschen drücke sich ganz natürlich in guten Werken aus, wenn anders es nicht als Heuchelei entlarvt werden solle. 117

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Vgl. ebd., S. 227. 238 f. Vgl. ebd., S. 213.230. 242. Vgl. ebd., S. 218. 247 f. Vgl. ebd., S. 223 f. Vgl. ebd., S. 226. 233. Ebd., S. 212. Ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 217. 223. 247 f. Vgl. ebd., S. 246 f. Vgl. ebd., S. 210. 247 f. Vgl. ebd., S. 240 - 245.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Von diesen Beobachtungen Hirschs aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der in unserer Arbeit herauszuarbeitenden Erfahrungssoteriologie, die -wie Hirsch mehrfach betont- durchaus ganz im Rahmen einer an Luther anknüpfenden Theologie liege. Zu korrigieren bleibt freilich Hirschs maßlose Übertreibung der bei Böhme tatsächlich vorkommenden Inspirationstopik. Sie gehört in den Zusammenhang der applikativen Schrift - Hermeneutik Böhmes. Hirsch bewertet offensichtlich die die H. Schrift typologisch exegisierenden Passagen in Böhmes Gesamtwerk viel zu niedrig.

1.2.1.1.3. Erich Beyreuther 118 Die Besonderheit Böhmes in der Vorgeschichte des Pietismus liegt für Beyreuther in dessen theologischer Bearbeitung der kopernikanischen Wende bzw. des durch dieselbe ausgelösten "ontologischen Schocks" 119 . Schon Böhmes Erstlingswerk Mr sei gekennzeichnet von einer theologisch fundierten "Absage an räumliche Himmelsvorstellungen", so daß im Anschluß an die lutherische Ubiquitätslehre "Himmel" nun zu einem Synonym einer überall in der neuen Innerlichkeit "Diesseits des Himmels" 120 spürbaren, paradiesischen Gottesnähe werde. 121 Aus dem eben beschriebenen "Umbruch im Lebens- und Weltgefühle der europäischen Menschheit" 122 heraus resultiere Böhmes sinnstiftende Wiederaufnahme des "neuplatonisch(en) Aditus - Reditus Schema(s) (Gott - Welt - Gott - Prozeß)". Die sinnstiftende und somit metaphorische Funktion dieses Schemas liege in Böhmes lebenspraktischer Soteriologie: "Es ging ihm in seinem Leben zuerst und zuletzt um Gott, um ein rückhaltloses Sich - ausliefern, um die Aufnahme des in uns schöpferisch wirkenden Christus, durch die wir im Glauben, der sich an Gottes Verheißung anklammert, wiedergeboren werden." Deshalb zeige Böhme in seinen "erbaulich - religiösen Traktaten", wie der Christen = Mensch in täglicher Anfechtung um

118 Vgl. E. Beyreuther, Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, dort S. 13 ff. bes. S. 20 - 28 zu Böhme. 119 P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, Stuttgart [3. Auflage] 1956, S. 131 ff., bes. 133. 137. Vgl. auch H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/ Main 1975, bes. S. 793 f. unter dem Stichwort der "geotropen Nostalgie". Blumenberg beschreibt das sich im XX. Jahrhundert wiederholende Entsetzen der Menschen vor der unwirtlichen Weite des Weltraums aufgrund der Erfahrungen der Raumfahrt, die letzten Endes erst durch die kopernikanische Entdeckung ermöglicht wurde. Die Sehnsucht der Astronauten zielt auf die ptolemäische Geborgenheit diesseits des Himmels; dazu vgl. auch H. Timm, Geerdete Vernunft. Von der Lebensfrömmigkeit des Okzidents, Hamburg/ Zürich 1991, S. 28 - 30; ders., Das ästhetische Jahrzehnt, S. 102 - 116, bes. S. 107 ff. 120 H. Timm, Diesseits des Himmels. Von Welt- und Menschenbildung. Facetten der Religionskultur, Gütersloh 1988. 121 Vgl. Beyreuther, Geschichte, S. 1 7 - 2 1 . 122 Ebd., S. 21.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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die Lebendigkeit des Christus in ihm ringe. 123 Das schlage sich auch in Böhmes affektiv - dynamischer Betonung der destruktiven Macht des Bösen im Unterschied zu allen diesbezüglich kognitivistischen Verflachungen der Lehrorthodoxie nieder. 124 Auch wenn Beyreuther zur Begründung der kirchenhistorischen Einordnung Böhmes am äußersten heterodoxen Rand des Luthertums alle Kritikpunkte Hirschs wiederholt, 125 so bleibt es doch sein Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, daß Böhmes Konzentration auf die Gestaltthematik aus der beunruhigenden Erfahrung der kopernikanischen Entgrenzung der Conditio mundana resultiert.

1.2.1.2. Böhmes innovatorische Bedeutung für ein Luthertum im weiteren Sinne 1.2.1.2.1. Kurt Leese 126 Leeses theologiegeschichtliche Einordnung Böhmes geht aus von der "Grundlagenkrisis der christlichen Theologie" 127 im XX. Jahrhundert: "Das Christentum ... in ... seiner Krisis und Wende ... braucht nicht nur Freiheit von seiner traditionellen Gebundenheit an die Gedankenformen, die für seine systematische Ausprägung vorherrschend geworden sind: von Hegel und Kierkegaard, von Kant und Schleiermacher, von Luther und Calvin, von Bonaventura und Thomas, von Orígenes und Augustin. Es braucht vornehmlich die Freiheit von sich selbst, d. h. die Freiheit auch von denjenigen Formen und Wesen, in denen es sich bereits als Urchristentum (Jesus, Urgemeinde, Paulus) fixiert und theologisch - dogmatisch niedergeschlagen hat. Der Ruf: ad fontes ist zugleich der Ruf nach einer radikalen Kritik." 128 Leeses Lagebeschreibung der Theologie vollzieht hier hörfällig Husserls Lageanalyse der Philosophie nach. 129 Anstelle einer "unverrückbar starren Buch-, Begriffs- und Symbolwelt" werde das, "was 123 124 125 126

Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 25 - 28. Vgl. K. Leese, Krisis und Wende des christlichen Geistes. Studien zum anthropologischen und theologischen Problem der Lebensphilosophie, Berlin [2. Auflage] 1941. 127 Ebd., S. 19. 128 Ebd., S. 24. 129 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, bes. S. 123 - 126. 138: dort zur Krisis der modernen Naturwissenschaften angesichts der elementaren Frage nach der "Lebenswelt"; auch S. 114 ff.: dort mit einer ausgeführten Kant - Kritik. Vgl. auch M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen [16. Auflage] 1986, § 6, S. 19 - 27: dort unter dem Stichwort "Destruktion der Geschichte der Ontologie" die Einforderung einer kritischen Läuterung der Geistesgeschichte. Die radikale Durchführung der heideggerschen Forderung findet sich allerdings erst bei H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 16 ff. 29 ff.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

am Christentum echt und ewig ist, sich im Schmelztiegel jeder Zeit neu vom Unechten scheiden, neu erzeugen, neu bewähren und sich auch neue Ausdrucksmittel schaffen müssen." 130 Anstelle einer der Geschichte gegenüber beziehungslos gewordenen Traditionspflege in Lehre und Bekenntnisdogmatik, für die Natur qua Leib und Leben zu einer "Verlegenheitsfrage"131 geworden sei, gelte es, die in dieser Hinsicht durch eine "Hellenisierung" geschehene Entfremdung des Christentums von Leib und Leben zu revidieren. 132 Leese fragt nach einer "umfassend(en) Reformation des 'christlichen Geistes"', in der Leib und Leben ein natürlicher Eigenwert beigemessen würden und nicht nur ein von der Ethik entlehnter Wert. 133 Leese beantwortet die Frage, indem er eine lebenstheologische Traditionslinie rekonstruiert: "Die Reihe der Lebensphilosophen, die wir mit J. Böhme anhebend, mit L. Klages endend, behandeln wollen, ist vor allem gegen die Vergewaltigung des Lebens durch die ontologische Ideenlogik gerichtet."134 Außer Böhme und Klages gehören zu dieser

130 Leese, Krisis und Wende, S. 24. Die gleiche komplexe Dialektik von Wesens- und jeweils zeitgebundener Geschichtsgestalt des Christentums findet sich auch bei E. Hirsch, Das Wesen des Christentums, Weimar 1939, S. 1 - 8. 61: "(D)ie Geschichtsgestalt, mit der christliches Denken und Leben an der Gesetzesverflochtenheit menschlich = geschichtlichen Daseins teil hat, darf nicht für alle Völker und Zeiten die gleiche sein wollen. Sie kann sich selbst an grundlegenden Punkten wandeln; und nur, wenn sie durch solche Wandlungen ihre Schlichtheit und Wahrhaftigkeit bewahrt oder wiederherstellt, kann das, was das Wesen des Christentums ist, der Glaube an das Evangelium, ein mit Gegenwärtigkeit zu den Menschen Redendes werden. Es folgt aber nicht, daß die christliche Religion überhaupt einer Bürgschaft für die Wahrung ihres ursprünglichen Erbes und einer Umgrenzung ihrer Wahrheit in Lehre und Ordnung entraten könnte. Wenn sie sie im rechten Verständnis dessen, was sie sind und nicht sind, und in der rechten Gemäßheit zur jeweils gegebenen Geschichtslage besitzt, dann sind sie ihr Quell lebendiger Geschichtsmacht. Nur vermöge einer so streng durchgebildeten Geschichtsgestalt hat die christliche Religion es vermocht, die öffentliche Religion ganzer Völker und Kulturen zu werden,...". Vgl. auch A. Harnack, Das Wesen des Christentums, Gütersloh [2. Auflage] 1985, S. 19 f.: "Es sind hier nur zwei Möglichkeiten: entweder das Evangelium ist in allen Stücken identisch mit seiner ersten Form: dann ist es mit der Zeit gekommen und mit ihr gegangen; oder aber es enthält immer Gültiges in geschichtlich wechselnden Formen. Das letztere ist das Richtige." Im Unterschied zu Leese und Hirsch denkt Harnack jedoch nicht an eine komplexe Dialektik bzw. ein dynamisches Wechselverhältnis von geschichtlicher Form und wesentlichem Inhalt, sondern an eine statische Differenz von geschichtlich wandelbarer Wesensschale und unwandelbarem Wesenskern; vgl. ebd., S. 19. 131 Leese, Krisis und Wende, S. 20. 132 Vgl. ebd., S. 26 - 51. Dazu gehört auch eine scharfe Kritik der dialektischen Theologie (vgl. S. 19. 405 - 407), deren Gotteslehre Leese als in letzter Konsequenz lebens- und leibfeindliche Metaphysik einstuft. Zur "Hellenisierung des Christentums" als dessen intellektualisierender Entfremdung vgl. schon A. Harnack, Das Wesen des Christentums, S. 1 2 0 - 130, bes. S. 127. 133 Vgl. Leese, Krisis und Wende, S. 49. 50 f. 421 - 428; S. 421: "Das Leben des Leibes und der Seele trägt seinen Wert nicht von der Ethik her zu Lehen." 134 Ebd., S. 39.

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Reihe: Oetinger, Schelling, Weiße, Windelband, Herder und Goethe, Arndt, Carus, Görres, Bachofen, Nietzsche und Max Scheler. 135 Systematisch bieten alle diese Denker die Möglichkeit, das den christlichen Ausdrucksformen die gesamte Kirchengeschichte hindurch zugrundeliegende "Pathos" aufzuspüren: "Dieses Pathos, als das Wesen des Christentums ausmachend, schwingt rein in sich und ist in weitem Maße unabhängig von der historisch - konkreten Situation, in der es sich materialisiert, wiewohl es niemals ohne historisch - konkrete Situation sein kann. Es ist ein freier Herr und Diener jeder konkreten Situation, in der es sich immer wieder neuen und einmaligen Ausdruck schafft und schaffen muß, wenn anders es wirklich lebendig ist." 136 Damit bietet Leese eine Ansatzmöglichkeit für inkarnationsmorphologisches Denken. Leeses These ist nämlich, daß jeder einzelne der im Anschluß an Jakob Böhme vorgestellten Denker sich auf jeweils seine Art dem Problem stelle, daß das als unverwechselbar heilbringend empfundene "Erlebnis = Erleidnis" 137 des göttlichen Lebensgeistes sich in einer geschichtlich lebendigen Ausdrucksgestalt manifestieren müsse, wenn anders das Christentum als Einund Ausdruck umspannendes "Pathos" nicht auf die Heiligung des Leibes (1. Kor 6, 12 - 20) als integralem Bestandteil seines totalen Heilsanspruchs verzichten wolle. Böhme stelle als erster der von den Prototypen der Lutherbibel maßgeblich präformierten deutschen Sprache ein diesbezügliches Deskriptions- und Denkinstrumentarium zur Verfügung. Aufgrund seiner genuin lebensphilosophischen Aussageintention verschränke er nämlich Theo- und Kosmogonie mythopoetisch miteinander: "Der 'Natur in Gott' entspricht eine lebendige, beseelte Schöpfung, die den Menschen zum vollen Leben aufruft." 138 Böhme sei als Begründer einer deutschen Lebensphilosophie bzw. theologie deshalb besonders wichtig, weil er jeglichem naiven Vitalismus eine klare Absage erteile: "Aus alledem geht hervor, daß es sich bei der Rechtfertigung des Lebens nicht um einen platten und seichten Lebensoptimismus han135 Vgl. ebd., S. 7 - 13. 136 Ebd., S. 392. 137 Ebd., S. 397. Leeses Übersetzung von Pathos macht deutlich, daß es sich bei "Pathos" nicht um einen innerseelischen Affekt handelt, der aus den Tiefen einer monadologisch von ihrer Außenwelt abgeriegelten, dingontologisch mißverstandenen Seele heraus produziert wird, sondern um ein Von - außen - affiziert - Sein, um einen lebendigen Gefühlseindruck, dem gegenüber das Subjekt sich "pathisch", also "erleidend" verhält, gerade auch dann, wenn der Eindruck sich in der leiblichen Ausdrucksmotorik des "affektiv betroffenen" Subjekts manifestiert. Dazu vgl. auch Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 5 - 16. 19. 27. 196 - 204. 294. 304. 307. Leese differenziert an anderer Stelle sorgfältig zwischen der Ergriffenheit des religiösen Gefühls im religiösen Erlebnis und dem Glaubensakt als einem intentionalen Ausdruckshandeln des religiös affizierten Menschen. Der Eindruck der Gefühlsergriffenheit bildet dabei das unhintergehbare Fundament des ihn ausdrückenden Glaubensaktes. Insofern ist Glaube dann die ursprüngliche Haltung, die ein Christenmensch unwillkürlich im religiösen Erleben einnimmt; vgl. ders., Geistesmächte und Seinsgewalten, München 1946, S. 1 0 - 18. 3 2 - 3 5 , bes. S. 11 - 13. 138 Leese, Krisis und Wende, S. 419, vgl. auch S. 53 f.

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delt. Das Leben wird eher von der düster tragischen Seite aus verstanden. Aber daß es überhaupt und wie es verstanden wird, offenbart den Einbruch eines neuen Lebensgefühls, das seine Unabweisbarkeit gegen kirchliche und christliche Traditionen geltend macht. Das neu empfundene und verstandene Leben wird zu einem Bestandteil des göttlichen Lebensprozesses." 139 Böhme vermeide die "nackte Unmittelbarkeit" des Lebenspathos in der modernen Lebensphilosophie. 140 Leese bemängelt an Böhme, daß dieser sich dem Lebensthema nicht entschieden genug stelle. Böhme habe lediglich neuen Wein in alte Schläuche, sprich: in die Ausdrucksmittel der christlichen Schrifttradition, gegossen. 141 Hier offenbart sich eine gewisse hermeneutische Schwäche Leeses, da er verkennt, daß für Böhme das Leben außerhalb einer applikativen Schrifthermeneutik kein Thema theologischer Besinnung wäre. An sich, d. h. ohne die Sensibilisierungskapazität der Schrift bliebe es sprachlicher Gestaltung völlig unzugänglich; ein amorpher vitaler Drang, der sich stillschweigend in körperlichen Reaktionen erfüllt, ohne dem Menschen die ihm wesentlich eignende Geistesfreiheit zur sich besinnenden Stellungnahme einzuräumen. Dies Problem sieht auch Leese: "(D)ie Dialektik von nicht geistigem, natürlichen Leben und Geist ist das Kernproblem der Lebensphilosophie." 142 Er zielt deshalb, wie Böhme, auf die "Geisteshaltung des protestantischen Menschen", der angesichts der "Profanität des leib - seelischen Lebens in den ekstatischen Mächtigkeiten seines Überschwangs" die Lebensführung dem "lebendigen Schöpfergott" entsprechend ausgestalte. 143

139 140 141 142 143

Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 428; auch ders., Die Religion des protestantischen Menschen, Berlin 1938; ders., Der Protestantismus im Wandel der neuern Zeit. Texte und Charakteristiken zur deutschen Geistes- und Frömmigkeitsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart ausgewählt und erläutert, Stuttgart 1941.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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1.2.1.2.2. Liselotte Richter 144 Angesichts einer Krise des Transzendenzgedankens am Ende eines langwierigen "Säkularisierungsproze(sses) religiöser Ursprungsideen" und deren rationalistischer Verflüchtigung im XX. Jahrhundert 145 versucht Liselotte Richter, den Gestaltwandel des Immanenz - Transzendenz - Problems im Anschluß an das mystische Gottes- und lebenspraktische Weltverhältnis des Glaubens bei Luther nachzuzeichnen. 146 Dazu dürfe man allerdings "die Wiedergeburt aus dem Glauben nicht auf das Gnaden- und Rechtfertigungserlebnis allein beschränken" oder die "spannungsvolle Lebenseinheit von Metaphysik und Ethik" bei Luther nach einer ihrer beiden Seiten hin auflösen. 147 Nur dann ergebe sich ein dynamisches Pulsieren von Gott - Welt - Einheit und Gottferne, von pantheistischem Urerlebnis und Sündenbewußtsein: "Zwischen den beiden Polen der Immanenz und Transzendenz Gottes spannt sich die ewige Bewegung des schöpferischen Lebens: ... nur das schmerzliche Erleben einer durch die Sünde von Gott getrennten endlichen Welt schafft die gläubige Einsfühlung mit einer von Gottes Gnade getragenen und ständig schöpferisch erneuerten Welt der Gottesnähe und der Gotterfülltheit." 148 Die eben beschriebene Fassung des Transzendenz - Immanenz - Problems bei Luther habe sich nun über Johann Arnd und Jakob Böhme, die Aufklärung und Aufklärungstheologie, Spener und Oetinger, Arnold, Jacobi und Hamann, Schiller, Herder und Goethe und schließlich Hegel unterschiedlich weiterentwickelt, bis im Durchgang durch eine pantheistische Betonung der Gott - Welt

144 Vgl. L. Richter, Immanenz und Transzendenz. In einer gewissen Parallelität zu Richters Arbeit verhält sich die Einordnung Böhmes in die neuzeitliche Geistes- und Philosophiegeschichte bei J. Sánchez de Murillo, Der Geist der deutschen Romantik. Der Übergang vom logischen zum dichterischen Denken und der Hervorgang der Tiefenphänomenologie, München 1986, S. 187 - 258. Unter dem Stichwort der "Tiefenphänomenologie" knüpft Sánchez de Murillo an Richters frühere Arbeit, Jakob Böhme. Mystische Schau, Hamburg 1943, an. In beiden Fällen besteht das Problem darin, daß die deskriptive Kompetenz Böhmes hinsichtlich des christenmenschlichen Lebensvollzuges in der Glaubensgegenwart hinter einer Art spekulativ metaphysischer Geheimwissenschaft von den verbogenen Grundstrukturen des Lebens nahezu vollständig verschwindet. Die explikative Funktion der kosmogonischen Spekulationen Böhmes für die christenmenschliche Lebensgestaltung diesseits des Himmels, d. h. ihre inkarnationsmorphologische Perspektive und leibphänomenologische Konkretion, kommt durch die faustisch sich zu den ewigen Gründen erhebende bzw. versenkende Fragestellung zuwenig in den Blick. Als weitere Inspirationsquelle der sog. "tiefenphänomenologischen" Perspektive Sánchez de Murillos, aber auch bereits der "Mystischen Schau" Richters dient G. Waither, Phänomenologie der Mystik, Halle [2. Auflage] 1955 = 1923. 145 Vgl. ebd., S. 7. 146 Vgl. ebd., S. 9 f. 147 Ebd., S. 12 f. 15. 148 Ebd., S. 13.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

- Einheit sich schließlich eine panentheistische Immanenzerfahrung herausgebildet habe. 149 Böhmes Beitrag bestehe im Wesentlichen darin, die Dialektik der lutherischen Glaubenshaltung zwischen Transzendenz und Immanenz spekulativ in Gott selbst verankert zu haben, wozu ihn das Lebensgefühl "eines neuen originalen Gotthabens" veranlaßt habe. 150 Auf der Basis eines naiven Schriftglaubens differenziere Böhme bereits wie Hegel zwischen dem An - sich eines ewigen Schöpfungswollens und der voll ausdifferenzierten Schöpfungswelt als dessen Ergebnis. 151 Böhme bleibe dabei aber weit hinter Luther zurück, da seine Spekulation eine vom für Luther so wichtigen Gottferne - Erlebnis völlig unbehelligte "reine ... metaphysische Schau" sei. Deshalb habe man Böhme immer zurecht als heterodox, d. h. als unwürdigen Erben der lutherischen Urintuition, eingestuft. 152 Die von Richter vorgenommene Untersuchung eines "Entstehen(s) pantheistischer Weltanschauung auf dem Boden protestantischer Religiosität" 153 erweist sich v. a. wegen der schöpfungstheologischen Beschränkung bei der Wahrnehmung der Schriften Böhmes letztlich als zu schmale Abstraktionsbasis, um deren inkarnationsmorphologischen Ausgangs- und Zielpunkt wahrzunehmen. Trotzdem wird Böhme aber als Übermittler eines wichtigen über die Rechtfertigungslehre hinausgehenden Gedankens Luthers aufgefaßt. 154

1.2.1.2.3. Erwin Metzke 155 In einer zunächst sehr deutlich vorgetragenen Abgrenzung von der primär geistesgeschichtlich orientierten Böhme - Interpretation Karl Holls 156 geht es Metzke um eine neue Beurteilung von "Böhmes Stellung in der deutschen und abendländischen Metaphysik". 157 Metzke kritisiert an Holl dessen Unterschätzung der eigenständigen naturphilosophischen Einflüsse von Paracelsus auf Böhme, die sich ihrerseits nicht mehr auf die sittliche Struktur der Gottes149 150 151 152

153 154 155

156 157

Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 25 - 27. Vgl. ebd., S. 27. Diesem Nachweis von Böhmes Heterodoxie habe auch die große Böhme - Arbeit Richters gedient (S. 24); vgl. L. Richter, Jakob Böhme. Mystische Schau. Es wird sich herausstellen, daß Richters Vorwurf völlig unbegründet ist, da Böhme sehr wohl aus der lutherischen Sündenangst heraus argumentiert; vgl. unten 3.1. Richter, Immanenz und Transzendenz, S. 11. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. E. Metzke,Von Steinen und Erde und vom Grimm der Natur in der Philosophie Jacob Böhmes, in: ders., Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte, hg. v. K. Gründer, in: G. Howe (Hg.), Forschungen und Berichte der evangelischen Studiengemeinschaft. Bd. 19, Witten 1961, S. 129 - 157. Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 157.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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Vorstellung Luthers zurückbeziehen ließen. Seit Holl drohe in der Böhme Forschung eine "weltanschauliche Reduktion auf 'haltungsmäßige Bedingtheiten'", 158 die es dadurch zu vermeiden gelte, daß man der "Frage nach dem Hervorgang der Welt in ihrer naturhaft - materiellen Realität" 159 ein stärkeres Eigengewicht beimesse. Dabei ist es Metzke nicht darum zu tun, diesen naturphilosophischen Akzent nur durch die stärkere Betonung der paracelsischen Einflüsse zu setzen, sondern er verankert die phänomenologisch - deskriptive Ausweisung der Eigenständigkeit der Natur im polaren Gegenüber zur Sphäre des "Religiös - Sittlichen" 160 in Jakob Böhmes an sich völlig kontingenter Eigenerfahrung 161 der Undurchdringlichkeit, Widerständigkeit, ja sogar Gegensätzlichkeit und abweisenden Feindlichkeit der materialen Körperwelt. 162 Es geht Metzke also um den Sitz im Leben der paracelsischen Naturphilosophie bei Böhme, um ihre lebensphänomenologische Schließkraft für das Sichfinden des Menschen inmitten der überraschenden oder enttäuschenden Beirrung an seiner natürlichen Umgebung, um die Gewinnung einer ästhetischen Wahrnehmungseinstellung, die über eine ethisch - pragmatische Zweckrationalität weit hinausgeht. Hierin weist Metzkes Untersuchung bereits weit über theoriehistorische Ansätze hinaus auf das Feld eigentlich systematisch - theologischer Untersuchungsansätze. Erst durch den Rückgang von christlich - traditionellen und paracelsischen Begriffen auf Böhmes ureigene, dahinterliegende Erfahrungswirklichkeit erschließe sich der bislang vernachlässigte naturphilosophische Akzent der Schriften Böhmes, 163 durch die er den Rahmen seines zeitgenössischen Christentums schlicht sprenge und verlasse.164

158 Ebd., S. 135. 159 Ebd., S. 129. 160 V g l . ebd., S. 131: "Was also jeder einseitig theologisch - moralischen Deutung entgegensteht, das ist die Tatsache, daß es bei Böhme neben den religiös - sittlichen Erfahrungen noch andere, von diesen unabhängige Erfahrungen naturhafter Wirklichkeit gibt, die ein eigenes und eigentümliches Verhältnis Böhmes zur Natur verraten." 161 V g l . ebd., S. 156: " ( M ) a n wird ... auf das unableitbare Erleben Böhmes selbst zurückgehen müssen."; S. 131: "Den Spuren dieser eigenen Erfahrungen (natürlicher Wirklichkeit) nachzugehen, ihre Bedeutung für das Ganze abzuwägen, ist unerläßlich, wenn man Böhmes Metaphysik in der ganzen Tiefe und und T i e f e ihrer Probleme erfassen will."; S. 132: "das volle philosophische Wirksamwerden seiner ursprünglichen Eigenerfahrungen"; auch S. 154. 162 V g l . ebd., S. 135 ff., bes. S. 138: "Böhme hat so den Boden für ein neues Verhältnis des Denkens zur 'materialischen Welt' in ihrer elementaren Natur bereitet. Er hat sie in ihrem Eigensein, ihrer Ferne zu allem Geistig - Menschlichen, ihrem Gegensatz auch zum Leben vor Augen gebracht - auch darin inzwischen verschüttete Gedanken des Paracelsus neu denkend." 163 V g l . ebd., S. 154. 164 V g l . ebd., S. 152: "Böhme stößt hier aus dem Vorstellungskreis der christlichen Tradition, der den vorgegebenen Raum seiner Gedankenwelt bildet, heraus zu seinen ureigensten Grundanschauungen immer wieder durch."

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Mit einer auch für die vorliegende Untersuchung richtungsweisenden Sensibilität arbeitet Metzke nun heraus, daß Böhme auf seiner erfahrungsbezogenen Abstraktionsbasis für seine Leser phänomenologisch - deskriptive Explikationen anbietet, die -einmal abgesehen von ihrer "höchst verworren anmutenden Phantastik" 165 - als synästhetische Charaktere im Sinne von Schmitz 166 den Eindruck der Undurchringlichkeit der Materie im Widerstandserlebnis des der nackten, unvermittelten Körperwelt begegnenden Menschen gefühlsnah sprachlich ausdrücken sollen. So erkläre sich die Rede von "Steinen" als Hinweis auf das Steinhafte, Starre, Kalte, Abweisende an der Körperwelt. 167 Wenn Böhme hier mitunter auch religiös - sittliche Metaphern verwende, wie "Grimm" im Hinbrick auf den Zorn Gottes, "böse" im Hinblick auf den Teufel als Ausdruck der körperweltlichen Gegenwirklichkeit zu Gottes Geistigkeit, dann immer nur deshalb, weil die Sphäre des "Religiös - Sittlichen" eigentlich längst schon durchbrochen und verlassen worden sei, um die abweisende undurchdringliche Eigenwirklichkeit der Materialität in der Natur in den Blick zu bekommen. 168 Hier sei Böhme hochgradig innovativ, weil ausschließlich auf die Eigenständigkeit seiner Lebenserfahrung und deren Wahrnehmungsweise bezogen. 169 Bis hierhin liest sich Metzkes Aufsatz wie eine naturphilosophische begründete Einordnung Böhmes am äußersten heterodoxen Rand eines Luthertums im engeren Sinne, d. h.: Er hätte eigentlich unter 1.2.1.1. referiert werden müssen. Es ist nun aber die eigentliche Stärke Metzkes, daß er diese Konsequenz sorgsam als die andere Seite eines Pferdes, von dem es nicht herunterzufallen gilt, vermeidet. So sehr es ihm um die Entdeckung von Böhmes Deskriptionsvirtuosität hinsichtlich "der Natur 'vor', 'außer' und 'wider' den Menschen" 170 geht, so stark betont er doch gleichzeitig, daß Böhme nicht auf eine Regionalisierung von materieller Körperdinglichkeit in der Natur einerseits und religiös - sittlicher Geistigkeit im Gottesverhältnis des Menschen andererseits als zweier schiedlich - friedlich nebeneinanderher existierender Sinnprovinzen abziele. Deren jeweilige Geltungsautonomie lasse sich eben nicht als Zusammenhangslosigkeit begreifen. Anstelle einer cartesischen, rein mathematisch - abstraktiven Naturwissenschaft als einer aus dem Gesamtzu165 Ebd., S. 131. 166 Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 143 ff. 167 Vgl. E. Metzke, Von Steinen und Erde und vom Grimm der Natur, S. 136 - 138. 142: "Es gibt das Steinhafte, das steinhaft Harte, das steinhaft Starre, das steinhaft Verschlossene als allgemeines Wesen des Wirklichen. Nicht nur der Stein, sondern jedes Seiende hat seine ihm eigene Härte und verlangt sie schon zur bloßen Existenz." 168 Vgl. ebd., S. 129 f.137. 143 f. 169 Vgl. ebd., S. 144: "Und dennoch haben die aus der Tradition empfangenen Begriffe nicht Böhmes eigene Erfahrung der Grimmigkeit der Natur ersticken oder auch nur verdecken können. Immer wieder schlägt sie spürbar durch und bringt allen herkömmlichen spekulativen, dogmatischen und erbaulichen Formeln zum Trotz die Wirklichkeit der Natur in ihrer eigengründigen Tiefe in den Blick." 170 Ebd., S. 138.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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sammenhang menschlicher Weltanschauung ausgegrenzten "Naturphilosophie" 171 der Res extensa gehe es bei Böhme immer um "die eigentümliche Verwobenheit von Gedanken, die aus der Tiefe religiös - sittlichen Ringens kommen, mit konkreten Erfahrungen der elementar erlebten Naturwirklichkeit in und außer dem Menschen." 172 Das "Ineinander des Entgegengesetzten" 173 behauptet Böhme aber, ohne die Polarität von Tod und Leben, von starrem Körperding und beweglichem Geist dabei vorschnell zu harmonisieren. 174 Es gehe Böhme auch bei der Aufweisung der "innere(n) Werdeeinheit der Gegensätze" 175 im Rahmen von einer "Grundlehre vom Wesen des Wirklichen überhaupt" 176 weiterhin darum, im Anschluß an Paracelsus und Luther (sie !) die Scholastik mit "ihrem so fein gesponnenen Netzwerk ihrer Begriffe und subtilen Distinktionen" zu überwinden. 177 Der mittelalterlich - aristotelisch und stoisch - augustinisch geprägte Thomismus habe die Widerständigkeit der undurchdringlichen Materie lediglich als Seinsdefekt ohne jedwede inhaltlich bestimmte Eigenbedeutung bewertet und das Problem eines möglicherweise inkarnationsmorphologischen Ausgleichs zwischen Materie und Geist schlicht umgangen. 178 Die Lösung, die Böhme -laut Metzke- vorschwebe, verdanke sich der Kreuzestheologie Martin Luthers und dessen paradoxaler, weil sub contrario gewonnener Glaubenskraft. 179 Böhmes an sich kontingente Naturerfahrung, die von der Widerständigkeit der materialen Körperweit ausgehend auf deren revitalisierende Ausstattung mit Lebenssinn und Lebensbedeutsamkeit hinziele, 180 finde ihre einzig kongeniale Ausdrucksform in Luthers christologisch und soteriologisch bestimmter Entdeckung Gottes und des Lebens dort, "wo das Auge nur Not und Tod sah." 181 Von hier aus erschließe Böhme sich dann grundsätzlich die unhintergehbare Lebensrelevanz des "Faktum(s) von Christi Tod", das wesentliche Pro me der extra nos in der biblischen Überlieferung zentral vorgegebenen Heilstatsache. 182

171 Vgl. ebd., S. 140: "..., daß es Böhme nicht um die Entdeckung und Abgrenzung eines eigenen 'anorganischen' Seinsbereichs gegangen ist, geschweige denn, daß er ihn durch philosophischen Vorgriff für die einzelwissenschaftliche Erkenntnisarbeit erschlossen hätte." Auch S. 153. 172 Ebd., S. 135. Vgl. auch S. 153. 173 Ebd., S. 139. 174 Vgl. ebd., S. 138. 155, bes. S. 146: "Es hat zweifellos Böhme ausgezeichnet, daß ihm alle bequeme Harmonisierung fern lag, daß er die Wirklichkeit so, wie er sie erlebte, hart und reißend, im Blick behielt." 175 Ebd., S. 149. 176 Ebd., S. 141. 177 Ebd., S. 143 178 Vgl. ebd., S. 138. 143. 179 Vgl. ebd., S. 156 f. 180 Vgl. ebd., S. 134 ff. 140 ff.148 ff. 181 Ebd., S. 156. 182 Vgl. ebd., S. 156 f.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Metzke schließt fast mit einer Zurücknahme der zunächst so emphatisch eingeforderten naturphilosophischen Umakzentuierung der Böhme - Interpretation. Das bietet nach der anfangs so harsch vorgetragenen Holl - Kritik Metzkes Anlaß zur Verwunderung. Es sei "unbestreitbar, daß seine Gedanken, die aus dem Verhältnis zur Natur entsprangen, nicht auf eine Naturphilosophie zielten, sondern rückbezogen blieben auf sein persönlich - seelisches Ringen um Gott. Dies persönliche, religiöse Ringen ... ist der Boden, auf dem Böhmes vielfältige Ideen zu einem Ganzen zusammenwachsen." 183 Aus der Sicht dieser Untersuchung ist dem nur beizupflichten, wenn auch das Resultat nach dem gegenläufigen Duktus des gesamten Aufsatzes etwas überrascht. Die Schwierigkeit der Argumentation Metzkes resultiert aus der Annahme einer Naturerfahrung Böhmes, die ihrerseits völlig kontingent sei, d. h. keine immer schon von der christlichen Tradition wesentlich mitgeprägte Sinngestalt aufweise. Auch wenn Böhme mit Luther und Paracelsus über die Scholastik weit hinausgeht, weil er überhaupt natur- und erfahrungsbezogen, also a priori lebensweltlich situiert denkt, so gibt es für Böhme doch nur deshalb die von Metzke ganz richtig beschriebene Entfremdung des Menschen angesichts der Undurchdringlichkeit der materialen Körperwelt, weil dieser als Sünder aus jeglichem leibhaftigen Lebenszusammenhang mit ihr herausgefallen ist. Böhme insisitiert in der Tat auf das "Befremdliche, Anstößige" 184 der "steinhaften" Körperdinglichkeit, aber doch nur deshalb, weil dies die letzte Konsequenz der gottlosen Weltanschauung des Menschen als Homo faber ist, der die Bedingungen seiner Existenz aus den Mitteln seiner auf ihre körperdingliche Materialität erst künstlich reduzierten Umwelt reproduzieren möchte. Für Böhme gehört dies bis in die körperliche Verfaßtheit der den Menschen umgebenden Natur hineinreichende Sünder - Sein des Homo faber zum typologisch - typisierenden Sprachschatz des biblischen Christentums. Böhmes Erfahrungswirklichkeit ist in all ihrer Eigenständigkeit und Subjektivität immer schon von der biblischen Prototypik vorgeprägt. Seine Eindrücke können somit nicht unabhängig von den Ausdrucksformen der biblischen Überlieferung betrachtet werden, ohne daß man sich um die Pointe seiner Naturerfahrung bringen würde. Diese gehört nämlich konstitutiv in das biblisch - theologische Spannungsfeld von Schöpfung - Sündenfall - Christusereignis Neuschöpfung im Geist und in der Wahrheit. Von daher wird deutlich, daß die von Böhme beschriebene Widerständigkeit der materialen Körperwelt nicht der Natur an sich, also im Sinne metaphysisch - objektiver Wesentlichkeit, eignet, 185 sondern vielmehr aus einem Modus menschlichen In - der - Welt Seins resultiert, der für jeden Menschen insofern unhintergehbar ist, als er von sich aus immer wieder versucht, eine enttäuschungsrestitente Eigenwelt ohne

183 Ebd., S. 157. 184 Ebd., S. 138 185 Also gegen ebd., S. 146.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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Gott zu konstruieren. Den Charakter materialer Undurchdringlichkeit und Lebensfeindlichkeit nimmt die Natur erst dann an, wenn der Homo faber nun seinerseits aufgrund eines augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs völlig entfremdet vor den Trümmern seiner vermeintlich enttäuschungsresistenten Eigenwelt steht, da er als Träumer auf den "harten Boden der Tatsachen gefallen" 186 ist. Es ist Metzkes Stärke, daß er mit seinem eigentlich kaum zu erwartenden Schluß die Jakob Böhme - Forschung in erfahrungssoteriologischer und biblisch - typologischer Hinsicht offenhält. 187 Im Gegensatz zu Metzkes Holl kritisierender Eingangsthese liegt also Böhmes innovatorisches Potential weniger in einer deuteroparacelsischen Naturphilosophie, als vielmehr in seiner inkarnationsmorphologischen Adaption der lutherischen Theologia crucis.

1.2.2. Systematisch - theologische Untersuchungen 1.2.2.1. Werner Eiert: Die Heilserfahrung im individuellen Seelenleben 188 In deutlicher Abgrenzung zu einer rein theologiehistorischen Einordnung Jakob Böhmes will Eiert dessen innerseelisches Erleben, das sich "im geschriebenen Wort abpräg(t)", im Sinne Diltheys verstehend nachvollziehen, indem er es durch eine werkimmanente Interpretation aus Böhmes "dichterisch - prophetischer" Schriftstellerei herauszupräparieren versucht. 189 Die elementare Motivation zu seiner literarischen Tätigkeit habe Böhme aus einem enthusiastischen Durchbruchserlebnis geschöpft, in dem er sich plötzlich durch eine völlig kontingente Willensanstrengung göttlichen Ursprungs trotz einer widerstrebenden körperlichen Prädisposition von seiner melancholischen Grundge186 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 51 ff. Metzke versucht Böhme eine Natursicht unterzuschieben, die vom affektiven Betroffensein eines menschlichen Bewußthabers absieht, das ist schon philosophisch hoch problematisch, noch mehr aber im Hinblick auf Böhmes Frömmigkeit. 187 Gerade hierin liegt die Schwäche der Reduktion der Einsichten Metzkes auf eine eindeutige Positionierung der Lehre Jakob Böhmes "außerhalb der Konfessionskirchen" bei G. A. Benrath, auch wenn die kirchenhistorische Tatsache, daß Böhmes Schriften zunächst nur in separatistischen Konventikeln gelesen wurde, unbestreitbar ist. Die theologiegeschichtliche Wirkung Böhmes bleibt ja nicht auf diese christlichen Sekten beschränkt und bedarf daher einer eigenen systematisch - theologischen Würdigung, gerade so als ob auch Böhme im weitesten Sinne zum werdenden Luthertum gehörte. Erst wenn man Böhme bei diesem seinen Selbstanspruch behaftet, läßt sich ein sinnvolles Urteil hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zu den reformatorischen Einsichten Luthers fällen. Vgl. G. A. Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. II: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1989, S. 560 - 664, hier S. 603 - 607. 188 Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik Jacob Böhmes. Eine psychologische Studie, in: Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche. Bd. 19, Berlin 1913. 189 Vgl. ebd., S. 3. 131 zum psychologischen Verstehen; Vorwort zu Dilthey; S. 94 zum Stil.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

stimmtheit mit einem Schlag habe befreien können. 190 Das gesamte schriftstellerische Schaffen Böhmes diene lediglich der Selbstvergewisserung hinsichtlich der als "bestimmte Willensdisposition" aufgefaßten "mystische(n) Freude" 191 : "Seine Schriftstellerei diente wirklich in erster Linie ihm selbst, weil sie ein psychologisch unersetzliches Hilfsmittel war zur Vertiefung und Verbreiterung seiner eigenen religiösen Erkenntnis." 192 Die von Böhme herangezogenen, ζ. T. pansophischen Metaphern einer spiritualistischen Erfahrungssoteriologie, d. h. Wiedergeburt qua Geburt des 'Christus - in - uns', qua Wiederholung der Inkarnation des neuen Menschen in Maria oder qua Inkarnation der göttlichen Jungfrau Sophia im Menschen, 193 dienten nun der inhaltlichen Ausgestaltung der schriftstellerischen Praxis pietatis und der damit einhergehenden Selbsttherapie 194 : "Bei Böhme war es das sehnliche Bestreben, seinem religiösen Erleben Form und Farbe zu geben(,) ... dieses plastische Formen der eigenen Gedanken. ... Nach unbewußten Künstlermotiven setzt er vielmehr das Innerste in plastische Gestalten um und aus sich heraus aufs Papier." 195 Darin manifestiere sich "eine neue Stellung zur Kirchenlehre. Wird sie vom wiedergeborenen Christen selbsttätig neugeschaffen, so liegt der eigentliche Wert doch in dem originellen Gehalt, den der einzelne der Lehre gibt. Das Persönliche ist nicht die Form, in der sich der objektive Gehalt der Lehre beim einzelnen eigentümlich ausprägt ..., sondern umgekehrt: die Glaubenssätze sind nur die Form, die Grenzlinien, zwischen denen dann die persönliche Schöpfung des Einzelgeistes ihr göttliches, ewiges Leben entfaltet." 196 Die Heilswirkung der biblischen Erzählungen bestehe für Böhme darin, daß sein seelisches Erleben und Empfinden an ihnen Gestalt gewinne, daß die in ihnen berichteten Heilstatsachen wie Menschwerdung, Heiligung usw. "in ihm selbst" angeregt werden: "Nur das, was sich in ihm selbst abspielt, hat die beseligende, wiedergebärende Kraft, die von der Kirche, von der historischen Denkweise, fälschlich den alten Geschichten zugeschrieben wird." 197 Statt eines historistischen Objektivismus' gehe es um die typologische Applikation des Schriftsinns: "Vielmehr ist die Menschwerdung Christi in Maria nur der erstmalige und darum typische Fall der Inkarnation. Sie soll sich in jedem 190 Vgl. ebd., S. 72 ff. bes. S. 77; S. 89 ff. bes. S. 92 f. 102 - 106. S. 81 bemängelt Eiert, Böhme habe das Willenserlebnis nur deshalb als von Gott verursacht dargestellt, um seinen latenten Synergismus zu verschleiern. Das ist angesichts des Textbefunds, den auch Eiert registriert, eindeutig zu bezweifeln. 191 Vgl. ebd., S. 102. 192 Ebd., S. 93. Die These einer selbsttherapeutischen Funktion der Schriftstellerei wird heute praktisch unverändert wiederholt von G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 313 ff. 393 ff. 193 Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 65 ff. 73 ff. 87 f. 194 Vgl. ebd., S. 89 ff. 195 Ebd., S. 93. 196 Ebd., S. 49. 197 Ebd., S. 58; vgl. auch S. 55.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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einzelnen Christen wiederholen." 198 Böhme genüge deshalb weder der äußere, historistische Schriftbeweis, noch ein objektives Testimonium spiritus sancti internum zur subjektiven Heils- und Glaubensgewißheit. 1 9 9 "(D)ie rein intellektuelle Aufnahme und Verarbeitung der sogenannten Heilstatsachen, Heilsnotwendigkeiten usw." halte Böhme für ungenügend. In bewußter Anknüpfung an die reformatorische Grundeinsicht Luthers gehe es vielmehr darum, "daß dem Christus der Geschichte der Christus in uns nicht nur zur Seite, sondern auch gegenübergestellt wird."200 Eiert arbeitet auf diesem Wege heraus, daß Böhme seine eigene individuelle Heilsaneignung als einen inkarnationsmorphologischen Prozeß aus Erfahrungssoteriologie und applikativer Schrifthermeneutik schildert. Die psychologische Selbstbeobachtung verdanke sich einem starken Zug ins Empirische. 201 Trotz aller empfindsamer Selbstwahrnehmung resultiere daraus jedoch keineswegs eine "quietistische Gefühlsgymnastik". 202 Böhme weise durchaus eine lebenspraktische Orientierung auf. Die christliche Ethik werde lediglich auf eine eudämonistische Basis gestellt, 203 so daß der Nomos des Gottesgedankens den Menschen zunächst "nach innerer Einheitlichkeit des Erlebens" streben lasse und damit eo ipso auch bereits die heilvolle "Einheit des Ich" erfahrbar mache. 204 Der Wiedergeborene verzettele nicht mehr seine innerseelischen Kräfte "Imagination", "Glaube" und "Magia", 205 sondern konzentriere sie auf die Phantasiebildung einer neuen Welt: "Damit überträgt 198 Ebd., S. 67. 199 Vgl. ebd., S. 45 f. 49. 55: "Zweierlei hält Böhme dieser Art rein historischen Denkens entgegen. Einmal weist er darauf hin, daß man damit das Wesentliche am Objekt nicht trifft ... Sodann aber sieht er darin einen subjektiven Mangel. Das bloße Wissen ist noch kein Beweis für wirkliche Herrschaft des göttlichen Geistes über den Menschen, für den rechten Glauben." 200 Ebd., S. 57 f. 201 Vgl. ebd., S. 129 - 131. 202 Ebd., S. 94. 203 Vgl. ebd., S. 81, allerdings sehr abfällig: Böhmes Ethik sei der "krasseste autonome Eudämonismus". Im Gefolge Kants wurde die protestantische Ethik v. a. zu Beginn unseres Jahrhunderts als "reine" Gesinnungsethik verstanden. Luther habe das unbedingte Sollen des Christenmenschen in den biblischen Schriften wieder freigelegt und damit von den eudämonistischen Verunreinigungen, d. h. von "einer selbstgefälligen, im tiefsten Grunde selbstsüchtigen Sittlichkeit", befreit, die Augustin zuallererst als einen Fremdkörper in die christliche Ethik hineingebracht habe; vgl. K. Holl, Augustins innere Entwicklung (1922), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. III, Tübingen 1928, S. 54 116, bes. S. 85; ders., Der Neubau der Sittlichkeit (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. I: Luther, Tübingen [6. Auflage] 1932, S. 155 - 287, bes. S. 178. Erst durch die Einwirkung von Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzialismus um die Mitte des XX. Jahrhunderts bildet sich wieder ein Verständnis für die tiefe Berechtigung "eudämonistischer Ethik" seit Augustin aus; vgl. W. Kamiah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins "Bürgerschaft Gottes", Stuttgart/ Köln [2. Auflage] 1951, S. 261 - 280. 204 Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 132. 205 Vgl. ebd., S. 67 ff. 73 ff.

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sich aber auch die in Gott erlebte Einheitlichkeit der Seele auf das Schauen der Natur." 206 Obwohl Elerts "Beitrag zur Geistesgeschichte der Christenheit" eine "Theorie vom religiösen Erleben" qua "Theorie über den mystischen Prozeß" aus reiner "Selbstbeobachtung" zu Tage gefördet hat, 207 fällt das abschließende systematisch - theologische Urteil recht mager aus. Jeder rationalen Begriffsbildung unfähig komme Böhme über das empirische Ich nicht hinaus zu dessen transzendentaler und insofern eigentlich erst psycho-logischer Grundstruktur. 208 Seine "mystische Theorie" mit ihren Ausdrucksmitteln aus christlicher Metaphysik bleibe zwar "Abbild tatsächlichen Erlebens", gewinne aber keine objektiv - allgemeingültige Relevanz: "Daß der objektive metaphysische Bestand, den er diesen subjektiven Tatsachen unterlegte, bei allen Anknüpfungen an das Empirische doch wesentlich aus seiner Verbindung zwischen Überkommenem und seiner Phantasie hervorging, braucht kaum gesagt zu werden. Hier ist das eigentliche Feld seiner Spekulation." 209 Böhmes Subjektivismus bedeute einen Separatkult im selbsteigenen Seelentempel. Er meine einen anderen als den christlichen Gott. Jesus Christus sei entgeschichtlicht, so daß Böhme das historische Wesen christlicher Frömmigkeit opfere. Zugute hält Eiert Böhme lediglich, daß dieser seine Heterodoxie aus dogmatischer Unbildung nicht bemerkt habe. 210 Abgesehen von der Tatsache, daß Eiert aus Gründen der philosophischen Traditionswahl "subjektive Tatsachen" eo ipso für minderwertig halten mußte, fällt doch die monadologische Vereinzelung seines Seelenbegriffs auf, den er von außen an Böhme heranträgt. Hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen muß der Seele bei Eiert (im Gegensatz zu Böhme) die ganze Welt introjiziert werden: "(D)er Wiedergeborene findet bei seinem Rückzüge in sich selbst das Universum wieder. Die eigene Seele ist das Gegenbild der gesamten Wirklichkeit." 21 1 Die Erfahrung ist für Eiert in der Konsequenz auch nicht extra nos in einer Eindruckswirklichkeit verankert, sondern innerseelisch vom Willen induziert. Der Wille "schafft alles kosmische und seelische Sein, er gestaltet es. An ihm liegt es, wenn es verdirbt, auf falsche Wege gerät. Er ist es, der alles dem vorschwebenden Ziele zuführt." 212 Pathische Komponenten am Willenserlebnis werden daher weggedeutet oder minimalisiert; so wird ζ. B. "Impression", das von Böhme hörfällig auf das Formwirken eines Äußeren bezogen ist, zu einer begehrlichen Selbstaffektion des Willens zur zielursächlichen Er206 207 208 209 210 211

Ebd., S. 133. Vgl. ebd., Vorwort; auch S. 129. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 135 f. Ebd., S. 83. Zur "Introjektion" als dem wohl folgenschwersten Irrtum der Philosophiegeschichte vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 17 ff. 194 f.; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 1 - 17, bes. S. 7 - 16. 212 Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 40.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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reichung eines anderen Gemütszustandes umgedeutet. 213 Es wird unten im einzelnen noch deutlicher werden, wie das Ich als seelisches Erlebniszentrum bei Böhme doppelt relational, also sowohl pathisch bzw. affektiv betroffen, als auch intentional, sowohl durch Ein-, als auch Ausdruck, auf eine ihm zugehörige Lebenswelt bezogen ist.

1.2.2.2. Paul Hankamer: Barockzeitalter und Gestaltthematik 214 Trotz aller zurecht bestehenden kritischen Einwände gegen die Eigenheiten des katholischen Literaturwissenschaftlers 215 zeichnet sich Hankamers Untersuchung vor allem dadurch aus, daß er Jakob Böhme in den Zusammenhang des gerade im Barockzeitalter mit besonderer Intensität aufkommenden Gestaltproblems hineinstellt. 216 Hankamer umreißt die Situation der Lebenskultur im Barockzeitalter, wie folgt: "Die Emanzipation des Fleisches die den Menschen verstört, entgeistete Sinnlichkeit als Wille zur Körperlichkeit und absonderlicher Willkür verkehrt die ganze Welt löst alle Einheit in Vielfalt auf, sie zergliedert sich in einheitslose Vielfalt vereinzelter Dinglichkeiten. [...] Statt der Freiheit eines universalen Lebens das alles in seiner bildenden Liebe umfängt, jedem seinen Platz anweist und jedes Einzelne sich gliedhaft ausformen läßt nach seinem Wesenssinn und seiner Idee, erwählt der Mensch die spöttisch verwirrende Herrschaft des Zufalls. ... (D)as Leben wird ein regelloses sinnloses Folgen eines Abenteuers auf das andere und aus dem anderen." 217 Angesichts der im dreißigjährigen Krieg manifest werdenden Auflösung aller sozialen Ordnungsgestalten, der kriegsbedingt unmittelbar nachvollziehbaren Todesverfallenheit aller Menschen und einer noch aus der Renaissance herrührenden besonderen Sensibilität für die körperliche Sinnenwelt, die das Erlebnis von lebenskultureller Amorphie, menschlicher Ver213 Vgl. ebd., S. 27 - 30. 69 ff. 214 Vgl. P. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, Hildesheim [2. Auflage] 1960 = [Nachdruck] Bonn 1924. 215 Vgl. ebd., S. 36 - 46. 98. 149 - 151. 401 - 410, zur Vereinnahmung Böhmes für den Barockkatholizismus mit einigen kontroverstheologischen Spitzen. Dazu scharfe protestantische Kritik bei Hirsch, Jakob Böhme, S. 234 Anm. 1, und Bornkamm, Luther und Böhme, S. 3 f. M. E. besteht der Hauptkritikpunkt in Hankamers Zitieren ohne Quellennachweise und Stellenangaben. Lediglich eine Marotte ist die sehr eigenwillige Zeichensetzung. 216 Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 47 ff. bes. S. 75: "Aus der Spannung von Mystik und Reformation, von Gotik und Renaissance (als Barock), von West und Ost (als Deutschtum) aus dieser Spannung und in ihr ist Böhme geworden." S. 92: "Diese Spannung von Gestalt und Chaos, die der Barock besonders erleidet, ist ihm als die schöpferische Stimmung als die 'Angstqual' des Werdens aufgegangen." Einen schnellen Überblick über die barocke Zeitgenossenschaft Böhmes bietet M. Bircher (Hg.), Deutsche Schriftsteller im Porträt. Das Zeitalter des Barock, München 1979, dort S. 40 f. zu Jakob Böhme. 217 Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 345. 357; vgl. auch S. 331. 362 ff.

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wundbarkeit und Sterblichkeit in der Wahrnehmung des Barockmenschen spezifisch verstärkt habe, 218 bleibe durch die Leistung der Barockschriftstellerei trotzdem eine pessimistische Weltabkehr zu einer zweiten, transzendenten Hinterwelt aus, auch wenn der sich in den Exzessen des dreißigjährigen Krieges offenbarende, ungezügelte Lebenstrieb sehr kritisch bewertet werde. 219 Die "Stellung des Menschen im Kosmos" sei trotz aller Enttäuschungen diejenige des Konkreators: "Die körperliche Welt ist nicht Gott aber der Mensch vermag sie zu einer Ausdrucksform zu einem Leib Gottes zu bilden so wie das Paradies es war. [...] So erscheint die Welt als Stoff und Vordeutung und der Mensch schafft ihr Form und Erfüllung. [...] Das Leben des Menschen ist Schöpfung. ... So erfüllt er seine Aufgabe: Bildner zu sein und aus ungedeuteter Fülle Form und Gestalt zu schaffen, daß der Geist im Gleichnis offenbar werde." 220 Jakob Böhme stelle sich, wie später dann Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen 2 2 1 in der Form des Schelmenromans, der elementaren Gestaltfrage in Leben und Erleben der Schöpfungswelt, die sich in einem geradezu apokalyptisch anmutenden Chaos einer völlig unvermittelten Körperwelt aufzulösen drohe. Dieser Vergleichspunkt Hankamers, der sich erst auf den zweiten Blick als genial herausstellt, zeigt, wie sich dualistisch anmutende Züge der Barockschriftsteller, ζ. B. bei Andreas Gryphius, als fundamental lebenspraktisch orientiertes Ringen um die Gestalt gelingenden Lebens begreifen lassen. Die Askese bedeute im Unterschied zur gotischen Klosterkultur lediglich eine rein innerweltliche Konzentration auf die Herausbildung einer individuellen Ausdrucksgestalt für das je eigene Leben. 222 Dabei ist für Hankamer die Vorstellung typisch, daß die Barockschriftsteller, also auch Böhme, die gesuchte Lebensgestalt ganz aus ihrer genialen literarischen Schaffenskraft heraus entwerfen und ihren Lesern leibhaftig zum mimetischen Mitvollzug darbieten. Die Barockschriftstellerei Jakob Böhmes basiere auf einer prophetischen Sendung des individuell dichterischen, d. h. 218 Vgl. ebd., S. 54: "Auflösung und Hingabe jeder Gestalt ist das letzte Ziel zu dem der Mensch dieser Epoche verführt zu werden droht."; dazu auch S. 51 ff. 141. 235. 356 f. 395. Vgl. S. 59 zur Wirkung der Renaissance unter den Bedingungen der Barockzeit. 219 Vgl. ebd., S. 47 - 49. 123. 128. 217. 313. 220 Ebd., S. 145. 322. 399 f.; vgl. auch 311. 315. Ähnlich M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 67 - 71, bes. S. 71: Es verwirkliche sich "im Drange der Geschichte der Welt im Menschen und durch den Menschen die ewige deitas". Dabei durchdringe sich wechselseitig eine "Vergeistigung der Drangsale" aus der Lebensunmittelbarkeit und eine "Verlebendigung des Geistes" aus der Geistunmittelbarkeit. 221 H. J. Chr. von Grimmelshausen, Der Abentheuerliche Simplizissimus Teutsch/ Das ist: Die Beschreibung dess Lebens eines seltzamen Vaganten/ genannt Melchior Sternfels von Fuchshain/ wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen/ was er darinn gesehen/ gelernet/ erfahren und aussgestanden/ auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauss lustig/ und männiglich nützlich zu lesen, Nürnberg 1668, mit einer Einleitung neu hg. ν. Κ. - H. Ebnet, Kehl 1993. 222 Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 50. Vgl. auch unten 5. 4.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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sprachgestaltenden Genies und seiner eigenen prototypischen Lebens- bzw. Berufsgestalt: "Böhme kündet immer wieder das Gesetz der innersten Zugehörigkeit von erkennbarer Welt und Persönlichkeit, das Gesetz der Gestaltung der Welt und des Lebens aus der Gestalt seines und eines Wesens. Gestaltung ist ihm erkanntes eingesehenes Eigen = Schicksal, ist der geistige 'Leib' der Wesenheit, die Äußerung und der Erkenntnis = Ausdruck eines individuellen Geistes und eines besonderen Seins. Erkennen heißt in einem anderen Stoff, in Welt Zeit und Raum das schauen und bilden was man ist und west." 2 2 3 Insofern erkläre sich schon im Barock, und nicht erst in der Klassik oder Romantik, das literarische Werk als unmittelbarer Selbstausdruck eines individuellen Sprachgestaltungsgenies 224 und weise als solches eine allgemeine Bedeutung auf: "Der Geist als das ewige Nichts ... muß Etwas lebendige Gestalt werden um dem Menschen erscheinen und auf Erden wirken zu können. Alle Kraft verrinnt unfaßlich bleibt unwirksam die nicht in menschlicher Persönlichkeit sich verleibt. ... Gestalt ersteht vor uns wenn in der persönlichen Seele Natur und Geschichte sich ereignen als individuelles Leben." 2 2 5 Biographie und literarischer Weltentwurf bedingten im Barockzeitalter einander: "(D)ie Lebensleistung eines großen Menschen ... ist das Welt= und Gott = Bild das er aufbaut indem er sich als Gestalt bildend lebt... Menschliches noch sinnloses Leben zu Gesetz und Sinn zu bilden, ist die persönliche nur durch wesenhafte Persönlichkeit zu leistende Tat der Dichter Denker und Seher ... ein wahres geistiges Lebensgebilde ... als Geschichte einer persönlichen Seele." 2 2 6 Der tatsächlich gelebten Gestalt des Sprachgenies korreliere die im dichterischen Selbstausdruck vorgelegte leib- und lebensbildende Sprachform: "Und Böhme erlebt unmittelbar den Satz als die Leibwerdung des Geistes. Sein Satz wird von ihm nicht als Kleid oder Schmuck des Gedankens empfunden sondern ist seine Verkörperung. " 2 2 7 Böhmes inkarnationsmorphologisches Sprachverständnis schlage sich in besonders leiblich sinnlichen Denkbildern nieder, 228 die er den sprachlichen Vorbildern der Lutherbibel entnehme. Literarische Leistung und applikative

223 Ebd., S. 210. 224 Vgl. ebd., S. 118: "Gestalt und Gestaltung sind nicht nur im Sinne des Zusammenhangs und der Gleichartigkeit der geistigen Inhalte von Werk und Persönlichkeit sondern s o eins und gleich, daß der schöpferische Mensch allein durch seinen Werkausdruck sein Wesen entfaltet. Er verwirklicht sich nur im Werk." 225 Ebd., S. 10. Vgl. auch Th. Spoerri, Die Formwerdung des Menschen. Die Deutung des dichterischen Kunstwerkes als Schlüssel zur menschlichen Wirklichkeit, Berlin 1938, S. 11 - 29. 33 - 36. 226 Hankamer, J a k o b B ö h m e . Gestalt und Gestaltung, S . 11. V g l . auch Th. Spoerri, Die Formwerdung des Menschen, S. 52 - 58. 79 ff. 227 Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 174. 228 Vgl. ebd., S. 111: "Er denkt im Bild, und so ... wird sein Denken Bild = Wort nicht Begriff. ... (D)ie sinnliche Analogie ... ist das Geistige ... leibhaft sichtbar." Vgl. auch S . 11 14. 117. 178.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Schrifthermeneutik hingen bei ihm unmittelbar zusammen. 229 Das zentrale sprachliche Vorbild aus der Bibel sei bei Böhme die Gestalt Jesu Christi. Dieser biblisch - literarische Homo novus finde im frühbarocken Homo poeta seine leibhaftig - gegenwärtige Entsprechung. Der Dichter, für Böhme die Inkarnation des Christenmenschen, inkarniere in der Ausübung seines Berufes das biblische Vor- und Urbild. 230 Einmal abgesehen von einer Überbetonung des schriftstellerischen Individualgenies und einer mangelhaften Frage nach seinen soteriologischen Voraussetzungen zeichnet sich bei Hankamer wenigstens der Intuition nach der inkarnationsmorphologische Denkzusammenhang Böhmes ab. Eine wirkliche Textanalyse bietet Hankamer freilich nicht.

1.2.2.3. Alexandre Koyré: Lebensmetaphysik und Inkarnation 231 Die Eigenheit von Koyrés Böhme - Interpretation ist eine Wiederaufnahme von Hegels und Feuerbachs Interpretationen mit einer Wendung ins Lebensphilosophische und Phänomenologische. 232 Böhme deute mit seiner "barbarischen Metaphernmélange" 233 im Vorgriff auf die Moderne bereits an, wie der Großbegriff "Leben" mit einer fundamentalen metaphysischen Dialektik inhaltlich so bestimmt werden könne, daß das leibhaftige Selbstbewußtsein des als absolute Person im Gegenüberverhältnis zur voll ausdifferenzierten Sinnenwelt lebenden Menschen als Inkarnation bzw. konkrete Realisation des "Lebens" zu verstehen sei. 234 Das genuin Moderne an Böhmes inkarnatorischer Lebensmetaphysik sieht Koyré in deren Ersetzung der statischen Seinsontologie durch eine polare Dynamik, durch die es Böhme gelinge, Geist und Natur oder abso-

229 Vgl. ebd., S. 168. 181. 230 Vgl. ebd., S. 167. 201. 246. 259. 333 - 335. 390. 231 Vgl. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme und ders., Die Gotteslehre Jakob Böhmes, übersetzt von H. Conrad - Martius, in: Festschrift Edmund Husserl zum 70. Geburtstag. 1. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Halle/ Saale 1929, S. 225 - 281. 232 Koyré und seine von Husserl inspirierte Hegel - Rezeption gehören als wichtige Wegbereiter in die Vorgeschichte der "Phänomenologie in Frankreich"; vgl. B. Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ Main 1983, S. 34, auch 28. 37. 39. 44. 233 Vgl. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 503: Böhme braue einen "mélange singulier" aus "conceptions barbares et primitive dans lesquelles revivent les vieux mythes de la lutte du Cosmos contre le Chaos". 234 Vgl. Koyré, Die Gotteslehre, S. 278: "Das Leben, dieser große Magier, der irgendetwas da, wo nichts war, schafft und erzeugt, der, sich entfaltend, darin vor sich selber offenbar wird, daß er seinen eigenen Leib und eigenen Geist erzeugt - das ist das wahre Prinzipium von allem. Das Leben realisiert sich selbst, es ist causa sui." S. 278 ff. zur Rolle der Inkarnation.

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lute Person und ausdifferenzierte Sinnenwelt als ein lebendiges Ausdrucksverhältnis aufeinander zu beziehen. 235 Böhmes Lebensmetaphysik sei in der menschlichen Lebenserfahrung verankert. Unter aller Oberflächlichkeit werde dem Menschen hier das Leben hinsichtlich dessen eigentlicher Gestalt fraglich. Im Zusammenhang mit der elementaren Lebensfrage begegne der Mensch den rätselhaften Lebensbeschreibungen der H. Schrift. Aus dieser doppelten Fraglichkeit heraus erwachse die Spekulation, die Böhme mit der biblischen Sprache aufgrund des dort sich anbietenden hermeneutischen Schlüssels der Gottebenbildlichkeit schöpfungstheologisch, anthropologisch und soteriologisch durchführe. 236 Böhme komme es in schöpfungstheologischer Hinsicht im Unterschied zur Spekulation eines Meister Eckhart 237 darauf an, Gott als dem All - Leben - an sich eine in einem leibhaftigen Selbstbewußtsein bestehende Personalitätsstruktur zu geben: "Die Gottperson Böhmes ... enthält in sich jede 'Differenz', die ganze Unendlichkeit aller Gegensätze und Unterschiede, die Er ewig überwindet und vereinigt, belebt und in sich zurückführt." 238 Erst die Konstitution der zielgerichtet handelnden Person des Schöpfergottes ermögliche diese Binnendifferenzierung des sich seiner selbst leibhaftig bewußt werdenden Gotteslebens. 239 Durch das zielgerichtete Handeln des Schöpfergottes nämlich entwerfe sich das Gottesleben auf eine "ewige Natur" hin, die in einer Konfiguration sowohl von geistigem, als auch organischem Leben bestehe. An dieser geistleiblichen Gestalthaftigkeit der "ewigen Natur" bilde sich das vollkommene Selbstbewußtsein nun insofern heraus, als es intentional auf das geistleibliche Zugegensein aller seiner möglichen Bewußtseinsinhalte bezogen sei. 240 Die "ewige Natur" des leibhaftigen göttlichen Lebensbewußtseins realisiere bzw. inkarniere sich notwendig in der sinnlich ausdifferenzierten Körperwelt: "(L)a réalité réalisée ... est celle du corpus (Leib, corps vivant) ou, du moins, implique la possesion d'une corporéité. C'est un idée qu' un vitalisme conscient de soi implique d'ailleurs nécessairement." 241 Leibhaftiges göttliches Selbstbewußtsein und sinnlich ausdifferenzierte Körperwelt könnten deshalb nicht pantheistisch miteinander verwechselt werden, da zwischen ihnen ein figürlich analoges Ausdrucks Verhältnis bestehe: "(L)e monde en est quand même une expression et une similitude, une Figur."242 Vorbehaltlich der figu-

235 Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 503 f. Vgl. auch M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 68 - 77. 80 f. 87 - 93. 236 Vgl. Koyré, Die Gotteslehre, S. 234 - 236. 237 Vgl. ebd., S. 227. 232. 238 Ebd., S. 241. 239 Vgl. ebd., S. 238 f. Einen ähnlich konstitutiven Zusammenhang von Kosmogonie, Anthropogonie und Theogonie konstruiert in kritischer Abgrenzung vom klassischen Theismus M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 71. 87 - 93. 240 Vgl. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 355. 241 Ebd. 242 Ebd., S. 356.

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ralen Korrelation könne Böhme dann auch die sinnlich ausdifferenzierte Körperwelt als Leib Gottes bezeichnen: "La nature divine n'est autre chose que la vie organique ou le corps organique de Dieu." 243 Aufgrund des ebenbildlichen Zusammenhangs zwischen Gott und Mensch gehören leibhaftiges Personbewußtsein und sinnlich ausdifferenziertes Körperleben auch beim Menschen figürlich zusammen. Der Mensch wiederholt die göttliche Inkarnation in der Schöpfung: "Wie wir gesagt haben, beschreibt Boehme 'die Bedingungen der Möglichkeit einer absoluten Person'; Bedingungen, ... sich zu realisieren und Selbstbewußtsein zu erlangen.... (N)ur indem er sich in dem Persönlichsten und Tiefsten, was er hat, verwirklicht, erreicht der Mensch die ihm eigene Vollkommenheit und erfüllt er seine wesentliche Aufgabe, nämlich Gott zu inkarnieren und darzustellen." 244 Der "corps organique" des Menschen dürfe nicht einfach mit seiner "vie spirituelle" verwechselt werden. Nur ihr wechselseitiges Ausdrucksverhältnis realisiere die "personalité humaine", "totale, vivante, 'psychophysiologique'". 245 So gelte auch hier die schöpfungstheologische Gleichung: "l'incarnation" = "la réalisation". 246 Da der Mensch an der ihm gestellten Aufgabe der ebenbildlichen Realisation bzw. Inkarnierung des göttlichen Lebensbewußtseins scheitere, verschiebe sich die ebenbildliche Mimesis der Gottperson auf die Imitatio Christi: "Ainsi le but et la mission de l'homme sur terre consiste dans l'imitation du Christ. [...] A-t-il un autre précepte à remplir que celui - ci: sois toi - même; ... réalise ton propre être idéal, ta personnalité véritable, en ramenent à l'harmonie le chaos des forces de la nature que tu portes en toi, et en les faisant servir à l'incarnation de l'esprit qui les domine ...". An Christus gelinge es dem Menschen, jenen "personalisme" einzuüben, durch den "chaque personne humaine est un reflet et une représentation de Dieu; ... une théophanie et une incarnation individuelle". 247 "(C)'est l'image du Christ qui donne à notre imagination le modèle qu' elle cherche à imiter et à reproduire en nous, la forme dans laquelle elle cherche à se couler." 248 Diese "piété ... christocentrique" 249 basiere auf einer applikativen Übersetzung der hohen Opferchristologie in eine Soteriologie menschlicher Lebenspraxis. Satisfaktions- oder Rechtfertigungsmetaphern träten zugunsten von Inkarnation in den Hintergrund. 250 Da sich die "création nouvelle" oder "régénération" aus der Praxis pietatis der Imitatio Christi ergebe, denke Böhme ganz im Sinne eines römisch - katholischen Synergismus: 243 Ebd., S. 357. 244 Koyré, Die Gotteslehre, S. 242 f.; vgl. auch Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 490: "(L)a Bildniss, l'image divine, ... est une expression ou une théophanie individuelle de Dieu ..., que l'homme a pour mission de vivifier et d'incarner en soi". 245 Ebd., S. 486; vgl. auch S. 356 f. 488 ff. 246 Vgl. ebd., S. 389. 247 Ebd., S. 482. 491 f. 248 Ebd., S. 499. 249 Ebd. 250 Vgl. ebd., S. 482; auch 482 - 487.

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"(L)e Dieu de Boehme, ne voulant point sauver l'homme sans lui, le laisse collaborer à sa propre création." 251 Von diesem römischen Mißverständnis und von der begriffsphilosophischen Überforderung der "intuition symbolique" 252 Böhmes einmal abgesehen, besticht Koyrés Interpretation durch eine Verknüpfung von Gottesleben, Inkarnation, leibhaftigem Bewußtsein und Lebenswelt vor Ort der absoluten Person des Menschen. Unglücklich freilich ist, daß die Personalitätsstruktur des Gotteslebens in metaphysischer Spekulation vorgegeben wird, so daß Koyré (im Unterschied zu Böhme) ihre Herkunft aus der elementaren Fraglichkeit menschlicher Lebenserfahrung eigentlich nur behaupten kann, ohne eine diesbezügliche Urerfahrung situativ auszuweisen.

1.2.2.4. Ernst Benz und Günther Bonheim: Jakob Böhmes Sprachtheologie 253 Benz rekonstruiert den Gedankengang der Sprachtheologie Böhmes von deren Ausgangspunkt in der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus, dessen geistleibliches Personsein sich im Sprechen manifestiere. 254 Durch die Benennung der Dinge vollziehe der Mensch als Konkreator die göttliche Schöpfungshandlung als analoges Sprachschöpfen nach. 255 Vor dem Hintergrund der christlichen Tradition, die Welt als "Buch der Natur" 256 aufzufassen, das sich der Autorschaft einer originären Gottesrede verdanke, spreche auch Böhme davon, daß der ebenbildliche Ur - Mensch die göttliche Natursprache beherrsche. 257 Diesseits von Himmel und Sündenfall habe der Mensch diese Begabung zwar verloren, könne sich aber auch unter den Bedingungen der babylonischen Sprachverwirrung im rechten Verständnis der je eigenen Muttersprache auf die ursprüngliche Bedeutung der Lebenswelt qua Sprachschöpfung besinnen. Grund dafür sei das pfingstliche Sprachwunder. 258 Aus der pfingstlichen Restitution der Muttersprache resultiere nämlich die Möglichkeit, "morphonologisch" 259 , d. h. aus den Lautwerten der Silben der deutschen Wörter, den 251 Ebd., S. 497; vgl. auch S. 471. 252 Ebd., S. 394. 253 Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes bei Jacob Boehme, in: ders., Urbild und Abbild. Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte Eranos - Beiträge, Leiden 1974, S. 509 - 548. Vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache. 254 Vgl., Benz, Die schöpferische Bedeutung, S. 519. 521. 255 Vgl. ebd., S. 522. 524 f. 256 Vgl. E. Rothacker, Das "Buch der Natur". Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, hg. v. W. Perpeet, Bonn 1979. In verfallsgeschichtlicher Hinsicht geht Η. Β lumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/ Main 1981, dieser Tradition nach. 257 Vgl. Benz, Die schöpferische Bedeutung, S. 527. 258 Vgl. ebd., S. 531 - 534; zur Muttersprache S. 513. 536. 544. 259 Die "Morphonologie" als Disziplin der Linguistik erklärt E. Holenstein, Artikel: Morphologie III. Linguistik und Literaturwissenschaft, in: Historisches Wörterbuch der Philo-

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natursprachlichen Sinn der Weltrede Gottes zu entschlüsseln. 260 Böhme sei dadurch einer der ersten Denker gewesen, der sich reflexiv zur akustischen Bedeutungsgenerierung bei der Wortbildung in der menschlichen Sprache verhalten habe. 261 In lebenspraktischer Hinsicht müsse sich der Mensch die Wirkung seiner sprachlichen Lautbildungen immer dahingehend bewußt machen, daß alles Angesprochene, egal ob Mensch oder Ding, wie ein Musikinstrument mitschwinge und sich der bösen oder guten Gestimmtheit des Redners genau entsprechend verhalte. Böhme plädiere deshalb für eine besondere Sprachpietät. 262 Bonheim zeichnet Böhmes Sprachtheologie ganz ähnlich wie Benz nach. Auch er referiert Böhmes "transzendentale Linguistik" 263 als ein hervorragendes Beispiel einer der Moderne vorgreifenden linguistischen Reflexionskultur. Böhme analysiere sogar die physiologischen Voraussetzungen des menschlichen Stimmapparates zur leiblichen Bedeutungsgenerierung der Sprache. 264 Böhmes Sprachtheologie stehe in der Tradition des Renaissancehumanismus. Er knüpfe unbewußt an Reuchlin an. Böhme argumentiere, daß die menschliche Sprachwelt auf einer Inkarnation der reinen himmlischen Vokallaute des Gottesnamens "IEOUA" beruhe. Angefangen vom "H" in "IEHOUA" eröffne sich im Durchgang durch die Trinitäts- und Inkarnationsfigur das gesamte Spektrum der von den Konsonanten durchstrukturierten irdischen Sprachwelt des Menschen. 265 Nach dem Sündenfall der Menschensprache in die Abkoppelung von der Natursprache bestehe die Möglichkeit zu deren Regenerierung und zu neuerlichem Verstehen vor Ort der jeweiligen Muttersprache durch den fortbestehenden strukturellen Zusammenhang mit der Gottessprache in den Vokalen des Gottesnamens "IEOUA" und durch deren neuschöpferische Potenzierung im Namen "JEsus". 266 Abgesehen von dieser allgemeinen sprachlichen Restitutionssoteriologie arbeitet Bonheim in deutlicher Parallelität zu Eiert Böhmes individuelle Schreibsoteriologie heraus. Böhme schreibe durch seine ganz private Schriftstellerei seine melancholische Grundgestimmtheit zu einer freudigen Stim-

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sophie. Bd. 6: Mo - O, Darmstadt/ Basel 1984, Sp. 210 f., hier 210: "Die Morphonologie befaßt sich mit den morphologisch signifikanten Aspekten der Lautform der Sprache." Vgl. Benz, Die schöpferische Bedeutung, S. 525. 538 ff. Hierin gegen Bornkamm, Luther und Böhme, S. 8: "die geradezu närrisch anmutende Deutung der Lautwerte eines Wortes". Vgl. Benz, Die schöpferische Bedeutung, S. 525. 539. Vgl. ebd., S. 529. 544 - 547. G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), S. 167 f., weist ebenfalls auf die musikalische Metaphorik zum Resonanzraum des Sprachschalls hin; vgl. auch ders., Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/ Main 1989, S. 134 - 138, dort der Hinweis auf die Orgel als Böhmes Leitvorstellung. Vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 269 - 313. Vgl. ebd., S. 366 Anm. 72; auch S. 275 - 279. Vgl. ebd., S. 227 - 252, bes. S. 239 - 241. Zu Reuchlins "De Verbo Mirifico" vgl. S. 351 Anm. 19. S. 352 f. Anm. 24. Vgl. auch unten 4. 2. 1. Vgl. ebd., S. 239 - 269. Vgl. auch unten 4. 2. 6.

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mung um. Er verwandele sich auf magische Weise vor Ort seines Schriftbildes im Sinne einer biblisch - pansophischen Sprachalchemie an die von ihm beschriebene Christusgestalt an. 267 Der inkarnationsmorphologische Zusammenhang wird hier zwar in seiner hermeneutischen Hinsicht deutlich herausgearbeitet. Böhmes Schriftstellerei verdankt sich tatsächlich einer applikativen Schrifthermeneutik. Die Erfahrungssoteriologie hat in der Tat eine wichtige Bedeutung für die Menschensprache und das menschliche Sprachverstehen. Böhme bleibt aber dabei nicht stehen. Sprache ist für ihn nicht eine in sich abgeschlossene Sinnprovinz mit bestenfalls einigen individuellen Nebenwirkungen in der Gemütsbefindlichkeit oder im unmittelbaren Selbstverhältnis des Autors. Der inkarnationsmorphologische Zusammenhang zielt bei ihm stattdessen auf eine integrale leibhaftige Lebensgestalt des Menschen inmitten der ihm eigenen Lebenswelt. Deshalb wird auf die leibliche Performanz des Böhmeschen Sprachdenkens zu achten sein, die dieser auf phänomenologischem Wege ausweist.

1.2.2.5. Ernst Benz: Jakob Böhme als neuzeitlicher Prophetentyp 268 Auf der Basis der Inspirationstopik, die häufig im unmittelbaren Zusammenhang mit Äußerungen zum Verständnis von Böhmes Autorschaft steht, 269 rekonstruiert Benz die "moderne Prophetengestalt" Jakob Böhme. Sie stelle einen "Typus der neuzeitlichen christlichen Prophetie" dar. Analog der urkirchlichen Prophetie habe Böhme sich selbst "messianisch" in die Heilsgeschichte eingezeichnet. 270 Er übernehme zwar die leibhaftige Verantwortung für seine Botschaft, wisse sich aber zu keiner Neuoffenbarung autorisiert, sondern wolle nur den "lebendigen Christus, den 'Christus in uns', dessen metaphysisches Schicksal sich in den Gläubigen vollzieht und vollendet", verkündigen. 271 In diesem Sinne komme Böhme zu der "Auffassung von Christus als dem 'inneren Buch' des Menschen". "Ihr Grundgedanke ist: es besteht eine innere Wesensbeziehung zwischen Christus, Welt, Bibel und Mensch", der "nach seiner inneren Gestalt ein Bild Gottes und ein Bild des in Christus sich verwirklichenden Universums" sei. 272 Böhmes Methode der Entfaltung seiner prophetischen Sendung sei demzufolge nur die "Selbstauslegung seiner Person und seines Werkes", wie auch Luther sein Rechtfertigungserlebnis zum

267 Vgl. ebd., S. 313 ff. 393 ff.; auch oben 1.2.2.1. 268 Vgl. E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme. Eine Studie über den Typus nachreformatorischen Prophetentums, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jg. 1959. Nr. 3, Wiesbaden 1959. 269 Vgl. ebd., S. 10. 13 ff. 19 ff. 31. 40 - 45. 56 ff. 109 ff. 270 Vgl. ebd., S. 9 f. 68 ff. 271 Vgl. ebd., S. 22 - 24. 272 Ebd., S. 25.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Schlüssel seiner theologischen Schriftstellerei mache. 273 Trotzdem komme es nicht zu einer Selbstzuschreibung der prophetischen Erkenntnis, die immer ein vom natürlichen Menschen sorgfältig unterschiedenes Opus Dei bzw. Christi bleibe. 274 Böhmes Ausgangs- und Zielpunkt bilde immer der "evangelisch(e) Glaubensakt": "Sein Kampf ist also ein Ringen um das wahre Verständnis und wahre Ergreifen Christi, ein Ringen um die Wiedergeburt, das ihn in Bußfertigkeit, die Selbstaufgabe, die Entichung, die Überwindung des eigenen Egoismus, das Sich - selber - Preisgeben, die völlige Einfügung in den göttlichen Willen hineinführte." 275 Böhme, der sich in seiner prophetischen Berufung durch die öffentliche Verfolgung, die er zu erdulden hatte, bestätigt sah, 276 habe nun trotz aller Momente "numinoser Scheu, das Heilige zu entehren und dadurch den Zorn Gottes gegen sich selbst zu kehren", 277 keineswegs eine reine Privatschriftstellerei und Individualesoterik beabsichtigt: "Der reinen Privatisierung seiner Erkenntnisse widerstrebt aber ... der besondere Inhalt seiner Offenbarungen selbst ... Gerade die Aurora wendet sich 'an alle'." 278 Böhmes theologische Wirkung hinsichtlich der legitimen Rolle und Bedeutung von Prophetie habe immer darunter gelitten, daß seit der altprotestantischen Lehrorthodoxie ein über die kanonischen Schriften als der exklusiven Geistinstitution hinausgehendes unmittelbares Geisteswirken nicht mehr thematisiert worden sei. 279 Benz' Wahrnehmung der Erfahrungssoteriologie Böhmes weist ein Gefälle in eine konkrete christliche Lebens- bzw. Berufsgestalt auf, die allerdings auf das Spezialphänomen der Prophetie beschränkt bleibt. Die methodologische Vermittlung von Inspirationstopik und applikativer Schrifthermeneutik bei Böhme ist Benz dagegen durch die Rede vom "inneren Buch" besser darzustellen gelungen, wenn auch die beschworene Innerlichkeit der Schrift noch genauer als typologische Korrelation zu fassen bleibt. 280

273 Vgl. ebd., S. 30. Zu Luthers Rechtfertigungserlebnis vgl. auch K. Leese, Geistesmächte und Seinsgewalten, S. 46 f. 71 f. 274 Vgl. Benz, Der Prophet, S. 36 - 39. 275 Ebd., S. 40. 276 Vgl. ebd., S. 45 - 56. 277 Ebd., S. 65. 278 Ebd., S. 66. 279 Vgl. ebd., S. 112. Die Verengung der Wahrnehmung auf die Positivität des Kanons geht offenbar schon auf Luther zurück; vgl. Leese, Geistesmächte und Seinsgewalten, S. 56 f. 52 f. 280 Genauso läßt sich auch Pältz' Interpretation der Böhmeschen Autorschaft resümieren, vgl. E. H. Pältz, Zum Verständnis von Jacob Boehmes "Autorschaft", in: Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus. Bd. 2, Bielefeld 1975, S. 9 - 21.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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1.2.2.6. Eberhard Hermann Pältz: Jakob Böhmes Soteriologie als existenzielle Reintegration des Menschen 281 Die bislang umfassendste Wahrnehmung von Böhmes Erfahrungssoteriologie und seiner applikativen Schrifthermeneutik bietet E. H. Pältz. Die Erfahrungssoteriologie Böhmes basiere auf einem "lutherisch modifizierten, evangelisch christozentrischen Spiritualismus". 282 Daher ziele Böhmes Christozentrik auf die lebendige Christusgestalt der biblischen Schriften in bewußter Abgrenzung von einer dem natürlichen Menschen frei verfügbaren, amorphen inneren Christuskraft.283 Die existenzielle Einheit des Christenmenschen mit Christus bedeute keineswegs eine differenzlose Identitätsmystik, sondern eine personbildende ebenbildliche Entsprechung. 284 Der Mensch erlange im personbildenden Gegenüberverhältnis zur Menschwerdung Jesu Christi seine "doxo-logische" Vollgestalt als individuelles Gattungswesen und insofern göttliches Ebenbild aus der "Ver - Fallenheit" an die partikulare "Selbheit" in der "abgründig(en) Existenz" zurück. 285 Die "Konzeption der Integration des Menschen" 286 impliziere als "transsubjektive Ebenbildlichkeit" daher ein "nichtgegenständliches Ich" oder ein "transzendentales Ich". 287 Dazu gehöre automatisch die "Integration des Menschen und der societas" bzw. die "Inte281 Vgl. E. H. Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat; ders., Zum Problem Glaube und Geschichte bei Jacob Boehme, in: EvTh 22, 1962, S. 156 - 160; ders., Zum Verständnis von Jacob Boehmes "Autorschaft"; ders., Jacob Boehmes Gedanken über die Erneuerung des wahren Christentums, in: Pietismus und Neuzeit. Bd. 4: Die Anfänge des Pietismus, Göttingen 1979, S. 83 - 118; ders., Zu Jacob Boehmes Sicht der Welt- und Kirchengeschichte, in: Pietismus und Neuzeit. Bd. 6: Landesherr und Landeskirchentum im 17. Jahrhundert, Göttingen 1981, S. 133 - 163. Vgl. auch ders., Jacob Boehmes Hermeneutik, Geschichtsverständnis und Sozialethik, Jena [ungedrucktes Typoskript] 1961; ders., Artikel: Böhme, Jacob (1575 - 1624), in: TRE. Bd. 6, Berlin u. a. 1980, S. 748 - 754; ders., Artikel: Jakob Böhme. Mysterium Magnum, in: Kindlers neues Literaturlexikon. Bd. 2: BA - BO, München 1989, S. 843 f; ders., Jacob Böhme, in: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus, Stuttgart 1982, S. 79 - 98. 282 Vgl. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 92. 283 Vgl. ebd., S. 90 - 95; auch Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 381. 398 f. 284 Vgl. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 96. 99 f. 285 Vgl. ebd., S. 88. 89 Anm. 37; Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 398; Pältz, Zum Problem, S. 158: "(D)er Gedanke bedeutet für den Theosophen Boehme nichts anderes als eine Umschreibung der Unmittelbarkeit Gottes in seiner Offenbarung zu sich selbst. Boehme wehrt ausdrücklich das Mißverständnis ab, als verstünde er das empirische Dasein des grob - irdischen Menschen als 'Ort' der Einwohnung. Medium inhabitationis ist der 'rechte Mensch', d. h. das im Glauben sich erneuernde Urbild des integralen Adam. ... (D)ie Restitution der Gottebenbildlichkeit durch die Christ - Werdung, die Verwandlung des gefallenen in den integralen Adam, ist der tragende Grund seiner Glaubensmetaphysik. ... (E)ine 'Vermischung' der Strukturen von unio personalis und unio mystica wird ausdrücklich abgewiesen." 286 Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 98. 287 Vgl. ebd., S. 93. 99 Anm. 91.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

gration der Welt und des Menschen", durch die auch die Natur in eine höhere Gestalt verwandelt werde. 288 Diese "totale Erneuerung" des Menschen schließe "subjektphilosophische" Lesarten von Individualität kategorisch aus. 289 Böhme denke bei der Leiblichkeit des Menschen wie Oetinger oder Schleiermacher immer an ein Gemein- bzw. Gesamtleben. 290 So ergebe sich die "wiedergefunden(e) Einheit des göttlichen Lebens". 291 Pältz präsentiert hier eine an Feuerbachs Soteriologie erinnernde Fassung des Christus als eines "'Revolutionär(s)' des Kosmos", da bei Böhme "die Reintegration Adams in Christo ... Anfang ... charismatischer Weltverwandlung" sei. 292 Böhme weise folglich der Kirche als dem Leib Christi die Aufgabe zu, die Gesellschaft im Sinne ihrer progressiven Utopie zu durchdringen und das Eschaton tatkräftig zu antizipieren. 293 Neben Feuerbach bieten Tillich und Bultmann Pältz weitere Deskriptionskategorien für die Erfahrungssoteriologie Jakob Böhmes. Sie sei nämlich sowohl "denkerisch spekulativ", als auch "existentiell erlitten". 294 Existenzialanalytisch der eigenen Existenz entnommen ziele sie auch wieder auf menschliche Existenz. 295 Das werde durch die "sensualistische Terminologie" 296 in ihrer "bildgesättigten - blutvollen Realistik" 297 massiv unterstrichen. Jeglichem mystischen Quietismus abhold sei Böhme um die christliche Lebensgestaltung in vollkommener Weltoffenheit bemü'ht. Wort und Tat gehörten für seinen aktiven Schöpfungsglauben untrennbar zusammen. 298 Die applikative Schrifthermeneutik Böhmes resultiere aus der Christozentrik der Erfahrungssoteriologie und des ihr korrelierenden "wesentlichen Glaubens" im Unterschied zu einem "geschichtslosen Spiritualismus" und einem "die Hl. Schrift als äußere Norm negierenden autonomen Anthropozentrismus." 299 Böhmes Christenmensch sei Bibelleser. Er könne sein in Christo gegründetes Selbstverständnis nur in biblischen Worten explizieren. Daher habe er ein lebendiges, inspiriertes Verhältnis zum objektiv - histori-

288 Vgl. ebd., S. 93. 89 f. 289 Vgl. ebd., S. 88; Pältz, Zum Problem, S. 158 f. 290 Vgl. Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 397 f.; Jacob Boehmes Gedanken, S. 93: "Es ist nicht zu übersehen, daß in der Wirkungsgeschichte seiner Gedankenwelt die 'Leiblichkeit', der Wirklichkeits- und Weltbezug des Glaubens besonders nachdrücklich zum Tragen gekommen sind." 291 Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 397. 292 Vgl. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 93. 116. 293 Vgl. ebd., S. 87 f. 89 Anm. 37. 93. 111 f. Anm. 127. S. 116. 294 Vgl. ebd., S. 86. 295 Vgl. Pältz, Zum Verständnis, S. 11 f. 16. 20 f.: "Sein eigener Prozeß ist Paradigma der anthropologischen Reintegration." Vgl. auch Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 9; Zum Problem, S. 156 f. 296 Ebd., S. 157. 297 Pältz, Jacob Boehme. Glaube und Tat, S. 8. 298 Vgl. ebd., S. 7 - 10. 380 f. 395. 299 Vgl. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 114.

1.2. Überblick über die bisherige Jakob Böhme - Forschung

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sehen Schriftbuchstaben. Es komme zu einem verstehenden Nachvollzug der Schriftinhalte: "Der in Christus, dem zweiten Adam, zum Ursprung erneuerte Mensch entdeckt die heilige Schrift als Abglanz transzendenter Doxa, d. h. als Offenbarungsurkunde. Um die Schrift einem falschen Objektivismus zu entreißen, versteht Boehme - mit Luther - die Schrift als lebendiges Geist Wort. [...] Demzufolge setzt auch sein Schriftverständnis bei der Überwindung einer Objektbeziehung durch eine Personbeziehung zu Christus an. "30° Nachdem nun der applikativ ad hominem gerichtete Komplexzusammenhang von Christozentrik und pneumatischer Schrifthermeneutik freigelegt worden sei, eröffne sich eine völlig neue Möglichkeit der Wahrnehmung von Böhmes Schriftstellerei, nämlich als virtuose typologische Schriftauslegung: "In dieser Weise vermag Jakob Boehmes Gesamtwerk als ein gewaltiger Kommentar zur Bibel bezeichnet werden, ein Kommentar, der nicht ein vergangenes Offenbarungsgeschehen nachdeutend versteht, sondern im Geiste des gegenwärtig - handelnden Gottes, das Buch der Bücher und das Buch der Natur vor Augen, den Glauben auslegt." 301 Die Typologese setzte Böhme z. B. zur Epochalisierung der umfassenden Welt- und Heilsgeschichte ein. Den bis in seine Gegenwart hineinreichenden Epochen entsprächen jeweils bestimmte biblischen Figuren. 302 Trotz aller Nähe Pältz' zum hier untersuchten inkarnationsmorphologischen Zusammenhang im Denken Böhmes weisen seine Interpretationen vom Ansatz her gesehen im Einzelnen doch einige Mängel auf. Angesichts der von Pältz selbst zurecht herausgestellten Anknüpfung Böhmes an das lutherische Pro me ist z. B. schwer nachzuvollziehen, weshalb Christus und Christenmensch von einer transzendenten Kollektivperson des Menschen qua Gattungswesen aufgesogen werden sollen. Die Ignorierung des empirischen Ich in seiner subjektiven, individuellen und ganz konkreten leibhaftigen Lebensgestalt geht v. a. an Böhmes sorgfältiger Vermeidung doketischer Verflüchtigungen Christi und des Christenmenschen vorbei. Böhme beachtet die Zwei Naturen - Lehre erheblich genauer, als von Pältz angenommen. Zudem löst sich bei Pältz die Gestaltthematik in allgemeine Existenzstrukturen auf. Genau das ist mit einer leibhaftigen Lebensgestalt nicht gemeint. Diese geht nämlich über die grundsätzliche Feststellung einer formalen Strukturiertheit von Existenz und Dasein noch weit hinaus. Der ontologische Jargon verhindert die Wahrnehmung der phänomenologischen Sinnpotentiale von Leib und Leben. 303 Die Herausstellung der applikativen Schrifthermeneutik als dem zen-

300 301 302 303

Ebd., S. 92. 101 (Hervorhebung durch Verf.); vgl. auch unten 2. 3. Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 399; vgl. auch S. 6 f. Vgl. Pältz, Zu Jacob Boehmes Sicht, S. 133 ff. 142 ff. 154 ff. 158 - 161. Dasgleiche Problem läßt sich an der Entwicklung Heideggers von einem Lebensphilosophen zu einem Existenzontologen zeigen; vgl. M. Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, in: Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Bd. 230, Bonn/ Berlin 1991, S. 4 - 24.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

tralen Charakteristikum der Schriftstellerei Böhmes bleibt nichtsdestoweniger Pältz' maßgebliche Entdeckung, wenngleich auch die Typologese erst noch im Hinblick auf die spezifische Gestalt der Erfahrungssoteriologie Böhmes zu untersuchen bleibt, damit diese nicht im luftleeren Raum schwebt.

1.2.3. Ergebnis Der Überblick über die Forschungsgeschichte zeigt, daß die hier vorliegende Untersuchung des inkarnationsmorphologischen Denkens Böhmes auf vielfältige Anregungen zurückgreifen kann, um das theologische Innovationspotential Böhmes in ihrem Sinne zu erheben und zu umschreiben. Die auf den ersten Blick verwegen anmutende Begriffsrhetorik des Titels erfährt angesichts der vielen ähnlichen Lösungsansätze eine besondere Plausibilität. Er verknüpft deren Anregungen zu einem integralen Zusammenhang. Da aber auch die vielfältigen Aporien der bisherigen Forschung aufgezeigt worden sind, gilt es im Rahmen dieser Zusammenfassung noch einmal affirmativ zu betonen, daß Böhme 1. tatsächlich als innovatorischer Denker in die Frühgeschichte eines Luthertums im weiteren Sinne gehört, dessen philosophische Wirkungsgeschichte er durch sein eigenwilliges Verständnis der Theologie Luthers maßgeblich mitgeprägt hat; 2. in jeder Hinsicht vom Vorwurf der Heterodoxie, sei es in der Soteriologie, individuellen Heilsaneignung oder Schriftlehre, befreit werden kann, wenn man anscheinend synergistische Äußerungen vor dem Hintergrund eines Immer schon versteht; 304 3. christozentrisch denkt; 4. inkarnationsmorphologisch auf die leibhaftige Lebensgestalt der Schöpfung, die biblische Christusgestalt und den leiblichen Habitus des gegenwärtigen Christenmenschen zielt; 5. die Schrift typologisch mit der gegenwärtigen Erlebniswirklichkeit des Menschen vermittelt; 6. Gotteslehre, Schöpfungstheologie und sonstige metaphysische Spekulationen immer nur als mythopoetische, schriftgemäße Explikationen einer grundlegenden Erfahrungssituation der Heilsgegenwart Jesu Christi auffaßt und ihnen keinen ontotheologischen, dogmatistischen oder objektivistischen 304 Ζ. B.: die Praxis pietatis des immer schon Gerechtfertigten bzw. Wiedergeborenen, da er als Kind dem Glauben immer schon eingetauft ist; oder: "inneres Wort" aufgrund der immer schon vorgegebenen Gestalt des Schriftwortes, das Böhme dann auch als exklusives Interpretationsmedium dient; oder: "Buch der Natur" aufgrund der mit der Schrift immer schon vorgegebenen Wortschöpfung; oder: gegenwärtiges Heilsgeschehen aufgrund des immer schon stillschweigend vorausgesetzten göttlichen Heisgeschehens in der Geschichte usw....

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Eigenwert zugesteht, dem abgesehen von der elementaren Korrelation zur subjektiv - leiblichen Erlebniswirklichkeit eine eigene Bedeutung zukäme; schließlich 7. unter dem Eindruck des dreißigjährigen Krieges, aber auch grundsätzlich durch die seit der Renaissance immer stärkere Wahrnehmung der elementaren Sinnlichkeit menschlichen Lebens die Ur - Angst des Menschen vor der Auflösung jeglicher leibhaftiger Sinngestalt in die ubiquitäre Bedeutungslosigkeit einer rein körperweltlichen Amorphie als Grundfrage des Neuzeitmenschen bestimmt hat, die bis heute außer von einer inkarnationsmorphologischen Erfahrungssoteriologie nicht befriedigend beantwortet werden kann.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Klärung einer fundamentaltheologischen Begriffssynthese Inkarnationsmorphologie wurde bisher als Zusammenhang von Erfahrungssoteriologie einerseits und applikativer Schrifthermeneutik andererseits definiert. Daher soll jetzt zuerst Inkarnation als das grundlegende Theologumenon der Erfahrungssoteriologie ausgewiesen und zugleich sein sachlogisches Gefälle in die Gestaltthematik aufgezeigt werden (1.3.1.)· Sodann gilt es, die moderne Morphologie der Geistesgeschichte in fundamentaltheologischer Hinsicht mit der applikativen Schrifthermeneutik zu verknüpfen, indem die typologische Methode als Königsweg zur morphologischen Applikation textueller Sinngestalten auf die leibliche Gestalt des gegenwärtigen Christenmenschen ausgewiesen wird (1.3.2.). Schließlich muß noch gezeigt werden, weshalb die typischen Bilder der biblischen Prototypik als "Sinnen - bilder" bei Böhme gerade leiblich ansprechend wirken (1.3.3.).

1.3.1. Inkarnation als lebensbildende Heilsgegenwart der Christusgestalt Im gegenwärtigen systematisch - theologischen Diskurs ist der ehemalige Lehrort der Inkarnation zu einer Leerstelle geworden. Timm spricht deshalb von einem "verwahrlosten Argument". 3 0 5 Das verblüfft angesichts des 305 Vgl. H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 170. Vgl. auch die Rückerinnerung an den theologischen Lehrort der Inkarnation für eine religionspädagogische Erschließung der bislang rein humanwissenschaftlich orientierten Religionspsychologie bei H. J. Fraas, Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen [2. Auflage] 1993, S. 34 - 37, bes. S. 34: "Die Theologie selbst bietet mit dem Gedanken der Inkarnation ein Modell, innerhalb dessen der psychologische und der theologische Aspekt des Glaubens beieinandergehalten werden können. ... Das bedeutet, daß theologische Begrifflichkeit bzw. Glaubenserfahrung einerseits und die empirische Beobachtung menschlicher Haltungen andererseits einander vermittelbar sein müssen."

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

hörfällig auf die leibhaftige Gestalt zielenden Deskriptionspotentials dieser christo- bzw. soteriologischen Vorstellung. Phänomenologen wie Schmitz und Merleau - Ponty greifen daher bereitwillig auf den Inkarnationsterminus z u r ü c k . Schmitz spricht von Inkarnation, wenn allgemeine Wahrnehmungskategorien als konkrete Eindrucksqualitäten immer schon in Situationen der menschlichen Erlebniswirklichkeit eingebettet sind. Farbarten erscheinen ζ. B. auf solche Weise inkarniert, etwa als genau dieses Rot, das die Dame in dem roten Kleid auf genau diesem einen Ball getragen hat. Von der situativ inkarnierten Haecceitas eben dieser einmaligen roten Farbart kann keine intermomentan und intersubjektiv invariable Quidditas eines Rot - an sich abstrahiert werden, ohne daß sich mit der Eindruckssituation zugleich auch die Wahrnehmungskategorie "genau dieses Rot" auflöste. Die Inkarnation von Haecceitas in den situativen Kontext der Wahrnehmung verleiht einer hinsichtlich Identität und Verschiedenheit einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme noch nicht durchschauten menschlichen Erlebniswirklichkeit durch markante Orientierungspunkte ein charakteristisches Profil, das dann physiognomisch - phänomenologisch als ein Geztige expliziert werden kann. 306 Merleau - Ponty bezeichnet den situativen Entdeckungszusammenhang von Seher und Gesichtetem insgesamt als "inkarnierte Vernunft". Inkarnation bezieht sich dabei auf das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen dem wahrnehmenden und deshalb "inkarnierten Subjekt" und dem von diesem wahrgenommenen Gegenstand. Das Beziehungsgeflecht der Perzeption heißt bei Merleau - Ponty "chair", also Fleisch. 307 Dekarnierungen der im Fleisch der Wahrnehmungssituation "inkarnierten Vernunft" im Sinne einer situationsbereinigten, d. h. intermomentan und intersubjektiv invarianten, "reinen Vernunft" hätten nur eine Auflösung der Anschauung und eine komplette Entleerung jedes nurmehr möglichen, aber nicht mehr wirklichen Begriffs zur Folge. Bei Schmitz und bei Merleau - Ponty leistet Inkarnation die Deskription eines qualitativen Umschlags von einer diffusen und beängstigend amorphen Eindruckssituation in eine gestalthafte und deshalb auch explikable Wahrnehmung eines von der chaotischen Eindruckswucht befreiten Bewußthabers. Durch die Inkarnation der Bedingungen der Möglichkeit konkreter Einzelwahrnehmungen kann er jenseits des absoluten Nu eines reinen Augenblicks 306 Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 86. 91. 93. 445 ff. 493 f. 307 Vgl. M. Merleau - Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. v. C. Lefort, übersetzt v. R. Giuliani & B. Waldenfels, in: Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Bd. 13, München 1986, dort: S. 51 f. "inkarniertes Subjekt", "inkarnierte Gedanken"; S. 183 "inkarniertes Prinzip", auch 172 178. Vgl. auch A. Métraux/ Β. Waidenfels (Hg.), "Leibhaftige Vernunft". Spuren von Merleau - Pontys Denken, in: Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Bd. 15, München 1986.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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im gegenwartsräumlich entfalteten Gegenüberverhältnis zu seiner Wahrnehmung "von Angesicht zu Angesicht", also in gleichem Maße angesprochen wie ansprechend, Stellung beziehen. 308 Die theologischen Unsicherheiten mit der Inkarnationsfigur spiegelt die von J. Hick herausgegebene Aufsatzsammlung "The Myth of God Incarnate". 309 Inkarnation wird dort als religionsgeschichtlich bedingte und aufgrund eines unumkehrbaren Fortschritts der Religionsgeschichte durch die Aufklärung zugleich auch überholte Metapher entlarvt und zur "Entmythologisierung" im Sinne Bultmanns f r e i g e g e b e n . 3 1 0 Jeder eigenen propositionalen Aussagekraft beraubt, habe sie nur noch eine historische Relevanz zur Erklärung der Abhängigkeit der frühchristlichen Metaphorik von der hellenistischen Epoche der Religionsgeschichte. Entsprechend bestimmt Dalferth Inkarnation als unglücklich gewählte Metapher für die österliche Rechtfertigungserfahrung, d. h. als deren Interpretament zweiten Grades. Sie erkläre sich als metaphysisch - ontologisches Mißverständnis der liturgisch performativen Gottessohn - Prädikation, die man unnötigerweise in dieser Richtung weiter explizieren zu müssen glaubte. 311 Trotz aller übertriebenen Vorsicht weist Dalferth völlig zurecht der urchristlichen, altkirchlichen, mittelalterlichen und reformatorischen Christologie einen primär soteriologischen Skopos zu. Entsprechendes gilt für Inkarnation, die dann nicht mehr einen sowohl metaphysisch, als auch historisch einmaligen Ausnahmefall der elementaren ontologischen Differenz von Gott und Mensch beschreibt, sondern stattdessen der frühchristlichen Gemeinde als mythologisch - metaphorisch uneigentliche Explikation zur Vergewisserung hinsichtlich der ihr in ihrem gemeinschaftlichen Lebensvollzug heilvoll gegenwärtigen Erlösergestalt diente. Die auf diese Weise existenziell begründete Inkarnationsmetaphorik beziehe sich aber eigentlich auf die in Christo geschehene Rechtfertigung der einzelnen Gemeindeglieder und nicht etwa auf deren leibliche Erlösungsgestalt. 312 308 Vgl. H. Timm, Das Gesicht der Gegenwart. Vom Facialprinzip christlicher Religionsphänomenologie, in: M. Großheim/ H. - J. Waschkies, Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 261 - 265; ders., Von Angesicht zu Angesicht. Sprachmorphische Anthropologie. 309 Vgl. J. Hick (Ed.), The Myth of God Incarnate, London 1977. 310 Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), in: H. - W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos I, Hamburg 1954, S. 15 - 48, dort emphatisch: Die Inkarnationsvorstellung (S. 15) sei genauso "erledigt ..., erledigt..., erledigt ..." (S. 17 f.) wie die Himmel- und Höllenfahrt, die Wiederkehr auf den Wolken des Himmels und der Geister- und Dämonenglaube. 311 Vgl. I. Dalferth, Der Mythos vom inkarnierten Gott und das Thema der Christologie, in: ZThK 84, 1987, S. 320 - 344, hier S. 338 ff. 343 f. 312 Ganz ähnlich hat schon Bultmann Hermeneutik als "Existenzerhellung" akzentuiert. Der postmythologische Interpret stehe in der Krisis aller irgendwie mythologischen Existenzverständnisse. In dieser Krisensituation sage ihm die Inkarnationsvorstellung aus Joh 1,

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Der älteste Fundort für die noch nicht einmal explizit so benannte Inkarnationsfigur ist die Kondeszendenzfigur (Kenosis) des Philipperhymnus (Phil 2, 6 - 11). Die der Gemeinde als κύριος gegenwärtige und mit diesem ο ν ο μ α prädizierte Erlösergestalt (2, 9 - 11 ) weist aufgrund ihrer numinosen Gegenwart eine göttliche Gestalt auf ( μ ο ρ φ ή ϋ ε ο υ ; 2, 6). Für das christenmenschliche Erleben diesseits des Himmels entspricht ihr genauso wesentlich und verbindlich eine Menschen-, ja sogar die Sklavengestalt des Gekreuzigten (μορφή δουλου εν ομοιωματι α ν ΰ ρ ω π ω ν και σ χ η μ α τ ι ως α ν ϋ ρ ω π ο ς ; 2, 7). 313 Erst diese Gestalt macht den göttlichen Erlöser für die versammelte Gemeinde eindeutig bestimmbar. Er hätte ihr in der Unvermitteltheit der göttlichen Gestalt nichts zu sagen. So aber, und nur so (διο; 2, 9), besteht die Prädikation mit dem Gottesnamen "Herr!" zurecht (2, 9 - 11). Paulus schreibt dieser von der Gemeinde im Hymnus eindeutig beschriebenen, in liturgischer Performanz vergegenwärtigten Erlösergestalt im Rahmen der Paränese seines Briefes eine ad hominem normative Verbindlichkeit zu (2, 5). Die im Christushymnus präsentierte christomorphe Lebensgestalt erscheint ihm als der Prototyp des der Gemeinde abverlangten Ethos christenmenschlicher Demut, Einmütigkeit, Liebe, Barmherzigkeit und schließlich Duldsamkeit (1, 27 - 2, 5). 314 Bei Paulus formiert die sonntäglich besungene Erlösergestalt die christenmenschliche Lebensgestalt alltäglich neu, μέχρις ου μόρφωση Χρίστος εν υ μ ι ν (Gal 4, 19). Die terminologische Identifikation der Kondeszendenzfigur des Philipperhymnus als Inkarnation des göttlichen Schöpferwortes (Gottesgestalt) in einem mitten unter den Menschen wohnenden, eingeborenen Menschengesicht (Sklavengestalt) unternimmt der Johannesprolog (Joh 1, 1 - 18; bes. 1, 14 und 1, 1 - 3 als antitypische, weil neuschöpferische Relektüre der schöpfungsgeschichtlichen Prototypen Gen 1, 26 f. und 1, 1 ff.). 315 Das geschichtliche Einmal des fleischlich inkorporierten Gotteswortes bestimmt im ersten Johannes-

14 lediglich Gott als seinen Gott zu. Bultmann reduziert Inkarnation also auf einen von ihm fälschlich sogenannten "existenzialen" Sinn. Streng genommen handelt es sich ja um eine "existenzielle Bedeutung" der Rede von der Inkarnation, nämlich um die Applikation Gottes als eines dem frommen Individuum persönlich zugewandten und deshalb relevanten Gott. Das auf das reine "Daß" der Zugewandtheit Gottes reduzierte Existenzverständnis des Inkarnationsmythos wird nicht mehr auf seine leiblichen Formpotentiale hin befragt. Das hat Bultmann schon die Kritik von Jaspers eingetragen; vgl. K. Jaspers/ R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954, S. 62 - 73, bes. S. 66 f. 71 f.; die Kritik Jaspers' S. 5 ff. 75 ff.; vgl. auch die Kritik von H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 46 ff. bes. S. 50. 313 Zu Phil 2, 6 f. vgl. auch Rom 8, 3: "... ο ϋεος τον εαυτόν υιον πεμψας εν ομοιωματι σαρκός αμαρτίας...". 314 Vgl. auch das Bild vom Leib Christi als der verbindliche Rechtsraum des neuen Gemeindeethos in 1. Kor. 12 und Rom 12. 315 Vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 99 f. 105 f.; vgl. auch ders., Der Geist der Liebe. Die Ursprungsgeschichte der religiösen Anthropotheologie (Johannismus), Gütersloh 1978, S. 103.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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brief dann auch das jeweils gegenwärtige Allemal der Gemeinde, da die den Jüngern zur Zeit der historischen Präsenz des Gottessohnes hör-, sieht- und mit den Händen fühlbare Erlösergestalt durch die apostolischen Verkündigung in der Gemeindegegenwart genauso leibhaftig spürbar vergegenwärtigt wird (1. Joh 1, 1 - 4, bes. 1, 1. 3). 3 1 6 Die inkarnierte Sinnlichkeit der andauernden Heilsgegenwart der leibhaftigen Erlösergestalt in der Gemeinde wird dementsprechend schließlich mit der atmosphärischen Erfahrungswirklichkeit der göttlichen Liebe identifiziert, wie sie im Leben des historischen Jesus ihre unverwechselbare Gestalt gewonnen hat und nun das Zusammenleben der Gemeinde prägt: 317 "Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, daß Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, daß wir durch ihn leben sollen" (ινα ζησωμεν δι' αυτόν; 1. Joh 4, 9). Athanasius 318 nimmt den erfahrungssoteriologischen und gestaltthematischen Faden urkirchlicher Christologie wieder auf. Bei ενανι3ρωπησις handele es sich nicht um eine beliebige Erscheinungsform eines Gottes auf der Erde, sondern um die dem Schöpfergott selbst wesentlich entsprechende Ebenbildlichkeit des wahren Menschen. Jesus Christus erscheine als zweiter Adam, um die gestalthafte Korrelation von schöpferischem Λογος und geschaffenem ζωον λογον εχον sowie dessen daraus resultierende Unsterblichkeit im Opfer am Kreuz zu restituieren, indem er den gefallenen Menschen als realen Menschen aufgrund seiner vollkommenen Angleichung an das Menschengeschlecht im Tode dann auch an der Φειωσις seiner leibhaftigen Auferstehung partizipieren lasse. 319 Dadurch erhielten Mensch und Welt die ihnen wesentlich eignende Lebensgestalt zurück. Aufgrund des Sündenfalls sei die Korrelation von Mikro- und Makrokosmos nämlich verborgen. In Christo und vor Ort der christenmenschlichen Lebensführung gewinne die Leibesgestalt des Menschen ihre Bedeutung als Darstellung der Weltordnung im Kleinen zurück, da die ewige Heilsgegenwart des Auferstandenen täglich den menschlichen Leib zum Tempel des ewig unzerstörbaren Lebens restituiere. 320 Inkarnation sei an der Erfahrungswirklichkeit ablesbar, denn sie wirke gegenwärtig als die von Christus gestaltete Lebenswirklichkeit, in der die Dämonen entmachtet seien, Barbaren sich zur Pax Christi bekehrten, indem sie statt Krieg Ackerbau trieben, sowie die Heiligen ihren ausgezeichneten Lebens-

316 Vgl. H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 156. 317 Vgl. H. Timm, Der Geist der Liebe, S. 114 - 123, bes. S. 116 - 118. 318 Athanasius, De Incarnatione, in: Contra Gentes and De Incarnatione, ed. & transi, by R. W. Thompson, Oxford 1971, S. 134 - 277. 319 Vgl. ebd., § 1 - 11. 20/ S. 134 - 161. 182; bes. § 54/ S. 268 (wie schon Irenäus, Adversus haereses, 3, 19, 1 auf der Basis von 2. Petr 1, 4): "αυτός γαρ ενηνόρωπησεν, i v a ημείς όεοποιηόωμεν; και αυτός εφανερωσεν εαυτόν δια σώματος i v a ημείς του αορατου Πατρός εννοιαν λαβωμεν; και αυτός υπεμεινε την παρ' ανιίρωπων υβριν iva ημείς αφιίαρσιαν κληρονομησωμεν." 320 Vgl. ebd., § 16/ S. 172. § 31/ 210. § 41 f./ S. 236 ff.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

wandel führten. 321 Das alles sei ein lebendiger Elementarunterricht des christlichen Inkarnationsglaubens. Noch besser als durch äußeres Anschauen des Corpus Christi mysticum in seinen vielfältigen kirchlichen Ausdrucksformen und durch äußere Schriftlektüre verstehe man Inkarnation qua Menschwerdung allerdings nur dann, wenn man die typische Lebensgestalt der Heiligen mimetisch am jeweils eigenen Leibe postfiguriere. 322 Bei Athanasius wird deutlich, wie Inkarnation die leibliche Wirkungsweise der göttlichen Erlöserperson und die daraus resultierende Lebensgestalt der Erlösten genau entsprechend leiblich ad hominem spezifiziert und konkretisiert. Inkarnation bestimmt also sowohl die einmalige Erlebnisgestalt des göttlichen Heils in menschlicher Leibhaftigkeit, als auch die allmalige Lebensgestalt, in der die göttliche Heilsgegenwart sich genauso unverwechselbar im individuellen menschlichen Leibesleben als christomorphe Geistesgegenwart manifestiert. In der systematischen Theologie des XX. Jahrhunderts greift Paul Tillich 323 den inkarnationsmorphologischen Faden der traditionellen Erfahrungssoteriologie wieder auf. In Anknüpfung an Schleiermachers Urbildchristologie 324 und Martin Kählers "biblischem Christus" 325 spricht Tillich vom "Realbild" 326 , in dem sich das "Neue Sein" als "die essentielle Gott Mensch - Einheit" in der konkreten menschlichen Lebensgestalt Jesu Christi so inkarniere, wie die Evangelienerzählungen diese narrativ und nicht historisch präsentierten. 327 Jesus führe als der Christus mitten unter den Bedingungen der in ein heilloses Entweder - Oder zerfallenen menschlichen Existenz ein auf den Grund alles Seins hin transparentes und insofern wahrhaft bedeutsames

321 Vgl. ebd., § 48/ S. 254. § 52/ S. 264. § 54 f./ S. 268 ff. 322 Vgl. ebd., § 56 f./ S. 272 ff. 323 Vgl. P. Tillich, Die Lehre von der Inkarnation in neuer Deutung, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Stuttgart 1970, S. 205 - 219. 324 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Bd. II., Zweite Auflage 1831 hg. v. M. Redeker, Berlin [7. Auflage] 1960, § 93/ S. 34 ff. 325 Vgl. M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, S. 68 - 74. 326 P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. II, Stuttgart [2. Auflage] 1958, S. 126; vgl. auch S. 162 zu Schleiermacher in diesem Zusammenhang. 327 Vgl. Tillich, Die Lehre von der Inkarnation, S. 208 ff. 211 - 215. 217: "Die Inkarnation ist die Erscheinung essentieller Gott - Mensch - Einheit in dem Bilde Jesu als des Christus. Die Inkarnation ist ein geschichtliches Ereignis und ereignete sich nur einmal in Raum und Zeit. Von Anfang an spielte bei dem Verständnis dieses Ereignisses historische Treue eine ganz unwesentliche Rolle gegenüber der Auffassung, daß die Erscheinung des Christus als die Inkarnation zu gelten habe. Was sich tatsächlich ereignet hat, wissen wir nicht, aber das religiöse Bild, das von diesem Ereignis geprägt wurde, hat sich als eine Kraft erwiesen, die die Existenz zu wandeln vermag. Das religiöse Bild des Neuen Seins in Jesus ist... eine Schöpfung des Neuen Seins selbst, es stellt den Sieg über die Existenz dar ..., der wirklich stattgefunden hat und nur darum das Bild schaffen konnte."

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Leben. 328 Dadurch werde die aporetische Grundstruktur der menschlichen Existenz im Fall, wie sie sich im "ontologischen Schock" schlaglichtartig in ihrer seinsvergessenen Bedeutungslosigkeit offenbare, 329 durch eine neue Seinsmächtigkeit überwunden. Das "Neue Sein", das zur Erlösung der menschlichen Existenz vor Ort der Evangelienerzählung in das einmalige Lebensbild von "Jesus als dem Christus" inkarniert sei, realisiere sich als "Realbild" immer wieder aufs Neue mit jedem christenmenschlichen Existenzvollzug. Das "Realbild" wirke als "religiöses Bild", d. h. als formkräftiges Vorbild wahrhaft bedeutsamer Lebensführung. Das "Realbild" Jesu als des Christus stifte die ihm eignende Seinsmächtigkeit allen denen ein, die von ihm veranlaßt würden, sich ihm entsprechend "real bilden" zu lassen. Der einzelne Christenmensch werde also dazu motiviert, die ihm im Bilde begegnende "Gestalt der Gnade" 330 in die Gestaltung seiner Lebensführung nachahmend aufzunehmen. So richte er sich seine Lebenswelt nach Maßgabe "protestantischer Gestaltung" ein, ohne sie in ihrer leiblich - situativen Vermitteltheit zu fetischisieren oder zu dämonisieren. 331 So könne er die Sinnenwelt nach Maßgabe eines "gläubigen Realismus" wahrnehmen. 332 Tillich stellt also Erfahrungssoteriologie auf die Basis von Inkarnation, die einmal die leibhaftige Manifestation des "Neuen Seins" im narrativen Lebensbild der biblischen Christusgestalt und allemal die Folgeinkarnationen dieses wirkmächtigen "Realbildes" in der Mimesis leibhaftig ihm entsprechender Lebensführung als "religiöse Verwirklichung", "protestantische Gestaltung", "gläubiger Realismus" oder gar als "religiöses Symbol" bedeutet. 333 Das systematische Deskriptionspotential von Inkarnation umfaßt mithin auch unter genuin modernen Bedingungen alle für die hier angestrebte Jakob Böhme Interpretation wesentlichen erfahrungssoteriologischen Komponenten: 1. die soteriologische Vergegenwärtigung des raumzeitlich sowie leiblich sinnlich (= geschichtlich) konkreten Einmal des Lebens Jesu im jeweils gegenwärtigen Allemal der wiederum raumzeitlich sowie leiblich - sinnlich (= geschichtlich) konkreten Erlebniswirklichkeit des individuellen Christenmenschen, sei es mittels einer anthropotheologischen Kondeszendenzfigur, sei es mittels einer prozeßontologischen Reintegration von Essenz und Existenz; 2. die Gestalthaftigkeit der leiblich - sinnlich erlebten Heilsgegenwart im jeweils individuellen Allemal, die der Gestalthaftigkeit der Erlöserperson im

328 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. II, S. 134 f. 159. 165 f. 188 f. 329 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 131 ff. bes. 133. 137 zum ontologischen Schock; ders., Systematische Theologie. Bd. II, S. 35 - 43 zum Fall in die Existenz; ders., Systematische Theologie. Bd. III, Stuttgart 1966, S. 45 - 129 zu Aporetik und Ambivalenzen des menschlichen Lebens. 330 Vgl. P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin [2. Auflage] 1930, S. 46 f. 331 Vgl. ebd., S. 43 - 64, den Aufsatz: "Protestantische Gestaltung". 332 Vgl. ebd., S. 65 - 87, den Aufsatz: "Über den gläubigen Realismus". 333 Vgl. ebd., S. 89 - 109, den Aufsatz: "Das religiöse Symbol".

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

geschichtlichen Einmal ihres leiblich - sinnlichen Lebensvollzuges leibhaftig entspricht.

1.3.2. Morphologie als typologische Geschichts- und Schrifthermeneutik Der folgende Gedankengang gliedert sich in drei Schritte: Zunächst wird im Anschluß an Dilthey ein Überblick über die moderne Morphologie als typologische Methode der Geschichtshermeneutik gegeben, wobei an den einzelnen Vertretern morphologischen Denkens die systematische Grundstruktur dieser Deskriptionstechnik verdeutlicht werden soll (1.3.2.1.). Sodann gilt es, einen entsprechenden Überblick für die typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik zu erstellen, um auch hier die hermeneutische Grundstruktur zu verdeutlichen (1.3.2.2.). Schließlich gilt es zusammenfassend, die eigentliche Verknüpfung beider hermeneutischer Strategien vorzunehmen, um die Jakob Böhme - Interpretation auf eine gut gesicherte und im eigentlichen Sinne fundamental - theologische Basis zu stellen (1.3.2.3.).

1.3.2.1. Typologische Geschichtshermeneutik Die morphologische Deskriptionsmethode verdankt sich Goethes Wiederaufnahme der paracelsischen und böhmeschen Signaturenlehre und deren Bearbeitung in Lavaters Physiognomik. 334 Dilthey übersetzt die goethesche Naturmorphologie 335 in eine Morphologie der Geistesgeschichte, da vor Ort des Menschen sich das Leben in eine Vielzahl philosophischer oder metaphysischer Systeme ausdifferenziere: "Das von den Menschen gelebte Leben - das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen. Die Mannigfaltigkeit der Systeme, welche den Weltzusammenhang zu erfassen strebten, steht nun mit dem Leben in offenbarem Zusammenhang; sie ist eine der wichtigsten und be-

334 Vgl. R. Piepmeier, Artikel: Morphologie I. Die Bildung des Begriffs und seine Bedeutung in den Geisteswissenschaften, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6: Mo O, Darmstadt/ Basel 1984, Sp. 200 - 205, hier Sp. 200 f. Zu Lavaters Physiognomik vgl. G. Gurisatti/ K. Huizing, Schrift des Gesichts. Zur Archäologie physiognomischer Wahrnehmungskultur, in: NZSTh 31, 1989, S. 271 - 287, bes. S. 273 ff. 276 ff.; K. Huizing, Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, S. 48 - 103. Zur naturmorphologischen Tradition insgesamt vgl. auch H. Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt/ Main 1988, S. 57 - 60. 145 - 178. 179 - 211. 335 Goethe wirkt bis in die Gegenwart hinein, z. B. auf die kunsttheoretische Anthropologie G. Gollwitzers, Die Menschengestalt. Anregungen zu einer anschaulichen Anthropologie, Stuttgart 1967, oder auf die psychiatrische Charakterologie E. Kretschmers, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, hg. v. W. Kretschmer, Berlin/ Heidelberg/ New York [25. Auflage] 1967.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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lehrendsten S c h ö p f u n g e n d e s s e l b e n " . 3 3 6 D i e zentrale T h e s e der diltheyschen L e b e n s p h i l o s o p h i e lautet also, daß das L e b e n am b e s t e n i m S p i e g e l des sprachlichen Erlebnisausdrucks genialer M e n s c h e n w a h r g e n o m m e n und verstanden werde: "In unzähligen einzelnen Lebensläufen über die Erde verbreitet, in j e d e m Individuum w i e d e r erlebt, und da es als bloßer A u g e n b l i c k der G e g e n w a r t der B e o b a c h t u n g sich entzieht, in der nachklingenden Erinnerung festgehalten, andererseits w i e e s sich in seinen Äußerungen objektiviert hat und nach seiner T i e f e in Verständnis und Interpretation vollständiger erfaßbar als in j e d e m Innewerden und A u f f a s s e n des eigenen Erlebnisses - ist das Leben in u n s e r m W i s s e n in u n z ä h l i g e n F o r m e n u n s g e g e n w ä r t i g und z e i g t d o c h überall d i e s e l b e n g e m e i n s a m e n Z ü g e . " 3 3 7 A l l e individuellen p h i l o s o p h i s c h e n S y s t e m e sind s o m i t umgekehrt auf ihren e r l e b n i s p s y c h o l o g i s c h e n "Sitz im L e b e n " 3 3 8 zu befragen, als dessen kongenialer Ausdruck sie zu verstehen sind. A l s "Weltanschauung" w e i s e n alle philosophischen S y s t e m e nämlich dieselbe erlebnispsychologische Grundstruktur auf:

336 W. Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Stuttgart/ Göttingen [4. Auflage] 1968, S. 75 - 118, mit S. 121 - 165 (Handschriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung), hier: S. 78. Die Idee zu dieser Übersetzungsleistung hat Dilthey wohl von Schleiermachers Religionsphysiognomik, die er in der fünften seiner Reden "Über die Religion" entwirft. Hier wird das erste Mal Physiognomik zu geschichtsmorphologischen Zwecken verwendet, d. h. auf das geistige Ausdruckshandeln des Menschen angewandt. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. M. Rade, Berlin o. J., hier S. 172 - 228: "Fünfte Rede: Über die Religionen". Dazu der Aufsatz: K. Huizing, Die Gesichter der Religionen und die Religion der Gesichter. Feste Züge einer Morphologie der Religionsgeschichte, in: B. Casper/ W. Sparn, Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft, Freiburg/ München 1992, S. 377 - 397. 337 W. Dilthey, Typen der Weltanschauung, S. 78. Vgl. auch S. 89. 93. 98 zu den religiösen, dichterischen und metaphysischen Genies. 338 Vgl. H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, hg. v. J. Begrich, Göttingen [2. Auflage] 1966, S. 10 - 27. Der Terminus wird von hier aus zum Zentralbegriff der sog. "formgeschichtlichen" Methode der historisch - kritischen Schriftexegese. "Formgeschichte" weist eine hörfällige Assonanz zu Diltheys "Geschichtsmorphologie" auf. In der Tat geht es seit Gunkel auch hier um nichts anderes als die deskriptive Bestimmung der biblischen Literaturgattungen, die ihrerseits Ausdrucksformen für Erlebnisse von religionsgeschichtlicher Bedeutung bilden. Einmalige erlebnispsychologische Eindruckswirklichkeiten schlagen sich in ihnen entsprechenden literarischen Ausdrucksformen nieder und können so dem Allemal der Nachwelt vermittelt bzw. mitgeteilt werden. Gunkels Ausdruck "Sitz im Leben" findet sich auch bei H. Schmitz, Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 16 f., und Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 26 - 30. Schmitz versteht Gunkels Suche nach dem "Sitz im Leben" als allfällige Konkretisierung von Husserls Ruf "Zu den Sachen selbst!" Es geht Schmitz wie Husserl um den Abbau von Scheinproblemen durch die phänomenologische Methode der Philosophie. Bestes Beispiel sei die Geschichte des Zahlbegriffs: Die meisten philosophischen Begriffsbestimmungen hätten schlicht vergessen, daß der "Sitz im Leben" der Zahl das Zählen sei.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

1. Sie basieren auf einer im Lebensverlauf situativ verorteten Wirklichkeitsauffassung, die zur Bildnahme der im Erlebnis erfahrenen Welt führt. 2. Von der Grundstimmung des Bewußthabers vorgeprägt und durch das Gefühl vermittelt, kommt es zu einer Lebenswürdigung der Wirklichkeitsauffassung bzw. des aus ihr resultierenden Weltbildes. 3. Die Lebenswürdigung artikuliert sich schließlich als Bestimmung eines Willenszieles, als zielgerichtetes Verlangen, Streben oder Handeln. 339 Dilthey resümmiert seinen Gedankengang letztlich folgendermaßen: "So sieht man den Widerstreit der metaphysischen Systeme schließlich gegründet in dem Leben selbst, der Lebenserfahrung, den Stellungen zum Lebensproblem. In diesen Stellungen ist die Mannigfaltigkeit der Systeme und zugleich die Möglichkeit in ihnen gewisse Typen zu unterscheiden angelegt. Jeder dieser Typen befaßt Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Zwecksetzung." 340 Im Extremfall kann im Sinne von Dilthey s lebensphilosophischer Morphologie der Geistesgeschichte behauptet werden, daß "das Leben von jedem Individuum aus sich seine eigene Welt" schafft, 341 so daß durch die neuzeitlich entwicklungsgeschichtliche Auflösung des von der Antike und dem Mittelalter statisch - ontologisch festgelegten "Typus Mensch" 342 schließlich vor Ort der postmodernen Gegenwart nur noch eine ubiquitär bedeutungslose "Anarchie der philosophischen Systeme" beobachtet werden kann. 343 Nichtsdestoweniger gibt es doch eine Reihe von Faktoren, durch deren Wirken es zu typischen Strukturverwandtschaften zwischen den einzelnen philosophischen Systemen kommt. Diese Strukturverwandtschaften liegen nun auf erlebnispsychologischer Ebene, d. h. auf der Ebene der Weltanschauung. 344 Die Herausbildung bestimmter Weltanschauungstypen verdankt sich 1. der "regelmäßigen Wiederholung einzelner Erfahrungen", 2. einer dem Philosophen immer schon zuhandenen "Überlieferung von Ausdrücken" 345 , 3. der gefühlsmäßigen Grundgestimmtheit sowie der fundamentalen "Lebensverfassung" des Philosophen und, unmittelbar dazugehörig, das innere Verhältnis dieser "Lebendigkeit zu bestimmten Zügen der umgebenden Kultur" 346 und schließlich 4. einem jedem Menschen aufgrund der verstörenden Erfahrung irdischer Vergänglichkeit eignenden "Willen zur Festigkeit des 339 340 341 342 343

Vgl. ebd., S. 82 - 84. Ebd., S. 98. Ebd., S. 79. Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 75: "Grenzenlos, chaotisch liegt die Mannigfaltigkeit der philosophischen Systeme hinter uns und breitet sich um uns aus." 344 Vgl. ebd., S. 84 - 87. 345 Ebd., S. 79. 346 Vgl. ebd., S. 81 f. 158.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Weltbildes, der Lebenswürdigung, der Willensleitung", 347 der seinerseits zum "Aufbau eines festen Gerüstes" 348 der menschlichen Existenz zu "einem umfassenden Lebensplan" ausgeformt wird, in den immer neue Erlebnissituationen und Welteindrücke "bildend, gestaltend, reformierend" integriert werden. 3 ^ Die eben benannten Faktoren bewirken im Verlauf der menschlichen Geistesgeschichte zunächst einmal unbewußt ein Gefälle in die individuelle Wiederholung typischer Weltanschauungen, d. h. jeweils typischer erlebnispsychologischer Zusammenhänge von Eindruckskonstellationen und dazugehörigen sprachlichen Ausdrucksformen. Der Lebensphilosoph im Sinne Diltheys hat nun die Aufgabe, dieses unbewußte Gefälle alles menschlichen Philosophierens in bestimmte Weltanschauungstypen bewußt zu machen, um durch seine hermeneutische Virtuosität eine "Philosophie der Philosophie" zu entwerfen, d. h. um das menschliche Philosophieren als elementaren Lebensausdruck hinsichtlich seiner erlebnispsychologisch motivierten und daher auch typischen Stellungnahmen zu Leben und Welt nachvollziehbar zu machen. Angesichts der aus der "Anarchie" seiner vielfältigen Formen drohenden Bedeutungslosigkeit gilt es offensichtlich, das Philosophieren mit der Bedeutsamkeit bestimmter Weltanschauungstypen auszustatten. Die Weltanschauungstypen lassen sich nun allerdings nicht a priori konstruieren, da sonst der Willkür Tür und Tor geöffnet würde. 350 Der tatsächliche Vergleich aller philosophischen Systeme ist unumgänglich. Dabei tritt der Lebensphilosoph notwendig in den "Zirkel der Klassifikation" 351 : "So sind die Induktion, welche auf die Bildungsgesetze des philosophischen Denkens gerichtet ist, und die Klassifikation, welche das Prinzip ihrer Differenzierung ausspricht, in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit; sie können sich nur in diesem Wechselverhältnis entwickeln, und jeder Versuch muß sich seines provisorischen Charakters bewußt sein. [...] Die Klassifikation kann nur

347 348 349 350

Ebd., S. 86. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 99 f. 150. 157. Leider ist Diltheys diesbezüglicher Hinweis schnell in Vergessenheit geraten. Fraas, Die Religiosität des Menschen, S. 132 - 134, zeigt wie psychoanalytische Religionstheorien aus a priori postulierten Bewußtseinsfunktionen (Jung) oder gegenläufigen Angstvektoren der Seele (Riemann) in idealtypischer Absehung von konkreten Erlebnissen vor Ort geschichtlicher Situationen religiöse Typen konstruieren. Dilthey grenzt sich mit seiner Warnung vor konstruktivistischen Einteilungen geschichtlicher Phänomene von Schleiermachers in der "Glaubenslehre" vorgenommener Einteilung der Religionsgeschichte gemäß einem a priori postulierten Entwicklungsschema ab; vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bd. I, § 7 f., S. 47 - 58. Schleiermacher drängt hier im Unterschied zu den "Reden" die konkrete "Anschauung" als Einteilungskriterium für die "Gestaltungen der Frömmigkeit", auf denen die Morphologie der Religionsgeschichte basiert, zurück; vgl. K. Huizing, Die Gesichter der Religionen, S. 387 Anm. 30. 351 Dilthey, Typen der Weltanschauung, S. 160.

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herbeigeführt werden, indem man einzelne Systeme vergleicht und das Gemeinsame derselben hervorhebt, um so zu einer infima species zu gelangen: ... Bei der grenzenlosen Zahl von Eigenschaften oder Sätzen eines Systems handelt es sich darum, die Verbindungen herauszuheben, welche für wirkliche Verwandtschaft die entscheidenden sind. Dies setzt eine Grundvorstellung über die Relation entscheidender Eigenschaften in der Struktur eines Systems voraus. Hier verfällt man erstlich dem Zirkel, daß eine solche Grundvorstellung selbst das Ergebnis von Urteilen und Induktionen ist, welche schon ein begriffliches System voraussetzt."352 Dilthey macht sich diesen hermeneutischen Zirkel nun in erlebnispsychologischer Hinsicht zunutze. Ebenso, wie jede echte Weltanschauung sich "dem Darinnensein im Leben" verdankt und "in den Stellungnahmen zu ihm" vollzieht und schließlich in einem typischen Ausdrucksverhalten sich manifestiert, 353 steht dem die Weltanschauungen beobachtenden Lebensphilosophen die Möglichkeit des "divinatorisch(en) Nacherleben(s)" 354 offen, durch das er auf dem Wege der Empathie ins "metaphysisch(e) Genie" das beobachtete philosophische System bewußt als individuellen Ausdruck eines bestimmten erlebnispsychologisch motivierten Weltanschauungstyps wiederholt und nicht mehr unbewußt die Geschichte individueller Ausdifferenzierungen dieses Typs fortschreibt. 355 Der hermeneutisch virtuose Lebensphilosoph postiert sich also im bewußten Gegenüberverhältnis zu verschiedenen, innergeschichtlich sich immer aufs Neue individuell ausdifferenzierenden Habitus, Gesten, Stilen, Typen, Charakteren oder Figuren menschlicher Stellungnahmen zum "Rätsel des 352 Ebd., S. 150 f. 160 f. 353 Vgl. ebd., S. 99. Fraas, Die Religiosität des Menschen, S. 131 f., spricht von "Einstellungstypen", die religionspsychologische Erlebnisstrukturen morphologisch konfigurieren. Derartige "Einstellungstypen" versucht auch Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bd. I, § 9, S. 59 - 64, zu profilieren. Schleiermacher unterscheidet den "teleologischen" Frömmigkeitsausdruck von einem "ästhetischen" (S. 61 f.): "Gestaltungen der Frömmigkeit, welche in bezug auf die frommen Errgungen entgegengesetzt die einen das Natürliche in den menschlichen Zuständen dem Sittlichen, die anderen das Sittliche dem Natürlichen unterordnen." (ebd. S. 59) Hierzu gehören auch die "idealen Grundtypen der Individualität" E. Sprangers, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, München/ Hamburg 1965, S. 101 - 240. Spranger unterscheidet den theoretischen Menschen (S. 101 ff.), den ökonomischen Menschen (S. 122 ff.), den ästhetischen Menschen (S. 140 ff.), den sozialen Menschen (S. 165 ff.), den Machtmenschen (S. 181 ff.) sowie den religiösen Menschen (S. 203 ff.). 354 Dilthey, Typen der Weltanschauung, S. 157. 355 Vgl. ebd., S. 98: "Das Wesen dieser Typen tritt ganz deutlich hervor, wenn man auf die großen metaphysischen Genies blickt, welche die in ihnen wirksame persönliche Lebensverfassung in gültigkeitsheischenden, begrifflichen Systemen ausgedrückt haben. Die typische Lebensverfassung derselben ist eins mit ihrem Charakter. Sie drückt sich in ihrer Lebensordnung aus. Sie erfüllt alle ihre Handlungen. Sie äußert sich in ihrem Stil. ... (S)o sind ... ihre Begriffe ... Hilfsmittel für die Konstruktion und den Beweis ihrer Weltanschauung."

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Lebens". 356 Er inventarisiert im direkten Vergleich die verschiedenen typischen Möglichkeiten zur individuellen Wiederholung und weiteren Ausdifferenzierung, indem er aufgrund seines "divinatorischen Nacherlebens" des einzelnen Systems dessen erlebnispsychologische Strukturverwandtschaft mit anderen Systemen entbirgt. Wegen des bewußten Verzichts auf ein a priori konstruiertes Inventar der Weltanschauungstypen lassen sich immer nur vorläufige, ständig zu revidierende Angaben machen. Dilthey offeriert deshalb aus seinem Wahmehmungshorizont heraus drei verschiedene Weltanschauungstypen, die die Geistesgeschichte des Abendlandes charakterisieren, d. h. morphologisch gliedern, wobei es nicht um die diachrone Abtrennung bestimmter Epochen voneinander, sondern um die synchron immer mögliche Typenvielfalt geht: 1. "Naturalismus", 2. "Idealismus der Freiheit" und 3. "objektiver Idealismus". 357 Jeder dieser drei Weltanschauungstypen setzt "Wirklichkeitsauffassung, Lebenswürdigung und Zwecksetzung" 358 in ein für ihn kennzeichnendes Verhältnis zueinander. Bedauerlicherweise sind Diltheys Typenbezeichnungen inhaltliche Abstraktionen des jeweiligen Denkstils. Trendelenburg, an den sich Dilthey anlehnte, verfuhr geschickter, da er im Vorgriff auf die Pointe von Diltheys Weltanschauungstypologie deren originäre Entstehung aus prototypischen Konstellationen der Geistesgeschichte heraus im Namen des Typs mitberücksichtigte. Wiederholt werden Typen nicht aufgrund ihrer erlebnispsychologischen Grundstruktur, die sie zweifelsohne aufweisen, sondern aufgrund ihres tatsächlichen In - Erscheinung - Tretens in einer initialen individuellen Ausdifferenzierung dieser Grundstruktur. Trendelenburg spricht daher besser von 1. "Demokritismus", 2. "Piatonismus" und 3. "Spinozismus". 359 In einer systematischen Parenthese muß daher an dieser Stelle kurz mit Carsten Colpe eine Dilthey kritisch vertiefende Begriffsklärung zum Erscheinen und Erkennen von Typen in der lebendigen Geschichte zwischengeschaltet werden. Die Pointe von Morphologie bzw. Typologie sei, "daß sich irdische oder historische Realität mittels eines Typos - Begriffs sinnvoll deuten und ordnen läßt. (Wichtig bleibt, daß Typologie semantisch auf Realitäten, nicht auf Worte -das wäre Allegorie- zu beziehen ist.)" 360 Von daher seien "Klassen" und "Typen" sorgfältig voneinander zu unterscheiden. "Klassen" genüge schon 356 357 358 359

Ebd., S. 80 f. Vgl. ebd., S. 100 ff. 107 ff. 112 ff. Ebd., S. 98. Vgl. O. Marquard, Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/ Main 1973, S. 107 - 121, hier S. 109. 360 C. Colpe, Religionstypen und Religionsklassen. Von der Verwechselung zur Unterscheidung, in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of "Religion" in Comparative Research. Selected Proceedings of the XVIth IAHR Congress 1990 in Rome, Rom 1994, S. 645 660, hier S. 650; zur Kritik an Dilthey vgl. ebd., S. 652 f.

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die schmale Abstraktionsbasis eines Merkmals (oder weniger Merkmale), die dann leicht an die unterschiedlichsten Phänomene zur Klassifikation angelegt werden könne, d. h.: sie werde summierend zur vergleichenden Zusammenfassung unter einem aus dem einen (oder wenigen) Merkmal(en) gebildeten Oberbegriff verwendet. Einen "Typ" dagegen konstituiere erst die phänomenale Erscheinung eines individuell ausgestalteten Syndroms mehrerer Merkmale. 361 Konkret auf die Geschichte bezogen bedeute das: "Das Typische ist zwar das Einmalige, aber es ist dies nur kraft seiner Wiederholbarkeit oder des mehrfachen Vorkommens der zur Typenbildung benötigten Merkmale. So zeigt ein Individuum im Laufe der Zeit wiederholt dieselben Merkmale, und deren Ensembel ist dann für das Individuum ... typisch. Gleichzeitig stellt die Zusammenfassung von Merkmalen einen bestimmten Modus von Häufigkeit dar. Insofern stehen hinter den beiden Aussagen, etwas sei typisch für etwas und etwas falle unter einen bestimmten Typ, nur zwei korrespondierende Betrachtungsweisen." 362 Die phänomenale Erscheinung eines individuell ausgestalteten Syndroms von Merkmalen sei also schon im Falle des ersten In - Erscheinung - Tretens typisch, wenn es nicht auf diesen Einzelfall beschränkt bleibe, sondern ein repräsentativer, d. h. auf Wiederholung angelegter Einzelfall sei und dadurch nicht im singulären Augenblick oder rein momentanen Nu auf- bzw. untergehe. Colpe definiert daher: "Die Begriffe des Einzigen und des Ersten - im Sinne des Initiums - gehören zusammen; aus Merkmalen des Einzigen und des Initialen wird der Prototyp gebildet. Es macht keinen Unterschied, ob die Merkmale von einem Individuum oder aus einem Kollektiv stammen. Der Prototyp existiert nur im Außen." 363 Das darf nun nicht etwa dahingehend mißverstanden werden, als ob Dilthey zu Unrecht auf erlebnispsychologische Grundstrukturen des jeweils typischen Weltanschauungsausdrucks zurückgegriffen hätte. Für Dilthey gibt es Leben und seelisches Erleben ja immer nur im Reflex sprachlicher Lebensäußerungen, die dann typisch bzw. prototypisch über ihr singuläres Erscheinen hinaus wirken. Colpe distanziert sich hier von Jungs Konzeption von "Archetypen", die in völliger Geschichtslosigkeit arbiträren Innenwelten oder gar einem ewig gleichen "kollektiven Unbewußten" zugewiesen werden. Dort weisen sie eine merkwürdige Beziehungslosigkeit zu eindeutigen und konkret sich wiederholenden Geschichtsphänomenen auf, da sie durch vielfältige Metamorphosen hindurch nur eine fiktive, weil rein transzendentale Individualität für sich in Anspruch nehmen können. 364 361 Vgl. ebd., S. 656. 362 C. Colpe, Archetyp und Prototyp. Zur Klärung des Verhältnisses zwischen Tiefenpsychologie und Geschichtswissenschaft, in: J. Assmann/ Th. Sundermeier (Hg.), Studien zum Verstehen fremder Religionen. Bd. 6: Die Erfindung des inneren Menschen, Gütersloh 1993, S. 51 - 7 8 , hier S. 66. 363 Ebd. 364 Vgl. ebd., S. 68.

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Die Deskriptionskunst des Geschichtsmorphologen besteht für Colpe nun darin, Ereignisse hinsichtlich ihrer prototypischen Aussagekraft zu untersuchen, indem dabei alles Singulare und nur augenblicklich in Erscheinung Tretende notwendig wegzulassen ist, um die typischen Züge unter dem singular Zufälligen zu entdecken. 365 Durch eine geschickte Mischung von Weglassung des zur Charakterisierung Unwesentlichen mit dem Imaginativ - Intuitiven stellt sich Max Webers "Idealtyp" als ein Spezialfall geschichtlicher Prototypen dar, da jene aus diesen, aus ihrem realen Anlaß, intuitiv erschlossen werden, nach ihrer imaginativen, weil idealisierenden inneren Ausgestaltung aber der konkreten geschichtlichen Erscheinung bewußt enthoben sind und ihr stattdessen als heuristische Fiktion oder als externer, weil rein sachlogischer Maßstab gegenüberstehen: "Jene idealtypischen Konstruktionen sozialen Handelns, welche z. B. die Wirtschaftstheorie vornimmt, sind also in dem Sinne 'wirklichkeitsfremd', als sie ... durchweg fragen: Wie würde im Fall idealer und dabei rein wirtschaftlich orientierter Zweckrationalität gehandelt werden, um so das reale, durch Traditionshemmungen, Affekte, Irrtümer, Hineinspielen nicht wirtschaftlicher Zwecke oder Rücksichtnahmen mindestens m/rbestimmte Handeln ... insoweit verstehen zu können, als es tatsächlich ökonomisch zweckrational im konkreten Fall mitbestimmt war ..., aber auch: gerade durch den Abstand seines realen Verlaufes vom idealtypischen die Erkenntnis seiner wirklichen Motive zu erleichtern." 366 Im Unterschied zum "Durchschnitts - Typus von der Art der empirisch - statistischen Typen", bei denen es nur um die Subsumption gradueller Differenzen willkürlich gewählter Merkmale an realen Beob-

365 Vgl. Colpe, Religionstypen und Religionsklassen, S. 659: "Typenbildung besteht in der Weglassung solcher Elemente (bei Phänomenen) oder Merkmale ..., die auf Grund von Wertung für weniger wichtig erachtet werden. ... Typologie setzt ... Phänomenologie voraus. Der Typus tendiert, im Unterschied zum Phänomen, zu Einmaligkeit, weil die Zusammenfassung mehrerer wichtiger Merkmale die Prägung einer Eigenart darstellt. Mehrfaches Vorkommen beim Phänomen ist Allgemeinheit, beim Typus ist es begrenzte Wiederholbarkeit. " Ohne die explizite Betonung der innergeschichtlichen Wiederholbarkeit ähnlich auch schon Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bd. I, S. 49. 62: "Und wenn diejenigen, welche sich am meisten mit Geschichte und Kritik der Religionen beschäftigt haben, weniger darauf Bedacht genommen haben, die verschiedenen Formen in diesen Rahmen zu spannen: so kann dies teils daher kommen, daß sie fast ausschließlich beim Individuellen stehen geblieben sind, teils auch daher, daß es in einzelnen Fällen schwierig sein kann, diese Verhältnisse auszumitteln und Beigeordnetes und Untergeordnetes gehörig zu scheiden und auseinanderzuhalten. [...] Hier kommt es darauf an, ob sich die Einteilung insofern bewährt, daß sie das Christentum von demjenigen, was ihm koordiniert ist, scheidet und uns durch nähere Bestimmung seines Ortes die Aussonderung seines eigentümlichen Wesens erleichtert." 366 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe hg. v. J. Winckelmann. Erster Halbband, Berlin 1964 = Tübingen 1956, S. 15; vgl. auch S. 5. 7. Vgl. auch Colpe, Archetyp und Prototyp, S. 64 f.

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achtungsgegenständen gehe, 367 verdanke sich der Idealtyp einer "mystisch bedingten, akosmistischen Haltung zum Leben": "Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind: je weitfremder sie also ... sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch." 368 Anders als bei Diltheys empathischer Wiederholung der Weltanschauungstypen durch den Lebensphilosophen kommt es bei Weber zu einer bewußten Distanzierung des Soziologen vom Mitleben und -erleben. Der Idealtyp läßt den konkreten geschichtlichen Anlaß zugunsten des "gedanklichen Experiments)" 3 6 9 hinter sich zurück, um ihm als reine Idee gegenüberzutreten. Analog zu Diltheys erlebnispsychologischer Morphologie der Geistesgeschichte will Oswald Spengler eine "Morphologie der Weltgeschichte" entwerfen, der es ebenfalls um eine Überwindung rein diachroner Einteilungsschemata gehe, aufgrund derer Geschichte "in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen 'ansetzt'", gezeichnet werde. 370 Stattdessen greift Spengler das ihm durch Herder 371 vermittelte Schema menschlicher Lebensalter in den unterschiedlichen Kulturen der einzelnen "Erdteil(e)" 372 als morphologisches Einteilungskriterium auf, um nun raumzeitlich getrennte, individuelle Kulturgestalten in ein synchrones Beziehungsverhältnis zueinander setzen zu können. 3 7 3 Dadurch werde die Monopolstellung des sinnlosen Schemas "Altertum - Mittelalter - Neuzeit" 374 auf dem abendländischen Erdteil endlich im Sinne globaler Weltgeschichte pluralisiert: "Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum. [...] (J)ede Kultur hat ihre eigne Zivilisation." 375 Eine morphologisch synchrone Betrachtung der Weltgeschichte

367 Vgl. ebd., S. 14 f. 368 Ebd., S. 15. 369 Ebd., S. 8. Zum distanzierenden Wissenschaftsgestus bei Weber im Unterschied zu Dilthey vgl. auch A. Molendijk, Wissenschaft und Weltanschauung, S. 84 - 91. 92 ff. 370 Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit, München [2. Auflage] 1973 = München 1923, S. 29. 371 Vgl. J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts, hg. v. H. D. Irmscher, Stuttgart 1992 = 1990; ders., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Textausgabe. Mit einem Vorwort von G. Schmidt, Wiesbaden o. J. Dort erst die Pluralisierung der Lebensalter nach verschiedenen Erdteilen und Nationen. 372 Spengler, Untergang. Bd. I, S. 31. 373 Vgl. ebd., S. 36: "Gleichzeitigkeit", sowie die Tabellen S. 70 ff. 374 Ebd., S. 21. 375 Ebd., S. 144. 43; vgl. auch S. 36: "Hier vergleiche man, indem man die Welt menschlicher Kulturen rein und tief auf die Einbildungskraft wirken läßt, nicht indem man sie in ein vorgefaßtes Schema zwängt; man sehe in den Worten Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall ... endlich objektive Bezeichnungen organischer Zustände; man stelle sich sie antike Kultur als in sich geschlossene Erscheinung, als Körper und Ausdruck der antiken Seele neben die ägyptische, indische, babylonische, chinesische, abendländische und

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frage nach dem "Wann" der "Zeit... innerhalb der Gesamtkultur", nach ihrem "Sinn als biographischer Abschnitt, der in irgendeiner Gestalt mit Notwendigkeit in jeder Kultur anzutreffen ist", nach der "organisch(en) und symbolisch(en) Bedeutung ihrer politischen, künstlerischen, geistigen, sozialen Formensprache". 376 Beobachtungsgegenstände der Morphologie der Weltgeschichte seien also die Ausdrucksleistungen einer jeden Kultur, deren Bedeutung sowohl auf ihre Ausdrucksfunktion in der inneren Entwicklung der jeweiligen Kultur hin befragt, als auch mit den dem Lebensalter entsprechenden Ausdrucksleistungen anderer Kulturen verglichen werde: "Die Morphologie der Weltgeschichte wird zu einer universalen Symbolik. " 377 Die "Symbolik" oder "Physiognomik" 378 kultureller Ausdrucksformen gehe davon aus, daß "sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist." 379 Aus dieser kulturpsychologischen Grundannahme ergebe sich folgende, ganz allgemeine Definition über das geschichtliche Entstehen und Vergehen individueller Kulturen: "Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig - kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. ... Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt." 380 Eine individuelle Kulturseele "inkarniert" 381 sich bei Spengler aus einem prototypischen Raumerlebnis heraus in einem "Ursymbol". 382 Dieses repräsentiere das individuell gestaltete Sicheinfinden der Seele im sie umgebenden Räume, ihr daraus immer wieder aufs Neue resultierendes Raumempfinden und Raumgestalten: "Ich will von nun an die Seele der antiken Kultur, welche den sinnlich - gegenwärtigen Einzelkörper wählte, die apollinische nennen. ... Ihr gegenüber stelle ich die faustische Seele, deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren 'Leib' die abendländische Kultur ist. ... Und fernab, obwohl vermittelnd, Formen entlehnend, umdeutend, vererbend, erscheint die magische Seele der arabischen Kultur ... mit ihrer Algebra, Astrologie und Alchymie, ihren Mosaiken

376 377 378

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suche das Typische in den wechselnden Geschichten dieser großen Individuen ..., und man wird endlich das Bild der Weltgeschichte sich entfalten sehen". Ebd., S. 36. Ebd., S. 64; vgl. auch S. 6. 70. Ebd., S. 69. 135 f. Zur Physiognomik der geschichtlichen Kulturen vgl. P. Pfaff, Hieroglyphische Historie. Zu Herders "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", in: Euphorion 77, 1983, S. 407 - 418; K. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 149 ff. Spengler, Untergang. Bd. I, S. 8. Ebd., S. 143. Zur kulturpsychologischen Analogie prototypischer Lebensalter des Menschen vgl. Herder, Auch eine Philosophie, S. 14 - 28. Spengler, Untergang. Bd. I, S. 16. Ebd., S. 225 - 227. 230.

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und Arabesken, ihren Kalifaten und Moscheen, den Sakramenten und heiligen Büchern der persischen, jüdischen, christlichen, 'spätantiken' und manichäischen Religion." 383 Im Unterschied zu Weber versucht der Morphologe der Weltgeschichte die wahrgenommenen Kulturseelentypen und ihre geschichtliche Entfaltung auf seine Situation zu applizieren, um nämlich "aus der historischen Praxis der höheren Menschheit die Quintessenz der geschichtlichen Erfahrung zu erhalten, aufgrund deren wir die Gestaltung unserer Zukunft in die Hand nehmen können." 384 Wesentlich stärker als bei Diltheys Programm einer "Philosophie der Philosophie" auf der Basis des Lebens fällt bei Spenglers Morphologie der extreme Zug in die Lebenspraxis, d. h. in die jemeine kulturelle Lebensgestaltung, auf. Dies wird mit Blick auf Jakob Böhme im weiteren Verlauf unserer Arbeit noch eine besondere Relevanz erlangen. Den Spenglerschen Untertitel "Morphologie der Weltgeschichte" nimmt Werner Elerts "Morphologie des Luthertums" auf, der es um "ein Gesamtbild ihres Gegenstandes" geht. 385 Dieses zeichnet Eiert im Zusammenhang der "Gestaltwerdung der neuzeitlichen Konfessionen", wobei ein ursprünglicher konfessioneller "Gestaltungswill(e)" oder eine "Gestaltungskraft" den "Gesamtbereich alles Menschlichen" auf individuelle Weise durchforme. 386 Die Heuristik des Morphologen frage nun rückwärtig von den theologie- und dogmengeschichtlich greifbaren, also vor allem diskursiven und propositionalen sprachlichen Ausdrucksformen 387 zur zugrundeliegenden konfessionellen "Dynamis" zurück: "Wir stehen wieder bei den Bekenntnissen, vor denen der Ursprung der gestaltenden Dynamis erst noch zu suchen ist." 388 Der morphologisch vorgehende Hermeneut des Luthertums frage nach dem organisierenden Prinzip einer Vielzahl offensichtlich zusammenhängender historischer Phänomene. Dazu bedürfe es einer spezifischen Deskriptionstechnik: "Man muß also, um das Verhältnis von Dynamis und Gestalt zu finden, die ganze Abfolge der Epochen an sich vorüberziehen lassen, geradeso wie der Histori383 Ebd., S. 234 f.; vgl. auch S. 210 - 281, wo die dem jeweiligen kulturellen Ursymbol entsprechende Lösung des "Raumproblems" an der kulturspezifischen Architektur und Wohnkultur nachgewiesen wird. Zum Zusammenhang von Philosophieren und Einstellung des Menschen in den Raum vgl. auch O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart u. a. [6. Auflage] 1990, bes. S. 81 - 96. 285 ff; K. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 172 ff., dort mit dem herderschen Akzent auf die Architektur als dem genuinen Ausdruck des eindrücklichen Raumerlebnisses. Zur Einteilung "apollinisch" für griechisch - römisch, "faustisch" für europäisch - nordisch und "magisch" für ägyptisch - arabisch vgl. Herder, Auch eine Philosophie, S. 40 ff. 86 ff. 384 Spengler, Untergang. Bd. I, S. 70. 385 Vgl. W. Eiert, Morphologie des Luthertums. Bd. I: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. II: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, München [3. Auflage ] 1965, hier: Bd. I, S. 1. 386 Vgl. ebd., S. 1 f. 387 Vgl. ebd., S. 5. 388 Ebd., S. 8.

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ker, der das Geschehene selbst ermittelt und beschreibt. Während aber dieser die einzelnen Ereignisse und Wendungen aus ihren nächstliegenden Ursachen abzuleiten sucht, unternimmt es die Morphologie, in allen Veränderungen eine Konstante zu finden, die über die Einzelzusammenhänge hinaus wirksam ist und als Dominante diese bestimmt oder mitbestimmt. Sie geht davon aus, daß die konfessionelle Konstante nicht nur Menschen, Ideen und Formen eines historischen Augenblicks beherrscht und zur konfessionellen Einheit zusammenschweißt, sondern auch die Abfolge der Epochen überdauert, ja, wenigstens möglicherweise, auch die epochalen Veränderungen des Ganzen hervorbringt." 389 Eiert sucht, wie Dilthey, nach einem genuin lutherischen Weltanschauungstyp, seiner Weltwahrnehmung, seiner gefühlsmäßigen Grundgestimmtheit und davon mitbeeinflußten Lebensbewertung und schließlich nach der daraus sich ergebenden Lebensführung und Weltbemeisterung; oder, wie Spengler, nach einer lutherischen "Seele", ihrem "Ursymbol" und dem sich darin manifestierenden Raumempfinden und -gestalten. Das historisch konkrete Luthertum lasse sich dann in allen einzelnen Erscheinungsformen immer als die diachrone Individuation einer synchronen, dafür aber dynamischen Grundstruktur begreifen, die sich immer raumzeitlich konkret "inkarniert". Die konfessionelle "Dynamis" wird schließlich mit dem "evangelischen Ansatz" Luthers konkretisiert, wie er sich aus dessen Frömmigkeits- und denkerischer Gestalt ergebe, jedoch ohne dabei eine systematische "Theologie Luthers" zu rekonstruieren. 390 Ebensowenig solle "der junge Luther" dabei einseitig überbewertet werden. 391 Stattdessen geht es Eiert um die szenisch situative Rekonstruktion eines Frömmigkeit und Denken Luthers in gleichem Maße prägenden "Urerlebnis(ses)", aus dessen Anschauungs-, Empfindungs-, Bewertungs- und Handlungsstruktur sich die Prototypik genuin lutherischer Lebensgestaltung zwischen Gott, Mensch, Welt und menschlicher Gemeinschaft als ihren Eckpunkten ablesen lasse. 392 Wie bei Dilthey geht die "Morphologie des Luthertums" aus einem "Erlebnis" hervor; wie bei Spengler zielt sie auf die gegenwärtige Erneuerung des "Urerlebnisses", indem ein besonderes Verständnis für seine bisherige Geschichtsmächtigkeit erweckt werden soll. 393 Dieser Spannungsbogen von einmaligem Erleben und immer wieder gegenwärtiger Lebenspraxis wird bei Böhme besonders wichtig werden (Vgl. unten 3. 1. und 3. 2.).

389 Ebd., S. 3; vgl. auch S. 8. 390 Vgl. ebd., S. 8: "Die Morphologie schreibt aber nicht die Theologie Luthers. Sie sucht vielmehr denjenigen Punkt ausfindig zu machen, der den ganzen Bau des nachfolgenden geschichtlichen Luthertums zu tragen vermag." 391 Zur Kritik an dieser Fiktion biographisch rekonstruierender Historiker als einer Forschungsmode des XIX. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 6 f. 392 Vgl. ebd., S. 15 ff. 393 Vgl. ebd., S. 9.

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Unmittelbar nach dem ersten Erscheinen von Elerts "Morphologie des Luthertums" 1931 bietet Joachim Wach 1932 eine religionsphilosophische Anwendung der Weltanschauungstypologie Diltheys. Hier geht es um eine Typologie der Menschenanschauungen der Religionsphilosophie Griechenlands, der drei aus der Vermittlungsleistung des Hellenismus hervorgehenden orientalischen Offenbarungsreligionen Christentum, Judentum und Islam und schließlich des philosophischen Denkens Indiens und Ostasiens. 394 Eine eigentliche Anthropologie im modernen Sinne von Anthropozentrismus habe nur das Griechentum aus dem orientalischen Kosmozentrismus hervorgebracht: 395 "(H)ier und nur hier in der alten Welt die Entstehung der eigentlich 'theoretischen Haltung', ... hier die Erreichung eines im gesamten Orient unbekannten Maßes von individueller Freiheit und Selbständigkeit, hier die charakteristische Dominanz ästhetischer Werte, hier die Entwicklung einer autonomen Ethik." 396 Diese Haltung griechischer Anthropologie wirke auf die konkrete Ausgestaltung "mittelalterlich christlich(er), jüdisch(er) und arabisch(er)" Anthropologie, indem jene diesen die polare Grundstruktur vorgebe, nämlich den Gegensatz von "Emanzipation und relativ(er) Vernunft - Autonomie des Menschen" einerseits und der Gegenbewegung des "Fideismus" andererseits. 397 Diese polare Grundstruktur werde von der orientalischen dualistischen Kosmologie verstärkt, wie das iranische und gnostische anthropologische Denken zeigten. 398 Deshalb gehöre nur hier die Kontroverse um "Selbst- oder Fremderlösung" konstitutiv zum Typ anthropologischen Denkens. 399 Einen Gegentyp zu diesen beiden europäisch - nahöstlichen Denkgestalten der Anthropologie sieht Wach in der orientalisch - mittelasiatischen Bestreitung jeglichen Eigenwerts des Menschen, wo das "Ich" einfach zum Schein erklärt wird. 400 Der Grund dafür sei "der eigentümliche Akosmismus der Inder ..., dessen universelles Traumempfinden seiner Auffassung vom Menschen und der Bestimmung des Menschen den Stempel aufprägt." 401 Dieser das In - der Welt - Sein negierende Typ von Welt- und Menschenanschauung begegne in Ostasien wieder mit Ausnahme des chinesischen Denkens, wo es den Einzelfall einer der griechischen Haltung verwandten anthropologischen Denkgesittung gebe. 402

394 Vgl. J. Wach, Typen religiöser Anthropologie. Ein Vergleich der Lehre vom Menschen im religionsphilosophischen Denken von Orient und Okzident, in: Philosophie und Geschichte. Bd. 40, Tübingen 1932, S. 7; dann im Einzelnen S. 12 ff. 20 ff. 30 ff. 395 Vgl. ebd., S. 12. 396 Ebd., S. 11. 397 Vgl. ebd., S. 20 f. 24. 398 Vgl. ebd., S. 25 ff. bes. S. 26. 28 f. 399 Vgl. ebd., S. 30. 400 Vgl. ebd., S. 30 - 33. 401 Ebd., S. 34. 402 Vgl. ebd., S. 34 - 36.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Der Überblick über die moderne Geschichtsmorphologie seit Dilthey kann hiermit abgeschlossen werden. Wie Colpes Aufsätze belegen, ist die Morphologie mit ihrer typologischen Methode zwischenzeitlich kein Thema der Geschichtshermeneutik gewesen, sondern stattdessen von der Psychologie zur Deskription übergeschichtlicher innerseelischer Komplexe verwendet worden. Colpe zeigt aber, daß die typologische Methode der Morphologie in religionswissenschaftlicher Hinsicht -wie bei Wach- eine Renaissance erlebt. 403 Aus Dilthey, Weber, Spengler, Eiert und Wach gilt es nun ein systematisches Profil der typologischen Methode der morphologischen Geschichtshermeneutik zu erstellen. Dabei werden einige Termini der Rothackerschen Geschichtsphilosophie zur systematischen Vertiefung der bisherigen Ergebnisse hilfreich sein. Folgende Grundstrukturen404 der Morphologie als typologischer Methode der Geschichtshermeneutik lassen sich somit benennen: 1. Die das Leben offenbarende Fülle geschichtlicher Eindrucks- und diese versprachlichender geistesgeschichtlicher Ausdrucksphänomene läßt sich auf das Wirken bestimmter typischer Gestaltungskräfte zurückführen. 403 E. Benz, Der M e n s c h in christlicher Sicht, in: H. - G. Gadamer/ P. Vogler (Hg.), Neue Anthropologie. Bd. 6: Philosophische Anthropologie. Erster Teil, Stuttgart 1975, S. 373 429, wendet W a c h s Typisierung religiöser Anthropologien auf die "Hauptschemata des christlichen Menschenbildes" (S. 400 ff.) an. Benz erstellt eine Morphologie der christlichen Anthropologiegeschichte. Er unterscheidet den gerechtfertigten Menschen (S. 401 f.), den neuen Menschen (S. 402 ff.), den fröhlichen Menschen (S. 411 ff.), den charismatischen Menschen (S. 414 ff.) und den vollkommenen Menschen (S. 418 ff.). Ähnlich wie bei Sprangers "idealen Grundtypen der Individualität" geht es Benz offenbar um "Einstellungstypen" auf die christliche Welt. Auch im Bereich der Literaturwissenschaft hat man sich wieder der Typologie und ihrer Herkunft aus der biblischen Hermeneutik des Christentums angenommen; vgl. V. Bohn (Hg.), Typologie, in: Poetik. Internationale Beiträge. Bd. 2, Frankfurt/ Main 1988. 404 Vgl. zu dieser Z u s a m m e n f a s s u n g ausführlich E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, Darmstadt 1971 = München/ Berlin 1934 mit Korrekturen von 1952. Dort findet sich eine umfassende deskriptive Vertiefung Diltheys durch Begriffe wie "Lage" zur leiblich - situativen Verortung des weltbildkonstituierenden Erlebens, gewissermaßen als Bühne für dessen Situationsdramatik (S. 43 ff.); wie "Haltung" als unmittelbarer adäquater leiblicher Ausdruck (und insofern bereits Explikation, wenn auch hier nur mit den Mitteln der Körpersprache) der im Eindruck wahrgenommenen "Lage" (Zur leiblichen "Haltung" gehört im weiteren Sinne als verfestigte weltanschauliche "Prägung" und ihr entsprechender "Lebensstil" dann auch ein bestimmter Sprachgebrauch oder Rede- bzw. Schreibstil; vgl. S. 39 ff. 43 ff. 55 ff. bes. 67. 68 ff.); "Einstellung" für kulturspezifische W a h r n e h m u n g s w e i s e n , die ihrerseits auf verfestigten "Haltungen" oder "Lebensstilen" basieren und über den biologisch - biotopisch feststellbaren "Bauplan" der Sinnesorganisation sowie eine nur augenblickliche willkürliche "Interessenahme" weit hinausgehen (S. 84 ff. bes. S. 91. 94. 99 ff.; vgl. auch: E. Rothacker, Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, Bonn 1966, § 10/ S. 36 ff.); und schließlich wie "Prägung" zur traditionalen Vermittlung eines Typs von "Haltung" bzw. eines typischen "Lebensstils", d. h. zur Vermittlung des lagespezifischen Einmal einer Haltungsausbildung mit dem Fortwirken dieser Bildung als alternai möglichem Habitus zur Bemeisterung von neuen, aber verwandten Lebenslagen und - Situationen, in denen sonst erst eine völlig neue Haltung erfunden werden müßte (S. 68 ff.).

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2. Diese vitaldynamischen Gestaltungskräfte sind in einer prototypischen Konfiguration von lebendigem Ein- und sprachlichem Ausdruck vor Ort des genialen bzw. ingeniösen menschlichen Lebensvollzugs leiblich - geschichtlich in Erscheinung getreten und können deshalb auch expliziert werden. An sich sind sie nicht greifbar - weder durch eine unmittelbare Selbstexplikation des Lebens im Gefühl, noch durch eine metaphernfreie Begriffssprache im menschlichen Ingenium qua reiner Vernunft, also abgesehen von ihrer Inkarnation im leibhaftigen und geschichtlich situierten Lebensvollzug. 3. Die prototypische Konfiguration von Ein- und Ausdruck im leiblich geschichtlichen Lebensvollzug einer menschlichen Person, d. h. die konkrete Lebensgestalt, muß durch die Kunst des Porträtierens, d. h. durch geschicktes Weglassen, 405 von allem Singulären befreit werden, um ihre Prägekraft für Wiederholungen, d. h. für individuelle Neuausformungen ihrer Prototypik, herauspräparieren zu können. 4. Dann lassen sich andere geistesgeschichtliche Ausdrucksphänomene dieser prototypischen Lebensgestalt als deren individuelle Reinszenierung zuordnen. 5. Die prototypische Lebensgestalt wirkt nicht nur zur Strukturierung der ansonsten amorphen Fülle geschichtlich abständiger Ausdrucksphänomene, sondern auch zur situativen Gestaltung kontingent gegenwärtiger Eindrucksphänomene, in denen sich der Mensch plötzlich dem vitalen Andrang des Lebens ausgesetzt sieht, sich aber aufgrund dessen augenblicklicher Gestaltlosigkeit erst hinsichtlich dessen "Bedeutsamkeit" im Sinne einer personal zu verantwortenden leibhaftigen "Stellungnahme" besinnen muß. 406 Das vitale, aber amorphe Eindrucksphänomen wird im Gegenüberverhältnis zu einer prototypischen Kulturgestalt selbst kultiviert, d. h. als ein in bestimmter Hinsicht "bedeutsames" Erlebnis ansprechbar. Morphologie bietet also die Möglichkeit zur soteriologischen Vergegenwärtigung leiblich - geschichtlicher Erlebnisse, durch deren prototypisches Gestaltungsangebot die Amorphie der vital andrängenden Gegenwart überwunden werden und der von der "primitiven Gegenwart affektiv betroffene" Mensch dieselbe entfalten kann, um so seine Freiheit qua Gestaltungsspielraum zurückzugewinnen. 407 6. Dilthey, Spengler und Eiert leiten aus der soteriologischen Gestaltungskraft der wiederholenden Wahrnehmung leiblich - geschichtlicher Prototypen 405 Vgl. Eiert, Morphologie. Bd. I, S. 11. 406 Vgl. E. Rothacker, Zur Genealogie, § 12 f./S. 43 - 48. 407 Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 5 ff. 48 ff. 51 ff. 53 f. 153 ff. 156 ff 158 ff.: In der "primitiven Gegenwart" sind die fünf Aspekte "entfalteter Gegenwart", "Ich", "Hier", "Dieses", "Dasein" und "Jetzt", in einem prädimensionalen Augenblick punktuell eingeschmolzen. Sie korrelieren der angstvollen Enge des Leibes, in der der Mensch vom Schreck gelähmt ist. Menschliches Leben im Vollsinne strebt nach "personaler Emanzipation" aus solchen Augenblicken heraus. Dafür bedarf es leiblicher wie sprachlicher Gestaltungskraft qua Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung (vgl. S. 5).

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eine morphologische Bewältigung der Lebenspraxis ab. 408 In einer "Philosophie der Philosophie" soll sich der Mensch frei von unbewußten Fortschreibungen auf den für ihn besten Weltanschauungstyp besinnen, d. h. im Einzelnen ζ. B.: Die "faustische Seele" soll sich anhand der analogen Lebenserfahrung anderer Kulturseelen, deren Gestaltungskraft und konkreten Ausgestaltungen über ihre eigene gegenwärtige Situation und mögliche Zukunftsgestaltung klar werden, oder ζ. B.: Der moderne Mensch soll sich das unbewußte Fortwirken des lutherischen Konfessionstyps verdeutlichen und diesen bewußt zur ureigenen Lebensgestaltung revitalisieren. Das elementare Problem einer soteriologischen und normativ lebenspraktischen Wendung der rein geistesgeschichtlichen Morphologien liegt in der Frage, welche lebendige Konfiguration typischer Gestaltungskräfte dem Menschen das Gelingen wahrhaften Lebens zurecht verheißt. Die kulturell verfestigten "Lebensstile" bedeuten nur zu oft trotz aller bewußten Wahrnehmung die unbewußte Fortschreibung höchst unvollkommener Lebensgestalten. In ihnen fühlt sich der betroffene Mensch entweder selbst im weiteren Lebensvollzug zunehmend unbehaglich, da er seine gegenwärtige leibliche Eindruckswirklichkeit und die geistesgeschichtlich vorgegebene sprachliche Ausdruckswirklichkeit auseinanderfallen sieht und nicht mehr virtuos miteinander vermitteln kann, oder aber er bereitet anderen mit seinem unangemessenen Ausdrucksverhalten zunehmend Unbehagen, wenn nicht gar Schaden. Es stellt sich also die Frage nach einer prototypischen Korrelation von unwillkürlich erlebter Gegenwart (Eindruckswirklichkeit qua "Lage", "Situation") und in der Geschichte willkürlich versprachlichter Lebensgestalt (Ausdruckswirklichkeit qua "Haltung", sich herausbildendem "Lebensstil"), bei der einem Menschen oder einer Menschengruppe die virtuose kulturelle Vermittlungsleistung von unmittelbarem Eindruck und mittelbarem sprachgeschichtlichen Ausdruck tatsächlich gelungen ist, so daß auch nachfolgende Generationen sich die Möglichkeit dieser prototypischen Vermittlung von Einund Ausdruckswirklichkeit auf dem Wege einer mimetischen Wiederholung aneignen können. Auf der Ebene dieser prototypischen, weil einmal konkret gelungenen Korrelation von Geschichte und Gegenwart wird zum einen das unmittelbare Gegenwartserleben zu einer sich einer bestimmten "Einstellung" verdankenden "Merkwelt" ausgebildet und zum anderen die mittelbare sprach408 Der spöttische Degout des sich im sicheren Besitz einer jede vitale Gegenwart bewältigenden reinen Begriffssprache wähnenden oder doch heroisch danach strebenden, aufgeklärten und völlig desillusionierten Menschen, den Rainer Piepmeier hier glaubt in Anschlag bringen zu müssen, unterschätzt sowohl die realistische Problemwahrnehmung als auch -lösungskompetenz der modernen Morphologen, die deshalb keineswegs samt und sonders einfach als Antimodernisten denunziert werden können; vgl. R. Piepmeier, Artikel: Morphologie. I., Sp. 202 f. Demgegenüber halten O. Hausen und J. Villwock zurecht das Gegenteil fest: "Typologie ist also eine Figur kritischer Rezeption." (Einleitung, in: V. Bohn (Hg.), Typologie, S. 7 21, hier S. 9).

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geschichtlich vorgegebene Lebensgestalt als kulturell verfestigter "Lebensstil" für die Gestaltung der leibhaftig empfundenen Gegenwart fruchtbar gemacht. Die prototypische Korrelation von Geschichte und Gegenwart ist somit selbst nichts anderes als eine vollkommen gelungene Reinszenierung einer sprachkulturell vorgegebenen Prototypik. Das Christentum beantwortet diese Frage nach einer prototypischen Korrelation von geschichtlichem Typ und gegenwärtig sich bildendem Antityp mit der biblisch immer schon vorgegebenen Korrelation von von alttestamentlicher Verheißung im adamitisch gefallenen Ebenbild und neutestamentlicher Erfüllung im zur geschichtsbildenden Wirkmächtigkeit auferstehenden Lebensbild Jesu als des Christus. Diese innerbiblische Korrelation bildet die Folie typologischer Exegese, die schließlich die gesamte innerbiblische Korrelation ihrerseits als prototypisch auf das Leibesleben des gegenwärtigen Christenmenschen appliziert. 409 Darum geht es im folgenden Abschnitt.

1.3.2.2. Typologische Schrifthermeneutik Abgesehen von der Frage, ob schon der historische Jesus selbst oder erst die literarisch aktive Urgemeinde das AT typologisch auf den Christus oder die eigene Situation hin deutet, d. h. den Christus oder die eigene Situation im wiederholenden Nachzeichnen typischer Erzählungen des AT als eigenständige Gestalten wahrnimmt, 410 handelt es sich bei der Typologie grundsätzlich "um eine alte und große Tradition der Theologie", die "in der Geschichte der Hermeneutik ihren bedeutenden Platz" zurecht innehat. 411 Durch Aufklärung

409 Vgl. F. Ohly, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: V. Bohn (Hg.), Typologie, S. 22 - 63, bes. S. 30: "Die biblische Typologie als Denkform hatte eine Kraft der Ausstrahlung, die in die Altzeit und die Neuzeit weithin ausgriff. Im Hinblick auf das corpus Christi mysticum war es theologisch unbedenklich, die Zeit der antitypischen Erfüllungen über Christus und das Neue Testament hinaus in der Ecclesia fortleben zu lassen, deren Liturgie und deren Sakramente, deren Einrichtungen und Geschichte Altzeitliches in neuzeitlichen Überhöhungen wiederzufinden gaben." Vgl. ebd., S. 42 ff. zur Individualisierung der zunächst ekklesiologischen Denkform durch die Reformation - am deutlichsten im angelsächsischen Puritanismus; dazu auch N. Frye, Typologie als Denkweise und rhetorische Figur, in: ebd., S. 64 - 96, hier bes. S. 73 f. 410 Vgl. L. Goppelt, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939 = [Nachruck] Darmstadt 1973, S. 240 (Goppelt plädiert für Jesus selbst als typologischen Exegeten); W. Eichrodt, Ist die typologische Exegese sachgemäße Exegese?, in: ThLZ 81, 1956, Sp. 641 - 654, hier Sp. 645. 411 Vgl. K. Gründer, Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns "Biblische Betrachtungen" als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, in: Symposion. Bd. 3, Freiburg/ München 1958, S. 134. Vgl. auch ebd. S. 117 - 133 zu einer umfassenden Geschichte der Typologese sowie L. Goppelt, Typos, S. 1 - 18; E. Fascher, Artikel: Typologie. III: Auslegungsgeschichtlich, in: RGG [3. Auflage]. Bd. 6: Sh - Z, Tübingen 1962, Sp. 1095 - 1098; zur patristischen Typologese vgl. M. Schmidt/ C. F. Geyer (Hg.), Typus, Symbol, Allegorie bei den öst-

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und historische Schriftkritik wird die Typologie als hermeneutische Methode marginalisiert, da eine Analogie zweier historischer Ereignisse nur auf die ubiquitäre Gültigkeit der naturwissenschaftlichen Kausalitätsgesetze in Physik, Chemie, Biologie und Psychologie reduziert wird. 412 Die Entlarvung des "zeitgebundenen Schriftbeweises" führt schließlich zu einer grundsätzlichen Infragestellung eines biblischen Gesamtzusammenhangs, zu einer historistischen Trennung von AT und NT. 4 1 3 Erst um die Mitte des XX. Jahrhunderts, angesichts der deutsch - christlichen Ablehnung des AT, erfährt die Frage nach dem hermeneutischen Verhältnis der beiden biblischen Testamente eine Neuauflage und in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der innerbiblisch bereits feststellbaren typologischen Exegese des AT im NT. 4 1 4 Abgesehen von der zeitgeschichtlichen Problemlage will die Neuauflage der typologischen Exegese im XX. Jahrhundert ein theologisches Geschichtsverständnis erreichen, das "den Historismus ebenso zu überwinden sucht wie die Flucht aus der Geschichte in die Geschichtlichkeit der Existenz, die hinter der existenzialen Interpretation steht." Nur durch die Äquidistanz zu jener Skylla und dieser Charybdis werde "deutlich, daß geschichtliche Vorgänge eine Bedeutung in sich tragen, die über das bloße einmal geschehene historische Faktum hinausweist auf weiteres Geschehen und nicht in einem Existenzverständnis eingefangen werden kann."415 Das typologische Denken der Bibel

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liehen Vätern und ihren Parallelen im Mittelalter. Internationales Kolloquium Eichstädt 1981, in: Eichstädter Beiträge. Abteilung Philosophie und Theologie. Bd. 4, Regensburg 1982; zur mittelalterlichen Ubersetzung der Typologese in die lateinische Figuralhermeneutik vgl. E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/ München [5. Auflage] 1971 = Bern 1946. Vgl. G. v. Rad, Typologische Auslegung des Alten Testaments, in. ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament. Bd. II, hg. v. R. Smend, in: ThB. Bd. 48, München 1973, S. 272 - 288, hier S. 276 - 278 zur von Troeltsch zu verantwortenden "verhängnisvollen Reduktion" aller geschichtlicher Ereignisse und ihrer sprachlichen Ausdrucksformen auf die bloße Faktizität. Zur Kritik historisch unangemessener Rückverweise des NT auf das AT vgl. L. Goppelt, Apokalyptik und Theologie bei Paulus, in: ThLZ 89, 1964, Sp. 321 - 344, hier Sp. 321, und Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 646. Goppelt, Typos, S. V. 1 ff. Goppelt, Typos, S. 2, schreibt 1939 in unmittelbarer Auseinandersetzung mit E. Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums; Tübingen 1936. Vgl. dazu auch Hirsch, Das Wesen des Christentums, S. 58: "Die Frage des alten Testaments ist erst uns heute schwierig geworden, weil wir uns der Einsicht nicht mehr weigern können, daß es das heilige Buch einer nichtchristlichen Religion ist: wir können die fremdartigen Elemente darin nicht einfach wegdeuten. Dadurch wird unsere Stellung zu ihm klar antithetisch." Zur Renaissance der Typologie als Thema der modernen, gesamtbiblischen Schrifthermeneutik in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem III. Reich vgl. Eichrodt, Ist die...?, Sp. 641. Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 340. Gemeint ist offensichtlich Bultmanns existenziale Interpretation biblischer Texte; vgl. zur Bultmann - Kritik auch ebd., Sp. 322 sowie v. Rad, Typologische Auslegung, S. 288. R. Bultmann, Ursprung und Sinn der Typologie als hermeneutischer Methode, in: ThLZ 75, 1950, Sp. 205 - 212, versucht im Sinne seiner existenzialanalytischen Entmythologi-

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soll also in geschichtsphilosophischer Hinsicht perspektiviert werden. Der strukturelle Zusammenhang von Typologie und Geschichtshermeneutik zeichnet bereits die atl. und ntl. Rückverweise auf typische Erzählungen aus. Es geht im Unterschied zur mythologisch - spekulativen Typologie der altorientalischen Kosmologie mit deren räumlicher Konfiguration von himmlischen und irdischen Gestalten bei den biblischen Typologien immer um die zeitliche Konfiguration ur- und endzeitlicher Ereignisse. 416 Die Zielvorgabe der Untersuchung typologischer Schrifthermeneutik im XX. Jahrhundert verdichtet sich also zur These: "(D)ie Typologie ist beides, ist Übergang und Klammer zwischen Hermeneutik und Geschichtstheologie und jedenfalls eine ausgezeichnete Art des Geschichtsdenkens." 417 Ihr theoretisches Profil besteht aus folgenden charakteristischen Zügen: 1. Typologie und Allegorie sind fundamental voneinander unterschieden. Die Allegorie ersetzt den ursprünglichen Wortlaut eines Textes durch einen neuen Wortlaut, indem sie behauptet, eigentlich stünde dieser neue anstelle jenes ursprünglichen. Der Text sage mit seinen Worten nicht das, was er eigentlich unausgesprochen meine: "Der Inhalt des hier dem Text aufgenötigten Zeugnisses liegt dabei für den Exegeten schon vorher fest, und die allegorische Auslegungskunst besteht in der Herstellung von Beziehungen zwischen ihm und dem Text." 418 Es handelt sich um ein innersprachliches, rein lexikalisches Ersetzungsverfahren ohne Rücksicht auf die beschriebene Wirklichkeit vor dem Text, die durch eine andere, unter dem Text vermeintlich verborgene, rein innerliche und übergeschichtliche Realität vollkommen ersetzt wird. Der Wortlaut des ursprünglichen Textes wird durch den Wortlaut des Subtextes ersetzt und die Ersetzung als einzig möglicher Sinn behauptet: "Die Allegorese klammert sich an den Wortlaut; denn sie deutet die Worte metaphorisch, ohne den Wortsinn oder gar die Geschichtlichkeit zu berücksichtigen, vielmehr meist um sich von beidem zu distanzieren." 419 Die Typologie dagegen nimmt den Wortlaut des Textes in seiner Eindeutigkeit, ohne eine Mehrdeutigkeit zu postulieren, da es ihr gerade um das durch diesen Text eindeutig beschriebene geschichtliche Ereignis geht, mit dessen Einmaligkeit die Möglichkeit einer strukturanalogen Wiederholung steht und fällt. "Die Typo-

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sierung 1. nachzuweisen, daß die Typologie dem altorientalischen zyklischen Zeitdenken einander ablösender Weltzeitalter entstammt und das biblische Geschichts- bzw. Existenzverständnis verfälscht, und 2. nach der religionsgeschichtlichen Erklärung der Herkunft typologischen Denkens zu zeigen, daß es sich bei typologischer Exegese um "Kunststücke" handelt, die der Willkür des Typologen entspringen (vgl. bes. ebd., Sp. 212.). v. Rad, Typologische Auslegung, S. 286, verwahrt sich deshalb energisch gegen den Vorwurf der "Geheimniskrämerei". Zur grundsätzlichen Kritik an R. Bultmanns Hermeneutik vgl. P. Ricoeur, Die Hermeneutik Rudolf Bultmanns, in: EvTh 33, 1973, S. 457 - 476. Vgl. G. v. Rad, Typologische Auslegung, S. 273 f. Gründer, Figur und Geschichte, S. 133. Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 643. Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 328 f.

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logie steht mit dem Postulat der Eindeutigkeit des Schriftsinns als Schriftsinn nicht in Widerspruch. Die Allegorie ... ger(ät) eo ipso in diesen Widerspruch. Bei der Typologie aber ist das Verhältnis von Buchstaben, Wort einerseits und der dadurch bezeichneten Sache oder dem darin berichteten Geschehen andrerseits, eindeutig. Der Schriftsinn als solcher wird in seiner ungeschiedenen Fülle und Einheit vorausgesetzt und auf seine 'Eindeutigkeit' oder 'Mehrdeutigkeit' gar nicht befragt." "(Vieldeutig, mehrsinnig" ist niemals der Text, sondern "die im biblischen Text dargestellte Wirklichkeit selbst" qua mehrfacher strukturanaloger Wiederholung. 420 Die Typologie weist dieselbe hermeneutische Grundstruktur wie das Bild auf. Es will in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit als dieses Bild in "spielerischer Identifizierung" für das von ihm Dargestellte genommen werden, das anders schlechterdings überhaupt nicht in den Blick käme. 4 2 1 Die hermeneutische Grundstruktur der Allegorie ignoriert dagegen die eigenständige Vermittlungsleistung des Bildes und behauptet stattdessen dessen beliebige Verfügbarkeit für eine dem Eingeweihten immer schon unmittelbar gegebene Ge-

4 2 0 Gründer, Figur und Geschichte, S. 134 f. Vgl. auch Goppelt, Typos, S. 241: "Es kommt auch darin zum Ausdruck, daß man nicht daran denkt, das ntl. Heil in den atl. Typus hineinzutragen; dieser behält seine Eigenständigkeit als von Gott gesetzte Ordnung und kann gerade deshalb als echter Typus dienen." 421 Vgl. Gründer, Figur und Geschichte, S. 145: "Der ontologische Sinn des Bildes ist das Zeigen. ... Dieser ursprüngliche und innere Doppelsinn des Bildes: sich und etwas 'anderes' zu zeigen, ... (macht) deutlich, daß im Zusammenhang des Bildbegriffs von 'eigentlich' und 'uneigentlich' nicht die Rede sein kann. So sehr das Bild als Abbild das Sein in und aus dem Urbild hat, so ... hat es seine positive Bestimmung darin, auf das Urbild zu weisen und sich als aus ihm und durch es seiend zu zeigen und gerade dadurch zu sich selbst zu kommen." Ohne die platonisierende und hegelianisierende neuthomistische Diktion Gründers vgl. H. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 200: "Wer sich unbefangen in ein Bild vertieft und nicht bei ästhetischer und kritischer Reflexion aufhält, sieht nicht das Bild als Bild, sondern als das Abgebildete, z. B . als das Gesicht des geliebten oder gehaßten oder gefürchteten oder einfach interessanten Menschen, in dessen Zügen er zu lesen versucht, oder als schöne Landschaft, der er sich träumerisch erschließt." Das gilt in besonderem Maße vom Lesen, wenn anders der Leser nicht bei dessen drucktechnischer oder stilistischer äußerlicher Erscheinungsform stehenbleibt und von dort aus allegorische Mutmaßungen über einen erdachten Inhalt anstellt; vgl. ebd., S. 232: "Noch deutlicher ist das Entsprechende beim Lesen. Man sagt mit Recht, daß der Leser einer spannenden Nachricht oder Geschichte kaum die Buchstaben ansieht; er weiß über das Aussehen des Textes vielleicht nur dürftig Bescheid, weil er lesend ganz bei der Sache ist, aber er hat doch nichts vor sich als die Buchstaben. Er versteht also den Text, indem er die Buchstabenfolge als das nimmt, was sie ihm mitteilt, ohne aber die Mitteilung mit dem Mitgeteilten zu verwechseln oder auch nur zu fingieren, die Buchstabenfolge sei das tolle Treiben im wilden Westen oder die Haupt- und Staatsaktion, wovon er vieleicht gerade liest." Schmitz benennt das auch bei der Typologie auftretende Wahrnehmungsphänomen als "spielerische Identifizierung"; dazu ausführlich ebd., S. 196 - 2 0 4 ; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 174 - 194; ders., Das Göttliche und der Raum, in: ders., System der Philosophie. Bd. III/ 4, Bonn 1977, S. 4 5 3 - 488.

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heimerkenntnis. 422 So verbindet sich die Allegorie mit einer grundsätzlichen Entwertung der Bedeutungsautonomie von Geschichte zugunsten einer platonischen Zwei - Stufen - Ontologie aus einer fremdbestimmten sinnlich - materiellen Welt und der wirklich autonomen, weil reinen Ideenwelt. 423 Die übertriebene Bindung der Allegorie an den Textbuchstaben bildet dazu keinen Widerspruch, sondern bietet nur den äußeren Anlaß zu "ihre(r) ungezügelten Freiheit der geistigen Deutung. Die Typologie dagegen zeigt sich erstaunlich frei von der Bindung an Wort oder Buchstaben, dagegen viel gebundener an den geschichtlichen Sinn. Es geht ihr ja bei ihrer viel stärkeren Geschichtsbezogenheit um die Anknüpfung an Fakten und nicht um spirituelle Wahrheiten. Die Allegorie ist ein viel rationaleres Phänomen." 424 2. Die Geschichtsbezogenheit der biblischen Typologie bezieht sich nun nicht etwa auf beliebige Ereignisse, sondern immer auf ein geschichtlich bestimmtes Handeln Gottes. Dennoch steht weder die singulare Faktizität, noch die kontingente Überwirklichkeit bzw. Wunderhaftigkeit im Mittelpunkt des Interesses einer typologischen Interpretation derjenigen geschichtlichen Ereignisse, die als Gotteshandeln aufgefaßt werden. Die Wahrhaftigkeit dieser erfahrungstheologischen Wahrnehmungsweise ist immer schon heilsgeschichtlich präformiert und insofern von der biblischen Tradition als der Erlebniswirklichkeit entsprechende religiöse Deutemöglichkeit verbürgt: "Und dem entspricht, daß die als Typen verwendeten Größen der alttestamentlichen Heilsgeschichte keineswegs nur als nuda facta in Erinnerung gerufen werden, die in gespensterhafter Weise aus dem gewöhnlichen Fluß des Geschehens auftauchend hier eine unwirkliche ... Existenz besitzen. Es geht vielmehr um ganz konkrete Dinge aus der alttestamentlichen Geschichtserzählung, die gerade um ihrer realen geschichtlichen Funktion willen als wertvolle Bezeugung des göttlichen Geschichtswaltens erscheinen. Nicht schon die reine Tatsächlichkeit dieser Personen, Ereignisse und Ordnungen des Alten Testaments macht sie wegen einer daran entdeckten Ähnlichkeit mit entsprechenden neutestamentlichen Größen als Typen geeignet, sondern der durch sie dargestellte, verbürgte und verwirklichte Verkehr Gottes mit seinem Volk, d. h. ihre religiöse oder theologische Bedeutung in der alttestamentlichen Geschichtsoffenbarung gibt ihnen die Bedeutung gottgewirkter Vorausdarstellungen wichtiger Momente des in Christus erschienenen Heils." 425 Die gegenwärtigen Ereignisse offenbaren nämlich niemals unmittelbar aus sich selbst heraus ein typisches Gottes422 Vgl. Gründer, Figur und Geschichte, S. 146: "(D)ie Allegorie ... kann gedacht werden als Resultat eines Abstraktionsprozesses: Die konstitutiven Momente des Bildes werden isoliert und ver - äußert... zur an sich bezugslosen Andersheit einer zweiten Sache, die ihr Sein nicht wesentlich und von Grund auf als Bild hat, sondern dies nur beiläufig ist. ... Umgekehrt ist der 'Sinn' der Allegorie 'rein als solcher' faßbar und darum auch beliebig anders darzustellen." 423 Vgl. ebd., S. 142; auch Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 643 f. 424 G. v. Rad, Typologische Auslegung, S. 275. 425 Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 643. Vgl. auch ebd., Sp. 650.

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handeln. Sie gewinnen ihre erfahrungstheologische Bedeutung erst durch eine in der vergangenen Geschichte immer schon sprachlich ausgewiesene Bedeutungskraft, auf deren Typisierung der damaligen Wahrnehmungswelt jetzt bei der gegenwärtigen Explikation des neu Erlebten in antitypischer Wiederholung zurückgegriffen wird: "Die christliche Botschaft teilt nicht geschichtslose Wahrheiten mit, sondern verkündigt Ereignisse, und diese sind seit je als worthafte verstanden worden: die Schöpfung ein Sprechen, die Menschwerdung eine Herabkunft des λογος." 426 3. Die sprachlich zu Gebote stehende Bedeutungskraft geschichtlicher Ereignisse als prototypisches Gotteshandeln basiert ihrerseits auf einer "föderaltheologischen" Grundstruktur der biblischen Geschichtstradition. Der biblisch vergegenwärtigte Gott stiftet den einzelnen geschichtlichen Ereignissen eine worthaft ansprechende und somit auch zukünftig verbindliche, d. h. die auch jetzt noch andauernde Heilsgeschichte bildende, Bedeutsamkeit ein: "Die Typik ist eine diathetische Ordnung." 427 Typologische Entsprechungen von Geschichte und Gegenwart basieren also auf den biblischen Erzählungen der verschiedenen geschichtlichen Bundesschlüsse Gottes mit den Menschen seines erwählten Volkes. Die episodenhafte Geschlossenheit und szenische Situationsdramatik des erzählten Bundeshandelns Gottes machen die implizite föderaltheologische Grundstruktur der bisher erlebten Geschichte explizit, indem die erlebte Vergangenheit erfahrungstheologisch gedeutet und auf die in der Erzählung vergegenwärtigte Stiftung des Bundes als deren Vorgeschichte bezogen wird. Auf der Bühne der biblischen Bundesschlußerzählungen sind Gott und Mensch in ein worthaft ansprechendes Verhältnis zueinander gesetzt, das die geschichtliche Erfahrung des Menschen als solche immer erst im Gegenüber zur Bedeutungsstiftung Gottes konstituiert wie ζ. B. in Ex 20, 2: "Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe." Die an sich kontingente Flucht versklavter Nomadenstämme aus Ägypten wird zu einem das Gottesvolk als solches zuallererst 426 Gründer, Figur und Geschichte, S. 131 f. Fraas, Die Religiosität des Menschen, S. 135, unterscheidet deshalb auch konsequent zwischen dem an sich noch sprachlich völlig unbestimmten "Erlebnis" in der unmittelbaren Gegenwart und der sprachlich bestimmten "Erfahrung" in einer geschichtlich vermittelten Gegenwart. Erst geschichtlich vermittelte Erfahrungen können als sprachlich bestimmte Erinnerungen zur Fortschreibung der persönlichen Lebensgeschichte verwendet werden: "Das (religiöse) Erlebnis wird erst durch Deutung zur (religiösen) Erfahrung. Deutung geschieht durch Zuordnung des Erlebnismaterials in einen Interpretationsrahmen, durch Integration in vorgegebene Lebensformen und Vorstellungen." 427 Gründer, Figur und Geschichte, S. 142; zur föderaltheologischen Struktur als notwendige Implikation typologischen Denkens vgl. ebd., S. 90 f.: "Im Zusammenhang des biblischen Denkens stiftet Gott Ordnung und Gesetz, indem er sich herunterläß und mit seinem Volk einen 'Bund' schließt, lateinisch 'testamentum', griechisch 'διαιίηκη'. ... Wirklichkeit in ihrer Faktizität und als diathetische Ordnung verstehen heißt sie geschichtlich denken. ... Die von der Kondeszendenz beherrschte Wirklichkeit ist formal als geschichtliche verstanden."

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konstitutierenden Bundeshandeln Gottes erklärt, die davorliegende Zeit der Versklavung zu einer gottgewollten Knechtschaft, die auf die göttliche Befreiungstat hin angelegt war. 4. Prototypen in diesem Sinn gibt es immer nur für individuelle gegenwärtige Adressaten, die sich im antitypischen Gegenüberverhältnis zur erzählten Bundesgeschichte positionieren und dieselbe vor Ort ihrer ureigenen Gegenwart als neue Episode einer andauernden Heils- bzw. Bundesgeschichte reinszenieren: "Der Typos ist demnach ein Handeln Gottes in Gnadenerweisen und in Gerichten auf das endgültige Heil hin, nicht das generelle Geschehen in Schöpfung und Geschichte. ... Dieses besondere Handeln Gottes ist in der Schrift 'aufgezeichnet'. ... Diese Bezeugung ist nur möglich, wenn der Typos ein von der Wortoffenbarung getragenes Handeln Gottes war. ... Dieses Handeln Gottes weist nicht auf irgendwelche weiteren Vorgänge in der Geschichte und wurde nicht für beliebige spätere Generationen aufgezeichnet; der Typos wie seine Aufzeichnung beziehen sich vielmehr auf die Gemeinde der Endzeit." 428 Somit kommt der typologische Rückbezug der Gemeinde des Neuen Bundes auf die Geschichten des Gottesvolkes im Alten Bund nicht von ungefähr. Die "diathetische" Bedeutungskraft des typischen Geschichtshandelns Gottes im AT wirkt von sich aus auf die ntl. Gegenwart der Gemeinde personal ansprechend, weil es sich um sprachlich zu situativen Episoden geformte Geschichten handelt, deren szenische Erzählökonomie erst die figürliche Geschlossenheit einer typischen Bedeutungseinheit ermöglicht. Aufgrund der narrativen Gestaltung kann die geschichtliche Erfahrungen bildende Formkraft des erzählten Gotteshandelns nun so vergegenwärtigt werden, daß es zu einer entsprechend gestalteten Wahrnehmung gegenwärtigen Gotteshandelns kommt. Es handelt sich bei den biblischen Geschichtserzählungen also nie um abständige Historie, sondern immer um geschichtliche Angebote zur Gegenwartswahrnehmung mit einer entsprechenden Lebensgestaltung. 429 Wenn nun ein Geschichtsereignis als prototypisches Gotteshandeln "sich in vielen Fällen erst dem von der neutestamentlichen Heilszeit rückwärts gewandten Blick" erschließt, "während seine Funktion für die Zeitgenossen noch verhüllt ist", dann hängt die typologische Relektüre des AT von einem 428 Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 329 f. 429 Vgl. v. Rad, Typologische Auslegung, S. 278. 280 f. 285; auch Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 340. Goppelt spricht von einem sachlichen Kriterium für die geschichtliche Wahrheit einer konkreten Typologie. Wichtiger ist m. E. aber das Gestaltungspotential der biblischen Erzählstrategie. Vgl. auch K. Huizing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen. Habilitationsschrift, München [ungedrucktes Typoskript] 1993, bes. S. 102 ff. 155 ff. Dort ausführlich zur Voraussetzung narrativer Ausdrucksformen für die typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik. Es wird weiter aus der maschinenschriftlichen Fassung zitiert; mittlerweile aber auch ohne wesentliche Abweichung gedruckt zugänglich: K. Huizing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, in: TBT. Bd. 75, Berlin u. a. 1996.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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kontingenten geschichtlichen Anlaß ab. Das bedeutet aber keineswegs eine willkürliche allegorische Umdeutung, da "der Typos unabhängig von einem menschlichen Medium, rein durch seine objektive Faktizität, seine in die Zukunft weisende Bedeutung" besitzt. 430 D. h.: Die narrative Sprachgestalt mit ihrer das göttliche Geschichtshandeln vergegenwärtigenden Situationsdramatik ist der allegorischen Willkür des Menschen als autonomes Sinngebilde ebenso vorgegeben wie die extra nos liegende Veranlassung eines neuen göttlichen Heilshandelns: "Die Typologie ist keine hermeneutische Methode, welche nach bestimmten Regeln Deutungen ermittelt, sondern eine pneumatische Betrachtungsweise, welche im Blick auf die Heilsvollendung von Fall zu Fall in der vorlaufenden Heilsgeschichte deren Typen erkennt." 431 Die rückwärtige Konstituierung von Typen erwächst immer nur fallweise aus einer gegenwärtigen Episode, in der um das "Verständnis geschichtlicher Ereignisse als Tatsachen, d. h. als Taten Gottes", gerungen wird. 432 Unter dem übermächtigen Eindruck lebendiger Wirklichkeit kann deren Sinn und Bedeutung nur im Umweg über die sprachlich narrativ oder poetisch vorgegebenen Sinn- und Bedeutungsgestalten der biblischen Geschichte erschlossen werden: "Indem der Blick zwischen der gegenwärtigen und von der Schrift bezeugten vorlaufenden Begegnung Gottes mit dem Menschen hin und her geht, werden beide aufeinander hin und voneinander her gedeutet und dadurch die Existenz des Menschen unter dem Evangelium umschrieben." 433 Der gegenwartshermeneutische Rückgriff auf Geschichtsgestalten zeigt diese so, wie sie in ihrer singulären Einmaligkeit und Beziehungslosigkeit niemals waren, sondern nur hinsichtlich ihrer typischen Formkraft für das Allemal einer überwältigenden Eindruckswirklichkeit: "Paulus ist also nicht lediglich von Traditionen bestimmt, sondern gestaltet mit ihrer Hilfe theologisch denkend Neues. Daß der Sinn des alttestamentlichen Typus letztlich erst vom neutestamentlichen Antityp her erfaßt werden kann, war schon Paulus als hermeneutischer Grundsatz in der Gestalt geläufig, daß sich der Sinn der Schrift (d. h. des Alten Testaments) erst vom Glauben an Jesus Christus her erschließt." 434 Die Berechtigung zum eklektischen gegenwartshermeneutischen Rückgriff auf die geschichtlichen Traditionen sieht Paulus nun nicht etwa in der linearen Fortsetzung historischer Kontinuität, die ihn automatisch mitbetrifft, sondern im andauernden Wirken des göttlichen Heilsplanes, von dem er sich hier und jetzt persönlich gemeint und angesprochen weiß. 435

430 Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 644. Vgl. auch ebd., Sp. 643, sowie Goppelt, Typos, S. 242. Gegen Bultmann, Ursprung und Sinn, Sp. 211. 431 Goppelt, Typos, S. 244. 432 Gründer, Figur und Geschichte, S. 135. 433 Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 332. 434 Ebd., Sp. 329. 435 Vgl. ebd., Sp. 330.

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Die von Goppelt an Paulus herausgearbeitete Verschränkung von erfahrungstheologischem Gegenwarts- und Geschichtsverständnis ermöglicht ein im Medium typologischer Geschichtsrelektiire gestaltetes Erleben des den gegenwärtigen Menschen leibhaftig ansprechenden göttlichen Heilshandelns. In dieser Form ist die Typologie ein genuin christliches hermeneutisches Verfahren, das wiederum auf dem genuin christlichen Gegenwartsbezug der föderaltheologischen Grundstruktur typologischer Erfahrungstheologie basiert. Die frühjüdische Typologie verschränkt demgegenüber nicht Gegenwart und Geschichte im Rückblick, sondern Geschichte und Zukunft völlig abgesehen von der Gegenwart im unmittelbaren Vorblick. 436 Die christliche Typologie dagegen beschränkt sich gerade "als zentrale theologische Deutung der Heilsgegenwart" 437 deshalb auch nicht etwa darauf, die atl. Heilstypen exklusiv auf die singulare historische Einmaligkeit des Lebens Jesu zu beziehen, sondern deutet derartige typologisch - christologischen Korrelationen wiederum als Typen der jeweiligen Heilsgegenwart der Gemeinde: "Der Bezug alttestamentlicher Aussagen auf das Ν. T. beschränkt sich aber nicht auf die Person und das Leben Christi, sondern auf das ganze Christusgeschehen, wie es vom Ν. T. bezeugt wird, einschließlich des Ekklesiologischen. ... Bis in die Einzelheiten hinein sieht die Gemeinde Christi und der einzelne Christ in den Anfechtungen, wie in den Tröstungen, die dem alttestamentlichen Gottesvolk widerfahren sind, seine Existenz in dieser Welt präfiguriert." 438 Daran wird deutlich, weshalb die typologische Methode zu einer genuin applikativen Schrifthermeneutik gehört, die mit dem Abschluß des ntl. Kanons keineswegs zum Erliegen kommt, sondern aufgrund des sich in den Spätschriften des NT bereits abzeichnenden Andauerns der Kirchengeschichte für die theologischen Lehrorte Soteriologie und individuelle Heilsaneignung ihre Funktion als Explikationsmethode gegenwärtiger Gotteserlebnisse behält. 5. Die typologische Korrelation zwischen dem grundlegend neuen Heilserleben der ntl. Gegenwart und dem vergangenen Gotteshandeln der atl. Geschichten weist eine Überbietungsstruktur auf. Goppelt definiert deshalb: "Gegenstand typologischer Deutung können nur geschichtliche Fakta, d. h. Personen, Handlungen, Ereignisse und Einrichtungen sein, Worte und Darstellungen nur insofern, als sie von solchen handeln. Eine typologische Deutung dieser Objekte liegt vor, wenn sie als von Gott gesetzte, vorbildliche Darstellungen, d. h. 'Typen' kommender, und zwar vollkommenerer und größerer 436 Vgl. ebd., Sp. 336. Vgl. auch Goppelt, Typos, S. 242 f.: "(H)ier im NT ist sie das ständig angewandte Mittel, um die Gegenwart mit der vergangenen Heilsgeschichte in Beziehung zu setzen. ... Ausgangspunkt und Ziel der Typologie ist die Heilsgegenwart." 437 Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 344. 438 v. Rad, Typologische Auslegung, S. 287. Vgl. auch Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 344; Gründer, Figur und Geschichte, S. 96: "Die Geschichte Jesu ist die Erlösung des Menschen, die Begebenheiten des Alten Testaments weisen nicht auf diese als eine irgendwie für sich bestehende Geschichte, sondern zugleich auf das Glaubensgeschehen, durch das der Mensch dieser Erlösung teilhaftig wird."

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Fakta aufgefaßt werden." 439 Das ist bereits im griechischen Typosbegriff sprachlich angelegt: "Das ... Wort... weist daher auch ... nicht auf eine abbildliche Identität, sondern eine in der Form gleiche Entsprechung, die auch gegenbildlich sein kann." 440 So kommt es aufgrund der Überbietungsstruktur zur typologischen Korrelation von Typ und Antityp, ohne daß dadurch das Analogieverhältnis, d. h. die lediglich ins Gegenbildliche gewendete Strukturverwandtschaft, aufgehoben wäre. 441 Die Überbietungsstruktur ist für die ntl. Typologie wesentlich. 442 Obwohl das AT "überboten" wird, hat es innerhalb der Überbietungsstruktur die Funktion, die ntl. Heilsgegenwart vor spiritualisierenden Mißverständnissen zu bewahren und einer Entsinnlichung und Entgeschichtlichung entgegenzuwirken. 443 So bilden "typologische Entsprechung und Steigerung" 444 einen sich wechselseitig verdeutlichenden Zusammenhang. 6. Aus allem bisher Gesagten ergibt sich die wesentliche Christozentrik der ntl. Typologie: "Die Typologie hat ihre theologische Voraussetzung in der Christozentrizität allen Geschehens." 445 Die dem typologischen Geschichtsverständnis des AT zugrundeliegende Föderaltheologie wird vom NT inkarnationsmorphologisch konkretisiert. Erst auf diese Weise "wird die Geschichte aus der Sphäre widerspruchsvoll - chaotischen Geschehens auf die Ebene höchster Sinnhaftigkeit erhoben. Die Zubereitung des Heils auf geschichtlichem Wege aber entzieht dieses Heil aller Spiritualisierung und stellt es in die geschichtliche Konkretheit hinein: nicht ein Reich der Geister, sondern eine neue Leibhaftigkeit ist Gottes Vollendungsziel." 446 Die Leibhaftigkeit der Heilsgeschichte besteht aufgrund der ntl. Christozentrik in doppelter Hinsicht. Die typischen Geschichtsereignisse im Leben des atl. Gottesvolkes kulminieren erstens in einem antitypischen individuellen Menschenleben, dessen biographische Leibhaftigkeit ihrerseits in der typologischen Korrelation ihre eigentümliche Bedeutungsgestalt gewinnt. Diese im Gegenüberverhältnis zum AT konkretisierte Bedeutungsgestalt des Lebens Jesu wirkt dann zweitens formkräftig auf das Leben und Erleben der gegenwärtigen Christenheit: "Die Typologie ... gibt ... Gewißheit und Klarheit über das Geschick des Christus und das ihm entsprechende seiner Gemeinde: Der Menschensohn muß leiden, sterben und auferstehen; der Gemeinde und ihren Dienern widerfährt nichts 439 440 441 442 443

Goppelt, Typos, S. 18 f. Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 331. Eichrodt, Ist die ...?, Sp. 643. Vgl. Goppelt, Typos, S. 19. 240. 244. Vgl. ebd., S. 242 f.: "Die typologische Steigerung kündet jeweils den Hereinbruch eines Neuen und seine Bedeutung als des Neuen, die typologische Entsprechung das Geschick und das Wesen des Neuen; an beides schließt sich die ebenfalls typologisch begründete Warnung vor Verachtung und Mißbrauch des Neuen. ... Die ntl Typologie ... vergleicht Jesus und das in ihm erschienene Heil mit den atl Parallelen und stellt fest, was sich daraus für das Neue und von hier aus unter Umständen für das Alte ergibt." 444 Ebd., S. 244. 445 Gründer, Figur und Geschichte, S. 154. 446 Ebd., S. 149 f.

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'fremdes', wenn Verfolgung von außen und mannigfache innere Anfechtung sie bedrängen." 447 Typologische Christologie weist ein strukturell notwendiges Gefalle zur Soteriologie auf: "Es gibt nicht Erlösung schlechthin; es wird immer jemand erlöst, der glaubende Sünder. ... Die alttestamentliche Typologie bildet das Christusgeschehen in seiner geschichtlichen Einmaligkeit vor, die andere Vorbildart ist gewissermaßen die 'soteriologische' Anwendung der Typologie auf die immer neu geschichtlich gegenwärtig werdende Wirklichkeit dieses Geschehens." 448 Mit dem Andauern der Kirchengeschichte ergibt sich aus diesem strukturellen Gefälle in die Soteriologie ein noch weitergehendes Konkretisierungsgefälle in die christenmenschliche Lebenspraxis und deren normative Ausgestaltung: "Sobald ... die Typologie sich nicht auf das geschehene Christusereignis oder die ausstehende Wiederkunft zu beschränken braucht, sondern sich auch auf die dazwischenliegende Kirchengeschichte erstreckt, kann auch das gegenwärtige Handeln des Bibellesers von der typologischen Denkart bestimmt werden, aus Exegese und Hermeneutik in die ... Praxis übergehen." 449 Dadurch wird die Zahl der atl. Typen unbegrenzt, 450 da sie durch die christologisch - soteriologische Vermittlung hindurch immer wieder neu die christenmenschliche Glaubensgegenwart und Lebenswirklichkeit gemäß der ihnen auf diese Weise eignenden Formkraft gestalten und einem im eigentlichen Sinne leiblich - geschichtlichen Selbstverständnis zuallererst erschließen. Somit ergibt sich nun folgendes theoretische Profil für die biblische Typologie als geschichtlich geerdete Gegenwartshermeneutik: 1. Sie unterscheidet sich von der Allegorie durch ihren in sprachlicher Eindeutigkeit verbürgten Geschichtsbezug. 2. Sie bezieht sich auf geschichtliche Ereignisse, insofern diese eine erfahrungstheologische Anspruchsqualität aufweisen, die immer schon durch eine sprachlich erzählte Geschichte präformiert und somit tatsächlich als wahr verbürgt ist. Es geht um den gegenwartshermeneutischen Rekurs auf die Bedeutungskraft eines situationsspezifischen Gotteshandelns in sprachlich erinnerter Vergangenheit. 3. Das in der biblischen Sprachtradition verbürgte Gotteshandeln basiert auf einer föderaltheologischen Grundstruktur. Die szenische Situationsdramatik der in der Bibel erzählten Bundesschlüsse stiftet einer unmittelbaren Erlebniswirklichkeit der Menschen eine bleibende erfahrungstheologische Bedeutung ein. An sich kontingente Ereignisse gewinnen eine persönliche Anredequalität: Gott ruft die Menschen in ein heilsgeschichtliches Gegenüberverhältnis zu sich selbst. Andere Ereignisse werden zur Vorgeschichte der Bundes447 448 449 450

Goppelt, Typos, S. 242 f. Gründer, Figur und Geschichte, S. 138 f. Ebd., S. 121. Vgl. v. Rad., Typologische Auslegung, S. 286.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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schlußgeschichten. Gegenwärtige und zukünftige Ereignisse gehören in die Nachgeschichte der Bundesschlußgeschichten. Eine andauernde, immer wieder persönlich ansprechende Heilsgeschichte hat sich konstituiert. Ihre Episoden stehen immer in typologischer Korrelation zu den göttlichen Bundesstiftungen. 4. Die gegenwärtige Erfahrungen bildende Bedeutungskraft des heilsgeschichtlichen Bundeshandelns Gottes ist zwar geschichtlich präformiert, wird aber erst vor Ort der Erlebniswirklichkeit aktualisiert. Prototypisches Heilshandeln Gottes erschließt sich immer erst rückwärtig vom gegenwärtig sich herausbildenden Antityp aus. Typologien brauchen konkrete Anlässe und konkrete Adressaten. Sie entstehen ebenso fallweise aus den im universalgeschichtlichen Allemal jeweils gegenwärtigen Heilserlebnissen heraus, wie die narrativen Episoden des geschichtlich einmaligen Heilshandelns Gottes dieses immer als fallweise und situationsbezogen zeichnen. Erst durch die gegenläufige Doppellektüre von Gegenwart und Geschichte läßt sich jene im Medium dieser als hic et nunc ansprechende Episode göttlichen Heilshandelns verstehen, da die sprachlich vorgegebene Formkraft der geschichtlichen Episode auf die gegenwärtig noch amorphe und hinsichtlich ihrer ureigenen Bedeutung unverstandene Erlebniswirklichkeit appliziert wird. 5. Dazu gehört aber das Überbietungsverhältnis von Typ und Antityp, da die typische Wiederholung von Geschichte niemals abbildliche Identität implizieren kann, wenn anders das unverwechselbar Neue an der Gegenwart durch eine platte Identifikation nicht übersehen werden und unexpliziert bleiben soll. Typologie will ja gerade das Neue in seiner unverwechselbaren Eindeutigkeit auf der Kontrastfolie der Geschichte herausarbeiten. Die fundamentale föderaltheologische Strukturverwandtschaft der Gotteserfahrungen in Geschichte und Gegenwart bleibt davon freilich unberührt. 6. Alle bisher benannten Punkte kulminieren in der Christozentrik der ntl. Typologie. Das evangelische Lebensbild Jesu als des Christus bildet somit den Dreh- und Angelpunkt des christenmenschlichen Selbstverständnisses auf der Kontrastfolie der atl. Prototypik. Die der Lebensgeschichte Jesu Christi eigene typologische Korrelation zur atl. Heilsgeschichte präformiert den applikativen, weil gegenwartshermeneutischen Rückbezug des christenmenschlichen Lebensvollzugs auf die Schrift vor Ort der andauernden Kirchengeschichte. Bei der Typologie kommen also atl. Erfahrungstheologie und ntl. Erfahrungssoteriologie, Geschichts- und Gegenwartshermeneutik, biblisches Schriftverständnis und kirchengeschichtliche Lebenserfahrung durch die föderaltheologische Dialektik von Text und Applikation so zusammen, daß der Mensch in seiner leibhaftigen Vollgestalt umfassend angesprochen wird. Durch die integrale Vermittlung sovieler, sonst disparater Aspekte des christenmenschlichen Sichfindens in der christlichen Welt mit einer konkreten Sinn- und Bedeutungsgestalt, die ihrerseits aus einer bestimmten typologischen Korrelation ihr unverwechselbares Sinn- bzw. Bedeutungsprofil gewinnt, bleibt die typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik durch alle

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Jahrhunderte der Theologiegeschichte hindurch der Königsweg zur christenmenschlichen Selbstbesinnung. Die moderne Geschichtsmorphologie läßt sich deshalb letzten Endes als ihr geistesgeschichtliches Säkularisat begreifen, da ihr lediglich eine über den biblischen Kanon hinausgehende Textbasis zugrundeliegt. Der Fortgang typologischen Denkens in Schrift- und Geschichtshermeneutik bis hin zu Jakob Böhme verläuft über folgende Stationen: 1. die Patristik mit der dort stattfindenden Übersetzung der griechischen Typologie in ihr lateinisches Äquivalent, d. h. in die Figuralhermeneutik, bei der sich die Konzentration auf die gegenwartshermeneutische Funktion und lebenspraktische Applikation biblisch präformierter Sinnfiguren zur Herausbildung einer gegenwärtigen Lebensgestalt der einzelnen Christenmenschen immer stärker durchsetzt;451 2. die Literaturgeschichte des Mittelalters mit der dort zunehmenden Vertikalisierung der figuralen Geschichtshermeneutik, durch die die Weltgeschichte zwar integral und soteriologisch vermittelt wahrgenommen wird, dafür aber zunehmend entdynamisiert und in ein starres Geflecht wechselseitig einander bedeutender Figuren mit genau konvertiblen Symbolwertigkeiten überführt wird, so daß der subjektive, die Schrifttypen auf das individuelle Leibesleben in seiner gegenwärtig empfundenen Fraglichkeit applizierende Selbstverständigungsprozeß des Christenmenschen verobjektiviert wird, da das je und je unverwechselbar Neue nicht mehr in den Blick kommt; 452 451 Vgl. hierzu M. Schmidt/ C. F. Geyer (Hg.), Typus, Symbol, Allegorie, S. 11 - 40: zur soteriologischen Textil- und Bekleidungsmetaphorik im Anschluß an 2. Kor. 5, 2 - 4 in der syrischen Tradition bei Ephraëm; S. 41 - 53: zum Fortwirken der Inkarnationsfigur als Typus in der Christologie Cyrills von Alexandrien; S. 108 - 130: zur Übersetzung der origenistischen Typologie in die Figuralhermeneutik Isidors von Sevilla, u. z. in genuin soteriologischer Hinsicht. Vgl. auch E. Auerbach, Mimesis, S. 18 f., zur Übersetzung der innerbiblischen Typologie in die griechische und dann lateinische Patristik, wie sie durch das Andauern der Kirchenund Weltgeschichte veranlaßt wurde: "(D)as Deuten in einem bestimmten Sinne wird zu einer allgemeinen Methode der Wirklichkeitsauffassung; die jeweils neu in den Gesichtskreis tretende fremde Welt, die sich meist so, wie sie sich unmittelbar bietet, als ganz unbrauchbar für die Verwendung innerhalb des ... religiösen Rahmens erweist, muß so gedeutet werden, daß sie sich in diesen einfügt. Aber fast immer wirkt dies auf den Rahmen zurück, der der Erweiterung und Modifizierung bedarf; die eindrucksvollste Deutungsarbeit dieser Art geschah in den ersten Jahrhunderten des Christentums, infolge der Heidenmission, durch Paulus und die Kirchenväter; sie deuteten die gesamte jüdische Überlieferung um in eine Reihe von vorbeugenden Figuren des Erscheinens Christi, und wiesen dem Römischen Reich seinen Platz an innerhalb des göttlichen Heilsplanes." 452 Vgl. ebd., S. 19. 51 f. 113 f. 117 f.; S. 51 f.: "Es war also die Gefahr gegeben, daß die Anschaulichkeit der Vorgänge unter einem dichten Netz der Bedeutungen erstarrte und erstarb. ... (S)o verflüchtigte sich der sinnliche Vorgang, überwältigt von der figuralen Bedeutung; was der ... Leser ... in sich aufnimmt, ist als sinnlicher Eindruck nur schwach, und all sein Interesse wird auf den Bedeutungszusammenhang gelenkt." Abgesehen von der Tendenz zu "isolierten Bildern" (S. 114) bleibt die geschichtshermeneutische Grundintention allerdings erhalten; S. 516: "Für die gedachte Anschauung bedeutet ein

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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3. dann die Renaissance- und Barockemblematik als eine speziell leiblich sinnliche Spielart der typologischen Methode applikativer Schrifthermeneutik (dazu 1.3.3. ausführlich); sowie schließlich 4. die gegenwartshermeneutische Initialzündung, die im Zeitalter der Reformation von Luthers "Biblia deutsch" ausging. Daß Böhme im Gefolge dieser Traditionslinie steht und typologisch denkt, erwähnt bereits Bonheim mit dem entsprechenden Verweis auf Auerbach. 453 Diese kurzen Hinweis gilt es nachher im Einzelnen auszuarbeiten. Eine Fortsetzung, die wohl mehr oder weniger als durch Böhme vermittelt vorzustellen ist, findet genuin typologisches Denken in J. G. Hamanns "Biblischen Betrachtungen". 454 Auch dort findet sich der föderaltheologische Strukturzusammenhang von Inkarnation, Erfahrungssoteriologie und typologischer Methode applikativer Schrifthermeneutik. Hierin besteht offenbar die Essenz biblischer Geschichtsmorphologie.

1.3.2.3. Die morphologische Verknüpfung der typologischen Geschichts- und Schrifthermeneutik Es ist deutlich geworden, daß der Zug moderner Geschichtsmorphologie in eine soteriologische Gegenwartshermeneutik, die auf eine Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz in der menschlichen Lebenspraxis zielt, erst von der biblischen Typologie her ein sicheres heilsgeschichtliches, weil föderaltheologisches Fundament erhält. Die Bibel aus AT und NT bildet jedem typologischen Denken eine prototypische Korrelation vor, die aufgrund ihrer elementaren föderaltheologischen Strukturverwandtschaft einen ultimativen heilsgeschichtlichen Maßstab bedeutet. Erst in der biblisch präformierten Korrelation von Adam und Jesus Christus als dem neuen Adam mitsamt der ihr eigenen Überbietungsstruktur von Typ und Antityp (vgl. Rom 5, 12 ff.) findet der verheißungsvolle gegenwartshermeneutische Rückgriff auf prototypische Geschichtsgestalten einen festen Anhaltspunkt. Die geschichtlichen Sinn- und Bedeutungsgestalten weisen jetzt nämlich tatsächlich eine neuschöpferische

auf Erden geschehener Vorgang, unbeschadet seiner konkreten Wirklichkeitskraft hier und jetzt, nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch einen anderen, den er vorankündigt oder bestätigend wiederholt; und der Zusammenhang zwischen den Vorgängen wird nicht vorwiegend als zeitliche oder kausale Entwicklung angesehen, sondern als Einheit innerhalb des göttlichen Planes, dessen Glieder und Spiegelungen alle Vorgänge sind;...". 453 Vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 247 - 251. 357 f. Anm. 38. 40. Bonheim konstruiert einen Zusammenhang mit Thomas v. Aquins Fassung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn und übersieht dadurch die von der Allegorie zu unterscheidende, eigenständige Bedeutung des Figuraldenkens. Darüberhinaus arbeitet er bei Böhme weder den Geschichtsbezug der Typologie, noch in Anknüpfung an Auerbachs Kritik am Mittelalter die Überwindung ihrer symbolistischen Erstarrung heraus. 454 Vgl. K. Gründer, Figur und Geschichte.

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Formkraft zur Gestaltung der Gegenwart unter dem vitalen Andrang des Neuen auf. Mit der applikativen Anwendung dieser neuschöpferischen Formkraft kann die Lebensgestaltung dann trotz aller Ambivalenzen und Unsicherheiten unvermittelter Vitalität gelingen. Durch die föderaltheologische Grundlage der Bibel aus AT und NT basiert typologisches Denken nicht mehr auf einer arbiträren, geniale Empathie voraussetzenden, mehr oder weniger zufälligen Entdeckung beliebiger geschichtlicher Prototypen und ihrer antitypischen Wiederholungen. Stattdessen liegt nun eine christozentrische Urkorrelation von geschichtlicher Erfahrung und gegenwärtigem Erlebnis göttlichen Heilshandelns zugrunde, an der sich alle anderen typologischen Korrelationen von Geschichte und Gegenwart in soteriologischer Hinsicht messen lassen müssen. Wenn diese nämlich über eine ephemere klassifikatorische Zweckrationalität hinausgehen sollen, können sie nicht auf ein morphologisches Denk- und Deskriptionsprinzip verzichten, das die gegenwärtige typologische Wahrnehmungs- und Gestaltungskompetenz menschlichen Lebenkönnens zuallererst in einer geschichtlichen Verschränkung von Geschichte und Gegenwart konstituiert. Dieser fundamentale geschichtsmorphologische Anhaltspunkt und Maßstab basiert auf der Schrifttheologie. 455 Durch das in der Schrift strukturell angelegte Gefalle in ihre Applikation kann die typologische Korrelation von AT und NT ihrerseits erst paradigmatische Wirkmächtigkeit erlangen. Die Schrift wird also nicht erst sekundär durch eine an und für sich bestehende typologische Methode auf die lebendige Erfahrungswirklichkeit des Christenmenschen appliziert, sondern gibt umgekehrt ihrerseits der gegenwärtigen menschlichen Wahrnehmungskompetenz episodenhafte Erlebniseinheiten vor, so daß die unverwechselbar neue Situationsdramatik und szenische Geschlossenheit der Erlebniswirklichkeit erst sekundär im von der Schrift her immer schon angebotenen Gegenüberverhältnis im Einzelnen morphologisch - phänomenologisch expliziert werden kann. In sehr freier Anlehnung an Ebeling läßt sich daher von einer "coram" Relation zwischen Schrift und Leser sprechen, in der dieser seinerseits in ein typologisches Gegenüberverhältnis zur Schrift und den ihr eigenen typologischen Bezügen und Verweisungen hineingestellt wird. "Coram" der Schrifttypik überwindet der Bibelleser angesichts der vitalen Übermacht gegenwärtigen Lebens seine elementare "Sprachnot" und findet sich stattdessen in aufrechter Leibeshaltung so situiert, daß er im wahrsten Sinn des Wortes Rede und Antwort stehen kann, weil sich die vitale Gegenwart entsprechend der Grundsituation des Menschen als Sprachwesen herausbildet und in dieser Form eine weitere freie Gestaltung ermöglicht. 456 455 Dazu vgl. in extenso K. Huizing, Homo legens. 456 Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. I: Der Glaube an Gott, den Schöpfer der Welt, Tübingen 1979, S. 104. 168 f. 192 ff.: dort der Hinweis auf die Gebetssprache als elementare Grundstruktur der Menschensprache, leider noch ohne

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Daß die der biblischen Morphologie entsprechende Verschränkung von Gegenwarts- und Geschichtsverstehen in der modernen Geschichtsmorphologie ihrerseits auf der fundamentaltheologischen Gestaltungsofferte der H. Schrift beruht, wird bei Ricoeur noch wesentlich deutlicher als in der freien Anlehnung an Ebeling. Die typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik basiert nicht nur im Hinblick auf die Bedingung der Möglichkeit typologischer Korrelationen zwischen Gegenwart und Geschichte auf der föderaltheologischen Grundstruktur der H. Schrift, sondern auch gerade im Hinblick auf die Applikation. Der heilsgeschichtlich vorstrukturierten Schrift wohnt die Möglichkeit ihrer gegenwartsgestaltenden Applizierbarkeit inne. Im von der Schrift eröffneten Gegenüberverhältnis qua "coram" - Relation gewinnt der Mensch seine eigene Leibesgestalt sowie die Gestalt seiner Lebenswelt an den vor ihm sich entfaltenden Textgestalten, die ihm durch ihre Prototypik das genuin Neue seiner antitypischen Erfahrungswirklichkeit in Unterstreichung und farblichem Kontrast erschließen und ihn so emanzipatorisch vom vitalen Andrang des Neuen zu einer freien Weltgestaltung befreien: "Die Aneignung hat ... das zum Gegenüber, was .... ich als 'Welt des Werkes' bezeichne. Was ich mir schließlich aneigne, ist ein Entwurf von Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text, als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt. Daher heißt Verstehen Sich - Verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstandes aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen, sondern ... das Selbst wird durch die 'Sache' des Textes konstituiert. [...] Die Sache des Textes ist aber die Welt, die der Text vor sich entfaltet." 457 Demgemäß bedarf es einer besonderen Sensibilität, um den biblischen Textgestalten ihre prototypische Formkraft für die Gestaltung der gegenwärtigen Erlebniswirklichkeit abzulauschen: "(I)nterpretieren heißt, die Weise des vor dem Text entfalteten In - der - Welt - Seins darzustellen." Das prototypische Gestaltungsangebot ist also erst dann wirklich verstanden, wenn der Leser seine eigene Lebensgestalt, d. h. die ihm durch andere TradiBezug auf deren Schriftbedingtheit. 285 f.: dort schon näher an der Schriftbedingtheit der sprachlichen Gestaltungsgabe des Menschen im Rahmen des "ordo cognoscendi" von "verbum praedicatum" über "scriptum" und "incarnatum" zum "verbum aeternum". 349 ff.: dort die "coram" - Relation als Verschränkung von "con" und "os" im leiblichen Zugegensein "von Angesicht zu Angesicht" bei der zwischenmenschlichen Rede und ihrer notwendig dialogisch - personalen Grundstruktur. Die Anlehnung ist, wie gesagt, sehr frei, da es hier um die Gestaltung der christenmenschlichen Leibhaftigkeit und der ihr jeweils zugehörigen gegenwärtigen Lebenswelt im von der Schrift ermöglichten Rückgriff auf die Korrelation von Jesus Christus zum atl. Geschichtshandeln Gottes geht. Zu Ebelings Schriftlehre im Einzelnen vgl. Huizing, Homo legens, S. 48 ff. 457 P. Ricoeur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh. Sonderheft, München 1974, S. 24 - 45, hier S. 33. 40.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

tionen zu Gebote stehenden Haltungen und Lebensstile, angesichts eines neuerlichen vitalen Andrangs des noch unvermittelten Lebens in Frage stellt und auf die biblisch vorgegebene Prototypik hin entwirft, indem er sich derselben im mimetischen Mitvollzug leibhaftig anverwandelt: "Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Genau dies nenne ich Textwelt, die diesem einzigen Text eigene Welt. [...] Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginative Veränderung des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des /c/i." 458 Auf dem Boden der Schriftlehre ist nun also eine morphologische Verknüpfung von typologischer Geschichts- und applikativer Schrifthermeneutik vollzogen worden. Sodann ergibt sich aus der erfahrungssoteriologischen Wendung der Gestaltthematik in der Geschichtshermeneutik ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt an die Inkarnation, die ihrerseits ein strukturelles Gefalle in Erfahrungssoteriologie und Gestaltthematik aufweist (s. ο. 1.3.1.). Die zunächst für die Böhme - Interpretation rein heuristisch gedachte Idiosynkrasie "Inkarnationsmorphologie" ist nun auch hinsichtlich ihrer grundsätzlichen systematisch - theologischen Bedeutung eindeutig bestimmt worden. Sie kann nun als Ausgangs- und Zielpunkt der theologischen Schriftstellerei Böhmes noch einmal in gleichem Maße hermeneutisch sowie phänomenologisch spezifiziert werden.

1.3.3. Biblische Prototypen als "Sinnen - Bilder" Bisher steht der Geschichtsbezug von Morphologie, wie er gerade eben im Sinne der szenisch in sich geschlossenen Situationsdramatik prototypischer Ereignisse und deren typologisch korrelierender Applikation auf die Gestaltung unmittelbarer Erlebnisse zu figürlichen Bedeutungseinheiten rekonstruiert worden ist, etwas unvermittelt neben der leiblich - sinnlichen Verfaßtheit des Menschen und deren Gestalthaftigkeit. Da das Leiblich - Sinnliche jedoch für die inkarnationsmorphologische Verknüpfung von Erfahrungssoteriologie einerseits und applikativer Schrifthermeneutik andererseits bei Jakob Böhme konstitutiv ist, gilt es, den genuin "sinnen - bildlichen" Charakter der Inkarna458 Ebd., S. 32.f. Es geht beim hier beschriebenen Verstehen qua mimetischem Nachvollzug um eine "spielerische Identifizierung" im Sinne von H. Schmitz mit einem prototypischen Rollenangebot des Schrifttextes; dazu vgl. K. Huizing, Homo legens, S. 89 ff. 135 ff. 155 ff. bes. S. 198 im Anschluß an Lavaters "Schauspiellehre durch Geschichte". S. 210 - 226. bes. S. 219 f. zur "spielerischen Identifizierung" (Schmitz) in Anlehnung an Plessners "Anthropologie des Schauspielers" sowie zur Bedeutung der Textilmetaphorik im Zusammenhang mit Rollenangeboten des Schrifttextes. S. 241 ff. zur Gestaltthematik in diesem Zusammenhang. Vgl. auch ders., Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, S. 55 - 62, bes. S. 55 f.

1.3. Inkamations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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tionsmorphologie Jakob Böhmes im Zusammenhang mit der Renaissance- und Barockemblematik noch genauer zu entfalten. Johann Gottfried Herder lenkt als erster in hermeneutischer Hinsicht die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Renaissanceemblematik und typologischer Schriftapplikation. Er beobachtet um die Wende vom XVI. zum XVII. Jahrhundert "(e)ine große Menge symbolisch - emblematischer Bücher und Verzeichnisse". Deren hermeneutische Grundstruktur bestehe in der Mischung von Bild und Wort, um im synästhetischen Ensemble zweier Darstellungsmedien das explizieren zu können, was bei der einseitigen Beschränkung auf ein Medium nicht deutlich geworden wäre: "Häufig wollte man auch dem Auge darstellen, was ihm nicht darzustellen war, sinnreiche Gedanken und Gleichnisse, selbst Phrasen und Formeln der Rede, Sprüchwörter, politische Maximen; und wenn diese durch sich selbst nicht verständlich waren, ward der Bilderwitz durch Sprachwitz erläutert." Es handele sich aber nicht um voll ausgemalte Bilder, sondern um Zeichen, Signaturen, Andeutungen: "Da wollte er also andeuten, wollte den Gedanken fast ohne Körper sichtbar machen, und bei dem kaum angedeuteten Körper wiederum neue Gedanken in Worten hinzumahlen." 459 Das synästhetische Ensemble von Bild und Wort, das "Sinn= und Denkbilder (Embleme)" ausmache, basiere auf der Kunstfertigkeit, beide Ausdrucksmedien zu einer in sich geschlossenen Sinngestalt zu konfigurieren, d. h. "(d)en Gedanken im Großen auszubilden, ihn in allen seinen Gliedern sich selbst gleichförmig dergestalt auszuschaffen, daß kein Theil dem andern widerspreche und nur Ein Geist, wie im göttlichen Odem eingehauchet, das ganze schöne Gebilde belebe." 460 Von der Emblematik inspiriert, kommt Herder auf die Hermeneutik biblischer "Gleichnißreden" bzw. "Parabeln" zurück, die er nun glaubt schärfer fassen zu können: "Kurz Parabel ist eine Gattung Gedichte, die zwischen der Fabel, dem Emblem, der Allegorie und Personification in der Mitte liegt, und wenn sie enthüllt wird, die schwersten und leichtesten Denksprüche auf ihrem breiten Rücken tragen kann." Die biblischen "Gleichnißreden" arbeiteten also ihrerseits emblematisch, indem sie im Anschluß an das Sprachbild oft einen Spruch oder eine weisheitliche Sentenz böten. Im Anschluß an Mk 4, 10 - 12. 33 f. und mit Blick auf die seit der Renaissanceemblematik bestehende Tendenz zur Verrätselung, um die Synästhesie von Bild und Wort mit einem geheimnisvollen Nimbus auszustatten, definiert Herder weiter: "Parabel ist also eine Gleichnißrede, eine Erzählung aus dem gemeinen Leben mehr zur Einkleidung und Verhüllung einer Lehre als zu ihrer Enthüllung; sie hat also etwas Emblematisches in sich." 461

459 J. G. Herder, Zerstreute Blätter. IV. & V. Sammlung, in: ders., Sämtliche Werke hg. v. B. Suphan. Bd. XVI, Berlin 1887 = [Nachdruck] Hildesheim/ New York o. J„ S. 161. 460 Ebd., S. 160 f. 461 Ebd., S. 164.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Herders kurze Ausführungen sind veranlaßt durch Johann Valentin Andrëaes "Gespräche", d. h. durch einen Schriftsteller des Frühbarock, der im Zusammenhang mit Alchemie und pansophischer Tradition selbst ein Meister der Emblematik war. Jons greift Herders Übersetzung von Emblem zu "Sinnund Denkbild" wieder auf, akzentuiert mit Blick auf den von ihm untersuchten Andreas Gryphius jedoch schärfer und spricht von "Sinnen - Bild", um das fünfsinnige Formpotential des Leibes stärker in den Blick zu bringen als Herders Beschränkung auf Auge und Ohr. 462 Herders Erwähnung der hermeneutisch - reflexiven Literatur zur Emblematik zwischen Renaissance und Barock wird von Jons in extenso entfaltet. Im Spätmittelalter hätten sich allegorische bzw. vielmehr typologische Bibelexegese 4 6 3 und Hieroglyphik, d. h. die Entdeckung der ägyptischen Bildschriftkultur, zur Emblematik als einer Art Sammelbecken bildhafter Bedeutungslehren verbunden, was sich am schillernden Sprachgebrauch nachvollziehen lasse. 464 Emblembücher und allegorische Lexika sammelten sowohl Bilder, als auch deren Bedeutungen. Die Emblemtheorie dieser Sammlungen habe zumeist eine praktische Stoßrichtung. Sie wiesen Emblemen die hermeneutische Funktion der Illustration in Rhetorik und Poetik zu. 465 Dabei komme verstärkt ein spielerisch - ästhetischer Zug im Umgang mit Emblemen und ihrer Entschlüsselung zum Tragen. 466

462 Vgl. D. W. Jons, Das "Sinnen - Bild". Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius, in: Germanistische Abhandlungen. Bd. 13, Stuttgart 1966, S. 3. 59 ff. 463 Die elementare Schwäche von Jons ist die ungenaue Vermischung von Allegorie und Typologie, von der wir hier abstrahieren müssen. Mutatis mutandis läßt sich "Allegorie" bei Jons mühelos durch "Typologie" in unserem Sinne (s. o. 1.3.2.2.) ersetzen. Es geht in den von ihm dargetanen Zusammenhängen nämlich weniger um die Lehre vom vierfachen Schriftsinn als um die Figuralhermeneutik im Sinne Auerbachs (Mimesis, S. 18 f. 516) und deren Probleme (ebd., S. 51 f. 113 f. 117 f.; s. ο. 1.3.2.2.). 464 Vgl. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 13 f.: "Im Laufe der Zeit traten dann 'hieroglyphicum', 'symbolum', 'imago' und im Deutschen 'Sinnenbild' und 'Sinnbild' als Synonyma zu 'emblema' auf, Wörter, die über alle Unterscheidungen späterer Emblemtheoretiker hinaus in der Weise allgemeinen Sprachgebrauchs sowohl die Gattung, als auch den Zeichencharakter des Bildes oder abgebildeten Dinges meinen konnten." 465 Vgl. ebd., S. 11. 13. 18 - 29. Vgl. auch D. Sulzer, Traktate zur Emblematik. Studien zu einer Geschichte der Emblemtheorien, in: Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 22, St. Ingbert 1992, S. 69 ff. 75. 236. Beispiele solch barocker Emblemsammlungen bieten im wissenschaftlich aufbereiteten Reprint A. Henkel/ A. Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart/ Weimar 1996 [ = Stuttgart 1967] 466 Vgl. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 22 - 29. bes. S. 23: Die Korrelation von Bild und Wort verdankt sich oft einer willkürlichen Inventio, "ohne daß eine verbindliche Beziehung von Bild und Bedeutung, die über das Ästhetische hinausreicht, behauptet wird." S. 26: "So bildet die Emblematik das humanistische, gelehrte, aber oft auch ins Spitzfindige und Spielerische gewandte Gegenstück zum volkstümlichen moralischen Schrifttum des 16. Jahrhunderts." S. 28: "(H)inter dem Zusammenhang von Bild und Bedeutung steht prinzipiell keine andere Autorität als die des Emblematikers."

1.3. Inkamations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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Die Entschlüsselung von Hieroglyphen, Symbolen, Zeichen, Wappen- und Dekorfiguren (Impresen) 467 werde nicht in diskursiven bzw. propositional formulierten Traktaten vorgenommen, die den generellen hermeneutischen Reflexionen vorbehalten blieben, sondern in Form von Sonetten oder Epigrammen, durch die neben den "Picta" eine ihnen entsprechende "Poesis" zu stehen komme. 468 Die emblematische Korrelation von Bild und Wort verhalte sich analog zur typologischen Korrelation von Typ und Antityp, insofern es sich in beiden Fällen um das Phänomen wechselseitiger Auslegung handele. Hier werde durch die zeichnerische (oder auch nur sprachliche) Ausführung eines Bildes (bzw. einer Bildrede) der leibhaftige Mensch auf besonders sinnliche Weise angesprochen. 469 Ein idealtypisches Renaissance- bzw. Barockemblem bestehe in der "Vereinigung von Spruch, Bild und deutendem Gedicht", "indem es Sinn und Sinne in gleichem Maße ansprach, die beiden Komponenten des ästhetischen Vergnügens dieser Jahrhunderte, das Sensuelle und das Intellektuelle, zugleich traf." 470 Die Korrelation von Bild und Wort könne nun entweder tautologisch bzw. identisch sein oder komplementär, d. h. sich gegenseitig dermaßen ergänzend, daß Bild und Wort vollkommen eigenständige Informationen enthalten. 471 Darüberhinaus gebe es "deiktische", "symbolische" oder "allegorische" Modi der Korrelation. 472 Die in der Renaissance in Mode gekommene Beschäftigung mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift bewirke abgesehen vom ästhetisch - spielerischen Zug auch die gegenläufige Tendenz sehr ernster Entschlüsselungsversuche 4 7 3 Hierbei gehe es allerdings weniger um philologische Sorgfalt als vielmehr um den Versuch, die Hieroglyphen als Medium zur unmittelbaren Ideenschau zu verwenden: "Da die Neuplatoniker der Renaissance die Auffassung vertraten, daß die wahre Erkenntnis der Ideen dem diskursiven Denken versagt und nur der Intuition zugänglich sei, Plato aber diese in die Präexistenz der Seele verlegt hatte, ist nicht nur wichtig, daß die Erforschung der Hiero-

467 Vgl. ebd., S. 80 - 85. Vgl. auch Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 17 ff. 468 Vgl. ebd., S. 19: "Die in den Impresensammlungen gegebenen Erklärungen gehören nicht zur Imprese." S. 15: "Das Epigramm, besonders das deutende Bildepigramm der Anthologie, bot sich geradezu als erklärender Vers für ein Emblem an." S. 14 ff. 27 ff. Vgl. auch D. Sulzer, Traktate zur Emblematik, S. 60. 69 ff. 238 f. 469 Vgl. ebd., S. 60. 68. 470 Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 3. 471 Vgl. ebd., S. 16 f. "Die pictura des Emblems enthält nichts weiter als die narratio des Epigramms, nachdem sie von allen Zusammenhängen entkleidet und auf den reinen ... Vorgang reduziert worden ist. [...] Im allgemeinen gehören beim Emblem Motto, Bild und Deutung so zusammen, daß in den sprachlichen Teilen nach Möglichkeit nichts von dem genannt werden darf, was in der pictura erscheint." 472 Sulzer, Traktate zur Emblematik, S. 60: "Man kann daher auch nicht von einem einheitsstiftenden Moment sprechen, viel eher handelt es sich um ein Zusammenspiel, bei dem es nur mit einem Nebeneinander oder mit oszillierenden Interferenzen zugehen kann. Die Einheit besteht im Korrelieren." 473 Vgl. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 3 ff. 12.

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glyphen zur 'sapientia veterum' führen könnte, sondern es ist von ebenso großer Bedeutung, daß es eine, wenn auch esoterische Möglichkeit zu geben scheint, die intelligiblen Wahrheiten durch ein ihrem Wesen entsprechendes Zeichen so darzustellen, daß sie in einer der intellektualen Anschauung angenäherten Form erfaßt werden können." So gehöre die Emblematik auch zum Bildungsprogramm einer neuplatonisch - gnostisierenden Esoterik, die sich ihrerseits mit der typologischen Bibelhermeneutik zu einer integralen pansophischen Wahrnehmungsweise verbinde, in der alles aufeinander bezogen werde, "was je in einem symbolischen Sinn gebraucht worden ist oder gebraucht werden kann." Die Verbindung von christlicher Bildsymbolik, die auf dem "sensus mysticus" der Bibel und ihrer Bildsprache basiere, und Renaissancehieroglyphik ergebe somit eine regelrechte "pansophisch(e) Emblematik". 474 Auch hier gehe es wie im Renaissancepiatonismus eines Ficino oder Pico della Mirandola primär um die "sapientia veterum", so daß der ästhetisch -

474 Ebd., S. 8 - 12. 44. Vgl. auch D. Sulzer, Traktate zur Emblematik, S. 85. 89. Die pansophische Emblematik wirkt über den Renaissancehumanismus eines Reuchlin oder eines Ficino hinaus bis weit in die Romantik hinein. Dort ist v. a. William Blake zu nennen, der aufgrund seiner künstlerischen Doppelbegabung dazu in der Lage war, Gedichte und Gemälde als Pictura und Poiesis zu konfigurieren. Die Überlieferung bis hin zu Gestalten wie Franz v. Baader, Schelling u. a. verläuft (von der Linie Böhme Oetinger - Hamann einmal abgesehen) größtenteils im Verborgenen, ist im wahrsten Sinne des Wortes apokryph. Das liegt zum einen gewiß daran, daß die europäische Geistesgeschichte nahezu ausschließlich dem rationalistisch - aufklärerischen Hauptstrang folgte, zum anderen daran, daß die Repräsentanten der pansophisch - emblematischen Tradition dieselbe mit einem esoterisch - geheimwissenschaftlichen Nimbus umwölkten, der seinerseits auf die hellenistischen Mysterienkulte zurückreicht und über kabbalistische, rosenkreuzerische, freimaurerische u. ä. Geheimgesellschaften sogar über die Romantik hinaus bis in die Gegenwart stilbildend gewirkt hat. Dem Licht einer breiten interessierten Öffentlichkeit erschlossen hat die pansophisch - emblematische Tradition jüngst der Maler (sic!) A. Roob, Alchemie & Mystik. Das hermetische Museum, Köln 1996. Zu Oetinger vgl. F. Chr. Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, in: D. Tschizewskij/ E. Benz (Hg.), Emblematisches Cabinet. Bd. IX, Hildesheim 1969 = [Nachdruck] Stuttgart 1776, und ders., Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia, hg. v. R. Breymayer/ F. Häussermann, in: TGP. Abt. VII. Bd. I. Teil 1 : Text/ Teil 2: Anmerkungen, Berlin/ New York 1977. Die liturgische Bewegung der 50er und 60er Jahre hat sich wenigstens einer Symbolkunde des christlichen Mittelalters angenommen; vgl. K. Lipfert, Symbol = Fibel. Eine Hilfe zum Betrachten und Deuten mittelalterlicher Bildwerke, Kassel [3. Auflage] 1961. Eine dogmatische Beschränkung der christlichen Symbolkunde unternimmt der römisch katholische Flügel der liturgischen Bewegung. Hier kommen nur die zentralen mariologischen, christologischen, soteriologischen und trinitätstheologischen Heilstatsachen zur Darstellung; vgl. W. Braunfels, Die Lukasbücherei zur christlichen Ikonographie. Bde. I VI, Düsseldorf 1954. Diese beiden Stränge faßt zusammen: G. Heinz - Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, München 1998 = 1971. Die Möglichkeit zu ganz eigenwilligen christlich - jüdisch - pythagoreischen Kultursynthesen auf der Basis der hermetischen Tradition, wie sie bei Reuchlin oder Oetinger greifbar werden, wirken offenbar eher verstörend. Jedenfalls steht eine genuin christlich theologische Würdigung der pansophisch - emblematischen Tradition m. E. noch aus.

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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spielerische Zug im Umgang mit Emblemen zunehmend zurückgedrängt werde. 475 Die christliche Doppellektüre des Liber vitae und des Liber naturae bedeute für die Emblematik einen gewaltigen Innovationsschub. Für den theologisch und emblematisch gebildeten Bibelleser ergebe sich nun die Möglichkeit, Bibeltext und den ihn illustrierenden Bilderkosmos der Welt nicht allein zu einer "Konkordanz von christlicher Lehre und Natur" zusammenzubringen, 476 sondern vielmehr emblematisch als Korrelation von "Inscriptio" qua biblischer Sentenz und "Pictura" qua Naturding zu einer integralen Sinngestalt zu konfigurieren. Daraus folge schließlich für die hermeneutische Grundstruktur von emblematischen Sinnkonfigurationen: "Die rein visuellen Wahrnehmungsverweise organisieren das Wahrgenommene in dem durch die Inscriptio erschlossenen Sinnbereich. Ist er beispielsweise von der Allgemeinheit einer Sentenz, verliert die Pictura an Konkretheit und wird zum Exempel, d. h. zunächst zur Illustration.... So werden die jeder Wahrnehmung eigenen Wahrnehmungsabschattungen von der Sprache geleitet." 477 Der durch die biblischen

475 Vgl. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 46: "Von dieser pansophisch - christlichen Auffassung aus wird der ästhetischen Problematik der Sinnbildkunst... eine andere direkt entgegengesetzt, in der Emblematik nicht primär 'ars', sondern 'cognitio' und als solche göttlichen Ursprungs ist." S. 82: "Neben das 'Sinnen - Bild' als 'ornatus poeticus' tritt die viel wesentlichere Bedeutung dieses Begriffs, in der er auf die Welt der Dinge als 'mundus symbolicus' bezogen wird." 476 Vgl. ebd., S. 42; auch S. 41: "Der Vorgang ist somit ein Wiedererkennen des durch die Bibel Verkündigten in der Natur." 477 Sulzer, Traktate zur Emblematik, S. 76. Die Lebensordnung der zehn Gebote, die Liste der zu glaubenden Heilstatsachen im sog. apostolischen Glaubensbekenntnis und das prototypische Gebetsformular des Vaterunsers, die zum Kernbestand der reformatorischen Katechismen gehören, sind in einem von Philipp Melanchthon bereits 1549 geschriebenen Katechismus, der heute nur noch in einem 1554 gedruckten und vom Britischen Museum in London aufbewahrten Originaldruck zugänglich ist, mit den jeweils genau entssprechenden prototypischen Beispielgeschichten aus der Heiligen Schrift versehen. Diese werden nun wiederum nicht im diachronen Nacheinander des Schriftbildes zur sinnenfälligen Darstellung gebracht, sondern im synchronen Nebeneinander des gedruckten Bildes. Die wohl aus der Werkstatt Lucas Cranachs stammenden Holzschnitte zu Melanchthons Katechismus dienen der sinnenbildlichen Illustration. Die Sätze der zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers verhalten sich also prototypisch zu alt- und neutestamentlichen Erzählungen, die als antitypisch entsprechende Sinnenbilder auf der Bühne des Lebens in Szene gesetzt sind. In einem weiteren antitypischen Gegenüberverältnis zur vom Katechismus offenbarten typologischen Korrelation von Glaubensregel und Glaubensvorbild soll sich nun der persönliche Glaube und das individuelle Glaubensleben des gegenwärtigen Christenmenschen herausbilden. Der mimetische Nachvollzug des Gelesenen, Erklärten und Betrachteten in der Gegenwart des Christenmenschen wird durch die zeitgenössische Inszenierung der biblischen Beispielerzählungen in der spätmittelalterlich - frühneuzeitlichen Lebenswirklichkeit der Leser und Betrachter suggestiv vindiziert. Vgl. Philipp Melanchthon, Die zehn Gebote, der Glaube, das Vaterunser. 1549, in: Supplementa Melanchthonia. Abt. 5: Schriften zur praktischen Theologie, Teil I: Katechetische Schriften, hg. v. Ferdinand Cohrs, Leipzig 1915, S. XI ff. 362 ff. 423ff.

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Epigramme geleitete Blick "erschließt zuallererst den Sinn der Natur". 478 Darin entspreche diese emblematische Konfigurierung von Liber vitae und Liber naturae der typologischen Korrelation von neu- und alttestamentlichem Heilshandeln Gottes. Erst rückwirkend vom Vollsinn der Schrift erschließe sich die präformierte Bedeutsamkeit der Natur. Umgekehrt stehe die Sinnlichkeit der Natur jeder unzulässigen Spiritualisierung des Schriftsinnes im Wege. 479 Diese Einsicht kulminiere bei Paracelsus und Böhme in einer Natursprachenlehre bzw. Sprachtheologie, die den "Kosmos als ein System von strukturellen, elementarischen oder gesetzmäßigen Analogien zwischen Gott, Mensch und Natur" auf pansophische Weise integral wahrnehme. 480 Die natursprachliche Doppellektüre des theologisch wie emblematisch gebildeten Pansophen eröffne also ein verborgenes übergreifendes Emblembuch. Darin seien die sinnbildlichen Konfigurationen eingetragen, die einerseits aus einem "Sinnenbild", "Pictura" oder "Pictum" qua Naturding bzw. Lebewesen und andererseits aus einem korrelierenden Schrifttext qua erläuterndem und die Sinne schärfenden, d. h. zu einer figürlichen Wahrnehmung sensibilisierenden, Epigramm, Sonett oder sonstiger "Poesis" wie einer Erzählung beständen: "(A)lle Wörter bezeichnen den einen Sachverhalt, daß die Dinge selbst, mag ... die Bibel, die Natur, die Geschichte oder auch ein als wesentlich zum menschlichen Leben gehörendes Faktum das Objekt der Auslegung liefern, als Träger eines geistigen Gehalts verstanden werden. Die sinnbildliche Qualität eines Dings ist nicht als das Resultat einer subjektiven Setzung zu interpretieren, sondern beruht darauf, daß es als solches etwas 'abbildet', das den physischen oder faktischen Bereich seiner Wirklichkeit übersteigt." 481 Da nun prinzipiell jeder sich pansophisch bilden könne, gebe es im Sinne einer allgemein verbreiteten emblematisehen Sprach- und Gattungskompetenz ein hintergründiges "spirituelles Weltverständnis" 482 , das zu fallweisen

478 479 480 481 482

Es ist nicht auszuschließen, daß Jakob Böhme diesen biblisch - emblematisch - typologisch aufgebauten Katechismus Melanchthons gekannt hat. Auf jeden Fall praktiziert er -freilich in pansophisch erweiterter Form- dessen Methode. Die Typologie spielt auch bei Luther eine wichtige Rolle zur Konfiguration seiner wesentlichen theologischen Gedanken, wenn dies auch von der älteren Luther Forschung trotz einer Wahrnehmung des Sachverhalts m. E. noch erheblich unterbewertet wird und erst seit Neuestem volle Anerkennung gefunden hat, freilich abgesehen von einer rühmlichen Ausnahme; vgl. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh [5. Auflage] 1980, S. 90 - 96. Zu dieser sich durch Althaus verändernden Forschungssituation beim Thema "typologisches Denken bei Luther" vgl. H. M. Müller, Die Figuraldeutung und die Anfänge der Geschichtstheologie Luthers, in: KuD 7, 1961, S. 221 - 236, mit dem heutigen Reflexionsniveau bei F. Ohly, Gesetz und Evangelium. Zur Typologie bei Luther und Lucas Cranach. Zum Blutstrahl der Gnade in der Kunst, Münster 1985. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 33. Jons verweist auf Hugo von St. Viktor: "Scriptura explicat, quae creatura probat." Vgl. zu diesem Zusammenhang ebd., S. 30 f. Ebd., S. 44; vgl. auch S. 256. Ebd., S. 79. Ebd., S. 56.

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emblematischen Explikationen natürlicher wie religiöser Lebenseindrücke befähige: "So ist die Emblematik über ihre konkrete Erscheinungsform in den illustrierten Emblembüchern und alle Sinnbildkunst hinaus als letzte Phase einer über tausendjährigen spirituellen Weltauslegung zu verstehen, und die umfangreiche, das Geschaffene deutende Literatur ... bezeugt, daß dieses Denken keineswegs nur in den Werken großer Einzelner wie Paracelsus und Jakob Böhme lebte, wenn es auch nur dort in Systemen Gestalt gewinnen sollte." 483 Bei Andreas Gryphius manifestiere sich das "christlich - spirituelle Verhältnis zur als Schöpfung Gottes verstandenen Wirklichkeit der Welt" in seinen "Gedicht(en) und Gleichniss(en)", "in denen der sinnbildliche Charakter der Realia entweder in direkter Auslegung erscheint oder sich in einem bei der Begegnung von Mensch und Natur offenbar werdenden Bedeutungsgehalt enthüllt." 484 Im ersten Fall sei z. B. eine Rose "Gegenstand auslegender Betrachtung", im zweiten Fall "Objekt eines Vergleiches". Beide Fälle gehörten zu ein- und demselben hermeneutischen "Verfahren", die "Dinge allegorisch zu interpretieren und dann das sie bezeichnende Wort metaphorisch zur Umschreibung desselben Sachverhalts zu benutzen oder das Ding aufgrund der fixierten Bedeutung als Vergleichsgegenstand zu verwenden." So ergebe sich eine "Korrespondenz von Dingauslegung und poetischem Vergleich." Nachdem der Bildwert eines Dinges erhoben worden sei, diene es aufgrund des Bildwerts zum Vergleich, um sich anderer Bildwertigkeiten zu versichern. Dingbedeutung und deren metaphorische Applikation in analoger Rede blieben im gleichen Bildbereich. Die rote Rose z. B. trage, unabhängig von Gryphius' Verwendungen derselben, niemals eo ipso die Bedeutung einer Liebeserklärung. Nachdem dieser Bildwert in typologischer Korrelation feststehe, könne die rote Rose Liebe beschwören, ohne an sich aufzuhören, eine rote Rose zu sein: "Jede dieser Metaphern basiert auf einer deutungsfähigen Realität des Gegenstandes und läßt sich in eine Dingauslegung zurückverwandeln." 485 Die sinnliche Leibhaftigkeit der Natur bzw. Lebenswelt und der Sprachsinn stehen für die Emblematik in einem typologischen Komplementärverhältnis. Die sprachlichen Bilder poetischer Metaphern und Analogien sind "Sinnen - Bilder" mit allen empfindsamen Konnotationen aus der sinnlichen Eindruckswirklichkeit, die ihrerseits lediglich im Medium der Sprache mit einer gemeinsinnlichen Bedeutung ausgestattet und zu integralen Sinngestalten konfiguriert werden. Die "sinnen - bildlichen" Sprachgestalten wirken auf diese Weise sowohl kognitiv, als auch affektiv und pragmatisch ansprechend. 486 Sie 483 484 485 486

Ebd., S. 58. Ebd., S. 81. 83. Ebd., S. 117 - 119. Vgl. auch S. 256. Die Möglichkeiten einer an unmittelbar vergleichbare Einsichten anknüpfenden Bilddidaktik, die die drei erwähnten Ebenen menschlichen Lernens anspricht, für eine an der leiblichen Vollsinnigkeit und dem sinnlichen Erleben interessierten Religionspädagogik

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vermitteln als integrale Sinn- bzw. Sinnengestalten dem Menschen eine ihnen entsprechende leibliche Gestalt, in der zum einen die Sprachvernunft vor Ort des Leibes sowie seines lebensweltlichen Wandels inkarniert ist und zum anderen die Körpersinne zu einer gemeinsinnlichen Bedeutungsgestalt qua leiblicher Haltung konfiguriert sind. Im Medium inkarnierter Sprachvernunft kann sich dann aus der ursprünglich chaotischen Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Eindruckswirklichkeit ein lebensweltlich strukturierter Mundus sensibilis herausbilden. Die "sinnen - bildlichen" Sprachgestalten wirken in einer doppelten Hinsicht bildend: Zum einen verhindern sie Leblosigkeit und Erstarrung einer reinen, d. h. beziehungslosen Sprachvernunft, da sie der Sprache einen leiblich - lebensweltlichen Bedeutungshorizont zuweisen, der Wort und Satz illustriert. Zum anderen vermitteln "sinnen - bildliche" Sprachgestalten dem absoluten Sensualismus der nackten, rein körperlichen Vitalität einer an sich amorphen Eindruckswirklichkeit eine individuelle und persönlich ansprechende Leibesgestalt, die eine über den vitalen Augenblick eines absoluten Einzelgefühls hinausweisende gemeinsinnliche Bedeutungseinheit aufweist und dem Menschen als einem sprachbegabten Bewußthaber eine leibhaftige Ausdruckswirklichkeit erschließt, mittels derer er das chaotische Bedeutungsansiirnen des Erlebnisaugenblicks zu einer in sprachlich entfalteter Gegenwart wiederholbaren Lebenserfahrung ausgestalten kann. 487 Für die Barockschriftsteller Gryphius und Böhme steht die Emblematik deshalb mit der auf die Gegenwart des Lesers bezogenen Typologie in einem unlösbaren Zusammenhang. Ein Emblem qua "Sinnen - Bild" und "Sinnen Bildung" funktioniert ganz analog der typologischen Korrelation von der sinnlich - leiblichen Eindruckswirklichkeit des Bibellesers zur szenisch in sich geschlossenen Situationsdramatik der biblischen Prototypik. Das biblisch emblematische "Sinnen - Bild" ergibt sich, indem die Schrifttypen als Epigramm zu einer gegenwärtigen Situation verstanden und deshalb auf deren untersuchen H. Halbfas, Das dritte Auge. Religionsdidaktische Anstöße, in: ders., Schriften zur Religionspädagogik. Bd. I, Düsseldorf 1982, S. 105 - 123. bes. 116. 123 f.; ders., Was heißt "Symboldidaktik"?, in: JRP 1, 1984, S. 86 ff. und P. Biehl, Symbol und Metapher. Auf dem Wege zu einer religionspädagogischen Theorie religiöser Sprache, in: ebd., S. 29 ff.; ders., Symbole geben zu lernen. Einfuhrung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Hand, Haus und Weg, Neukirchen - Vluyn 1989. 487 Vgl. dazu H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 82 - 85. Aus Luthers Erklärung des ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus leitet Timm eine "synästhetische Vernunft" her: "Vernunft und alle Sinne gegeben". Die Daten der einzelnen Körpersinne "sind ihrerseits nur analytische Größen. In der faktisch gegebenen Erfahrungswirklichkeit wirken sie immer schon zusammen als das eine Ganze des Menschen, der simultan sehen, hören, schmecken, riechen und hantieren kann. Er ist auf multiple Weise als Körpersubjekt seinem ringsum präsenten Lebenskosmos eingefügt. Diese Komplexqualität verleiht den Vielsinnigkeiten, was man ihre Bedeutung nennt: den objektiven, gestalthaften Bedeulungszusammenhang des Ganzen. Und ihm korrespondiert die Vernunft als der Sinn aller Sinne. "

1.3. Inkarnations - Morphologie. Zur Begriffsklärung

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sinnliche Leibhaftigkeit appliziert werden. Die biblischen Typen weisen also einen "sinnen - bildlichen" Charakter auf, da ihre szenisch in sich geschlossene Situationsdramatik die an sich amorphe Erlebniswirklichkeit des Menschen zur Sinnfigur aus Leib und Lebenswelt bildet und dazu auf die gemeinsinnliche Metaphorik der Schriftsprache zurückgreifen kann. Embleme wie Typen konfigurieren Liber vitae und Liber naturae; einmal als Schriftwort und "Sinnen Bild", das andere Mal als Proto- und Antityp. Die Entsprechung von Typologie und Emblematik geht im Hinblick auf die applikative Schrifthermeneutik noch weiter. Die biblische Morphologie zeichnet sich dadurch aus, daß die typologische Korrelation von Gegenwart und Geschichte bereits innerbiblisch präformiert ist (s. o. 1.3.2.1. und 1.3.2.2.). Das Erkennen der Gegenwart im Medium der Geschichte, die immer schon in szenisch - dramatischen Miniaturformen sprachlich strukturiert ist, wird nicht von außen an die Schrift herangetragen, sondern geht aus der immanenten Dialektik ihres Kanons aus Altem und Neuem Testament hervor, so daß die typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik bereits innerbiblisch angelegt ist. Gleiches läßt sich für die Emblematik sagen. Die Konfiguration von Schriftwort und "Sinnen - Bild" ist bereits innerbiblisch präformiert. So stellen für Herder Parabeln Paradebeispiele für "sinnen - bildliche" Sprachgestalten dar, weil sie mit weisheitlichen Sentenzen als dem ihnen korrelierenden Epigramm zu Emblemen konfiguriert sind. Daraus folgt weiterhin, daß die Doppellektüre von Liber vitae und Liber naturae ebenfalls biblisch präformiert ist. Sie wird nun lediglich über innerbiblische Entsprechungen hinaus auf den "sinnen - bildlichen" Zusammenhang von Schriftwort und gegenwärtigem Lebensbild übertragen, wie er sich vor Ort des Leibeslebens eines jeden Bibellesers herausbildet. Das biblische "Sinnen - Bild" kann deshalb die Aufgabe der Sinnen - Bildung der leibhaftigen Gegenwart des Christenmenschen übernehmen. 488 488 Vgl. P. Biehl, Der biographische Ansatz in der Religionspädagogik, in: A. Grözinger/ H. Luther (Hg.), Religion und Biographie, München 1987, S. 274 ff., hier S. 277. Biehl sieht den Ansatz zu einer biblischen Bildungstheorie in der immer möglichen "Verschränkung biblischer Symbolgeschichten und gegenwärtiger Lebensgeschichten". Fraas, Die Religiosität des Menschen, S. 148 f. Anm. 92, reduziert m. E. den Sinn dieser Verschränkung auf eine "Rückführung theologischer Sachverhalte in die Erschließungssituation". Wesentlich näher an die hier angesprochene morphologische Bildung der leibhaftigen Gegenwart des Christenmenschen kommt E. Herms, Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1993, S. XV - XVIII. Herms spricht im Anschluß an die phänomenologische Handlungstheorie seit W. James vom "Gnadengeschehen" als einem "Bildungsgeschehen". Das "in Predigt und Sakrament leibhaft begegnende Evangelium" entspreche "einem durch das lebendige Wort Gottes selbst ausgelösten Offenbarungsgeschehen", das eine "Bildung zur Handlungsfähigkeit kraft Etablierung motivierender und orientierender Selbstgewißheit" bewirke. Diese "Bildung der menschlichen Innerlichkeit und dadurch der menschlichen Handlungsfähigkeit" liegt für Herms in einer "Bildung des menschlichen Herzens und Affekts". Herms läßt durch seine Konzentration auf die Handlungstheorie und die innerliche Selbstgewißheit allerdings leiblich - sinnliche Formpotentiale der von ihm am lebendig applizierten Schrift-

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

Jetzt kann der inkarnationsmorphologische Zusammenhang von Erfahrungssoteriologie einerseits und applikativer Schrifthermeneutik andererseits bei Jakob Böhme bis in die leibliche - sinnliche Konkretion individueller Heilsaneignung und christlicher Lebenspraxis hinein verfolgt werden. Die sinnliche Leibhaftigkeit des gegenwärtigen Christenmenschen gehört als elementarste Voraussetzung zu seiner Geschichtlichkeit, die für den einzelnen Menschen eben nur im Hinblick auf seine leibliche Befindlichkeit im Vollsinne zum Tragen kommt. Als Modi des leiblichen In - der - Welt - Lebens gehören Sprache, Lebenswelt und Geschichte als Medien genuin menschlicher Ausdruckskraft immer mit zur leiblichen Befindlichkeit. 489 Einen persönlich ansprechenden Leib im "sinnen- bildlichen" Vollsinn gewinnt der in nackter Unmittelbarkeit einfach nur vorhandene menschliche Körper für Gryphius oder Grimmelshausen wie für Böhme immer erst im Gegenüberverhältnis zur biblischen Prototypik und ihren "Sinnen - Bildern".

1.4. Erläuterungen zur phänomenologischen

Terminologie

Da Böhme nicht begrifflich - systematisch, sondern mythopoetisch - assoziativ schreibt, sind folgende terminologische Distinktionen vor der eigentlichen Textarbeit notwendig, um die Interpretationsmatrix dieser Untersuchung im Vorhinein zu verdeutlichen. Die Terminologie macht zwar vielfältige Anleihen bei der phänomenologischen Philosophie des XX. Jahrhunderts, liegt aber insgesamt ganz im Sinne Böhmes, wie die Textarbeit dann im Einzelnen zeigen wird: 1. Beim Menschen ist zwischen "Körper" und "Seele" einerseits und "Leib" andererseits zu unterscheiden. Obwohl Böhme die Wörter "Körper", "Corpus" und "Leib" promiscue verwendet, hebt er konsequent zwei unterschiedliche Bedeutungen voneinander ab: "Körper" bedeutet primär die Biologie und Medizin qua Physiologie interessierende materiell - dingliche Substanz des Menschen. Diese Stofflichkeit ist wort entdeckten Herzensbildung in den Hintergrund treten. Insofern löst er m. E. die von ihm selbst auf S. X geforderte "Phänomenologie des Glaubens" nicht konsequent genug ein. 489 Sprache als Modus genuin leiblichen Ausdrucks wird näher erklärt von M. Merleau Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers, v. R. Boehm, in: Phänomenologisch Psychologische Forschungen. Bd. 7, Berlin 1974 = [Nachdruck] 1966, S. 207 - 235. 442 447. Die jeweils erzählte Geschichte als Modus genuin leiblichen Ausdrucks wird näher erklärt von W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden [2. Auflage] 1976. Zur näheren Erläuterung von "Lebenswelt" vgl. unten 1.4. und in der Textuntersuchung 4.1.

1.4. Erläuterungen zur phänomenologischen Terminologie

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an sich unbelebt und ausdrucke- bzw. sinnlos. Belebt wird sie von der "Seele", dem Vitalprinzip mit seiner an sich chaotischen Willensdynamik. Als reine, d. h. an sich noch völlig unvermittelte, vitale Ausdruckskraft bringt ihre Willkürbewegungen weder einen figürlichen Sinn, noch einen gestalthaften Ausdruck zur Darstellung. "Körper" und "Seele" konstituieren zusammen eine rein körperliche Existenz. Die "Seele" instrumentalisiert dabei den "Körper" zur Stillung ihres unvermittelten Lebenshungers qua Eindruckslust und zur Äußerung ihrer ebenso unvermittelten Ausdruckskraft, so daß sie ihn ganz in der Verfügungsgewalt ihres Lebenswillens hat. Aufgrund der Unverzichtbarkeit des "Körpers" für die Selbstvergewisserung ihrer ansonsten völlig wirkungslosen Vitalität im konkret inkarnierten Ein- und Ausdruck treibt die Seele einen regelrechten "Körperkult". Ihre Willkürbewegungen machen den eigenen sowie jeden anderen Körper ihrer Umwelt zum Spielball einer an sich maßlosen Lebenskraft. So kommt es in der rein körperlichen Existenz zu einem diffus drängenden Streben nach "Mehr - Leben", das gerade durch seine unmittelbare Ausrichtung auf die Vielfalt der Körperwelt form- und gestaltlos, also amorph, bleibt. "Körper" und "Seele" verbürgen nicht automatisch durch ihr nacktes Vorhandensein bzw. Existieren schon die individuelle Gestalthaftigkeit des "Lebens", eine Sinnfigur, Form oder μορφή. 4 9 0 "Leib" ist eine von "Körper" und "Seele" zu unterscheidende Größe. Zum "Körper" hin verhält sich der "Leib" gewissermaßen als ein feinstoffliches Pendant zur grobstofflichen Materie. Empirisch nachweisbar ist seine Existenz über das Phänomen der Phantomglieder, für das er die schlüssigste Erklärung bietet. 491 "Leib" ist für die "Seele" das eigentliche Medium der Empfindsam490 Vgl. H. Schmitz, Der Leib, in: ders., System der Philosophie. Bd. II/ 1, Bonn [2. Auflage] 1982, S. 54: "Der reine Körper ... bildet das Objekt der naturwissenschaftlichen Beschäftigung von Anatomie, Physiologie und exakt messender Medizin mit dem menschlichen Körper." Der Körper an sich ist insofern bedeutungslos, da er beliebig teilbar ist. So wird er nur als Toter zum Gegenstand der Anatomie. Die lebensphilosophischen Vorgaben zur Distinktion von "Körper", "Seele" und "Leib" kommen von G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/ Leipzig 1918, bes. S. 1 ff. 99 ff. Die Gefahren eines "Körperkultes" beleuchten J. Baudrillard, Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper, in: C. Gehrke (Hg.), Ich habe einen Körper, München 1981, S. 93 - 128, und literarisch F. Wedekind, Mine - Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, in: ebd., S. 160 - 208. Allgemeinere lebensphilosophische Vorgaben zur Vitalität qua "élan vital" zwischen Dauer und Augenblick finden sich bei H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim/Glan 1948. 491 Vgl. M. Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Teil V § 3/ S. 100 ff. § 5/ S. 104 ff., und H. Schmitz, Der Leib II/l, § 44/ S. 16 ff. Dort auch S. 24 ff. 40 ff. 53 - 55 zur Differenz von Körper und Leib hinsichtlich ihrer Verortung im Raum: Der Körper ist immer relativ nach Lagen und Abständen im zentralen Gesichtsfeld zu verorten. Er ist deshalb auch nach einzelnen Gliedmaßen beliebig abteilbar. Anders der Leib. Er umschreibt einen absoluten, d. h. nicht nach Lagen und Abständen im Ortsraum ausgrenzbaren Ort, eine Befindlichkeit, für die es nur einen unteilbaren Ganzort ohne scharfe ortsräumliche Begrenzungen gibt.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

keit, da erst vor Ort des Leibes die sensualistische Zergliederung der rein körperlichen Wahrnehmung in synästhetischer Totalität, im Sensus communis oder Gemeinsinn aufgehoben ist. Leibliche Eindrücke weisen deshalb eine eigentümliche, nicht auf Sinnesdaten zu reduzierende Qualität und Bedeutsamkeit auf. Im Zusammenhang mit der Lebensphilosophie Goethes läßt sich als basale Matrix leiblicher Eindrücke der Wechsel von Systole und Diastole (bezogen auf das Herz), im Zusammenhang der Lebenskosmologie Böhmes der Wechsel von herber Begierde und bitterem Ziehen (bezogen auf die Leibesinsel "Mund"; ep 47. Tab. I., 10/ I. und II., vgl. unten 4.1.) angeben. Schmitz systematisiert die analoge Redeweise der von ihm rekonstruierten Traditionslinie begrifflich mit "Engung" und "Weitung", "Spannung" und "Schwellung", "epikritisch" und "protopathisch". 492 Der "Leib" offenbart die affektiven Empfindungen der Seele in unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen, die sich auch körperlich manifestieren, d. h. an der Ausdrucksmotorik des Körperschemas ablesen lassen (vgl. unten 3.1.). 493 Der "Leib" wirkt als eigenständige und daher unverfügbare Gestaltungskraft auf den diffusen Lebensdrang der "Seele", in dem er ihr im Unterschied zu den den Körper und die Körperwelt instrumentalisierenden Willkürbewegungen ein Medium unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen bereitstellt. Hierdurch erscheint die an sich noch völlig amorphe körperliche Existenz in einer "leiblichen" Bedeutungsgestalt als "Haltung", "Habitus", "Lebensstil", "Entwurf" und "Rolle", die den ephemer wechselnden Willkürbewegungen erst ein unverwechselbar persönliches Ausdrucksprofil verleihen. 494 Die terminologische Distinktion von "Leib" und "Körper" ist bereits biblisch. Bei Paulus darf σωμα nirgends mit τ α μ ε λ η , den körperlichen Gliedmaßen, verwechselt werden, σ α ρ ξ und π ν ε ύ μ α sind ebensowenig als Gegensatz einer materiell - dinglichen Außen- und einer geistig - dinglichen 492 H. Schmitz, Der Leib. II/l, S. 73 - 172. bes. S. 169 ff. "Das Alphabet der Leiblichkeit". Vgl. dort auch zu Jakob Böhme § 87/ S. 541 ff. Vgl. auch, Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 244 - 283. bes. S. 277 ff.: "Der Mensch als ein sensorium commune." Vgl. H. Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 82 - 85, zum Stichwort: "Synästhetische Vernunft". Bei Böhme findet sich zur leiblichen Dynamik auch der Hinweis auf den Wechsel von Ein- und Ausatmen; vgl. Mr 5, 20: " ... Ich meine hiemit die Kraft, die in den Corpus des Engels von aussen in sich gehet, und auch wieder heraus als im Gleichniß, wann ein Mensch Odem holet und lasset ihn wieder von sich; denn darinnen stehet des Corpus und auch des Geistes Leben." 493 Vgl. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 24 ff. 63 ff. 251 ff. Dazu auch Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123 - 177. 494 Vgl. zu den ersten dreien E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, S. 39 ff. Vgl. zu "Entwurf 1 und "Rolle" H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. III/ 4, § 226: "Spielerische Identifizierung"/ S. 453 - 488. bes. S. 469 ff. Zu den leiblichen "Ausdrucksbewegungen" im Unterschied zu den auf einen dinglichen Gegenstandszweck vor Ort der Körperwelt bezogenen "Willkürbewegungen vgl. L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Leipzig [3. & 4. Auflage] 1923.

1.4. Erläuterungen zur phänomenologischen Terminologie

109

Innensubstanz am Menschen zu erklären, sondern bedeuten den Menschen ganzheitlich aus dem Raum heraus atmosphärisch ergreifende Mächte, die ihn entweder nur zu einer rein körperlichen Existenz oder aber zu einem leiblichen Ausdruck gelingenden Lebens in vollendeter Gestalthaftigkeit bewegen und befähigen. 495 "Seele" wird lebensphilosophisch auf das voluntaristische Vitalitätsprinzip beschränkt und darf deshalb nicht als metaphysisches Konstrukt im Sinne des abendländischen Körper - Seele - Dualismus mißverstanden werden. Sie ist bei Böhme nirgends als eine hermetisch von der Außenwelt abgeschlossene Monade, als Kasten einer rein subjektiven Innen- und Gefühlswelt oder als geistige Substanz vorgestellt. 496 2. Der Mensch ist als "Leib" auf eine "Lebenswelt" hin entworfen. Husserls Begriff dient hier ganz allgemein zur Beschreibung des menschlichen Weltumgangs in einer überschaubaren Struktur, so daß der Mensch sich "wohnweltlich" einrichten kann und geborgen weiß. Diese Qualität ist dem reinen "Leben" und seinem unvermittelten Andrängen immer erst abzuringen. 497

495 Vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/l, § 85/ S. 505 - 528. Ähnlich äußert sich bereits R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen [3. Auflage] 1958, S. 195: "(D)er Mensch hat nicht σωμα, sondern er ist σωμα." Bultmann reduziert "Leib" S. 196 dann jedoch auf die reine Struktur des Selbstverhältnisses von "Dasein" im Sinne Heideggers (vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 41 f.). Das genuin leibliche Deskriptionspotential geht dadurch verloren, im Gegensatz zu Schmitz. 496 Vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 55 ff. 63 ff.; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 16 - 25; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 1 - 17. Vgl. zur Kritik des metaphysischen Seelenbegriffs auch G. Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, S. 113 - 125: "Der Leib", S. 126- 138: "Leibliche Anwesenheit". Zu einem rein vitalistischen Seelenbegriff vgl. L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn [6. Auflage] 1981; ders., Vom kosmogonischen Eros, Bonn [8. Auflage] 1981. 497 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften. Eine weiche, primär deskriptive Nutzung des Begriffs verfolgt B. Waidenfels, In den Netzen der Lebens weit, Frankfurt/ Main 1985; ders., Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, in: Chr. Jamme/ O. Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, Frankfurt/ Main 1989, S. 106 - 118. Eine hochgradig formalisierte, die leiblichen Sinnpotentiale zurückdrängende Interpretation bietet dagegen R. Welter, Der Begriff der Lebens welt, S. 42 - 115. S. 116 ff. folgt dann allerdings ein Überblick über die Wirkungsgeschichte dieses Begriffs als allgemeineres kulturanthropologisches Deskriptionsinstnimentarium. Die Benützung des Begriffs "Lebenswelt" in dieser Arbeit gehört in eine von Husserl inspirierte Wirkungsgeschichte und geht über Husserls Intentionen vermutlich hinaus. Die Vorstellung einer wohnweltlich gehegten Alltagswelt taucht bei Husserl nur ansatzweise auf; vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 303, zur Differenz zwischen "Heimwelt" und "Fremdwelt"; vgl. auch B. Waidenfels, Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, S. 114 - 117. Zur notwendigen Kritik an den von Welter herausgearbeiteten Implikationen von "Lebenswelt" bei Husserl vgl. M. Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 85 f.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

3. "Situation" bezeichnet im Unterschied zur "Lebenswelt" als einer Art Konstante der intentionalen Orientierung des Menschen ad extra zunächst einmal augenblickliche Eindruckskonstellationen, die aufgrund einer "chaotischen Mannigfaltigkeit" unüberschaubar und hochgradig verstörend wirken können. Im Schreck oder in der augenblicklichen Angst verdichtet sie sich eventuell zum absoluten Nu, zur "primitiven Gegenwart", in der alle Aspekte "entfalteter Gegenwart", "Ich", "Hier", "Dieses", "Dasein", "Jetzt", auf einen Punkt höchster leiblicher sowie räumlicher Intensität zusammengeschmolzen sind. Der Mensch vermag sich nun aber mittelst sprachlicher Orientierung, etwa anhand der biblischen Prototypik, einen die "Situation" qua unmittelbarer Eindruckswirklichkeit strukturierenden Überblick zu verschaffen. Im Rückgriff auf "sinnen - bildliche" Sprachgestalten gelingt ihm, der "Situation" eine szenisch in sich geschlossene Situationsdramatik einzustiften, die ihm in "entfalteter Gegenwart" einen Spielraum zur leiblich - lebensweltlichen Gestaltung eröffnet. 498 4. Eine "Situation" qua "chaotischer Mannigfaltigkeit" konstituiert ζ. B. ein "Gefühl", das wie eine Atmosphäre ein Phänomen des Raumes ist. "Leib" und "Seele" werden von ihm affiziert, verhalten sich pathisch, d. h. empfindsam - erleidend, gegenüber einer autonomen Eindruckswirklichkeit im Extra nos. Böhmes Ergriffenheit von Angst (s. u. 3.1.) überkommt ihn aus dem Raum. 499 Zum Begriff der wohnweltlichen Hegung der Lebensunmittelbarkeit durch eine "Umfriedung" vgl. H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. III/ 4, § 217 - 219, S. 207 - 341; auch O. F. Bollnow, Der Raum, S. 90 - 93. 123 - 175. 307 ff. 498 Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 48 ff. 65 ff. 111 ff. 153 ff. 166 ff. 170 ff.; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 26 ff. 67 ff. 96 ff. 110 ff. 135 ff. 162 ff. Den Begriff der "chaotischen Mannigfaltigkeit" verwende ich im Unterschied zu Schmitz' Bewertung dieses Mannigfaltigkeitstyps als einer immer schon soweit präformierten Situation, daß der Mensch sich trotz einer chaotischen Binnendiffusion im unmittelbaren Erleben bereits mit instinkthafter Sicherheit intuitiv zurechtfindet, stattdessen im biblischen Ursinn von "Chaos" als "Tohuwabohu" (Gen 1, 2). An dieser Stelle weicht Jakob Böhme deutlich von der mit dem dionysischen Rausch vertrauteren Lebensphilosophie und ihr folgenden Phänomenologie ab. Analog bei H. Timm, Vitalsinn. Zum Problem der Reduktionsphänomenologie, in: M. Großheim (Hg.), Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994, S. 221 - 234, hier bes. S. 221. 226 - 228. 230 - 234. Zur Inszenierung der Wirklichkeit im Gegenüberverhältnis zu einer Textwelt vgl. oben 1.3.2.3. die Ausführungen zu Ricoeur und auch K. Huizing, Homo legens, S. 102 ff. 155 ff. Dort zur Herkunft dieses Gedankens von E. Lévinas, S. 75 ff. Zur generellen anthropologischen Bedeutung der Wirklichkeitsinszenierung vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 33 - 50. bes. S. 44 ff.: "Eine Szene machen - Die Investitur der Begegnung". 499 Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 292 ff. In diesem Sinne denkt auch R. Otto, Das Heilige, S. 31 zur Kritik animistischer Verbiegungen religiöser Eindrucksphänomene: "Nicht, daß man es hier mit 'Seelen', mit kuriosen Entitäten die man zufälligerweise nicht sehen kann, zu tun habe wie der Animismus meint, ist auf dieser Stufe das Eigne. Seelen - Vorstellungen und ähnliche Begriffe sind vielmehr alle erst nachträgliche

1.4. Erläuterungen zur phänomenologischen Terminologie

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5. D i e D i f f e r e n z von einer rein körperlichen E x i s t e n z mit e i n e m unvermittelten seelischen Lebenshunger nach Ein- und Ausdrücken zu einer leiblich - gestalthaften Lebensführung mit persönlicher "Haltung", "Rolle" oder individ u e l l e m "Lebensstil", " E n t w u r f wird i m Hinblick auf B ö h m e s entsprechende strukturelle D i f f e r e n z i e r u n g eines amorphen, v o n A u g e n b l i c k zu A u g e n b l i c k getriebenen L e b e n s v o n einer leiblich - gestalteten Lebensführung terminologisch s o n a c h v o l l z o g e n , daß erstere Gestaltlosigkeit d e m "Homo faber" zugeordnet wird, der g a n z in seinen alltäglichen B e s o r g u n g e n aufgeht, und die zweite Lebensgestalt d e m "Christenmenschen" i m Sinne Luthers. 5 0 0

'Rationalisierungen', die den Versuch machen das Rätsel des mirum nun doch irgendwie zu deuten, und die dann für das Erlebnis selber immer sogleich auch eine dämpfende abschwächende Wirkung haben." 500 Der Handwerker Böhme wußte, wovon er schrieb. Er selbst setzte sich mit der Verlockung auseinander, das Menschenleben im beruflichen Erfolg aufgehen zu lassen. Die Berufsunfähigkeit oder der Altersruhestand konnten dann nur noch als Untergang wahrgenommen werden. Der Mensch ist gerade als religiöse Privatperson aber immer mehr als eine öffentliche Berufs- und Arbeitsperson. Das muß zur individuellen Darstellung gelangen und erlebt werden können. Die moderne literarische Bearbeitung dieses Problems bietet Max Frisch in seinem Roman "Homo Faber" am Beispiel eines Ingenieurs. M. Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt/Main 1957. Philosophisch taucht das Problem bei Heidegger auf. Dort verfällt das "Dasein" den Verlockungen des "Man", d. h. des uneigentlichen "In - der - Welt - Seins", in dem das "Dasein" sich der jeweiligen Mode entsprechend verhält und eine Fülle von Verrichtungen ausführt, ohne deren Bedeutung für die "jemeine" Lebensführung angeben zu können. Das "Dasein" täuscht sich mit der oberflächlichen Geschwätzigkeit des "Man" (vgl. Sein und Zeit, § 35/ S. 167 ff.: "Das Gerede", § 36/ S. 170 ff.: "Die Neugier") über diese Verantwortungslosigkeit hinweg, bis es in seiner Entfremdung von "Sorge", "Tod" und "Angst" eingeholt und gestellt wird. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 126 - 130. Dort auch S. 117 ff. die Gefahr dieser Entfremdung vom eigentlichen Selbst - Sein aufgrund der alltäglichen "Fürsorge" in der "Werkwelt des Handwerkers" (S. 117; auch S. 175 ff.). Vgl. auch M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 37. Dort zur "Theorie des 'homo faber'" bes. Anm. 1: "Zwischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker genommen, besteht nur ein -allerdings sehr großer- gradueller Unterschied." Die eigentliche "Sonderstellung" des Menschen basiere nicht auf "Intelligenz und Wahlfähigkeit", sondern auf "Geist" (vgl. ebd., S. 38). Der "homo faber" gehöre zu "vitalistisch(en)" Anthropologien, die das "Leben" unvermittelt zur "Urkategorie der Gesamtauffassung der Menschen und damit auch des Geistes" machten. Die dort herrschenden "Arbeitsformen" seien nur Ausdruck "technischer Intelligenz". Somit verfalle der "homo faber" geistloser Amorphie (vgl. ebd., S. 82. 87). Die Begriffssynthese "Christen - Mensch" sowie das Problem religiöser Lebensführung inmitten dieser Welt, ohne sich hinter Klostermauern über sie erheben zu wollen oder diesseits derselben sich an sie zu verlieren, beschreibt M. Luther, Ein Sendbrief an den Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520, in: BoA. Bd. 2, Bonn 1912, S. 1 - 27.

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1. Jakob Böhme als Gegenstand einer systematisch - theologischen Untersuchung

1.5. Überblick über die weitere Gliederung der Untersuchung Auf diese Einleitung folgt Böhmes polemische Abgrenzung von der altprotestantischen Lehrorthodoxie (2.)· Hier geht es v. a. darum, den inkarnationsmorphologischen Ansatzpunkt im Hinblick auf die Überwindung des kognitivistischen Distanzierungsgestus der dogmatischen Lehrsysteme zu perspektivieren. Erfahrungssoteriologie und applikative Schrifthermeneutik stehen bei Böhme für eine programmatische Einforderung elementarer Lebensbedeutsamkeit theologischer Besinnung. Von hier aus wird dann leicht nachvollziehbar, weshalb Böhme die subjektive Heilsvergewisserung des individuellen Christenmenschen als das erkenntnisleitende Interesse theologischer Besinnung bestimmt. Nachdem Lebensbedeutsamkeit und subjektive Heilsvergewisserung programmatisch zum Ausgangspunkt theologischer Besinnung erhoben worden sind, wird es im dritten Kapitel um die Anwendung des inkarnationsmorphologischen Ausgangspunktes auf die situationsdramatische Inszenierung des leiblichen Spürens und Erlebens zu religiösen Durchbruchserlebnissen gehen (3.). Erfahrungssoteriologie und applikative Schrifthermeneutik erscheinen hier zunächst als die typisierende Phänomenologie des Wiedergeburtserlebnisses Jakob Böhmes (3.1.) und dann als die phänomenalisierende Typologie biblisch präformierter Christus - Erlebnisse, die allesamt zur Situationsdramatik des Christus praesens gehören, für die Böhme seine Leser szenographisch zu sensibilisieren versucht (3.2.). Das vierte Kapitel wendet die applikative Schrifthermeneutik nun auf das erfahrungssoteriologisch reperspektivierte biblische Schöpfungsdrama an (4.). Es geht um die Phänomenalisierung der christlichen Welt inmitten der den Menschen alltäglich umgebenden Körperwelt. Nachdem bisher bestimmte, aus dem alltäglichen Dahinexistieren ad hominem qualitativ herausgehobene Erlebnissituationen des Christus praesens aufgezeigt worden sind (3.), soll Inkarnationsmorphologie nun zur lebens- (4.1.), sprach- (4.2.), und wahrnehmungsweltlichen (4.3.) Requalifizierung der den Menschen in seiner körperlichen Existenz umgebenden Körperwelt dienen. Dazu wird auf das gestaltungskräftige Wirken des kosmischen Christus vor Ort des trinitarisch strukturierten, schöpferischen Gotteslebens einzugehen sein. Nachdem der leiblich - situative Aufbau der Lebenswelt des Christenmenschen inkarnationsmorphologisch erhellt worden ist (4.), wird es im fünften Kapitel um die Leibesgestalt des Menschen selbst gehen, diesmal aber mit Blick auf die die gesamte Lebensgeschichte (d. h. nicht nur phänomenologisch - hermeneutisch bedeutsame Erlebnisse wie in 3.) und den Weltumgang (daher zunächst 4.) einschließende Lebenshaltung, den Habitus oder Entwurf; entweder zu einer rein körperlichen Existenz als Homo faber oder als leibhaftig lebender Christenmensch (5.).

1.5. Überblick über die weitere Gliederung der Untersuchung

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Ein sechstes Kapitel unternimmt eine letzte Konkretion der Inkarnationsmorphologie mit ihren Komponenten Erfahrungssoteriologie und applikative Schrifthermeneutik (6.). Hier geht es um die leibhaftige Bewährung des individuellen Christenmenschen, wie er sich und seine Welt im Zusammenhang von Erfahrungssoteriologie und applikativer Schrifthermeneutik verstehen gelernt hat. Die subjektive Selbstvergewisserung hinsichtlich seines individuellen Heilsstandes ist als theologische Besinnung sprachliches Ausdruckshandeln, aber mit einem performativen Charakter. Sensitiv spürbar phänomenalisiert werden kann nur, was im eigenen Leibesleben zugleich als normativ befolgt wird. Der inkarnationsmorphologische Zusammenhang aus Erfahrungssoteriologie und applikativer Schrifthermeneutik mündet nicht in der Entfaltung einer von der alltäglichen Lebenspraxis bewußt absehenden Ästhetik, sondern vielmehr in einer leibhaftigen Ethik. Schluß und Ausblick (7.) sollen dann die Untersuchung abschließend sowohl die Ergebnisse Revue passieren lassen, als auch auf die Wirkungsgeschichte Böhmes in genuin inkarnationsmorphologischer Hinsicht vorausweisen.

2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit theologischer Besinnung Jakob Böhme gilt im Rahmen der Theologiegeschichte des neuzeitlichen Protestantismus als ein Außenseiter, der den spiritualistisch - schwärmerischen Seitenarm der Reformation mit den Anfängen des kirchenfernen Pietismus vermittelt.1 Dieser Eindruck wird durch Böhmes scharfe Kritik an der zeitgenössischen orthodoxen Kirchenlehre sowie durch die prophetische Inspirationstopik und den individuellen mythopoetischen Präsentationsstil noch verstärkt. Deshalb steht Böhme unter dem Verdacht der Heterodoxie, der von seinen Lebzeiten bis in heutige Zeit eine breite systematisch - theologische Rezeption verhindert hat. 2 Dem Verdacht der Neuoffenbarung aus prophetischer Selbstermächtigung widerspricht jedoch von Anfang an Böhmes Selbsteinschätzung. Er betont demgegenüber, daß er auf dem "Grund der alten H. Väter" stehe, "da man mehr dergleichen Büchlein würde finden" (ep 53, 9). Es lag Böhme nichts ferner, als sich wie ein Neuoffenbarer über den quantitativen Umfang des Lehrbestands der christlichen Tradition zu erheben. Er kritisiert aus diesem Grunde sogar einige Zeitgenossen, die die Grenze zu einem schwärmerischen, nicht mehr mit Schrift und Tradition zu vermittelnden Spiritualismus überschreiten, in eigens zu diesem Zweck abgefaßten Schriften. Esaias Stiefel und Ezechiel Meth, 1

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Zur beschriebenen Vermittlerrolle Böhmes am heterodoxen Rand des werdenden Luthertums vgl. oben 1.2.1.1.1. zu H. Bornkamm, Luther und Böhme, 1.2.1.1.2. zu E. Hirsch, Jakob Böhme und seine Einwirkung auf die Seitenbewegungen der pietistischen Zeit, und 1.2.1.1.3. zu E. Beyreuther, Geschichte des Pietismus. Vgl. auch oben 1.2.1.2.2., L. Richter, Immanenz und Transzendenz, hierzu bes. S. 24. Zur ambivalenten Rezeptionsgeschichte Böhmes vgl. oben 1.1.1. zu Spener und 1.1.2. zu Oetinger, die Böhme beide als nicht unbedenklich und darum zum allgemeinen Gebrauch als Erbauungslektüre untauglich einstufen; Ph. J. Spener, Letzte Theologische Bedencken. Teil III, S. 136. 160. 161. 164; Fr. Chr. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, Anhang/ S. 92. Den subjektiv - prophetischen Gestus Böhmes kritisieren als Neuoffenbarertum E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 211, und W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 45 - 58. 135 f. Eiert spricht allerdings S. 94 m. E. sehr zutreffend von einer "dichterisch - prophetisch(en) Schriftstellerei" J. Böhmes. E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 22 ff. 36 - 40, und E. Pältz, Zum Verständnis von Jacob Boehmes Autorschaft, S. 20 f. nehmen dagegen Böhme gegen den Vorwurf der Neuoffenbarung ausdrücklich in Schutz, indem sie im Sinne Böhmes die Inspirationstopik so interpretieren, daß Böhme sich immer einer ihm extra nos vorgegebenen gegenwärtigen Offenbarung verpflichtet gefühlt habe, die im Wesentlichen nichts Anderes oder Neues als die einmalige Christusoffenbarung beinhalte, mit der für Böhme die Wahrheit jeder subjektiven Offenbarung zur prophetischen Verkündigung stehe und falle.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Bürger von Langensalza, faßten die Wiedergeburt Böhmes Einschätzung zufolge dahingehend auf, daß der neue Mensch mit Christus und seiner Gottheit unmittelbar identifiziert wird, wodurch es in der Konsequenz zur pantheistischen Verwechselung von Schöpfer und Geschöpf kommt (vgl. Sti I und Sti II). 3 In der Auseinandersetzung mit Paul Kaym, einem kaiserlichen Zolleinnehmer zu Liegnitz, der offenbar die Schriften Böhmes um die explizite Apokalyptik des 4. Esr. (vgl. ep 8, 27 = Κ I 27) ergänzt sehen möchte, rechtfertigt Böhme ganz im traditionellen Rahmen der altprotestantischen Lehrorthodoxie die biblische Zurückhaltung in der Ausmalung eschatologischer Ereignisse und betont die Überflüssigkeit der Entfaltung eines Chiliasmus (vgl. ep 8. 11 = Κ I . II). Darüberhinaus wird Schwenckfelds spiritualistische Auflösung der konkreten Menschheit Jesu Christi ebenso deutlich zurückgewiesen (ep 12, 54) wie Weigels (ep 12, 59 f.) oder Tilkens (Ti I 225 im Zitat aus Tilkens eigenem Text, ebd. 348 ff. in Böhmes Entgegnung) doketistische bzw. monophysitische Behauptung, Maria sei nicht auf ganz menschliche Weise "Joachims und Annä Tochter" (ep 12, 59; Ti I 348 f.), wodurch ähnlich wie Schwenckfelds Spiritualismus die volle Menschheit Jesu Christi in Frage gestellt werde. Etwas verworren erscheint der distanzierende Hinweis auf die "Flacianer", die ein "eigen Vermögen, ausser Christo zur Kindschaft zu kommen" (ep 15, 7), lehrten, da Matthias Flacius Illyricus im Allgemeinen mit der Extremposition, gute Werke seien der Erlösung schädlich, identifiziert wird. Böhme meint wohl, daß diese Position insofern synergistisch sei, als gute Werke des Menschen unter Absehung von dessen persönlicher Beziehung zum Christus praesens dann praktisch seinem natürlichen Vermögen "ausser Christo" zuzuschreiben seien. Die Flacius zwar verfehlende Bemerkung offenbart nichtsdestoweniger Böhmes eigene radikale Christozentrik. Aufgrund dieser Beobachtungen wird klar, daß Böhme zu Recht von sich behaupten kann: "Ich habe keine neue Lehre, sonder nur die alte, welche in der Bibel und im Reich der Natur zu finden ist" (ApR 67). Ganz im Gefolge der typologischen Methode applikativer Schrifthermeneutik im Mittelalter dient ihm das Liber naturae nur insofern als Quelle theologischer Besinnung, als das Liber vitae, die Heilige Schrift, von sich aus darauf rekurriert.4 3

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Diese Merkwürdigkeit, daß der unter permanentem Heterodoxieverdacht stehende Böhme sich selbst für die Lehrorthodoxie einsetzt, bemerken nur J. Hamberger, Die Lehre des deutschen Philosophen Jakob Böhme, S. XX f. und XLIV f. und W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 47 f. Zu dieser fundamentaltheologischen Konfiguration von Liber naturae und Liber vitae durch die hermeneutische Vermittlung der frühbarocken Emblematik vgl. oben 1.3.3.; D. W. Jons, Das "Sinnen - Bild", S. 31 ff. 56 - 58. 256. bes. 41 f.: "Der Vorgang ist somit ein Wiedererkennen des durch die Bibel Verkündigten in der Natur." Ähnlich im Sinne einer rückwärtigen Konstitution des Liber naturae aus dem Liber vitae bestimmt O. Bayer im Anschluß an Luther und Hamann den Status der an sich untheologischen Natur als theologisch hochbedeutsame Schöpfung mit einer genuinen Offenbarungsqualität; vgl. O. Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen [2. Auflage] 1990.

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

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Wenn sich Böhme prophetischer Inspirationstopik bedient, um die Ernsthaftigkeit seiner Kritik zu unterstreichen und zu erklären, warum gerade er als Handwerker so weitgehende Reformulierungsvorschläge zur theologischen Besinnung macht, so bildet immer die Zusammenstimmigkeit seiner Einsichten mit der Schriftoffenbarung deren fundamentaltheologische Voraussetzung. Böhme greift auf die Inspirationstopik deshalb auch nur in deutlicher Abgrenzung zu dem Mißverständnis einer ihm privat zuteil gewordenen Sonderbegnadung zurück. Seine Gnosis bedeutet keine unmittelbare Heilsgewißheit, über die er nach Belieben verfügen kann: "Meine hohe Wissenschaft machet mich nicht selig: denn ich weiß mich nicht; Sie ist nicht mein, sondern GOttes Geist weiß sich in mir; Er lockt mich darmit zu sich; Wenn Er weichet, so weiß ich nichts." (Ti I 587 = ebd. 28 f.; auch Mr 3, 49) Böhme reklamiert zwar als "Laye ... hohe, Göttliche und natürliche Erkentniß" (ApR 5) für sich, allerdings nur im Sinne der in Mt 7, 7 biblisch verheißenen Gebetserhörung. Als Vorbilder seiner Berufung zur theologischen Schriftstellerei gelten ihm alle Heiligen des Alten und Neuen Testaments, die "(a)llesamt arme, einfältige Handwercks = Leute" gewesen sind. In der Bibel wimmele es von Schafhirten, Ackerleute, Zimmermännern, Fischern usw. Der Schriftgelehrte Paulus sage von sich, er "muste ... von ehe in seiner Kunst und Weisheit ein Narr werden, aufdaß die Göttliche Weisheit in ihme möchte statt finden." (ApR 5 = ebd. 43) Inspiration bedeutet für Böhme somit offensichtlich die Ergriffenheit des individuellen Bibellesers, durch die ihm die ihn in ihrer objektiven Textlichkeit ansprechenden biblischen Wahrheiten zum persönlichen Ereignis werden, an denen er nur passiv - pathisch teilhat und als deren selbsteigener Verursacher er sich deshalb auch nicht empfinden kann: "Du darfst auch nicht dencken, daß ich sey in Himmel gestiegen, und habe solches mit meinen fleischlichen Augen gesehen. O nein: Höre du halb erstorbener Engel, ich bin wie du, und habe kein grösser Licht in meinem äusserlichen Wesen als du; darzu so bin ich sowol ein sündiger und sterblicher Mensch als du, und muß mich alle Tage und Stunden mit dem Teufel kratzen und schlagen, welcher mich in meiner verderbten Natur ..., die in meinem Fleische ist wie in allen Menschen, immer anficht: ... [...] Und ob mirs gleich ein Engel vom Himmel sagte, so würde ichs doch nicht können glauben, viel weniger fassen, denn ich würde immer zweifeln, ob sichs also verhielte: aber so gehet mir die Sonne selber in meinem Geiste auf, darum bin ich des gewiß, ... Denn die heilige Seele ist ein Geist mit Gott;... die Engel sehen allein bis in die himmlische Pomp, die Seele aber siehet die himmlische und die höllische, denn sie lebet zwischen beyden." (Mr 11,67. 72) Der Christenmensch ist Böhme zufolge generell nur aufgrund solcher, genuin biblisch vermittelter Ergriffenheit zur theologischen Rede autorisiert (ApR 30 - 32). Die subjektive Ergriffenheit von dem objektiven Schrifttext bedeutet grundsätzlich keinen Freifahrtschein für private Beliebigkeiten. Böhme

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

betont nämlich immer die formale Funktion der Schrift als einzig verbindliches Kriterium für die Zusammenstimmigkeit seiner Ausführungen mit dem materialen Inhalt der Schriftoffenbarung: "auch lehret mich solches das Neue Testament durchaus" (ApR 45). 5 Böhmes prophetisches Pathos resultiert zwar aus der Vorahnung einer auch nach Luther immer noch ausstehenden Reformatio universalis: "Denn es ist die Stunde der Reformation kommen." (ep 52, 2) Durch sie soll aber lediglich der Christus praesens ganz im Sinne der paulinischen Paränese eine tatsächlich alle Lebensbereiche erfassende und bestimmende Wirklichkeit erreichen.6 Böhme hat keine akademische Bildung genossen. Das trägt ihm den Dünkel 7 der beamteten Theologen in Görlitz ein: "Dann wäre mein Erkentniß aus ihren Schulen geboren, so würden sie das Ihre lieben; weil sie aber aus einer andern Schule ist, so kennen sie das nicht; verachtens derowegen, wie sie allen Propheten, auch Christo und seinen Aposteln thäten." (ep 5, 5 = ebd. 10, 28. 34. 44; 34, 6; 35, 8; 41, 14). Des Lateinischen unkundig kennt er die Positionen der lutherischen Universitätstheologen nicht im Einzelnen. Seine Kritik zeichnet das zeitgenössische Luthertum also immer nur durch die Brille der ihm als Handwerker zugänglichen Institute theologischer Allgemeinbildung: Schule, Katechismusunterricht, Bibellektüre in der deutschen Übersetzung Luthers, Lektüre einiger Schriften Luthers, das lutherische Gemeindeliedgut sowie schließlich die Predigten der orthodoxen Pastoren in Görlitz. 8 Verblüf5

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E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 22 ff. 36 - 40, und E. Pältz, Zum Verständnis von Jacob Boehmes Autorschaft, S. 20 f., betonen lediglich, daß sich Böhme einer ihm extra nos vorgegebenen Objektivität der Christusoffenbarung verpflichtet gefühlt habe, ohne auf Böhmes Anerkennung des lutherischen Schriftprinzips in diesem Zusammenhang noch einmal besonders hinzuweisen. Böhmes Zurückhaltung im Umgang mit der Inspirationstopik bemerkt dagegen G. Böhme, Jacob Böhme (1575 - 1624), S. 160. Die systematisch - theologischen Grundlagen des reformatorischen Schriftprinzips in applikativer Hinsicht erarbeitet K. Huizing, Homo legens, bes. S. 156 ff. zur "Lector- und Scriptorinspiration". Zur "Sendungsgewißheit eines Propheten" bei Böhme in Anknüpfung an die zunächst im Schwärmertum beheimatete Vorstellung einer "neuen Reformation" vgl. H. Bornkamm, Jakob Böhme. Leben und Wirkung, S. 325 f.; auch E. Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 381; K. Leese, Krisis und Wende des christlichen Geistes, S. 49: Es gehe um "eine umfassendere Reformation des christlichen Geistes."; ausführlicher E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 9 ff. Über den Dünkel der unmittelbaren Zeitgenossen hinaus wird Böhmes mangelnde akademische Bildung im Verlauf der gesamten Rezeptions- und Forschungsgeschichte immer wieder zum Anlaß von Hohn und Spott genommen; vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 5 - 58. bes. S. 41; ähnlich auch H. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 4. Vgl. auch Hegel, Vorlesungen. Bd. III, S. 91 f. 94 f. 97; Feuerbach, Geschichte, S. 134 f. Einer der wenigen Böhme - Forscher, die wenigstens ansatzweise das Zustandekommen der Bildung Böhmes zu rekonstruieren versuchen, ist Feuerbach. Sie entstamme nicht der "Lektüre in- und ausländischer Journale", sondern dem "Hörensagen" und der "Dorfzeitung" (Geschichte, S. 128). Genauere Hinweise bietet dann W. - E. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, Jena 1924, S. 18 ff. 21 - 25. Böhme habe in der Tat vom Hörensagen Theologie gelernt, u. z. vermutlich in den Hauskonventen des Görlitzer Pastor Primarius

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fenderweise ermöglichen diese Bildungsinstitutionen Böhme sogar, die von ihm verwendeten lateinischen Fachausdrücke richtig flektiert in den deutschen Satz einzubauen. 9 Hinzu kommen Kenntnisse der Schriften von Paracelsus, Schwenckfeld und Weigel, die allerdings nur terminologisch rekonstruierbar sind. 1 0 Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung dürfte vor allem aber der Austausch mit ebenfalls pansophisch gesinnten Freunden und Bekannten in Gesprächen und in der brieflichen Korrespondenz gehabt haben. 11 Wenigstens aus zweiter und dritter Hand ist Böhme also über alle Grundfragen der zeitgenössischen Theologie und pansophischen Spekulation orientiert. Das erklärt seine immer recht zutreffende Einschätzung der Probleme der sich konstituierenden konfessionellen Lehrsysteme, wenn er auch deren Lösungsvorschläge en détail nicht kennt und daher sicherlich oft polemisch überzeichnet. 12 Der mit prophetischer Emphase vorgetragene Einspruch gegenüber der Lehrorthodoxie des jungen Luthertums bezieht sich auf deren Stil der theologischen Begriffsbildung. Die drei Säulen der reformatorischen Einsicht Luthers, das Solus Christus, Sola gratia und Sola scriptura, werden derart scharf hinsichtlich des extra nos liegenden objektiven Bedeutungsgehalts umrissen, daß sie aus ihrer begrifflichen Distanz heraus kaum noch mit dem für Luther gleichursprünglichen Pro me eines subjektiven Sola fide zu vermitteln sind. 13

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Martin Moller, die dieser bis 1606 abgehalten hat. Die deutlichen Assonanzen zur patristischen Theologie in Böhmes Schriften könnten ihm nur hier vermittelt worden sein. Darüberhinaus benennt Peuckert Bibellektüre und Predigtgehör als die Bildungsinstitute Böhmes. Das bemerkt zutreffend H. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 316. Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 75. Anm. 3. 78. 102. 166f., und G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), S. 161. Böhme spricht selbst davon, er habe "vieler hoher Meister Schriften" gelesen; vgl. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, S. 31. Ebd. S. 49 ff. Richtige Zitate im Unterschied zu diesen eher "atmosphärischen" (G. Böhme) Einflüssen bietet Böhme nur aus der H. Schrift, vgl. Peuckert, ebd., S. 33. Vgl. G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), S. 161; H. Bornkamm, Luther und Böhme, S.320 f.; W. - E. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, S. 51. 60 ff., benennt den mit Böhme befreundeten Arzt Kober z. B. als verbalen Übermittler der paracelsischen Gedankenwelt. Zu Schwenckfeld vgl. ebd., S. 68 ff., und zu Weigel vgl. ebd., S. 73 ff. Das bemängelt W. Eiert, Die voluntaristische Mystik Jakob Boehmes, S. 53 f. im Hinblick auf Böhmes Kritik an der orthodoxen Fassung des lutherischen Schriftprinzips (dazu nachher unten ausführlich 2.4.): "Wir haben doch wohl Grund, uns vor der falschen Unterstellung zu hüten, als hätte die alte lutherische Kirchenlehre in der Bibel nur ein Kompendium göttlicher Aussprüche, ein formelhaft aufgefaßtes, übergeschichtliches oder ungeschichtliches Erzeugnis des heiligen Geistes gesehen - wenn ihr ein so scharfer Kritiker wie Böhme ... das Gegenteil zum Vorwurf macht!" Vgl. auch ebd., S. 135 f. und E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 246 f. zur offensichtlichen Unkenntnis Böhmes im Einzelnen. In der Tat muß es in diesem Abschnitt um Böhmes systematisch - theologischen "Scharfsinn" qua Problembewußtsein gehen, nicht aber um die Frage, ob das von ihm entworfene Bild auch tatsächlich historisch zutreffend ist. Den "erstaunlichen Scharfsinn" Böhmes bemerkt E. Hirsch, ebd., S. 230. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 81, und Bornkamm, Luther und Böhme, S. 269, sehen deshalb das Hauptproblem bei Böhmes Orthodoxiekritik in einer synergistischen Verzeichnung der lutherischen Rechtfertigungslehre, da er das Sola gratia zugunsten der

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Böhme befürchtet, daß durch die analytisch diskursive Präsentationsform der altprotestantischen Orthodoxie das genuin lutherische Pro me sich zu einer rein objektiven Behauptung verflüchtigt, da der Christenmensch nicht affektiv auf sein leibliches Erleben hin angesprochen wird. Deshalb rückt er die leibhaftige, individuell subjektive "Unvertretbarkeit" im lebendigen Christusglauben ganz in das Zentrum seiner fundamentaltheologischen Vorüberlegungen: "(S)o mag keine fremde Annehmung gelten, durch sonderlichen von aussen erwehlten Schein; sondern das Ingeborne, und wieder aus derselben Ingeburt aussprechende Wort, da Christus aus seinem Grunde mit der Seelen und durch die Seele redet, das ist die Kindschaft der Annehmung." (Gw 11,3) Die "Historien = Magi", wie Böhme die beamteten Theologen bezeichnet, regen in ihren Ausführungen nicht dazu an "mit eigenen Augen" zu sehen. Sie fördern durch ihre diskursive Präsentationsform die Haltung, sich affektiv unbeteiligt blind auf die propositional explizierten Glaubenssätze zu verlassen. Mit einer objektiven Sachverhaltsbestimmung ist der Fides specialis Böhme zufolge aber nicht gedient, da sie ohne vitale Konsequenzen für die Lebensführung bleibt: "(D)er aber mit fremden Augen siehet zweifelt immer, ob der Geist recht oder falsch sey." (3fL 7, 38 = 6, 36) Die Form der dogmatischen Objektivierung macht es in Böhmes Augen unmöglich, die "Unvertretbarkeit" des glaubenden Subjekts in seinem Glaubensvollzug 14 und die daraus folgende leiblich - lebensweltliche

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freien subjektiven Mitwirkung des frommen Subjekts vernachlässige. Dem widerspricht zurecht E. Hirsch, Jakob Böhme und, S. 244. 249. Trotz Kritik an der forensischen Schematisierung der Rechtfertigungslehre in der altprotestantischen Orthodoxie bewahre Böhme auf seine Weise "das reformatorische 'allein aus dem Glauben' und 'allein aus Gnaden'." (Ebd., S. 249) Böhmes Kritik der Imputationslehre der Lehrorthodoxie könne sich sogar auf Luther berufen und rebelliere nur gegen rationalistische Verflüchtigungen des jemeinen Glaubens in der individuellen Heilsaneignung (Vgl. ebd., S. 246 f.). Daß Böhmes Polemik gegen die Imputationslehre sich nicht gegen Luthers Rechtfertigungslehre, sondern ihre Verflachung bei Melanchthon richtet, sieht auch Bornkamm, Luther und Böhme, S. 265. Zur Widerlegung des Synergismus - Vorwurfs s. u. 3.1.3. Die "Unvertretbarkeit" im Glauben arbeitet G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959 = 1961, S. 140 f., im Anschluß an Luthers Anfang der Invokavitpredigten von 1522 (vgl. WA 10, 3; 1 f.) heraus: "Beides ist dem Glauben gleich wesentlich: sein göttlicher Geschenkcharakter und dies, daß er je mein Glaube ist, nur dann wirklicher Glaube ist, wenn er als Glaube verantwortet wird, im Einsatz der Person, in einem unvertretbar eigenen Glauben. ... Die äußerste Möglichkeit des Zeugnisses und des Einsatzes der eigenen Person im Martyrium ist nur ein Manifestwerden dessen, was dem Wesen nach stets zum Glauben gehört, nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit. Die Unvertretbarkeit des eigenen Glaubens hat zu tun mit der Unvertretbarkeit des eigenen Sterbens." Dadurch wirkt Luther unmittelbar auf die neuzeitliche Entdeckung der Subjektivität; vgl. auch E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. XXIII f.: "Die europäische Sozialgeschichte ... hat... den Konsens darüber erreicht, daß das selbst Fühlen, das selbst Denken, das selbst Glauben und das selbst Entscheiden die conditio sine qua non jedes gelingenden menschlichen Lebens ist, das sich schließlich im selbst Sterben zusammenfaßt." Der Glaube ist eine ähnlich unhintergehbar "subjektive Tatsache" (Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 5 ff.), wie der Tod die "Jemeinigkeit des Daseins" endgültig offenbart (Heidegger, Sein und Zeit, § 9/ S. 41 ff. bes. S. 42; zur Bedeutung des Todes in

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

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diesem Zusammenhang § 46 ff./ S. 235 ff.). Spätestens im Tode ereilt den Menschen ein leibhaftiges Erlebnis bzw. Erleidnis, das qualitativ von einem amorphen Dahinleben, in dem das Ich sein ureigenes Leben dem "Man" (Heidegger, ebd., § 27/ S. 126 ff.) überläßt, d. h. sein Vorrecht auf individuell - subjektives Leibesempfinden der Wirklichkeit an die Mode und ihre chaotische Vielfalt bloßer Möglichkeiten (Zu der oberflächlichen Geschwätzigkeit und den Moden des "Man" vgl. Heidegger, ebd., § 35 - 38/ S. 167 ff.) abtritt, durch ein unumgängliches "Tua res agitur!" unterschieden ist. Derartig gestellt und auf die unverwechselbare Eigentlichkeit seines Leibeslebens hin angesprochen kann sich das menschliche Subjekt nicht mehr hinter objektiven Gegebenheiten verschanzen. Die "Jemeinigkeit" (Heidegger) des Glaubens gehört zum Kernbestand protestantischer Theologie seit der Reformation. Es geht im Gefolge Luthers immer wieder um die Hervorhebung einer "fides specialis" ("fides qua creditur") im Unterschied zur "fides generalis" ("fides quae creditur") sowie um die Unterstreichung der "fiducia" ("fides apprehensive Christi") als wesentlicher Glaubenskomponente neben der "notitia historiae" ("fides acquisita seu histórica"). Erst dadurch kommt das für die Glaubensgerechtigkeit konstitutive Pro me zum Tragen. Zu diesen kurz angerissenen Distinktionen vgl. BSLK [3. Auflage], Register IV: Sachregister, Stichwort: "Glaube", S. 1181 f.; H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch - lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hg. v. H. Pöhlmann, Gütersloh [11. Auflage] 1990, § 41: "Fides", S. 263 ff.; E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin [3. Auflage] 1958, S. 117 - 135 zu Luther, S. 135 - 138 zu Melanchthon. Insbesondere im Hinblick auf die Vermittlung Schleiermachers mit dem theologischen Erbe der Lutherorthodoxie flammt die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität des Christusglaubens auf. Immer wieder wird die These aufgestellt, daß der Glaube im Sinne Luthers so sehr Opus Dei sei, daß er den Menschen regelrecht verwandele, d. h. von außen her überforme. Gott bliebe dadurch auf eigentümliche Weise immer das Subjekt des menschlichen Glaubens. Sein göttlicher Glaubensvollzug geschähe stellvertretend für das fromme Individuum als dem Objekt dieses im heilsgeschichtlichen Ereignis Jesu Christi wurzelnden Glaubensvollzuges. Vgl. dazu S. M. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, in: BFChTh 50, 1962, und W. Härle, Glaube als Gottes- und/ oder Menschenwerk in der Theologie Martin Luthers, in: MJTh IV, 1992, S. 37 - 77. Diese Thesen sind aber überzogen. Scharfe Kritik an solch einem flacianischen und eben nicht lutherischen Antisubjektivismus übte bereits Melanchthon; vgl. B. Lohse, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Luther bis zum Konkordienbuch, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1989, S. 1 - 164, hier S. 122 Anm. 7 die Wiedergabe von CR 7, 260: "Wiewohl Gott den Menschen nicht gerecht macht durch Verdienst eigener Werk, die der Mensch thut, sondern aus Barmherzigkeit, umsonst, ohne unser Verdienst, daß der Ruhm nicht unser sey sondern Christi, durch welches Verdienst allein werden wir von Sünden erlöset und gerecht gemacht: gleichwohl wirket der barmherzige Gott nicht also mit den Menschen, wie mit einem Block, sondern zeucht ihn also, daß sein Wille auch mitwirket, so er in verständigen Jahren ist." Das komplexe Zusammenspiel von Gottes objektivem Ergreifen und subjektiver Ergriffenheit des Menschen beschreibt Herms als einen dem Menschen von Gott ermöglichten Hingabeakt; vgl. E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. VIII: "Nach dieser altreformatorischen Auffassung ist vielmehr der Glaube ein Akt des Menschen, ...: Als tragender und maßgeblicher Ursprung des christlichen Lebens im Glauben kommt nichts anderes in Betracht als eben jenes Geschehen, daß sich das Wollen und Wirken Gottes selbst dem Glauben präsentiert und sich durch diese Selbstvergegenwärtigung (Selbstpräsenz) dem Hingabeakt des Glaubens als dessen Grund und Gegenstand gewährt. Dieses Geschehen ermöglicht die Hingabeaktivität des Glaubens, verlangt sie und richtet sie auf sich aus; und weil diese das Wesenszentum des christ-

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Konkretion der tatsächlich gelebten Glaubenspraxis angemessen wahrzunehmen. Stattdessen will Böhme die Heuristik theologischer Besinnung speziell auf die subjektive Lebensbedeutsamkeit eines leibhaftigen Glaubens des gegenwärtigen Christenmenschen einstellen (vgl. Mr 11, 75 f.). In diesem zweiten Kapitel soll nun in sechs Abschnitten nachgezeichnet werden, wie Böhme seinen inkarnationsmorphologischen Ausgangspunkt zur theologischen Besinnung in kritischer Auseinandersetzung mit der altprotestantischen Orthodoxie in der subjektiven Empfindsamkeit des lebendigen Christenmenschen verankert. Erst im Rückgriff auf die am eigenen Leibe gespürte Lebensrelevanz des christlichen Glaubens kann die Unvertretbarkeit im Glauben angemessen eingefordert werden, da der Christenmensch schon bei der Explikation der materialen Glaubensgehalte auf deren subjektive Verbindlichkeit angesprochen wird. Dazu gilt es freilich, Gotteslehre (2.1.), Christologie (2.2.), Schriftlehre (2.3.) und Ekklesiologie (2.4.) auf dem Wege der Deskription des lebendigen Glaubensvollzugs vor Ort christenmenschlicher Leibhaftigkeit derart zu perspektivieren, daß aufgrund eines völlig veränderten Präsentationsgestus' der jeweilige Christenmensch affektiv auf seine leiblich lebensweltliche Befindlichkeit im Glauben angesprochen wird. Ansonsten lösen sich Gotteslehre, Christologie, Schriftlehre und Ekklesiologie in rein objektive Sachverhalte metaphysischer Spekulationen auf, die sich gegenüber der tatsächlichen christenmenschlichen Lebenspraxis völlig indifferent verhalten. Den kognitivistischen Distanzierungsgestus, der als latente Gefahr jeder menschlichen Explikation innewohnt, will Böhme dadurch umgehen, daß er die individuelle Heilsaneignung zum fundamentaltheologischen Schlüssel macht, d. h.: Theologische Besinnung auf den materialen Gehalt des gelebten Glaubens ist immer zugleich Selbstbesinnung eines konkreten frommen Subjekts auf seinen leiblich - lebensweltlichen Glaubensvollzug im Hinblick auf die spezifische Lebenswahrnehmung und Lebenspraxis bzw. den spezifischen Stil der Lebensführung (2.5.). Abschließend geht es dann um die kongeniale Präsentationsgestalt des inkarnationsmorphologischen Neuansatzes theologischer Besinnung (2.6.). Hier wird ein neuer, literarischer Stil theologischer Besinnung und die ihm entsprechende Literaturform einzuführen sein. Eine sehr persönliche Art der Schriftstellerei soll es Böhme ermöglichen, die kogni-

lichen Lebens ist, auch das christliche Leben insgesamt." Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 357, bringt das Gemeinte auf den Punkt und spricht von "spontaner Rezeption" als dem persönlichen Zustimmen des Menschen zu seinem unwillkürlichen affektiven Betroffensein. Analog zum Glauben verhält sich dann auch die Offenbarung; vgl. E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. 264 f. Anm. 27. Herms betrachtet Offenbarung unter dem "Aspekt ihrer unübertragbaren Individualität". Ebd., S. 264: "'Offenbarung' begreift das Weltgeschehen unter dem Aspekt, daß es als das stetige Geschehen von Leib und Raum bestimmender Gegenwart je mich (und also alle einzelnen Personen als solche) unter die Notwendigkeit eines schlechterdings unübertragbaren, undeligierbaren Mich - entscheiden und - die Folgen - dieser - Wahl - tragen - Müssens stellt."

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

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tivistische Engführung diskursiver dogmatischer Propositionen zu vermeiden. Diese ist Böhme zufolge nämlich für das rein objektivierende Verdampfen der Subjektivität verantwortlich, wodurch von der Glaubenslehre nur ein dogmatischer Bodensatz an intermomentan und intersubjektiv gültigen Invarianzen übrig bleibt.

2.1. Metaphysische Theo - Ontologie oder der ad hominem lebendige Gott Die Gotteslehre der orthodoxen Kirchenlehre krankt in Böhmes Augen an ihrer Abhängigkeit von der mittelalterlichen Metaphysik. Bildlogisch sei sie deshalb noch immer dem ptolemäischen Weltbild verhaftet, das für den sich seiner postkopernikanischen Zeitgenossenschaft bewußten Denker Böhme bereits obsolet geworden ist. Gottes Gottsein werde nichtsdestotrotz immer noch gut präkopernikanisch in ein Jenseits des Himmels hineinprojiziert. Der Himmel fungiere dabei wie in antiker Mythologie als ein lunarer Nullmeridian: "Es haben die Menschen je und allwege gemeinet, der Himmel sey viel hundert oder tausend Meilen von diesem Erdboden, und GOtt wohne allein in demselben Himmel; ... Zwar ich habe es selber vor dieser meiner Erkentniß und Offenbarung GOttes dafür gehalten, daß das allein der rechte Himmel sey, der sich mit einem runden Cirk ganz licht = blau hoch über den Sternen schleust, in Meinung GOtt habe allein da innen sein sonderliches Wesen, und regiere nur allein in Kraft seines H. Geistes in dieser Welt." (Mr 19, 3 f.) Die irrige Annahme, "daß GOtt abtheilig sey" (Mm 11, 35) und "im Himmel ausser dem Loco dieser Welt" ek-sistiere, "da GOtt insonderheit offenbar sey" (Gw Vorr., 1), distanziere Mensch und Gott wie zwei disparate Gegenstände. 15 Diesen Distanzierungsgestus schreibt Böhme einer beliebige Bilder produzierenden Vernunft zu: "Wenn die Vernunft höret von GOtt reden, ... so bildet sie ihr ein, als sey GOtt etwas Fernes und Fremdes, welcher ausser dem Orte dieser Welt, hoch über dem Gestirne wohne, und regiere also nur durch seinen Geist, mit einer allgegenwärtigen Kraft im Loco dieser Welt... ". (Gw Vorr., 1 = 3fL 1, 50) Böhme unterstellt dem metaphysischen Vernunftkonstrukt eines transzendenten Gottes, der in die Weltimmanenz nur höchst mittelbar durch seinen Geist eingreife, den allzumenschlichen Wunsch nach einer gottfernen Domäne des Homo faber diesseits des Himmels. "(D)ie äussere gestirnete Vernunft [...] regieret [...] die gantze Welt." (ep 11, 5 = Κ II 5) Die metaphysischen Vernunftkonstrukte haben also die Funktion, den gesamten Bereich der Wirklichkeit den selbstherrlichen Setzungen der menschlichen Willkür zu unterwer15

Vgl. Beyreuther, Geschichte des Pietismus, S. 17. 21 f. und E. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 115.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

fen. 16 Von Gott bleibt nur "die Historie, daß ein GOtt sey" (ep 11, 4 = Κ II 4). Auf diese Weise immunisiert sich die Vernunft gegenüber der Nähe Gottes: "Denn seine Kraft fühlen wir nicht, und sein Licht sehen wir nicht." (ebd.) Anstelle einer Sensibilitätsschulung für die Lebensnähe Gottes entwerfe die selbstherrliche Vernunft Gott nach ihrem Bilde. Er erscheine als ein Autorensubjekt, das ein Handlungsvorhaben zunächst bei sich intentional entwerfe und dann in eine nachgeordnete Tat umsetze: "(A)ls ob GOtt ... habe vor Zeiten der Schöpfung der Creaturen und dieser Welt, einen Rathschlag in sich selber in seiner Dreyheit durch die Weisheit gehalten, was Er machen wolte, und worzu alles Wesen solle; und habe also Ihme einen Vorsatz in sich selber geschöpfet, wohin Er ein iedes Ding ordnen wolte." (Gw. Vorr., 2) In der Konsequenz verstricke sich die Vernunft dann in die Aporien der doppelten Prädestination und der Theodizee (vgl. dazu Gw, passim). 17 Hiergegen bringt Böhme das alttestamentliche Bilderverbot in Anschlag: "Und wäre recht und gut, daß wir nicht also von den Meistern der Buchstaben in bildlicher Form geführet würden, wann man von dem einigen GOtt lehret und redet, wie bis anhero geschehen ist, ... Zu klagen ists, daß man uns also blind führet, und die Wahrheit in Bildern aufhält,...". (Mm 60, 41. 43) Böhme wendet sich mit dem Bilderverbot mit paulinischen Worten (vgl. 2. Kor 3, 6) gegen pharisäische "Grammatologie". 18 Die "Bilder der Buchstaben" (Mm 36, 50) vergegenständlichten Gott "auf Creatürliche Art" (Mm 60, 40). Diese "Creatürliche Bildlichkeit" begehe den mosaischen Fehler, Gott einen Platz im zentralen Gesichtsfeld anweisen zu wollen (vgl. Ex 33, 12 ff.). Sie gebe vor, "GOtt sey etwas förmliches, sie sehe GOtt nicht recht, und will GOtt in Bildlichkeit erkennen" (Mm 60, 40). Die kreatürliche Vergegenständlichung

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Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 16 - 25. bes. 17 - 19, der diese Funktion am Beispiel der metaphysischen Fassung der Seele belegt. S. 448 - 451 explizit zur Widerlegung der metaphysischen Theo - Ontologie und ihres kognitivistisch - verobjektivierenden Distanzierungsgestus. S. 450 fordert Schmitz demgegenüber explizit ganz im Sinne Böhmes: "Die fundamentalen Dogmen des Christentums bedürfen der Revision im Licht der Entdeckung der subjektiven Tatsachen." Vgl. E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 218. 247 f., zu Böhmes Kritik an den theo - ontologischen "Reflexionskategorien" zum göttlichen Willkürhandeln; S. 247: "Die für den Menschen wesentlichen Akte Gottes werden vorgestellt als ein Denken, Sprechen, Urteilen, sich Vorsetzen und dann gemäß dem Vorsatz geschehen Heißen eines fernen überweltlichen Wesens, eines nach reflektierten Grundsätzen verfahrenden allmächtigen Weltregenten." Zu den Problemen einer reinen Schriftphilosophie vgl. J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/ Main 1974. Einmal abgesehen von Derridas radikaler Reduktion von Wirklichkeit auf die Strukturen eines rätselhaft in sich verschlossenen Textes, kritisiert er ähnlich wie Böhme den "logozentrischen" Irrglauben, Texte hätten nur die Funktion, nach Maßgabe der abendländischen Dingontologie Gegenständen außerhalb ihrer selbst einen exakt umgrenzten Platz im Ortsraum zuzuschreiben. Die Textualität selbst konterkarriere jedoch diese unzulässige Vergegenständlichung von Texten zur Selbstermächtigung des Homo faber.

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

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und die Distanzierung Gottes im zentralen Gesichtsfeld 1 9 verwandele den Menschen in "ein eigenwilliges Thier der Ichheit und Selbheit..., das nur tödtet und todte Frucht wircket: Denn Paulus saget, Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig, 2. Cor. 3: 6." (Mm 36,46). Das Tötende an metaphysischen Vernunftkonstrukten versteht Böhme vor dem Hintergrund des dreißigjährigen Krieges, in dem sich für ihn die Rabies theologorum als Zerstörung der menschlichen Lebenswelt leibhaftig manifestiert (vgl. auch unten 2.4.). Aus der ubiquitären Lebensnähe Gottes werde eine babylonische Sprachverwirrung exklusiver theo-ontologischer Programme: "Dieser Streit um die Buchstaben ist wol recht die verwirrete Zunge auf dem hohen Thurne der Kinder Nimrods zu Babel, dann derselbe hohe Thum ist eine Figur der Facultäten der hohen Schulen, da die einige Göttliche Zunge verwirret und in viel Sprachen verkehret wird, daß ... man um den einigen GOtt zancket, in dem wir leben und sind, dadurch doch ja das Reich der Natur in seinen Wundern offenbar, und in figürliche Wunder gebracht wird." (Mm 60,48 = Mm 36,47. 59) Böhmes Ikonoklasmus beschränkt sich auf metaphysische Konstrukte, die Gott künstlich aus der menschlichen Lebenswelt heraushalten sollen. Nichts läge Böhme ferner als ein prinzipielles Bilderverbot. 20 Gott kann bei Böhme nicht auf der Ebene des reinen Begriffs ausgesagt werden, da Sprache prinzipiell einen dichterisch - bildlichen Präsentationsgestus aufweist und aufgrund der Deiktik dieser "metaphorischen Extravaganz" dem Menschen die Einrichtung in der Lebenswelt qua Wohnwelt ermöglicht. 21 Ohne die bildliche Ge19

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Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 21: Diese Vergegenständlichungsweise, d. h. die Reduktion der Wahrnehmungswelt auf zählbare feste Körper im zentralen Gesichtsfeld, ist typisch abendländisch. Böhmes Bildkritik verläuft ganz analog zur Realdialektik von Bilderverbot und Bildtheologie (Wortbilder zur hymnischen Deskription Gottes) im Alten Testament; vgl. C. Dohmen, Das Bilderverbot, in: BBB 62, Bonn 1985; O. Kehl, Jahwe - Visionen und Siegelkunst, in: SBS 84/ 85, Stuttgart 1977; W. Zimmerli, Das Bilderverbot in der Geschichte des alten Israel. Goldenes Kalb, eherne Schlange, Mazzeben und Lade, in: ders., Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie. Gesammelte Aufsätze Bd. II. ThB Bd. 51, München 1974, S. 247 - 260; K. - H. Bernhard, Gott und Bild, Berlin 1956. Vgl. dazu auch P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 254: "Das Heilige stellt seinem Wesen nach keine Sondersphäre neben der Profanen dar. Die Tatsache, daß es sich als eine Sondersphäre unter den Bedingungen der Existenz etabliert, ist der treffendste Ausdruck für existentielle Zerreißung.... Es ist der Zustand in dem Gott nicht 'alles in allem' ist, der Zustand, in dem Gott zu allen anderen Dingen hinzukommt." Tillich bezieht sich hier deutlich auf 1. Kor 15, 28 als Schlüsselstelle für die biblische Präformierung der ubiquitären Nähe Gottes. Zur metaphorischen Grundstruktur von Sprache als die immer neue dynamische Übertragung lexikalisch fixierter Wortbedeutungen auf die unverwechselbare Einmaligkeit einer neuen Erlebnissituation vgl. M. Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 443: "So ist die Sprache denn die paradoxe Leistung, in der wir mit den Worten, deren Sinn gegeben ist, und mit verfügbaren Bedeutungen eine Intention zu erfüllen suchen, die grundsätzlich den Sinn der Worte, in die sie sich überträgt, überschreitet und modifiziert

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

stalthaftigkeit der Sprache könnte der Mensch sein Leben nicht mehr verstandesgemäß führen, das von der bildlichen Gestaltungskraft der Sprache wesentlich abhängt (vgl. Mm 36, 72 - 74). Böhme verweist zumeist auf Apg 17, 28 als Schlüsselstelle für die Distanzierungsresistenz der lebensweltlichen Nähe Gottes (vgl. ζ. B. oben Mm 60, 48). Bisweilen rekurriert Böhme jedoch auch auf den Psalter, wo "doch die Schrift von Ihme saget: Bin nicht Ichs, der es alles erfüllet? Item, der Himmel ist mein Stuhl und die Erde ist mein Fußschemel; wolte Er dann erst herabfahren gleich einem meßlichen Wesen, das von Zeit und Stätte abgetrennet sey?" (Mm 43, 2) Aufgrund dieser biblischen Prototypik einer ubiquitären Allgegenwart Gottes als Schöpfer und Erhalter der ausdifferenzierten Lebenswirklichkeit 22 betont Böhme die unhintergehbare Resistenz Gottes gegenüber

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und selbst erst letztlich fixiert." Dem originär nachgesprochenen Wort müsse daher "über das der konstituierten Sprache hinaus von sich her eine Bedeutungskraft eignen, die nicht auf eine für sich schon im Geist des Betrachters oder Zuhörers existierende Bedeutung zurückzubeziehen ist." Zum deiktischen Charakter der Sprache als elementarer leibliche Geste vgl. ebd., S. 207 - 235. Der Gedanke der metaphorischen Grundstruktur der Sprache findet sich schon bei J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, hg. v. H. D. Irmscher, Stuttgart 1966 = 1993, S. 66 f.: "Die Metapher des Anfangs war der Drang zu sprechen; nimmt mans nachher in jedem Fall, wo das Wort schon geläufig geworden war und seine Schärfe abgenutzt hatte, für Fruchtbarkeit und Energie, alle solche Sonderbarkeiten zu verbinden ... wie wenig waren diese Wortversuche einer werdenden oder früh gewordenen Sprache Definitionen eines Systems, und wie oft kommt man in den Fall Wortidole zu schaffen, an die der Erfinder oder der spätere Gebrauch nicht dachte." Zur "metaphorischen Extravaganz" vgl. P. Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: ders./ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh. Sonderheft, München 1974, S. 45 - 70, hier S. 55 Anm. 1. S. 67 f. Zum Gefalle der wesentlich bildlichen Sprache in die lebensweltliche Leibhaftigkeit des Menschen vgl. ebd., S. 53: "Auch die dichterische Sprache redet von der Wirklichkeit, aber auf einer anderen Ebene als die wissenschaftliche Sprache. ... Die Husserlsche Phänomenologie hat diese Ebene als Lebenswelt bezeichnet und Heidegger als 'In - der Welt - Sein'. Verbergung der objektiv manipulierbaren Welt und Entbergung der Lebenswelt, des nicht manipulierbaren In - der - Welt - Seins — das scheint mir im Tiefsten die ontologische Tragweite der dichterischen Sprache zu sein." Weit hinter diesen Einsichten zurück bleibt G. Kleiber, Prototypensemantik. Eine Einführung, Tübingen 1993. Da das französische Wort "le prototype" mehr dem deutschen "Idealtyp" im Sinne M, Webers entspricht, geht es bei Kleiber trotz des dieser Arbeit anscheinend nahestehenden Titels um die Ideierung lexikalisch eindeutiger Wortbedeutungen. Im Vordergrund steht somit die denotative Korrelation von Ding und Name und gerade nicht um die konnotative Metaphorizität einer in bestimmten Situationen leibhaftig gesprochenen Sprache, die die ad hominem signifikanten Sachverhalte, Programme und Probleme der Situation expressiv expliziert. Bornkamm, Jakob Böhme. Leben und Wirkung, S. 323; ders., Jakob Böhme, der Denker, S. 340 f., und Beyreuther, Geschichte des Pietismus, S. 23, übersehen die genuin biblische Herkunft der vitaldynamischen Gotteslehre Böhmes, wenn sie die Ubiquität Gottes bei Böhme nur in den altorientalisch - gnostisch - neuplatonischen Theo- und Kosmogoniemythen präformiert sehen. Wenn Böhme àuch bisweilen recht ähnlich klingt, so ist dies immer durch eine ihn in dieser Hinsicht zuallererst poetisch inspirierende Schriftlektüre vermittelt.

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

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den distanzierenden Artefakten menschlicher Vernunft. Diese werden daher umgekehrt auf ihre mangelhafte Enttäuschungsresistenz angesprochen und dadurch bei ihrer Beirrbarkeit behaftet. 23 So bleibe von ihnen häufig nicht mehr übrig als das bedeutungslose "Geschrey, das vor Ihn sey hinauf kommen" (Mm 43, 3). Dabei sei es so einfach, Gott an seinen ubiquitär wahrnehmbaren Wirkungen als gegenwärtig nahen Gott zu erkennen: "... die creatiirliche Vernunft dencket GOtt wohne allein oben über dem Gestirne in einem Himmel allein, und sehe herunter, wie der Sonnen Glast aus ihrem Cörper auf die Erde siehet und scheinet; Alsoweit ist die Vernunft kommen, mehr weiß sie nicht, was GOtt und wo GOtt sey? Sie weiß nicht daß Er alles Wesen ist, und durch alles Wesen wohnet und keine Stätte besitzet, auch keinen Ort noch Raum darf zur Wohnung, und daß Er, so viel Er GOtt heisset, doch kein Wesen ist, sondern gegen dem Wesen gleich als ein Nichts ist, und da Er doch durch Alles ist, und sich selber dem Wesen wirckende einergibt gleichwie der Sonnen Kraft der Frucht, aber nicht von aussen hinein, sondern von innen heraus wircket zu seiner selbst Offenbarung mit der Creatur und ihrem Leben, und daß die Natur und Creatur seine Offenbarung ist; so sie dieses recht verstünde, so hätte sie alhie keine weitere Frage." (Mm 43, 3 = 3fL 1,51) Die Rolle der Natur als das Offenbarungsmedium der lebensbestimmenden Wirksamkeit Gottes wächst ihr aus der Schriftoffenbarung zu. Böhme greift daher auf die biblische Prototypik des Gotteslebens zurück, um eine naturtheologische Sensibilitätsschulung für die lebensweltliche Nähe Gottes aus den biblischen Strukturvorgaben zu entwickeln. Genau darin besteht die von Böhme aufgezeigte Alternative zur Distanzierungstheologie der kirchlichen Lehrorthodoxie. Durch seine sensible Deskriptionstechnik wird der Mensch an das seelische Zentrum seiner leiblichen Empfindsamkeit verwiesen. Dort ist er dann aufgrund biblischer Sensibilitätsschulung für die Lebensnähe Gottes empfänglich. Aus der Faszinationskraft der biblischen Bildsprache entwickelt sich ein konkreter Sentiment de présence, der eine lebensbestimmende Wirklichkeit erlangt: "..., dann, so die Göttliche Kraft im inwendigen Grunde der Seelen mit ihrem Glantze offenbar und wirckende wird, daß der Mensch begehret vom gottlosen Wege auszugehen und sich GOtt zu ergeben, so ist der gantze Dreyeinige GOtt in der Seelen Leben und Willen gegenwärtig, und ist der Himmel, da GOtt innen wohnet, in der Seelen aufgeschlossen; und ist eben die Stätte aida in der Seelen, da der Vater seinen Sohn gebäret, und da der H. Geist vom Vater und Sohn ausgehet." (Mm 60,43)

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Zu "Überraschung" und "Enttäuschung" als jedem Menschen in alltäglicher Lebenserfahrung zugängliche Schlüssel zu einer autonomen Wirklichkeit mit ihren kontingenten Zeitigungen, die die menschliche Willkür in unüberwindbare Schranken weist, vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 40 f. S. 51 ff.: "Der Träumer fällt auf den Boden der Tatsachen".

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Böhmes biblische Sensibilitätsschulung für die lebensweltliche Nähe Gottes schließt also offenbar sogar die Trinitätsfigur mit ein. So kann Böhme zwischen der vitalen leib - seelischen Vollpräsenz des Menschen und der dreifaltigen Binnendifferenzierung des Gotteslebens ein vielsagendes analoges Beziehungsgeflecht entwerfen, das sich dem biblischen Hinweis auf die wesentliche Gottebenbildlichkeit des Menschen aus Gen 1, 26 f. verdankt: "... Nun thue die Augen auf, und siehe dich selber an: ein Mensch ist nach dem Gleichniß der Dreyheit gemacht. Schaue deinen inwendigen Menschen an, so wirts du das hell und rein sehen, so du nicht ein Narr und unvernünftig Thier bist. So mercke: In deinem Hertzen, Adern und Hirn hast du deinen Geist; alle deine Kraft die sich in deinem Hertzen, Adern und Hirn beweget, darinne dein Leben stehet, bedeutet GOtt den Vater. Aus derselben Kraft empöret (gebäret) sich dein Licht, daß du in derselben Kraft stehest, verstehest und weist, was du thun solst: denn dasselbe Licht schimmert in deinem gantzen Leibe, und beweget sich der gantze Leib in Kraft und Erkentniß des Lichtes, denn der Leib hilft allen Gliedern in Erkentniß des Lichtes, das bedeutet GOtt, den Sohn. Denn gleichwie der Vater den Sohn aus seiner Kraft gebäret, und der Sohn leuchtet in dem gantzen Vater; also auch gebäret die Kraft deines Hertzens, deiner Adern und deines Hirnes ein Licht, das leuchtet in allen deinen Kräften, in deinem gantzen Leibe. Thue die Augen deines Gemüthes auf, und dencke ihm nach, so wirst du es also finden. Nun mercke: Gleichwie vom Vater und Sohn ausgehet der H. Geist, und ist eine selbständige Person in der Gottheit, und wallet in dem gantzen Vater; also gehet auch aus den Kräften deines Hertzens, Adern und Hirn aus, die Kraft die in deinem gantzen Leibe wallet: und aus deinem Licht gehet aus dieselbe Kraft, Vernunft, Verstand, Kunst und Weisheit, den gantzen Leib zu regieren, und auch alles, was ausser dem Leib ist, zu unterscheiden. Und dieses beydes ist in deinem Regiment des Gemüthes ein Ding, dein Geist: und das bedeutet GOtt den H. Geist; und der H. Geist aus GOtt herrschet auch in diesem Geiste in dir, bist du aber ein Kind des Lichts und nicht der Finsterniß." (Mr 3, 37 f.) Zur leiblichen Sensibilitätsschulung für die Nähe Gottes rekurriert Böhme auf die leibliche Ausdrucksmotorik. 24 Der Eindruck der Gegenwart Gottes in der Lebenswirklichkeit inkarniert sich in der Bedeutungskraft menschlicher

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Vgl. zum phänomenologischen Hintergrund M. Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123 ff.; dort zu den intentionalen Willkürbewegungen. Auch H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 135 ff. bes. 140 - 144; dort zur willkürlichen und unwillkürlichen "leiblichen Kommunikation" durch "Bewegungssuggestionen" und "Gestaltverläufe". Zu deren deskriptiver Bedeutsamkeit für die Gestaltungen der bildenden Kunst vgl. ders.. Der Leib im Spiegel der Kunst, in: ders., System der Philosophie. Bd. II/ 2, Bonn 1966, S. 1 ff. 37 ff. In graphologischer wie charakterologischer Hinsicht vgl. auch L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft.

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Ausdrucksbewegungen, die Böhme aus dem alltäglichen Lebensvollzug sowie aus biblischen Erzählungen in Erinnerung ruft. Zur sensitiven Plausibilisierung der eindrücklichen Lebenswirklichkeit Gottes knüpft Böhme darüberhinaus an die Topik der Unio mystica an. 25 Sorgfältig vermeidet er jedoch jede pantheistische Verwechselung von Gott und Mensch, wenn er die Gegenwart Gottes in ein besonders qualifiziertes Erlebnis inkarniert und dadurch der metaphysischen Indifferenz entreißt:26 "... GOtt ist im Menschen das Mittel, das Mittelste, aber Er wohnet nur in sich selber; es sey denn daß des Menschen Geist Ein Geist mit Ihme werde, so offenbaret Er sich in der Menschheit, als im Gemüthe, Sinnen und Begehren, daß Ihn das Gemüthe fühlet, sonst ist Er uns in dieser Welt viel zu subtil zu schauen: Allein die Sinnen schauen Ihn im ... Willen Geiste, denn der Wille schicket die Sinnen in GOtt, und GOtt ergibt sich den Sinnen ein, und wird Ein Wesen mit den Sinnen; alsdenn bringen die Sinnen die Kraft GOttes dem Willen, und der Wille nimt sie mit Freuden an, aber mit Zittern, denn er erkennet sich unwürdig, dieweil er aus einer 25

Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 129: Böhme biete eine "Theorie über den mystischen Prozeß". Ähnlich Bornkamm, Luther und Böhme, S. 46 ff. bes. 49. 185. 197. 205. 262: Böhme denke aus einer "identitätsmystischen" Frömmigkeit heraus. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 96. 99 f., macht gegen Bornkamm zurecht darauf aufmerksam, daß Böhme niemals die ebenbildliche Korrelation zwischen Gott und Mensch im Rahmen seiner Anleihen bei der Mystik in eine reine Identität auflöse. Es kann bei Böhme daher nur sehr bedingt von Unio mystica gesprochen werden. Schon häufiger wurde zur Charakterisierung traditioneller Argumentationsfiguren bei Böhme von "Topik" gesprochen, z. B. "Inspirationstopik". Der Toposbegriff ist der aristotelischen Rhetorik entlehnt und fungiert heute zur hermeneutischen Deskription geistesgeschichtlicher Überlieferungsprozesse jenseits unmittelbarer Abhängigkeiten durch Zitat oder Paraphrase. Vgl. L. Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/ Main 1976, bes. S. 207 f. 210: "Die Fruchtbarkeit... des Toposbegriffs liegt darin, die Erkenntnisneugier aufrechtzuerhalten gegenüber der so schwer weiter reduzierbaren und auf eindeutige Begriffe zu bringenden Komplexität sprachlich kommunikativer Grundeinstellungen. Die Struktur topischer Grundeinstellungen läßt sich ihrem Wesen nach durch keine fachspezifische Methode dingfest machen, sondern nur mit einem offenen Beschreibungsvokabular erhellen, also letztlich nur auf topische Weise. Jeder allgemeine Gebrauch und jede methodische Analyse von Topoi bleibt angewiesen auf intersubjektive Zustimmung innerhalb der jeweils herrschenden Meinungsund Wissenshorizonte. [...] Die volle Einsicht in diese Habitualität, die nichts zu tun hat mit einer Anthropologie geschichtsloser Archetypen, wäre nur durch eine fächerübergreifende Topik- bzw. Ideologieforschung zu gewinnen."

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Vgl. auch Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 129 - 131. Auf S. 72 spricht Eiert von einem "Willenserlebnis", das "gelegentlich als Leiden hingestellt werde." Er behauptet dementsprechend, Böhme habe sein seelisches Erleben selbst willentlich induziert. Das Zitat scheint Eiert auf den ersten Blick recht zu geben. Dem widerspricht jedoch, daß der von Böhme angesprochene Zusammenhang von "Willen" und "Sinnen" lediglich die intentionale Grundstruktur menschlicher Sensibilität, nämlich auf eine Erfahrungswirklichkeit extra nos hin angelegt zu sein, widerspiegelt. Dazu vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XVI/ S. 86 f., und A. Koyré, La Philosophie des Jacob Boehme, S. 355: "(L)a réalité réalisée ... implique la possession d'une corporéité. C'est un idée qu'un vitalisme conscient de soi implique d'ailleurs nécessairement."

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

rauhen Herberge herkommt, als aus dem wanckelhaftigen Gemüthe, darum nimt er die Kraft im Niedersincken vor GOtt an. Also wird aus seinem Triumph eine sanfte Demuth, das ist GOttes wahres Wesen und fasset dasselbe Wesen; und dasselbe gefassete Wesen ist im Willen der himmlische Leib, und heisset der wahre und rechte Glaube, den der Wille in GOttes Kraft genommen hat; der sencket sich ins Gemiith und wohnet im Feuer der Seelen." (Mw II 10, 8) Es ist unschwer zu erkennen, daß Böhme die Lebensrelevanz Gottes hier anhand eines an der leiblichen Ausdrucksmotorik ("Zittern"; "Niedersincken") ablesbaren seelischen Bekehrungserlebnisses inszeniert (dazu vgl. unten genauer 3.1.). Dadurch wird der Topos von der Nähe Gottes leiblich inkarniert. Der Wille als elementarer, sich verleiblichender Ausdruck seelischer Vitalität erhält im Glauben einen "himmlischen Leib", der "im Gemüthe, Sinnen und Begehren" spürbar Gestalt annimmt. Die Lebensbedeutsamkeit Gottes geht für Böhme also dahin, daß der Mensch an der biblisch präformierten, leiblich empfundenen Gegenwart Gottes eine neue Lebensgestalt gewinnt. Er stellt sich dadurch wieder in die ebenbildliche Verantwortungsrelation hinein, aus der die metaphysische Vernunft ihn künstlich herausgestellt hat. 27 Genausowenig wie der Mensch eine Externrelation zu seinem eigenen leiblich - seelischen Erleben einnehmen kann, hat er die Möglichkeit, objektiv "über Gott zu reden". 28 Das affektive Betroffensein von Gott als einer dem jemeinen Erleben subjektiven Tatsache ist für theologische Besinnung unhintergehbar, wenn anders diese sich nicht in metaphysische Allgemeinheiten auflösen soll. Die Vernunft sowie der venünftige Mensch sind keineswegs immun gegenüber kontingenten Eindrücken von der lebensbestimmenden Wirklichkeit der Nähe Gottes. Prinzipiell ist für Böhme jeder Mensch von der immer schon biblisch präformierten Gegenwart Gottes beirrbar. Kein Mensch kann in seinem Lebensvollzug eine vollständige Enttäuschungsresistenz für die Vergegenständlichungen reklamieren, mit denen er sich seine körperliche Existenz eingerichtet hat. Das seelische Empfinden jedes Menschen ist dem kontingenten und eruptiven Hereinbrechen des göttlichen Zorns ausgesetzt, das Böhme als Heimsuchung beschreibt: 29 "Dann GOtt brauchet sich keiner meßlichen Stätte, Er wohnet auch im Abgrunde der gottlosen Seelen, aber derselben nach

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Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. I, S. 104. 168 f. 349 - 354. Vgl. R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: ders., Glaube und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Bd. I, Tübingen [6. Auflage] 1966, S. 26 - 37, hier S. 26 f. Auch P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 251: "Der Mensch kann von den Göttern nicht mit Distanz sprechen. In dem Augenblick, in dem er das versucht, hat er Gott verloren und hat nur ein Objekt mehr innerhalb der Welt der Objekte." Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 133. 137, spricht vom "ontologischen Schock"; R. Otto, Das Heilige, S. 8 ff., vom "Kreaturgefühl" als dem allgemein menschlichen Empfinden eines derart unvermittelten Eindrucks des Gotteslebens, daß der Mensch aus seinem bisher indifferenten Dahinleben herausgerissen wird.

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seiner Liebe nicht faßlich, sondern nach seinem Zorn in der gottlosen Seelen offenbar und faßlich." (Mm 60, 44) Das vollständige Erlebnis der Wirklichkeit Gottes nach Zorn und Liebe ist dem Menschen, der nicht die biblische Prototypik vor Ort des eigenen Leibeslebens zu postfigurieren bereit ist, verwehrt. Er kommt über einen amorphen Eindruck des "Augenblickgottes" oder des namenslosen "Numinosen" nicht hinaus. 30 Den Schlüssel zu einer Zorn und Liebe umfassenden und daher auch namentlich benennbaren Erfahrung der ad hominem unhintergehbaren Nähe Gottes bildet daher der biblische Topos von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Gen 1, 26 f. Der Mensch trägt die das persönliche Gemeintsein einschließende Offenbarungsgestalt Gottes an seinem Leibe. 31 Erst durch die menschliche Leibhaftigkeit wird die allgemeine Betonung einer prinzipiell irreduziblen Nähe Gottes aus Apg 17, 28 inkarnationsmorphologisch individualisiert und persönlich ansprechend: "Also, GOtt = liebender Leser, wisse, daß ein Mensch das wahre Gleichniß GOttes ist, welches GOtt hoch liebet, und sich in dieser Gleichniß offenbaret, als in seinem eigenem Wesen. ... ". (Mw II 10, 8) "Also, mein liebes, suchendes und begehrendes Gemüthe, betrachte dich selber, suche dich, und finde dich selber, du bist GOttes Gleichniß, Bild, Wesen, und Eigenthum: wie du bist, also ist auch die ewige Geburt in GOtt; dann GOtt ist Geist, und dein Regiment in deinem Leibe ist auch Geist, und ist ausgegangen und geschaffen worden aus GOttes Regiment." (3fL4, 75) Die ebenbildliche Entsprechungsrelation zwischen Gott und Mensch wird durch die biblischen Erzählstrukturen gestiftet. 3 2 Diese sprechen den Menschen auf seine Lebensgestalt hin an. Daher gewinnt der biblische Deus praesens eine unhintergehbare Relevanz für die Ausbildung einer leibhaftigen Lebensgestalt, zu der auch ein die Biographie individuell charakterisierendes Lebensbild oder -profil gehört. 33

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Vgl. H. Usener, Götternamen, Frankfurt [3. Auflage] 1948, S. 280, sowie H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. ΙΠ/ 4, S. 142 - 145. Auch R. Otto, Das Heilige, S. 5 - 7: Es handele sich bei dem "Numinosen" zunächst nur um eine namenslose "Deutungs- und Bewertungskategorie", da es noch nicht zum qualitativen Umschlag von affektivem Betroffen- in persönliches Gemeintsein kommt; dazu vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 71 ff. Ohne Gottesnamen und damit auch ein liebevolles Vertrauensverhältnis zu einer konkreten Gottesgestalt kommt es zu keiner Gebetsanrede. Die Not kann nur in blankem Entsetzen herausgeschrieen, nicht aber in Worte gefaßt werden. Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 519: "Der Mensch ist Bild Gottes und ist der Offenbarer Gottes. Beides gilt von dem Personsein des Menschen. ... Dieses bezieht sich auf seine ganze geistleibliche Gestalt." Auch A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 490. Vgl. A. Koyré, Die Gotteslehre Jakob Böhmes, S. 236. Vgl. P. Biehl, Der biograpische Ansatz in der Religionspädagogik; H. J. Fraas, Die Religiosität des Menschen, S. 102 ff., bes. S. 104 f. 108 f.

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2. Kognitivistischer Distanzieningsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Das alles vermag der Topos Gen 1, 26 f. für sich allerdings nicht auszusagen. Er bedarf noch der neutestamentlichen Vergewisserung, "daß die Bildniß GOttes im Wesen ist, daß GOtt in der Gleichheit ist Mensch worden" (Mw II 10, 3). Die Prototypik der Lebensgestalt Jesu Christi ergänzt den Topos von der Ebenbildlichkeit um die biographische Vollgestalt eines tatsächlich ebenbildlichen Lebensprofils, das durchgängig an der Verantwortungsrelation Gott gegenüber seine Gestalt herausbildet. 34 Der Gewinn liegt auf der Hand: Nicht nur Gott hat seine metaphysische Indifferenz überwunden und kann sich daher als lebensrelevant präsentieren, sondern gerade auch der Mensch überwindet die Indifferenz des reinen Dahinlebens und kann sein Leben gestalthaft requalifizieren sowie potenzieren. 35 Aufgrund der Betonung der Lebensrelevanz Gottes, die Böhme biblisch vorgezeichnet findet, gehören für ihn der Deus praesens mitsamt dem als Verheißung dazugehörigen Topos der Gottebenbildlichkeit des Menschen einerseits und der Christus praesens mitsamt der Inkarnationsfigur als der typologisch korrelierenden Erfüllung andererseits konstitutiv zusammen (vgl. oben 1.3.1. und 1.3.2.2.). Dadurch eröffnet sich dem Menschen die prinzipielle Möglichkeit zu einem gestalthaft potenzierten Erleben seiner leibhaft - vitalen Gegenwart: "... Wo man sagen kann, da ist GOtt gegenwärtig, da kann man auch sagen, aida ist die Menschwerdung Christi auch gegenwärtig: denn sie ist in Maria eröffnet worden, und inqualiret also hinter sich zurücke bis in Adam, und vor sich bis in den letzten Menschen." (Mw I 12, 19) Böhme perspektiviert die Lehre von Gottes Gottsein alternativ zum metaphysischen Distanzieningsgestus der von ihm kritisierten Orthodoxie dahingehend, daß die biblische präformierte Lebensnähe Gottes zum wesentlichen Gestaltprinzip der Menschwerdung des Menschen wird. Vor dem Hintergrund der in Christo biblisch verbürgten Relevanz Gottes für die Lebensgestaltung des Menschen hat es für Böhme keinen Sinn, die Lehre von Gottes Gottsein von jedem konkreten Lebenssinn abstrahierend bis auf den Gipfel seiner Aseität voranzutreiben. Der vermeintliche intellektuelle Gewinn entpuppt sich als ein Verlust, da auf dieser hohen metaphysischen Abstraktionsebene für das affektive Betroffen- und persönliche Gemeintsein des menschlichen Lebens letztlich nichts anderes ausgesagt werden kann als Gottes Unbegreifbarkeit. In Böhmes Augen muß sich daher auch die Trinitätsfigur als lebensrelevant ausweisen lassen: "... Wir verstehen, daß GOttes Hertz von Ewigkeit geruhet hat; Aber mit der Bewegung und Eingehung in die Wesenheit ists an allen Orten offenbar worden, wiewol doch in GOtt kein Ort noch Ziel ist, als nur blos in der Creatur Christi, aida hat sich die gantze H. Dreyfaltigkeit in einer Creatur

34

35

Vgl. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 499. In der heutigen systematisch theologischen Diskussion vgl. O. Bayer, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Vgl. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 491 f.

2.1. Theo - Ontologie oder lebendiger Gott

133

offenbaret, und also durch die Creatur auch durch den gantzen Himmel." (Mw 18, 10) Für die Gotteslehre Böhmes wird das konkrete Menschenleben Jesu Christi hermeneutisch normativ. Mit der imagologischen Paradigmatik der Lebensgestalt Jesu Christi fallen alle Gotteslehren, denen es in inkarnatorischer Hinsicht auf die Führung des jemeinen Glaubenslebens an deskriptiver Gestaltungskraft mangelt, unter das Verdikt des Bilderverbots. Der Untergang metaphysischer Phantasmagorien soll der Klarheit der Vera icon zugute kommen: "Das lebendige Wort ist darum Mensch worden, aufdaß das buchstabische Bild sterbe, und der erste Mensch, welcher aus dem lebendigen Worte in GOttes Bilde formiret ward in Christi Geiste, als in dem lebendigen Worte, wieder neu = geboren werde; und so er nun geboren ist, so sind ihme die Bild = Lehrer vielmehr schädlich als nützlich: Denn sie führen nur ihre Bilder in den Tempel Christi ein, und zerstören das Bilde GOttes." (Mm 36, 66) Böhme geht davon aus, daß eine metaphysische Gotteslehre letztlich zur Entfremdung des Mensch von der ihm unhintergehbar gestellten Gestaltungsaufgabe seines Lebens und dadurch zur Selbstentfremdung führt. So verbindet sich mit der Dekonstruktion der Gotteslehre des dogmatistischen Luthertums eine soteriologisch angelegte Rekonstruktion derselben, die mit der Inkarnationsfigur den von Gott entfremdeten Menschen wieder auf seine konstitutive Ebenbildlichkeit hin anspricht und ihm eine konkrete Gestaltungsmöglichkeit lebensnah anbietet. Böhme will nun darüberhinaus bei der Gotteslehre sogar schon auf der Ebene der Darstellung dafür sorgen, daß die Lebensrelevanz der Glaubenslehre dem leibhaftigen Gläubigen in seinem lebendigen Glaubensvollzug auf ansprechende Weise deutlich werden kann. Es geht ihm um eine persönlich ansprechende, leibhaft - lebendige Glaubensbildung: "Unser Schreiben langet nicht dahin, daß wir wollen die Gottheit in der ewigen Natur ausgründen; Nein, das kan nicht seyn, sondern daß wir wollen dem Blinden den Weg weisen, welchen er selber gehen muß ...". (3fL 2, 46) Der eigenwillige mythopoetische Stil seiner theologischen Schriftstellerei hat also offenbar die Funktion, die Einbildungskraft des Lesers 36 derartig affektiv anzusprechen, daß die Böhmeschen 36

Vgl. P. Ricoeur, Philosophische und theologische Hermeneutik, S. 44: "Die Einbildung ist eine Dimension der Subjektivität, die dem Text als Gedicht entspricht." Die subjektive Einbildungskraft bleibt jedoch immer gesellschaftlich, d. h. sprachlich - kommunikativ, vermittelt; vgl. L. Bornscheuer, Topik: Böhmes Mythopoetik ist "topisch", basiert auf "gesellschaftlicher Einbildungskraft" (S. 11 - 25). Böhmes Topik hat immer den traditionellen Typos des frommen Christenmenschen vor Augen, rekurriert auf dessen "Habitualität", dessen "internalisierte(m) Bewußtseins-, Sprach- und/ oder Verhaltenshabitus" (S. 96). Sie zielt auf "intentionale Lebensbedeutsamkeit" in "situative(r) Verbindlichkeit" (S. 102 f.). Böhmes Mythopoetik ist somit weit davon entfernt, eine innerseelische Eigensprache zu entwerfen oder einem solipsistischen Individualismus des Frommen das Wort zu reden. Böhme greift vielmehr auf ein durch die religiöse pansophische Tradition vermitteltes "Symbolsystem" zurück, dessen "ans Magische grenzende Faszinationskraft" er gewissermaßen in "Beschwörungsformeln eines bestimmen Selbstverständisses", nämlich des Typos Christenmensch vor Ort der christlichen Welt, zur sprachlichen Wirksamkeit

134

2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Texte ihn wie ein Mystagoge den Mysten dazu anleiten, die beschriebene Erfahrungstheologie selbstverantwortlich vor Ort des eigenen Leibeslebens mimetisch nachzuvollziehen.

2.2. Metaphysische Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder das ad hominem lebendige Christusbild Böhme kritisiert auch an der Christologie der kirchlichen Lehrorthodoxie ihren metaphysischen Objektivierungsstil. Die traditionelle hohe Christologie ist in seinen Augen eine ungeeignete Darstellungsform, um dem Christenmenschen zur leibhaftigen Heilsvergewisserung dienen zu können. Sie leistet nämlich keine soteriologische Applikation ad hominem. Der Christenmensch sollte aber die Heilswirklichkeit Jesu Christi an seinem fünfsinnigen Sensorium nachempfinden können: "(S)o würdet ihr unaussprechliche Worte GOttes von solchem Erkentniß hören, schmecken, riechen, fühlen und sehen. Alda ist erst die rechte Theosophische Pfingst = Schule, da die Seele von GOtt gelehret wird." (ep 55, 8) Ohne die subjektiv empfundene individuelle Lebensbedeutsamkeit, das Pro me, komme es stattdessen wie bei der metaphysischen Theo Ontologie (oben 2.1.) zu einer räumlichen Distanzierung Jesu Christi innerhalb des metaphysischen Weltgebäudes. Die menschliche Vernunft "meinet ..., Er sey nur den Sinnen gegenwärtig, welche sich zu Ihme in Himmel schwingen; Aber solches würde das Leben nicht verneuren, und wieder in GOtt bringen; es würde nicht die neue Geburt machen." (t Π 1, 27) Das Kriterium für Böhmes Kritik ist offensichtlich die soteriologische Effizienz christologischer Aussagen im Hinblick auf die Bildung des neuen Menschen. Wenn die formative Relevanz der Christologie für die jemeine Lebensgestalt des Christenmenschen in den Hintergrund trete, könne die Rabies theologorum über die transzendenten Beliebigkeiten herfallen: "Aller Streit kommt daher, daß man denselben Himmel, darinnen Christus zur Rechten GOttes sitzet, nicht verstehet, daß er in der Welt sey, daß die Welt im Himmel stehe, und der Himmel in der Welt, und ineinander sind, wie Tag und Nacht." (t Π 1, 28) verhilft (S. 103). "Ein Topos ... ist das tragende Bauelement jedes sprachlich - sozialen Kommunikationsgefüges, Umschlagplatz zwischen Kollektiv und Individuum, Bewußtsein und Unbewußtem, Konvention und Spontaneität, Tradition und Innovation, Erinnerung und Imagination. Der Topos im allgemeinen Sinn gehört in den Bereich der Umgangssprache, der vorwissenschaftlichen Bewußtseinsbildung, der Erfahrung und Erörterung lebensbedeutsamer Probleme. Den Umriß eines Topos bzw. einer Topik bestimmen ... die kollektiv - habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität)." (S. 105) Vgl. auch E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. XXIV Anm. 33.

2.2. Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder lebendiges Christusbild

135

Die Betonung der innerweltlichen Heilsgegenwart des Auferstandenen erfolgt im Zusammenhang mit der Präsentation der Allgegenwart Gottes vor Ort der menschlichen Sensibilität an Leib und Seele (vgl. Mw I 8, 7). Böhme nimmt die Ubiquitätslehre Luthers auf. 37 Er geht allerdings über den speziellen Verdichtungsbereich des Abendmahls hinaus, der für Luther den Fluchtpunkt dieses Theologumenons darstellt. Der Christus praesens umfaßt bei ihm die gesamte Lebenswelt: "..., daß Er, als ein wahrer GOtt und Mensch zugleich, über alle Eigenheit und Eigen = Willen dieses Reiches, da Böses und Gutes in einander herrschet, regiere. Gleichwie die Sonne in der sichtbaren Welt... mit ihrem Licht und Kraft, ... überal gegenwärtig ist, ...Also ist auch von Christi Person und Amte zu verstehen: der herrschet in der innern, geistlichen Welt sichtbar, und in der äussern Welt unsichtbar, und durchdringet der gläubigen Menschen Seele, Geist und Hertze." (t II 1, 32) Die Wahrnehmung der irreduziblen Heilsgegenwart Jesu Christi sollte eigentlich verhindern, daß die gottmenschliche Erlöserperson innerhalb der metaphysischen Raumschematik verortet wird. Der Distanzierungsgestus der hohen Christologie führt in Böhmes Augen zu völlig abwegigen Explikationsleistungen, durch die Gott und Mensch wie zwei disparate Gegenstände räumlich voneinander getrennt werden: "... JEsus Christus ... muß in dir Mensch geboren werden, wilt du GOtt erkennen: sonst bist du im finstern Stalle ..., und suchest immer Christum zur Rechten GOttes, und meinest Er sey weit von dannen; Du wilst dein Gemüthe über die Sternen schwingen, und aida GOtt suchen, wie dich die Sophisten lehren, welche GOtt weit von dannen in einen Himmel mahlen." (3fL 3, 31) Der Distanzierung im metaphysischen Weltgebäude entspricht eine historische Distanzierung Jesu Christi von der Glaubensgegenwart des Christenmenschen. Ohne die Historizität des Erscheinens Jesu Christi auflösen zu wollen, wendet sich Böhme gegen die Formulierung einer abständigen Wißbarkeit dieser Einmaligkeit, da darüber der allemal gültige Bedeutungshorizont ad hominem verloren geht. 38 Die Bedeutung des Christus praesens bedarf eines affektiv ansprechenden Präsentationsgestus. Eine Historisierung des jemeinen Heilsgrundes birgt unausweichlich die Gefahr eines ethischen Libertinismus: 37

38

Vgl. M. Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528, in: BoA. Bd. 3, Bonn 1913, S. 352 - 516. Auch H. Graß, Die Abendmahlslehre bei Luther und bei Calvin. Eine kritische Untersuchung, in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie. Bd. 2/ Sammlung wissenschaftlicher Monographien. Bd. 47, Gütersloh [2. Auflage] 1954, bes. S. 81 f. 112. Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 57 f., und Hirsch, Jakob Böhme, S. 223. Hirsch betont hier Böhmes Nähe zu Schwenckfelds Fassung einer geistleiblichen Gegenwart Christi. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 212, hält dem m. E. zurecht entgegen, daß Böhme die geistleibliche Verflüchtigung der Gegenwart des Christus praesens durch die paracelsische Leibtheorie in Verbindung mit der lutherischen Ubiquität des irdischen Leibes Christi gerade vermeiden wolle: "Man spürt wiederum das Bleigewicht der ursprünglich dinglich - realistischen Vorstellungen, das sich seinen spirituellen Vorstellungen anhängt."

136

2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

"Eine Historia ist der ietzige Glaube. Wo ist das Kind, das da glaubet, daß JEsus geboren sey? So es wäre und glaubete, daß JEsus geboren sei, so würde es ja sich zum Kindlein JEsu zunahen, es annehmen und pflegen. Ach es ist nur ein historischer Glaube, und eine lautere Wissenschaft und vielmehr eine Kitzelung des Gewissens: Daß Ihn die Juden haben getödtet; Daß Er von dieser Welt sey weggefahren; Daß Er nicht König auf Erden, im animalischen Menschen sey; Daß der Mensch thun möge was er wolle; Daß er nicht dürfte der Sünden, und den bösen Lüsten sterben. Des freuet sich die Selbheit, das böse Kind, daß es möge im Fetten leben und den Teufel fett mästen." (wGI 2, 51) Böhme karikiert hier den historisch distanzierenden Präsentationsgestus der altprotestantischen Christologie. Sie reiße die konstitutive Einheit von Wissen und Tun auseinander und desintegriere auf diese Weise die Lebenseinheit des Christenmenschen durch den Gegensatz zwischen einer theoretisch bedeutsamen Vergangenheit der historisch sowie metaphysisch einmaligen gottmenschlichen Erlöserperson und einer praktisch bedeutungslosen Gegenwart ohne eine leibhaftig andauernde Wirkung der ein- für allemal inkarnierten, neuschöpferischen Erlösungsgestalt. Man verlange von den einzelnen Christenmenschen lediglich, "daß wirs nur wissen, und das Wissen uns zueignen, daß wir nur sagen, Christus ist für uns gestorben, und hat den Tod in uns zerbrochen, und zum Leben gemacht: Er hat für uns die Schuld bezahlet, wir dörfen uns dessen nur trösten, und festiglich glauben daß es geschehen sey." (nWgb 1, 4) Zur Vermeidung des sich aus der Historisierung ergebenden ethischen Libertinismus geht es Böhme stattdessen um die Reintegration homiletisch - paränetischer Applikationen in den Präsentationsstil soteriologischer Besinnung. Wenn der Aufweis einer lebenspraktischen Relevanz nicht affektiv überzeugend gelinge, dann verliere der Christenmensch seine Besonnenheit an philosophische oder historische Beliebigkeiten. 39 In diesem Zusammenhang stellt Böhme die Monopolisierung der forensischen Rechtfertigungslehre als exklusives Interpretament der Soteriologie zur Debatte. 40 Das Extra nos des Sola gratia der menschlichen Erlösung werde so stark betont, als ob gute Werke zum Ausdruck der individuellen Heilsaneignung schädlich seien: "Meines Gegensatzes Lehr ist ..., als mache GOtt ... einen Christen, so sey ers, als dürfte der Mensch nichts dazu thun, er dürfte nicht darzu wircken und arbeiten, daß er ein guter Baum werde." (Ti II 187) Den Streitpunkt bildet also die von der Orthodoxie nicht genügend geförderte 39

40

Vgl. W. Eiert, Die voluntarische Mystik, S. 45 f. 49. 55: "Zweierlei hält Böhme dieser Art rein historischen Denkens entgegen. Einmal weist er darauf hin, daß man damit das Wesentliche am Objekt nicht trifft. ... Sodann aber sieht er darin einen subjektiven Mangel. Das bloße Wissen ist noch kein Beweis für wirkliche Herrschaft des göttlichen Geistes über den Menschen, für den rechten Glauben." Auch Bornkamm, Luther und Böhme, S. 249 ff. Vgl. ebd., S. 265.; Hirsch, Jakob Böhme, S. 246 f.

2.2. Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder lebendiges Christusbild

137

Verlebendigung des Rechtfertigungsglaubens vor Ort des leiblich - lebensweltlichen Ausdruckshandelns. Böhme betont trotz der Schärfe seiner Kritik immer zugleich seine prinzipielle Übereinstimmung mit dem reformatorischen Rechtfertigungsglauben, dem er lediglich eine über die historisch - metaphysische Explikation als objektive Tatsache hinausgehende, leiblich - lebensweltliche Ausdruckskraft als subjektive Tatsache abverlangt. Als deren Anwalt verlangt Böhme also nicht eine synergistische Revision der Rechtfertigungslehre, sondern vielmehr eine Reformulierung, die vom extra nos vorgegebenen Grunddatum des jemeinen Getauftseins ausgeht und dessen ureigenem Anliegen als Signum efficax entgegenkommt, dem Christenmenschen ein lebendiges, gestaltungskräftiges Glaubensleben zu ermöglichen.41 Das bedeutet letzten Endes ein Plädoyer für die Aufhebung der Grenze zwischen Dogmatik und Ethik sowie eine Reintegration homiletisch - paränetischer Applikationen in das Geschäft soteriologischer Besinnung: "... : Die Gnade kommt nicht aus Verdienst der Wercke, sondern aus dem Lebens = Brunnen Christo alleine, aber die Wercke bezeugen, daß die Gnade in Christo in der Seelen lebendig sey; denn folget das Werck nicht, so ist Christus in dir noch nicht auferstanden aus dem Tode: denn wer aus GOtt geboren ist, der thut Göttliche Wercke; wer aber aus der Sünde ist, der dienet der Sünden mit seinen Wercken. Es soll sich keiner einen Christen rühmen, er begehre denn Göttliche Wercke in der Liebe Christi zu wircken, änderst ist es nur ein fremder Schein ohne das Leben Christi." (Gw 11, 6 f.) Die Externalisierung der jemeinen Erlösung durch eine dogmatische Verobjektivierung führt zu der von Böhme ganz im Sinne der Theologie des Jakobusbriefes beklagten Paradoxie, daß der Christenmensch seinen Glauben anders expliziere, als er ihn lebe. Er "ist aber mit dem Munde aus Sodom ausgangen, und das Corpus ist noch zu Sodom ..., und will nicht mit dem Hertzen aus Sodom ausgehen." (Mm 44, 33) "So du dich lange des Leidens Christi tröstest, und dein Wille bleibet ein Schalck, so ist doch dein Geist, der aus deinem Willen ausgehet, ein Dieb und Mörder; anders lehrest du, anders thust du." (3fL 14, 6) Die forensische Rechtfertigungslehre erziehe den Christenmenschen aber geradezu zu einem "Heuchler" (ebd.). Deshalb widerspricht Böhme ihr diametral: "Darum sage ich: Ist einer ein Christ, so ist er es nicht durch einen von aussen zugerechneten Gnaden = Schein; die Sünde wird ihme nicht durch das Einmal = geschehene von aussen Wort = Sprechen vergeben, wie ein Herr in dieser Welt einem Mörder das Leben durch eine auswendige, zugerechnete Gnade schencket: Nein, das gilt vor GOtt nicht." (ep 46, 20) Böhme kritisiert hier v. a. die juridische Bildlogik, die in seinen Augen zu dem MißVerständnis verleitet, als ob die Gnade ein äußerliches Akzidenz sei, 41

So auch bei Luther; vgl. Von den guten Werken. 1520, in: BoA. Bd. 1, Bonn 1912, S. 227 - 298.

138

2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

das den Menschen im Wesen unverändert belasse. Die juridische Inszenierung der Begnadigung wie vor einem weltlichen Herrscher stiftet keine neue normative Verbindlichkeit. Der Begnadigte kann seinen Stand ohne Weiteres dazu mißbrauchen, weiter zu sündigen, da ihm keine neue Lebensqualität vermittelt werden konnte. Genau diese betreffe aber den Christenmenschen, der sein Leben im Bedeutungshorizont des Christus praesens führt. Daher muß die qualitative Potenzierung des Lebens bei der soteriologischen Besinnung auch sprachlich ausgewiesen werden können. 42 Böhme fordert eine Theorie des leibhaftigen Christenmenschen (vgl. unten 5.) anstelle juristischer Abstraktionen und Spekulationen über eine in himmlischer Jenseitigkeit individuell vorgenommene Entschuldung eines vergeistigten Gewissensdings. Es geht bei ihm um die Inkarnation des Gewissens in einen leibhaftig gegenwärtigen Gnadenstand: "Jetzt ist uns der Mensch recht zu betrachten, was und wie er sey: Und daß ein rechter Christ nicht nur ein historischer neuer Mensch sey; daß es an dem genug sey, daß wir Christum bekennen und glauben, daß Er GOttes Sohn sey, und habe für uns bezahlet. Dann es gilt nicht eine von aussen zugerechnete Gerechtigkeit...: Sondern eine ingeborne, eine kindliche. ..." (nWgb 1,9) "... : Es heisset nicht allein vergeben, sondern geboren werden, alsdenn ist es vergeben, das ist, die Sünde ist alsdenn eine Hülse; der neue Mensch wächset heraus, und wirft die Hülse weg, das heisset GOttes Vergebung." (Mw II 10, 12) "Es ist kein Heucheln noch Wort = Vergeben; nicht von aussen angenommene Kinder müssen wir seyn, sondern von innen, aus GOtt geborne Kinder, mit einem neuen Menschen, der in GOtt gelassen ist." (wGl 2, 36) Zugegebenermaßen bedeutet Böhmes alternativ angebotene Position eine effektive Rechtfertigungslehre. Mit dieser Klassifizierung kann eine Böhme Interpretation es jedoch nicht bewenden lassen. Böhme will auf seine hermeneutische Übersetzungsleistung hin befragt werden. "(E)s hat ein ander A.B.C, alhier, GOtt will der Schlangen = Ens weder im Leibe noch in der Seelen ins Paradeis einlassen." (Mm 25, 13) Böhme rekurriert deshalb auf die biblisch präformierte Typik von der Gotteskind- oder -sohnschaft, die dermaßen affektiv getönt ist, daß eine lebensgestaltende Verbindlichkeit aus ihr hervorgeht. In Anspielung an die Ismael - Isaak - Typologie aus Gal 4, 21 - 31 perspektiviert Böhme alle christologischen Topoi auf ihre formkräftige Lebensrelevanz hin: 43 "... Der Historien = Sohn ist ein Fremdling, du must aus GOtt in Christo 42

43

Vgl. K. Gründer, Figur und Geschichte, S. 138: "Diese Christologie schließt Soteriologie ein. Es gibt nicht Erlösung schlechthin; es wird immer jemand erlöst, der glaubende Sünder." Goppelt, Apokalyptik und Theologie, Sp. 333, vermutet hier schon bei Paulus einen Übergang zur Allegorie, obwohl alle Kriterien für eine Typologie erfüllt werden; vgl. oben 1.3.2.2.

2.2. Christo - Ontologie und Jesus - Historismus oder lebendiges Christusbild

139

geboren werden, daß du ein leiblicher Sohn werdest, alsdann bist du GOttes Kind, und ein Erbe des Leidens und Todes Christi: Christi Tod ist dein Tod, seine Auferstehung aus dem Grabe ist deine Auferstehung, seine Himmelfahrt ist deine Himmelfahrt, und sein ewiges Reich ist dein Reich; indem du sein rechter Sohn aus seinem Fleisch und Blute geboren bist, so bist du ein Erbe aller seiner Güter, änderst kanst du nicht Christi Kind und Erbe seyn." (Mw III 8, 1) Zur Deskription des Christenmenschen, bei der vor allem die normativen Implikationen für die Lebensführung leibnah plausibilisiert werden sollen, bedient sich Böhme der Textilmetaphorik. 44 Ein Christenmensch verfügt nicht nur kognitiv und affektiv über einen Glauben, sondern er trägt in pragmatischer Hinsicht auch einen neuen Habitus oder Lebensentwurf am eigenen Leibe, 45 durch den die neue Lebensqualität der Kindschaft leibhaftig zum Ausdruck gebracht wird: "Nun spricht die Vernunft: Wie kommts denn, weil ich Christi Glied und GOttes Kind bin, daß ich Ihn nicht fühle noch empfinde? Antwort, ja alhie stecket es, liebes besudeltes Höltzlein, reuch in deinen Busem, wornach stinckest du? Nach teuflischer Sucht, als nach zeitlicher Wollust, nach Geitz, Ehren und Macht. Höre, das ist des Teufels Kleid: Zeuch diesen Peltz aus, und wirf ihn weg; setze deine Begierde in Christi Leben, Geist, Fleisch und Blut, imaginire darein, als du hast in die irdische Sucht imaginiret, so wirst du Christum in deinem Leibe, in deinem Fleisch und Blut anziehen; du wirst Christus werden, seine Menschwerdung wird sich zuhand in dir erregen, und wirst in Christo neugeboren werden." (Mw I 12, 17)

Sowohl die metaphorische Plausibilisierung einer neuen christenmenschlichen Lebensqualität durch das Kindschaftsschema, als auch diejenige durch das Textilschema 46 gehören zu der das Gesamtwerk Böhmes charakterisierenden typologischen Adaption der Inkarnationsfigur für den strukturellen Zu44

45

46

Zur biblischen Textilmetaphorik, z. B. aus 1. Kor 15, 53 f. und 2. Kor 5, 2 - 4, und deren typologischer Applikation ad hominem, durch die der eigentlich eschatologische Topos vom Noch nicht ins Schon jetzt verschoben wird, am Beispiel des syrischen Kirchenvaters Ephraëm vgl. S. Brock, Clothing Metaphors as a Means of Theological Expression in Syriac Tradition, in: M. Schmidt/ C. F. Geyer (Hg.), Typus, Symbol, Allegorie, S. 11 40. Auch Κ. Huizing, Homo legens, S. 219 f. Vgl. oben 1.4. sowie unten 5. Zu Entwurf, Habitus, Haltung, Rolle als genuin leibliche Präsenzmodi des Menschenlebens vgl. dort v. a. E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, S. 39 ff.; H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. III/4, S. 453 - 488. bes. 469 ff.; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 174 - 194; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 200. Zur "Schematisierung" als theologisch - typologischer Deskriptionskunst vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 60 ff.; in Bezug auf Böhmes "Schematisierungen" vgl. H. Bornkamm, Jakob Böhme, der Denker, S. 340 - 345. Dort S. 345 mit "Ideogramm" im gleichen Zusammenhang; "Ideogrammatik" bei R. Otto, Das Heilige, S. 76 f. Vgl. auch L. Bornscheuer, Topik, S. 91 ff.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

sammenhang des biblisch offenbaren Christus praesens mit dem leiblich lebensweltlich gegenwärtigen Christenmenschen. Böhme bezeichnet die lebensbestimmende Relevanz der Inkamationsfigur für die Christenmenschen als "ein nahes und einheitliches Werck ..., damit sie täglich und stündlich sollen umgehen, und immer in die Menschwerdung Christi eingehen, aus der irdischen Vernunft ausgehen, und also in diesem Jammer = Leben in der Geburt und Menschwerdung Christi müssen geboren werden" (Mw 11,4). Die inhaltliche Bedeutung der biblischen Inkarnationsfigur besteht für Böhme darin, daß die Gottheit nicht allein einmal "hat gelüstert, Fleisch und Blut zu werden", wodurch der biblisch - geschichtliche Prototyp des ebenbildlichen Menschen in lebensweltlicher Konkretion tatsächlich realisiert worden ist, sondern daß sie darum für allemal "ist... des Fleisches Geist und Leben worden, und wircket im Fleische" (Mw 1 8 , 8 = 1, 1 ; zur soteriologischen Bedeutsamkeit von Inkarnation vgl. oben 1.3.1.). Durch diesen Wirkungszusammenhang, den die biblische Inkarnationsfigur gestiftet hat, kann die menschliche "Imagination" (Mw I 8, 8) ebenbildlich geeicht werden, d. h.: Die leibhaftige Lebensführung des Menschen als Konkreator wird analog zum schöpferischen Gottesleben entworfen, wodurch dieses im direkten Gegenzug zuallererst ein individuelles Profil gewinnt (vgl. ausführlicher unten 4.I.). 47 Es geht bei Böhmes inkarnationslogischer Korrelation von Christus praesens qua biblischem Christusbild und daran auszubildendem Christenmensch also immer um die von Paulus aus Gal 4, 19 her bekannte Christomorphose, d. h. um die leiblich - lebensweltliche Reinszenierung der biblischen Prototypik Jesu Christi. 48 Das menschliche Dahinleben wird durch diese mimetische Postfiguration christenmenschlich requalifiziert. Böhme folgt darin dem durch die Devotio moderna des Thomas' von Kempen aufgestellten Bildungsprogramm einer leiblich - lebensweltlichen Vita Christiana. Die deutsche Übersetzung des Titels "Imitatio Christi", "Von der Nachfolge Christi", taucht bei Böhme wörtlich auf: 4 9 "Und also müssen wir Ihme auf seiner eröffneten Strassen alle nachfolgen; keiner mag GOtt schauen, es werde dann zuvor in ihme GOtt Mensch, welches in der Glaubens = Begierde geschieht; und alsdann muß der verderbte Wille, ... in die freye Gelassenheit in GOttes Willen und Erbarmen einfallen." (Sg 11, 95) Die somit festgestellte Lebensrelevanz der Christologie bedeutet zugleich, daß die Gegenwart des Christenmenschen zum zentralen Ort theologischer 47

48

49

Die Inkarnationsfigur ist bei Böhme ein erfahrungstheologisch in der Schöpfung und Erhaltung verortetes Principium individuationis; vgl. dazu auch Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XVI/ S. 86 f.: "J. Böhm lehrt, daß die körperliche Subsistenz aller Dinge aus Christi Menschwerdung und Auferstehung fließe." Den gleichen Gedankengang jedoch in physiognomischer Verdichtung arbeitet am Beispiel Lavaters K. Huizing heraus; vgl. Das erlesene Gesicht, S. 48 ff. bes. S. 79 ff., dort in lebenspraktischer Hinsicht. Vgl. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 482: "Ainsi, le but et la mission de l'homme sur terre consiste dans l'imitation du Christ."

2.2. Christo - Ontotogie und Jesus - Historismus oder lebendiges Christusbild

141

Besinnung wird. Deshalb muß sich das Pro me in der materialen wie formalen Behandlung der Christologie als Soteriologie niederschlagen: "So lieget es nun ietzo nicht allein am äussern Wissen, daß ich weiß, daß ich einen gnädigen GOtt in Christo habe, der die Sünde in der Menschheit hat getilget; sondern an deme lieget es, (1) daß es auch in mir geschehe, daß Christus, der vom Tode auferstanden, auch in mir auferstehe, und über die Sünde auch in mir herrsche. (2) Daß Er auch die Sünde, als die Natur in ihrem bösen Willen, in mir tödte, daß derselbe in Christo in mir auch gecreutziget und getödtet werde; (3) und ein neuer Wille aus der Natur in Christi Geiste, Leben und Willen, in mir aufstehe, welcher GOtt wolle, Ihme lebe und gehorsame; welcher das Gesetze ... mit dem Göttlichen Liebe = Willen erfüllet, daß das Gesetze in seiner Gerechtigkeit der Liebe = Begierde unterthan werde, und sich auch in der Liebe mit erfreue." (Gw 10, 3 4 )

Der Surplus dieser Reformulierung liegt für Böhme darin, daß der sich theologisch besinnende Christenmensch nicht mehr "um die Buchstabische Form zancket" (Sg 15, 39), in der die Christologie objektiviert werden soll. "(D)ie äussere Form ist nur eine Anleiterin, GOtt muß Mensch werden, oder der Mensch wird sonst nicht GOtt." (ebd.) Diese aus der alten Kirche bekannte Theosis - Formel 50 fordert die Jemeinigkeit der Christomorphose vor Ort der leiblich - lebensweltlichen Gegenwart ein. Auch die biblische Prototypik "ist nur eine ausgesprochene Form der Wiedergeburt" (Sg 15, 36), wenn sie nicht mimetisch postfiguriert wird. Deshalb fordert Böhme: "Ein wahrer Christ ist im Geist ein Christ, und in steter Übung seiner selbst Form zu gebären, nicht alleine mit Worten im Schalle, sondern in der Kraft des Wercks, als eine sichtbare greifliche Form" (Sg 15, 45). Es geht Böhme also um die Formkraft der biblischen Prototypik, die am leiblich - lebensweltlichen Ausdruckshandeln des Christenmenschen als eine ihn eindrucksvoll charakterisierende Lebensgestalt abgelesen werden kann, weil sie sich auf diese Weise manifestiert, d. h. in eine sinnliche Gestalt inkarniert präsentiert.

50

Zu deren Herkunft aus der altkirchlichen Inkarnationschristologie vgl. Athanasius, De Incarnatione, § 1 - 1 1 . Zur Bedeutung der Theosis - Formel bei Luther und im werdenden Luthertum vgl. J. Heubach (Hg.), Luther und Theosis, in: ders. (Hg.), Veröffentlichungen der Luther - Akademie Ratzeburg. Bd. 16, Erlangen 1990, und T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, in: B. Häggelund/ H. Kraft (Hg.), Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums. Neue Folge. Bd. 8, Hannover 1989.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

2.3. Altphilologische Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen Böhmes Kritik an der orthodoxen Schriftlehre beinhaltet zugleich eine Kritik an der lateinischen Schulsprache, deren Monopolisierung im Bereich theologischer Besinnung er deshalb kritisiert, weil sie die Heilige Schrift von der alltäglichen Erfahrungswirklichkeit des muttersprachlich inkarnierten Lesers distanziert. 51 Es ist nicht allein die mangelnde lateinische Bildung, die Böhme zur scharfen Kritik an den ihm in lateinischer Sprache entgegengebrachten Einwänden provoziert, sondern die Entdeckung des Irrglaubens, als könne man in einer fremden Hochsprache eo ipso besser und klarer denken. Böhme entlarvt deshalb trotz aller Verständnisprobleme messerscharf die Unhöflichkeit und den mangelnden Sachverstand eines Gesprächsteilnehmers, der ihn auf Latein eines Besseren belehren wollte: 52 "Welchem Hn. D. Staritio auf seine Quaestion dismal nicht gnug geantwortet worden ist, weil ich mich dazumal ... auf ihre Schulen = Art, nicht geübet hatte, ...: Ich auch wegen ihrer Lateinischen Zungen an seinem Grunde, denselben zu infassen, verhindert ward, also daß er mit seiner ingefasseten Meinung, mit welcher er sich auf die Schrift gründete, darmit triumphirete, aber ohne genügsamen Verstand der angezogenen Sprüche der Schrift, auch ohne genügsamen Grund der Vernunft = Schlüsse der Logica, in welcher er zwar treflich wol geübet ist auf ihre Schulen = Art." (ep 41, 2) Böhme unterstellt den humanistisch versierten Bibelphilologen Hoffärtigkeit. 53 Sie gehen mit der Sprache so um, als ob sie von ihr nicht unmittelbar mitgemeint wären oder ihrer als elementares leibliches Ausdrucksmedium nicht bedürften. Durch den fremdsprachlichen Distanzierungsgestus verlieren sie den muttersprachlichen und insofern lebensbedeutsamen Schriftsinn: "Unsere Gelehrten lassen sich Doctores und Magistros nennen, und keiner verstehet seiner Mutter Sprache: Sie verstehen nichts mehr vom Geiste als der Bauer von seinem Werckzeuge zum Ackerwerck, sie brauchen blos allein der gefasseten Form der groben componirten Wörter, und verstehen nicht, was das Wort in seinem Sensu ist; daher enstehet der Zanck und Streit, daß man um 51

52 53

Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 509 - 517. bes. S. 513, zur generellen Problematik der mangelhaften Lebensbedeutsamkeit philosophischer Schulsprachen. Vgl. auch G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 266 - 269. Das kritisiert Hirsch, Jakob Böhme, S. 226 ff. bes. S. 227. 233, als Ausdruck eines typisch schwärmerischen Ressentiments gegenüber den Akademikern. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 86. Anm. 18, rühmt dagegen die prophetische Revolte gegen ein "in landeskirchlich - obrigkeitlichem Traditionalismus und Doktrinarismus erstarrte(s) Luthertum". Auch ebd., S. 83 - 93, wobei Böhme allerdings gemäß der offiziellen Topik der ehemaligen DDR als linksreformatorischer Revolutionär doch wohl etwas überzeichnet wird.

2.3. Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen

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GOtt und seinen Willen streitet: Man will lehren was GOtt sey, und verstehen nicht das Wenigste von GOtt." (Mm 35, 61 = 3fL 2, 2 f.) Böhme attestiert seinen gelehrten Zeitgenossen, den "hohen Schulen, Pfaffen, Päbste(n), Bischöfe(n), Doctoren; ... Rabbinen und Meister(n) aller Völcker" (Mm 36, 34), die Verwaltung der Schrifthermeneutik wie eine Arkandisziplin. Ihre Urteilsbildungen sind für das gemeine Volk nicht nachvollziehbar und gehen doch oft über vernünftige Allgemeinplätze nicht hinaus: "Diese alle haben aus ihren eigenen Sprachen ... gerichtet, ... aus dem äussern Buchstaben" (ebd.). Überall herrsche eine sachlich völlig unverständliche Geringschätzung der Muttersprache allein aus Eitelkeit vor: "Ob gleich in manchem ist ein Quell aufgangen, so ist die Hoffart hernach gedrungen, und hats alles verderbet; da hat ers in seiner Mutter = Sprache flugs nicht schreiben wollen, er hat vermeinet, es sey zu kindisch, er müsse sich in tieffer Sprache sehen lassen, damit die Welt sehe daß er ein Mann sey und hats in seinem Vortheil gleich wie verborgen gehalten, und mit tieffen fremden Namen verkleistert, daß mans nicht kennet;...". (Mr 10, 30) Gegenüber historisch abständigen Quellentexten und einer objektiven Schulsprache versteht sich Böhme als Advokat von Luthers "Biblia deutsch" und der deutschen Muttersprache: "Denn verstehe nur deine Mutter = Sprache recht, du hast so tieffen Grund darinnen als in der Hebräischen oder Lateinischen, ob sich gleich die Gelehrten darinnen erheben wie eine stoltze Braut; es kümmert nichts, ihre Kunst ist ietzt auf der Boden = Neige." (Mr 8, 73) Die deutsche Muttersprache stellt für Böhme nämlich eines der "Wunder, darinnen Babel verstanden wird" (ihM 7, 11), dar. 54 Er teilt zwar mit der humanistischen Topik deren Hochschätzung der Natursprache Adams vor dem Fall (Gen 1 f.) sowie des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen nach dem Fall (Gen 3 ff.) gegenüber den 72 Sprachen, die dieser aus der biblischen Urgeschichte konstruierten sprachgeschichtlichen Fiktion zufolge erst durch die babylonische Verwirrung (Gen 11) entstanden sind (vgl. ihM 7, 6 - 9). 55 Im Unterschied zur humanistischen Topik werden bei Böhme jedoch die hohen Schriftsprachen mitsamt der Schrift der Natur, d. h. ihrem verborgenem Alphabet (vgl. ihM 7, 6; Mm 35, 7 - 18. 61 f.), erst von der an sich charakterlosen Sprache des H. Geistes mit einem nachvollziehbaren Sinn ausgestattet (vgl. ihM 7, 10). Darin unterscheiden sich auch die drei Hochsprachen des Humanismus nicht von den 72 Sprachen der babylonischen Verwirrung. Da alle infralapsarischen Schriftsprachen des Geistes als eines Sinnstifters bedürfen, sind auch sie in gleichem Maße von Gott gegeben wie die supralapsarische Natursprache als schöpfungskonstitutive Ursprache. Sie erfahren allesamt erst 54

55

Zur pfingstlichen Umwertung der babylonischen Sprachverwirrung im Sinne der biblischen Typologie von Gen 11 und Apg 2 bei Böhme vgl. auch E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 518. 531 - 533, und G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 266. Dazu vgl. Benz, ebd., S. 534 - 536, und Bonheim, ebd., S. 259 - 266.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

im Pfingstwunder (Apg 2) die göttliche Bestätigung ihrer heilsgeschichtlichen Lebensbedeutsamkeit. Böhme weist dadurch ein in der pfingstlichen Prototypik begründetes, prinzipielles Gefälle der göttlichen Sprachgabe in die alltägliche Lebenswelt auf. Die Sprachen der Menschen sind die lebensweltlichen Inkarnate der göttlichen Sprachgabe. In ihnen drückt sich auch die landschaftliche Gestalt der jeweiligen menschlichen Wohnwelt aus, da deren biotopische Beschaffenheit sich ebenso der göttlichen Sprachschöpfung verdankt wie die menschlichen Worte, durch deren Lokalkolorit sie hörfällig wird. Herder hätte es "Volksgeist", "Nationalcharakter" oder "Genius eines Volkes" genannt: 56 "Denn der Sensus der menschlichen Rede, daß er reden kann, kommt ihme ursprünglich aus dem Göttlichen Worte, das sich im Verbo Fiat in eine Creation einführete: ... Also hat auch GOtt die Sprachen nach iedes Landes Eigenschaft formiret. Dann weil sich die Völcker in alle Lande zerstreuen solten, so hatte Er iedem Volck eine Sprache eröffnet, wie es in einem Lande wohnen würde, die ... damit concordirte, ..." (Mm35, 73 f.) Der zum eigenen Vorteil an seine Muttersprache ausgelieferte Laie darf darüberhinaus nicht durch traditionelle Vorgaben in Form von Konzilsakten oder schuldogmatischen Lehrsystemen an einer freien Schriftlektüre gehindert werdfen. Böhme plädiert dafür, den wesentlich konnotativen Schriftsinn nicht durch externe Referenzen, also durch deren Denotation, monomythisch auf eine objektive Eindeutigkeit zu reduzieren: 57 "...: Es läst sich der Geist GOttes nicht also binden, wie die äussere Vernunft mit ihren Gesetzen und Conciliis vermeinet, da man allemal eine Kette des Antichrists mit schleust, daß die Menschen wollen über GOttes 56

57

Vgl. J. G. Herder, Abhandlung über den Urprung der Sprache, S. 105. 107: "Klima, Luft und Wasser, Speise und Trank, werden auf die Sprachwerkzeuge und natürlich auch auf die Sprache einfließen. [...] Menschen sollen überall auf der Erde wohnen, ... so wird auch seine Sprache Sprache der Erde. Eine neue in jeder neuen Welt, Nationalsprache in jeder Nation ...". Ders., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 234: "Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen-, denn in jede derselben ist der Verstand eines Volkes und sein Charakter gepräget. Nicht nur Sprachwerkzeuge ändern sich mit den Regionen, und beinahe jeder Nation sind eigene Buchstaben und Laute eigen; sondern die Namengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Äußerungen des Affekts, den Interjektionen, ändert sich überall auf der Erde. ...; noch immer aber also, daß sich der Genius eines Volkes nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede offenbart." Vgl. auch E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 534; ders., Geist und Landschaft, Stuttgart 1972. Genau diesem Problem einer dogmatischen Textreduktion im Unterschied zu einer literaturwissenschaftlichen Sinnamplifikation im Bereich der Schrifthermeneutik stellen sich die Teilnehmer der neunten Forschungsgruppe von "Poetik und Hermeneutik" am Beispiel von Gen 3; vgl. M. Fuhrmann/ H. R. Jauß/ W. Pannenberg, Poetik und Hermeneutik IX: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981.

2.3. Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen

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Geist richten, und ihren Dünckel und Schluß für GOttes Bund halten, gleich als wäre GOtt nicht in dieser Welt daheime, oder als wären sie Götter auf Erden, bestätigens noch mit Eyde, was sie gläuben wollen. Ist das nicht ein Narrenwerck, den H. Geist in seinen Wunder = Gaben an einen Eyd binden? Er soll gläuben, was sie wollen, und sie kennen Ihn doch nicht, sind auch nicht aus Ihme geboren, machen Ihme doch Gesetze, was Er thun soll." (Mw II 7, 12 = 3fL 3, 67) "Mein lieber Leser, wann du die hohen Geheimnissen wilt verstehen, so darfst du nicht erst eine Academiam auf deine Nase setzen, und eine Brillen brauchen, und vieler Meister Bücher lesen, dann sie sind nicht alleine auf den hohen Schulen zu suchen, zu finden und zu gründen. ...". (3fL 3, 29) Böhmes hochironischer Protest gegen dogmatische Objektivationen und Reduktionen zielt auf eine Ausstattung des alltäglichen christenmenschlichen Weltumgangs mit einer neuen hermeneutischen Dignität. Die Schrift muß sich deshalb als lebensrelevant und eben nicht allein hinsichtlich ihres akademischen Niveaus ausweisen lassen können. Gegenüber dem orthodoxen Distanzierungsgestus bringt Böhme die "ästhetische Andacht" 58 eines typisch lutherischen Weihnachtschristentums in Anschlag, dem Paul Gerhardt später in dem Weihnachtslied "Ich steh' an deiner Krippen hier" (EKG 28/ EG 37) zu weit verbreiteter Popularität verholfen hat: 59 "(S)o wird das Wort GOttes ... in dir eine Gestalt kriegen; Dann stehest du vor der Krippen, da JEsus geboren ward, so neige dich zu dem Kindlein, und opfere ihm dein Hertz, so wird Christus in dir geboren werden." (3fL 3, 33) Böhme ruft die affektiv aufgeladene Atmosphäre einer zur Weihnachtszeit aufgebauten Krippe in Erinnerung, um eine christomorphe Lektürehaltung leiblich repräsentieren zu können. Die ansprechende Nähe des Schriftsinns wird durch die habituelle Einstellung ästhetischer Andacht szenographisch phänomenalisiert. 60 Eine derartig habituell plausibilisierte Lebensrelevanz der Schrift hängt offensichtlich mit der reformatorischen Christozentrik bei der Schrifthermeneutik zusammen: 61 "Denn Christus alleine ist die Thür, verstehet der lebendige Christus in seinem Leben und Sprechen in und aus der Seelen; der gehet durch das

58 59

60 61

H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 479 ff. bes. 482 f. Ähnliche Anleihen bei der Weihnachtstypologie zeigt am Beispiel J. G. Hamanns K. Gründer, Figur und Geschichte, S. 35. Ein berühmtes literarisches Denkmal für das Weihnachtschristentum errichtet später noch einmal F. D. E. Schleiermacher, Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Kritische Ausgabe hg. v. H. Mulert, in: Philosophische Bibliothek. Bd. 117, Leipzig 1908. Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 479 ff.: "Die ästhetische Einstellung". Vgl. Ε. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 101: "Demzufolge setzt auch sein Schriftverständnis bei der Überwindung einer Objektbeziehung durch die Personbeziehung zu Christus an."

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2. {Cognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

buchstabische Wort in die Hertzen der Menschen, ... ." (Gw 11, 38 = 11, 34 ff.) "Christus ist allein das Wort GOttes, das den Weg der Wahrheit durch seine Kinder und Glieder lehret: Das buchstabische Wort ist nur eine Leiterin und Offenbarung von Christo, daß der Mensch dasselbe vor ihm stehen siehet, als ein Zeugniß von Christo, was Er sey, und was Er für uns gethan habe, daß wir unsern Glauben sollen darinn schöpfen und fassen; und aber mit der Begierde in das lebendige Wort Christum eingehen, und selber darinnen zum Leben geboren werden." (Mm 28, 53 = 3fL 11, 83; 14, 6; nWgb 8, 6; ep 35, 7) Gemäß der paulinischen Kritik an pharisäischer Schriftgelehrsamkeit aus 2. Kor 3, 6 begreift Böhme sich als Advokat für "das insprechende lebendige Wort" (Gw 11, 35), das den Leser in seiner leibhaften Gegenwart im "Hertzen" (Gw 11, 38) als dem Zentrum der menschlichen Empfindsamkeit affektiv anspricht. Trotz aller Kritik am "Buchstaben" (3fL 11, 83) als dem "aufgeschriebene^) Wort" (nWgb 8, 6) darf nicht übersehen werden, daß Böhme den Spiritualismus Schwenckfelds vermeidet. Er zielt nicht auf eine unmittelbare Ergriffenheit vom Christus praesens, durch die das Verbum internum die Schriftoffenbarung ersetzen oder als beliebig einstufen würde. 62 Der Schriftsinn erschließt sich "durch die Thüre des lebendigen Worts, durch das buchstabische Wort" (Gw 11, 37) oder "in dem Buchstabischen Halle" (nWgb 8, 6). Beide Wendungen verdeutlichen, daß es Böhme um die lebendige Komplexqualität von innerlicher Anspruchsqualität und äußerlicher Textform geht. Als "Werckzeug" (nWgb 8, 6) oder "Leiter und Unterweisung des Worts" (3fL 14, 6 = Mm 28, 53) sollen die "Historien" in den "Buchstaben" (nWgb 8, 6 = 3fL 14, 6) lediglich nicht einseitig überschätzt werden, da sonst keine "wahrhaftige, lebendige, essentiale Erkentniß" (ep 35, 7) zustande kommt. 6 3 Für eine lebensweltlich geerdete Schrifthermeneutik ist es nämlich unverzichtbar, daß eine "Concordantz" (ep 35, 7), d. h. ein vitales Einverständnis, zwischen Leser und Gelesenem die wechselseitige Gegenwart bestimmt. Dabei kommt es Böhme darauf an, daß Gottes "Worte in lebendiger Wirckung in uns bleiben." (ep 35, 7). Diese macht das "wahr(e) Wesen" (ebd.) der Schrift bzw. ihren "Buchstabischen Halle" (nWgb 8, 6), im Sinne von "Nachhall" im leiblich lebensweltlichen Resonanzraum des jeweiligen Christenmenschen, aus. Hier 62 63

Vgl. E. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 114. Pältz wendet sich zurecht gegen Hirsch, Jakob Böhme, S. 211 - 213. 227 - 233. Pältz spricht von pneumatischer Schriftauslegung; Jacob Boehmes Gedanken, S. 92: "Um die Schrift einem falschen Objektivismus zu entreißen, versteht Böhme -mit Luther- die Schrift als lebendiges Geist - Wort." Vgl. auch Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 399: "In gewisser Weise vermag Jakob Boehmes Gesamtwerk als ein gewaltiger Kommentar zur Bibel bezeichnet werden, ein Kommentar, der nicht historisch ein vergangenes Offenbarungsgeschehen nachdeutend versteht, sondern im Geist des gegenwärtig - handelnden Gottes, das Buch der Bücher und das Buch der Natur vor Augen, den Glauben auslegt."

2.3. Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen

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bildet sich das "lebendig(e) Wort, daß GOtt und Mensch ist" (3fL 11, 83), in seiner mimetisch postfigurierten Vollgestalt: "(D)as ist die Schrift, die du solt lesen und predigen" (ebd.). Aus der Lebensrelevanz der Soteriologie und aus der lebensbedeutsamen Christozentrik der Schrift ergibt sich, daß für Böhme das Glaubensleben des gegenwärtigen Christenmenschen die Mitte der Schrift bildet: "(D)ann ich habe ... nicht ... Buchstaben zusammen getragen oder gelernet, ich war ein unverständiges Kind daran, als der Layen Art ist..., ich suchete allein das Hertze und offene Brünnlein JEsu Christi, mich darinnen zu verbergen vor dem Ungewitter des Zornes GOttes ..., daß ich möchte einen Leiter und Führer kriegen, der mein Leben führete und regierete." (ep 18, 5) Damit soll freilich nicht auf die biblisch offenbare Prototypik als einen normativ vorgegebenen Maßstab verzichtet, sondern vielmehr dessen subjektive Geltung in die hermeneutische Besinnung in paränetischer Hinsicht integriert werden: "Forschet nach der Geschrift Hertzen und Geiste, daß er in euch geboren werde" (3fL 1,48). Böhme spricht von der leibhaftigen Bewährung des Schriftsinns vor Ort der Lebenswelt: "Denn es bewähret sich an allen Dingen, und ist nichts so klein, es stehet darinnen offenbar ..., so erfahret ihr alle Dinge, und gehet nicht also toll auf den blossen Buchstaben der Historien." (3fL 1, 47) Diese lebenspraktische Bewährung des Schriftsinns manifestiert sich "in lebendiger, thätiger Kraft" als leibhaftiger Ausdruck von "äusserlichen Worten" und gehört als "(V)ollbringen" und "Thun" zur "wahre(n) Religion" (Ti II 60 f.), d. h. zur lebensweltlichen Inkarnation des Schriftsinns (dazu vgl. auch unten 6.). Die mimetische Postfiguration des Gelesenen gehört zu den Aufgaben des christenmenschlichen Glaubenslebens, in denen er unvertretbar ist, d. h. die er nur "aus eigener Erkentniß" (Ti I 595) vornehmen kann. 64 Daher genügt zur Schrifthermeneutik kein gelehrtes Florilegium zur Abstraktion eines objektiven Schriftgehalts, der in Absehung von der jemeinen Lebensführung aussagbar wäre. Böhme attackiert seinen Kritiker Tilken deshalb scharf: 65 "Was ists, daß ich viel von der Weisheit aus der Schrift redete, und könte gleich die Bibel auswendig, und verstünde nicht, was die Weisen haben geredet, auch aus was Geiste und Erkentniß? ... Zu solcher Erkentniß gehöret nicht... zu seinem Vorsatz einen Hauffen Sprüche zusammen tragen ...; sondern ... in lebendiger Erkentniß einher gehen." (Ti II 55 f. = Ti I 593)

64

65

Vgl. auch K. Huizing, Homo legens, S. 209 ff.; auch ders., Das erlesene Gesicht, S. 48 ff. 79 ff. am Beispiel Lavaters, und S. 146 ff. am Beispiel Herders, die beide durch die Vermittlung Hamanns in die Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes gehören. Böhmes Vorwurf ist keineswegs nur eine polemische Invektive gegen eine ihm nicht bekannte Lehrorthodoxie, sondern hat einen konkreten Anknüpfungspunkt im Erscheinungsbild orthodoxer Lehrmeinungen und ihrer Polemik vor Ort des Gemeindealltags(vgl. unten 2.4.); W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 53 f., kann das Problem orthodoxer Schrifthermeneutik, das Böhme hier benennt, nicht so rhetorisch handstreichartig von sich weisen, wie er gerne möchte.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Nachdem Böhme die Schriftlehre zielursächlich (funktional) auf ihre lebenspraktische Bewährung im jemeinen Glaubensleben des Christenmenschen hin perspektiviert hat (Causa finalis oder Funktion der Schrift sei die Verlebendigung des Schriftsinns.), nutzt er zwei weitere konstruktive Deskriptionsmöglichkeiten, die sich aus der Lebensrelevanz der Schrift ergeben. In Anknüpfung an die Tradition des Liber naturae konfiguriert sich die natürliche Umgebung des Menschen durch die lebensweltliche Lektürepraxis selber zu einem offenen Buch. 66 Die Welt vor dem Text (vgl. oben 1.3.2.3.) informiert aufgrund ihrer derart hinzugewonnenen Bibliomorphie ebenfalls über den Christus praesens und seine neuschöpferische Gestaltungskraft: "(W)ir dürfen kein ander Zeugniß als das grosse Buch Himmels und der Erden, Sternen und Elementen mit der Sonnen, da wir dann die Gleichniß der Gottheit genug erkennen" (3fL 6, 1). Durch die Auffassung der Lebenswelt als ein Buch kann nun auch das historisch Abständige in einen gegenwärtigen Bedeutungshorizont eintreten. Dessen Lebensrelevanz verdankt sich also nicht der historischen Faktizität, sondern einer emblematischen Korrelation des Liber vitae mit dem Lumen naturae, der menschlichen Verstandesgabe (vgl. oben 1.3.3.). All "die dunklen Geheimnisse" (ep 8, 10) im Rahmen des biblisch offenbaren "große(n) Bau(s) GOttes" (ep 8, 11) lassen sich als "seinem Worte ähnlich ... und im Licht der Natur gegründet" (ep 8, 10) erweisen. So kann sich vor dem Forum des "Lichtes der Natur" eine die Weltgeschichte umspannende, bibliomorphe Vollpräsenz herausbilden, die die göttliche Ewigkeit lebensnah repräsentiert: "Auch so ist das Alte vor tausend Jahren im Lichte so nahe und leicht zu erkennen, als das heute geschiehet. Denn vor GOtt ist tausend Jahr kaum als für uns eine Minute oder Augenblick. Darum ist seinem Geiste alles nahe und offenbar, beides das Geschehene und Zukünftige." (ep 8, 12 = Κ 1 1 2 ) Nicht allein die natürliche Umwelt und die Weltgeschichte lassen sich nach Analogie eines Buches zeichnen, sondern auch der Mensch. 67 Das Liber naturae erkennen wir "noch viel hundert mal mehr in uns selber, so wir uns selber kennen und betrachten" (3fL 6, 1), "und befinden das in Leib und Seele, dazu an Form und Gestalt des Leibes, vornemlich am Gemüthe" (3fL 5, 28 = 4, 57). Das Textkorpus der H. Schriften wird vor Ort des belebten Körpers reidentifiziert. Es gewinnt eine formative Bedeutsamkeit für die jeweilige Lebensgestalt des Christenmenschen. Christozentrik und "lebendiges Wort" bleiben gerade bei diesem spezifischen Schriftverständnis elementare Verständnisvoraussetzungen. Niemand könne nämlich "sein eigen Lebens = 66

67

Vgl. E. Rothacker, Das "Buch der Natur", und K. Huizing, Homo legens, S. 106 ff.: "Konkrete Lebenswelt". S. 126 ff.: "Die Welt im Buche", dort zur Bibliomorphie der Weltwahrnehmung. Vgl. E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 25: Der Gedanke sei vermittelt über die soteriologisch - typologische "Auffassung von Christus als dem 'inneren Buch' des Menschen". "(E)s besteht eine innere Wesensbeziehung und Entsprechung zwischen Christus, Welt, Bibel und Mensch."

2.3. Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen

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Buch aufschliessen", es sei denn, "(e)s hätte ein ieder den Schlüssel zu GOtt in sich" (Ti II 306). Ist diesen Voraussetzungen jedoch Genüge getan, vermag der Mensch den gesamten heilsgeschichtlichen Schöpfungszusammenhang von Gott und Welt am eigenen Leibe nachzubuchstabieren, da sich das christomorphe Weltverständnis in ihm inkarniert hat: "Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern; sondern ich habe den Buchstaben in mir; liegt doch Himmel und Erden mit allem Wesen, darzu GOtt selber, im Menschen: ... Wenn ich gleich kein ander Buch hätte, als nur mein Buch, das ich selber bin, so hab ich Bücher gnug; liegt doch die gantze Bibel in mir: so ich Christi Geist habe, was darf ich denn mehr Bücher? ... So ich mich selber lese, so lese ich in GOttes Buch, und ihr meine lieben Brüder seyd alle meine Buchstaben die ich in mir lese; Denn mein Gemüth und Wille findet euch in mir: ... das Bruder = ABC." (Ti II 297 - 300 = 303 - 306; Mm 68,42; ep 50, 1) Hierbei knüpft die Schrifthermeneutik Böhmes an die oben (vgl. 2.1.) bereits erwähnte Imagologik aus Gen 1, 26 f. an. Die bibliomorphe Wahrnehmung des Menschen hängt mit seiner Gottebenbildlichkeit strukturell zusammen, die ebenfalls auf einer die individuelle Lebensgestalt bildenden Relation zwischen dem natürlichen Vorhandensein des Menschen und der ihn ansprechenden biblischen Prototypik basiert: "Also habe ich nun geschrieben, nicht von Menschen = Lehre oder Wissenschaft aus Bücher = Lernen, sondern aus meinem eigenen Buche, das in mir eröffnet ward: Als die edle Gleichniß GOttes; das Buch der edlen Bildniß (zu verstehen das Ebenbild GOttes) ward mir vergönnet zu lesen, und darinn habe ich mein Studiren gefunden, als ein Kind in seiner Mutter Hause, das da siehet was der Vater machet, und demselben in seinem Kinderspiel nachspielet; ich darf kein ander Buch dazu." (ep 12, 14 = 34, 9) Dabei wird wiederum deutlich, daß die mimetische Postfiguration des Schriftsinns elementar zur Schriftlehre gehört. Böhme gelingt es insofern bereits auf der Darstellungsebene theologischer Besinnung, die Schrift hinsichtlich ihrer lebensweltlichen Gestaltungskraft als hochgradig erfahrungsrelevant und somit lebensbedeutsam auszuweisen. Seine eigenwillige Deskriptionstechnik versucht einzuholen, was sonst einer sekundär hinzutretenden homiletisch - paränetischen Applikationsleistung des Predigtamtes zugewiesen wird. Nachdem bis hierher die generelle Ausrichtung von Böhmes Schriftlehre charakterisiert worden ist, muß nunmehr noch seine typologische Auslegungsmethode kurz erläutert werden (vgl. oben 1.3.2. und 1.3.3.). Da der historische Schriftsinn als eine unangemessen lebensferne Abstraktion von der leibhaftigen Lektürewirklichkeit kritisiert worden ist, bietet Böhme die typologische Exegese oder Figuralhermeneutik als den Königsweg zu einer applikativen Schrifthermeneutik an. Er greift damit den Lehrbestand der mittelalterlichen Figuralhermeneutik wieder auf (vgl. oben 1.3.2.2.), von der er sich allerdings durch die erneute Vergeschichtlichung unterscheidet, d. h. durch die

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Horizontatffcierung gemäß biblischem Zeit- und Geschichtsverständnis im Gegensatz zur Vertikalisierung der Korrelation von Schriftfigur und analog bedeuteter Figur im Rahmen mittelalterlicher Ontologie qua Metaphysik. Die Pointe der mittelalterlichen Figuralhermeneutik verschiebt sich bei Böhme von ewig gültigen und restfrei wechselseitig ineinander konvertierbaren Zeichenwerten zum Überbietungsverhältnis von atl. Vorbild und ntl. Gegenbild. Anstelle der allegorischen Ersetzung tritt wieder die typologische Ausdifferenzierung eines unersetzbaren Bedeutungsmehrwertes. 68 Darüberhinaus erweitert Böhme das typologische Entsprechungsverhältnis zwischen Szenen des Alten und Neuen Testaments (vgl. dazu Mm Vorr., 12; 8, 34; 47, 3) zu gegenwärtigen Analogien in der Situationsdramatik christenmenschlicher Lebenswirklichkeit: "Wie dann das gantze alte Testament eine Figur des Neuen ist, und das Neue eine Figur der künftigen ewigen Welt, darinnen die Figur in Göttlicher Kraft stehen wird, und der Geist GOttes in Ewigkeit mit seinen Wunderthaten spielen wird; zu welchem Ende Er auch den Menschen geschaffen, ..., daß er sey ein Bilde des ewigen Worts, mit welchem Bilde der ewige Geist spielen und Wunder wircken will, aufdaß in der ewigen Weisheit eine Freude und Erkentniß sey. Als nun der Geist Mosis die Figur Adams und Christi unter einer Historien angedeutet hat, so fähret er fort, und deutet ferner an, wie es den Kindern GOttes in dieser Zeit gehen müsse,... ." (Mm 54, 17 f.) "Die Vernunft soll wissen, daß sich nicht eben der Geist GOttes habe bemühet im Wercke, daß Er wolte die Historien der Alten darstellen, welche doch meistentheils Kindisch und Einfältig aussehen: Nein, es ist uns zum Vorbilde und zur Lehre dargestellet." (Mm 48,41) Die strukturelle Lebensbedeutsamkeit der Bibel besteht also auch für Böhme in den exemplarischen Modellsituationen, in denen der "Geist GOttes hat die grosseste Wunder, so Er in dem Menschen hat wollen vollbringen, damit vorgemodelt" (Mm 48, 42). Die Modellsituationen wirken (ganz im Sinne Tillichs; vgl. oben 1.3.1.) soteriologisch, weil sie das amorphe Schöpfungsleben "real bilden" (vgl. auch unten 4. zur mythopoetischen Funktion des biblischen Schöpfungsdramas beim Aufbau der christlichen Welt). Diese gegenwartsorientierte Figuralhermeneutik setzt voraus, daß der Bibelleser sich der fundamentalen Adam - Christus - Typologie (vgl. Rom 5, 12 ff.) als der

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Die Anknüpfung Böhmes an die mittelalterliche Figuralhermeneutik im Sinne Auerbachs sieht G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 247 - 251. 357 f. Anm. 38. 40. Bonheim übersieht, daß Böhme diese Traditionslinie kritisch aufnimmt, um die zunehmende ontologische Vertikalisierung des Netzes von Figur und Bedeutung im Mittelalter zu durchbrechen. Zur Zeichenmetaphysik im Mittelalter als Verfallsform der Figuralhermeneutik vgl. E. Auerbach, Mimesis, S. 19. 51 f. 113 f. 117 f. Die genuin geschichtsphilosophische Bedeutung typologischer Schrifthermeneutik arbeitet am Beispiel Hamanns K. Gründer, Figur und Geschichte, heraus.

2.3. Skripturalmetaphysik oder muttersprachliche Verlebendigung der Schrifttypen

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Urfolie aller typologischen Analogien zu bedienen versteht:69 "Und sollet gar eben wissen, daß das 1. Buch Mosis gantz aus des Geistes Andeuten, was iede Geschieht in der Figur bedeutete, sey geschrieben worden: Wer die Geschichte lesen und recht verstehen will, der muß ihme den alten und neuen Menschen in sein Gemüthe modeln, und Christum und Adam gegen einander stellen, so mag er alles verstehen; und ausser dem verstehet er nichts davon, als nur eine kindische Historia, welche doch also reich an Geheimnissen ist, daß sie kein Mensch von der Wiegen bis in das höchste Alter aussprechen möchte, ... ." (Mm 43, 57 = 46, 29) Ohne die typologische Grundstruktur bleibt die Bibel eine bedeutungsschwangere chaotische Mannigfaltigkeit, deren lebensbedeutsame Formkraft der Mensch sich in concreto nicht erschließen kann. Der Mensch bedarf einer mimetischen Postfiguration des Schriftsinns, da seine fragmentarischen Explikationen sonst keinen lebensgestalterischen Zusammenhang finden. Ganz im Sinne der von Paulus bereits präformierten Kritik der "intentional fallacy" 70 kritisiert Böhme die mosaische Autorschaft. Die sog. fünf Bücher Mose könnten nicht auf Moses auktorialen Intentionen hin gelesen und reduziert werden, da ihm das lebensnahe Verständnis Jesu Christi gefehlt hat, um sich der vollen Bedeutung seiner Äußerungen bewußt zu sein (vgl. Mr 18, 1 - 4; 19, 79; 20, 2; 22, 66 f.; 26, 116 f.; Mm 11, 3 ff.; 17, 2; Ti I 615 f.).

69 70

Auch bei Paulus fungiert die Adam - Christus - Typologie als Urtypologie; vgl. L. Goppelt, Apokalyptik und Typologie, Sp. 332. Vgl. 2. Kor 3, 7 ff. bes. 12 - 18 mit dem Motiv der "Decke" als Bild der Reduktion des Schriftsinns auf den unmittelbar mosaischen Gesichtskreis; vgl. auch die paulinische Argumentation in Rom 2 - 5, mit der Paulus den mosaischen Gesichtskreis ausweiten und die "intentional fallacy" am Alten Testament in concreto vorexerzieren will. Die Linie verläuft von Mose und dem Sinai - Gesetz (Rom 2, 17 ff.) über die Glaubensgerechtigkeit Abrahams vor Gesetz und Beschneidung (vgl. Rom 4, 13 ff.) hin zu Adam, dem Menschen schlechthin, und dem vollendeten Gesichtskreis des allgemeinen Menschenerlösers Jesus Christus (Rom 5, 12 ff.). Vgl. zu dieser Rekonstruktion paulinischer sowie insgesamt neutestamentlicher Gedankenführungen H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 100 ff. bes. 100 f.; ganz deutlich zum Römerbrief schon davor in ders.. Geerdete Vernunft, S. 60. Zum Begriff der "intentional fallacy" bzw. der "humanist fallacy" vgl. T. Eagleton, Literary Theory. An Introduction, Oxford 1983 = 1988, S. 120 f.: " ... the naive notion that a literary text is just a kind of transcript of the living voice of a real man or woman addressing us.... Such an attitude 'dematerializes' literature, strives to reduce its material density as language to the intimate spiritual encounter of living 'persons'. ... It is not, in the end, concerned with regarding the literary text as a text at all."

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2. Kognitivistischer Distanzieningsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

2.4. Konfessionsmetaphysik oder die lebendige Gesellschaft leibhaftiger Christenmenschen Die am schärfsten vorgetragene Kritik Böhmes an der zeitgenössischen Theologie bezieht sich auf das konkrete Erscheinungsbild der Kirche, für das er ein Versagen der Theologie verantwortlich macht. Der dreißigjährige Krieg läßt von der Pax Christiana, die eigentlich in der christenmenschlichen Lebenswelt zur Darstellung kommen müßte, schlechterdings nichts mehr erahnen. 71 Ohne Rücksicht auf eine christliche Lebenskultur bekriegen sich Konfessionsparteien aufgrund von Lehrformeln. Es gibt nur noch "Titel = und Maul = Christen" (ApR 24) bzw. eine "Titul = Christenheit" (Mm 62, 11. 14; 63, 9). Kirche ist auf das bloße Vorhandensein ihrer Bauten reduziert. "(D)ie steinerne Kirchen" symbolisieren völlig selbstreferentiell eben nur noch "die Mauer = Kirche" (nWgb 6, 2. 4. 11. 13). Kirche sei kein spezifisch qualifizierter Lebensraum mehr, sondern ein "Steinhauffe", der "keinen neuen Menschen" hervorzubringen vermag wie der "Tempel Christi, da GOttes Geist lehret, der wecket die halb = todte Bildniß auf, daß sie anhebet zu grünen" (Mw I 13, 3). Hochironisch attestiert Böhme der "ecclesia", daß sie im wahrsten Sinne des Wortes eine "militans" sei: 72 "Wir sehen alhier das Bilde der streitenden Christenheit gewaltig, wie die Christenheit gantz halsstarrig in Meinungen wüten werde, ...". (Mm 62, 10) Der "Maul = Christ" habe durch seine "Schmähe = und Zanck = Bücher" ein "verwirretes Babel" produziert (Ti II 58). Angesichts der gegenwärtigen Streitigkeiten um die Rolle Christi "im Abendmahl, in der Tauffe, und in der Beichte" verblasse der "Arianische ... Gelehrten Streit" geradezu (ApR 25 f.). Der "Sectirische Streit" der Gegenwart stelle ein apokalyptisches Chaos dar (ep 28, 10): "(F)alsche Propheten ... in allen Secten" (Gw 12, 61) "wollen für hochgelehrte Leute gesehen seyn, ... ohne die Gnade; leben auch gantz ausser Christi Proceß in eitel Gelüsten des Fleisches; und tichten täglich mehr, ... eines neuen Ordens und Gottesdiensts, darunter sie einen gleissenden Schein bekommen, und man sie desto bas ehret, und mit Reichthum zur Bauchfülle ihres Gottes Maüsim des Bauchs begäbet." (Gw 12, 61. 59) Böhme attackiert den in akademischer Indifferenz dahinräsonnierenden Theologen unmittelbar: "Mit Disputiren und Forschen wilt du ein Christ seyn, fremde Sprachen sollen dich zum Apostel machen; Streiten, Grei-

71 72

Vgl. E. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 83 - 93. 111 f. Böhme verhilft darüberhinaus vor dem neuen Hintergrund des dreißigjährigen Krieges dem alten Streit zwischen christlicher Lebenspraxis und Soldatenstand zu einer Neuauflage; vgl. dazu auch A. Harnack, Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1905. Dort bes. S. 40 ff. zur Adaption soldatischer Metaphorik im Rahmen einer Symbolik der christlichen Lebensführung seit Tertullian. Diese martialische Gleichnisrede, die ihre biblische Wurzel in 1. Thess 5, 8 und Eph 6, 10 hat, wird von Böhme hier verballhornt.

2.4. Konfessionsmetaphysik oder lebendige Gesellschaft von Christenmenschen

153

nen und Z a n c k e n ist dein A p o s t o l i s c h Hertze" ( G w 12, 27). D i e Apostolizität kann die g e g e n w ä r t i g e Kirchenlandschaft in B ö h m e s A u g e n nicht mehr für sich reklamieren. S e i n Alternativvorschlag für eine lebensrelevante Ekklesiologie, durch die der e i n z e l n e C h r i s t e n m e n s c h unmittelbar in d i e G e s t a l t u n g s v e r a n t w o r t u n g g e n o m m e n wird, fußt auf der lebensweltlichen Adaption der Christologie als C h r i s t o m o r p h o s e zu e i n e m c h r i s t e n m e n s c h l i c h e n L e b e n s v o l l z u g . G a n z neuzeitlich wird dadurch aus der Kirche eine Gesellschaft leibhaftiger christlicher I n d i v i d u e n : 7 3 "Ein rechter Christ bringt seine heilige Kirche mit in die Gemeine: sein Hertz ist die wahre Kirche, da man soll Gottesdienst p f l e g e n ; ..." ( n W g b 6, 16) D i e s e leibhaftige Gesellschaft selbstverantwortlicher Individuen i m Horizont des Christus praesens läßt sich nicht in "Sekten" provinzialisieren. D i e A u f g a b e einer christenmenschlichen Lebensführung stellt sich unteilbar j e d e m e i n z e l n e n G l i e d einer irdischen Kirchengemeinschaft: "Ein Christ aber hat k e i n e S e c t e , er kann mitten unter den S e c t e n w o h n e n , auch in ihrem Gottesdienst erscheinen, und hangt doch keiner Secte an: Er hat nur eine einige W i s s e n s c h a f t , die ist Christus in ihme; Er sucht nur einen W e g , ... und stellt alle sein W i s s e n und W o l l e n ins Leben Christi e i n . . . . " ( n W g b 7, 5) S c h l e i e r m a c h e r s Kritik der k o n f e s s i o n e l l e n Kirchentümer in der vierten seiner R e d e n "Über die Religion" verläuft ganz analog: "Wo ist der Geist der 73

Diesen typisch neuzeitlichen Individualismus und Subjektivismus kritisiert Hirsch, Jakob Böhme, S. 212 - 214. 235 - 237. bes. S. 236: Böhmes Kirchenkritik sei "überkonfessionell" motiviert. Den Faden einer Ekklesiologie im Sinne einer Gesellschaft bzw. freundschaftlichen Sozietät individueller religiöser Virtuosen, deren Gesellungsprinzip die jeweils im Hinblick auf den Ausdrucksstil kongeniale religiöse Lebensführung ist, spinnt Schleiermacher weiter; vgl. ders., Über die Religion, hier: "Vierte Rede: Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum", S. 127 - 171, bes. 170 f.: Kirche als "Chor von Freunden". Der Anknüpfungspunkt ist Luthers Priestertum aller Gläubigen; vgl. ebd., S. 134. Das freundschaftliche Gesellungsprinzip, das Schleiermacher auf die christliche Kirche anwandte, wendet H. Blüher auf politische Gesellschaften an. Staaten wurzelten im mann - männlichen Eros eines Männerbundes; vgl. ders., Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, neu hg. v. H. J. Schoeps, Stuttgart 1962, S. 219 ff., bes. S. 238 - 252. Vgl. auch G. v. d. Leeuw, Sakramentales Denken. Erscheinungsformen und Wesen der außerchristlichen und christlichen Sakramente, Kassel 1959, S. 124: Beim Christentum wie bei den hellenistischen Mysterienkulten handele es sich um "Religionen, die von einem älteren Kult ausgehend in den Jahrhunderten des sogenannten Synkretismus... in ... zum großen Teil geheimen Kultgenossenschaften Gläubige zusammenbrachten. Dies geschah nicht wie in den älteren Religionen auf Grund der Tatsache, daß sie in derselben Gemeinschaft geboren waren, sondern auf Grund einer freiwilligen Wahl, die nicht selten mit einer Art Bekehrung oder mit einem Ruf Gottes motiviert wurde." Zur auch für die Ekklesiologie höchst bedeutsamen Differenz einer auf einem gemeinsamen "Kürwillen" mehrerer individueller Subjekte basierenden "Gesellschaft" zu einer eigenständigen "Gemeinschaft" mit einem überindividuellen, von sich aus inkorporierenden "Wesenwillen" vgl. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Neudruck der 8. Auflage von 1935, Darmstadt 1991.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Zwietracht und der Spaltungen, den ihr als die unvermeidliche Folge aller Religionsvereinigungen anseht? [...] Meint ihr daraus müßten notwendig Sekten entstehen, und es müßte die freie Geselligkeit in der Religion hindern? [...] (J)e weiter ihr fortschreitet in der Religion, desto mehr muß euch die ganze religiöse Welt als ein unteilbares Ganzes erscheinen: nur in den niederen Gegenden kann vielleicht ein gewisser Absonderungstrieb wahrgenommen werden". 74 Schleiermacher kritisiert deshalb auch so scharf, daß in Geschichte und Gegenwart die "wahre Kirche" immer wieder durch einen "verderblichen Sektengeist" an der gegenwärtigen Darstellung gehindert wird. 75 Die leidenschaftliche Kritik Böhmes an den bekenntnisdogmatisch verobjektivierten Konfessionskirchentiimern zielt also wie später bei Schleiermacher ganz im Sinne Luthers auf eine Reformulierung des Topos von der Katholizität der Kirche in der nicht minder leibhaftigen Gestalt einer wahrhaft universalen Ecclesia invisibilis, die als Ecclesia spiritualis gleichwohl im Verborgenen wirksam ist und die menschliche Lebenswelt christenmenschlich prägt. 76 Ein weiterer, typisch neuzeitlicher Bogen läßt sich über Lessings aufklärereisches Christentum bis hin zu Karl Rahners "anonymem Christentum" schlagen. 77 Schon Luther hatte den sittlichen Vorbildcharakter der Türken zur Vermahnung an die verkommene Christenheit betonen können. Böhme schließt daran an und führt den Automatismus ad absurdum, als ob jeder nicht getaufte Mensch notwendig zur Massa perditionis gehöre: "Daß man aber will sagen, daß derjenige, so die Tauffe nicht hat, als die Juden und Türcken, und andere Völcker, bey welchen diese Erkentniß nicht ist..., daß sie alle von GOtt Verstössen seyn, indeme sie doch sonst heftig mit ihrer Lehre, Leben und That in die Liebe GOttes eindringen, das ist Phantasey und Babelisch geredet, ohne Erkentniß. Es lieget nicht die Seligkeit alleine im äusseren Worte, sondern in 74 75 76

77

Ebd., S. Ì 3 4 - 136. Ebd., S. 139. 146. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 149 - 151. 207. 403, liegt schlicht falsch, wenn er die ekklesiologische Universalität Böhmes als lutherkritisches Votum zugunsten der zunächst vom christlichen Abendland ausgehenden, dann aber kolonialistisch gewendeten Weltkirchenekklesiologie des gegenreformatorischen Barockkatholizismus bewertet. Hirsch, Jakob Böhme, S. 234 Anm. 1, wirft dem römisch - katholischen Hankamer daher Unehrlichkeit und Selbstbetrug vor. Die dogmatische Frage nach einem rechten Katholizitätsverständnis im Rahmen der Ekklesiologie nimmt P. Tillich in altbewährter hermeneutischer Reformulierungskunst, wie auch bei Böhme, wieder auf; vgl. ders., Neue Formen christlicher Verwirklichung. Eine Betrachtung über Sinn und Grenzen evangelischer Katholizität, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. XIII: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Reden, Aufsätzen und Stellungnahmen, Stuttgart 1972, S. 92 - 95. Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg/ Basel/ Wien [2. Auflage] 1976, S. 31 - 33. 303 ff., zum "anonyme(n) und unthematische(n) Wissen von Gott" (S. 32) und zu "Jesus Christus in den nichtchristlichen Religionen" (S. 303). Rendtorff spricht in ähnlicher Weise von der "vergessene(n) Realität" eines "unkirchliche(en) Christentum(s)"; vgl. T. Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969, S. 5. 9 ff.

2.4. Konfessionsmetaphysik oder lebendige Gesellschaft von Christenmenschen

155

der Kraft; wer will den Ausstossen der in GOtt eingehet?" (40 F 14, 11 f. = 3fL 11,88 - 93) Ganz im Gegenteil zu einem automatisierten Verständnis des "Nulla salus extra ecclesiam!" ist der Kirchenchrist, der sein Leben nicht christomorph als wahrer Christenmensch führt, viel eher gefährdet als der ungetaufte Heide, da er es besser als dieser gewußt und somit bewußt mißachtet hat: "Ein Titul = Christ ohne Göttlichen Willen ist weiter davon, als ein gläubiger Jude, Türck und Heide, und wer der sey, welcher sein Vertrauen in GOtt setzet, und GOtt seinen Willen übergiebet; dieser ist viel näher, und wird den Titul = Christ verdammen, darum, daß er sich des Wissens rühmet und der Gnade tröstet, und bleibet aber nur in seinem bösen Willen ausser der Gnade, und will seinen Schalck in GOttes Gnade versetzen." (Mm 70, 85 = 3fL 6, 21) Auf der prototypischen Folie des Gleichnisses von den ungleichen Söhnen (vgl. Mt 21, 28 - 32 als Zitat in Mm 40, 93) stellt Böhme der verkommenen Christenheit die "Türcken" gegenüber (vgl. Mm 40, 77 ff.), deren christologische Häresie er zwar konzediert (vgl. Mm 40, 78 f.), da sie eine enge Verwandtschaft mit dem Arianismus aufwiesen (Mm 40, 83 f.), deren militärischer Erfolg im "Morgenland" aber heilsgeschichtlich zu werten sei 78 und dafür spreche, daß sie durch die Vaterfigur Abrahams implizit mit der Christusgestalt vertraut seien und dementsprechend lebten (Mm 40, 88). Dadurch daß "die gantze genante Christenheit zu eitel Secten und Orden worden ist, da je eine Secte die ander verachtet und für ungerecht schilt" (Mm 40, 94), tut sich der Gegensatz zwischen den "ungleichen Söhnen" auf: "Was soll man denn nun von der Christenheit und von den Türcken sagen, daß man sie vergleiche? ... Der Türcke ist öffentlich ein Ismaeliter und Spötter der Menschheit Christi, und hält die nicht für GOttes und Menschen Sohn zugleich: denn er verstehet nicht den himmlischen Ens in der Person. Aber die Secten der Christenheit decken sich zwar mit Christi Mantel um, greiffen Ihm aber in seine Menschheit und Gottheit ein, und schänden Ihn auch in der gantzen Person, zerren und reissen sich um seine Person, und ... ein ieder will Meister über seine Wort und Geist seyn, und spotten also Christum in seinen Gliedern, sind eben solche abtrünnige ausgeflohene Ismaeliter als die Türcken, und leben in eigenem Willen, und dienen dem Reiche der Natur, zu ihrer Selbheit und Wollust." (Mm 40, 95 f.) Vor dem Hintergrund der einen Schöpfung faßt Böhme Christus genauso wie Paulus das Gesetz (vgl. Rom 2, 14 f.) als universale Herzensschrift aller Völker auf, durch die prinzipiell jeder Mensch implizit oder explizit sein Leben christomorph in leibhaftiger Entsprechung zum schöpferischen Gottesleben führen kann: "Christus scheinet allen Völckern ...: Er zeucht sie alle: und wegen seines Zuges und der Wissenheit, welche in ihre Hertzen geschrieben 78

Vgl. Ε. H. Pältz, Zu Jacob Boehmes Sicht, S. 152 f.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

sind, daß sie wissen daß ein GOtt sey, welchen sie ehren sollen, und sie das nicht thun, so werden sie gerichtet werden." (Gw 13, 18). Böhme liest hier die natürliche Gotteserkenntnis, die Paulus (vgl. Rom 1, 18 ff. und Rom 2, 14 f.) auf eine zwar implizite, aber doch für das Gewissen verbindlich wirksame Gesetzeskenntnis bezog, mit Justins λογος σπερματικός und Tertullians "Anima naturaliter Christiana!" zusammen. Er kennt offensichtlich eine im Humanum als Geschöpf Gottes begründete implizite Christuserkenntnis: Auf der Folie der biblischen Sprachtradition kann diese dann in eine explizite Vollgestalt überführt werden, in der sie angesichts der Prototypik eines wahrhaft gelingenden Lebens eine konkrete Bestimmtheit annimmt. Die Verfehlung der real existierenden Kirchen besteht für Böhme im müßigen Streit um "Christi Lehre und Ehre" sowie darum, "was einer für Ceremonien und Gebärde gebrauche" (ep 11,41 = nWgb 7, 3 f. 7 ff. 14; 8, 11 13).79 Dabei sei der Christus praesens ein von der Atmosphäre der Liebe normativ gestimmter Lebensraum (vgl. 1. Joh 4, 9. 16).80 Der dergestalt qualifizierte H. Geist Jesu Christi sei "den ehrsüchtigen Streit = Schriften von Hertzen feind" (ApR Vorr., 1): "Dann Christus steckt in keiner Zanck = Meinung, sondern in der Linea seiner Gnaden ist Er mitten unter uns getreten; und ... darf keines Streites noch Meinung, sondern nur das einige will Er von uns haben, daß wir in Ihme bleiben, so will Er in uns bleiben, und daß wir uns in Ihme lieben, wie Er uns in sich liebet..., daß wir Ihn in derselben Liebe erkennen, und mit Ihm Ein Leib und Geist werden, alsdann ist Adam wieder geholfen." (Mm 65, 50 = 40, 97) "Die Meinungen um den Kelch und Person Christi" (3fL 12, 29), d. h. die objektive Explikation der Glaubenslehre einzig im Rahmen einer innerakademischen Streitkultur, sollen durch die Druckmittel des landesherrlichen Kirchenrechts zugunsten einer lebensnahen Besinnung zurückgestellt werden. "Das mercket ihr Fürsten und Obern, lasset euch nicht verführen: Treibet die Lehrer in die Kirchen, und heisset sie den Willen GOttes aus seiner Liebe lehren, und machet sie nicht zu gewaltigen Herren; gestattet ihnen nicht Aufsätze zu machen" (3fL 12, 30). Böhmes Ressentiment gegenüber der Rabies theolo-

79

80

Vgl. dazu auch Schleiermacher, Über die Religion, S. 144 f. sowie P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, S. 43 - 64: "Protestantische Gestaltung". Der Zeichencharakter religiöser Ausdruckshandlungen und Symbole dürfe weder dämonisiert, noch fetischisiert werden. Wie die fünfte von Schleichermachers Reden (S. 172 - 228) zeigt, folgt daraus aber mitnichten, es gebe Religion außerhalb der Inkarnation positiver Religionsgestalten (dazu bes. S. 178: Schleiermacher spricht hier von "Physiognomien"). So auch bei Böhme; er verzichtet trotz dieser Kirchenkritik keineswegs auf leibhaftigen religiösen Ausdruck und darstellendes Handeln. Dieser wird lediglich hauptsächlich im Bereich privater religiöser Lebenspraxis gesucht (vgl. unten 6.) Vgl. Schleiermacher, ebd., S. 159, beschreibt umgekehrt die Bedeutsamkeit der profanen Welt für die darstellerische Verleiblichung der wahren Kirche als "eine Atmosphäre, durch welche sie sich zugleich reinigt und auch neuen Stoff an sich zieht und bildet".

2.4. Konfessionsmetaphysik oder lebendige Gesellschaft von Christenmenschen

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gorum geht hier etwas weit. Er formuliert geradezu ein augustinisches "Cogite intrare!", um Privatmeinungen durch staatliche Zwangsmittel zu unterbinden. 81 Trotz aller persönlich motivierten Aversionen gegenüber der Universitätstheologie gelingt Böhme jedoch auch ein konstruktiver Reformvorschlag zu deren Aufgabe. Die universitär gebildeten Pfarrer sollen ihr "Amt" so wahrnehmen, "daß ihr hättet sollen diese Fasten = Zeit Christi bitter Leiden, Sterben und Blutvergiessen betrachten, und dasselbe euren Pfarr = Kindern wol einbilden, daß sie es auch behertziget hätten" (ApR 35 = 2). Die Konzentration auf einen aus der Alltagswelt ausgegrenzten Kultbezirk und dessen Ordnungen ist der von Böhme auf die effektive Lebensbildung ausgerichteten, leibhaftigen Funktion theologischer Besinnung abträglich: "Es wäre besser, keine Ceremonien, sondern nur blos der Gebrauch des ernsten Befehls GOttes, was Er uns in seinem Bunde und Testament hat gelassen" (3fL 11, 56). Die äußere Kirche darf angesichts des primären Ziels leibhaftiger Lebensbildung im Rahmen der Glaubenslehre nicht überschätzt werden. 82 Das bedeutet für die Ekklesiologie im einzelnen, "daß ein Christ nicht auf den Schein der Kirchen sehen soll, sondern dencken, daß die Kirche nur ein Vorbild Christi sey, und daß nicht das ein Christ sey, der nur in das Vorbild eingehet und sich darzu bekennet; sondern das ist ein Christ, der in Christi Menschwerdung, Leiden und Tod gantz eingehet, und in Christi Tode seiner Heucheley abstirbet, und aus Christi Tode eines neuen Willens und Gehorsams aufstehet, und nach seinem inwendigen Grund in Christo lebet und ist, welcher selber der Tempel Christi wird, in deme Christus mit seiner Kraft wircket, und dadurch die Sünde im Fleische tödtet: Dieser ... mag recht in das Vorbilde Christi eingehen, und sein Christenthum darinnen üben, der wird GOttes Wort hören, und in seinem Hertzen bewahren." (Mm 63,51) Die Lebensrelevanz der Ekklesiologie steht und fällt für Böhme mit der Übersetzung der christomorphen Prototypik in das individuelle Menschenleben. Maßstab und Ziel ekklesiologischer Besinnung bildet die Herstellung einer Entsprechungsrelation zwischen Christus - Titel und Menschenleben, wie die Namensschöpfung Luthers "Christenmensch" sie impliziert, "als nemlich, daß der allein ein Christ sey, welcher dieses hohen Titels in ihme selber sey fähig worden, welcher mit dem inwendigen Grunde, Gemüthe und Willen, sich habe zu der geschenckten Gnade in Christo JEsu eingewandt, und sey in seiner Seelen Willen worden als ein junges Kind, das sich alleine nach der Mutter

81

82

Hierin unterscheidet sich Böhme ganz im Sinne der puritanischen Rezeption des Erastus (alias Thomas Lüber; 1524 - 1583) in England und Holland diametral von dem liberal und laizistisch eingestellten Schleiermacher; vgl. ders., ebd., S. 153 - 171. bes. 163. Zum englischen und holländischen "Erastianism" vgl. O. Chadwick, The Reformation, in: The Pelican History of the Church. Vol. 3, Harmondsworth/Middlesex 1964, S. 149 f. 391 ff. 394 - 397. Hirsch, Jakob Böhme, S. 236 - 238, sieht darin gerade Böhmes Unterschätzung materialer Ekklesiologie.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Brüste sehnet..., davon es lebet." (ep 46, 3 = wB II 2). 83 Dafür bedarf es einer Sensibilitätsschulung für die von der Atmosphäre der Liebe des Christus praesens durchtönte Lebenswirklichkeit des gegenwärtigen Christenmenschen (dazu unten 3.2.)· Diese gehört aber unmittelbar mit der generellen Neuorientierung theologischer Besinnung an der leibhaftigen Lebensgestalt des gegenwärtigen Christenmenschen in sensitiver wie normativer Hinsicht zusammen.

2.5. Theologie als "Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt" 84 Nachdem Böhmes Orthodoxiekritik bisher an den Loci Gotteslehre, Christologie, Schriftlehre und Ekklesiologie entfaltet worden ist, um auf diesem Wege nachzuvollziehen, wie Böhme seinen inkarnationsmorphologischen Neuansatz einer leibhaftig lebensbedeutsamen theologischen Besinnung kritisch gegenüber dem kognitivistischen Distanzierungsgestus der Orthodoxie abgrenzt, gilt es nun, seinen auf die Evidenz subjektiver Empfindsamkeit hin ausgerichteten Theologiestil als eine synthetisierende lociübergreifende Alternative zum analysierenden objektivierenden Präsentationsmodus der Lokalmethode darzustellen. Eine konsequente Gliederung des Stoffes der Glaubenslehre nach Loci unterbleibt bei Böhme nämlich. Stattdessen arbeitet er die Perspektive aller Explikationsleistungen theologischer Besinnung heraus: Es geht beim Glauben immer um die individuelle Heilsaneignung und dessen dahingehende Lebensrelevanz, daß das menschliche Leben effektiv eine neue, christomorphe Gestalt aufweist. Diese inkarnationsmorphologische Perspektive wird nun in sensiti-

83 84

Dieses reformatorische Bemühen um eine genuin christen-menschliche Wahrhaftigkeit qua Leibhaftigkeit erkennt auch E. Hirsch, ebd., S. 240 f., an. Diese Theologiedefinition verdankt sich der Philosophiedefinition von H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 5: "Philosophie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung." Die Nähe zum liberalen Kulturprotestantismus ist dabei durchaus beabsichtigt. Daher die Assonanz an M. Rades programmatischen Zeitschriftentitel "Die christliche Welt". Das "Sichfinden" macht deutlich, daß es auch für den wie alle Menschen der geschichtlichen Wirklichkeit ausgesetzten Christenmenschen um Kontingenzbewältigung und sprachliche Sinnstiftungen geht. Wenn man sich auf die daraus hervorgehenden sprachlichen Ausdrucksleistungen "besinnt", handelt es sich um eine morphologische Rückfrage zur ebenso sprachlichen Rekonstruktion eines elementaren leiblichen Präsentationsgestus, dessen deiktisches Bedeutungsansinnen es anhand der sprachlich greifbaren leiblichen Ausdrucksmotorik zu erheben gilt; vgl. oben 1.4., bes. M. Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 207 ff., zum konstitutiven Zusammenhang leiblicher Deiktik und sprachlichen Ausdrucks. K. Leese unterscheidet den Theologiebegriff dieser Überschrift als "Theologie erster Ordnung" vom objektivierenden Distanzierungsgestus der Dogmatik als "Theologie zweiter Ordnung"; vgl. ders., Geistesmächte und Seinsgewalten, S. 28 - 31.

2.5. Theologie als Sichbesinnen des Christenmenschen

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ver 8 5 wie in normativer Hinsicht 86 an der leiblichen Ein- und Ausdruckswirklichkeit deskriptiv ausgewiesen. Deshalb konzentriert sich Böhme auf die Größen Christus praesens, Inkarnation, Jemeinigkeit, Gestalt des Leibes und Gestaltung der Lebenswelt: "Euer Kundschaften und Wissen hilft euch nicht ins Reich GOttes, ihr könnet nicht darinn einfahren, es fahre dann in eurem Leben aus, das ist, es werden dann in eurem Leben offenbar, daß ihr GOttes Kinder in Christo in seinem Leiden, Tod und Auferstehung in Ihme selber seyd, nicht durch historischen angenommenen Glaubens = Schein, sondern essentialiter, wie die Rebe am Weinstock: ... ihr müsset Christi Leben, Fleisch und Blut wircklich und wesentlich in dem inwendigem Grunde in euch haben, und Christus seyn, sonst seyd ihr alle miteinander nur Kundschafter, Forscher und historische Christen, und nicht besser als Juden, Türcken und Heiden." (Mm 69, 21 = Mw I 11, 8; Mw III 1, 2; 3,7) Es geht Böhme um eine "lebendige Wissenschaft in der Beschaulichkeit und Empfindlichkeit" (Ti II 53), durch die ein potentieller Leser dazu animiert werden soll, ganz im Sinne der Programmatik des Jakobusbriefes, auch tatsächlich als "der Wissenschaft Thäter" (Ti Π 301) zu leben. Die theologische Besinnung zielt auf den mimetischen Mitvollzug, durch den der jeweilige Christenmensch die biblisch offenbare Prototypik Jesu Christi in die Gestalt seiner konkreten Lebensführung übersetzt. Böhme spricht deshalb von einer "Pfingst = Schule" (Ti II 34), auf der der Christenmensch "das A, B, C" (Ti II 32) vor Ort seiner Muttersprache lernen soll (vgl. auch oben 2.3.). "Es heisset nicht auf fremden Füssen gehen, so einer will vom Mysterio reden ..., sondern selber verstehen, selber den Geist zum Verstand haben" (Ti II 32.). Die lebensweltliche Übersetzungsleistung theologischer Besinnung kann jeder Christenmensch also nur für sich vornehmen. Er ist als Subjekt der Besinnung unvertretbar, weder durch ein kirchliches, noch durch ein akademisches Lehramt. Trotzdem kommt es nicht zu einem heillosen Subjektivismus oder schwärmerischen Spiritualismus. 87 Die biblisch offenbare Prototypik Jesu Christi weist nämlich ihrerseits ein inkarnatorisches Gefälle in die jemeine 85 86

87

Vgl. üL 15: "in sich schmecken", "in sich empfinden" und "in sich fühlen" in Bezug auf das "sanfte Wohlthun" des "HErrn JEsu Christi" und seiner "unaussprechlichen Worte". Vgl. 3fL 6, 20: "Es liegt an niemands Wähnen oder Wissen, auch an keiner historischen Meinunge, sondern am Wolwollen, und am Wolthun." Dazu vgl. auch unten 6. Die normative und sensitive Hinsicht hängen eng zusammen. Ausdrucksverhalten und Eindrucksspüren stehen in vitaler Korrelation zueinander; vgl. Ti II 16: "Denn Glauben ist, nicht ein Historischer Wahn, sondern ein rechtes Leben: Der Geist GOttes ... muß des Menschen Wille und Thun werden; Ja sein innerlich Leben und Verstand muß Er seyn, und der Mensch muß in Ihme gelassen seyn: änderst ist kein rechter Glaub oder Göttlicher Verstand im Menschen, sondern nur Fabel und Babel, zancken und greinen, sich um die Hülse reissen und den Kern nicht gemessen." (Hervorhebungen durch Verf.) Gegen Hirsch, Jakob Böhme, S. 212 - 214.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Lebenssituation des Christenmenschen auf. Ihr exemplarischer Charakter verpflichtet den Christenmenschen geradezu auf eine Übersetzung des real bildenden Lebensbildes Jesu Christi in den individuellen Vollzug eines leibhaftigen Glaubenslebens. "GOtt hat sein Hertze mit seinem Leben in uns gesandt, darinnen alles stehet geschrieben: Wer das Buch in ihme lieset, der ist gelehrt genug; ... seine Buchstaben sind die Flammen der Liebe, die Er aus seinem Hertzen in dem theuren Namen JESU hat in uns geoffenbaret; Leset nur dieselbigen einigen Buchstaben in eurem Hertzen und Gemüthe, so habt ihr Bücher genug: Alle Schriften der Kinder GOttes weisen euch dahin, in das einige Buch; ... Sehet nur zu, daß ihr im Leben und Geiste CHRISTI neu = geboren werdet" (Ti II 304 f.). Die Herzensschrift des Getauften (vgl. oben 2.4.), die der biblischen Christusgestalt typologisch entspricht, ist dem Sichbesinnen des Christenmenschen immer vorgegeben. Das typologische Sich - angesichts des - biblischen - Schriftbildes - auf - Christus - hin - Verstehen schließt eine Verzeichnung durch subjektivistische Willkür geradezu aus. 88 Zum leibhaftigen Verständnis des Christus praesens gehört also erstens eine deskriptive Anamnetik, durch die die an der eigenen leiblichen Lebenswirklichkeit ablesbare Herzensschrift anhand der biblischen Prototypik nachgezeichnet wird. Zweitens kommt gleichursprünglich zu dieser das Schriftbild anamnetisch nachzeichnenden Selbstexplikation an der Stelle des biblischen Christusbildes die mimetische Postfiguration der biblischen Prototypik im eigenen Lebensvollzug hinzu. Auf diese Weise wird das Schriftbild vor Ort der leibhaftigen Lebensführung des Christenmenschen sowohl in sensitiver, als auch in normativer Hinsicht inkarnationsmorphologisch phänomenalisiert. Die lebensbestimmende Wirklichkeit des biblisch offenbaren Christus praesens ist immer schon extra nos "ohne all unsern Bewust oder Verdienst" (Ti 1442 = Ti Π 12)89 gegeben wie die vitale Nähe Gottes: "Wir leben und sind in GOtt, was wollen wir denn um Ihn streiten?" (Ti I 441; vgl. Apg 17, 28). Objektive Begriffsbestimmungen hält Böhme hierbei für überflüssig, da sie sich der individuellen Lebensführung gegenüber indifferent verhalten. Stattdessen geht es um eine subjektive Heilsvergewisserung, die auf das Pro me der vorbildlichen biblischen Menschengestalt zielt: "Nun will ich wissen, obs in meiner Seele geschehen sey, ob mein Willen = Geist habe eine offene Pforte zu GOtt mit Christi Tod erlanget, daß ich darf sagen, Abba, lieber Vater mein, oder nicht? ..." (Ti II 256)

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Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 167. 181. 201. 246. 259. 333 - 335. 390, betont die Nähe Böhmes zu Schwenckfelds Lehre vom Verbum internum und rein spiritueller Gegenwart Jesu Christi, zeigt jedoch gleichzeitig, daß Böhme diese Lehrvorgaben Schwenckfelds immer mit dem leibhaftigen "biblischen Christus" (Kähler) zu vermitteln versteht. Das Verbum internum gibt es bei Böhme immer nur im typologischen Gegenüberverhältnis zum Schriftbild Jesu als des Christus. Eine überdeutliche Anspielung auf Luthers Erklärung des ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus; vgl. BSLK, S. 511: "ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit".

2.5. Theologie als Sichbesinnen des Christenmenschen

161

Der Christenmensch vergewissert sich hinsichtlich der Gestaltungskraft der biblischen Prototypik angesichts augenblicksgöttlicher Kontingenzen, denen sein affektives Betroffensein im leibhaftig geschichtlichen Lebensvollzug ausgesetzt ist. Die zentrale Frage lautet, ob der christomorphe Referenzrahmen der Bibel ihm eine subjektiv ansprechende Verstehensmatrix bietet, durch die sich ein entfalteter Gegenwartsraum zur besonnenen Lebensführung eröffnet. Die biblische Gottesgestalt ist als eine solche ihrerseits nun auch ansprechbar und requalifiziert die vitale Unmittelbarkeit eines augenblicksgöttlichen Eindrucks. Der Mensch fühlt sich vor Ort der Lektüre wie neugeboren. Er erhält die Möglichkeit, sein ephemeres Leben, das durch den chaotischen Einbruch augenblicksgöttlicher Kontingenz aus der Indifferenz des reinen Dahinlebens hinausgerissen worden ist, in der ebenbildlichen Verantwortungsrelation zur aus der Bibellektüre vertrauten evangelischen Lebensgeschichte Jesu Christi neu einzurichten und gestalthaft zu besinnen (vgl. zum Gedankengang dieses Abschnitts ausführlicher unten 3.1. und 3.2.). Das derart auf dem Hintergrund individueller Schriftlektüre inszenierte Wiedergeburtserlebnis enthält alle imagologischen bzw. theo-anthropologischen Strukturmomente der inkarnationsmorphologischen Besinnung Böhmes: "Wenn wir wollen die neue Wiedergeburt verstehen: was sie ist, und wie sie geschehe; So müssen wir Erstlich wissen, was der Mensch ist, und wie er GOttes Bilde ... und ... die Göttliche Inwohne sey; ... [...] Alhier, Mensch,... beschaue das Wesen aller Wesen, und sonderlich dich selber, dieweil du des ungründlichen GOttes Bilde, Leben und Wesen bist, und ein Gleichniß nach Ihme." (Mm 1, 1; 2, 2) Die biblische Prototypik eröffnet einen Freiraum, in dem der Christenmensch seine eigene ebenbildliche Menschwerdung zur Vergewisserung kritisch überprüfen kann. Er wird durch den ihm von der biblischen Sprachtradition leibhaftig präsentierten Christus praesens geradezu zur diesbezüglichen Rechenschaft herausgefordert: 90 "Er soll alle seine Sinnen und Vernunft, samt aller Einbildung, zusammen in einen Sinn raffen, und eine solche starcke Imagination ihm einfassen, sich selber zu betrachten,... So soll er sich in seinem Leben beschauen, ob er auch dieser grossen Gnade würdig, und dieses hohen Titels Christi fähig sey, und anheben sein gantzes Leben zu betrachten, was er gethan, und wie er seine gantze Zeit zugebracht habe? Ob er sich auch in Christo befinde?" (wB II 1 f.) "..., wie geschieht die neue Geburt in uns; ist sie einfahrend oder ausgebärend? Geschieht sie nicht in unserer Seelen? Es muß ja Christus in uns offenbar werden, auf Art wie in Maria." (Ti Π 263) 90

Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 88, bezieht Böhmes literarische Rechenschaft hinsichtlich des eigenen Heilsstandes ganz exklusiv auf die Tatsache, daß ein Wiedergeburtserlebnis, um nicht mit dem Augenblick zu vergehen, expliziert werden muß, verkennt aber, daß Böhme sich nicht nur seinem Erleben, sondern in gleichem Maße auch der Schrift stellt.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

D e r Christenmensch, der im Horizont der biblisch offenbaren Prototypik Jesu Christi lebt, ist e o ipso immer s c h o n zu einer Selbstvergewisserung gefordert. Selbst- und Christuserkenntnis stehen in typologischer Korrelation zueinander ( v g l . o b e n 1.3.2.2.). Es k o m m t zur S y n o p s e : "Wann wir nun w o l l e n Christi S e e l e betrachten, s o müssen wir uns nur selbst suchen und finden: Dann Christi S e e l e ist eine menschliche Seele" ( 4 0 F 36, 3). T h e o l o g i s c h e B e s i n n u n g zur S e l b s t v e r g e w i s s e r u n g des Christenmenschen hinsichtlich seines Heilsstand e s i m B e d e u t u n g s h o r i z o n t des Christus praesens ereignet sich "hie an der Stelle, w o du in d e i n e m G e m a c h e stehest, sitzest oder liegest" (Mr 10, 5 7 ) . Ü b e r s e i n e alltägliche Positionierung kann sich der j e w e i l i g e Christenmensch nicht e r h e b e n . 9 1 Er kann sich nicht selbst verobjektivieren und zu s e i n e m L e i b e s l e b e n e i n e Außenperspektive e i n n e h m e n . D a s ist mit der b e s i n n e n d e n S e l b s t v e r g e w i s s e r u n g auch nicht intendiert. "(W)ir w o l l e n nicht historisch reden, sondern w a s wir an uns selber in Leib und S e e l e erkennen" ( 3 f L 7, 3 7 = M r 8, 4. 11. 6 8 ) . 9 2 D i e s s e i t s historischer oder m e t a p h y s i s c h e r A b s t ä n d i g k e i t e n bildet a l s o e i n e T h e o r i e des leiblich - l e b e n s w e l t l i c h g e g e n w ä r t i g e n C h r i s t e n m e n s c h e n den Kern v o n B ö h m e s deskriptiver T h e o l o g i e . 9 3 Der sich hinsichtlich seiner

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Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 207: Böhme suche immer eine "Außerungsform des Geistigen für den Alltag = Menschen". Vgl. auch E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. XVIII: Herms spricht vom notwendig phänomenologischen Charakter aller dogmatischen Begriffe, durch den sie "sich jedermann zur Überprüfung an der eigenen Selbsterfahrung" anbieten. Ebenso H. Schmitz, Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 24: "Demgemäß habe ich mich stets bemüht, die grundlegenden Ausdrücke an relativ trivialer, d. h. durchschnittlich jedermann jederzeit frisch oder in der Erinnerung zugänglicher Lebenserfahrung zu eichen und von dort aus in übersichtlichen Definitionen zu abgeleiteten Begriffen fortzuschreiten." Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 264: "Nur was der Mensch selbst durchleben kann, kann er lernen; lehren kann ihn nur wer ihm wesensgleich ist." Vgl. ebd., S. 210; dort lediglich im Sinne Diltheys in Bezug auf eine integrale Weltanschauung Böhmes: "Böhme kündet immer wieder das Gesetz der innersten Zugehörigkeit von erkennbarer Welt und Persönlichkeit, das Gesetz der Gestaltung der Welt und des Lebens aus der Gestalt seines und eines Wesens. Gestaltung ist ihm erkanntes eingesehenes Eigen = Schicksal, ist der geistige 'Leib' der Wesenheit, die Äußerung und der Erkenntnis = Ausdruck eines individuellen Geistes und eines besonderen Seins. Erkennen heißt in einem anderen Stoff, in Welt Zeit und Raum das schauen und bilden was man ist und west." Vgl. auch W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 49; dort findet sich die Applikation von Hankamers Gedanken auf das genuin Theologische an Böhmes deskriptiver Theorie des Christenmenschen: Böhme habe "eine neue Stellung zur Kirchenlehre. ... Das Persönliche ist nicht die Form, in der sich der objektive Gehalt der Lehre beim Einzelnen eigentümlich ausprägt (wie die Theologie im besten Falle zugeben wollte), sondern umgekehrt: die Glaubenssätze sind nur die Form, die Grenzlinien, zwischen denen dann die persönliche Schöpfung des Einzelgeistes ihr göttliches, ewiges Leben entfaltet." Vgl. auch Leeses Definition von "Theologie erster Ordnung"; ders. Geistesmächte und Seinsgewalten, S. 29 f. E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. XI: "'Dogmatik' im Sinne der evangelischen Theologie ist nichts anderes als Resultat und Ausdruck der ästhetischen

2.5. Theologie als Sichbesinnen des Christenmenschen

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konkreten Lebensgestalt vergewissernde Christenmensch bringt notwendig das gesamte heilsgeschichtliche Repertoire zur Sprache, so daß Böhmes Reformulierung keinen materialen Verlust an Theoriebeständen bedeutet. Der von ihm in seinen Schriften immer wieder aufgeführte Fragenkatalog enthält implizit alle Loci der orthodoxen Dogmatik. Sie erscheinen lediglich durch die Fokussierung auf ihre individuelle Lebensrelevanz in formal veränderter Gestalt: "Damit wir aber dem suchenden Gemüthe, welches nach seinem Vaterland fraget, und auf dem Pilgrams = Wege ist, genug thun; so wollen wir ihme den Menschen vorstellen, (1) was er eigentlich sey, (2) woraus er erschaffen, (3) was seine Seele und Leib sey, (4) und denn auch seinen Fall, und (5) seine Erlösung oder Wiederbringung; damit wir ihme können den Grund Göttlichen Willens gegen ihm, recht gründlich weisen:... " (Gw 5, 11 = Sg Vorr., 1; Mw I 9 , 2 - 4 ; 3fL 12, 1; 14, l ; e p 5 , 9 ) Böhme weist vor der materialen Durchführung dieses Fragenkatalogs immer wieder auf die "Nützlichkeit" (vgl. bes. 3fL 12, 1) der einzelnen Besinnungsleistungen hin. Gemeint ist deren Relevanz für das jeweils zu führende G l a u b e n s l e b e n . 9 4 Es geht um die Erstellung eines deskriptiven und lebenspraktischen Orientierungswissens, durch das der Christenmensch sein Leben in einem christomorphen Bedeutungshorizont wie in einer christlichen Welt einrichten kann. Dadurch soll vermieden werden, daß sich bei dieser biblischen Theo-anthropologie bzw. Inkarnationsmorphologie in imagologischer sowie soteriologischer Hinsicht historische oder metaphysische Abständigkeiten einschleichen. Ebenso sollen Purismen vermieden werden: Böhme redet weder einem reinen Biblizismus, noch einer Erlebnisunmittelbarkeit das Wort. Entscheidend für alle die leibhaftige Glaubensgegenwart besinnenden Überlegungen bleibt die sinnen-bildliche Doppellektüre von Liber vitae und Liber naturae. 95

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(wahrnehmenden) und intellektuellen Treue gegenüber dem Phänomen der christlichen Selbsterfahrung." Böhme greift hier auf die humanistische Funktionsbestimmung der Theologie zurück; vgl. Philipp Melanchthon, in: CR 1, 722: Ego mihi conscius sum non aliam ob causam umquam τ ε ϋ ε ο λ ο γ η κ ε ν α ι nisi ut vitam emendarem." In diesem Sinne definiert dann schließlich Hollaz die Theologie als "sapientia eminens practica" (vgl. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch - lutherischen Kirche, S. 27). Sowohl Hollaz, als auch Böhme verkennen, daß hinsichtlich der Funktionsbestimmung von Theologie eine strukturelle Nähe zwischen der lutherischen Ortho- und Heterodoxie besteht. Hollaz verkürzt freilich das "vitam emendare" der Theologie bei Melanchthon auf eine primär kognitive "doctrina de Deo ... ad vitam aeternam informans". Die pragmatische Dimension bleibt auf den "cultus", also Wort und Sakrament, beschränkt und reicht nicht wie bei Böhme unmittelbar bis in das christenmenschliche Alltagsleben hinein. Vgl. Hankamer, ebd., S. 11: "(D)ie Lebensleistung eines großen Menschen ... ist das Welt= und Gott= Bild das er aufbaut indem er sich als Gestalt bildend lebt, als Stellvertreter in dem menschliches Wesen von neuer Art lebendiges Sinnbild wird."; S. 13: "Gestaltung heißen wir sein Denkbild weil hier seine geistig = menschliche Gestalt ... für den Menschen in der Form eines fertigen festen Lebensbildes, das in sich einheitlich und geschlossen ist" erscheint. Vgl. auch ebd., S. 111 ff. 117 f.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

2.6. Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt christenmenschlicher Selbstbesinnung Aus der Betonung der Gegenwärtigkeit, der Leiblichkeit, der Alltäglichkeit und der Lebensweltlichkeit theologischer Besinnung, in der der Christenmensch deskriptionstheoretisch wie lebenspraktisch unvertretbar ist, folgt notwendig, daß Böhme sein Programm nur in der Perspektive ureigensten affektiven Betroffenseins durchführen kann. Seine inkarnationsmorphologische Art theo-anthropologischer Besinnung verträgt keine vom konkreten Einzelfall abstrahierenden Verallgemeinerungen. 96 Ihr kommt einzig die exemplarische Deskription seines individuellen Lebens zugute: "Oder meinest du abermal wir reden historisch? Nein, wir reden lebendig in eigener Erkentniß, nicht im Wähnen aus anderm Munde, sondern aus unserm: . . . " (3fL 6, 35) "Dann in diesem Büchlein ist mein eigener Proceß, dardurch ich meine Gabe von GOtt habe erlanget, aufgezeichnet, ..." (ep 54, 10 = wB I 52) "So bin ich auch kein Lehrer oder Prediger, und predige oder lehre nicht; sondern gebe nur Rechenschaft von meiner Gabe und Erkentniß, wie ich darzu kommen." (ep 54, 18) Die persönliche Rechenschaft, durch die er sich seiner eigenen Christomorphose vergewissert, will Böhme zunächst nicht öffentlich zur allgemeinen Belehrung der Societas Christiana ablegen, sondern im vertrauten Rahmen gleichgesinnter Leser "als ein hertzliches und gottseliges Gespräche von der neuen Geburt" (ApR 55). 9 7 Er ist sich der Tatsache wohl bewußt, daß er kein

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Böhme stilisiert sein eigenes Erleben (s. u. 3.1.) gerade nicht zu einem "Idealtyp" (Weber), sondern zu einem "Prototyp" (Colpe). Zur diesbezüglichen terminologischen und hermeneutischen Differenz siehe oben 1.3.2.1. Gegen Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 92, der Böhme neuoffenbarerische Nebenabsichten unterstellt. Böhmes Forum ist ohnedies nicht unmittelbar die kirchliche Öffentlichkeit, sondern Kirche im Sinne von Schleiermachers "Chor von Freunden"; vgl. ders., Über die Religion, S. 170 f. Zum Rechenschaftsbericht als Form systematischer Theologie vgl. E. Hirsch, Christliche Rechenschaft. 1. & 2. Band, hg. v. Hayo Gerdes, Berlin und Schleswig - Holstein 1978, hier 1. Band, S. 3: "Diese christliche Rechenschaft steht auf der radikalen neuprotestantischen Zuspizung des reformatorischen Satzes, daß es in christlichen Dingen nur eine rein persönliche, von Grund auf selbst verantwortete Rechenschaft gibt, welche in jedem Punkte ... das Zeugnis eines einzelnen Menschen von der ihn in Geist und Gewissen regierenden Wahrheit bleibt und für jeden anderen nur Wahrheitsmacht gewinnt durch freiwillige Gegenzeichnung." Freilich löst Hirsch zugunsten der beschworenen Gewissensunmittelbarkeit der Glaubenswahrheit jegliche leibhaftige, symbolische, metaphorische oder sonstwie denkbildhafte Gestalt in völlige Amorphie auf. Sein heroischer nachaufklärerischer Ikonoklasmus läßt von der für Böhme konstitutiven Sinnenbildlichkeit jeglicher Theologie schlechterdings nichts mehr übrig; vgl. ebd., S. 5: "Ebenso verzichtet diese Rechenschaft darauf, die Gedanken und Bilder vom Göttlichen und Ewigen, in denen christliche fromme Erfahrung sich gern ausgesprochen hat, zur Grundlage mythischer oder pseudometaphysischer Aussagen zu machen, welche durch die kritische Philosophie von vornherein als wissenschaftlich und denkerisch unhaltbare Phantasiepro-

2.6. Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt

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öffentliches Lehr- oder Predigtamt innehat: "Aber der Schuster gibt keinen Prediger, sondern er gibt nur Rechenschaft von seiner Gabe und Erkentniß, und redet oft mit frommen Hertzen von dem Wege zu Christo, wie wir müssen umkehren, Busse thun, und neugeboren werden" (ebd.). Deshalb bedient er sich häufig des Briefes als literarischer Präsentationsform individueller theologischer Besinnungsleistungen. 98 Sein Stil ist der paulinischen Epistelrhetorik sehr verwandt. Seine Freunde will er durch sein Beispiel zu selbständigen Übersetzungen der biblischen Prototypik in die alltägliche Sprachwelt anregen, indem er sie für deren Formkraft am eigenen Beispiel zu sensibilisieren versucht. Diskursiv - belehrende Traktate schreibt Böhme nicht. Er will seine Leser grundsätzlich nicht durch begriffliche Objektivationen zur Zustimmung nötigen. Er zielt nicht auf das distanzierte Vernunfturteil. Der Leser wird stattdessen von dem expressiven Präsentationsgestus Böhmes auf sein affektives Betroffensein hin angesprochen. Er soll zum mimetischen Mitvollzug der am Beispiel Böhmes exemplarisch vorgeführten Besinnung angeregt werden." Böhmes Deskriptionen knüpfen deshalb mit ihrer virtuosen kommunikativen Kompetenz an die alltagssprachliche Situierung weltläufig gebildeter Zeitgenossenschaft an, jedoch nicht ohne dieselbe kritisch zu transformieren. 100 Sie soll dadurch um so besser an einem hochgradig individuellen Verstehensprozeß teilhaben. Böhmes ureigene Präsentationsform theologischer Besinnung bildet das von ihm so bezeichnete "Memorial".101 Er will seine exemplarische Selbstver-

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dukte gekennzeichnet wären. Sie verzichtet also darauf, alle die Nüchternheit und Armut und Bildlosigkeit des modernen Denkens preiszugeben." Vgl. Ε. H. Pältz, Zum Verständnis, S. 10. Vgl. K. Leese, Geistesmächte und Seinsgewalten, S. 29 f.: "Die Intention der Theologie erster Ordnung richtet sich auf die religiösen Elementarphänomene, ihren objektiven Gehalt und ihre subjektiven Erlebnisweisen. Die ... Bilder und Vergleiche, in die jene Phänomene gefaßt werden, haben lediglich die Bedeutungen von beschreibenden Hinweisen, von Ausdruckscharakteren, ... Sie kann sich als Rhapsodie, Dichtung, Psalm, Lied, Hymnus, Gleichnisrede und prophetische Rede äußern, in denen das die Glaubenshaltung begründende Erlebnis geradlinig und ungebrochen ausschwingt. ... Je mächtiger das Erlebnis, je existentieller die Haltung, desto souveräner und überzeugender der Ausdruck, der ... sich selber das Bett schafft, in das er sich ergießt. Erweckung, Pflege und Vertiefung des religiösen Lebens, Erbauung, Bildung, Erziehung und Seelsorge sehen sich vornehmlich an die Theologie erster Ordnung gewiesen. Ihr eignet die Kraft, die empfängliche Seele in die Dynamik von Erlebnis und Glaube hineinzuziehen, auf daß sie durch Gnade und Freiheit ihrer teilhaftig werde."

100 Vgl. Ε. H. Pältz, Zum Verständnis, S. 17: "Böhmes Opposition gegen den pansophischen 'Rationalismus'" fällt gerade wegen der eigenwilligen Aufnahme pansophischer Metaphorik und Sinnfiguren in die theologische Besinnung auf. 101 Eine Gattungsbestimmung zu "Memorial" und "Indenck" unternehmen A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 20: "aide - mémoire", und Ε. H. Pältz, Zum Verständnis, S. 11 f.: "An-stöße zur Er-innerung", "Denk - Zettel, "Denk - Anstoß", "Merk- und Gedenkbuch". Pältz geht zu weit, wenn er glaubt, das "Memorial" von einem literarischen Tagebuch eigens absetzen zu müssen, da dieses a priori eine große Öffentlichkeit im

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

gewisserung. hinsichtlich seines Standes im Christus praesens "in diesem Buche aufschreiben, uns selber zu einem Memorial, und dem Leser dieses zur Übung Göttlicher Erkentniß" (Mm VOIT., 10). Das "Memorial" bedeutet bei Böhme eine der Autobiographie entsprechende Kapitalisierung des Lebens, eine Zusammenfassung zu dem Textkorpus einer literarisch symbolisierten Lebensgeschichte. Im Unterschied zur allgemeinen Autobiographie geht es Böhme um die Konzentration auf die subjektive Heilsaneignung, die Genese seiner selbst als eines bestimmten Christenmenschen. Die Wiedergeburt erhält im "Memorial" eine "Indenck und Aufrichtung" (3fL Kurzer Begriff, 3), d. h.: Sie wird zu einer Art literarischem Mahnmal verdichtet, das im Sinne von Denkmal sehr wohl auch die Konnotation des weithin sichtbaren beinhaltet. Die Wortwahl bleibt dem persönlichen Charakter der Explikation entsprechend eigenwillig. Böhme kommt ohne eine korrekte Schulterminologie aus. Vorgegebene Begriffe werden kurzerhand reformuliert. "(I)ch hatte es nur für mich selber, mir zu einen Memorial geschrieben, mit solchen Worten, wie ich sie damalen konte verstehen" (ApR 21). Textform und Wortwahl gehören für Böhme aber zur Vielfalt des Gottesgeistes, der "einem je eine andere Gabe auszusprechen giebet, als dem andern" (Ti I Vorr., 10). Daher dürfe der objektive Distanzierungsstil der altprotestantischen Lehrorthodoxie auch nicht monopolisiert werden. "Ich habe allein geschrieben nach der Form, wie mirs ist gegeben worden, nicht nach andern Meistern oder Schriften. Und darzu ist mein Vorhaben je nur gewesen für mich." (ep 8, 26 = Κ I 26) Er habe "das Buch Morgenröthe" so eigenwillig geschrieben, um der hermeneutisehen Initialzündung seines auf die christliche Lebenswelt hin angelegten Schriftverständnisses, das ihm uno intuitu klar geworden sei, Herr werden zu können, bevor es wieder an den Augenblick verloren gegangen wäre: "Denn als ein Platzregen vorüber gehet, was er trift, das trift er: also ging es auch mit dem feurigen Trieb, wiewol mein Vorhaben gar nicht war, daß es iemand lesen solte." (ep 8, 61 = Κ I 61; auch ep 18, 12 f.) Angesichts dieses chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnens habe Böhme das "Memorial" privat zur Gewinnung sprachlicher Besonnenheit gedient, durch die ein in sich ausdifferenzierter Bedeutungshorizont der Erinnerung zugänglich gemacht wird. 102

Blick habe. Das stimmt ohnedies nicht ganz, da ein Tagebuch als Literaturform gerade auf die Intimität des Privaten als suggestives Ausdrucksmittel zurückgreift. Böhme nutzt diese Suggestionsmöglichkeit virtuos. W. - E. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, S. 33, bezeichnet Mr m. E. zurecht als "Beinahe - Tagebuch". Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 89, erwähnt in diesem Zusammenhang kurz, daß die Schriftstellerei für den Neuzeitprotestantismus zu einer derart typischen Institution des religiösen Ausdruckshandelns wird, wie das Predigthören im Altprotestantismus und die Liturgie im römischen Katholizismus. 102 Die ganz private, individuelle und persönliche literarische Explikationsfunktion des "Memorials" betonen W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 93, A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 20, und E. H. Pältz, Zum Verständnis, S. 11 f. 15. 18 ff.

2.6. Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt

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Trotzdem entwirft Böhme mit dem "Memorial" keine Privatsprache oder esoterische Geheimlehre. 103 Der private Klärungsprozeß eines chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnens birgt eine gewisse Prototypik, die ihn für andere Leser relevant macht: "wiewol mein Fürsatz ist, mir zum Memorial, und soll doch also reden, als vor vielen" (3fL 4, 4). Die Veröffentlichung seiner Erstlingsschrift "Aurora" habe er zwar nicht intentional angesonnen, aber nachdem die Schrift durch interessierte Freunde verbreitet worden sei, habe er es für gut befunden, argumentiert Böhme für gewöhnlich. Er zeigt sich deshalb in seinen Briefen geradezu begeistert von der ungeahnten Resonanz und dem weiten Verbreitungsgrad seiner Schriften (vgl. ep 8, 61 = Κ I 61). Seine Korrespondenz dient zu einem großen Teil der Organisation der Vervielfältigung seiner Schriften, da ihm das Geld zum Druck seiner Werke fehlt. Er regelt die Anfertigung und Verbreitung von Abschriften selbst (vgl. ep 4, 23 ff.; 5, 14; 8, 1. 29. 61; 10, 1. 19. 35. 41. 44; 12, 74; 14, 1. 4; [19, 14]; 23, 4; 25, 7; 32, 2 f.; 34, 16; 41,11; [45, 2]; 57, 2; 62, 7; 63, 12; 72, 3. 5). Als Freunde ihm den Druck einiger kleinerer Schriften ermöglichen wollen, lehnt er zunächst verunsichert von der harten Kritik, die er für seine "Aurora" (Mr) von dem Görlitzer Pastor primarius Gregor Richter erlitten hat, ab (ep 7, 8), dann aber ergreift er das Angebot und treibt die Drucklegung massiv voran (ep 44, 1, 50, 6 f.; 57, 2; 61, 8; 62, 3; 63, 12). 104 Entgegen anderslautender Einschätzungen dürfte klar geworden sein, daß Böhme den privaten Stil des "Memorials" sehr wohl mit der literarischen Öffentlichkeit zusammengedacht hat. 105 Die persönliche Sprachform birgt gerade für die Veröffentlichung ein ungeheures suggestives Potential, das

103 Vgl. Pältz, ebd., S. 11. Dem widerspricht auch das Wesen derTopik; vgl. L. Bornscheuer, Topik, S. 91 ff. 104 Das übersieht Pältz, Zum Verständnis, S. 10 f. Anm. 3, komplett, wenn er behauptet, Böhme habe die Druckausgabe seiner Werke nie gewollt und nur widerwillig hingenommen. Auch Böhmes eigne Behauptungen, er habe die Mr nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sind mit äußerster Vorsicht zu genießen. Das bemerkt E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 59 - 67. bes. S. 66 f.: "Der reinen Privatisierung seiner Erkenntnisse widerstrebt aber auch der besondere Inhalt seiner Offenbarungen selbst, ... Gerade die Aurora wendet sich 'an alle'." Benz schlägt daher vor, "Boehmes Selbstaussage über die rein private Absicht der Niederschrift der Aurora zu korrigieren." Das ist vollkommen richtig. W. E. Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, S. 38, zeigt sehr schön, daß Böhme sich erst aufgrund der scharfen Kritik, also ex post, zu seiner Schriftstellerei als Privatschriftstellerei verhält: "Er selbst hat es wohl später behauptet, aber bei seiner Niederschrift hegte er andere Gedanken, wie aus den Anreden, Entschuldigungen usw. beim Leser deutlich genug hervorgeht". 105 Gegen W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 60. 91 (eingeschränkt auf Mr), und G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 313 ff. 393 ff. (für alle Schriften Böhmes), die genau dies zugunsten ihrer These behaupten, nämlich daß Böhmes Privatschriftstellerei eine ausschließlich privatpsychologische Funktion gehabt habe. Das kann m. E. so nicht behauptet werden. Böhmes pansophische Topik basiert und zielt auf die gesellschaftliche Einbildungskraft; vgl. L. Bornscheuer, Topik, S. 91 ff.

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2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Böhme dahingehend einzusetzen versteht, daß er den geneigten Leser zu analogen Besinnungen und Übersetzungsleistungen zur Heilsvergewisserung stimulieren will. 106 Böhme kalkuliert geradezu die rhetorische Effizienz seiner lebensrelevanten erfahrungstheologischen Schriftstellerei. 107 Dazu hebt er den Ernst seiner eigenen Situation hervor. Er schreibt unmittelbar vor dem Hintergrund der ureigenen Bewährungsprobe seiner christenmenschlichen Existenz, d. h. aus der affektiven Gestimmtheit der Sorge um seine Lebensgestalt heraus, und spricht seine Leser somit jenseits jeglicher indifferenten Zurkenntnisnahme an: "Du solst wissen, daß ich alhie nicht schreibe als eine Historia, die mir von andern ist erzehlet worden; sondern ich muß stets in derselben Schlacht stehen, und befinde die mit grossem Streite, da mir dann oft ein Bein untergeschlagen wird, wie allen Menschen." (Mr 11, 75) Die Atmosphäre der Ecclesia militans wird hier auf die individuelle Situation des Christenmenschen hin perspektiviert. Der Leser wird durch Böhmes authentische Prototypik für den Ernst seiner Lage sensibilisiert. Er soll durch die Bewegungssuggestionen der Sprache den Gefühlseindruck des Autors am eigenen Leibe nachbilden und sich mimetisch wie dieser im Christus praesens verorten. Im Medium der Sprache wird dem Leser auf diese Weise ein affektives Betroffensein angesichts der eigenen christenmenschlichen Gestaltungsaufgabe und Bewährungsprobe zugemutet. Die sprachlich suggerierte Gefühlswelt plausibilisiert das Pro me besonders effizient, da die Empfindung "Tua res agitur!" anamnetisch abgerufen wird, ohne daß der Leser eine psychologische oder bewußtseinstheoretische oder sonstwie transzendentale Beobachterperspektive einnehmen müßte. 108 Die homiletisch - paränetische Präsentationsrhetorik erlaubt Böhme, die individuelle Heilsaneignung dem Leser nicht eigens analytisch erklären zu müssen, sondern bereits auf der Darstellungsebene theologischer Besinnung verständlich und plausibel dem jemeinen Empfinden einstiften zu können. Die Sprachkraft des "Memorials" soll dieser Sensibilisierung für den normativen Anspruch des Gefühlsraums des Christus praesens dienen: " ... Will derowegen den Leser in jenes Leben citiret haben, da will ich eigentlicher und klärlicher mit ihm von diesem hohen Artikul reden. ..." (Mr 3, 13) " ... Mit diesem Gesang citire ich den Leser in jenes Leben, da wird er selber mit am Reihen seyn, und erst diesem Geist glauben geben; was er hie nicht verstehet, das wird 106 Vgl. Pältz, Zum Verständnis, S. 11: "'Memorial' bedeutet nicht, daß Boehme diese Schriften verbergen wollte. Ein 'Memorial' kann eben sowohl für andere dienen. Boehme nennt in diesem Sinne alle seine Schriften 'Memorial', da sie dem Leser verhelfen sollen, des in seiner Memoria Beschlossenen bewußt zu werden. Dieses sein Verständnis des Begriffes Memorial, der in der Boehme - Forschung immer wieder mißverstanden worden ist, hat Boehme deutlich zu Ausdruck gebracht." 107 Das bemerkt ähnlich auch E. H. Pältz, ebd., S. 16 f.: Böhme verwickele seine Leser dialogisch in ein "Symphilosophein". 108 Vgl. ebd., S. 18 f.: "Boehmes Prophetie, deren geistiges Leitbild die Sprache ist, ist ebensowenig objektivierbar wie die viva vox des Sprechens."

2.6. Das Memorial als literarische Präsentationsgestalt

169

er dort im Schauen haben." (Mr 12, 27) Böhmes Art von Plausibilisierung durch eine homiletisch - paränetische Affektrhetorik evoziert auf sprachliche Weise einen atmosphärisch hochgradig komplex aufgeladenen Gefühlsraum, der die Bühne eröffnet, auf der der Erzähler zugleich als Hauptperson und als Regisseur das Lesepublikum zum Mitspielen animiert und in seine dementsprechende Rolle einweist. Mittelst spielerischer Identifizierung wird der Leser des "Memorials" in die vorgeführte Rolle hineingenommen, mit der er sich gleichwohl nicht einfach verwechselt, sondern von der er sich sehr wohl noch zu unterscheiden weiß. Trotzdem bleibt er nicht indifferent, da der spielerische Ernst das Wesen jeder Rollenidentifikation ausmacht (vgl. oben 1.3.2.3.; 1.4.). Nicht von ungefähr vergleicht Böhme seinen Stil mit der Suggestionskraft poetischer Formen. Der eigentümliche Metaphernreichtum seiner Schriften legt die Klassifikation Mythopoetik nahe. 109 Böhme reflektiert die narrative Komponente seiner Schriften, in denen er eine Fülle von Gleichnissen aus der pansophischen Tradition heranzieht. Mit "allen diesen erzehlten Dingen" (Mr 13, 66) soll lediglich die Bühne bildnerisch illustriert werden, auf der das Sinnangebot der Rolle des Christus praesens am konkreten Einzelfall inszeniert wird: "(U)nd geben euch das in einem wahrhaftigen Gleichniß zu entsinnen, welches zwar eine Gleichniß ist nach dem Reiche dieser Welt: Aber so wir die Göttliche Welt darzunehmen, so ists das Wesen selbsten." (Mw II 1,4). Eine theologische Besinnung, die nicht durch diskursive Vergegenständlichungen das Gottesleben auf metaphysisch oder historisch abständige Gegenstände reduzieren will, ist auf die expressiven Möglichkeiten analoger Rede geradezu angewiesen: 110 "So man nun will GOtt den Sohn sehen, so muß man ... natürliche Dinge anschauen, sonst kan ich nicht von Ihm schreiben: Der Geist siehet Ihn wol, aber man kan es nicht reden oder schreiben: denn das Göttliche Wesen stehet in Kraft, die sich nicht schreiben oder reden lässet. Müssen derowegen Gleichnisse vor uns nehmen, wenn wir wollen von GOtt reden:...". (Mr 3, 13) Die mythopoetischen Gleichnisse des "Memorials" stehen unter der Gefahr des Mißverständnisses, "es ist eine Gedichte" (Mr 22, 21). Böhme warnt daher seine Leser, die typologisch offerierte Bildwelt allegorisch auflösen und in diskursive Gegenständlichkeiten übersetzen zu wollen (vgl. oben 1.3.2.2.). Um seine Präsentationsform vor solchen unangemessenen Eins - zu - eins - Übersetzungen zu schützen, betont Böhme die parabolische Autonomie des

109 Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 94: "dichterisch - prophetische Schriftstellerei"; Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 504: "le roman métaphysique"; R. Otto, Das Heilige, S. 132: "ein chemisch - fysikalischer Roman Gottes", "gedichtet". 110 Das zeigt grundsätzlich E. Jiingel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, § 17/ S. 357 ff. zur analogen Rede, § 18/ S. 383 ff.: zum Evangelium als analoger Rede von Gott, § 19/ S. 409 - 430 zum Projekt einer narrativen Theologie: "Die Menschlichkeit Gottes als zu erzählende Geschichte. Hermeneutische Vorüberlegungen".

170

2. Kognitivistischer Distanzierungsgestus oder subjektive Lebensbedeutsamkeit

Gleichnisses, die nicht restfrei auf eine sog. "Sachhälfte" bezogen werden kann. 111 "(I)ch meine kein ander Ding, als wie ichs im Buchstaben setze." (Mr 4, 12) Das göttliche Analogon zur pansophisch repräsentierten Alltagswelt ist nur an der konkreten schriftstellerischen Fiktion ablesbar: "Ich will dich alhie des rechten Grundes berichten, und ist im Himmel kein anderer als wie du es alhie im Buchstaben findest; denn in diese Tieffe siehet der Geist unverruckt, auch ists gar begreiflich." (Mr 12, 78) Der Vorteil des mythopoetischen "Als - Ob" 112 liegt somit auf der Hand: Die inkarnationsmorphologische Übersetzung der biblisch offenbaren Prototypik in eine exemplarische Lebensgestalt bedient sich eines autobiographischen, narrativen, suggestiven, rhetorischen und hochgradig metaphorischen Präsentationsstils, um auf mythopoetische Weise die subjektive Heilsaneignung lebensrelevant vor Ort der Leibesgegenwart des pansophisch situierten Zeitgenossen zu reinszenieren. Die damit einhergehende Theatralik evoziert Gefühle, die das affektive Betroffensein mit einer vitalen Intensität anzusprechen vermögen, so daß sich der Leser in den Ernst der beschriebenen Lage versetzt fühlt und sich darauf einstellt. Die Dramaturgie der konkret beschriebenen christenmenschlichen Rolle Jakob Böhmes eröffnet ebenso vitale Identifikationsmöglichkeiten, durch die sein prototypisches Gestaltungspotential darauf zielt, unter den Bedingungen der individuellen Lebenssituation des Lesers postfiguriert zu werden. Das alles steht hinter Böhmes Übersetzung von "Memorial" als der kongenialen Präsentationsform einer lebensrelevanten theologischen Besinnung mit "Indenck und Aufrichtung" (3fL Kurzer Begriff, 3). Er will dem konkreten Christenmenschen ein sprachliches Denkmal setzen, an dem er seinen leiblich - lebensweltlichen Habitus nachempfinden, einstudieren und zur lebensgeschichtlichen Rechenschaft anamnetisch exemplifizieren kann, ohne daß er sich dazu in der diskursiven Analytik einer affektiv indifferenten Außenperspektive selbst verobjektivieren müßte.

111 Zur diesbezüglichen Kritik Jülichers vgl. P. Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, S. 60 f. 112 H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig [9./ 10. Auflage] 1927 = [Neudruck] Aalen 1986. Vgl. auch H. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 22: "Die Hoffnung, sich über die unabdingbaren Fundamente wissenschaftlicher Überzeugung einigen zu können, beruht nicht auf Gründen, sondern ist ein heuristisches Prinzip, das man um der Gründlichkeit der Nachforschung und Selbstprüfung willen nicht aufgeben darf, ohne je sicher sein zu können, daß es sich um mehr als eine Fiktion handelt."

3. Inkarnationsmorphologie als typisierende und phänomenalisierende Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse D a s dritte Kapitel n i m m t den Faden der programmatischen Forderung B ö h m e s nach der L e b e n s r e l e v a n z theologischer B e s i n n u n g i m S i n n e einer s o w o h l am subjektiven l e i b l i c h e n E m p f i n d e n , als auch an der Prototypik der H. Schrift orientierten Inkarnationsmorphologie dergestalt auf, daß nun der erfahrungss o t e r i o l o g i s c h e A u s g a n g s p u n k t p h ä n o m e n o l o g i s c h u n d t y p o l o g i s c h entfaltet wird. B ö h m e geht hier doppelt vor: Ein erster Abschnitt (3.1.) w i d m e t sich daher B ö h m e s e i g e n e m Wiedergeburtserlebnis, das durch die t y p o l o g i s c h e M e t h o d e applikativer Schrifthermeneutik als A u s g a n g s p u n k t t h e o l o g i s c h e r B e s i n n u n g herauspräpariert w e r d e n soll. D i e Prototypik der Schrift dient B ö h m e bei s e i n e m deskriptiven Selbstverstehensprozeß zu einer typisierenden P h ä n o m e n o l o g i e , d. h.: B ö h m e fertigt zu der Situationsdramatik s e i n e s W i e d e r g e b u r t s e r l e b n i s s e s i m b i b l i s c h präformierten Erfahrungsraum des Christus praesens eine Szenographie 1 an. Ein zweiter Abschnitt (3.2.) vertieft die Einsichten der typisierenden P h ä n o m e n o l o g i e von B ö h m e s ganz privatem Wiedergeburtserlebnis in verallgemeinernder hermeneutischer Hinsicht. Jeder Leser soll w i e B ö h m e die biblisch präformierten Deskriptionsmöglichkeiten zu

1

"Szenographie" ist laut Duden. Bd. 5: Fremdwörterbuch, Mannheim/ Wien/ Zürich [4. Auflage] 1982, S. 746, ein gängiges Fachwort aus der Filmproduktion: "Filmbildnerei, Entwurf u. Ausführung der Dekorationen im Film". Dieser plastische Deskriptionsterminus zur verlebendigenden Übersetzung "prototypischer" Drehbuchvorgaben in leibhaftige "antitypische" Szenen bei der Filmproduktion legt eine Verwendung im Bereich literaturwissenschaftlicher Hermeneutik nahe. Eine diesbezügliche Bedeutungsausweitung des Begriffs ist gegenwärtig in der Diskussion. Ich schließe mich an den neueren literaturwissenschaftlichen Diskurs an und erweitere hier den sich abzeichnenden Begriffshorizont um die theologische Hermeneutik. "Szenographie" soll im folgenden zur Rekonstruktion der Inkarnationsmorphologie Jakob Böhmes dienen, die notwendige gegenwartshermeneutische Verknüpfung von Phänomenologie und Typologie herstellen und mit leibhaftiger Plastizität verdeutlichen. Vgl. auch Paul J. Korshin, Typologie als System, in: V. Bohn (Hg.), Typologie, S. 277 308. Korshin spricht von "angewandte(r) Typologie" (S. 278). "(H)istorische Ereignisse können umstandslos als die erfolgreiche Wiedergeburt geheimnisvoller Weissagungen interpretiert werden ... Ein Historiker, der dazu neigt, in den Schlußfolgerungen seiner Darstellung die Erfüllung ihrer anspielungsreichen Anfänge zu erblicken, kann die Geschichte daher in einem typologischen Rahmen oder als eine typologische Struktur sehen." (S. 281) "Die Typologie ... wird umgewandelt in ein literarisches System, in die bewußte Applikation einer figuralen Deutungsmethode auf die Nachahmung der Wirklichkeit. ... In einem einleuchtenden Sinne ist das Vorkommen von Typologie als System in der Literatur zugleich Bild und Deutung." (S. 304)

172

3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

einer leibhaftigen Erfahrungssoteriologie erhalten. Böhme präpariert die biblische Prototypik des Christus praesens deshalb zu einer Sensibilitätsschulung heraus. Das bedeutet einen phänomenalisierenden Gebrauch der biblischen Typologien zur Szenographie der prinzipiell allen Menschen zugänglichen Situationsdramatik religiöser Durchbruchserlebnisse im Erfahrungsraum des Christus praesens.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Eine biblische Szenographie von Böhmes Wiedergeburtserlebnis Das anhand von Böhmes polemischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen lutherischen Lehrorthodoxie festgestellte Defizit theologischer Besinnung an Lebensrelevanz (vgl. oben 2.1.- 2.4.) soll mit Hilfe der Präsentationsform des "Memorials" (vgl. oben 2.6.) folgendermaßen ausgeglichen werden: Die theologische Besinnung eines Christenmenschen wird auf die Basis einer typologischen Korrelation zwischen dem chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnen kontingenter Erlebnisse und der biblisch offenbaren Prototypik des Christus praesens gestellt. Diese typologische Korrelation bildet den an sich amorphen Erlebnisfluß des Homo faber zum autobiographischen Lebensbild eines individuellen Christenmenschen (vgl. oben 2.5.). Die biblische Sprachtradition wird auf diese Weise auf ihre deskriptive Kompetenz hin befragt, mit der sie dem sich immer schon vollziehenden Glaubensleben des Christenmenschen ein auf seine konkrete Lebenssituation als religiös indifferent gewordener Homo faber bezogenes, den Glauben erneut aktualisierendes, christomorphes Selbstverständnis ermöglicht. Der Glaube wird revitalisiert und lebensweltlich inkarniert, indem er aus dem Bereich metaphysischer Indifferenz herausgelöst wird, in den er durch den verobjektivierenden Distanzierungsgestus der Orthodoxie hineinprojiziert wurde (vgl. oben 2.3.). 2 Gleich2

Vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. II, Stuttgart/ Göttingen [7. Auflage] 1964, S. 345, freilich mit einer diametral entgegengesetzten Bewertung der geerdeten Projektionsrichtung bei Jakob Böhme zugunsten eines mathematisch - logischen Vernunftpurismus, den Dilthey bei Kepler zu erkennen glaubt. Nichtsdestoweniger beschreibt Dilthey -von der herabsetzenden Bewertung einmal abgesehen- Böhmes lebensweltliche Reinkarnierung theologischer Besinnung völlig zutreffend: "Jakob Böhmes lutherische Philosopheme" zielten auf eine "Projektion der moralischen und religiösen Verhältnisse in den Weltzusammenhang", seien also gerade nicht auf die Abstraktion intermomentan und intersubjektiv gültiger Invarianzen ausgerichtet. Die christliche Inkarnationsvorstellung läuft dieser Tendenz der abendländischen Intellektualkultur prinzipiell zuwider. Sie ermöglicht anstelle leibfremder Abstraktionsleistungen die Wahrnehmung von leibhaftiger Konkretion und Individualität; vgl. dazu W. Stählin, Inkarnation, in: Quatember. Evangelische Jahresbriefe 17, 1952/ 53, S. 13- 19, bes. S. 14 f.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

173

zeitig gewinnt die Erlebnisunmittelbarkeit kontingenter Unterbrechungen im gottlosen Dahinleben des seinem Taufglauben entfremdeten Homo faber an der biblischen Sprachtradition eine autobiographische Gestaltungskraft. Das vitale Bedeutungsansinnen wird in den leiblich - lebensweltlichen Entwicklungszusammenhang des biblischen Christusbildes hineingestellt. Dadurch entfaltet sich der bedeutungsschwangere Augenblick zu einem in sich ausdifferenzierten Gegenwartsraum, in dem der an sich amorphe Erlebnisstrom als individuelle Sinnfigur aus Leib und Lebenswelt präsentiert werden kann. Auf dieser sinnen - bildlichen Doppellektüre basiert die Grundstruktur eines jeden Memorials aus der Hand Jakob Böhmes: "Lieber Leser, halt dieses für kein ungewiß Gedichte, es ist der wahre Grund, und hält innen die gantze H. Schrift: dann das Buch des Lebens JEsu Christi ist darinnen klar vor Augen gemahlet, wie es ist vom Autore selber erkant worden, dann es ist sein Proceß gewesen." (wB I 52) Die Initialzündung zu einer autobiographischen Selbstverständigung liegt für Böhme in der lebensrelevanten Rezeption der biblischen Prototypik des Christus praesens, durch die der Christenmensch auf seine leiblich - lebensweltlich konkrete Glaubensgegenwart hin angesprochen wird. Wenn Böhme also bei einer kontingenten Lebenserfahrung einsetzt, so heißt das nicht, daß er seine Leser mit kaum nachvollziehbaren Privaterlebnissen langweilen, sondern durch einen exemplarischen Selbstverstehensprozeß hinsichtlich der konkreten Gestaltwerdung seines Glaubenslebens ihrerseits zu einem analogen Selbstverstehensprozeß anregen will. Daher wird sein Erlebnis in typisierter Form so präsentiert, daß die phänomenologische Reduktion des chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnens der aus der Zukunft herandrängenden Vitalität auf eine schließkräftige Situation mit einer überschaubaren Situationsdramatik 3 sich biblischer Typen und Figuren bedient, durch die der christenmenschliche Leser Böhmes Erlebnispräsentation und die daraus gezogenen Konsequenzen zur Lebensgestaltung problemlos nachvollziehen kann. Er hat durch die ihm bekannte biblische Typik an Böhmes typisierend - phänomenologischer bzw. szenographischer Erlebnishermeneutik teil, die umgekehrt die biblische Typik aus ihrer lebensfernen Bedeutungslosigkeit herauslöst und lebensnah inkarniert bzw. phänomenalisiert. 4

3

4

Vgl. oben 1.3.2.3. und 1.4. zur szenographischen Reductio ad integrum noch unspezifizierter Lebendigkeit im Anschluß an Ricoeur und Lévinas; zum "mise - en - scène" bei Lévinas vgl. bes. die hervorragende hermeneutische Auswertung von K. Huizing, Homo legens, S. 106 - 117. Zur phänomenologischen Reduktion in diesem Zusammenhang als einem auf leibhaftige Gestalten zielenden, "szenographischen" Vergegenständlichungsverfahren vgl. auch H. Timm, Vitalsinn, S. 221 - 234. Zur bildungstheoretischen Verschränkung von Biographie und Bibel bzw. von sprachlosen Erlebnissen und biblischer Sprachgestalt vgl. P. Biehl, Der biographische Ansatz in der Religionspädagogik, S. 277; I. Baldermann, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, in: ders., Wege des Lernens. Bd. 4, Neukirchen Vluyn [3. Auflage] 1992; ders., Gottes Reich - Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, in: ebd. Bd. 8, Neukirchen - Vluyn [2. Auflage] 1993.

174

3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Böhme hebt bei seiner Erlebnishermeneutik, die sich in monologisch expressiver sowie in dialogisch kommunikativer Hinsicht auf die sprachliche Grundlage des biblischen Textkorpus und der darin enthaltenen Sinnfiguren stellt, die Leiblichkeit des bedeutungsschwangeren Eindrucks besonders hervor. Er konzentriert sich auf Erlebnisse, die sich aus dem Raum heraus dem leiblichen Spüren präsentieren. Die biblische Typik wird deshalb ebenfalls leibphänomenologisch stilisiert. Es geht um das leibliche Spüren von Gefühlsatmosphären im Raum, um leibliche Ergriffenheit, um die leibliche Ausdrucksmotorik, um das Empfinden leiblicher Enge im Augenblick und um den Durchbruch zum aufrechten Stand in entfalteter Gegenwart, zu der sich der Leib erheben und weiten kann.5 Böhme entwickelt mit den sprachlichen Mitteln der biblischen Typik die überschaubare Situationsdramatik eines Wiedergeburtserlebnisses, 6 durch das sein Leben aus der religiösen Indifferenz des reinen Dahinlebens herausgerissen und stattdessen requalifiziert, d. h. durch eine christomorphe Ausdrucksgestalt potenziert und intensiviert, wurde. Böhme beschreibt diese autobiographische Transformation des an sich amorphen Erlebnisstromes als Genesis des Christenmenschen aus dem Homo faber, der in der religiösen Indifferenz des reinen Dahinlebens seinem Lebenfluß keine individuell ansprechende Sinngestält zu verleihen vermag. Das Drama des Böhmeschen Wiedergeburtserlebnisses umfaßt vier Szenen, deren situationsdramatische Anordnung biblisch präformiert ist. Es handelt sich um einen augenblicksgöttlichen Schrecken und dessen Transformation zum äußeren Anlaß für die Führung einer ebenbildlich auf die biblische Christusgestalt hin angelegten Vita Christiana. Die Handlung beginnt mit dem Schreck Böhmes qua leiblichem Entsetzen unter dem Eindruck einer in der Weite des Weltraums atmosphärisch ausgebreiteten Zornesmacht (3.l.l.). 7 Die leibliche Ergriffenheit manifestiert sich in der von Schreck, Angst und Scham bestimmten Enge des Leibes, in der Böhme als affektiv betroffener Mensch sein Stehvermögen verliert (3.1.2.).8 Böhme beschreibt dann ein Ringen zur 5 6 7

8

Vgl. oben 1.4. bes. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 115 ff. 275 ff. Hirsch, Jakob Böhme, S. 210. 247 f. betont m. E. zurecht, daß Böhmes Erleben nicht mit den "lauen" Bekehrungserlebnissen bei Spener oder Francke zu verwechseln sei. Zum "Schreck" vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, § 56/ S. 173 ff.; zum "Zorn" vgl. ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 337 ff., sowie R. Otto, Das Heilige, S. 15. 92 ff. zum atl. "Gottesschrecken", S. 27 f. 102 ff. zur ntl. "οργη", S. 53 ff. zum "Ungeheuren", S. 116 zum "Zorn" des "Deus absconditus" bei Luther und im Luthertum einschließlich Böhmes. Vgl. zur "Angst" als elementarem Spüren der privativen Enge des Leibes H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, passim, bes. S. 6 - 8. 88 - 90. 121 - 125. 143 - 146. 200 - 204; vgl. auch ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 48 ff. zur primitiven Gegenwart, S. 51 ff.: "Der Träumer fällt auf den Boden der Tatsachen", S. 135 ff. 156 - 160. 337 ff., zur leiblichen Befindlichkeit qua privativer Engung bei Schreck, Angst und Scham; vgl. auch ders., Der Leib. II/ 1, § 55/ S. 169 ff., und ders., Der Leib im Spiegel der Kunst, in: ders., System der Philosophie. Bd. II/ 2, Bonn 1966, § 95/ S. 19 - 36, als Zusammenfassungen für die

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

175

B e f r e i u n g aus der E n g e des Leibes, zur R ü c k g e w i n n u n g v o n W e i t e als d e m E r m ö g l i c h u n g s g r u n d für e i n e n aufrechten Stand, w o b e i A f f i n i t ä t e n z u m pietistischen B u ß k a m p f deutlich werden ( 3 . I . 3 . ) . 9 Schließlich charakterisiert B ö h m e das neuerlich z u r ü c k g e w o n n e n e h i m m e l w ä r t i g e S t e h v e r m ö g e n als s y m b o l i s c h e n Inbegriff einer christomorphen Lebensführung (3.1.4.). Während d e s D r a m a s w e c h s e l t d i e a t m o s p h ä r i s c h e Qualität d e s G e f ü h l s r a u m e s 1 0 komplett v o n Zorn und A n g s t b z w . S c h a m ( 3 . 1 . 1 . f.) zu L i e b e , Freude und Erleichterung ( " L é v i t a t i o n " 1 1 ; 3 . 1 . 3 . f . ) . D a s s c h l ä g t s i c h in der A u s d r u c k s m o t o r i k des L e i b e s , w i e ζ. B . i m A u f und A b der Blickrichtung, nieder. D i e " B e w e g u n g s s u g g e s t i o n e n " 1 2 der unwillkürlichen leiblichen A u s d r u c k s b e w e g u n g e n w e i s e n zunächst erdwärts und charakterisieren einen Eindruck v o n E n g e , S c h w e r e , T i e f e und D u n k e l h e i t (3.1.1. f.). D a n n w e i s e n sie h i m m e l w ä r t s und charakterisieren dadurch einen g e g e n l ä u f i g e n Eindruck v o n neuer W e i t e , Leichtigkeit, H ö h e und Licht (3.1.3. f . ) . 1 3

9

10 11 12 13

hier zur Deskription in Anschlag gebrachte Terminologie. Vgl. zur "Scham" als dringlich empfundener Wunsch, sich zu bedecken oder im Boden zu versinken, R. Otto, Das Heilige, S. 66 ff. (bes. S. 66: Der Gefühlseindruck des Gotteszorns bewirke "eine unmittelbare und unwillkürliche Reflexbewegung der Seele" in eben dieser zum Boden gewandten Richtung; S. 69-71.). Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 42 - 52 zur Komplexqualität von "Tremendum" (S. 13 ff.) und "Fascinane" (S. 42 ff.). Die "Kontrast - Harmonie" bzw. der "Doppelcharakter des Numinosen" (S. 42) besteht aus der Spannung zwischen den Polen "Schrecken" (S. 15), "Scheu" (S. 16 ff.), "Grauen" (S. 19 ff.), "absolutes Befremden" (S. 30) sowie auch "Scham" (S. 19 f.) einerseits und dem "Überschwenglichen" (S. 49) andererseits. Beide Pole zusammen bestimmen "Erlebnisse der 'Gnade', der 'Bekehrung', der 'Wiedergeburt'" (S. 49), wie z. B. bei Jakob Böhme (S. 50). S. 49 - 52 zeigen den Rückgewinn von leiblich empfundener Weite und aufrechtem Stand als "Sich - nicht - lassen - können" bzw. "Exaltation". Gefühle sind Phänomene des Raumes und vom leiblichen Fühlen des Gefühls eigens zu unterscheiden; vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 292 ff.; ders., Die Liebe, Bonn 1993, S. 29 - 61. Zur "Lévitation" als genuin leiblichem Phänomen vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 294. 298. Vgl. H. Schmitz, Der Leib im Spiegel der Kunst. II/ 2, S. 37 ff. passim, bes. S. 37 - 44; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 140 ff. Die Gefühle des Gefühlsraums haben am Leibe spürbare Richtungen, die sich an den unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen des Körpers somatisieren und somit auch ablesen lassen. Sie sind in etwa wie mathematische Vektoren vorzustellen, die zur Darstellung eines physikalischen Kraftfeldes verwandt werden; vgl. H. Schmitz, Die Liebe, S. 33 - 55. Zur Differenzierung der Gefühlsatmosphären als im leiblichen Spüren erhebender, weitender oder niederschlagender, beengender Eindrücke anhand der Auf- und Abwärtsbewegungen der Blickrichtung und der Körperhaltung vgl. auch H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 13 ff., sowie H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 76 - 81 (dort der strukturelle Zusammenhang von Weitung des Leibes und Contemplatio coeli). All diesen leibphänomenologischen Deskriptionsvorgaben werden von Böhme selbst in metaphorischer Rede legitimiert; vgl. nWgb 1,18: "Dann gleichwie die Natur der Angst in der Finsterniß eine Ursach der Traurigkeit ist: Also ist sie im Lichte eine Ursache der erheblichen und beweglichen Freude. Dann die Qual im Lichte, und die Qual in der Finsterniß, ist nur Ein einige Qual, nur Eine Natur, wie das Feuer und Licht nur Eine

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

3.1.1. Der augenblicksgöttliche Zorneinbruch in die heile Welt eines gottlosen Dahinlebens Böhme knüpft an die seine Zeitgenossenschaft wie ein "ontologischer Schock" entsetzende kopernikanische Wende an. 14 Er wird durch dieses geistesgeschichtliche Ereignis auf eine völlig unerwartete Weise für das in Ps 8, 4 f. bes c h r i e b e t "Kreaturgefühl" sensibilisiert. 15 Schlagartig wird er von einem Gefühl der vom Psalmisten im klagenden Tonfall prototypisch beschriebenen Nichtigkeit des Menschen angesichts der grenzenlosen Weite des Weltraums affektiv betroffen. 16 Diese endlose Weite verliert ihre sonstige Indifferenz, indem sie den Charakter einer in die Enge treibenden Härte annimmt. Das flirrende Blau der Atmosphäre tagsüber bzw. das tiefe Schwarz des Nachts gewinnt die beängstigende Konnotation eines schwer lastenden und den Brustkorb umschnürenden Gewichts, das den Atem raubt. Der Himmel steht offen. Die Fülle des Universums, die ohne ein die Menschenwelt besonders bergendes oder schützendes Firmament auf einmal völlig unvermittelt in den Wahrnehmungshorizont tritt, konfrontiert den Menschen Böhme mit seiner körperlichen Bedeutungslosigkeit. Als Körper scheint er nur noch ein für das Leben der Welt irrelevantes Staubkorn zu sein. Böhme spricht deshalb von "Trübsal" (Mr 19, 10). Wie bei dem griechischen Wort "·θλΐψις" geht es um den Zustand hochgradiger leiblicher Bedrängnis und äußerster Niedergeschlagenheit. Das Kreaturgefühl streckt zu Boden, da die Kraft zum aufrechten Stand plötzlich fehlt: 17 "... Als mir aber dieses gar manchen harten Stoß gegeben hat..., bin ich

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Natur sind, und geben aber einen gewaltigen Unterscheid in der Qual: ... Das Feuer ist peinlich und verzehrlich, und das Licht ist gebende, freundlich, kräftig und freudenreich, eine liebliche Wonne." Analog geht die Schmitzsche Böhme - Interpretation vor; vgl. ders., Der Leib. II/ 1, § 87/ S. 541 ff. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 133 . 137; E. Beyreuther, Geschichte des Pietismus, S. 17 - 22. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 8 - 12. E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 58, betont sehr schön "das Unerwartete, Überraschende, Numinose dieses Ereignisses" in Böhmes Leben und Erleben. Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 122 zum Erlebnis - Erleidnis "primitiver Gegenwart" in der Enge des Leibes: "In die Enge kann man nur aus der Weite getrieben werden, mit der Engung ist die konträre Weitung, der sie abgerungen wird, mitgesetzt". S. 294 f. zum atmosphärisch vermittelten Eindruck auf dem Leibe lastender "Schwere": "Es gibt aber auch eine atmosphärische Schwere, die der atmosphärischen, hebenden Leichtigkeit der Freude konträr entspricht. Dazu gehört die klimatische Schwere. An einem schwülen Sommertag oder trüben Nebeltag sagt man, daß das Wetter drückend sei, ... Diese niederdrückende, belastende Atmosphäre ist nicht schwer im mechanischen Sinne ..., aber doch eine echte Schwere, nur von anderem, atmosphärisch ergossenen und einbettenden Wesen. Von dieser Art ... ist die als niederdrückende Schwere in Trauer und Schwermut den Menschen leiblich ergreifende Atmosphäre, durch Beklemmung unterschieden von der weichen, diffusen, lösenden Schwere, die das sanfte Einschlafen begleitet". Der Leib II/ 1, S. 86 f., und Das Göttliche und der Raum. III/ 4, S. 122 f., zur aus der Mystik bekannten Ambivalenz des Himmels, mit dem Umschlag aus

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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endlich gar in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerathen, als ich anschauete die grosse Tieffe dieser Welt, darzu die Sonne und Sternen, sowol die Wolcken, darzu Regen und Schnee, und betrachtete in meinem Geiste die gantze Schöpfung dieser Welt. [...] Darzu betrachtete ich das kleine Fiincklein des Menschen, was er doch gegen diesem grossen Wercke Himmels und Erden vor GOtt möchte geachtet seyn." (Mr 19, 5. 7) Der Himmel, der als meteorologisches Phänomen überall auf Erden zugänglich ist, trägt plötzlich die beängstigenden Züge einer augenblicksgöttlichen Zornesmacht. 18 Deren biblisch präformiertes Gezüge gewinnt auf einmal einen Sitz im Leben am postkopernikanisch entfremdeten Firmament, das nicht mehr den gefühlsatmosphärischen Eindruck irdischer Geborgenheit vermitteln kann: "Wenn du ansiehest die Tieffe, die Sternen, die Elementa, die Erde, so begreiffest du mit deinen Augen nicht die helle und klare Gottheit, und ob Sie wol aida und darinnen ist; sondern du siehest und begreiffest erstlich mit deinen Augen den Tod, darnach den Zorn GOttes und das höllische Feuer." (Mr 23, 11) Der augenblicksgöttliche Zorncharakter taucht die gesamte den Handwerker Böhme umgebende Dingwelt in eine neue atmosphärische Gestimmtheit. Der frühneuzeitliche Homo faber "badet" (Mr 14, 100) geradezu in einem zornig qualifizierten Gefühlsraum. Die Gegenstände der Dingwelt zeigen sich als "hart" und widerständig: "So sprichst du: Er ist aber in vielen Dingen mit seinem Zorne, dieweil es also hart und böse ist, und der Gottheit nicht ähnlich. Ja, lieber Mensch, es ist alles wahr: In Silber, Gold, Steinen, Acker, Kleidern, Tieren und Menschen, was begreiflich ist, ist freylich überall der Zorn GOttes; sonst wäre es nicht also hart begreiflich." (Mr 14, 99) 1 9

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der "maßlosen, kosmischen Weite" in die "Enge des Leibes", aus der weiten Geborgenheit in die ubiquitäre Ausgesetztheit gegenüber dem stechenden und blendenden Himmelslicht, vor dem man sich nicht verbergen kann. Der Himmel ist einladend und abweisend zugleich. Böhmes Phänomenalisierung von Luthers "Deus absconditus" bemerken E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 217, und R. Otto, Das Heilige, S. 131 f. Vgl. E. Metzke, Von Steinen und Erde, S. 135 - 138. 142: "Es gibt das Steinhafte, das steinhaft Harte, das steinhaft Starre, das steinhaft Verschlossene als allgemeines Wesen des Wirklichen. Nicht nur der Stein, sondern jedes Seiende hat seine ihm eigene Härte und verlangt sie schon zur bloßen Existenz. ... Für ihn handelt es sich darum, daß ... der Mensch auf die harte und kalte Abgeschlossenheit als ursprüngliche Wirklichkeitsgegebenheit stoßen kann, ...". Wenn Metzke das befremdliche Widerstandserlebnis an der materialen Undurchdrunglichkeit der den Menschen umgebenden Bruta facta der reinen Körperwelt allerdings dahingehend deutet, Böhme ziele lediglich auf die "Erkenntnis von der Unergründlichkeit und Eigengewalt der Wirklichkeit, aus der wir leben und in der wir leben" (S. 143), dann greift er entschieden zu kurz. Die beschriebene "Unergründlichkeit und Eigengewalt der Wirklichkeit" gibt es nur für den Homo faber, der aufgrund des Sündenfalls aus dem leibhaften Zusammenhang einer beseelten Lebenswelt herausgefallen ist und nun -der natürlichen Lebendigkeit verlustig gegangen- toten Dingen gegenüber steht. Insofern kann auch die "kalte Abgeschlossenheit" keineswegs "ursprüngliche Wirklichkeitsgegebenheit" (S. 142) sein. Die beschriebene Wahrnehmung der materialen Widerständigkeit und Undurchdringlichkeit einer reinen Körperwelt gibt es nur im Zusammenhang mit der atmosphärisch ausgebreiteten Todesangst, d. h. nur dann, wenn

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Nachdem Böhme das frühneuzeitliche Phänomen des kopernikanisch entgrenzten Firmaments mit den sprachlichen Mitteln der Bibel zu einer Epiphanie des Gotteszorns in eine analoge Beziehung gesetzt hat, bestimmt er das leibliche Empfinden des Erlebnisses als eine zu Boden drückende Beschwernis: "Da ist freylich manch harter Stoß: denn das angezündete Zorn = Feuer GOttes stöst manchmal auf sie, daß sie nicht wissen, wo zu bleiben; es liegen Centner = Berge auf ihnen; das liebe Creutz drücket und ist schwer." (Mr 15, 20) Der Mensch droht seinen aufrechten Stand zu verlieren. Er sieht sich mit einem augenblicksgöttlichen Non plus ultra konfrontiert. Dadurch ist er aus der Indifferenz des reinen Dahinlebens herausgerissen. Es hat sich etwas ereignet, von dem er nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann.

3.1.2. Die leibliche Ergriffenheit von Angst und Scham Die Atmosphäre augenblicksgöttlichen Zorns drängt den Menschen zu Boden. Er wird von "Trübsal" (Mr 19, 10) und "Melancholey" (Mr 19, 5) befallen. Hierbei ergibt sich eine hörfällige Assonanz zur Farbe "schwarz". Eine "schwarze Gefühlsgestimmtheit" gehört für den pansophisch geschulten Böhme typologisch zur schwarzen Erde, in der der menschliche Körper seine Grabstatt findet. Der biblisch präformierte Zorneinbruch konkretisiert das Kreaturgefühl zur Todesangst des körperlichen Menschen. Er wird schlagartig des gnadenlosen "Stirb und werde!" der Natur und ihrer (alchemischen) Elemente gewahr, die die Lebensgrundlage seines Körpers bilden: "Nun möchte aber die Olitätische Eigenschaft auch kein Leben seyn, so sie nicht in der Angst des Todes wäre: ... Also muß der Tod eine Ursache des Lebens seyn, daß das Leben beweglich sey, so ist der Mercurius das rechte bewegliche Leben. In der tödtlichen Eigenschaft ist er böse, und heisset das Leben des Todes, der Höllen, und des Zorns GOttes;... so ist die Angst, als die Finsterniß, der Olitätischen Eigenschaft Tod und Verderben, dann so sie ... das Regiment bekommt, so nimt sie das Corpus ein, und macht ... einen finstern Geist und Leib, gantz irdisch als Adam ward, da er in das Böse imaginirte." (Sg 8, 6 - 8) Böhme fühlt sich durch die Todesangst, zu der der biblisch präformierte augenblicksgöttliche Zorneinbruch in die heile Welt des reinen Dahinlebens das atmosphärisch ausgebreitete Kreaturgefühl konkretisiert hat, unmittelbar in seiner körperlichen Lebensgrundlage betroffen. Sein Körper gerät durch die biblisch - pansophische Explikation des chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsder Homo faber seiner Gottlosigkeit und Entfremdung mit unwillkürlichem Entsetzen angesichts eines augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs gewahr wird. Unbelebte, geistlose Materialität ist für Böhme weder ursprünglich, noch eigentlich, sondern eine uneigentliche, durch den Sündenfall zwischeneingekommene Erscheinungsweise der leibhaftigen Lebenswelt als rein körperdingliche Existenz; vgl. unten 4.1.5. Zur ausführlichen Kritik Metzkes vgl. auch oben 1.2.1.2.3.!

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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ansinnens des augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs in einen strukturellen Zusammenhang mit dem Tod. Die qualitativ von alltäglichen Schrecksekunden abgehobene Todesangst weist eine fundamentale Lebensrelevanz auf. Sie signalisiert, wie der Handwerker Jakob Böhme riskiert, im körperlichen Vorhandensein der Dingwelt und in den Besorgungen zur Bewahrung der körperlichen Existenz völlig aufbzw. unterzugehen. 20 Das derartig von der alltäglichen Fürsorge getönte Dahinleben des Homo faber in der von ihm konstruierten Welt trägt selber einen gegenständlichen Charakter und unterliegt deshalb der gnadenlosen Naturdynamik des ewigen "Stirb und werde!". 21 Es ist besonders anfällig für Auflösungserscheinungen, da der Homo faber nicht die Bedingungen der Möglichkeit seiner eigenen Existenz produzieren kann. Sie bleiben dem rücksichtslosen Belieben seiner Willkür entzogen. 22 Auf atmosphärische Weise offenbart die Todesangst dementsprechend die lebensbedrohliche Situation des Homo faber, der körperlich von vitalen Auflösungserscheinungen aller Art unmittelbar betroffen ist. 23 Sein Überlebenskampf gleicht der Situation eines Ertrinkenden, der verzweifelt versucht, an der Wasseroberfläche zu bleiben: "Der Mensch trachtet alhie immer nach sanften Tagen des Fleisches, und nach Reichthum und Schönheit, und weiß nicht, daß er damit in der Kammer des Todes sitzet, da der Stachel des Zorns auf ihn zielet. ... (D)aß die Begierde des Fleisches in sanftem Wolthun, reich seyn, schöne seyn, mächtig seyn, ist ein lauter höllisch Zornbad, darein du dringest und lauffest, als würdest du hinein gezogen, denn es ist grosse Gefahr darinnen. ... Wenn du nach deines Hertzens Lust in Reichthum und Gewalt bist gedrungen, so ists eben mit dir, als stündest du in einem tieffen Wasser, da dir das Wasser immer bis ans Maul ging, und unter deinen Füssen wäre 20 21

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Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 114 ff. 166 ff. 175 ff. Vgl. P. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 233: "Jede Dinglichkeit vereinzelt sich und steht doch umklammert von der furchtbaren Einheit des Ver = Wesens. ... Alles irdische Bildnis vergeht in seinen Tod verweht im Ur = Abgrund und das Leben ist ein irrer Tanz = Reigen von Geburt zu Tod". Der Renaissance - Vitalismus versuchte diese barocke Ureinsicht noch zu vermeiden; vgl. ebd., S. 123: "Der Erfolg des Augenblicks galt als die Leistung und gab allem Tun das Recht. Menschlich = persönliches Leben entschied selbstherrlich über seinen Wert durch die sinnlich = faßliche Verwirklichung des Augenblicks durch und in seiner Gegenwart." Der sich seiner Welt bemächtigende Mensch hält seine Artefakte für enttäuschungsrestistent. Der spätmittelalterliche Bürger der wohlhabenden Renaissancestädte sieht sich (ähnlich wie die Bürger der griechischen Stadtstaaten nach der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr.) inmitten seiner Stadtmauern nicht mehr einer vital aus der Zukunft herandrängenden Wirklichkeit ausgesetzt, sondern kann sich dem Commercium sowie der schöngeistigen Muße ungestört widmen; vgl. dazu H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 48 ff. 247 ff. bes. 263: "Gegenwart als Antagonist der Dauer", dort zur Korrektur der Illusion des "Nunc stans!" als der Projektion einer die Unwillkürlichkeit willkürlkich eliminierenden Lebenseinstellung ins Metaphysische. Zur Phänomenologie der "Angst" im deutlichen Anschluß an Kierkegaard vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 40/ S. 184 ff., zum "Tod" in diesem Zusammenhang vgl. § 46/ S. 235 ff.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

kein Grand; sondern schwimmest also mit den Händen und schützest dich; bald wärest du tief im Wasser, bald seichte, und wärest doch immer mit grossem Schrecken gewärtig, wenn du zu Grande gingest; da dir dann das Wasser manchmal ins Maul ginge, und immer des Todes gewärtig wärest." (Mr 25, 53 - 55) Ein rein materiell orientiertes Existieren des Körpers inmitten der Dingwelt bleibt amorph, da es nur von Augenblick zu Augenblick getrieben wird, um das nackte Überleben zu sichern. Zur Deskription der randlos ergossenen Atmosphäre der Todesangst bedient sich Böhme deshalb der Undulationsmetaphorik des Wassers, das den verzweifelt gegen die Flut anschwimmenden Menschen prädimensional umgibt. Ein derart konturloser Raum läßt keine wohnweltliche Geborgen-, geschweige denn Behaglichkeit aufkommen. Der rein materiell dahinlebende Homo faber droht regelrecht "im Fleische zu ersaufen" (vgl. Mr 19, 54). Die paulinische Metapher "Fleisch" soll hier die chaotische Mannigfaltigkeit einer ins Unendliche entgrenzten Dingwelt sowie deren an den Einzeldingen omnipräsente Vergänglichkeit beschreiben. 24 Der Körper offenbart keinen anderen Vitalsinn als das reine "Stirb und werde!" der Natur. Das körperliche Vorhandensein ist darüberhinaus an sich unbelebt. Daher begegnet dem lebendigen Menschen, der unter dem Eindruck der Todesangst steht; die dem Leben völlig entfremdete, tote Stofflichkeit: "Das Fleisch ist nicht das Leben; sondern es ist ein todt unverständiges Wesen, welches, wenn des Geistes Regiment darinnen aufhöret zu qualificiren, alsbald ein todt Aas wird, verfaulen und zerstieben muß." (Mr 26, 49) Böhme beschreibt die Ergriffenheit von der Todesangst phänomenologisch als plötzliches Entfremdungserlebnis gegenüber dem vermeintlich unproblematischen körperlichen Vorhandensein des Menschen, weil dieses sich auf einmal als an sich völlig unbelebt offenbart. Es ist vollkommen abhängig von der leibhaftigen Belebtheit durch den Schöpfergeist, der zur toten Äußerlichkeit innerlich ergreifend hinzukommen muß. Die "Bildung des Corpus" basiert nämlich auf den alchemischen Elementen "Herbe, Süsse und Bitter", die als zwar wasserlösliche, aber darum nichtsdestoweniger dingliche Geschmackssubstrate lediglich die grobstoffliche Undurchdringlichkeit der äußeren Begrenzungsflächen hervorbringen: "Die haben nun Begreiflichkeit, und sind die Geburt der äussersten Natur." (Mr 21, 102). Leider bleibt Böhme bei der Differenzierung von Körper und Leib terminologisch nicht konsistent. Er spricht zur Bezeichnung der biologischen Dinglichkeit des Menschen nicht einheitlich von "Corpus" oder "Körper", sondern auch vom "äußerliche(n) begreifliche(n) Leib" (Mr 21, 106). Vom uneindeutig 24

Vgl. Hankamer, ebd., S. 345: "Die Emanzipation des Fleisches, die den Menschen verstört, entgeistete Sinnlichkeit als Wille zur Körperlichkeit und absonderlicher Willkür verkehrt die ganze Welt löst alle Einheit in Vielheit auf, sie zergliedert sich in einheitslose Vielfalt vereinzelter Dinglichkeiten. Jedes Besondere will nur sich und verwirklicht sein gesondertes Dasein."

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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bezeichneten, rein körperlich vorhandenen Menschsein wird das eigentliche, weil leibliche Menschenleben bei Böhme jedoch immer mit der wünschenswerten terminologischen Eindeutigkeit unterschieden: "(D)arinnen stehet die Beweglichkeit und der Leib." (Mr 21, 102) Den mit Beweglichkeit als elementarem Ausdruck von Leben assoziierten Leib bilden nämlich die nicht als Festkörper im zentralen Gesichtsfeld zu vergegenständlichenden Elemente "Hitze, Liebe und Ton", die einem eigenartigen dynamischen, feinstofflichen Gegenstandstyp angehören: "(U)nd das ist nun die innerliche Geburt, mit welcher die Gottheit inqualiret." (Mr 21, 103) Auf der Grundlage des körperlichen Vorhandenseins des Menschen ereignet sich mitten im Entfremdungserlebnis als dem plötzlichen Ende aller körperweltlichen Selbstverständlichkeiten eine "Angstgeburt" (vgl. Mr 25, 29) oder eine "Wiedergeburt" (Mr 22, 80. 82), die den Menschen aus der Todesangst erlöst und ihn einer ihm zugeeigneten Lebendigkeit neu versichert: "Denn die andere Geburt, als Hitze, Licht, Liebe und Schall, ist in der äussersten verborgen, und macht die äusserliche beweglich, daß sich die äusserliche zusammen raffet, und gebäret einen Leib." (Mr 21, 107) Dieser "Leib", der "im halb = todten Wasser" geboren wird, kann "den Leib des Todes bald an sich ziehen" (Mr 21, 109), d. h. er nimmt den Körper so in seine Lebensdynamik hinein, daß dieser nicht das letzte Wort behält, sondern eine vitale Ausdrucksgestalt hinzugewinnt, durch die sich der Mensch mit einem individuellen Charakter inmitten der chaotischen Mannigfaltigkeit der körperlichen Dingwelt zu behaupten vermag. Die Todesangst ist jedoch nicht das einzige Gefühl, das den Menschen in seinem leiblichen Spüren angesichts des augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs beschleicht. Er wird darüberhinaus (a) von Scham und (b) von "Eckel" (Mm 41, 2) 25 ergriffen. Beide Gefühlsmächte werden von Böhme ebenso genau auf ihre leibliche Lebensrelevanz hin befragt wie die Todesangst. Beide schildern wiederum ein tiefgreifendes Entfremdungserlebnis des frühneuzeitlichen Homo faber von seinem bisher selbstverständlichen, rein körperlichen Dahinleben, aus dessen Indifferenz er sich unhintergehbar herausgerissen empfindet. (a) Das schamhafte Erschrecken angesichts der Verwahrlosung der eigenen Lebensführung, deren Ausdrucksgestalt durch die faktische Amorphie der chaotischen Mannigfaltigkeit beliebiger Sinnkonstrukte im Hin und Her der ständig sich verändernden Dingwelt praktisch nicht mehr erkennbar ist, modelliert Böhme ganz nach der Prototypik des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11 -32): "... Alhier soll er betrachten, wie er mit Leib und Seele in dem Sünden = Schlamm, in GOttes Zorne im Rachen der Höllen Abgrund hart gefangen liege, wie GOttes Zorn in Seele und Leib in ihm brenne, und wie er der 25

Zur Phänomenologie des "Ekels" vor Ort der leiblichen Dynamik vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, § 62/ S. 240 - 245.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

stinckende Säu = Hirte sey, welcher seines Vaters Erbe habe mit des Teufels Mastsäuen in irdischer Wollust verpranget und verzehret, als GOttes Liebe und Barmhertzigkeit; und nicht wahrgenommen habe des theuren Bundes und Versöhnung des unschuldigen Leidens und Todes JEsu Christi, welchen GOtt aus lauter Gnaden in unsere Menschheit eingegeben, und uns in Ihm versöhnet hat; auch wie er des Bundes der H. Tauffe (in welchem er seinem Heiland hat Glauben und Treu zugesagt) so gantz vergessen, und seine Gerechtigkeit (welche ihm GOtt in Christo aus Gnaden geschenckt) so gantz in Sünden besudelt und verdunckelt, daß er nun ietzt mit dem schönen Kleide der Unschuld Christi, welches er beflecket hat, vor GOttes Angesicht stehe als ein kothicher, zerrissener und zerlumpter Säu = Hirte, der stets mit des Teufels Säuen die Treber der Eitelkeit gefressen, und sey nicht werth, daß er ein Sohn des Vaters und Glied Christi genennet werde." (wB I 3 = 17 f. 19. 22. 27; 3fL 16, 14 - 18) Der von der Scham leibhaftig ergriffene Homo faber ist bei Böhme immer zugleich schon der getaufte Christenmensch, der zur Besinnung des augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs sich biblischer Typen zu bedienen versteht. Die Scham angesichts der Konturlosigkeit seines reinen Dahinlebens bezieht sich auf den Kontrast zur biblisch offenbaren Prototypik eines gelingenden ebenbildlichen Menschenlebens. Schmerzlich wird der Kontrast in der plötzlichen Entfremdung von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit des rein körperlichen Dahinlebens in lebenspraktischer Gottlosigkeit empfunden. Das im Alltag vergessene Taufkleid erscheint auf einmal als grausam entstelltes Lumpengewand. Die in der Taufe eingestiftete christomprphe Ausdrucksgestalt kann im gottvergessenen Dahinleben nicht wiedergefunden werden. Böhme ruft zur weiteren Plausibilisierung des beschämenden göttlichen Zorneinbruches daher die alltägliche Erfahrung eines Kindes in Erinnerung, das völlig verschmutzt vom ausgelassenen Spiel heimkommt und an der Schwelle des Elternhauses von der väterlichen Strenge den Einlaß verwehrt bekommt. "Non plus ultra!" Die Scham des vom Sündenspiel nach dem Sündenfall in den Gnadenstand heimkehrenden Menschenkindes nötigt zu einem Moratorium, einer ε π ο χ ή , einem Innehalten. In dieser Schwellensituation des Gotteszornes heißt es aber auch bei Böhme mit Luthers Worten, aufs Neue ins Taufbad "gekrochen" (vgl. Großer Katechismus, in: BSLK, S. 705): "Der Fluch GOttes hat das besudelte Kind in Koth gestossen, daß es muß um ein Bad bitten, und muß ihme diese Zeit selber feind seyn, daß es lernet demüthig seyn, und in Göttlicher Harmoney bleibet, und nicht ein Teufel wird." (Mm 17, 43) Die hier beschriebene Beschämung angesichts der bisher rein materiellen Ausrichtung des Lebenshabitus leitet bereits zu einem weitergehenden Selbstekel über. Nachdem die vermeintlichen Sinnkonstrukte des Homo faber als wertlos empfunden werden, steht der vom augenblicksgöttlichen Zorneinbruch ergriffene Mensch praktisch nackt da. Auf sein körperliches Vorhandensein reduziert erscheint er sich selbst auf einmal unendlich banal.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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(b) Diese Ent-deckung der biologischen Banalität einer rein körperlichen Existenz des Menschen modelliert Böhme ganz auf der Folie von Gen 3, 10 f., d. h. nach der Prototypik von Adams plötzlichem Bedürfnis nach Verborgenheit vor dem Blicke Gottes und nach Kleidern, um sich auch weiterhin zeigen zu können: "... Ihre Augen wurden ihnen aufgethan, und wurden gewahr, daß sie nackend waren, und flochten Feigen = Blätter zusammen, und machten ihnen Schiirtze. Alda hat die Seele das Monstrosische Bild erkant, und sich dessen geschämet, daß in ihrem zarten Leibe ein solch grob Thier aufgewachet, mit grobem Fleische und harten Beinen, mit einem thierischen Madensacke der Eitelkeit, und haben dasselbe wollen vor GOttes Augen verdecken, haben sich vor Schanden hinter die Bäume verkrochen: Also schämeten sie sich der Ungestalt des Thiers, dann das thierische Ens hatte das himmlische verschlungen, und sich empor gehoben, welches sie zuvorhin nicht erkant hatten, so wüsten sie ietzt für Schanden nicht, was sie thun solten." (Mm 23, 1; vgl. auch Mm 23, 1 5 - 2 1 zur vollständigen Exegese dieses Topos) Jenseits des Leibes als sinnvollem Lebensausdruck zeigt sich nur ein Körperding, das in humanbiologischer sowie medizinischer Hinsicht eine Zumutung für die leiblich vermittelte Sensibilität des menschlichen Taktempfindens (Pietät) darstellt. Böhme zeichnet die Entfremdung vom rein körperlichen Vorhandensein vor dem Hintergrund der nicht kultivierbaren Peinlichkeiten der biologischen Stoffwechselprozesse. 26 So betrachtet entpuppt sich der die Welt beherrschende Homo faber auf einmal als ein "thierische(r) Madensack der Därmen", durch den der Mensch nicht nur optisch "elende, nackend und blos ... in dis thierische Leben" hineingehört, sondern auch olfaktorisch als "dieses Stanck = Haus", das jeder biblischen Beschreibung als "Paradeis und Tempel GOttes" spottet (Mm 19, 18 - 20; in hörfälliger Anlehnung an 1. Kor 6, 19 f.). Böhme bezeichnet den Körper auch als "stinckenden Cadaver" (Sg 8, 52) oder als "stinckenden Madensack" (Mw I 6, 16). Immer wieder zielt er (genau wie Grimmelshausen im "Simplicissimus") auf die negative Ästhetik des menschlichen Gedärms und der damit verbundenen Defäkationsszenerie, um die biologische Banalität des sonst bedeutungslosen Körpers zu enttarnen. Analog verfährt Böhme in sexueller Hinsicht. Die Schamregion des menschlichen Körpers besteht aus "thierischen Glieder(n)", die zu verhüllen 26

Vgl. H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 179 ff., bes. S. 179 - 185: Der "Entsemiotisierung" des Körpers durch die neuzeitliche Rationalisierungsstrategie des Homo faber entspreche eine gegenläufige "Resemiotisierung" des nackten Körperdings als mit Sinn und Bedeutung bekleideter Leib. Die Träger dieser Resemiotisierungsbewegung seien Paracelsus (S. 185 ff.), Hamann (S. 192 ff.), Lavater (S. 198 ff.) und Novalis (S. 204 ff.). Das in der Neuzeit so bedrängende Phänomen eines völlig entsemiotisierten Körpers, der keinen leiblichen Qualitäten mehr eine Behausung biete und insofern völlig unbewohnt (innerlich hohl) zu sein scheine, bestehe gleichwohl seit Plato: "Das Subjekt, das vor dem Blick Gottes sich in den atopischen Raum der Seele flüchtigt, überläßt das verfallene Gehäuse des Leibes der Barbarei der Hölle und des Todes ...". (S. 244; vgl. auch S. 215 253)

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

sein unmittelbares Bedürfnis ist: "Und daher kommts, daß sich das Weib mit einem weissen Tuche vor ihrer Scham bekleidet, daß der Seelen = Geist, welcher aus den Augen blicket, nicht turbiret wird" (Mw I 7, 7). Der leibhaftige Mensch ist durch die nackte Banalität seiner körperlichen Existenz immer beschämbar, was seinen religiösen Ausdruck im israelitisch - jüdischen Bundeszeichen findet: "Also ward auch nur die männliche Art beschnitten, und eben an dem Gliede welches vor GOtt ein Eckel ist, und ein Schämen der Seelen" (Mw I 7, 13). Der Geschlechtsverkehr ist insofern ebenso ekelerregend, als er nicht von viehischem Verhalten unterscheidbar sei (vgl. Mm 41,1 - 3).27 Wenn der Mensch sich also auf seine "thierische Eigenschaft" (Ti II 125 f.) reduziert, indem er sich nur über das körperliche Vorhandensein inmitten einer Dingwelt definiert, dann muß er sich gegenüber dem göttlichen Zorn als "der irdische Madensack" wahrnehmen, "(d)essen sich die arme, in der Eitelkeit gefangene Seele noch heute schämet, daß sie hat eine thierische, monstrosische Gestalt an ihren Leib gekrieget, wie vor Augen ist. Davon die menschliche Scham ist entstanden, daß sich der Mensch seiner Glieder schämet, und auch der nacketen Gestalt, und daß er muß den irdischen Creaturen ihr Kleid abborgen, dieweil er sein Englisches hat verloren, und in ein Thier verwandelt: Und ¡zeiget ihm dieses Kleid genug an, daß er mit dieser aufgewachten Eitelkeit, indem Hitze und Kälte auf ihn fält, (mit der Seelen darinnen) nicht daheime ist; Dann die Eitelkeit samt dem falschen Kleide muß wieder von der Seelen weg und vergehen." (nWgb 2, 19 = 3fL 17, 2; Mw I 6, 20) Hieran wird deutlich, daß Böhmes Phänomenologie der lebenspraktischen Gottlosigkeit nicht mit einer prinzipiellen Leibfeindschaft verwechselt werden darf. Einen Dualismus zwischen Körper und Seele gibt es erst unter der Voraussetzung einer sündhaften Leibvergessenheit, in der die Gottebenbildlichkeit als die eigentliche Leibgestalt nicht mehr zur Darstellung kommt (vgl. unten 5.2. und 5.3.). Böhme kritisiert den Körper nur dann in seiner biologischen Banalität so hart, wenn der menschliche Lebensgestus im Körper und der ihn umgebenden Dingwelt auf- bzw. untergeht. Der beschämte Homo faber wird in der Enge des Leibes auf seine Seele als dem Zentrum vitaler Empfindsamkeit zurückgeworfen (vgl. 3fL 17, 2). Dieser Zustand löst das Problem jedoch nicht. Böhme will keineswegs auf eine exklusive Erlösung der Seele im Sinne der metaphysi27

Hirsch, Jakob Böhme, S. 220, vermutet hier eine unbiblische Leibfeindschaft bei Böhme. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 344 f., zeigt, daß das Problem anders liegt: "Es ist bezeichnend für Böhmes Wertung des Widerstreits von Geist und Körper, daß er vor allem und besonders stark den ästhetischen Minderwert entwesentlichter Körperlichkeit entgeisteter Sinnlichkeit empfindet. [...] Plump schwerfällig und ohne die Schönheit spielerischer Mühelosigkeit lebt und leibt der Mensch." Beredte Unterstützung erfährt Böhmes Kritik am menschlichen Körperkult, ohne daß darüber eine prinzipielle Leibfeindschaft entstünde, in H. J. Chr. Grimmelshausens, Der Abentheuerliche Simplizissimus Teutsch. Vgl. für die Gegenwart J. Baudrillard, Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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sehen Tradition hinaus. Die Ebenbildlichkeit, die der vom eruptiven Gotteszorn beschämte Christenmensch nach seiner lebenspraktischen Reduktion auf die Rolle des Homo faber so schmerzlich an sich vermißt, muß darum leibhaftig wiederhergestellt werden.

3.1.3. Das Ringen in der Enge des Leibes um die Weite als Ermöglichungsgrund neuerlichen Stehvermögens Die dritte Szene von Böhmes szenographischer Dramatisierung eines eigenen Wiedergeburtserlebnisses liest die subjektive Annahme der beschämenden Demütigung durch den augenblicksgöttlichen Zorneinbruch an der leiblichen Ausdrucksmotorik ab, wie sich der affektiv betroffene Mensch dem Eindruck stellt, von dem er sich persönlich gemeint weiß. Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11 - 32) ist Böhme nun dazu bereit, sich dem biblisch offenbaren Gott, von dem er sich als Homo faber lebenspraktisch entfernt hat, wodurch er seiner ebenbildlichen Leibgestalt verlustig gegangen ist, auf Gnade und Ungnade zu ergeben (vgl. Lk 15, 18 f.). In der aus dem schamhaften Erschrecken resultierenden Enge des Leibes, die ihn zu Boden geworfen hat, bleibt ihm nur noch die minimale Möglichkeit, auf jede kompensatorische Haltung und überspielende Attitüde verzichtend aus der bodennahen Kauerstellung heraus mit niedergeschlagenem Blick um Gnade zu bitten, im Vertrauen auf die biblisch präformierte Erlösung: "O grosser, unerforschlicher, heiliger GOtt, HErr aller Wesen, der du dich in Christo JEsu aus grosser Liebe gegen uns, mit deinem heiligen Wesen in unserer Menschheit hast offenbaret. Ich armer, unwürdiger, sündiger Mensch, komme vor dein geoffenbartes Angesichte, in der Menschheit JEsu Christi, wiewol ichs nicht werth bin, daß ich meine Augen zu dir aufhebe, und flehe vor dir, und bekenne dir, daß ich ... bin treulos und brüchig worden. ... Ich habe nichts mehr, das ich Dir fürtragen kann, hie stehe ich vor dir nacket und blos und falle vor deinem Angesichte zu Boden, ... Siehe nicht an meine Ungestalt, daß ich vor dir nacket stehe, und habe dein Kleid verloren, bekleide doch nur meinen Odem, der noch in mir lebet, und deiner Gnade begehret, und laß mich noch eins sehen dein Heil. ... Vor dir liege ich als ein Todter,... richte meiner Seelen Odem vor dir auf!" (wB I 19 = 30. 40. 42 ff. 53 f.) Die bodennahe Kauerstellung in der Enge des Leibes wird aufgrund der Typik der Klagepsalmen im Sinne der leiblichen Ausdrucksmotorik der "Majestas - Mystik" spezifiziert. 28 Die leibliche Ergriffenheit von Todesangst, Scham und Ekel bildet nunmehr den Ausgangspunkt einer theologischen

28

Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 24 f.; auch "Demutsmystik"

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Besinnung in Form des Gebets (vgl. den "Beter aus Sprachnot" bei Ebeling). 29 Dabei kommt ein weiteres neutestamentliches Gleichnis zum Tragen: Es geht Böhme um die Gebetshaltung des Zöllners im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (vgl. Lk 18, 9 - 14; bes. V. 13; zitiert in 3fL 7, 13). Das ehrfurchtsvolle Akzeptieren des augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs als einer Manifestation des biblisch offenbaren Gottes drückt sich an der leiblichen Motorik im Niederwerfen und Senken des Blicks aus (vgl. wB II 13; Mm 70, 22; auch Mm 42, 10, wo es um das "Bücken" und bereits zaghafte "Aufsehen" aus der Kauerstellung geht). Gott gewinnt dabei die leibhaftige Bestimmtheit der menschlichen Gestalt Jesu Christi. Die subjektive Annahme der Situation des Zorneindrucks "ist, vor JEsum, stellen, und Ihme mit Leib und Seele, von innen und aussen, aus allen seinen Kräften zu Fusse fallen, und sich in seine Gnade ergeben." (Mm 69, 17) Böhme beschreibt einen weiteren Zug am leiblichen Ausdruck des beschämten und um Gnade bittenden Christenmenschen, der nicht allein aus der Indifferenz des reinen Dahinlebens herausgerissen ist, sondern sich nun vielmehr auch der veränderten Lebenssituation stellt, indem er sie mit Hilfe der biblischen Typik besinnt. Dadurch zeichnet sich im Blick auf die Wirklichkeit Gottes im Gefühlsraum bereits eine andere Tönung ab. War der dahinlebende Homô faber plötzlich mit dem atmosphärisch ausgebreiteten Zorn konfrontiert, so ahnt der sich besinnende Christenmensch bereits ein Gefühl der Liebe. Er hofft auf die Gewährung einer neuerlichen Lebensmöglichkeit, die ihn aus dem "Non plus ultra!" von Todesangst, Scham und Ekel leibhaftig befreit. Dies biblisch präformierte Vertrauen läßt ihn mit dem augenblicksgöttlichen Zorn regelrecht ringen. Die Typik eines Ringkampfes mit einer göttlichen Zornesmacht gewinnt Böhme aus der Erzählung über den Gotteskampf des Stammvaters Jakob am Jabbok (vgl. Gen 32, 25 - 32; zur ausführlichen Exegese eben dieser Jakobsperikope vgl. Mm 60, 17 ff.). Böhme reklamiert eine besonders intime Beziehung zu dieser biblischen Narration, da er den Stammvater Jakob als seinen unmittelbaren Namenspatron ansah. 30 In der biblischen Erzählung geht es um einen geheimnisvollen Ringkampf Jakobs mit einer unheimlichen Männergestalt. Obwohl Jakob spürt, in einer leibhaftigen Auseinandersetzung mit seinem Gott zu sein, die ihn potentiell vernichten könnte, gibt er nicht auf, sondern erzwingt Segen für neues Leben: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!" (Gen 32, 27; vgl. Ti II 113 f. 272). Genau analog präsentiert Böhme sein Verhalten angesichts der oben beschriebenen Weite des Himmels, die ihn in die Enge des Leibes treibt und zu Boden wirft (vgl. oben 3.1.1.): "Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist... ernstlich in GOtt erhub als mit einem grossen Sturme, und mein gantz Hertz und Gemüthe, samt allen andern 29 30

Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. I, S. 196 f. Vgl. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 295 - 300, bes. 296 f.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

187

Gedancken und Willen sich alles darein schlos, ohne nachlassen mit der Liebe und Barmhertzigkeit GOttes zu ringen, und nicht nachzulassen, Er segnete mich dann, das ist, Er erleuchtete mich dann mit seinem H. Geiste, damit ich seinen Willen möchte verstehen, und meiner Traurigkeit los werden; so brach der Geist durch." (Mr 19, 10) Die Spannung des Kampfes schildert Böhme emphatisch als Erschütterung der gesamten lebensweltlichen Situierung. Deren Horizonte werden aufgebrochen: "Nicht lange disputiren, nur Ernst: dann der Himmel muß zerspringen, und die Hölle erzittern, und es geschieht auch. Du must alle Sinnen mit Vernunft, und alles was dir in den Weg kommt, darein setzen, daß du nicht wollest von Ihme lassen, Er segne dich dann, wie Jacob die gantze Nacht also mit GOtt rang ...; so hältest du GOtt, und brichst durch Tod, Hölle und Himmel, und gehest in Tempel JEsu Christi ein,...". (3fL 7, 12 f. = nWgb 3, 2) Gemäß dem Buchtitel seines Erstlingswerkes "Aurora, oder Morgenröthe im Aufgang" beschreibt Böhme den Richtungssinn des Durchbruchserlebnisses aus der Enge des Leibes in die nun wieder lichte Weite des Himmels mit dem Bild des Sonnenaufgangs als Lévitation: Der Leib überwindet die Erdenschwere, da er sich wie von einer Zentnerlast befreit fühlt. 31 Der Wechsel von der Finsternis der Nacht zur Helle des Tages steht dabei für eine atmosphärische Veränderung, die den Christenmenschen leiblich ergreift. Statt augenblicksgöttlichen Zorns spürt er eine die sich entfaltende Gegenwart zunehmend stärker durchstimmende Liebe: "... so ward ietzo in dieser Nacht, da Jacob in grossen Ängsten war, ... diese Figur offenbar,... wie GOttes Liebe im Gnaden = Bunde in dem eingeleibten Namen JESU mit GOttes des Vaters Gerechtigkeit im Zorne des Gerichts gerungen, als in der grossen Nacht der Finsterniß GOttes Zorns, darinn die arme Seele gefangen lag, und sich also hart mit GOttes Gerechtigkeit gefasset, und darein ergeben, und den Zorn mit der Gerechtigkeit nicht wollen von sich lassen Er ergebe sich dann in die Liebe der Gnade ein, daß die Liebe durch den Zorn möchte durchbrechen, ... wie die Morgenröthe aus der finstern Nacht anbricht, und die finstere Nacht in Tag verwandelt." (Mm 60, 21) Die besondere Lebensrelevanz des Typos von Jakobs Gotteskampf am Jabbok hängt typologisch mit der Lebensrelevanz des Kreuzestodes Jesu zusammen, in dem sich der eben beschriebene Stimmungswechsel antitypisch verdichtet. Die Erlebnisstrukturen bei der Wiedergeburt des konkreten Christenmenschen aus einem augenblicksgöttlichen Zorneinbruch in das religiös indifferente Dahinleben des Homo faber werden mit dem Drama von Golgatha spielerisch identifiziert, in dem Jesus Christus als einzelner Mensch der 31

Vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 76 - 81. 129 - 138; auch ders., Das Göttliche und der Raum. III/4, S. 121 ff. 124 ff. Die "Morgenröte" als Topos einer neuschöpferischen Requalificatio der Conditio mundana geht auf Luther zurück und wirkt vor allem auf Paul Gerhardt; vgl. O. Bayer, Schöpfung als Anrede, S. 109 - 127, bes. 119 - 125; vgl. auch ebd., S. 80 - 108.

188

3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

göttlichen Zornesmacht ausgeliefert ist und diese überwindet: "Alhie ist uns das hoch zu betrachten, was für Schrecken, Jammer, Angst und Noth im Menschen aufgewacht sey, und als ein falsch Leben und Willen im Menschen sey offenbar worden; dessen wir ein Bilde am Tode Christi haben, als Er den Tod in unserer menschlichen aufgewachten Eigenschaft am Creutze zerbrach, und mit der grossen Liebe in seinem himmlischen Blute überwand, ... wie die Erde davor erzitterte,... vor diesem grossen Liebe = Feuer, gleichwie das Liebe = Feuer in Adam und Heva in der Aufwachung des Zorns in ihnen erzitterte, davon sie erschracken, und hinter die Bäume im Garten krochen, und sich fürchteten: ...". (Mm 20, 38) "Dieses ist erstlich die Figur Christi, als Er sich in GOttes Gerechtigkeit in des Vaters Zorn einbegab, ... und sprach: Ich lasse dich nicht, du segnest denn die Menschheit wieder, daß das Gerichte aufhöre, das ist, du führest denn die Morgenröthe deiner inwendigen Kraft durch die Menschheit aus, daß der Fluch aufhöre, und der Mensch gäntzlich wieder in Göttlicher Wirckung im Segen stehe. Zum andern ist es das schöne Bilde, wie es mit dem bußfertigen Menschen zugehe, wenn er sich durch ernste Busse in diesem Kampf Christi, als in Christi Leiden und Tod, in seine Überwindung einergiebet, und im Geiste Christi mit GOttes strengen Gerechtigkeit, welche ihn immerdar im Gewissen schilt, ringet." (Mm 60, 29 f.) Hier kommen alle drei typologischen Entsprechungen zusammen, auf denen Böhmes applikative Schrifthermeneutik (vgl. oben 2.3. und auch 1.3.2.2.) basiert: 1. die die Lebenswelt des Menschen konstituierende Urgeschichte im Alten Testament (vornehmlich Gen), 2. die lebensweltrestituierende Heilsgeschichte im Neuen Testament (vornehmlich der evangelischen Lebensgeschichte Jesu als des Christus) und 3. schließlich die gegenwärtige Geschichte eines konkreten christenmenschlichen Leibeslebens, in der die prototypische Korrelation der biblischen Heilsgeschichte in die synästhetische Vollpräsenz leiblich - lebensweltlicher Postfiguration inkarniert wird. 32 Der dogmatische Topos, der auf diese Weise lebensrelevant reformuliert wird, ist die reformatorische Rechtfertigungslehre, deren materialen Lehrgehalt Böhme trotz seiner Fokussierung auf das Pro me keinesfalls verkürzt. Das Extra nos kommt durch die Bezugnahme auf die autonom vorgegebene Prototypik der Lebensgestalt Jesu Christi zum Tragen. Das eigene Erleben wird maßgeblich durch die biblischen Vorlagen typisiert und erst in dieser Stilisierung auf seine konkreten Bedeutungen im Einzelnen hin untersucht. Es individuiert sich geradezu erst durch die biblische Typik aus einem chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnen der vitalen Unmittelbarkeit, aus der heraus der Mensch zwar allgemeine phänomenologische Deskriptionen vornehmen, aber zu keiner eindeutigen, nämlich christomorphen, religiösen Kultivie32

Vgl. oben 1.3.2.2., bes. K. Gründer, Figur und Geschichte, S. 96: "Die Geschichte Jesu ist die Erlösung des Menschen, die Begebenheiten des Alten Testaments weisen nicht auf diese als eine irgendwie für sich bestehende Geschichte, sondern zugleich auf das Glaubensgeschehen, durch das der Mensch dieser Erlösung teilhaftig wird."

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

189

rung der Eindrucksfülle gelangen könnte. Die Unmittelbarkeit eines subjektiven Vitalismus genügt der Gestaltungsanforderung einer leiblich - lebensweltlichen Lebensführung nicht. Gerade diese macht für Böhme aber das Wesen einer genuin theologischen Besinnung numinoser Eindrücke aus. Er diszipliniert und schult die menschliche Sensibilität an den biblischen Prototypen zum Verstehen spezifischer Sinngestalten im alltäglichen Lebensvollzug. An dieser Stelle der Darstellung der Inkarnationsmorphologie Jakob Böhmes soll der Verdacht des Synergismus ausgeräumt werden, der seiner theologischen Schriftstellerei bis heute immer wieder entgegengebracht wird. 33 Tatsächlich basiert dieser Verdacht auf nur oberflächlichen Textbeobachtungen. Böhme bietet nämlich eine leibliche Sensibilitätsschulung für das Sola gratia der Reformation an. Böhme klassifiziert den leiblichen Ausdruck des Beters aus Sprachnot, der allein im Vertrauen auf Gottes Gnade um eine neuerliche Gewinnung des aufrechten Standes in der Weite ringt. Er beschreibt eine Einstellung reiner Empfänglichkeit. Es geht um Ge-lassenheit im wahrsten Sinne des Wortes. Jede intentionale Anspannung ist aus dem Leib verbannt. Diese Rezeptivität bleibt lediglich insoweit spontan, als der affektiv betroffene Christenmensch hinsichtlich seines "Amen, ja ich will!" unvertretbar ist: 34

33

34

Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 70 ff.; Bornkamm, Luther und Böhme, S. 269 f.; A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 497. Als einziger, dafür aber völlig richtig dagegen E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 244. 249. Vgl. E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 242: "Die kann aber nur so geschehen, daß wir uns abkehren, unsern Willen 'abbrechen', von allem in uns und an uns, das am Irdischen hangt, von aller Selbheit, Eigensucht und begehrenden Lust, und uns hinkehren und eingeben in jenen verborgnen, nach Gott verlangenden und sich ihm darbietenden Willen. ... Mit diesem Willensentschluß ... erwächst... die wahre Gelassenheit, die eine völlige innre Freiheit von der Welt ist und den in diese gebundnen Menschen dem Tode überantwortet, anderseits das Atmen und Leben in Gott und seinem Willen ..., ohne alles für sich etwas Begehren, vollbringt." Vgl. auch ebd., S. 242 - 244. 249. Hirsch gelingt m. E. als einzigem Böhme - Forscher, die Geburt menschlicher Freiheit eindeutig in einem "Erlebnis = Erleidnis" im Sinne Leeses (s. o. 1.2.1.2.1.) zu fundieren. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Subjektivität, die dadurch nämlich pathisch, d. h. als affektives Betroffensein, gefaßt wird. Subjektivität erklärt sich auf diese Weise als die unverfügbare Anspruchsqualität unwillkürlicher Eindrücke, denen der im Raum der Lebenswelt situierte Mensch notwendig von außen her ausgesetzt ist. Die Subjektivität der Eindrücke setzt also voraus, daß der Mensch von der ihm in Raum und Zeit begegnenden Wirklichkeit so affiziert wird, daß er ihr nicht mehr selbstherrlich und willkürlich die Bedingungen ihres Daseins und Soseins vorschreiben kann. Darin unterscheidet sich Hirschs an Schleiermacher und Fichte geeichte Interpretation des wesentlich pathischen Subjektivitätsverständnisses bei Böhme von anderen, die auf der Annahme einer a priori immer schon bestehenden monadologischen Selbstherrlichkeit seelischer Willkürsetzungen basieren. Dort verdankt sich Subjektivität dem absoluten Willen und der absoluten Vernunft eines autarken Seelendings, das der von keiner äußeren Wirklichkeit und deren unwillkürlichen Affektionen eingeschränkte Autor seiner Welt ist. Der Mensch erscheint als "der kleine Gott der Welt" (Goethe), d. h. als Gott gleiches Machersubjekt. Diese aktionistische Fassung von Subjektivität schreibt Böhme dem Sündenfall des Homo faber zu.

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3. Inkamationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Eiert verfallt einer derartigen aktionistischen Verzeichnung innerseelisch immer schon im Willen vorhandener Subjektivität, wenn er, Böhme mißverstehend, als in der Darstellung inkonsequent kritisiert; vgl. ders., Die voluntaristische Mystik, S. 72: "Die gewonnene Einsicht, daß das erste Moment der neuen Geburt das Ersterben des alten Willens, eine Umkehr vom irdischen Willen, also jedenfalls ein Willenserlebnis ist, kann dadurch nicht verdunkelt werden, daß dieses erste Moment gelegentlich als Leiden hingestellt wird. Es handelt sich dabei immer um freiwilliges, also gewolltes Leiden, mindestens um einen Willensverzicht." Eiert will offenbar durch diese Bemerkung den Apriorismus seines aktionistischen Subjektivitätskonzeptes gegen den anderslautenden Textbefund bei Böhme, den Eiert ehrlich zugibt, krampfhaft aufrecht erhalten. Da bei Eiert der Glaube notwendig dem ewig falsch wollenden Subjektding von außen angeheftet werden muß, droht bei ihm das Ende jeglicher sinnvollen Fassung menschlicher Freiheit qua Autonomie, da der Mensch gerade zur Glaubensannahme künstlich auf ein unterpersönliches Niveau in kruder Heteronomie herabgesetzt wird, um jeden Synergismus a limine auszuschließen. Dagegen erhebt G. Ebeling, Vom Wesen des christlichen Glaubens, S. 136, zurecht Einspruch: "Will man von der Wirklichkeit des Glaubens reden, so muß die Person hinzu, die glaubt, weil sie von der Mitteilung des Glaubens getroffen ist. Es muß das Ich des Glaubens in Erscheinung treten. ... (D)as Ergreifen der Mitteilung des Glaubens ist die Weise, wie der Glaube geschieht. Der Glaube ist nur wirklich als ein den Menschen selbst betreffendes, an ihm und durch ihn sich vollziehendes Geschehen, dessen Subjekt der Mensch ist. ... Es glaubt nicht, sondern ich glaube." Der im Sinne Luthers aus der unverfügbaren Heilswirklichkeit Gottes heraus dem Menschen geschenkte Glaube basiert also strukturell auf der subjektiven Tatsache, nämlich auf dem Geistwirken des Christus praesens, das extra nos pro me gleichursprünglich auf die kontingente Selbstsetzung eines Subjektes im Sinne des französischen "sujet" (= loyaler Untertan) und seines "Amen, ja ich glaube!" zielt. Das Christusereignis ist als subjektive Tatsache strukturell immer ein Ereignis ad hominem, das gleichursprünglich mit seinem objektiven Geschehen ein autonomes Ich zum subjektiven Glauben freisetzen kann, aber nicht automatisch freisetzen muß. Das Ich empfängt die Glaubensfreiheit nur in seiner unverfügbar autonomen Unvertretbarkeit in einem kontingenten affektiven Betroffensein; vgl. ebd., S. 140- 148. Wertvolle Bestätigung erfahrt Ebelings Argumentation durch H. Schmitz' Lösung des Freiheitsproblems, wenn dieser Freiheit als Gesinnungsfreiheit bestimmt; vgl. ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 377. Er unterscheidet sie von der Willkürwahl eines innerseelisch auf einem hohen Niveau personaler Emanzipation gleichsam absolut eksistierenden Subjektdings (S. 380). Den Ausgangspunkt der logisch konsistenten Deduktion subjektiver Freiheit bildet stattdessen das affektive Betroffensein qua subjektiver Tatsache bzw. persönlichem Gemeintsein (S. 5 ff. 29 ff. 362 ff.). Somit ergibt sich Freiheit zirkelfrei als "spontane Rezeption" (S. 357). Diese ist die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Gesinnung (ebd.). "Spontane Rezeption" ist kontingente Stellungnahme im Sinne Rothackers, nicht aber ein vom unwillkürlichen Erleben der extra nos pro me gegebenen Wirklichkeit künstlich distanziertes "Überlegen und Wählen" qua Potentiell - auch - anders - Können (ebd.). "Spontane Rezeption" in diesem Sinne enthält die Komponente der "Selbstbewirkung" (S. 372 ff.), die der Theologe dann als Ebenbild göttlicher Autonomie und Kreativität auffaßt. Die "Selbstbewirkung" der "spontanen Rezeption" unterstreicht ihre wesentliche Kontingenz, d. h. affektives Betroffensein ist nicht machbar, nicht einmal für Gott. Ob ein Mensch ein Ereignis als subjektive Tatsache und nicht nur als objektives Historienfaktum empfindet, ob dem Extra nos ein gleichursprüngliches Pro me zuwächst bleibt von außen, von der Seite der Wirklichkeit, wie von innen, von der Seite leiblicher Empfindsamkeit, unverfügbar. Die Fassung von Subjektivität auf der Basis der "subjektiven Tatsachen" und der aus ihnen sich eröffnenden Möglichkeit der "Freiheit" als "unbeliebiger Selbstverstrickung" hat H. Schmitz in genauer Auseinandersetzung mit den berechtigten Anfragen der sprach-

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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"In diesen Tag, als in Abgrund ausser aller Menschen Vermögenheit oder Können ersincket sie als ein nichts mehr könnendes oder wollendes Kind, das aller Gnaden viel zu unwürdig sey, und sich ja müsse dem Gerichte ergeben: Aber mit solchem Einersencken übergiebet die Seele all ihr Können, Wollen und Vermögen, und wird ... wieder als ein neues Kind, ...". (Mm 60, 33 f.)

analytischen Philosophie noch einmal aktualisiert; vgl. H. Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, in: Lynkeus. Studien zur Neuen Phänomenologie. Hg. von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, Berlin 1997, S. 34 - 46. Im Anschluß an Ebeling und die Tradition des dialogischen Personalismus (in ethischer Hinsicht vgl. dazu F. Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena [4. & 5. Tausend] 1932, bes. S. 7 ff.) läßt sich "Selbstbewirkung" als Struktur der "spontanen Rezeption" mit der persönlichen Ansprache Gottes folgendermaßen zusammendenken: Der vom Wort Gottes persönlich angesprochene Mensch wird im Gehör der Anrede pathisch zum sich selbst verantwortenden Subjekt qua "sujet" (= loyaler Untertan) freigestellt. Urbild des Glaubens in diesem Sinne ist Maria mit ihrem sich selbst verantwortenden: "(M)ir geschehe, wie du gesagt hast." (Lk 1, 38) Vom "Engel Gabriel" zu ebener Erde in ihrer "Unvertretbarkeit" gestellt, glaubt sie in "spontaner Rezeptivität", d. h. auf das Pro me des Extra nos hin in der kontingenten und autonomen "Unvertretbarkeit" subjektiver "Gesinnungsfreiheit"; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, § 142 - 144. 148. 494. 2617. Das, und nichts anderes, steht im Hintergrund von Böhmes Wiedergeburtserlebnis. Alle diesbezüglichen Überlegungen stehen in der nachkantischen Geschichte der Subjektivitätstheorie im Gefolge der Entdeckung Fichtes und deren Entfaltung bei Schleiermacher. Subjektivität und kontingente Wirklichkeitserfahrung stehen seit Fichte und Schleiermacher in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis im Unterschied zur von Kant postulierten einseitigen Erfahrungs- und Wirklichkeitskonstruktion auf Seiten eines a priori vorhandenen Selbstbewußtseins; vgl. E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. 259: "Die Stelle, an der das Defizit dieser Kantischen Fassung des Erfahrungsbegriffs auftritt, hat zuerst Fichte identifiziert: Kant hat zwar im Unterschied zu allen vergangenen Theoretikern der Erfahrung erkannt, daß es zur Konstitution von Erfahrung nur im Medium von Selbstbewußtsein kommen kann; zugleich aber noch verkannt, daß Selbstbewußtsein erstens nicht nur als Resultat von Reflexionsakten in Betracht kommen kann, sondern zuvor schon als deren Möglichkeitsbedingung gedacht werden muß; ferner, daß es als diese Möglichkeitsbedingung der Reflexionstätigkeit nicht durch diese Tätigkeit, sondern nur für sie, und das heißt: passiv, konstituiert sein kann; und drittens, daß es als dieses unmittelbare Selbstbewußtsein die Gestalt des Selbstgefühls hat, das alle Reflexionsakte ermöglicht und begleitet." Vgl. auch ebd., S. 264 sowie S. VII - IX. X V - XIX. XXIII f. Einzig unglücklich scheint mir die Wortwahl "passiv" statt "pathisch" oder "affektiv". Auf die von Schmitz bereits eingehend markierte Problematik, subjektive Freiheit zirkelfrei einzuführen, weist auch I. U. Dalferth hin; vgl. ders., Subjektivität und Glaube. Zur Problematik der theologischen Verwendung einer philosophischen Kategorie, in: NZSTh 36, 1994, S. 18 - 58. Die Traditionslinie Fichte - Schleiermacher - Cramer - Henrich Frank - Ebeling - Herms wird hervorragend argumentativ nachgezeichnet. Wenig zweckdienlich ist allerdings Dalferths sprachanalytische Dekonstruktion von Subjektivität überhaupt. Die Eliminierung von Subjektivität und Freiheit führt Dalferth prompt in die gleichen Aporien eines kruden Rechtfertigungsobjektivismus wie bei Eiert. Dieser wird jedoch schon von Jakob Böhme ad absurdum geführt. An einer sorgfältigen Fassung christlicher Subjektivitätsphilosophie und -Phänomenologie führt also offenbar doch kein Weg vorbei.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

"Dann es heisset nicht die Gnade können nehmen, sondern sich in die Gnade ersencken, daß sich ihme die Gnade ergebe: dann des Menschen können Nehmen ist verloren, der eigene Wille ist von GOtt abgetrant, er muß sich gäntzlich in GOtt ersencken und vom Willen ablassen, daß ihn GOtt wieder in seine Gnade nimt." (Mm 69, 18 = 24, 15; wB 144 f.; wB Π 13; wGl 1, 1 - 4. 23 f.; 2, 50; üL 11; Bsch 1, 36; Ti Π 102 ff.) Der Mensch erfährt sich in diesem Moment als tot (vgl. Ti I Vorr., 22; üL 29 f.). Im Alltagsleben und in der Bibel ist solch ein vollständiges Dahinfahrenlassen des eigenen Lebenswillens präformiert. Der Mensch öffnet sich im kindlichen Weinen vorbehaltlos zur Weite hin. Er läßt sowohl die leibliche Enge aus Todesangst, Scham und Ekel hinter sich, als auch die Verspannungen seines bisherigen Entwurfs als kühl berechnender Homo faber. Es ereignet sich die beschriebene Einstellung reiner Empfänglichkeit in synästhetisch - leiblicher Vollpräsenz, nachdem der Tränenstrom alle willkürlichen Vorbehalte weggeschwemmt hat (Mm 70, 55 f. zum Weinen Josephs als Prototyp der passiv - pathischen Restitutio in Christo).35 Am zentralen Wendepunkt wird mithin deutlich, daß Böhmes szenographisch typisierende Phänomenologie seines eigenen religiösen Durchbruchserlebnisses eine Übersetzung der reformatorischen Rechtfertigungslehre in eine Sensibilitätsschulung beinhaltet, u. z. so, daß alle reformatorischen Einsichten ungeschmälert zur Darstellung kommen. Von Synergismus kann bei Böhme damit m. E. endgültig keine Rede mehr sein. 36

3.1.4. Die Wiedererlangung des himmelwärtigen Standes im Auferstehungsleben Die Lebenswelt des Christenmenschen erhält im subjektiven Sicheinlassen auf die augenblicksgöttliche Zornesmacht, die Böhme als Todesangst, Beschämung, Ekel und Ringen um Begnadigung beschreibt, eine neue atmosphärische Bestimmtheit von Liebe und Freude. Das bewußte Eintauchen in diese Atmosphäre der Liebe artikuliert sich vor Ort des Leibes als Erleichterung, Lévitation, von innen gegen die Enge anschwellendes Triumphgefühl: "Was aber für ein Triumphiren im Geiste gewesen, kan ich nicht schreiben oder reden: Es läst sich auch mit nichts vergleichen als nur mit deme, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich der Auferstehung von den Todten." (Mr 19, 12) Die dadurch mögliche Aufrichtung aus dem Kreaturgefühl steht und fällt mit der leiblichen Orientierung an der biblisch offenbaren Lebensgestalt Jesu 35 36

Zum Weinen als Ausdruck personaler Regression vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 159. Zum gleichen Resultat kommt bereits E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 39 f.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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Christi und deren himmelwärtigen Richtungssinn. Böhme rekurriert auf die Auferstehung Jesu "am dritten Tage". Deren Prototyp findet sich am dritten Schöpfungstage im Ausgrünen des Grases aus der schwarzen Erde als dem Todessymbol: "... Denn bis an dritten Tag von der Zeit der Anzündung des Zorns GOttes in dieser Welt ist die Natur in der Ängstlichkeit ein finster Thal gewesen, und im Tode gestanden; am dritten Tage aber ist das Leben durch den Tod gebrochen, und hat sich die neue Geburt angefangen. Denn also lang, und keine Stunde länger, hat auch der neugeborne König und Groß = Fürst dieser Welt, JEsus Christus in dem Tode geruhet, und hat die ersten drey Tage der Schöpfung der Natur, und dieselbe Zeit im Tode wieder zum Licht geboren, auf daß diese Zeit mit der Ewigen Zeit wieder eine Zeit, und kein Tag des Todes zwischen ihnen sey: ...". (Mr 24, 41 f.) Es wird deutlich, daß Böhme die Lehre von der leibhaftigen Auferstehung nicht in die lebensferne Distanz einer nachzeitlichen Zukunft projiziert, sondern in einer eschatologischen Gegenwart biblischer Provenienz beläßt (vgl. zur präsentischen Eschatologie Böhmes unten 5.5. und 5.6.). Die leibhaft empfundene Lévitation des Christenmenschen versichert ihn des Ein- für Allemals des Osterjubels, in dessen biblisch präformierte Geborgenheit er sich hic et nunc hineinstellt: "Und wo wolte die Seele des Menschen dann gern seyn, als bey ihrem Könige und Erlöser JEsu Christo?... Und wo könte doch grössere Freude seyn als an dem Orte, wo alle Stunden schöne liebe neugeborne Kinder ... zu Christo kommen die durch den Tod sind ins Leben gedrungen? ... Und wo möchte doch grössere Freude seyn, als wo mitten im Tode ohn unterlaß immer das Leben geboren wird? Bringt doch eine iede Seele einen neuen Triumph mit sich, und ist nichts dann ein eitel freundlich Beneveniren und Willkommen. Dencke, wenn die Seelen der Kinder zu den Eltern kommen, die sie in ihrem Leibe geboren haben, ob aida nicht möchte Himmel seyn?" (Mr 19,51-53) Böhme sensibilisiert seine Leser für die himmlische Atmosphäre liebevoller Geborgenheit, indem er die alltägliche Erfahrung einer ausgelassenen Festatmosphäre abruft, etwa wenn, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ein lange nicht gesehener Gast freudig empfangen wird: "Gleich als wenn einem in dieser Welt ein Blut = Freund und lieber Mensch aus einem andern Lande heim kommt, nach dem er ein hertzlich Verlangen hat gehabt, da ist Freude und ein freundlich Beneveniren und Willkommen und ein Liebe = Gespräch, und es erzeiget der Wirth dem Gast das allerbeste; wiewol dis nur kalt Wasser ist gegen dem himmlischen." (Mr 12, 59) In Bezug auf das Freudenfest Josephs für Benjamin und seine übrigen Brüder charakterisiert Böhme die himmlische Hospitalität sogar als ausgelassenes Gelage, zu dessen allgemeiner Beschwingtheit der Weingeist beiträgt (vgl. Gen 43, 44): "... Sie truncken und wurden alle truncken, deutet an, daß im Reiche Christi eine allgemeine Niessung und Freude ist, ... Denn ihre Trunckenheit deutet alhie die ewige Freude an, da wir in solcher Kraft gleichwie truncken seyn werden; so wird der

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

innere Mensch aus der süssen Gnade (welche in Christi fünf Wunden ist offenbar worden) trincken und essen; und ... in dieser Süßigkeit den Triumph der Göttlichen Freudenreich erwecken,...". (Mm 70, 95) Dementsprechend äußert sich die Auferstehungsfreude auch als erleichtertes Auflachen. Böhme mißt dem Lachen insofern eine theologische Relevanz zu, als es manifestiert, daß der Homo faber in einer Atmosphäre des Gotteszorns den Sturz aus allen metaphysischen Gewißheiten sowie aus der Indifferenz des reinen Dahinlebens als einzigartige Gelegenheit zum neuerlichen Aufschwung in die Rolle des Christenmenschen wahrgenommen hat: "..., dann im Lichte hat die Angst keine Gewalt, sondern sie wird in die Erhebung der Freudenreich transmutiret, und wird der Freuden Ursache, sonst wäre keine Freude, dann die Sanftmuth ist alleine stille; aber die Qual der Angst machet sie erhebende als ein Lachen: ...". (Sg 8, 8) Diese von der Atmosphäre himmlischer Freude gekennzeichnete Situation des Christenmenschen, die ihn aus der Kauerstellung erhebt und mit einem neuerlichen Stehvermögen ausstattet, so daß er von seiner Empfindung her als ein wertgeschätzter Gast an einem ausgelassenen Convivium teilnehmen kann, verdankt sich der biblisch offenbaren Lebensgestalt Jesu Christi. Dessen prototypische Lebensrelevanz besteht ja gerade darin, "daß GOtt den gantzen Proceß habe vorgestellet, wie Er den rechten Menschen, den er schuf, wolte wieder neu gebären" (Mm 42, 34 f.). Der freudigen Atmosphäre korreliert ein leibliches Festgewand, durch das der in seiner ekelhaft banalen Nacktheit beschämte Körper eine vitale Ausdruckskraft zurückgewinnt, da er mit einer Sinngestalt investiert ist, die über sein ephemeres Vorhandensein weit hinausgeht: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, das ist, du giebest mir denn die verheissene Gnade aus dem Tode Christi in seiner Überwindung, daß ich meinen Heiland Christum anziehe, daß Er mein und ich sein sey; ...". (Mm 60, 35) Böhme spricht auch davon, man müsse sich mit dem "Leiden und Tod Christi ... umwickeln" (wGl 2, 29). So entstünde ein neuer Mensch, "welcher die Kindschaft hat angezogen" (wGl 2, 45). Böhme zielt also auf einen neuen Habitus (dazu vgl. genauer unten 5.1. und 5.2.) des Menschen, mit dem seine Stellung vor Gott steht und fällt. "Er muß Christi Bild ähnlich werden" (Mm 71, 7), "bis Christus eine Gestalt in dieser neuen Menschwerdung bekommt" (wGl 2, 46 = Gal 4, 19). Die hier als Investitur inszenierte Christomorphose ist ein Produkt der reinen Empfänglichkeit (s. o. 3.1.3.). Der Mensch erhält durch den augenblicksgöttlichen Zorneinbruch die Gelegenheit, sich auf die biblische Prototypik zu besinnen und von ihr angeleitet das Leben völlig neu einzurichten, so daß es nun nicht mehr durch die Indifferenz reinen Dahinlebens in der körperlichen Dingwelt auf- bzw. untergeht. "(D)ann nicht der irdische Wille in Sünden und GOttes Zorne soll GOtt schauen, sondern Christus der ins Fleisch kam; die Seele muß Christi Geist und Fleisch anziehen." (wGl 2, 35) Die Textilmetaphorik weist darauf hin, daß die Atmosphäre himmlischer Freude hochgradig

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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normativ aufgeladen ist: "... Also gar muß ein neues Gemüthe werden, als in einem Kinde, das von Sünden nichts weiß.... Es muß ein gantz neuer Wille aus Christi Tod aufstehen, ja aus Christi Eingehung in die Menschheit, muß er ausgeboren werden, und in Christi Auferstehung aufstehen." (wGl 2, 34) Die Erfüllung des in der Prototypik Jesu Christi personifizierten Normenhorizonts ist jedoch immer schon biblisch präformiert. Der Christenmensch wird zu seinem Ausdruckshandeln förmlich mitgerissen. Die neue Leib- und Weltbeherrschung ist ein integraler Bestandteil der christomorphen Lebenswirklichkeit, die sich dem Christenmenschen spontan aus der Schrift eröffnet hat. Seine dementsprechende Rolle muß er also nicht erst als etwas ihm eigentlich Fremdes einstudieren. Die soteriologische Lebensrelevanz des Christus praesens zeichnet sich für Böhme im unmittelbaren Anschluß an die paulinische Rechtfertigungslehre ja gerade dadurch aus, daß "in demselben Leibe ... das rechte Wollen und Thun, auch das Vollbringen" (Ti I 71; vgl. Phil 2, 13) eo ipso angelegt ist. Christi Menschwerdung wiederholt sich leibhaft im Moment der Aufrichtung des Christenmenschen zu einem autonomen Leben in ebenbildlicher Darstellungsrelation (vgl. Ti I 70). Auf diese Weise eröffnet sich dem Christenmenschen die Möglichkeit, tatkräftig sein Glaubensleben zu führen und als Konkreator seine jeweilige Lebenswelt christomorph (bzw. theonom) zu gestalten: "Weil du aber nun deine Vernunft hast, und bist... zu ... GOttes Ebenbilde ... geschaffen, und weist, wie du kanst ... mit dem Wort GOttes inqualiren; so kanst du ... mit deiner Seelen mit lebendigem Leibe in dieser todten Begreiflichkeit mit GOtt im Himmel herrschen." (Mr 21, 43) Die enkratitische 37 Leib- und Weltbemeisterung einer himmelwärtigen Lebensausrichtung soll verhindern, daß der Christenmensch sich wieder durch indifferentes Dahinleben als Homo faber an die körperliche Dingwelt verliert. Statt körperlicher Sinnkonstrukte soll er vielmehr die biblische Prototypik vital reinszenieren. Daraus resultiert für Böhme ein wesentlich angstfreies und insofern stabileres Stehvermögen, als der Homo faber an Selbstbehauptung jemals erreichen konnte. Böhmes Sensibilitätsschulung am Exempel seines eigenen Bekehrungserlebnisses hat nichts weniger im Sinn als einen frommen Quietismus, der sich etwa nur noch dem transgeschichtlichen Genuß einer "unerträgliche(n) Leichtigkeit des Seins" (M. Kundera) vor Ort einer erotisch aufgeladenen Seelenmystik widmen wollte. 38 Das Glaubensleben inkarniert sich immer in konkreter Ausdruckswirklichkeit (dazu vgl. genauer unten 6.), zu deren freier Entfaltung allerdings eine Überwindung ängstlicher Erstarrung (vgl. Mm 44, 25 f.) unumgänglich ist. Das Symbol schreckhafter Erstarrung in der lebens- und

37 38

Vgl. W. Grundmann, Art.: " ε γ κ ρ α τ ε ι α ( α κ ρ α σ ι α ) , ε γ κ ρ α τ ή ς (ακρατής), εγκρατευομαν", in: ThWNT. Bd. Π, Δ - H, Stuttgart 1950 = 1935, S. 338 - 340. Vgl. W. Eiert, Die volunaristische Mystik, S. 94: Keine "quietistische Gefühlsgymnastik" bei Böhme!

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

leibfeindlichen Materie bildet die "Saltz - Seule", zu der Lots Frau im Rückblick auf Sodom erstarrte (vgl. Mm 44, 28 - 34). 39

3.1.5. Anhang: Die szenographische Überbietung der humoralpathologischen Temperamentenlehre 40 Das viergliedrige Wiedergeburtserlebnis (3.1.1. - 3.1.4.) wird von Böhme später dahingehend angewandt, daß die menschliche Seele nicht nur leibhaftig von der im Schreck offenbaren Bedeutungslosigkeit der rein körperlichen Existenz des Homo faber befreit wird, sondern auch ihre charakteristische Gemütsgestimmtheit bzw. ihre typische leibliche Disposition 41 zugunsten christlicher Freude überwindet: "Jetzt verstehen wir, warum ein solcher Unterscheid der Menschen im Willen und Thun ist. ... Wendet sich die Seele aus ihrer Complexion in GOttes Liebe = Feuer in himmlische Wesenheit, welche Christi Leiblichkeit ... ist, so isset sie von Christi Fleische ... als seine ewige Wesenheit von der Sanftmuth, vom Lichte der Majestätä ...; davon bekommt die Seele Göttlichen Willen, und führet den Leib im Zwange, zu thun was er nicht gferne will, nach seiner eigenen Gestalt und Geiste dieser Welt; in deme muß die Complexion nicht in der Seele regieren, sondern stehet nur im Wesen des Fleisches, und führet das fleischliche Regiment, den äussern Leib betreffend; der Mensch fraget nach GOttes Wort, und hat immer stetes Verlangen nach GOtt..., wird aber von der Complexion verdeckt und verhindert, daß ein steter Streit in ihm bleibet. Die Seele streitet wieder die Complexion, denn sie sind ietzt an Einem Bande: die Complexion streitet wieder die Seele, sie will immer gern ins Seelen = Feuer, und sich anzünden, daß sie recht lebe: Denn wenn die Seele von GOttes Wort isset, so ist die Complexion nach dem äussern Leben wie ohnmächtig und als gefangen, da sie doch in sich lebet. Die Seele aber ist so getreu ..., führet oft (wenn sie von GOttes Liebe = Wesen isset) einen Triumph und Göttlichen Schmack in die Complexion, davon sie zitternde und hoch freudenreich wird, und den gantzen Leib aufwecket, als wäre nun das Paradies verbanden, hat aber nicht immer Bestand,...". (Tsch 17 - 19) Böhme greift mit "Complexion" auf die humoralpathologische Temperamentenlehre zurück. 42 Der Mensch steht je nach astrologischer Konstellation unter dem dominanten Einfluß eines seiner vier elementaren Körpersäfte. Je 39 40 41 42

Vgl. auch E. Metzke, Von Steinen und Erde, S. 137. 139 f. 154 ff. Eine ähnlich "semiotische" Überbietung der grobstofflichen humoralpathologischen Analogien findet sich schon bei Paracelsus; vgl. H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 186 f. Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 127 ff. Vgl. auch E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 160 ff., bes. S. 173 - 260. 344 ff. 370 ff. Vgl. ebd., S. 22 f. Anm. 6. S. 130.

3.1. Typisierende Phänomenologie: Szenographie von Böhmes Wiedergeburt

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nachdem welche "Complexion" von der Seele Besitz ergreift und deren vitale "Imagination" zur leibhaftigen Ausdrucksgestaltung in sich konzentriert, entwickelt sich der Lebensstil nach Maßgabe des als "Complexion" jeweils dominanten Temperaments. Der Lebensstil ist also entweder "(1) Cholerisch, (2) Sanguinisch, (3) Phlegmatisch" oder "(4) Melancholisch" (Tsch 2): "(1) Cholerisch ist des Feuers Natur und Eigenschaft, giebet starcken Muth, jähen Zorn, Auffsteigen der Hoffart, Eigensinnigkeit, nach niemand fragen. Diese Gestalt scheinet nach der äussern in einem Feuer = Lichte; sie arbeitet nach der Sonnen Gewalt, und will immer gern Herr seyn. (2) Sanguinisch nach der Luft, ist subtil, freiundlich, fröhlich, doch nicht starcken Muths, ist wandelbar, wird leicht bewegt von einem zum andern, empfähet natürlich des Gestirns Eigenschaft und Witz in ihrer essentz, ist züchtig und rein, und führet große Heimlichkeit in ihrer Wissene. (3) Phlegmatisch ist nach des Wassers Natur und Eigenschaft, fleischlich, grob und weich, weibisches Willens, mässiges Begriffs, hält aber feste, was sie in sich bekommt: Kunst muß in sie durch Schall und Lehren gebracht werden, sie erfindet niocht aus ihrer Wurtzel: Sie lässet alles gut seyn, machet ihr nicht Schwermuth, hat einen Glantz vom Lichte, nicht traurig noch hoch frölich, sondern alles leicht und gemein. (4) Melancholisch, der Erden Natur und Eigenschaft, wie die Erde kalt, erstarret, finster, traurig und hungerig des Lichtes, immer furchtsam vor GOttes Zorn." (Tsch 3 - 6) Böhme rechnet sich selbst der melancholischen Complexion zu. 43 Sie wird am ausführlichsten geschildert und zeigt sein ängstliches Ringen mit dem "Schwartz = Hans" (Tsch 45), der ihn immer wieder an seinem göttlichen Heilsstand verzagen läßt und als Inkarnation der leibhaftigen Versuchung immer wieder davon abhält, zu treiben, was Gottes Willens ist: 44 "In keiner Complexion wird des Teufels Wille sehrer offenbar ... als in der Melancholischen, wie die Angefochtenen wol wissen, wenn sie ihme sein Raub = Schloß zersprengen; sie erkennen in der Complexion in der Natur bald, was er für ein garstiger, unverschämter Vogel ist: Er nahet ihnen hernach nicht gern, er sehe dann, daß die Seele sicher sey, und ins Sünden = Haus zu Gaste gehe, da kommt er als ein freundlicher Hund, daß ihn die Seele nicht kenne, streuet Zucker darauf, misset der Seele Frömmigkeit zu, bis er wieder in die Complexion einführen könne, daß sie Trauer = Speise esse." (Tsch 37) Die Complexionen wirken als individuelle Lebensstile v. a. auf die Eigenart zu sündigen. Die vier Complexionen sind also primär der rein körperlichen Existenz des Homo faber zuzuordnen, da sie im christenmenschlichen Lebensvollzug relativiert werden. Jedoch auch dort bleiben sie noch verhaltensbe43 44

Vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 23 - 25; Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 394 - 409. Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XII/ S. 74.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

stimmend als jeweils spezifische Unsicherheit im leibhaftigen Ausdruck der Glaubens- und Heilsgewißheit. Der Melancholiker Böhme sieht sich zuweilen, besonders aber unter dem verstärkend hinzukommenden Einfluß bestimmter Gestirnkonstellationen, auf die er als Christenmensch eigentlich gar keinen Wert zu legen brauchte, schier gelähmt vor Angst, so daß er nicht zum befreienden Wiedergeburtserlebnis kommt, sondern im Gottesschrecken verharrt (vgl. Tsch 67 = 91 f.). Die Bekehrung aus dem "Kleinmuth" (Tsch 76) oder "Schwermuth" (Tsch 33) der melancholischen, genau wie aus dem Hochmut der cholerischen Complexion (Tsch 23), aus dem fröhlichen Wankelmut der sanguinischen (Tsch 26) und aus dem Stumpfsinn der phlegmatischen Complexion (Tsch 29) geschieht hier, wie oben unter 3.1.3., in der demütigen Einstellung reiner Empfänglichkeit gemäß der Prototypik des verlorenen Sohns aus Lk 15: "Der verlorene Sohn ist der arme sündige Mensch: wenn er sich erkennet, daß er ein grosser Sünder ist gewesen, und gedencket umzukehren zu GOttes Barmhertzigkeit, so entgegnet ihm also unser lieber Vater in Christo, nimt ihn also mit grossen Freuden wieder an, und die Engel und H. Seelen im Himmel erfreuen sich also sehr, daß abermal eine Liebe Seele, ein Lieber Bruder, aus dem Sündenhause, aus dem Tode, ist zu ihnen kommen." (Tsch 77)

Diesen Trost von Wiedergeburt und Bekehrung des Lebenswandels aus dem Einflußbereich der Complexionen als leiblicher Dispositionen zur das Leibesleben neu gestaltenden atmosphärischen Ergriffenheit im Erfahrungsraum des Christus praesens vermitteln der Seele nicht "mancherley Schriften", sondern einzig "die Schrift", "bey der" sie "einfältig ... bleiben" soll (Tsch 93). Jede Complexion als humoralpathologischer Charaktertyp erfährt aus der ihr entsprechenden Schrifttypik, wie sie ihre christliche Lebenspraxis auf ihren persönlich - individuellen Stil zu sündigen einstellen kann (vgl. Tsch 96 ff. für den Melancholiker; Tsch 104 ff. für den Choleriker; Tsch 110 ff. für den Sanguiniker; Tsch 116 ff. für den Phlegmatiker). Ebenso werden durch die Schrifttypik auch "die bösen Affecten vom Gestirn gebrochen und im Zaum gehalten" (Tsch 120), d. h.: Die individuelle Wahrnehmung des Gefühlsraumes, die durch bestimmte verstärkende Gestirnkonstellationen die Seele besonders chaotisch verunsichern kann, wird nun trotz spezifischer leiblicher Dispositionen, Neigungen und Empfänglichkeiten mühelos von der Seele beherrscht, so daß sie an der freien Entfaltung ihrer christlichen Leibesgestalt nicht mehr gehindert werden kann. Daran wird deutlich, daß Böhmes hier gemachte Anleihe bei der typisierenden Phänomenologie der pansophischen Tradition letzten Endes zugunsten der biblischen Prototypik überwunden und abgelöst werden soll. Die Christusgestalt vermag jede leibliche Disposition zur Lebensbemeisterung in sich aufzunehmen und in ihrem Sinne umzugestalten. Der Christenmensch soll sich daher nicht mit beliebigen Morphologien aufhalten, sondern seine leibhaftigen Selbstverstehensprozsse im typologischen Gegenüberverhältnis zur biblischen

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Morphologie durchführen. Nur diese ist selbst prototypisch, da die Typen des Alten Testaments ihrerseits in antitypischer Überbietung im Neuen Testament definitiv bewährt worden sind (vgl. oben 1.3.2.1.)

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung für die szenographische Gestaltungskraft des Christus praesens Die spezifische Lebensrelevanz des jemeinen Christus - Glaubens ist im voraufgehenden Abschnitt anhand der exemplarischen Dramaturgie des Wiedergeburtserlebnisses Jakob Böhmes in einer viergliedrigen Szenenfolge dargestellt worden (3.1.1. - 3.1.4.). Böhme versucht auf diese Weise aufzuzeigen, "wie Adam ein Christ werde, wie er müsse im Proceß Christi, in Christi Figur gestellet werden, und ein Bild Christi werden, und wie ihn GOtt in Christi Proceß im Reiche Christi wieder erhöhet und zur Rechten GOttes setzet, ... nachdem er in Christi Proceß gestanden, und hindurch geführet ward." (Mm 64, 61) Im Rahmen der individuellen Heilsvergewisserung bedient er sich der sprachlichen Ausdrucksmittel biblischer Typologien zur expressiven szenographischen Nachzeichnung eines augenblicksgöttlichen Zorneindrucks, der als Todesangst, Scham und Ekel ihn leibhaftig ergriffen und zu Boden geworfen hat. Die Gleichnisse vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18, 9 - 14) und vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11 - 32) stehen dabei im Mittelpukt der situationsdramatischen Inszenierung des Durchbruchserlebnisses zu einem erneuerten himmelwärtigen Stehvermögen, durch das die Lebensführung des Christenmenschen den himmelwärtigen Richtungssinn seiner "ano-thropischen" am leibhaftigen Ausdruckshandeln zur Sprache bringt. 45 In diesem zweiten Abschnitt wird nun untersucht, inwieweit Böhme die schmale autobiographische Basis seiner Textform "Memorial" so verbreitert, daß die allgemeine soteriologische Lebensbedeutsamkeit des Christus praesens direkt an der Szenographie biblischer Typologien abgelesen werden kann. Die spezifische Veranlassung im ureigenen Erleben Jakob Böhmes soll nun so zurücktreten, daß prinzipiell jeder Christenmensch aufgrund eines ähnlichen augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs in die Indifferenz reinen Dahinlebens Jakob Böhmes exemplarisch vorgeführte biblisch - typologische und szenographische Besinnungsleistung vor Ort des individuellen Leibeslebens zu wiederholen bzw. auf sich selbst anzuwenden in der Lage ist. Dieser Abschnitt zielt daher auf die szenographische Rekonstruktion der grundsätzlich allgegenwärtigen Situationsdramatik des Christus praesens aus der biblisch offenbaren Prototypik. Diese Perspektivierung versteht sich als eine Sensibilitätsschulung 45

Zur Lebensbedeutsamkeit des himmelwärtigen Stehvermögens des Menschen qua "ανωτ ρ ο π ο ς = άνθρωπος" bei Herder vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 13 ff.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

für diejenigen Leser, die nicht unbedingt über ein in einer derart dramatischen Auseinandersetzung mit der Bibel gewonnenes Wiedergeburtserlebnis verfügen, da sie es aus dem chaotisch - mannigfaltigen Fluß der Lebenseindrücke nicht eigens herauszupräparieren vermögen. Diese Leser sollen für die erlebniskonstitutive Potenz des Christus praesens so sensibilisiert werden, daß ein Wiedergeburtserlebnis ebenso ermöglicht wird wie dessen kongeniale Beschreibung. Die Sensibilitätsschulung greift dabei auch auf die biblisch präformierte Bildlogik und Ausdruckskraft des sakramentalen Brauchtums zurück. 46 Obwohl primär der Christus praesens im Mittelpunkt steht, wird auch hier durch die theologische Besinnung "ein Bilde Göttlicher Beschaulichkeit nach Bös und Gut, gleich einem gemahlten Leben" (Mm 36, 11) gezeichnet. Nur ein leiblich - lebensweltlich "eingemodeltes Bilde von der Gnade" (t I 2, 25 = t II 2, 15) sorgt bei Böhme für die unhintergehbare Lebensbedeutsamkeit der Soteriologie. Sie muß sich im Bereich der sinnlich ausdifferenzierten Gefühlswelt ad hominem bewähren lassen: "Christus vergiesset auch sein himmlisches Blut in meiner Glaubens = Begierde in meiner armen Seelen, und tingiret den Zorn GOttes darinnen, auf daß das erste Adamische Bild GOttes wieder erblicket, und sehende, hörende, fühlende, schmeckende und riechende wird." (ep 4'6, 16) "(I)n den 5 irdischen Sinnen" schlägt sich also die "gewaltig(e) Errettung" nieder, "ehe diese Welt aufhöret". Der so verstandene Christus praesens "errettet und speiset" in synästhetischer Vollpräsenz "die arme Seele" (vgl. Mm 72, 14). Das Glaubensleben der christenmenschlichen "Seele" muß sich zum Erweis seiner Wirksamkeit sogar derartig somatisieren lassen, "daß sich ihr Glaube also in die Figur Christi bildete, daß ihr Willen = Geist in Christi Figur und Bilde stund, daß ihr Glaube möchte in derselben eingeleibten Gnade wire ken: Dann ohne Wesen geschieht keine Wirckung." (t II 2, 14) Diese Übersetzungsleistung ist nun deshalb keine heteronome Zumutung, da der prototypische Charakter der evangelischen Lebensgeschichte Jesu Christi aufgrund eines ihm eigenen inkarnatorischen Gefälles auch prinzipiell von jedem Christenmenschen in leibhaftiger Mimesis verlebendigt werden kann (vgl. oben 1.3.1. und 1.3.2.2.). "Und ist uns die Geburt und Menschwerdung Christi ein kräftig Wesen" (Mw 19, 11), u. z. im Modus der leiblich - situativen Ergriffenheit: "... Das ist das ausgegossene Wort der wesentlichen Göttlichen Liebe, welches sich mit unserer Seelen vermählet und verleibet, wie das gantze neue Testament also lehret, wie geschrieben stehet: Prüfet, ob Christus

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In der gegenwärtigen Religionspädagogik gibt es ein ähnliches Projekt einer Propädeutik zum Erwerb religiöser Ein- wie Ausdruckskompetenz; vgl. H. Halbfas, Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf [10. Auflage] 1990. Halbfas geht wie Böhme nicht im Sinne eines belehrenden Traktats vor, sondern bedient sich der rhetorisch - literarischen Suggestionskraft der Sokratik, d. h. des prototypischen Lehrer - Schüler - Dialogs. Zur Sokratik vgl. K. Fror, Art.: "Sokratik", in: RGG [3. Auflage] Bd. 6: Sh - Z, Tübingen 1962, Sp. 128 f. ; bei Böhme die Schriften üL und hds.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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eine Gestalt in euch habe gewonnen; Gal 4: 19. Soll Christus eine Gestalt in uns gewinnen, so muß er nicht abwesend seyn;...". (ApR 42) Der Christus praesens weist für Böhme die gleichen Konnotationen auf wie Paul Tillichs "Realbild" (vgl. oben 1.3.1.). Es geht Böhme wie Tillich im Bereich der Soteriologie um das die menschliche Sensibilität ansprechende Nachbuchstabieren der Formkraft Jesu Christi für die jemeine Lebensgestalt, die sich insofern in einem "Neuen Sein" zeigt, als das indifferente Dahinleben des Homo faber unter den Sinnsubstituten der körperlichen Dingwelt eine viable Alternative zur Erlangung eines leibhaftigen Lebenssinns dargeboten bekommt. Nach der existenziellen Störung dieser Indifferenz im "ontologischen Schock" verheißt die gegenwärtige, leiblich - situative Inkarnation des Christus praesens einen real angstfreien Lebensraum: "GOtt ist Mensch worden, und will uns haben;... darum ist es gut, alhie in diesem Leben auswachsen. Christus ist unser Acker worden, wir könnens ohne gar ängstliche Noth erreichen." (Mw II 9, 2) Die Frage nach einer Situationsdramatik des Christus praesens, aus der es hier eine Sensibilitätsschulung für die formative, lebensgestaltende Kraft der biblischen Erlösergestalt zu konstruieren gilt, basiert fundamental auf der Inkarnationsfigur. Sie wird in dieser Station des Gedankengangs vollends aus metaphysischen Spekulationen hinsichtlich einer einzigartigen gottmenschlichen Erlöserperson jenseits der Glaubensgegenwart des Christenmenschen herausgelöst und zur lebenstheologischen Zentralfigur (s. o. 1.3.1.): "Darum ward GOtt Mensch, daß Er uns seine Gottheit mit der Menschheit einflössete, daß wir Ihn möchten fassen; Auch daß sich die Göttliche Imagination möchte in Menschen einführen und erwecken, und die menschliche mitwirckete, so nahm Er Menschheit an, auf daß Er mit der Gottheit durch die Menschheit in uns wirckete." (t II 2, 37 = Mw 14, 6) Zur Explikation der soteriologischen Wirkmächtigkeit der Inkarnation verzichtet Böhme sowohl auf Substanzontologie, als auch auf die exklusive Einmaligkeit historischer Faktizität, die er prinzipiell nicht im mindesten bezweifelt, die ihm aber zur Präsentation gegenwärtiger Lebensbedeutsamkeit denkbar ungeeignet erscheint (s. o. 2.2.). Anstelle eines kognitiven Distanzierungsgestus geht es bei der biblischen Prototypik des Lebensbildes Jesu Christi um affektives Betroffensein, das zum mimetischen Miterleben anregt und den Christusglauben zur subjektiven Tatsache macht, so daß der bei seiner schlechthinnigen Unvertretbarkeit behaftete Christenmensch sein Leben bewußt christomorph einzurichten beginnt. Die Inkarnationsfigur begreift deshalb auch das gesamte Lebensbild Christi in allen seinen Zügen unter sich: "So stehet nun dem Weisen, der da suchen will, zu, daß er den gantzen Proceß mit der Menschheit Christi, von seiner Eröffnung in dem Leibe seiner Mutter Mariä, bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt, betrachte, so wird er wol das Pfingst= Fest finden mit dem freudenreichem Geiste, damit er mag tingiren, curiren und heilen was zerbrochen ist,...". (Sg 7, 35)

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Die mit der Inkarnationsfigur intendierte Neusituierung des Lebens betrifft den jeweiligen Christenmenschen ganz und gar, "welcher Christi Leiden und Tod in sich hat, daß er aus seiner Auferstehung geboren werde, und den gantzen Proceß Christi in sich anziehe, als die zugerechnete Gnade in Christo." (ep 39, 15) Diese Betonung vollkommener Ergriffenheit des christenmenschlichen Lebens vom Christus praesens, dessen eigentümliche Inkarnationslogik Böhme mit seiner Sensibilitätsschulung in schließkräftigen Situationen deskriptiv entfalten will, soll wie oben in 3.1.3. synergistische Mißverständnisse ausschließen. Die lebensnahe Übersetzung der Soteriologie basiert nicht auf einem zusätzlich hinzukommenden menschlichen Vermögen, sondern ist im Erfahrungsraum des Christus praesens immer schon angelegt, so daß der Mensch immer erst durch sie zu einer Selbstverständigung gelangt: "Wir müssen uns Ihme gäntzlich ergeben, daß GOttes Geist in uns das Wollen, Thun und Vollbringen sey: auf daß wir Ihme wissen und nicht uns; daß Er unser Wissen sey." (ep 12, 40; vgl. Ti I 71 und Phil 2, 13). Eine derartig soteriologische Selbstverständigung des Christenmenschen setzt jenseits synergistischer Mißverständnisse lediglich voraus, daß der Christus praesens nicht auf die juridische Bildlogik der Rechtfertigungslehre reduziert, sondern inkarnationsmorphologisch auf lebensweltliche Konkretionen hin perspektiviert wird, u. z. mit Heuristik im Sinne von Gal 4, 19, "aufdaß der ... Geist eine Gestalt in uns bekomme, und in uns das Göttliche Leben aufblase" (ep 12, 39): "Wir sollen ... nur blos in die Menschwerdung und Geburt JEsu Christi, in sein Leiden und Tod eingehen, und immer gerne wollen in seine Fußstapfen treten, und Ihme nachfolgen, und gedencken, daß wir auf der Pilgram = Strasse sind, da wir durch einen gefährlichen Weg müssen in unser Vaterland, ... Alles Studiren, Suchen und Forschen ausser diesem Wege ist todt,...". (ep 12, 41) Die szenographische Inventarisierung der inkarnationsmorphologischen Situationsdramatik des Christus praesens zur Sensibilitätsschulung des Christenmenschen, dem die Erlebnisqualität der Soteriologie plausibilisiert werden soll, beginnt als phänomenalisierende Typologie mit der Buße qua Umkehr des Richtungssinns menschlicher Lebensführung (3.2.1.). Wie in Böhmes eigenem Wiedergeburtserlebnis geht es hier um jene Strukturen des Christus praesens, die den Christenmenschen aus einem indifferenten Dahinleben herausreißen und mit der normativen Anspruchsqualität des biblischen Lebensideals so konfrontieren, daß an der Umkehrmotorik die individuelle Aneignung der Heilsangebote von Taufe und Abendmahl im gegenwärtigen Lebensvollzug zum Mitempfinden abgelesen werden kann. Wiedergeburt erscheint hier somit als Bekehrung qua Umkehr bzw. Buße. Sodann folgt die von Paulus her (vgl. Rom 6) bekannte Bildlogik der Taufe als prototypische Folie aller Wiedergeburtserlebnisse (3.2.2.). Deren Situationsdramatik aus Eintauchen in den und Auferstehen aus dem Tod Christi bzw. seiner Grabstatt soll den Christenmenschen für das ihm immer wieder zugemutete Ablegen gottloser Lebensentwürfe sensibilisieren, deren

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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scheinbarer Alternativlosigkeit er fortwährend zu verfallen droht. D i e dann entfaltete A b e n d m a h l s s z e n e r i e ( 3 . 2 . 3 . ) dient der V e r l e b e n d i g u n g einer für den Christus p r a e s e n s t y p i s c h e n A t m o s p h ä r e der G e b o r g e n h e i t , i n d e m auf das leibliche W o h l b e f i n d e n abgehoben wird. E s wird jetzt schon deutlich, daß B ö h m e s Anknüpfungen an die sakramentale Kultdramatik nicht dahingehend mißverstanden werden dürfen, als g i n g e e s u m eine a u s g e g r e n z t e Sinnprovinz liturgischer Handlungen innerhalb der Kirche als a u t o n o m e m Kultbezirk. 4 7 B ö h m e rekurriert lediglich auf die in der sakramentalen Kultdramatik besonders greifbare, performative D i m e n s i o n der S p r a c h e . 4 8 S e i n e t y p o l o g i s c h e B i b e l h e r m e n e u t i k (s. o. 2 . 3 . ) z e i c h n e t sich generell dadurch aus, daß die leibliche Formkraft der biblischen Typik durch deren Ü b e r s e t z u n g in Sprachhandlungen h e r v o r g e h o b e n wird; Sprachhandl u n g e n insofern, als B ö h m e s Textverstehen 1. auf d i e leibliche Ausdrucksmotorik zielt, 2. daran abgelesen werden kann und 3. auf diese W e i s e sprach-

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Das ist ohnedies nur ein Verfallsprodukt der ursprünglichen Lebensbedeutsamkeit sakramentaler Kultdramatik; vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 254: "Das Heilige stellt seinem Wesen nach keine Sondersphäre neben der profanen dar. Die Tatsache, daß es sich als eine Sondersphäre unter den Bedingungen der Existenz etabliert, ist der treffendste Ausdruck für existentielle Zerreißung. Sie ist das Herzstück dessen, was das klassische Christentum 'Sünde' genannt hat." Die Reintegration beider menschlichen Lebensbereiche des Heiligen und des Profanen versucht im XX. Jahrhundert die liturgische Bewegung; vgl. W. Stählin, Die Regel des geistlichen Lebens, hg. i. A. der Evangelischen Michaelsbruderschaft, Kassel 1947, bes. S. 12 f. 18 f. 23 zu den liturgischen Strukturen von Tageszeit und Jahreskreis; auch ders., Vom Sinn des Leibes, in: Wege zur Wahrheit. Evangelische Antworten auf Gegenwartsfragen, Stuttgart [3. Auflage] 1952, S. 121 ff. 137 ff. Zum hier noch weitergehenden Stichwort "Pansakramentalismus" vgl. G. v. d. Leeuw, Sakramentales Denken, S. 142 f. 164 f. Vgl. I. Dalferth, Der Mythos vom inkarnierten Gott, S. 339 f.: "Weil Bekenntnisse nicht nur sagen, was der Fall ist, sondern was für den Bekennenden Gültigkeit hat, mag man sie wie Hick als Artikulationen von Werturteilen und Handlungsverpflichtungen charakterisieren. Aber man kann das nicht -wie er- als praktische Wahrheit gegen die buchstäbliche Wahrheit des Bekenntnisses ausspielen. ... Die propositionale und die performative Dimension des Bekenntnisses sind unlöslich aneinander gebunden." Diese sorgsame Ausweitung des Begriffs performativer Sprechakte bzw. von Sprachhandlungen gilt auch bei Böhme, der selbstverständlich davon ausgeht, daß die Situationsdramatik des Christus praesens mit seiner biblisch präformierten Szenographie steht und fällt. Das christliche Sprachspiel ist nicht beliebig durch andere ersetzbar. Es ist nur und gerade in seiner individuellen Gestalt lebensbedeutsam. Vgl. auch ebd., S. 341 - 344 zur "Beziehungsgrammatik" inkarnationschristologischer Sprache in der Lebensgemeinschaft der christlichen Gemeinden, die den Christus praesens im Bekenntnis hinsichtlich der Implikationen seiner gespürten Lebensbedeutsamkeit so prädizieren, daß er eine individuelle Gestalt gewinnt. Die Performanz als Bedeutungskatagorie illokutionärer Sprechakte beschreibt ausführlich J. L. Austin, How to Do Things With Words, Oxford 1962. Eine strukturelle Verwandtschaft der Argumentation Austins mit der performativen Dimension sakramentaler Sprache entdeckt am Beispiel der Taufe T. Eagleton, Literary Theory, S. 118: "I choose this baptismal image because Austin's discussion of appropriate conditions, correct procedures and the rest has an odd and not insignificant similarity to theological debates about sacramental validity."

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

leiblich in die individuelle Lebenswelt des Christenmenschen so eingezeichnet wird, daß 4. dieser die angesonnene Bedeutung im affektiven Betroffensein miterleben kann und den Text selbständig mimetisch postfiguriert. Der Kult erscheint bei Böhme deshalb immer nur als ein besonderer Verdichtungsbereich einer atmosphärisch ubiquitär zugänglichen christomorphen Bedeutungsdynamik, deren Ausstrahlungsbereich die gesamte alltägliche Lebenswelt einschließt. Das gilt ebenfalls für das Kreuzessymbol (3.2.4.), das Böhme in Form von "Emblemtraktaten" (vgl. oben 1.3.3.) hinsichtlich seiner leiblichen Ausdruckskraft für die lebensbestimmende Nähe des Christus praesens perspektiviert. Das Ursymbol der Christenheit wird bei ihm zu einer die Sinne hochgradig sensibilisierenden Elementarfigur der Vita Christiana. Den Abschluß des szenographischen Inventars der die Vita Christiana phänomenalisierenden Situationsdramatik des Christus praesens bildet die marianische Typik der biblischen Weihnachtsszenerie (3.2.5.). Hier geht es um die Sensibilisierung durch die Geburtsmetaphorik für den Eintritt in den inkarnationsmorphologischen Erfahrungsraum des Christus praesens. 49

3.2.1. Die Umkehrmotorik des Bußdramas Unter Voraussetzung der Tatsache, daß es immer schon der Christenmensch ist, der sich hinsichtlich der Soteriologie vergewissert, setzt Böhme noch vor die szenische Bedeutung von Taufe und Abendmahl für die leibliche Formkraft des Christus praesens die Umkehrmotorik des Bußdramas. 50 Es ist eben genau derselbe Christenmensch, der sich immer wieder an die Sinnkonstrukte der körperlichen Dingwelt und an den dazugehörigen Lebensentwurf des Homo faber verliert: "Es ist ein Falsch, daß einer seine Busse sparet auf die Niessung des Testaments Christi, daß dasselbe solte seine Sünde wegnehmen. Es geschieht kein Sünde = Vergeben weder durch Testament noch Absolution, der Mensch kehre dann von Sünden um, und werde durch ernste Busse und Einwendung zur Gnade GOttes im Glauben an Christum im H. Geiste erneuert, daß er einen andern Willen, von der Falschheit auszugehen annimt." (abm 4, 13) 49

50

Ganz ähnlich geht Schleiermachers "Weihnachtsfeier" zur heuristischen Verschränkung von Inkarnationsmorphologie und lutherischen Weihnachtschristentum vor (vgl. dazu auch oben 2.3); dort besonders in den Anspielungen und Äußerungen der Frauen, bes. S. 12. 30 - 32 (dort die anamnetisch - typologische Wiedererkenntnis der Madonna als biblischem Prototyp in einer armen Mutter mit Kind als deren alltagsweltlich korrelierender Antityp im Seitenschiff der Kirche beim weihnachtlichen Festgottesdienst). Die Bearbeitung der Bußthematik bei Böhme rühmt v. a. Ph. J. Spener, Letzte Theologische Bedencken. Teil III, S. 123; vgl. oben 1.1.1. Zur erfahrungstheologischen Bedeutsamkeit der Umkehrmotorik des leiblich - körperlichen Ausdrucksverhaltens vgl. auch W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 155 ff.: "Hinwendung und Verschlossenheit".

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Es geht um eine Sensibilisierung für die vorgängige Gestaltungskraft des Christus praesens, die in Taufe und Abendmahl dem jemeinen Leibesleben tatsächlich vermittelt werden kann, wenn der Christenmensch seine leibliche Empfindsamkeit zur vollkommenen Empfänglichkeit befreit, indem er auf das willkürliche Ansinnen von körperdinglichen Sinnkonstrukten verzichtet. Böhme geht davon aus, daß die biblisch offenbare Gegenwart Gottes als des Vaters aus sich heraus dem Christenmenschen eine solche Haltung verbindlich anempfiehlt und habituell vorzeichnet. Im Unterschied zur kognitiven Vernunfttätigkeit des Homo faber spricht die biblisch vertraute Vatergestalt Gottes Gewissen und Herz als Inbegriffe affektiven Betroffenseins an, 51 die das Verhalten in die Pflicht nehmen und die Normerfüllung zugleich ermöglichen, da der väterlich angesprochene Christenmensch sich ihrer Verbindlichkeit schlechterdings nicht mehr entziehen kann: "..., so spricht der Vater im Gewissen zur Seelen: Was harrest du lange und siehest dich um? gehe hinab in die Busse, da Gerechtigkeit im Tode Christi feil ist, ... so du dich nur hertzlich zu Ihm wendest: Also ergiebet der Vater seinen Willen in des Sünders Busse und Umkehren." (Mm 69,4) Das gnädige Anerbieten der biblischen Vatergestalt befreit den Menschen von dem augenblicksgöttlichen Zorneinbruch, der aus der Kontingenz unwillkürlicher Wirklichkeit heraus der nicht enttäuschungsresistenten Weltkonstruktion des Homo faber ubiquitär droht. Solches Anerbieten für das leibliche Wohlbefinden des Menschen kann schon in der Alltagswelt sich nur dort ereignen, wo sich der Beschenkte seinem Wohltäter leibhaftig zuwendet. Ansonsten kann die Wohltat nicht persönlich adressiert werden. Ein Geschenk wird nicht anonym hinterlegt. Die Christenmenschen müssen daher sich hinwenden, die Stirn darbieten und hinschauen, "wie ihnen GOtt so gnädig wird, indeme sie sich bekehren, und nicht allein die Straffe erlasset, sondern auch mit seinem Segen begnadet" (Mm 69, 1). Ein Segen kann ebenfalls nur frontal und nicht a tergo gespendet werden. 52 Es gibt zum alltäglichen, dem Heil angemessenen leiblichen Sichverhalten eine plausible Parallele im sonntäglichen Erfahrungsraum des Gottesdienstes, auf die Böhme hier zurückgreift, um die Umkehrdramatik im Horizont des Christus praesens als essentielle Voraussetzung für die leibhaftige Wahrnehmung von dessen Lebensbedeutsamkeit auszuweisen. Die Umkehrdramatik soll den Christenmenschen hinsichtlich seiner Unvertretbarkeit behaften. Er wird durch die augenblicksgöttliche Zornepiphanie in gewisser Weise zuallererst individuiert. Mitten in einem eher pflan51

52

Vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 528 ff., zur Bedeutung der Herzensmetaphorik für die leibliche Empfindsamkeit. Vgl. ders., Das Göttliche und der Raum. III/ 4, S. 64 ff., zur numinosen Qualität der Gewissensempfindung vor Ort des Leibes. Zur Herzensbildung vgl. E. Herms, Offenbarung und Glaube, S. XI f. XV - XVIII. Vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 33 ff. 51 ff.; W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 161 f.: "Hinwendung zum Du".

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

zenhaften Dahingleiten 53 reagiert der dahinlebende Homo faber erschrocken wie ein Tier. Der Einbruch der Plötzlichkeit veranlaßt eine spontane Rezeptivität, die sich des Pro me bzw. "Tua res agitur!" der Kontingenz unwillkürlicher Wirklichkeit nicht entziehen kann. 54 Das Individuum ist wie ein wildes Tier aus dem Hinterhalt überrascht und gestellt worden. Es braucht jedoch nicht im tierhaften Schreck zu verharren und muß auch nichts Schlimmes gewärtigen, sondern wird lediglich zum Umdrehen aufgefordert, um aus der neuen Richtung eine genuin menschliche Lebensmöglichkeit zu erhalten: 55 "Über dieses Thier gehen nun Christi Worte, da Er saget: Es sey dann, daß ihr umkehret und werdet als die Kinder, (das ist, daß ihr aus dem Willen des selb = geborenen Thieres ausgehet, und wieder in die Form des ersten Lebens eingehet) sonst sollet ihr GOttes Reich nicht sehen. Item: Ihr müsset aus dem Wasser der himmlischen Welt Wesen, und aus demselben heiligen Geiste, aus dem Bunde neugeboren werden, änderst könnet ihr nicht GOtt schauen. Joh. 3: 3. 5." (Mm 30, 8 = 11 1, 10) Die Umkehrdramatik der Buße hängt mit der gegenwärtigen Heilsbedeutung der Taufe eng zusammen. Beide traditionell im Kult beheimateten Sprachhandlungen werden aus ihrem sakramentalen Verdichtungsbereich herausgelöst und phänomenologisch reinszeniert, damit sie die allemal lebendige Wirkung des Christus praesens auf den christenmenschlichen Lebensvollzug in schließkräftigen Situationen exemplifizieren können. Darin verhalten sich auch Taufe und Abendmahl in Böhmes Adaption völlig strukturanalog (t I 1, 31 = Sg 10, 50). Taufe und Abendmahl sind der Buße insofern nachgeordnet, als "nur ein ernster bußfertiger Mensch im Glauben, in der Kraft Christi, verstehet diese testamentliche Einsetzung und Niessung" (t I Vorr., 2 = ep 31, 17 - 19. 22). Die Umkehrdramatik der christenmenschlichen Buße, wie sie auch zu Beginn des Gottesdienstes im Rüstgebet als Abwendung von alltäglichen Bahnen inszeniert wird, manifestiert den "Ernst zum wahren Verstände" (t I Vorr., 3), da die lebenspraktische Bedeutung von Taufe und Abendmahl "nicht mit menschlicher Vernunft ergriffen wird" (ebd.). 56 Die Buße ist fundamental für 53

54

55 56

Vgl. H Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 50: "rein pflanzenhaftes Leben und Befinden", S. 68: "vage Dauer dösenden Dahinlebens", S. 122: "das vegetative Dahinleben und Dahinwähren ('Dösen')", S. 153. 264 f. Vgl. ebd., S. 48 - 51 über primitive Gegenwart und Schreck als Principium individuationis für Tier und Mensch; S. 258 - 260 dann noch einmal zeitphänomenologisch über das frontale Gestelltsein durch die Appräsenz als dem persönlich ansprechenden Zu der Zukunft. Diesen qualitativen Fort-schritt vom affektiven Betroffen- zum persönlichen Gemeintsein beschreibt H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 71 ff. Zur szenisch inkarnierten Vernunft der gottesdienstlichen Taufanamnese vgl. auch W. Stählin, Die Bitte um den Heiligen Geist, Stuttgart 1969, S. 53 f., und ders., Vom Sinn des Leibes, S. 160 f.: "(D)ie eigene innere Dynamik des Kultraumes verpflichtet zu der leibhaftigen Darstellung einer inneren Bewegung. Die Treppe emporzusteigen, die zur Kirchentüre emporführt, durch die Pforte zu schreiten, den Vorraum zu durchmessen und dann im Kirchenraum selbst auf den Altar zu, und das heißt nach Osten hin, sich zu

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Böhmes Sensibilitätsschulung, damit der im Christus praesens implizit gegenwärtige "Lebens = Verstand des inwendigen Göttlichen Gehörs eröffnet" (t I Vorr., 8) werden kann. "(D)urch sein Einsprechen" (ebd.) ins Gewissen soll der affektiv betroffene Mensch an "Hertze, Sinnen und Gemüthe verneuert" (ebd.) werden. Er soll auf dem eingeschlagenen Weg phänomenalisierender typologischer Besinnung mit seiner auf Lebensbedeutsamkeit zielenden Deskriptionstechnik bei Buße, Taufe und Abendmahl dahin gebracht werden, daß der Christus praesens "in seinem Glauben in ihme kräftig wircket, und zu einer neuen Creatur erbieret, welche ... ein rechtes Ebenbilde GOttes ist, dadurch der irdische, fleischliche Wille täglich getödtet wird, und der neugeborne Wille täglich gen Himmel fähret. (Joh. 6: 56. Phil. 3: 20)." (ebd.) Angesichts der Unentschiedenheit des gegenwärtigen Christenmenschen, der bei Böhme wie bei Luther "simul iustus ac peccator" ist, symbolisiert die Buße die auch nach der einmaligen bzw. sonntäglichen liturgischen Inszenierung von Taufe und Abendmahl andauernde Gestaltungsaufgabe in der alltäglichen Lebensführung. Die Umkehrdramatik unterstreicht das Hic et nunc des normativen Anspruchs des Christus praesens. Eine über den Tod hinausreichende Heilswirkung steht und fällt mit einer dem Christus praesens entsprechenden Lebensneuausrichtung: "Jetzt ists noth dem irdischen Willen seine Kraft brechen, und den alten bösen Adam tödten und seinen Willen = Geist mit Zwang und Gewalt aus der Bosheit ausführen: ..., dann es ist wenig Rath, der Willen = Geist habe sich denn in Zeit des äussern Lebens umgewandt in GOttes Liebe, und die als einen Funcken im innern Centro erreichet; so mag doch ja etwas geschehen,...". (6 Pk 4, 17 f. = 3fL 11, 69; 12, 37) Taufe und Abendmahl bilden keine vom menschlichen Lebensvollzug externalisierbaren Vergegenständlichungen des Heils, die nur als "Zeichen, und nicht Wesen" (3fL 13, 27) verstanden werden könnten. Zu ihrer Wesenhaftigkeit gehört für Böhme eine lebensgestaltende Wirkmächtigkeit konstitutiv hinzu. Deshalb insistiert er auf der Umkehrdramatik, durch die eine kultische Regionalisierung der Lebensrelevanz von Taufe und Abendmahl verhindert werden würde: "(E)s stecket nicht alleine in der Hostia, die ihr ausspendiret, und in demselben Kelch: Nein, sondern wenn die Seele umwendet, und den Leib zämet, und ergibt sich gantz in Gehorsam GOttes, ... und begehret Christi Eingang zum Vater, so gehet sie aus dieser Welt Leben aus." (3fL 14, 7)

bewegen: das alles ist der sinnhafte und leibhafte Ausdruck eines inneren Weges ... Umgekehrt ist die Prozession, die von der Kirche aus sich durch die Straßen einer Stadt... bewegt, der kultische Ausdruck einer Hinwendung zur Welt. Indem der feierliche Zug von der Stätte des Gebetes und des Sakramentes aus sich auf die profanen Wege ergießt, bekennt er mit seinem Schreiten, daß das Heilige die Welt erobern will und gibt damit seiner eigenen täglichen Hinwendung an die Welt einen neuen, einen ernsthaften, verantwortungsvollen und siegesbewußten Inhalt." Stählin verdoppelt hier die Umkehrdramatik gemäß der sonntäglichen Dialektik von Kirchgang und Sendung.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Das Umkehrszenario signalisiert die Bereitschaft des Menschen, nicht nur kognitiv die Restitution zur schöpfungsgemäßen Ebenbildlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, sondern in leibhaftiger Sinnfülle "wieder das erste Bild in ein neues Leben einführen" (t I 1,24) zu wollen. "Dann das menschliche Leben ist im Anfange des Menschen in dem Worte GOttes gewesen, Joh. 1. und durch das Einhauchen des Worts in dem menschlichen Cörper offenbar worden, und in die Sinnlichkeit, Empfindlichkeit und Wollen kommen" (t I 1, 9). Der Christenmensch soll durch die Buße die seinem Leben schon von der Schöpfung her zugemutete Gestaltungsaufgabe in ihrer konstitutiven Unvertretbarkeit wahrnehmen. Umkehr bedeutet dann letztendlich soviel wie Relektüre des menschlichen Lebens auf sein biblisch offenbares, ihn als Mensch überhaupt erst konstituierendes ebenbildliches Gegenüberverhältnis hin; kurz: Es geht um eine Restitution der verlorenen Stellung im Gewebe der Schöpfungserzählung. 57 Der Christus praesens veranlaßt den Menschen zu einer protologischen Relektüre der ihm von der alttestamentlichen Prototypik auf den Leib geschriebenen Ebenbildlichkeit, die wieder gegenwärtig bestimmend wird. Es handelt sich, der Bildlogik einer Umkehrszene entsprechend, gerade nicht um ein zukünftiges, eschatologisches Zu - sich - selbst - Kommen des Menschen, sondern um eine Rückversicherung hinsichtlich des biblisch immer schon'präsenten eigentlichen Menschenlebens. 58

3.2.2. Die leibliche Ausdrucksmotorik des Taufdramas Das Taufdrama ist in doppelter Hinsicht für Böhmes inkarnationsmorphologische Besinnung auf die Vita Christiana im Bedeutungshorizont des Christus praesens von einer leibspezifischen Lebensrelevanz: Zum einen (3.2.2.1.) bietet die biblische Prototypik zur Taufdeutung mit Rom 6 einen Schlüsseltext, der für Böhme in mehrfacher Hinsicht fundamental ist. Die Taufe wird von Paulus über die einmalige liturgische Taufhandlung hinaus auf die gegenwärtige Lebensgestalt des Christenmenschen bezogen. 59

57 58 59

Hier werden sprachspielerisch verschränkt M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, und W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Vgl. zur protologischen Pointe christlicher Anthropologie H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 98 ff.: "Präsentische Archäologie - Der Theanthropos". So auch bei Luther, Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe. 1519, in: BoA. Bd. I, Bonn 1912, S. 185 - 195, hier S. 186: "Czum Vierden/ Die Bedeutung vnd sterben/ odder ersauffen der sund/ geschieht nit volnkomen/ yn dißez lebe/ biß der mensch auch leyblich sterb vnd gantz verweße zu puluer. Das sacrament odder tzeychen/ der tauff ist bald geschehen/ wie wir vor äugen sehen/ aber die bedeutug die geystliche tauff/ die erseuffug der sund/ weret die weyl wir leben/ un wirt aller erst/ ym tod voln bracht/ da wirt der mensch recht yn die tauff gesenckt/ vnnd geschieht/ was die tauff bedeut. Drumb ist diß gantz lebe nit anders/ dan eyn geystlich tauffen an unterlaß/ biß yn denn todt." Auch S. 188 f. zum frommen Lebenswandel als Andauer der

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Böhme knüpft hierbei vor allem an Rom 6, 3 f. an. Die Taufe auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi stiftet dem Leben des Christenmenschen diejenige Ab- und Aufwärtsbewegung verbindlich ein, die für Böhmes eigenes Bekehrungserlebnis zu einer bewußten Positionierung im Horizont des Christus praesens jenseits der Indifferenz reinen Dahinlebens geworden war (s. o. 3.2.). Das gegenwärtige Lebensbild eines jeden Christenmenschen ist für Böhme wesentlich durch Tod und Auferstehung bestimmt. Immer wieder entscheiden sich indifferentes Dahinleben und die christomorphe Sinngestalt eines gottebenbildlichen Menschenlebens. 60 Zum anderen (3.2.2.2.) interessiert Böhme für seine die Erlebniswirklichkeit des getauften Christenmenschen phänomenalisierende Sensibilitätsschulung besonders die Symbolik des Wassers. Mit einer eigenwilligen Anknüpfung an die pansophische Sprachtradition und an alchemische Topoi gelingt ihm eine Darstellung des synthetischen Charakters eines christenmenschlichen Lebensvollzugs. Luthers "simul iustus ac peccator" übersetzt sich vor Ort des Leibes zur eigenartigen Ergriffenheit von einer feinstofflich vermittelten, christomorphen Lebensenergie, durch die die grobstoffliche Körperexistenz als konstruktivistisches Surrogat für die eigentlich leibhaftige Sinnkonstitution entlarvt wird.

3.2.2.1. Die Lebensbedeutsamkeit der Ab- und Aufwärtsbewegung Rom 6, 3 f. steht für Böhmes phänomenalisierende typologische Adaption der die Vita Christiana eröffnenden Taufe im Mittelpunkt, so daß die Dialektik der Bewegungssuggestionen von Tod und Auferstehung die Vita Christiana in ihrer Gesamtheit zwischen den Polen eines entfremdeten Dahinlebens als Homo faber und einer christomorphen Lebensführung als eigentlicher Christenmensch maßgeblich bestimmt: "Wir werden in seinem Tode begraben, grünen aber in seiner Auferstehung und Überwindung in seinem Leben aus." (Mw I 12, 4) Im Anschluß an Rom 6, 3 f. von Bewegungssuggestionen, d. h. von Textstrukturen, die sich an der leiblichen Ausdrucksmotorik im Vollzug der beschriebenen Symbolhandlung wiedererkennen lassen, zu sprechen, ist für das zeitgenössische liturgische Brauchtum Böhmes nicht unmittelbar einleuchtend. Deutlicher wird diese Interpretation am altkirchlichen Taufbad, in das der Täufling mit entkleidetem Körper eintauchte, um sich anschließend aus dem Wasser zur Umkleidung mit dem Taufgewand zu erheben. Durch das vollständige Untertauchen im Wasser postfiguriert der Täufling mimetisch den von

60

Taufhandlung, S. 190 zum "kecken" Sich - an - die - Taufe - Halten in Gewissensnot, S. 191 f. zur Fassung von Glauben als Taufglauben. Vgl. auch W. Stählin, Die Verwandlung, die wir Auferstehung nennen, in: Quatember. Evangelische Jahresbriefe. 17. Jg., Kassel 1952/ 53, S. 75 - 80.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Paulus Rom 6, 3 f. beschriebenen Eintritt in Christi Grabstatt, aus der er sich als ein neuer Mensch zur ebenbildlichen, von irdischem Tand befreiten Urgestalt erhebt. Obwohl diese kirchenhistorischen Hintergründe 61 für Böhme sicher nicht en détail vorausgesetzt werden dürfen, schildert er doch die Ausdruckskraft des Taufdramas als eine derartige Ent-scheidung zweier diametral entgegengesetzter Lebensausrichtungen: "Der rechte Mensch wird zum Leben getauffet, und der Schlangen grobe irdische Mensch wird mit Christi Tode und Sterben getauffet, daß er soll sterben, und alle seine bösen Lüste und Begierden dem Tod Christi lassen, daß sie der tödte, und ... aus dem Tode Christi ... gebäret durch Christi Sieg einen neuen Willen in Seele und Leib, welcher GOtt gehorsamet." (t I 3, 25 f.) Vom liturgischen Sonderbezirk eines tatsächlichen Taufbades absehend, beschreibt Böhme den sich mit Rom 6, 3 f. auf seine Taufe besinnenden Christenmenschen als jemanden, der anamnetisch die Prototypik des Passionsberichtes vor Ort seines Leibes zu rekapitulieren versucht, indem er bewußt von allen anderen Sinnkonstrukten und auf die Körperweit hin angelegten Lebensrollen absieht. Die Taufe auf den Tod Christi nach Rom 6, 3 f. bedeutet lebenspraktisch, den adamitischen Entwurf eines rein körperlichen Lebens als Homo faber in alltäglicher Besonnenheit unter sich zurückzulassen, um sich mit Christus darüber zu erheben (vgl. Mw II 5, 13 - 15). Das taufgemäß dargebrachte Opfer der rein körperlich orientierten Existenz postfiguriert am jemeinen christenmenschlichen Leib Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi: 62 "...; sondern daß wir gantz ernstlich mit Sinne und Gemüthe, mit Willen und Thun, aus der bösen Anneiglichkeit ausgehen, und wieder dieselbe streiten. Ob sie uns schon anhanget, müssen wir doch täglich und stündlich demselben bösen Adam seinen Willen und Thun tödten: ...". (Mw II 5, 14 = Mw III 6, 3; 8, 1 f.) "So aber kann ich mit Warheit sagen, wie der Apostel saget, daß ich glaube, ich sey mit Christo gecreutziget und gestorben, und stehe in und mit Ihme auf, und trage sein Bild an mir." (Ti II 236 = 166. 258. 264 - 270; 40 F 36,18) "(I)m Creutz und Trübsal müssen wir neu geboren werden; dann wollen wir mit Christo leben, so müssen wir auch mit Ihm verfolget werden und mit Ihme sterben, und in Ihm begraben werden, auch in Ihm aufstehen, und ewig in Ihm leben, seinem Bilde gantz ähnlich werden,...". (ep 9, 4) Der getaufte Christenmensch verfügt über einen ihm als leiblichen Charakter eingeprägten, christomorphen Lebensstil, durch den er sich qualitativ von jeder möglichen Stellung in der Körperwelt noch einmal unterschieden wissen 61

62

Vgl. G. v. d. Leeuw, Sakramentales Denken, S. 72 ff. bes. 82 - 89. G. Kretschmar, Die Geschichte des Taufgottesdienstes in der Alten Kirche, in: Leiturgia. Handbuch des christlichen Gottesdienstes. Bd. V, Kassel 1970, S. 1 - 348. Vgl. W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 125 - 130, dort in Bezug auf Rom 12, 1.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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kann, wenn er den christomorphen Taufcharakter an seiner leibhaftigen Lebensgestalt wahrzunehmen versteht: "Dieses ist nun die Wasser = Tauffe, da der Heilige Geist im innern Grunde die Hand darzu ist, der mit dem Ausfluß Göttlicher Liebe aus Christi Leiden, Tod und Auferstehung mit seiner Überwindung täuffet; das ist: Er tauchet Christi Menschheit, Leiden, Tod und Auferstehung in den inwendigen Grund ein, und zündet den eingeleibten Paradeis = Bund mit diesem Feuer an, daß die dürre Ruthe Aaronis grünend wird. Dann mit diesem Eintauchen des Heiligen Geistes wird dem Menschen Christus geschencket, er wird Christo hiemit eingeleibet, und wird ihme der himmlische Ens, welcher in Marien unsern menschlichen Ens annahm, mit dem gantzen Proceß Christi, in seinen auch himmlischen verblichenen Ens zu einem neuen Leben, welches den Tod hat überwunden, angezogen und eingedrucket." (t 12, 39 f. = t II 2, 39 f.) Eine derartige Taufbesinnung knüpft unmittelbar an den oben unter 3.1.1. f. beschriebenen augenblicksgöttlichen Zorneinbruch an. Böhme spricht in diesem Zusammenhang von der ersten Stufe einer reinen Feuertaufe des Vaters "mit der Zerschellung zur Busse", auf der das "Zorn = Feuer ... die Seele gefangen hielt" (t II 3, 16). Der Christenmensch, der sich an die Körperwelt verloren hat, erfährt im augenblicksgöttlichen Zorneindruck ein Non plus ultra, durch das er sich plötzlich im Mittelpunkt des biblischen Passionsberichtes wiederfindet: "(I)n welchem Feuer das bittere Leiden und Sterben JEsu Christi der armen Seelen eingedrucket wird" (ebd.). Die steil abfallende Spannungskurve des leiblichen Tonus, 63 die im augenblicksgöttlichen Andrängen des empfundenen Zorns zum Verlust der Selbstbeherrschung in Form des Stehvermögens geführt hat (vgl. 3.1.1.), entspricht hier der Katabasis Jesu bis in seine irdische Grabstatt. Diese Katabasis ist nach Rom 6, 3 f. keine dem Menschen aus objektiver Distanz heteronom gegenübertretende Verhaltensaufforderung, sondern eine dem Christenmenschen durch die Taufe auf den Leib geschriebene habituelle Verhaltensform, die ihm nach einer tauftheologischen Besinnung im Stile Böhmes hinsichtlich der leiblichen Ausdrucksbewegung subjektiv vertraut erscheint. Am Tiefpunkt der mimetischen Katabasis in die Grabstatt Jesu sensibilisiert die Taufe im Sinne von Rom 6, 3 f. den Christenmenschen für die oben unter 3.1.3. beschriebene Struktur reiner Empfänglichkeit: " ... Ich kann auch nicht, dann es lieget nicht an meinem Wollen, Lauffen und Rennen, sondern es lieget an GOttes Erbarmen, dann ich kann aus eigener Gewalt nicht dem grimmen Zorne GOttes seine Gewalt nehmen, der in mir entzündet ist: ..., so will ich ... mit meinem Willen ... aus ... GOttes Zorne, in seinen Tod eingehen,

63

Vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 111 ff. 546 - 586; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 122 - 124; E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, passim; dort v. a. auch das Phänomen der "Katatonie" als körperlich - seelischer, d. h. leiblicher, Kollaps.

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3. Inkamationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

und mit meinem verderbten Willen in seinem Tode in und mit Ihm sterben, und ein Nichts in Ihme werden, so muß Er mein Leben werden: Dann so mein Wille Nichts ist, so ist Er in mir was Er will; so kenne ich mich alsdann nicht mehr mir, sondern Ihm." (Sg 9, 57 = Gw 7,47 f.; ep 20, 21 f.; 46, 23; 47, 22 f.) "Die arme zerschellete Seele" (t II 3, 16) wird nämlich aufgrund der biblischen Strukturanalogie von Taufe und Passion auch tatsächlich geheilt. Die Feuertaufe auf den Tod Jesu setzt sich wie der Passionsbericht im Osterbericht mit einer aufsteigenden Spannungskurve fort. Der sich seiner Taufe in leiblicher Empfindsamkeit entsinnende Christenmensch weiß sich auf dieselbe Weise "mit dem heiligen Salb = Oele der Liebe GOttes" (ebd.) getauft, wie die karfreitägliche Katabasis Jesu Christi in der österlichen Anabasis aufgehoben ist. Die Lévitation in einer Atmosphäre göttlicher Liebe (s. o. 3.1.4.) entfaltet den Augenblick des Erschreckens zu einer Gegenwart, in der die Möglichkeit zu einer ebenbildlichen Lebensausrichtung sich eröffnet, mit der sich zugleich das Stehvermögen analog zu "Christi Auferstehung" wieder einstellt (vgl. t II 3, 13 - 16). Die lebenspraktische Viabilität der Ebenbildlichkeit "ward mit der Wasser = Tauffe" dem an sich toten Körper des Menschen "eingedruckt zu einem Subjecto oder Gegenwurf Göttlicher Imagination und Wirckung, dadurch der Tod nach'der Inwendigkeit des Menschen zerbrochen würde, und ein neu Leben ausgründe." (t II 2, 38 = 3, 5) Der an sich tote Körper erhält also in der Taufe eine leibliche Lebensgestalt, "daß sich die Seele empfinde, was sie sey" (t II 3, 13). Im Gotteszorn steht die Seele ihrer körperlichen Existenz nämlich entfremdet und unbehaust gegenüber (vgl. genauer unter 3.1.2. und 5.2., 5.3.; auch 4.1.5.). Deshalb ist das leibliche Sicheinfinden der Seele für Böhme so wichtig. Die Seele bedarf der Lebensgestalt Jesu Christi, wenn sie den augenblicksgöttlichen Zorneindruck in Richtung auf eine neue Lebensmöglichkeit überwinden will. Daraus erwächst der Seele zugleich die Verpflichtung, ihr Leben taufgemäß einzurichten und nicht auf die Körperwelt hin anzulegen: "(A)lsdann stirbet der Zorn im Tode durch die Tauffe, aber nicht balde, du must von ehe den Proceß Christi halten, und must den getauften lassen predigen, das ist, mit seiner eigenen Göttlichen Gestaltniß und Farben lassen blicken, ihn heftig verfolgen und plagen, und keine Ruhe lassen, dann also wird der rechte Mercurius wirckende." (Sg 7, 52 = 31, 18). Die christomorphe, dem jeweiligen Menschen eingetaufte Lebensgestalt verlangt zugleich eine Konzentration auf die genau der Taufe entsprechende Lebensführung und -ausrichtung, die unter den vielfältigen Sinnmöglichkeiten der Körperwelt für Böhme nur im mimetischen Mitvollzug des Opferganges Jesu aus der biblischen Passion zu verwirklichen ist. An diesem Aufweis der normativen Implikation der Taufe wird wiederum deutlich, daß die Relevanz der Taufe in einer Sensibilisierung des Christenmenschen für seine gegenwärtige Gestaltungsaufgabe besteht und nicht auf

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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eine kultische Sinnprovinz oder auf die forensische Rechtfertigungsorthodoxie beschränkt werden kann.

3.2.2.2. Die Lebensbedeutsamkeit des Wassers Die kirchliche Symbolhandlung der Taufe ist ohne Wasser undenkbar. Das Taufwasser bietet daher auch bei Böhme "den Kindern ein Bad der Wiedergeburt" (3fL 13, 26), "ein Bad, daß wir den Zorn abebaden" (3fL 7, 36). Durch die deskriptiv amplifizierende Verknüpfung mit der pansophischen Tradition weist es darüberhinaus eine feinstoffliche Elementarqualität auf, durch die Böhme eine Reduktion der Bildlogik des Wassers auf seine reinigende Qualität vermeidet. Wasser stellt für die pansophische Kosmologie das die materielle Körperlichkeit bewegende und belebende Element dar (vgl. Mm 10, 51 - 56). Böhme bietet also aufgrund der deskriptiven Möglichkeiten der pansophischen Tradition eine physiko - soteriologische Reformulierung des Taufwassers. Der traditionell im Wasser geistesgegenwärtig repräsentierte Leib Christi, in dessen Bedeutungshorizont der Täufling hineingetauft wird, steht nun für ein atmosphärisches Fluidum, das auf die den menschlichen Körper mitsamt der diesen umgebenden Dingwelt einwirkt und seiner materiellen Leblosigkeit einen vitalen Sinn einstiftet: "Aber das Wasser über der Veste ists, das GOtt in Christo hat zur Tauffe der Wiedergeburt eingesetzt, nachdeme sich das Wort der Kraft GOttes hat darinnen beweget." (Mm 12, 26 = 21, 14) "Dasselbe H. Wasser ists, davon uns Christus saget: Er wolle uns das zu trincken geben, das würde uns in einen Quellbrunnen des ewigen Lebens quellen, Joh. 4: 4. die heilige, himmlische Leiblichkeit stehet darinnen; Es ist der Leib Christi, den Er vom Himmel brachte, und in unsern verstorbenen oder verblichenen Leib, durch diese himmlische Paradeisische Wesenheit, einführete, und unsern in Seinem lebendig machete, verstehet ... mit der H. Tinctur, hat den Tod zerbrochen, und der Schlangen im Grimme GOttes den Kopf seiner Macht zertreten; denn die Göttliche Kraft ist das höchste Leben darinnen." (Mm 10, 57 f. = 4, 12 f.; 12, 26; Ti I 260. 268 f. 315. 318. 369. 377) Für die Übertragung der revitalisierenden Energie des fein stofflichen Wassers auf den Menschen bedient sich Böhmes Physiko - Soteriologie einer taktilen Metaphorik aus dem Bereich alchemisch - paracelsischer Medizin. Die feinstoffliche Gegenwart des Leibes Christi "tingiret alsdann das Erstorbene und Zerbrochene", indem er "mit seiner Kraft aus dem gantzen Corpore, aus Leib und Seele", ausgeht (Sg 7, 53). Seit dem "Pfingstfest" (ebd.) bleibt die Christusgestalt eben nicht auf die historische Einmaligkeit des grobstofflichen Körperbesitzes beschränkt, sondern wirkt als feinstoffliche Leiblichkeit im Allemal fort. Die Reinigungsmetaphorik klingt mit "Putrefaction" (ebd.) an,

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

muß jedoch immer mit einer innerlichen Revitalisierung zusammengedacht werden. 64 Böhme benennt auch "Öl" (Sg 8, 4 - 8) und "Mercurius" (Sg 8, 14 f. 51 56) als feinstoffliche Trägersubstanzen der leiblichen Gegenwart der revitalisierenden Kraftwirkung des geistesgegenwärtig repräsentierten Leibes Christi. Ähnlich wie das feinstoffliche Wasser von außen befreien sie in homöopathischer Dosierung von innen her den vom plötzlichen Gotteszorn zu Tode geängstigten Menschen. Homöopathisch von innen her kann der Leib Christi aber nur insofern wirken, als der durch die Schöpfung belebte Mensch immer schon an den feinstofflichen Substanzen Wasser, Öl oder Mercurius teilhat, deren Wirksamkeit er aber an das reine Vorhandensein des grobstofflichen und an sich leblosen Körpers verloren hat. Eine verlorene, gleichwohl genuin menschliche Potenz wird auf diese Weise reaktiviert. Böhme bezeichnet die Taufe geradezu als homöopathische "Cur". In Sg 7, 14 f. und 10, 1 - 13 erscheint "tauffen" als "(mit) Gleichheit ... curiren", "tingiren", "Cur", "Hand = Cur", "de(n) gantze(n) Proceß ... studiren", "Proceß zur Wiedergeburt". Die Revitalisierung der dem Menschen schöpfungsgemäß eigenen Feinstofflichkeit findet als performative Sprach- und Symbolhandlung in dem Moment statt, "wann der Täuffer spricht: Ich tauffe dich im Namen des Vaters, des Sohnes, und des H. Geistes" (3fL 13, 26). Die Energieübertragung dieser Sprach- und Symbolhandlung stellt Böhme im Einzelnen wie folgt vor: "(S)o fasset sich der H. Geist in der Drey = Zahl, und tauffet in der Seelen = Wasser, im Wasser des Lebens, welches im Blut der Tinctur ist, welches das Geist = Leben hält, als das andere Centrum Naturae; der Seelen = Geist empfähet des H. Geistes Kraft und -Amt, und alhier lieget Mysterium Magnum" (ebd.). Es handelt sich bei der Taufe in Böhmes physiko - soteriologischer Reformulierung also um eine alchemisch vermittelte Neuschöpfung (vgl. Sg insgesamt), bei der die Seele immer als Vitalzentrum eines nicht nur körperlich vorhandenen Menschen zu sehen ist (vgl. oben 1.4.). Die physiko - soteriologische Wirksamkeit des Taufwassers besteht im Einzelnen nun genau darin, daß der getaufte Christenmensch den Versuchungen einer rein körperlich orientierten Existenz widerstehen kann. Das fein64

Das betont zurecht G. v. d. Leeuw, Sakramentales Denken, S. 135 - 143: "Das Sakrament der Reinigung"; dort S. 135 ff.: "Reinigung als Lebenserneuerung". Wenn Böhme die Reinigung des auf die Körperdinglichkeit seiner selbst und seiner Lebenswelt reduzierten Menschen im Taufwasser nicht mit "Purifikation", sondern ausgerechnet mit dem prima vista gegenteiligen "Putrefaction", also Vereiterung/ Verwesung, bezeichnet, so ist das typisch christlich - alchemisch "um die Ecke gedacht": Analog zu Rom 6 geht Böhme nämlich wie Luther davon aus, daß der alte Adam in der Taufe "ersäuft" werde, um allda abzusterben und als neuer Adam "aus der Taufe gehoben" zu werden. Im Unterschied zu Luthers Insistieren auf das Untertauchen im Wasser zielt Böhme lediglich auf die Zersetzungskraft des feinstofflichen Wassers, durch die der grobstoffliche Körper durch Verwesung als Eiter abfault, wodurch der feinstoffliche Leib des wahren Christenmenschen freigesetzt werde. Vgl. auch A. Roob, Alchemie und Mystik, S. 131 f. 444.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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stoffliche Wasser steht genau für diese Potenz. Sie verdankt sich jedoch nicht dem Vorhandensein einer besonderen alchemischen Substanz. Die feinstoffliche Wirksamkeit des Wassers kann nicht allein alchemisch bestimmt werden. Erst im Zusammenhang mit der biblischen Prototypik ergibt sich die Einsicht in die vollständige medizinische Wirksamkeit des Taufwassers als eines Antidots gegen körperweltliche Versuchungen. 65 Diese typisch christliche Therapieanwendung des Taufwassers verdankt sich der Urtaufe Jesu im Jordan: "Nun siehe, was thäte Christus, als Er solte diesen Kampf der Probe ausstehen, als die menschliche Essentz solte mit ihrer Begierde wieder in die Gottheit eingehen,... Er ging an Jordan, und ließ sich von Johanne tauffen. Womit? Mit Wasser im Jordan, und mit Wasser im Wort des Lebens, als mit Göttlicher Essentz, die muste unsere sterbliche Essentz in der äussern Menschheit Christi tingiren, davon der Göttliche Hunger in der menschlichen Essentz entstund, ...: ietzt ward versucht, ob nun nach dieser Tingirung der Tauffe, die Seele ... wolte wieder in die Liebe = Begierde ... eingehen. Was wird aber dem Mago hierinnen angedeutet? ... will er mit Christo Wunder thun, und den verderbten Leib tingiren zur neuen Geburt, so muß er ihn von ehe tauffen, so hungert ihn nach ... Verbum Fiat, als den Werckmeister zur neuen Gebärung, das ist der Mercurius: ...". (Sg 7, 47 f.) "Mago", "Artista", "Künstler" und manchmal auch "Medicus" stehen in Sg immer für den Alchemiker als ein Paradigma des Christenmenschen. Dessen Befähigung zur leiblich - lebensweltlichen Umgestaltung der materiell leblosen Körperwelt, anstatt sich als Homo faber an die alltäglichen Besorgungen in derselben zu verlieren, nennt Böhme auch "Gewalt der Philosophischen Tauffe" (Sg 10, 15 = 9, 26). Die die Jordantaufe Jesu postfigurierende Taufe des Christenmenschen begründet demnach eine feinstofflich umschriebene, qualitative Potenzierung des Menschenlebens, das über sein körperliches Vorhandensein inmitten der Dingwelt hinaus ein neuschöpferisches Gestaltungspotential in leiblich - lebensweltlichen Konkretionen (vgl. dazu genauer unten 6.) zu manifestieren vermag. Durch die Wirkung des Taufwassers feinstofflich requalifiziert, partizipiert der Christ am schöpferischen Fluidum des Gotteslebens, das alle Körper belebt und lebendig erhält. "Der Künstler soils magisch verstehen; es muß GOtt und Mensch zu vorn wieder zu sammen kommen, ehe du tauffest, wie in Christo geschah, die Gottheit ging von ehe wieder in die Menschheit, ... Diesen Proceß muß der Magus auch halten mit seiner Alchymie, ... Mercke nur auf die Tauffe, daß du den erstorbenen Mercurium ... mit seiner eigenen (ewigen) Tauffe täuffest, ... so eineignet sich GOttes Wesen in ihn, und will in ihme zur Freudenreich werden." (Sg 7, 48 f.) Eine zentrale Wirkung der biblischen Taufszene am Jordan besteht also darin, daß der Mensch wieder die Rolle eines Gott ebenbildlichen Konkreators inmitten der

65

Ein derart semiotisches Verständnis der Heilsubstanzen geht auf Paracelsus zurück; vgl. H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 185 - 192.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

ihn umgebenden Körperwelt einnimmt, indem er diese leiblich - lebensweltlich "transmutiret" (vgl. Sg passim). Das pansophisch - alchemische Vokabular erscheint also zur Phänomenalisierung eigentlich biblisch - theologischer Typen. Böhme verwendet es lediglich, um die leibliche Ergriffenheit des Täuflings vom Christus praesens seiner Zeitgenossenschaft so aufdringlich wie möglich zu präsentieren. Das inkarnatorische Gefälle des Christus praesens und seine lebensbestimmende und -verändernde Wirkung lassen sich für Böhmes Zeitgenossen am besten als feinstofflich - energetische Potenzierung des alltäglichen Weltumgangs des Menschen ausweisen. Diese Deskriptionstechnik ermöglicht Böhme eine größtmögliche, leibnahe Lebensrelevanz, die bis in die Niederungen körperlicher Existenz hineinreicht. Böhme geht es bei seiner eigenwilligen Mischung von alchemischer und traditionell kirchlicher Taufschilderung immer um die andauernde Taufwirkung, auf die der Christenmensch zeitlebens, also gerade im Moment der durch den kontingenten Zorneinbruch ausgelösten Entfremdung vom reinen Dahinleben, zurückgreifen kann. Der aufgrund seiner Geistesgegenwart revitalisierende Leib Christi "beut sich der Seelen die Zeit des gantzen äussern Lebens an, und schallet alle Tage und Stunden mit seinem Wort und Kraft in sie, ob sie Ihme von der thierischen Bildlichkeit stille stehen wolle, daß Er sie neu gebären möge." (Gw 8, 72 f.) Böhme spricht in diesem Zusammenhang auch davon, daß "Er uns mit dem lebendigen Bunde, welcher war GOtt und Mensch, tauffete." (t II 3, 1) Die geistleibliche Heilsgegenwart Christi bildet nämlich selbst das eigentliche und über das einmalige Taufereignis hinaus andauernde Taufelement, das Wasser, Öl und Mercurius immer nur symbolisieren: "Dann des Menschen Leib, welchem das Tauffen noth war, der war aus den Elementen. Solte der nun getauffet werden, so wolte sich der Bund von ehe in ein elementarisch Mittel, als in die Menschheit Christi geben, und dasselbige heiligen, auf daß der Mensch möchte durch dis Mittel getauffet werden." (t II 3, 1 f.) Die Synthesis - Struktur des Christenmenschen als "simul iustus ac peccator" besteht aufgrund der Wassertaufe Jesu im Jordan genau darin, daß jede mimetische Postfiguration derselben für den betreffenden Täufling eine das Leben umfassende Taufgegenwart eröffnet, in der die Lebenskraft Jesu, körperweltlichen Sinnsubstituten zu widerstehen, sich als versuchungsresistente Charakterfestigkeit manifestiert. Das Taufwasser inkorporiert den Christenmenschen in den evangelischen Lebensduktus Jesu: "Alsdann must du erst in Jordan, so wird dich der H. Geist tauffen, da stehet dir der Himmel offen, und der H. Geist schwebet über dir: aber du must in die Wüsten, und ... der Teufel wird sich an dir versuchen, und dich oft in die Wüsten der Welt führen, und vor deine Seele in dein fleischlich Hertz treten, und feste zu riegeln, ... Darum besinne dich, alsdann siehe und stehe feste, wie Christus thäte: Thue nicht wie Adam, der sich ließ gelüsten ... in die fleischliche

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Finsterniß. Du must mit Christo verfolget, verspottet und gehöhnet werden, wilst du in den Wundern GOttes schweben; und so du in Ihme bleibest, so bleibet Er in dir;...". (3fL 3, 34 - 36) Wenn also die Imitatio Christi in der Taufszene sowohl aufgrund der Bewegungssuggestionen aus Rom 6, 3 f., als auch aufgrund der alchemischen Bildlogik des Wassers deskriptiv angelegt ist und der Leser von der szenographischen, d. h. typologisch - phänomenalisierenden Besinnung, affektiv pragmatisch zur leibhaftigen Mimesis angeregt wird, dann wird der Christenmensch durch die Taufe bei seiner leiblichen Unvertretbarkeit behaftet: "Der Bund aber mit der Tauffe ist darum, daß ein ieder Mensch soll selber mit seinem eigenen Willen, als ein sonderlicher Zweig am Baume, und als ein eigen Leben den Bund Christi anziehen, als durch das äussere darzu geordnete Mittel." (t I 4, 15 = ep 38, 13) Die Taufe macht also deutlich, daß immer erst der tatsächliche christenmenschliche Lebensvollzug die individuelle Wirkmächtigkeit des Christus praesens lebensweltlich konkret zu manifestieren vermag. Das inkarnationsmorphologische Gefälle des Christus praesens kann umgekehrt ohne Taufe genausowenig als lebensrelevant ausgewiesen werden. Gleiches gilt von seiner die Sensibilität des Menschen affektiv sowie pragmatisch betreffenden Nähe.

3.2.3. Die Verinnerlichungsgestik des Abendmahls Der Bildlogik der Abendmahlselemente entsprechend hebt die szenographische Sensibilitätsschulung auf die Verinnerlichungsgestik des Essens und Trinkens ab. 66 Die Einverleibung des Brotes und Weines bedeutet bei Böhme wie in Joh 6, 56 die Einwohnung Jesu Christi inmitten der körperlichen Existenz des Menschen, so daß diese aus ihrer Indifferenz herausgelöst ist (vgl. abm 2, 15). Die Einverleibung der "wesentlichen Liebe" (ebd.) oder "derselben eingeleibten Gnade" (abm 2, 25) konstituiert vor Ort der seelischen Ausdrucksvitalität eine unverkennbar neue, persönliche Note, die sich leiblich als individuelle Lebensgestalt manifestiert: "...; also auch gab Christus seinen Jüngern, als ihrer Glaubens = Begierde (verstehet dem Feuer = Munde der Seelen, als dem wahren Leben) seinen himmlischen Leib, und sein himmlisches Blut, auf Art und Weise, wie sich der himmlische Ens im Ziele des Bundes in Marien in den menschlichen Ens eingab, und Eine Person ward, gantz ohne Zertrennung." (abm 2, 11) Weil die wesentliche Einwohnung Jesu Christi im Christenmenschen in antitypischer Analogie zur Konstitution des gottmenschlichen Prototyps vor Ort der biblischen Geburtslegende gesehen wird, kann die leibhaftige Bedeutung des Abendmahls nicht auf einen liturgischen Sonderbezirk eingeschränkt 66

Vgl. G. v. d. Leeuw, Sakramentales Denken, S. 115 ff.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

werden. Brot und Wein können nicht allein durch ihr materielles Vorhandensein eine automatische Gnadenwirkung für sich beanspruchen, die von einer lebenspraktischen Umsetzung völlig unabhängig wäre. Erst auf diese Weise kommt es nämlich zur leibhaftigen Anverwandlung der durch Essen und Trinken verinnerlichten Gnadengabe. 67 Abgesehen von der eingetauften Unvertretbarkeit im jemeinen Glauben bliebe das Abendmahl für die Vita Christiana völlig unverbindlich. Ex opere operato wäre es nämlich strukturell von banalen Mahlzeiten zur Sicherung der körperlichen Existenz nicht mehr zu unterscheiden: "Zu solchem Ende ist dieses Testament der Niessung unter Brot und Wein geordnet: Nicht zu verstehen, als wäre es eine sonderliche Niessung, derer ein Christ ausser diesem Brauche nicht könte theilhaftig werden; Dann so wir in Christo sind, und Er selber in uns ist, und unser Leben und Licht ist, und wir also in dem wesentlichen Glauben (welches Glaubens = Wesen Er selber ist) in ihn eingewurtzelt sind, warum solte dann dieselbe Lebens= (Glaubens=) Begierde nicht können allezeit, wann sie sich nur darein wendet, davon essen?" (abm 3, 53 = 42 f.) Böhme befreit das Abendmahl hermeneutisch endgültig von substanzontologischen Reminiszenzen an die mittelalterliche Transubstantiationslehre. Das "mündlich(e) Essen und Trincken" bildet lediglich das "Mittel, darinnen der menschliche Leib die Gnade empfinge" (abm 2, 22). An sich selbst außerhalb der performativen Sprach- und Symbolhandlung ("extra usum") bedeutet es nichts, denn "das gehet in Bauch und wieder davon aus, wie alle natürliche Speise, (Matth. 15 : 17.)" (abm 3, 10). Brot und Wein verhalten sich nur als "ein leidend Mittel" (abm 3, 38). Ihre Wirksamkeit liegt jenseits ihrer vier elementischen Banalität im Bereich der Quintessenz der alchemischen "Tinctur", die feinstofflich auf den Menschen wirkt: "Im Brot und Wein werden 2 Eigenschaften verstanden, als (1.) das grobe elementische irdische Wesen, das gehöret dem tödtlichen Menschen, und denn (2.) die Kraft darinnen, da die Tinctur des Brots und Weins inne lieget, welche Tinctur über das elementische Wesen ist, ... Dieselbe ... ist das wahre Mittel, damit sich Christus der menschlichen Tinctur, als dem menschlichen Leben einergiebet. Dann der Mensch lebet nicht allein von 4 Elementen, (Matth. 4: 4.) die grobe Speise, welche in den Mund eingehet, erhält das Leben nicht allein, sondern die inwendige Kraft, als die 5te Essentz, darinnen die Tinctur, als ein geistlich Feuer inne lieget." (abm 3, 35 f. = 40 F 7, 1 ff. 17. 20; 3fL 13, 13 - 26) Böhme will mit der alchemischen Metaphorik offenbar die transsubstantianische Verwechselung von Christus praesens und Abendmahlselement vermeiden und stattdessen Luthers Konsubstantiationslehre entsprechend die ontologische Dif-

67

Hirsch, Jakob Böhme, S. 241, spricht in diesem Zusammenhang davon, daß bei Böhmes Abendmahlsinterpretation die "Einbildungskraft (Imagination) des Menschen" angesprochen werde." Der romantische Terminus ist hier lediglich aufs leibhaftig Ethische zu beziehen.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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ferenz der altkirchlichen Zwei - Naturen - Lehre deutlicher ins Spiel bringen. 68 "(D)ie Niessung" des Abendmahls geschieht daher für Böhme "in wesentlicher und geistlicher Weise zugleiche" (abm 2, 27). Ihm geht es darum, die leibliche Ausdruckskraft vom körperlichen Vorhandensein des Brots und Weins eigens zu unterscheiden, wodurch der Christus praesens den Menschen ebenfalls über sein körperliches Vorhandensein hinaus bei seiner beseelten Lebensführung behaften kann: 69 "Die 4 elementische Speise wircket nur tödlich Fleisch, und gibt ein Quellen oder Bewegen des tödlichen Lebens; aber der geistliche Mensch nimt sein Nutriment von der Quinta Essentia, und das Feuer = Leben des Menschen nimt sein Nutriment von der Tinctur, dann es ist selber eine Tinctur, als ein geistliches Feuer. Darum flösset Christus sein himmlisches Fleisch und Blut, ... dem Leben des Menschen durch und mit des wahren Lebens Nutriment, als durch die Tinctur Brots und Weins, ein." (abm 3, 37 = 3 i L 13, 1 6 - 2 6 )

Eine die Vita Christiana zur Durchsetzung verhelfende Verbindlichkeit gewinnt das Abendmahl erst "in einem neu = menschlichen Leben" (abm 2, 26), das gleichursprünglich als Manducatio internalis zur äußeren Nießung der Elemente in Erscheinung treten muß. Die lebenswandelnde Wirkung des 68

Zum Zusammenhang von Zwei - Naturen - Lehre, ontologischer Differenz und Konsubstantiation in Luthers Abendmahlslehre vgl. W. Stählin, Mysterium. Vom Geheimnis Gottes, Kassel 1970, S. 24. 42 - 48. 62. Stählin bedient sich Luthers eigener Kurzformel "In", "Mit" und "Unter", um das Spezifische an Luthers Abendmahlslehre prägnant charakterisieren zu können. "In" steht für die eindeutig identifizierbare, wesentliche Einwohnung Jesu Christi in die leibhaftig nach Raum und Zeit ausdifferenzierte Heilsgegenwart vor Ort von Brot und Wein. "Mit" steht für das segnende Mitsein Gottes, der an den Körperdingen Brot und Wein leibhaftig in Erscheinung tritt, ohne dieselben ihres symbolischen Eigenwertes zu berauben. "Unter" steht für eine Verborgenheit Gottes hinter Brot und Wein, da er noch über jede konkrete Verleiblichung hinaus sich verleiblichen kann. Er darf niemals transsubstantianisch bzw. monophysitisch mit Brot und Wein verwechselt werden. Vgl. auch H. Graß, Die Abendmahlslehre bei Luther und bei Calvin, S. 127. Dazu vgl. M. Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528, in: BoA. Bd. 3, Bonn 1913, S. 352 - 516, hier S. 464 f.: "Im/ Mit/ Unter", S. 456 - 462. bes. 458 zur Bedeutung der Zwei - Naturen - Lehre in diesem Zusammenhang, S. 461 zur Fassung der ontologischen Differenz als "Synecdochen", d. h. als Mitnennung weiterer strukturanaloger (typisch analoger) Verwirklichungsmöglichkeiten in einer konkreten (für die folgenden prototypischen) Verwirklichung, m. a. W. als Bedingung der Möglichkeit typischer Wiederholung in Korrelation zu einem geschichtlich manifesten Prototypen. Ontologische Differenz so auch bei Heidegger, Sein und Zeit, S. 32 ff., zur Vermeidung der Verwechselung von Phänomen und einmaliger augenblicklicher Erscheinung. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist Aristoteles, Metaphysik. IV, in: ders., Die Lehrschriften, übers, v. P. Gohlke, Paderborn [2. Auflage] 1961, S. 162/ 1018 b 10: "Da das Eine und das Sein verschiedene Bedeutung hat, müssen auch die übrigen Begriffe, die in diesem Bereich abgeleitet werden, diesen folgen, so daß auch das Selbe und das Andere und das Gegenteil in dieser Weise sich verändern je nach ihrer Aussageform."

69

Von einer Aufgabe lutherischer Positionen zugunsten eines schwenckfeldischen Spiritualismus kann bei Böhmes lebenspraktischer Applikation der Abendmahlsszene keine Rede sein. Böhmes Aussageabsicht würde sonst dogmatistisch überinterpretiert; so bei Hirsch, Jakob Böhme, S. 237.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Abendmahls kommt nicht sekundär zu einer Veranstaltung in einem liturgischen Sonderbezirk hinzu. Die performative Sprach- und Symbolhandlung der Abendmahlsfeier erstreckt sich eo ipso immer auf ein die gesamte Alltagswirklichkeit unter sich begreifendes Abendmahlsleben, "dadurch unser recht adamischer Mensch gesegnet würde" (abm 2, 23): 70 "Dann die menschliche Kraft ist der Göttlichen eine Empfindlichkeit, oder Findlichkeit, darinnen sich die Göttliche Kraft in Etwas, als im geformten Wesen des Worts der Kraft findet, darinnen sich die Göttliche Kraft liebet, als in ihrem empfindlichen Wesen, wie sich die Seele in ihrem Leibe liebet." (abm 3, 6) Die Sensibilisierung für den Christus praesens bzw. das sich in ihm sinnenfällig verdichtende Gottesleben geschieht lebenspraktisch. Böhmes die Lebensgestaltungskraft des Christus praesens phänomenalisierende Szenographie der Abendmahlstypik hebt auf die Symmetrie zwischen Ein- und Ausdruck ab. Erst dann verhalten sich die Inkarnation des Wortes Gottes im biblischen Christusbild und die Menschwerdung der Lebensgestalt des Christus praesens im leibhaftigen Glaubensleben des jeweiligen Christenmenschen als vollkommen analoge Darstellungen gottebenbildlichen Lebens: " ... wie das Wort Göttlicher Kraft Mensch worden ist: also wirds auch mit dem Glauben gefasset, und wird in seinen Gläubigen auch Mensch." (abm 3, 28 = 41) "Dasselbe geistliche, wesentliche Wort nimt unsere Menschheit... an sich, und gibt sich derselben ein, und wircket, und wohnet darinnen wesentlich, auf geistliche Art, wie Er in dem Leibe wohnete und wirckete, den Er von Maria annahm. ...". (abm 3, 29) Der "wesentliche Glaube" (abm 3, 45) besteht für Böhme darin, daß das Wort Gottes den Menschen "im Gemüthe, Sinnen und Willen" (abm 3, 30) anspricht. "(B)öse Einflüsse in Gedancken und Willen" (ebd.) werden wie durch Feuer "verzehret", "dann es nimt das Leben des Menschen ein, und regieret das" (ebd.). Über die Verinnerlichungsgestik von Essen und Trinken als leibhaftige Einwohnung des Christus praesens im ubiquitär gegenwärtigen Abendmahlsleben des Christenmenschen (vgl. abm 3, 42 f.) hinaus arbeitet Böhme den gemeinschaftlichen Charakter von Essen und Trinken heraus, um für den Christus praesens als alles besinnende Lebensgestalt zu sensibilisieren. Christus erscheint als Gastgeber und Tischherr (ep 46, 19). Der Mensch partizipiert am Beziehungsgeflecht des Gotteslebens, da er bei "Vater" und "Sohn" als gleichberechtigtes Glied der Familie "an GOttes Tische" (40 F 13, 1) sitzt, so daß alles, womit der Tisch gedeckt ist, jedem Mitglied der Tischgemeinschaft in gleichem Maße zugute kommt: "(A)lles was der Vater hat, das ist seines Sohnes; und alles was der Sohn hat, das ist seiner Bildniß: Sie isset GOttes Fleisch, und Christi Leib, und von solchem Essen wächset ihr auch

70

Vgl. W. Stählin, Mysterium, S. 113 f., der hierfür stärker als Böhme an die mittelalterliche Opfertheologie anknüft, um "christliche Grundhaltung" und "configuratio cum Christo" typologisch aus der Abendmahlsszene herauslesen zu können.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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GOttes Leib, daß sie also GOttes Leib hat, und ist GOttes Kind; nicht alleine Gleichniß, sondern Kind, aus GOttes Essentz, in GOtt geboren, und lebet in GOtt." (ebd.) Das Charakteristikum der Gotteskindschaft besteht in der Geborgenheit, die die Tischgemeinschaft atmosphärisch ausstrahlt. Der Mensch ist der Sorge um die Gaben auf dem Tisch enthoben. Der Christus praesens erscheint daher als ein sich aufopfernder Gastgeber. Böhme macht hierzu eine Anleihe bei der Topik der Sakralkunst. Christi Seitenwunde am Kreuz steht auch bei ihm "emblematisch" (vgl. oben 1.3.3.) für die Stiftung des Abendmahles. Mit einer bereits an Zinzendorff erinnernden Drastik zeichnet Böhme die Seitenwunde als Inbegriff der liebevollen Atmosphäre des göttlichen Festmahles. Sie eröffnet dem von Not und Einsamkeit bedrohten Menschen eine Stätte der Zuflucht: "Christus beut uns an sein Fleisch zu einer Speise, und sein Blut zu einem Trancke, ...: Er will uns als seine Kinder nicht Wäysen lassen; wie ein Vater für seine Kinder sorget, also sorget Er für uns. Und wenn gleich ein Vater sein Kind verliesse, so will Er uns doch nimmermehr verlassen, denn Er hat uns in seine durchgrabene Hände gezeichnet, und in seine hohle Seite genommen, daraus Blut und Wasser rann; deme sollen wir glauben und vertrauen,...". (3fL 13,2) Die Topik der Seitenwunde bildet zugleich einen Antitypos zur Rippe Adams, aus der der Schöpfer Gen 2, 21 ff. Eva als Frau schafft. Die Vollgestalt des Menschen enthält also notwendig Mann und Frau: "(D)ieses war in Adam eins, denn er war Mann und Weib" (Mw I 6, 6). Die "Turba" der Zweigeschlechtlichkeit macht aus Adam nur noch einen "halbe(n)" (ebd.) Menschen. Er kann die Ebenbildlichkeit immer nur zur Hälfte verwirklichen, da er nur noch deren halben "Character" (ebd.) aufweist. Im Abendmahl gelingt im Rahmen der Tischgemeinschaft des Christus praesens also das, was jede Ehe nur höchst unvollkommenen symbolisiert, die Einheit des Menschengeschlechts: 71 "... Adam ward in seiner Seiten zerbrochen mit der Ribbe zum Weibe; in dieselbe Seite muste Longini Speer mit GOttes Grimme kommen, denn er war in Adam kommen, und aus Marien Irdigkeit auch in die Seite Christi, und muste das Blut Christi den Grimm ersäuffen, und ... die irdische Turbam ..., auf daß der erste Adam wieder heil würde." (Mw I 6, 8) Die Sym71

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VIII/ S. 64 f. Dazu vgl. E. Benz, Adam. Der Mythus vom Urmenschen, München - Planegg 1955, S. 19: "Hier liegt auch die Wurzel der Metaphysik des Geschlechts, die das ganze Werk Jakob Boehmes durchzieht. Der erste Fall des Menschen ist der Fall aus der Einheit in die Vielheit,... aus der androgynen Einheit in die Zweiheit des Geschlechts. Darum ist das Ziel aller Liebe die verlorene Einheit. Jede Liebe sucht die Wiederherstellung der Einheit des androgynen Menschen." Zur Textgrundlage vgl. ebd., S. 51 ff., dort jedoch ohne den expliziten erfahrungssoteriologischen Bezug Böhmes auf die Restitution der Einheit in der Szenographie des Abendmahls. Die platonische Herkunft des "Mythus vom Urmenschen" untersucht G. Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 78 - 80, dort in anthropologisch - phänomenologischer Perspektive.

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

bolhandlung des Abendmahls "ist darum geordnet, daß wir also sollen zusammen kommen ..., daß wir uns sollen stets erinnern, was Er hat für uns gethan, und ... sollen uns darmit in Liebe verbinden, und erinnern, daß wir in Christo Glieder eines Leibes sind, daß wir in Christo alle nur Einer sind." (abm 3, 48) Daraus resultiert ein hoher normativer Anspruch. Insofern Abendmahl, Christomorphose und Lebensgestalt untrennbar zusammengehören, ist die vollkommene Abendmahlsgemeinschaft immer ein elementarer Bestandteil des individuellen christenmenschlichen Lebensausdrucks. Jeder Einzelne muß ein lebendiger Symbolträger der in der Tischgemeinschaft nachempfindbaren Pax Christiana sein (vgl. auch 2 . 4 . ) : "Darum sollen wir dieses recht betrachten, und nicht mit unwürdigem Hertzen und Munde zu solcher Gemeinschaft treten, und meinen, es sey genug, daß wir Brot und Wein niessen. Nein, es ist eine brüderliche, gliedliche Verbindniß: Wir verbinden uns darmit in Christo zu einem einigen Menschen, und derselbe einige Mensch ist ein ieder in Christo selber." (abm 3, 51) Der Christus praesens konkretisiert sich im Abendmahl zu einer Sensibilitätsschule für die friedliche Einheit des Menschengeschlechts. Dabei ist jeder Einzelne auch Repräsentant der vollkommenen Gemeinschaft. 72

3.2.4. Die szenographische Bildlogik des Kreuzes Die zentrale Figur der Taufszenerie (s. o. 3.2.2.) war Rom 6, 3 f. zufolge der Kreuzestod Christi (vgl. Ti II 236). So ist es nicht weiter verwunderlich, daß Böhme das Kreuz Christi zu einem prägnanten Sinnbild des getauften Christenmenschen stilisiert, das dieser seit der Taufe am eigenen Leibe trägt und im Lebensvollzug zur Darstellung bringt: "So reden wir von unserer Kinder = Geburt in GOtt, denn unser Anfang ist aufm f . wir sind aufm t erschaffen nach unser Seelen, darum ist auch der Leib ein f , und das Centrum als das Hertze ist mitten im t e , und sind mit Adam ausgegangen von der Bildniß des f e s in die Schlangen = Bildniß; Es hat uns aber der Jungfrauen Sohn am t wiedergeboren zur himmlischen Bildniß." (3fL 5, 34) Im Emblem des Kreuzes läßt sich also am Leib des Christenmenschen ein ganzes Kompendium der Heilsgeschichte ablesen, das Böhme auf der Basis der Adam - Christus Typologie aus Rom 5, 12 ff. modelliert. Der der Kreuzesgestalt eingetaufte Christenmensch befindet sich deshalb im Gegensatz zur "Schlangen = Bildniß" des in Adam gefallenen Menschen. Dieser hat die dem Menschen angemessene

72

So kommt Böhme zu seinem individualistischen Kirchenbegriff als Gesellschaft der leibhaftigen Christenmenschen (vgl. oben 2.4.). Schleiermachers liberal - theologische Aufnahme dieser Tradition ist über die englischen Böhmisten John Pordage, Bromley und Jane Leade, sowie über Puritanismus und englischen Liberalismus vermittelt. Die drei englischen Böhme - Übersetzer heben für ihr eigenes Ethos christenmenschlicher Lebenspraxis den Mythus vom androgynen Urmenschen als Prototyp besonders hervor; vgl. E. Benz, Adam. Der Mythus vom Urmenschen, S. 21. 79 ff.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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Ausdrucksgestalt verloren. Böhme meint das Charakterbild desjenigen Menschen, der sich durch die Körperwelt schlängelt, d. h. sich konturlos im Gewirr möglicher Sinnkonstrukte verliert, ohne eine eindeutige Ausdrucksgestalt zu erwerben, in der Körper und Seele in harmonischer Leibeseinheit ein in ebenbildlicher Relation zum Schöpfergott stehendes Leben darstellen: "... Aber die Schlange stellet sich vor uns, daß wir nach dem Versuchbaum imaginiren, wie solches vor Augen stehet; wann die Jugend ein wenig erwachset, so kreucht sie in Pracht und gleißnerischen Hochmuth, und setzet der Schlangen das Paradeis = Kräntzlein auf: Also spielet die Schlange mit ihnen, lehret sie allerley Üppigkeit, und führet sie aus dem Paradeis in diese Welt, in Pracht und Hochmuth, darzu gehöret Geitz und Falschheit, das man deme kan genug thun; ...". (3fL 7, 36 = Sg 7, 46) Das mit der biblischen Prototypik von Gen 3 gezeichnete Charakterbild des in lebenspraktischer Hinsicht gottlosen Menschen bildet einen deutlichen Kontrast zum sinnenfälligen Körperschema des Menschen. Dasselbe "ist eine gantze Figur des Creutzes, und gleichet sich einem Creutz = Baume nach der äussern Bildniß des Leibes, da der Leib zwey Arme hat ..., da der Leib in Mitten stehet, als die gantze Person" (40 F 1, 187). Der aufrecht, mit ausgebreiteten Armen dastehende Mensch weist eine dem Augenschein offenbare Ähnlichkeit mit dem Gekreuzigten auf. 73 Dessen prototypisches Lebensbild korreliert typologisch dem körperlichen Erscheinungsbild des Menschen. Wenn daher Körperschema und lebensgeschichtliches Charakterbild im Zeichen des Kreuzes einander entsprechen, ist die Heilswirklichkeit des Christus praesens im leibhaftigen Glaubensleben des Christenmenschen inkarniert. 74 Auf diese emblematische Weise reformuliert Böhme die traditionelle Soteriologie sozusagen als eine Phaenomenologia crucis. Die ausgebreiteten Arme gehören phänomenologisch betrachtet zur elementaren, die ganze Menschheit einenden Gebärdensprache der Gastfreundschaft. So präfigurieren die zum Empfang ausgebreiteten Arme des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn (vgl. Lk 15, 20) für Böhme mitten in einer erzählten Alltagswelt das Erbarmen Gottes als des himmlischen Vaters gegenüber dem in die ebenbildliche Darstellungsrelation zurückkehrenden Menschen: "Er hat in Christo beyde Armen am Creutze ausgebreitet, uns zu empfangen, wir sollen uns Ihme nur einwerfen, und aus der Vernunft und Bosheit ausgehen; so wir das thun, so fallen wir in Christi Armen." (ep 9, 10) Aufgrund einer an der Bibellektüre geeichten Wahrnehmungsfähigkeit läßt sich der Mensch vor Ort des leiblichen Ausdrucks seines Körperschemas als Vestigium crucis ausweisen. Schon der dem alltäglichen leibhaftigen Lebens73 74

Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 18. A. Koyré, La Philosophie de Jacob Boehme, S. 491 f., beschreibt Böhmes diesbezügliche Programmatik zur christenmenschenlichen Lebensführung sub signo crucis mit dem leibhaftigen Imperativ: "Sois toi - même ou ... deviens toi - même; ... réalise ton propre être idéal, ta personnalité véritable"!

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Vollzug zuhandene Körper 75 stellt aufgrund der Ausdruckskraft des Körperschemas für Böhme einen impliziten Hinweis auf eine christomorphe Lebensgestalt dar. Die Kreuzesform, die aufgrund der biblischen Prototypik als wesentliche Form des menschlichen Körperschemas ausgewiesen worden ist, dient Böhme auch als Vestigium trinitatis. Er bezeichnet das "Creutz T" als einen "Character der H. Dreyfaltigkeit" (Mw I 6, 6), der an der Menschengestalt ablesbar ist. Das im Kreuzesemblem verdichtete Körperschema wird somit zur Fundamentalfigur biblisch - theologischer Besinnung, in der Theologie, Kosmologie, Anthropologie und Soteriologie einen unmittelbaren Strukturzusammenhang ergeben (vgl. 3fL 6, 51). 76 Die Erschaffung des Menschen durch das Schöpfungshandeln Gottes läßt sich nunmehr ebenfalls im Zeichen des Kreuzes so reformulieren, daß die in der Seele verdichtete Vitalität des Menschen sich leibhaftig in die Kreuzesform des Körperschemas einfindet und auf diese Weise individuiert. Die "Seele" sei beim "Göttliche(n) Fiat" zunächst "in ein substantialisch Wesen" gebracht und "dazu mit dem gantzen t mit dem Character der H. Dreyfaltigkeit, als eine Gleichniß des dreyfachen Geistes der Gottheit, in der GOtt wohnet" (Mw I I I , 2), versehen worden. Die Vertikalachse des menschlichen Körperkreuzes weist eine noch weitergehende Strukturanalogie zum Schöpfungshandeln der Dreifaltigkeit Gottes auf. An deren nach oben wie nach unten weisendem Richtungssinn ergibt sich der die Kosmogonie maßgeblich bestimmende, dynamische Gegensatz von an sich unbelebter Körperlichkeit und vitaler Gegenwart des Creator spiritus, durch den sich die Schöpfung in eine sinnvolle Vielfalt belebter Körper prozessual ausdifferenziert (dazu vgl. genauer 4.1.). Böhme ruft zu diesem Zweck die unterschiedlichen Bewegungssuggestionen der leiblichen Ausdrucksmotorik in Erinnerung, die in 3.1. als Zu - Boden - Sinken und Erhebung (Lévitation) beschrieben worden sind. Hier gehören sie in den Zusammenhang 75

76

Der Gebrauch des Körpers als eines Werkzeugs ist nicht eo ipso schon mit der rein körperlichen Existenz des Homo faber gleichzusetzen. Dort geht es um die Vorhandenheit, hier um die leibliche Zuhandenheit des eigenen Körpers; vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 69. 75 f. 81, und W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 43 ff.: "Der Leib als Werkzeug". Vgl. H. Timm, Das Weltquadrat. Eine religiöse Kosmologie, in: ders., Phänomenologie des Heiligen Geistes. Bd. 1: Elementarlehre, Gütersloh [2. Auflage] 1986, S. 32 ff.: Timm spricht vom "Tetragramm" (S. 32. 37 f.), auf das sich "Gesichtskreis" und "Erdenrund" physiogomisch - phänomenologisch reduzieren lassen. Die Gottnatur soll im Anschluß an Eph 3, 18 "in ihr(er) Breite, Länge, Höhe und Tiefe" wahrgenommen werden: "Denn das sind die faktischen Dimensionen unserer leibhaften Weltsicht: die Breite, quer von links nach rechts; die Länge, geradeaus bis zum Horizont, wo Himmel und Erde zusammenstoßen; die Höhe, von den Augen aufwärts ins Überirdische, und die Tiefe abwärts bis zum Boden, bis in die Unergründlichkeiten des Meeres und in die fiktiven Schrecken der Unterwelt. Das Gesicht ist wiederum eine der vier Seiten, woran sich der Mensch orientiert: vorne - hinten - rechts - links. Und damit wäre das Viererschema erreicht, das der spirituellen Kosmographie als Koordinatensystem diente."

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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einer schöpferischen Dynamik, die der lebendige Mensch an der Kreuzesförmigkeit seiner leiblichen Ausdrucksmotorik als Vestigium creationis vergegenwärtigt: "O Mensch, suche dich, so findest du dich; siehe, dein gantzer Mensch ... war ... aufm t der Drey = Zahl, da sich Licht und Finsterniß scheidet ... als Sincken und Aufsteigen, von welchem das Bewegen des Elements entstehet, so wol das Durchdringen und Vielfältigen, da doch nichts ist als nur ein solcher Geist; so ist die Wesenheit Leib, und eine Unmacht, dann es ist ein Sincken, und das Aufsteigen ist Geist." (3fL 6, 50) Das Kreuzeszeichen bzw. die darin emblematisch verdichtete Menschengestalt gehört für Böhme somit in die Mitte des Schöpfungsdramas. Das Kreuz erscheint als Urfigur der Schöpfung, die gestalthafte Ordnung in das Chaos bringt. In der Mitte eines Rades stehend hält es die Waage zwischen zentrifugalen Vitalkräften und zentripetalen Formkräften, zwischen Zorn und Liebe, Feuer und Licht. An der Radnabe, wo die Intensität der Spannung zwischen den entgegengesetzten Bewegungsrichtungen am größten ist, leuchtet deshalb ein "Blitz" als Ausdruck dieser Spannungsintensität auf: 77 "Und dann wie das Rad der Essentien mit dem Blitz der herben Überwundenheit gehalten wird, und das Centrum als ein (Creutz = Rad) φ stehet ..., da das Rad zwar treibet, aber über sich: drum steiget die Feuers = Qual über sich; dann alle Gestalten der Natur eilen dem Feuer nach, und das Feuer fleucht von ihnen, dann es will frey seyn,... [...] So nun ... des ersten Willens Liebe = Begehren zeucht die Freude an sich, und das Licht scheinet aus der Freuden: also bleibet diese theure heilige Geburt auf dem Θ (Creutze), da gehet das Rad der Essentien im te, und die Freude, als der Feuer = Quell, steiget über sich, und das Centrum hälts." (3fL 3, 9. 11) In einem anderen, regelrechten "Emblemtraktat" (vgl. oben 1.3.3.) entfaltet Böhme anhand des Kreuzeszeichens den gesamten Zusammenhang von Schöpfung und Neuschöpfung. Böhme gelingt es auf diese Weise, den Schriftsinn in einem Sinnbild zu versammeln. Kreuzesemblem und Begleittext Böhmes ergeben hier einen dreifaltigen Inbegriff der christlichen Weltordnung: "Nun macht aber der Blitz, wann er sich von der Freyheit und vom kalten Feuer entzündet, in seiner Aufgehung ein Creutz, mit Umfassung aller Eigenschaften, dann alhie urständet der Geist im Wesen, und der stehet also: d Hast du alhie Verstand, so darfst du nicht mehr fragen, es ist Ewigkeit und Zeit: GOtt in Liebe und Zorn, darzu Himmel und Hölle. Das

77

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VI/ 60 f., dort zu Böhmes Anregungen für Newtons Kreismechanik, d. h. der Beschreibung bewegter Körper auf Kreisbahnen um einen Ruhepol, in dem sich Flieh- (Zentrifugal-) und Schwerkraft (Zentripetalkraft) die Waage halten. Auf S. 62 verweist Oetinger auf die kabbalistische Fassung des hebräischen Aleph, das wie das christliche Kreuz bei Böhme als schöpfungstheologisches Principium individuationis für leibhaftige Individualität steht: "Aleph divinum crucis est lucis origo. Durch dies setzt Gott alles heraus aus der wesentlichen Möglichkeit in die subsistierende Wirklichkeit."

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Unter = Theil also o ist das erste Principium, und ist die ewige Natur im Zorn als das Reich der Finsterniß in sich selber wohnende, und das Ober = Theil (mit dieser ¿ Figur) ist der Salniter, das obere Creutz überm Circkel ist das Reich der Glorie, welches im Schracke der Freudenreich, in dem Willen der freyen Lust, in sich aus dem Feuer im Lichts = Glantze, in Kraft der Freyheit, ausgehet; und dasselbe Geist = Wasser, das im Schracke der Freudenreich mit aufgehet, ist der freyen Lust Leiblichkeit oder Wesenheit, in welchem der Glantz (Glast) vom Feuer und Lichte eine Tinctur machet, als ein Grünen und Wachsen, und eine Offenbarung der Farben vom Feuer und Lichte." (Sg 14, 29) Böhme zeichnet also die aus der Schöpfung hervorgegangene Lebenswelt des Christenmenschen als ein "Kreuz der Wirklichkeit" (Moltmann). Da das Kreuz trotz seiner schöpfungstheologischen Implikationen immer die Universalchiffre des Christus praesens bleibt, wird deutlich, daß Böhme sich einen "kosmischen Christus" als den zentralen Mittler von Schöpfung und Neuschöpfung gemäß Eph 1, 10 (vgl. auch Kol 1, 16; Joh 1, 3. 10; Hebr 1, 2) vorstellt:

ανακεφαλαιωσασΰαι τα παντα εν τω Χριστώ.78

Die Neuschöpfung des Christenmenschen schildert Böhme als eine "Creutzes = Geburt". Dort "quetschet je eine Gestalt der Natur die andere" (ep 11, 24 = Κ II 24). Mitten aus dem Zentrum spannungsreicher Intensität geht also der Christenmensch hervor, dessen Leben von nun an aus "Creutz = Tragen" (ebd.) besteht. Dabei geht es zunächst einmal darum, die Erlösung des Christenmenschen aus Todesangst, Ekel und Scham mit der schöpfungssoteriologischen Bildlogik des Kreuzes zu schildern. Die Kreuzigung Jesu Christi im biblischen Passionsbericht erscheint sodann als prototypische Figur für den zentralen Durchbruch des entfremdeten Christenmenschen zu einer neuerlichen Lebensmöglichkeit im Horizont des Christus praesens: "Und sehet ihr alhie, nachdeme das Wort Mensch geworden, hat sich derselbe Mensche lassen ans Creutze hängen, und ist am Creutz in Tod eingegangen: Verstehe, der Neue lebendige Mensch aus GOtt geboren, ging in Tod und in Abgrund, und zubrach den Tod in der Seelen, und eröffnete das Centrum der Seelen; Denn Er brach alle sieben Siegel des Centri Naturae, daß die Seele wieder eigenmächtig ward, dann Er zündete wieder an das Göttliche Feuer in der Seelen, daß die Seele 78

Eine Ähnlichkeit mancher soteriologischer Gedanken Böhmes mit der Recapitulatio Christologie des Irenäus bemerkt E. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 91. Anm. 46. Vgl. auch J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik der christlichen Theologie, München 1979, S. 171 - 174. 179 - 183. 230 ff., bes. S. 232 f. mit Bezug auf die Trinitätslehre, S. 252 - 255 mit Bezug auf 1. Kor 15, 28, S. 265 - 267 mit Bezug auf Apg 17, 28 als die altkirchlichen und biblisch - theologischen Grundlagen eines kreuzestheologischen Panentheismus. S. 265: "Hat Gott den Tod am Kreuz auf sich genommen, so hat er das ganze Leben und das wirkliche Leben, wie es unter Tod, Gesetz und Schuld steht, angenommen. Er ermöglicht damit die Annahme des ganzen wirklichen Lebens und des ganzen wirklichen Todes. ... (D)er Mensch nimmt im Glauben leibhaftig an der Fülle Gottes teil."

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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wieder aus ihrem eigenen Feuer die ewige Tinctur erreichete." (3fL 8, 40) Die Bedeutung des Kreuzeszeichens als kosmogonischer Urfigur wiederholt sich sowohl in der Kreuzigung Jesu, als auch in der Christomorphose des Menschen. Es individuiert und inkarniert die schöpferische Potenz des dreifaltigen Gotteslebens in einer konkreten Lebenswelt an einem konkreten Leib, so daß es die Universalchiffre für die ebenbildliche Gottesrelation des christenmenschlichen Leib- und Weltumgangs darstellt. Mit der revitalisierenden Wirkung des Kreuzeszeichens geht allerdings seine Opferbedeutung einher. Jeder Christenmensch läßt in der Todesangst, aus der er sich zu neuem Leben erhebt, auch etwas zurück, nämlich den adamitischen, ganz auf die Körperwelt hin angelegten Lebensentwurf. Deshalb liest Böhme die Prototypik der Kreuzigung Jesu mit der Prototypik der Opferung des Isaak (Gen 22, 1 - 14) zusammen. Diese Geschichte "deutet an, daß wir mit Christo wol gebunden und auf das Holtz gelegt werden, auch um Christi willen sterben müssen: Aber wir können mit unserm Tode nicht dieses Opfer erreichen ..., sondern Christus hats allein gethan; ... der Glaubens = Ens ... kann es noch heutiges Tages in den Christen in Christo, in seiner Menschheit in uns, thun. Also auch muß ein ieder wahrer Christ mit Isaac in Christi Figur eingehen, sich willig in Tod Christi einergeben" (Mm 48, 20 f.). Das Kreuzesemblem weist also aus seiner Bildlogik heraus den Christenmenschen zu einer Postfiguration der aufopferungsvollen Hingabe Jesu an die ebenbildliche Darstellungsrelation, in der die Beziehungslosigkeit einer Existenz in körperlichem Vorhandensein aufgehoben ist. Böhme zielt auf die Opferung des alten Adam im Sinne der paulinischen Übersetzung von Gottesdienst in einen Lebenswandel von der Art, "daß ihr eure Leiber gebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei" (Rom 12, 1). "(D)er alte Adam" muß "hintennach gehen, und oft thun, was er nicht will: ..., das thut er nicht gerne, aber das Jungfräuliche Bild in Christo zwinget ihn, denn es will Christo seinem Bräutigam gerne mit Freuden nachfolgen, und Ihme ähnlich werden in Creutz und Trübsal. ...: er muß Christi Creutz tragen, und Christi Dornen = Crone aufsetzen, sich wol lassen ausäffen, narren und spotten, will er Christi und der Jungfrauen Crone aufsetzen; ..." (Mw I 13, 14 f. = 12, 23; 13, 8; 13, 17). Ähnlich wie bei der Taufe (s. o. 3.2.2.) wird der der Kreuzesgestalt eingetaufte Mensch in die Passion Jesu Christi hineingestellt. Der Christenmensch befindet sich für Böhme auf einem Kreuzweg durch diese Welt, die immer wieder ihr nacktes körperliches Vorhandensein zu Sinnkonstrukten einer beziehungslosen Lebenspraxis verlockend anzubieten versteht. Immer wieder gilt es, derlei Verlockungen zu widerstehen. 79 79

Vgl. W. Stählin, Mysterium, S. 113 f.; ders., Vom Sinn des Leibes, S. 125 - 130. Das gehört heute noch zum Inbegriff hochkirchlicher Abendmahlsfrömmigkeit mit Blick auf die Sendung der Kommunikanten in die kommende Woche; vgl. die Schlußkollekte nach dem Hlg. Abendmahl in der anglikanischen Liturgie, in: The Book Of Common Prayer And The Administration Of The Sacraments According To The Use Of The

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

3.2.5. Die marianische Protoypik In mehrfacher Hinsicht ist bisher angeklungen, daß Jakob Böhme die Inkarnationsfigur auf den Christus praesens dergestalt anwendet, daß der Lebenswandel des Christenmenschen die Prototypik des Lebensbildes Jesu Christi zur Welt bringt, also in einer mimetischen Postfiguration vor Ort des jemeinen Leibeslebens konkretisiert bzw. inkarniert. Böhme entwirft zur Plausibilisierung dieser gegenwartshermeneutischen Reformulierung der Soteriologie unterschiedliche Inszenierungen der Christomorphose des menschlichen Lebenswandels: ein Wiedergeburtserlebnis (3.1.), eine Büß- bzw. Umkehrszene (3.2.1.), die Tauf- und Abendmahlsdramaturgie hinsichtlich der lebensbestimmenden Aussagekraft ihrer jeweiligen Gestik (3.2.2. und 3.2.3.) und schließlich die emblematische Relektüre des Kreuzeszeichens als Symbol des menschlichen Körperschemas, der Schöpfung der Lebenswelt und eines schöpfungs- wie taufgemäßen Weltumgangs (3.2.4.). All diese zur Phänomenalisierung typologisch dargebotenen Sinnfiguren eines christenmenschlichen Lebensvollzugs in einer christlichen Welt beschreiben vitale Rückübersetzungen der biblischen Lebensgeschichte des Christus praesens in die leibhaftig gelebte Wirklichkeit des Christenmenschen. Böhmes Beschreibungen sollen zu dieser vitalen Übersetzungsleistung motivieren. Es geht ihm immer wieder um die Wiedergeburt des rein körperlich unverbundenen Nebeneinander - her Existierens von Mensch und Schrift zur lebendigen Synthesis der christenmenschlichen Leib- und Lebensgestalt. Die unterschiedlichen Adaptionen der Inkarnationsfigur laufen auf eine Strukturanalogie mit der Wiedergeburtsfigur hinaus. Deren Bildlogik entnimmt Böhme der marianischen Typik der weihnachtlichen Geburtslegenden, die auf das gegenwärtige Glaubensleben hin hermeneutisch reperspektiviert werden: 80 "Der in Maria in der verstorbenen Menschheit ein lebendiger Mensch ward, ohne Berührung eines Mannes, der wird auch in uns selber, in unserer verstorbenen Jungfrauschaft ein neuer Mensch" (vgl. Mw I 12, 21 = 3fL 8, 43;

80

Church Of England, Oxford o. J., S. 276 f.: "O Lord ... here we offer and present unto thee, O Lord, ourselves, our souls and bodies, to be a reasonable, and lively sacrifice unto thee, ...". "Almighty and everliving God, we most heartily thank thee, ... that we are very members incorporate in the mystical body of thy Son, ... And we most humbly beseech thee, O heavenly Father, ... that we may do all such good works as thou hast prepared for us to walk in;... Amen." Vgl. W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 135: "Das leibhafte Bekenntnis ergreift dankbar das leibhafte Bekenntnis Gottes, der eingegangen ist in den gesegneten Leib der Jungfrau Maria und als Brot und Wein eingeht in unser leibliches Leben." Böhme geht über diese unvermittelte Parallelisierung von Unio personalis und Unio sacramentalis im Sinne typologischer Korrelation noch hinaus.

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

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ApR 57). Der Christenmensch bringt demnach den Christus praesens in Analogie zur weihnachtlichen Niederkunft Mariens zur Welt. 81 Die Vernunft sträubt sich zunächst gegen die marianisch - typologische Exegese der weihnachtlichen Geburtslegenden als einer sensibilisierenden Folie gegenwärtiger Lebenswirklichkeit. "Nun spricht die Vernunft: Das ist in Maria, als nur in einer Person geschehen, wo bleibe aber ich? Christus ist nicht auch in mir geboren worden." (Mw I 12, 14) Böhme entkräftet diesen Einwand, daß die Geburt des Heilands der Welt nicht im Einmal auf- bzw. untergeht, sondern für das Allemal lebensrelevant bleibt: "(U)nd da GOtt Mensch ward, so ward das Ziel im himmlischen Theil rage gemacht; nicht allein in Maria, sondern auch in Adam und Heva, und allen ihren Kindern, welche sich in GOtt hatten einergeben." (6 Pk 8, 16). Maria ist "Mutter der Christenheit" (Sg 11, 63), indem ihr Gebären ein symbolischer Prototyp des "darstellenden Handelns" 82 der ganzen Christenheit wird: "Die gantze wahre Christenheit ist Christi Mutter, die Christum in sich gebäret." (Sg 11, 58 = 64. 66) Böhme knüpft hierbei an einen zentralen Topos römischer Ekklesiologie an. 83 Der "Jünger" unter dem Kreuz soll sich Jesu Mutter annehmen (vgl. Joh 19, 26 f.): "Seine Mutter ist die Christliche Kirche auf Erden, darinnen die Kinder GOttes geboren werden nach dem Geiste, derer soll er pflegen, und sie leiten und führen" (Sg 11, 55). Im Unterschied zur römischen Topik steht hier der "Jünger" freilich im Sinne des Priestertums aller Gläubigen für den wahren Christenmenschen, der in seinem individuellen Glaubensleben automatisch den Leib Christi erbauen hilft, da er den die Menschheit einenden Christus praesens repräsentiert (s. o. 3.2.3.). Es wird also deutlich, daß es bei der marianischen Typik immer um eine besonders leibnahe Sensibilisierung für die innere Relation des Christenmenschen zum Christus praesens geht. Darauf zielen die affektiv aufgeladenen Momente von Ehe, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, Mutterschaft und schließlich die in rückwärtiger Erinnerung dankbar in Eigenverantwortlichkeit angenommene Kindschaft mit ihrer treuen Fürsorge für die Mutter, der der individuelle Christenmensch das neue Leibesleben verdankt.

81

82

83

Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 67: "Vielmehr ist die Menschwerdung Christi in Maria nur der erstmalige und darum typische Fall der Inkarnation. Sie soll sich in jedem einzelnen Christen wiederholen." Dazu auch -allerdings in Bezug auf die bei Böhme Maria entsprechende Sophia- ebd., S. 66. 87 f., und E. Benz, Der Prophet Jakob Boehme, S. 28. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bd. II, § 129/ S. 289. § 135/ S. 317: "Darstellungen des Glaubens durch Wort und Tat" mitsamt den "Handlungen der Einzelnen". Gemeint ist die "marianisch - ekklesiotypische Perspektive" des römisch - katholischen Selbstverständnisses; dazu vgl. E. Fahlbusch, Kirchenkunde der Gegenwart, in: Theologische Wissenschaft. Bd. 9, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1979, S. 28; auch im Katechismus der katholischen Kirche, § 963 - 975 sowie § 149. 167. 169. 507. 773. 829. 2040. 2679.2853

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3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

Böhme bedient sich der mystischen Ehemetaphorik. Der Christenmensch sei dem Christus praesens "vermählet, vertrauet und eingeleibet" (Mw I 11, 10 = Sg 10, 62. 72; 6 Pk 8, 2 - 4). 84 Sodann kommt es zur Empfängnis, durch die der Christenmensch den Christus praesens in seinen Lebenswandel aufnimmt. Böhme rekurriert auf die unter 3.1.3. beschriebene leibliche Disposition (Die Verortung "(i)n der gelassenen Seele" (Mm 61, 32) bildet dazu keinen Gegensatz, da die Seele bei Böhme immer nur das vitale Zentrum des Leibes ist.) reiner Empfänglichkeit, die der vom augenblicksgöttlichen Zorneinbruch zu Tode Geängstigte habituell einnimmt: "Also werden wir des Himmelreichs schwanger und gehen also in Christi Tod bey lebendem Leibe ein, und empfahen den Leib Christi, als die Göttliche Wesenheit, wir tragen das Himmelreich in uns: Also sind wir Christi Kinder, Glieder und Erben in GOttes Reich, und das Ebenbild der H. Göttlichen Welt, welche ist GOtt Vater, Sohn, H. Geist, und derselben H. Dreyfaltigkeit Wesenheit" (Mw II 5, 15). Das Leben des Menschen "imaginirte wieder in GOtt, und ward GOttes schwanger, und ward aus der Gottheit und Menschheit Eine Person" (Mw I 10, 7). Die "halb = todte Bildniß" (Mw I 10, 6) desjenigen Menschen, der sich an seine körperliche Existenz verloren hat, wird revitalisiert. Der ebenbildliche Lebensausdruck Adams, seine "Jungfräuliche Gestalt" (ebd.), wird restituiert. Böhme spielt auf die o. g. Vorstellung von einer androgynen Urgestalt des paradiesischen Menschen (vgl. 3.2.3.) an. Adam verkörpert in der biblischen Prototypik Menschenleben überhaupt, d. h. ohne die Halbheiten der Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Mw I 6, 6). Auf diese "erste lebendige Jungfräuliche Matrix in Adam", "darinn Adam solte schwanger werden, und ein Bild nach ihme in Jungfräulicher Zucht gebären" (Mw I 10, 6), wird der Mensch im Horizont des Christus praesens angesprochen. Er soll die Einheit des Menschengeschlechts in der ebenbildlichen Darstellungsrelation zum Schöpfergott wieder leibhaftig zum Ausdruck bringen, indem er seine Individualität nicht in Konkurrenz zu derjenigen anderer, sondern als konkret ausdifferenziertes Paradigma eines lebenskonstitutiven Vorbildes versteht. Böhme hebt auch auf Marias Jungfräulichkeit ab. Wie bei ihrer Empfängnis geht es auch in der Szene "Mariae Verkündigung" (vgl. Lk 1, 26 - 38) um die leibliche Disposition reiner Empfänglichkeit, für die Böhme seine Leser offensichtlich besonders eindrücklich sensibilisieren möchte. Das "Mir geschehe, wie du gesagt hast." (Lk 1, 38; vgl. auch oben zum theologischen Freiheitsproblem 3.1.3.) steht exemplarisch für die Befindlichkeit des Menschen, in der er der Ergriffenheit vom Christus praesens keine eigenmächtige Zweckrationalität mehr entgegensetzt: "Die Jungfrau muß in rechter Liebe ohne einigen Falsch seyn; eine Jungfrau die noch keinen Mann im Zorne noch in seiner

84

Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 65 ff.; E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 250: "Die Vereinigung in Gott mit Christus erscheint darum, wenn sie mit dem Brautbilde ausgedrückt wird, gern in Gestalt der Sophienmystik."

3.2. Phänomenalisierende Typologie: Sensibilitätsschulung des Christus praesens

231

Mannheit berühret hat, dann die klare Gottheit in reiner Liebe vermählet sich auch also mit der Menschheit: und als Maria sagte, mir g e s c h e h e w i e du gesaget hast, dann ich bin des HErrn Magd, s o nahm die M e n s c h h e i t die Gottheit ein, desgleichen die Gottheit die Menschheit." ( S g 10, 5 1 ) 8 5 D e r prototypischen E m p f ä n g n i s des Christus praesens zur eigenverantwortlichen Ü b e r n a h m e der Mutterschaft bei Maria in Lk 1, 3 8 entspricht eine in rückwärtiger Erinnerung dankbare und eigenverantwortliche Übernahme der Kindschaft, w i e Jesus sie i m Gespräch mit N i k o d e m u s (vgl. Joh 3, 4 in S g 10, 57 und Joh 3, 8 in S g 10, 58) oder bei der Vermahnung der Jünger einfordert: "Es sey dann, daß ihr umkehret und werdet als die Kinder, sonst sollet ihr das H i m m e l r e i c h nicht schauen. Matth. 18: 3." ( S g 10, 5 7 ) Der M e n s c h soll durch die vorbildliche G e n ü g s a m k e i t und G e l a s s e n h e i t Jesu für das E m p f i n d e n von G e b o r g e n h e i t mitten in der c h a o t i s c h e n K ö r p e r w e i t sensibilisiert w e r d e n , n ä m l i c h "daß Er w i e d e r mit d e m W i l l e n in d i e Kindheit, g l e i c h als w i e in Mutter = Leib einging, und asse 4 0 Tage nichts, und w o l t e auch nichts, sondern bliebe in der Mutter gantz gelassen stehen" ( S g 10, 59). D i e Sensibilität des Christenmenschen soll sich alternativlos auf den Christus praesens einstellen. D e s s e n Lebensgestalt soll zur Sinnstiftung genügen. D e r normative Anspruch dieser Exklusivität wird v o n B ö h m e am kindlichen Gehorsam gegenüber der Mutter plausibilisiert. D a s ungehorsame Kind kann aus der beängstigenden N o t seiner aporetischen Situation unter d e m augenblicksgöttlichen Zorneinruck (s. 85

Das steht heute leider nur den römisch - katholischen Christen deutlich vor Augen; vgl. Fahlbusch, Kirchenkunde der Gegenwart, S. 28: "Maria in ihrer Selbsthingabe und Glaubenstreue, d. i. die jungfräuliche Gottesmutterschaft Marias und ihre vollkommene persönliche Heilsaneignung, die sie zum Urbild und zum Zielbild der Kirche machen". Die konfessionsgeschichtlich bedingte Verarmung der eigenen lutherischen Tradition in marianischer Hinsicht ist eigentlich unverständlich; dazu vgl. M. Luther, Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt. 1520 und 1521, in: BoA. Bd. 2, Bonn 1912, S. 133 - 187, hier bes. S. 137: "Also thut auch hie die zartte Mutter Christi/ leret unß mit de Exempel yhrer erfahrung/ und mit wortte/ wie man got erkennen/ lieben/ und loben sol". Vgl. auch K. Barth, Kirchliche Dogmatik. Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Zweiter Halbband (1938), Zürich [6. Auflage] 1975, § 15/ S. 134 ff., bes. S. 187 ff. Im Unterschied zur inkarnationsmorphologischen oder ekklesiotypischen Perspektive der Mariologie spricht sich Barth gegen jede Applikation Marias auf die Vita Christiana aus. Ihm geht es vielmehr um die dogmatische, d. h. historische und metaphysische, Konservierung eines schlechthin unvergleichbaren Mirums. Als einzige Pointe der barthianischen Mariologie bleibt nur das calvinistische "Finitum non capax infiniti!"; vgl. ebd., S. 185. Die Jungfrauengeburt fungiert somit als christologische Petitio principii einer streng dialektischen Offenbarungstheologie. So bleibt die hermeneutische Aufgabe systematischer Theologie allerdings noch ungelöst. Das kritisiert bereits P. Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Nachdruck der achten Auflage, Gütersloh 1972, S. 424 f. 425 Anm. 1. 437 ff., bes. S. 442 f. Althaus geht es um die Vermeidung einer letztlich unvermittelbaren Dialektik von historischer und dogmatischer Wahrheit. Allerdings verfallt auch Althaus der Versuchung, das glaubenssprachliche Mysterium des "natus ex virgine" hinsichtlich der historischen Kontingenz der Christologie als ein singuläres Mirum aus dem geschichtlichen Lebenszusammenhang eines jeden Christenmenschen auszusondern. Die Urbildchristologien bei Schleiermacher, Ritsehl, Hirsch und Schmidt weist er scharf zurück; vgl. ebd., S. 440.

232

3. Inkarnationsmorphologie als Szenographie religiöser Durchbruchserlebnisse

o. 3.1.1. und 3.1.2.) durch die vorbildliche mütterliche Fürsorge lebendiger Christenmenschen in die Atmopshäre leibhaftiger Geborgenheit vor Ort der Societas Christiana zurückgeholt werden. Insofern hat jeder Christenmensch, genau wie "im Philosophischem Werck" ein "Artista", d. h. ein Meister der Alchemie, individuell die Aufgabe, durch phänomenalisierende szenographische Unterweisungen und durch leibhaftige Fürsorge pädagogisch auf eine Sensibilisierung für mütterliche Geborgenheit und kindlichen Gehorsam im Horizont der Geistkirche qua universaler Gesellschaft aller frommen Christenmenschen hinzuwirken. Diese leibhaftige Gesellschaft steht bei einem im Ungehorsam fast schon gestorbenen Kind dann in ebenbildlicher Entsprechung zu Maria als dem mütterlichen Leib des Christus praesens unter Zugzwang, wie einstmals die vorbildliche Mutter Maria die Heilsgegenwart des Christus praesens dem ungehorsamen Kinde wieder spürbar zu machen, d. h. es aufs Neue als Christkind zur Welt zu bringen: "Er soll das böse entronnene Kind, das da ist aus der Mutter entflohen, ... suchen, dann der Grimm GOttes hats mit seiner Impression in des Todes Kammer eingeschlossen: ... Das soll er nehmen und wieder in Mutter = Leib einführen, und aida den Engel mit der Botschaft zu Maria senden, und ihr lassen ankündigen, sie solle einen Sohn gebären, des Namen soll sie JEsus heissen; und so die Mutter wird darein willigen, und den Namen JEsus einnehmen, so wird die neue Menschheit mit dem neuen Kinde, in dem alten abtrünnigen, ... in der Mutter anfahen, und wird ... der Name JEsus sich in das gestorbene Kind ... einergeben, und des bösen todten Kindes Willen zu sich reitzen: das ist die schöne Braut...: er soll sie nur wieder annehmen, so will sie ihm wieder ihre Liebe geben." (Sg 10, 60 f.) Es wird somit abschließend offensichtlich, daß Böhme mit der marianischen Typik sehr frei umgeht. Die Relation von Mutter und Kind beschreibt sowohl die biblisch - prototypische Relation von Maria und "JEsus", als auch die leibhaft - antitypipische Relation von Christus praesens und Christenmensch, als auch die von mütterlicher Geborgenheit und kindlichem Gehorsam geprägte Relation von Kirche qua Glaubensgesellschaft der wahren Christenmenschen und dem indifferent dahinlebenden Homo faber als deren Sorgenkind. Die Glaubensgegenwart des Christenmenschen erfährt durch die marianische Typik eine umfassende Lebensgestalt, die sowohl eine sensitive, als auch eine normative Komponente enthält. Beide werden durch die schließkräftige Situation von Mutter- bzw. Kindschaft, die wie die anderen vier hier unter 3.2. entwickelten Szenarien ebenfalls zur biblisch präformierten Situationsdramatik des Christus praesens gehört, in der beschriebenen szenographischen Sensibilitätsschulung durch ihre phänomenalisierende Typologie lebensnah einstudiert.

4. Inkarnationsmorphologische Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt Bisher ging es um die Frage, wie Böhme die hermeneutischen Möglichkeiten der biblisch präformierten Inkarnationsfigur zur szenographischen Deskription der christenmenschlichen Lebenswirklichkeit im Erfahrungsraum des Christus praesens verwendet. Dabei ist herausgekommen, daß Böhme die Lebenswirklichkeit des Christenmenschen sowohl durch eine typisierende Phänomenologie (3.1.), als auch durch eine phänomenalisierende Typologie (3.2.) präsentiert. Er inventarisiert schließkräftige Situationen, aus denen die szenographische Gestaltungskraft des Christus praesens für die gegenwärtige Erlebniswirklichkeit zu ersehen ist. Die Situationsdramaturgie des Christus praesens wird in typologischer Korrelation zu biblischen Szenen gewonnen und so entfaltet, daß phänomenologische Strukturen des Lebens sich im Horizont des Christus praesens einer Doppellektüre von Lebenserfahrung und biblischer Prototypik verdanken. Das chaotische Bedeutungsansinnen eines augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs inkarniert sich auf diese Weise in der Szenenfolge eines Wiedergeburtserlebnisses (3.1.). Die prototypische Lebensbedeutsamkeit des biblischen Christusbildes inkarniert sich vor Ort eines lebendigen Schriftgebrauchs in dramatischen Szenen, die den Christenmenschen jenseits indifferenten Dahinlebens in sensitiver und normativer Hinsicht für die Lebensgestalt des Christus praesens sensibilisieren sollen (3.2.). Jetzt soll es in drei weiteren Abschnitten darum gehen, wie Böhme anhand der bisher auf die Gestaltung der Erlebniswirklichkeit des Christenmenschen perspektivierten Inkarnationsfigur die christliche Welt als den fundamentalen Orientierungsrahmen der Vita Christiana phänomenalisiert. Während bisher das "Sichfinden" des Christenmenschen im Vordergrund der Deskription stand, geht es nun um eine "Besinnung seiner Umgebung" (vgl. oben 2. 5.). Dazu werden die theo- und kosmogonischen Narrationen Böhmes (vgl. "dies(e) obbemeldt(e) Erzehlung" in Gw 1,16) dahingehend untersucht, wie sie mit biblischen Typologien und pansophischer Topik eine umfassende Phänomenalitätsstruktur der christlichen Welt entwerfen. Das chaotisch - mannigfaltige Weltleben erscheint in inkarnationsmorphologisch gebildeter Anschauung auf einmal als geordnete Schöpfung. Böhme wendet im kosmologischen Zusammenhang die Inkarnationsfigur des Christus praesens auf den Präsentationsgestus des schöpferischen Gotteslebens an. Inkarnation qua "Infaßlichkeit" beschreibt nun das Sicheinfinden der

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

unendlichen und übersinnlichen Wirkmächtigkeit des schöpferischen Gotteslebens in endlicher und phänomenal ausdifferenzierter Lebenswirklichkeit: 1 "Derselbe ungründliche, unfaßliche, unnatürliche und uncreatürliche Wille ..., welcher als ein Nichts und doch Alles ist: Der ist und heisset der Einige GOtt; welcher sich in sich selber fasset und findet, und GOtt aus GOtt gebieret." (Gw 1 , 4 = Mw II 1, 8) "Wir reden alhier nur, wie sich der unsichtbare unempfindliche GOtt in Empfindlichkeit einführe und offenbare." (Mm 4, 7) [Hervorhebungen durch Verf.] Böhmes Terminus "Infaßlichkeit" (vgl. auch Gw 1, 11; 4, 39; 9, 11. 14. 21; ep 47, 1. 7. 10. Tab. 1/ 1) verhält sich parallel zu "Empfindlichkeit" (vgl. auch ep 47, 7. 10. 15. Tab. U 2), aber auch zu "Peinlichkeit ... und Findlichkeit" (Gw 2, 16), " in sich ziehen" (Sg 2, 7; vgl. auch die dazugehörigen Substantivierungen in Sg 2, 24; 3, 17 ff.), "Impression" (ep 47, 7. 15) und "Model" (Mw II 1,9). Bei allen diesen Termini geht es immer wieder um die Vergegenwärtigung einer an sich amorphen Vitaldynamik an einer gestalthaft ausdifferenzierten, von Formkräften bestimmten Lebenswirklichkeit. Inkarnation qua "Infaßlichkeit" verdankt sich einem für Böhmes inkarnationsmorphologische Reformulierung der Schöpfung der christlichen Lebenswelt charakteristischen Analogieschluß, 2 der von der biblisch gestifteten Gottebenbildlichkeit des Menschen her typologisch motiviert ist. Genau wie die erfahrungssoteriologische Besinnung der Glaubensgegenwart des Christenmenschen einer leiblich - lebensweltlichen Situierung bedarf, um den Christus praesens an der leibhaftigen Lebensgestalt als tatsächlich lebensrelevant, weil gestaltungskräftig, ausweisen zu können, ebenso bedarf die schöpferische Wirkmächtigkeit des Gotteslebens einer konkret strukturierten Phänomenalität, um ad hominem lebensrelevant erscheinen zu können: "Gleichwie sich das Gemüthe mit dem Leib und durch den Leib in Sinnen und Gedancken einführet, dadurch es wircket und sich empfindlich macht; Also auch die unsichtbare Welt, durch die sichtbare und mit der sichtbaren ...; dann an dem sichtbaren Wesen der Creation sehen wir eine Figur der innern geistlichen Wirckung der Kraft = Welt." (Mm Vorr., 7) Dieser Analogieschluß zeigt, daß sich Inkarnation bei Böhme durch ein grundsätzliches semantisches Gefälle in lebensweltliche Konkretionen auszeichnet. Zur Sinnkonstitution gleich welcher Art rekurriert er niemals auf entweder transzendente oder immanente Puris1

2

Vgl. dazu Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VII/ S. 59 - 63. bes. S. 61: "Hier ist manifestatio sui recht begreiflich. Alles zielt nicht auf leere Apparenz, sondern auf die körperliche Menschheit Jesu, damit sich alles körperlich solle darstellen, was in Gottes Tiefen verborgen ist." S. 60: Die inkarnationsmorphologische Reformulierung der Kosmogonie Böhmes "zielt auf Einheit, auf Zusammenziehen, auf Attraktion, aufs Centrum." Vgl. L. Feuerbach, Geschichte, S. 169. 174: "(D)enn alle seine metaphysischen und theosophischen Bestimmungen und Ausdrücke haben patho- und psychologischen Sinn und Ursprung ..., also die psychologischen Grundwesen, auf die sich Dasein und Wesen in dieser groben, bösen, materiellen Welt zurückführt."

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

235

m e n , sondern konfiguriert T r a n s z e n d e n z und I m m a n e n z , A l l g e m e i n e s und B e s o n d e r e s , E w i g e s und Z e i t l i c h e s ( i m Sinne von a u g e n b l i c k l i c h e n Konting e n z e n ) , G e i s t i g e s und Körperliches u s w . in der leibhaftigen Synthesis e i n e s phänomenal entfalteten Gegenwartsraumes. 3 Dort k o m m t die inkarnatorische Formkraft des Christus praesens z u m Tragen, die das eruptive In - Erscheinung - Treten des A u g e n b l i c k s g o t t e s (vgl. o b e n auch 3.1.1.) mit einer gestalthaften Gegenwartsbildung vermittelt. D a die Inkarnationsfigur untrennbar z u m Christus praesens gehört, enthält ihre A n w e n d u n g zur R e f o r m u l i e r u n g der traditionellen S c h ö p f u n g s t h e o l o g i e z u g l e i c h e i n e s o t e r i o l o g i s c h e Implikation. D i e U m g e b u n g d e s Christenm e n s c h e n , die christliche W e l t als die i h m entsprechende L e b e n s w e l t , w e i s t eine Phänomenalitätsstruktur auf, die nicht i m körperlichen V o r h a n d e n s e i n einer c h a o t i s c h e n M a n n i g f a l t i g k e i t v o n D i n g e n auf- b z w . untergeht. D i e elementaren Strukturen der phänomenal ausdifferenzierten L e b e n s w e l t werden von B ö h m e d e s h a l b in O p p o s i t i o n zu einer ubiquitär drohenden, dinglich materiellen Entfremdung von M e n s c h und W e l t dargestellt. B ö h m e s k o s m o g o n i s c h e n Narrationen geht e s niemals darum, in pseudometaphysischer W e i s e zu begründen, daß überhaupt e i n e Welt sei, sondern daß die christliche W e l t so sei, daß sie die Fülle des schöpferischen Gotteslebens in gestalthafter Entfaltung g e g e n w a r t s r ä u m l i c h e r H e i l s w i r k l i c h k e i t phänomenalisiert. 4 N u r dann

3

4

Zur synthetisierenden Beschreibungsleistung Böhmes angesichts traditioneller christlicher Schöpfungstheologie einerseits und für die Lebenspraxis des Handwerkers in einer gottlosen Körperwelt andererseits vgl. Hegel, Vorlesungen, S. 68 f. 70. 98. Auch oben 1.1.3. zur Neuzeitspezifik Böhmes. Hierin unterscheidet sich diese Darstellung des Böhmeschen Gedankengangs von der in der Forschung von Bornkamm (s. o. 1.2.1.1.1.) bis Bonheim (s. o. 1.2.2.4.) dominanten spekulativ - metaphysischen Auffassung. Vgl. Bornkamm, Luther und Böhme, S. 8 ff., der ein spekulatives System rekonstruieren will, das "vom Absoluten bis herab zu Materie" (S. 33) reicht. Vgl. auch Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 59 ff., der zwar nach der "Sinnlichkeit der Offenbarung" fragen will, aber Böhmes Kosmologie aus Theo- und Kosmogonie ebenfalls ohne expliziten Bezug ad hominem als Vorspiel in zwei Akten im Himmel beginnen läßt. Die Gefahr dieser propositionalisierenden Übersetzung der theo- und kosmogonischen Narrationen Böhmes besteht darin, daß diese vorschnell auf dogmatische Positionen hin untersucht werden, bevor die inkarnationsmorphologische Darstellungsfunktion ihrer Mythopoetik und Metaphorik bestimmt worden ist. Als einziger Böhmeforscher kritisiert Metzke völlig richtig diese verfehlte Vorgehensweise; vgl. Von Steinen und Erde, S. 132: "Deshalb scheint es mir nicht zweckmäßig zu sein, von Böhmes theosophischen Spekulationen über das 'Bewegen und Leben der Gottheit' und die 'Selbstgebärung Gottes' als solchen auszugehen, die seit den ersten Deutungsversuchen im Zusammenhang des deutschen Idealismus den üblichen Leitfaden für das philosophische Eindringen in Böhmes Gedankenwelt gebildet haben." Metzke will stattdessen zu den "ursprünglichen Erfahrungen und Problemgegebenheiten (durch)dringen, die als erregende Kraft des Anstoßes in das ganze eingegangen sind." Für ihn ist das Böhmes Erfahrung der Widerständigkeit und Undurchdringlichkeit der materiellen Natur, die er auch noch hinter "den letzten Mysterien christlichen Erlebens" (S. 154) vermutet. Das liefe allerdings auf eine Reduktion des inkarnationsmorphologischen Zusammenhangs von applikativer Schrifthermeneutik und Erfahrungssoteriologie bei

236

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

kann sie eine den Gestaltungsprozeß des christenmenschlichen Lebens maßgeblich befördernde Rolle einnehmen. Zum Verständnis dieser lebensrelevanten Korrelation von Schöpfungswelt und Christenmensch bedarf es lediglich einer inkarnationsmorphologischen Deskriptionskompetenz, die Böhme mit seiner Phänomenalitätstheorie im Einzelnen genauer spezifiziert. Ein erster Unterabschnitt (4.1.) perspektiviert daher den Christus praesens im Hinblick auf die schöpferische Wirkmächtigkeit des dreifaltigen Gotteslebens. Dessen chaotisch vitaler Präsentationsgestus findet sich durch die Gestaltungskraft der Christusgestalt in der Geistesgegenwart leiblich - situativ vermittelter und lebensweltlich verorteter Phänomenalität ein. Der Sündenfall des Menschen in eine nur noch körperlich vorhandene Welt und der damit einhergehende Verlust der leiblich - situativen Vermittlung mitsamt der Symmetrie von Ein- und Ausdruckswirklichkeit kommen dabei ebenso zur Darstellung wie deren leiblich - situative Reintegration und erneute Symmetrisierung zu einer menschlichen Lebenswelt. Ein zweiter Unterabschnitt (4.2.) behandelt dann die worthafte Vermittlung und sprachweltliche Verortung von vitaler Phänomenalität. Die "Infaßlichkeit" des chaotischen Präsentationsgestus' des schöpferischen Gotteslebens zu einer leiblich - situativ vermittelten und lebensweltlich verorteten Phänomenalität (4.1.) entspricht dabei dem "Einfassen" (Gw 5, 4; 9, 9 ff; ep 47, 4) des ewigen göttlichen Sprechens, einer Art unverständlichen Soliloquiums des Vaters, zum Urwort (4.2.), das in Gen 1, 3 ff. die leibliche Ausdifferenzierung der phänomenalen Schöpfung ermöglicht und Joh 1, 1 ff. mit der kosmogonischen Gestaltungskraft des Christus praesens als dem "eincorporiret(en) Wort" (Mr 21, 21. 24) identifiziert wird. Böhme betont diese strukturelle Parallelität leiblich - situativer bzw. lebensweltlicher (4.1.) und worthafter bzw. sprachweltlicher Phänomenalitätsstrukturen (4.2.) sehr stark: "Dann die sichtbaren empfindlichen Dinge sind ein Wesen des Unsichtbaren; von dem Unsichtlichen, Unbegreiflichen ist kommen das Sichtbare, Begreifliche: von dem Aussprechen oder Aushauchen der unsichtbaren Kraft ist worden das sichtbare Wesen; das unsichtbare geistliche Wort der Göttlichen Kraft wircket mit und durch das sichtbare Wesen, wie die Seele mit und durch den Leib." (Mm Vorr., 4) Der abschließende dritte Unterabschnitt (4.3.) konfiguriert Lebens- und Sprachwelt sowie deren leiblich - situative und worthafte Vermittlung vitaler Phänomenalität zu einer integralen Wahrnehmungswelt in morphologischer Vermittlung. Die worthaft ansprechende Gestaltbildung des schöpferischen Gotteslebens resultiert letztlich aus lesbaren Charakteren, an denen wiederum deutlich wird, wie der Christus praesens in kosmogonischer Hinsicht durch die Vermittlung von Vitalität und Formalität eine ausdifferenzierte Lebenswelt und Böhme auf eine nurmehr naturwissenschaftliche Empirie hinaus. Hierin kann Metzke theologischerseits nicht mehr gefolgt werden. Zur Kritik vgl. oben 1.2.1.2.3.!

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

237

deren sprachweltliche Wahrnehmung durch seine Konfiguration von Leib und Wort überhaupt erst ermöglicht: "(D)enn GOtt ist keine Person, als nur in Christo, sondern Er ist die ewig = gebärende Kraft, und das Reich samt allen Wesen; Alles nimt seinen Urständ von Ihme." (Mm 7, 5 = 7, 14; 8, 25).

4.1. Die leiblich

- situative

Vermittlung

von

Lebensweltphänomenalität

Bevor hier im Sinne Böhmes anhand der prototypischen Stationen des biblisch - pansophischen Schöpfungs- und Neuschöpfungsdramas die christliche Welt phänomenalisiert werden soll, gilt es zuerst die Rede von leiblich - situativer Vermittlung und lebensweltlicher Verortung von Phänomenalität an sich kurz zu erläutern. Seit Heidegger und Merleau - Ponty werden Mensch und Lebenswelt nach Maßgabe des motorischen Körperschemas intentional konfiguriert. Der lebenspraktische Weltumgang des Menschen wird dadurch inmitten einer alltäglich gegebenen Körperwelt genuin leiblich situiert. Die Dinge der Körperwelt werden nicht mehr auf ihr Vorhandensein im zentralen Gesichtsfeld befragt. Anstelle dieses kognitivistischen Distanzierungsgestus tritt eine pragmatisch orientierte Zuhandenheit. 5 Böhme arbeitet diese Pointe der Lebensweltphänomenalität bei seiner Phänomenalisierung der christlichen Welt bereits auf mythopoetisch - typologischem Wege heraus, also lediglich noch ohne moderne phänomenologische Terminologie und Schulsprache. 6 Seine Phänomenalisierung leiblich - situativ vermittelter Lebensweltphänomenalität, die sich auch gegenwärtig qualitativ vom dinglichen Vorhandensein der alltäglichen Körperwelt abhebt, zielt weniger auf einen abstrakten Erkenntnisgewinn, als vielmehr auf eine sensitive und normative Schulung christen-

5

6

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 63 ff. 102 ff.; Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123 ff.; H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 16 ff. 124 f. 281 ff., dort zu "leiblicher Richtung" als Ausgriff aus der Enge des Leibes in die Weite der Welt und zum dem motorischen Körperschema zugeordneten "Richtungsraum". Das wird bereits in der noch sehr stark hegelianisierenden, d. h. spekulativ - metaphysisch orientierten, inkarnationstheoretisch perspektivierten Böhme - Interpretation A. Koyrés, La Philosophie de Jacob Boehme, ansatzweise deutlich, wenn auch ungenügend expliziert. A. Koyré wird aber durch seine über Hegel hinausgehende Inkarnationsphilosophie einer der zentralen Ideengeber der "Phänomenologie in Frankreich"; vgl. dazu B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 34. Gerade hinter diese progressiven Implikationen der Böhmeinterpretation Koyrés fällt Sánchez de Murillo zurück, wenn er Böhme nicht als Denker der Lebensweltphänomenalität, sondern einer "Tiefenphänomenologie" verstehen will. Das "Urgeschehen der Lebendigkeit" und dessen pansophische Deskription bekommen dadurch wiederum ein quasi metaphysisches Übergewicht und einen nachgerade ontologischen Eigensinn, der im Rückschritt hinter die diesbezüglich zutreffendere Böhmeinterpretation Feuerbachs und Metzkes das leibphänomenologische Hauptinteresse Jakob Böhmes schlicht unterbewertet; vgl. J. Sanchez de Murillo, Der Geist der deutschen Romantik, S. 187 ff.

238

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

menschlichen Lebenkönnens. Es geht ihm um ein lebenspraktisches Orientierungswissen für die Vita Christiana im Mundus christianus.

4.1.1. Die dreifaltige Urkonstitution durch die "Infaßlichkeit" des schöpferischen Gotteslebens Die Schöpfung der den Christenmenschen umgebenden Lebenswelt wird in Böhmes kosmogonischen Narrationen als Creatio ex nihilo geschildert. Sie ist völlig kontingent. Darin knüpft Böhme zwar an die Tradition an, geht jedoch über dieselbe insofern hinaus, als er seine Narrationen auf der Metaphorik des Lebens aufbaut und so eine metaphysisch distanzierte S ach Verhaltsfeststellung vermeidet. Am biblisch präformierten Weltanfang (vgl. Gen 1 , 1 ; Joh 1,1) steht die geballte, aber völlig chaotische Schöpfungskraft des Gotteslebens, die im Unterschied zu phänomenal ausdifferenzierten Sinngestalten nichts zur Darstellung bringt als nur die chaotische, d. h. in sich noch völlig amorphe und ungeschiedene Mannigfaltigkeit bloß möglicher Kraftentfaltung jenseits raumzeitlich konkreter Manifestationen derselben: "Denn man kann nicht von GOtt sagen, daß Er dis oder das sey, böse oder gut, daß Er in sich selber Unterscheide habe: Denn Er ist in sich selber Natur = los, sowol Affect - und Creatur = los. ... Er ist in sich selber der Ungrund,... als ein ewig Nichts; ... Er ist das Einige Wesen, und ist nichts vor Ihme oder nach Ihme, daran oder darinnen Er Ihme könte einen Willen schöpfen oder fassen; Er hat auch nichts das ihn gebäret oder giebet: Er ist das Nichts und das Alles, und ist ein Einiger Wille, in deme die Welt, und die gantze Creation lieget, in Ihme ist alles gleich = ewig ohne Anfang, in gleichem Gewichte, Maß und Ziel; Er ist weder Licht noch Finsterniß, weder Liebe noch Zorn, sondern das Ewige Eine; darum saget Moses: Der HErr ist ein Einiger GOtt. (Deut. 6: 4.)." (Gw 1 , 3 = Mm 1, 2) In dieser in Anlehnung an die dogmatische Tradition formulierten Beschreibung der göttlichen Aseität klingen Züge an, die an den augenblicksgöttlichen Zomeinbruch (s. o. 3.1.1.) erinnern. Dessen chaotisches, weil eruptives Bedeutungsansinnen trieb Böhme zunächst einmal in die sprachlose Enge des Leibes, ohne einen personal entfalteten Gegenwartsraum zu einer besinnenden Stellungnahme zu lassen. Eine vertraute Gestalt zeichnete sich erst später im Rekurs auf die biblische Typik ab. Diesem eruptiven Bedeutungsansinnen entspricht hier der noch amorphe, rein vitalistische Präsentationsgestus des "Ungrunds", der nichts und alles zugleich ist. Der Christenmensch aber "stehet alleine mit Geist und Leibe im Grunde" (Mw II 3, 5). Für ihn bleibt das schöpferische Gottesleben in seiner "ungründlichen" Aseität geheimnisvoll verborgen. Als Chiffre für diesen Geheimnischarakter einer amorphen Vitalität mit einer chaotischen Bedeutungsfülle dient Böhme der hebräische Gottesname in der barocken Punktation des Tetragramms: "Das ist nun das Auge des Ungrundes, das ewige Chaos, da alles

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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innen lieget was Ewigkeit und Zeit ist, und heisset Rath, Kraft, Wunder und Tugend: Dessen eigentlicher Name heisset GOtt, oder ... Jehovah, der ist ausser aller Natur, ausser allen Anfängen einiges Wesens, ein in sich selber Wircken, sich selber Gebären und Finden, oder Empfinden" (Mm 1, 8). Dem mysteriösen "Ungrund" wohnt zwar eine vitale Abundanzstruktur inne, die aber in der beziehungslosen Aseität "dieser ewigen Gebärung" (Mm 1, 3) ins Leere zu laufen droht. "Denn im Wesen wird GOtt offenbar: und wäre auch kein GOtt ohne Wesen, sondern eine ewige Stille ohne Qual" (Mw I I I , 2). Der schöpferische "élan vital" 7 darf sich also nicht an das Nichts verlieren, wenn anders er sich tatsächlich als schöpferisch wirksam manifestieren will. So muß er strukturell dazu in der Lage sein, einen Anfangspunkt zu markieren: "Denn das ist eigentlich ein Principium, da ein Ding wird, das es nie gewesen ist, da aus dem Nichts eine Qual wird, und aus der Qual ein recht Leben, mit Verstand und Sinnen" (Mw II 5, 1). Das für Böhme charakteristische Idiom "Qual" im Sinne von "Quellen" deutet dabei an, daß die diffuse Abundanzstruktur der reinen Schöpfungsdynamik sich zu einem "Grund" mit einem gezielt ausgerichteten "Willen" "infassen" muß, um sich nicht wieder in das Nichts hinein aufzulösen. "Mit demselben Willen verstehen wir den Grund der Gottheit, welcher keines Ursprungs ist, denn er fasset sich selber in sich" (Mw II 1, 8). "Also dann ein Abgrund ist, der da Grund heisset wegen der Fassung ..., da die Qual eine Ursache des Lebens innen ist" (40 F 1, 52). Erst mit "Grund" und "Willen" gibt es einen "Urständ des Ichts" (Mm 1, 5). Das Leben erhält aus der intentionalen "Infassung" der amorphen Kraft der Vitalität vor Ort der "Qual" bzw. "Quelle" heraus eine gestalterische Komponente, durch die es die Möglichkeit gewinnt, sich zu konkretisieren und an diesen Konkretionen als tatsächlich, weil leibhaftig wirksam zu erweisen: "Als nemlich: Der erste unanfängliche Einige Wille, welcher weder Böse noch Gut ist, gebieret in sich das Einige ewige Gute, als einen faßlichen Willen, welcher des ungründlichen Willens Sohn ist, und doch in dem unanfänglichen Willen Gleich = Ewig; und derselbe andere Wille ist des ersten Willens ewige Empfindlichkeit und Findlichkeit, da sich das Nichts in sich selber zu Etwas findet: und das Unfindliche, als der ungründliche Wille, gehet durch sein ewig Gefundenes aus, und führet sich in eine ewige Beschaulichkeit seiner selber." (Gw 1 , 5 = Mm 1,5) Die aus der klassischen Trinitätsdogmatik bekannte ewige Zeugung des Sohnes vom Vater erscheint hier als transzendentale Urkonstitution der Inkarnationsmorphologie. Der chaotische Präsentationsgestus einer amorphen göttlichen Schöpfungskraft setzt eine Urgestalt aus sich heraus, durch die Vitalität und Formalität eine unhintergehbare Korrelation eingehen. Leben kann wenn 7

Vgl. oben 1.4. sowie zum "élan vital" bes. H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena [4. - 6. Tausend] 1921; ders., Denken und schöpferisches Werden. Auch P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 211. 213, zu: "Dynamik und Form".

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

überhaupt nur gestalthaft sein, wie der göttliche "Ungrund" ohne "Grund" nur in das "Nichts" als in komplette Irrelevanz zurückfällt, anstatt sich am "Ichts" als lebensbedeutsam, weil leibhaftig schöpferisch und erhaltend, ausweisen zu können. 8 Diese Urkonstitution darf Böhme zufolge jedoch nicht vergegenständlicht werden. Die Entstehung der Urgestalt hat Prozeßcharakter. Sie ist "durch alles in allem, und dem Allem doch als ein unfaßlich Nichts" (Gw 1, 7). Ein derartig transzendentaler Formprozeß zeichnet alle leiblich - situativen Formprozesse vor, ohne selbst nach "Raum, Zeit noch Stätte ..., weder Dickes noch Dünnes, weder Höhe noch Tieffe" (Gw 1, 7) als Gegenstand im zentralen Gesichtsfeld klassifiziert werden zu können: "Denn das Nichts hungert nach dem Etwas, und der Hunger ist die Begierde, ... Dann die Begierde hat nichts, das sie könte machen oder fassen. Sie fasset sich nur selber, und impresset sich, das ist, sie coaguliret sich, sie zeucht sich in sich, und fasset sich, und führet sich vom Ungrunde in Grund, und beschattet sich selber mit dem magnetischen Ziehen,..." (Mm 3, 5) Eine derartige Urkonstitution dient der Beschreibung der Bedingung der Möglichkeit jeder einzelnen Lebenswelt. Die dogmatischen Loci der Trinitätslehre und der Schöpfung werden dadurch nicht mehr in die personalistischen Kategorien eines intentionalen Schöpfungshandelns des theistischen Autorensubjekts gefaßt. Die Vergegenständlichung Gottes nach Maßgabe des Homo fabers bzw. eines vernünftig kalkulierenden Handwerkers weist Böhme mit dem Hinweis auf das Bilderverbot ausdrücklich zurück: "Das Mahlwerck, wie man GOtt als einen Mann mahlet, welcher Adam machet, und hernach über Adam stehet, als er schiäffet, und ein Weib aus ihm machet, ist mehr ab-

8

Hegels Interpretation stellt Böhmes Gedankengang auf den Kopf. Er interpretiert das "Ich" als principium negationis, so daß das "Ichts" aufgrund seiner individuellen Weigerung das "Nichts" erst rückwirkend konstituiert; vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. III, S. 108 f.: "Der Wille, das Ichts ist auch die Selbheit; es ist das Übergehen des Ichts (Ichheit) in Nichts, daß das Ich sich in sich hinein imaginiert." (S. 109) Diese vorgängige Setzung Gottes als Ich - Ding mit Willenseigenschaft kehrt Böhmes lebensphilosophisch fundierten Voluntarismus schlicht um. Das vitale "Nichts" entwirft sich aus seiner vitalen Dynamik auf ein seiner Intentionalität korrelierendes "Ichts", an dem es dann erst in einem zweiten Schritt auch seinerseits eine polar requalifizierte Gestalt erhält. Ein amorpher "Wille" ist bei Böhme nämlich immer schon vitaler Ausdruck des "Ungrunds" und nicht exklusive Eigenschaft des subjektivitätsontologisch verzerrten "Grundes" qua "Ich". Böhme geht es bei "Infaßlichkeit" um den dynamischen Fortschritt von "Wollen" (Vitalität bzw. vitaler Intentionalität) zum "etwas Wollen" (Formalität bzw. leiblich - situierter Intentionalität); vgl. Feuerbach, Geschichte, S. 147: "Der Wille nämlich modelt, indem und wenn er sich selbst beschaut, von sich bezaubert und eingenommen, sich in sich ein, er imprimiert durch die Imagination in sich das Spiegelmodell von sich, und mit dieser Impression der Phantasie erwacht die Begierde, die Phantasie in wirkliche, bestimmte Figur, Gestalt und Wesen zu bringen, d. i. etwas zu sein, Selbst- und Ichheit anzunehmen." Ganz von subjektivitätsontologischen Mißverständnissen befreit erscheint dieser genuin lebensphilosophische Gedankengang erst bei G. Simmel, Lebensanschauung, S. 1 - 27 bes. 1 2 - 2 0 .

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göttisch als wahrhaftig, und hats GOtt im Mose ernstlich verboten, kein Gleichniß einiges GOttes zu machen: ... Er ist kein Macher, sondern nur ein Formirer der Eigenschaften, ein Schöpfer und nicht Macher." (Mm 19, 27). An die Stelle subjektivitätsontologischer statischer Reflexionskategorien des traditionellen Theismus tritt bei Böhme die dynamische Lebensmetaphorik. 9 Schöpfung und Erhaltung aus dem "Nichts" werden lebensrelevant reformuliert als "Qual", "Quellen", "Geburt", "Gebärung", "Natur" (im Sinne von Naturieren, d. h. Gebären), "Infaßlichkeit" und "Scientz", "Wille", "Hunger", "Sehnsucht" und "Begierde". "Also ist uns auch von GOtt zu sinnen, daß Er seinen Willen darum in eine Scientz zur Natur einführet..., denn wenn in dem ewigen Einen keine Natur entstünde, so wäre alles stille; aber die Natur führet sich in Peinlichkeit, Empfindlichkeit und Findlichkeit ein, auf daß die ewige Stille beweglich werde" (Gw 2, 16). Die dynamische Urkonstitution entspricht einem in sich dreigliedrigen Vollzug des Gotteslebens, durch den dieses aus der Indifferenz und Irrelevanz eines diffusen Kraftpotentials reiner Möglichkeit heraustritt und sich als ein Gefälle in lebendige Konkretionen verwesentlicht. Böhme spricht daher auch von einem "Werck im Wesen GOttes" (Mw I 2, 6): "Aus dem Willen, darein sich die Gottheit in die Dreyheit schleust, ist auch der Grund der Natur von Ewigkeit geboren worden, denn da ist kein Vorsatz, sondern eine Geburt; die ewige Geburt ist der Vorsatz, als daß GOtt will GOtt gebären, und durch Natur offenbaren." (Gw 4,42) Die dynamische Urkonstitution leiblich - situativ vermittelter Lebensweltphänomenalität umfaßt die klassische Trinitätsfigur, die Böhme in die Urkonstitution einzeichnet: "Also (1) heisset der ungründliche Wille Ewiger Vater; (2) und der gefundene, gefassete, geborne Wille des Ungrundes heisset sein geborner oder Eingeborner Sohn, denn er ist des Ungrundes Ens, darinnen sich der Ungrund in Grund fasset. (3) Und der Ausgang des ungründlichen Willens, 9

Das bemerkt zutreffend E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 218. 247 f., jedoch eher mit kritischem Vorbehalt. Positiv zur Abschaffung eines Gott subjektivitätsontologisch verzeichnenden Theismus äußert sich in expliziter lebens-"ontologischer" Anknüpfung an Böhme und Schelling gegenwärtig nur P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 282 ff. bes. S. 283 f. Damit ist die Personalität des Gotteslebens, d. h. dessen Möglichkeit, ad hominem personal ansprechend zu erscheinen, mitnichten abgeschafft; S. 283: '"Persönlicher Gott' bedeutet nicht, daß Gott eine Person ist. Es bedeutet, daß Gott der Grund alles Personhaften ist und in sich die ontologische Macht des Personhaften trägt. Er ist nicht: eine Person, aber er ist auch nicht weniger als eine Person. Es sollte nicht vergessen werden, daß die klassische Theologie den Begriff persona für die trinitarischen Hypostasen gebrauchte, nicht aber für Gott selbst. ... Der übliche Theismus hat Gott zu einer himmlischen, ganz vollkommenen Person gemacht, die über Welt und Menschheit thront. Der Protest des Atheismus gegen eine solche höchste Person ist berechtigt. Es gibt keine Anzeichen für ihr Dasein, noch kann sie jemanden unbedingt angehen." In diesem Sinn fordert H. Schmitz die christliche Theologie auf, den Monotheismus als theistischen Absolutismus zu revidieren; vgl. Das Göttliche und der Raum. III/ 4, § 215/ S. 172 ff. Zur "Entlarvung des Monotheismus" (ebd., S. 176 ff.) vgl. auch oben 2.1., wo Böhme wie Schmitz den metaphysischen Theismus als Wunsch des Homo faber nach einer unverantworteten, absoluten Domäne diesseits des Himmels entlarvt.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

durch den gefasseten Sohn oder Ens, heisset Geist, denn Er führet des gefaste Ens aus sich aus in ein Weben oder Leben des Willens, als ein Leben des Vaters und des Sohnes: ...". (Gw 1, 6 = Mw II 2, 2; 6 Pk 1, 15 - 17) Der "Ungrund" kann auf der Folie innertrinitarischer Relationen mit der Hypostase des Vaters identifiziert werden. "(D)ann der Vater ist... ohne Grund,... Zahl, ... Aufhalten oder Fassen noch Einsperren; und was in sich ist, das ist aus sich nicht kentlich, aber nach dem Geiste wol fühlend: also treibet das Innere aus sich, und offenbaret sich in Figuren, sonst würde GOtt nicht erkant." (40 F 1, 33) Das ad hominem figurative Offenbarungsgefälle der schöpferischen Vitalkraft des Vaters setzt voraus, daß diese mit der Gestaltungskraft des Sohnes konfrontiert wird: "Dieses Hertze oder Centrum des Ungrundes ist das ewige Gemüthe, als des Wollens, und hat doch nichts vor ihme das es wollen kann, als nur den einigen Willen, der sich in dis Centrum einfasset. So hat auch der erste Wille zum Centro auch nichts, das er wollen könte, als nur diese einige Stätte seiner Selbst = Findlichkeit: Also ist der erste Wille der Vater seines Hertzens, oder der Stätte seines Findens, und ein Besitzer des Gefundenen, als seines eingebornen Willens oder Sohnes." (Gw 1, 10) Der Geist vermittelt das schöpferische Gegenüber der Vitalität des Vaters und der Formalität des Sohnes. Er steht darüberhinaus für die Manifestation der zur Lebensweltschöpfung konkretisierten Abundanzstruktur, die nun aus dem schöpferischen Gegenüber von Vater und Sohn gebildet wird, so daß "das Schaffen des Geistes ist ein Ausgang aus sich selber ins Äussere" (3fL 10, 33). 10 Komplett mit Creator spiritus besteht der dreifaltige Schöpfergott aus "Ungrund und Grund, und theilet sich in der ewigen Geburt in drey Eigenschaften, als in drey Personen, auch in drey Principia; da ihr doch in der Ewigkeit nur zwey im Wesen sind, und das dritte als ein Spigel der ersten beyden ist, aus welchem diese Welt, als ein greiflich Wesen in Anfang und Ende geschaffen ist." (Mw I 1, 14 = Mm 1, 4) Das ist die dreifaltige Urkonstitution der Inkarnationsmorphologie vor Ort der elementaren "Infaßlichkeit" des Gotteslebens.

4.1.2. Die Weisheit als prototypische Realitätsbildung Das auf eine Lebensweltschöpfung zielende Wirken des Creator spiritus als Einheit der Polarität von Vitalität und Formalität findet seine weitergehende inkarnationsmorphologische Konkretisierung in der Weisheit. Sie spiegelt die dreifaltige Urkonstitution als prototypisches "Realbild" im Sinne Tillichs (s. o. 1.3.1.) für alle leiblich - situativ vermittelten Individuationen, ohne dabei eine eigenständige Komponente zusätzlich zur schöpferischen Urkonstitution von Lebensweltphänomenalität zu sein. Obwohl Böhme sie an die vierte Stelle 10

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VI/ S. 59: "Der dritte Anfang ist die himmlische Leiblichkeit, die Sinnlichkeit in den Farben der Herrlichkeit Gottes."

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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nach den "drey Principia" setzt, zielt er nicht auf die Bildung einer Quaternität: "(4) (U)nd das Ausgegangene ist die Lust, als das Gefundene des ewigen Nichts, da sich der Vater Sohn und Geist innen siehet und findet; und heisset GOttes Weisheit oder Beschaulichkeit." (Gw 1, 6; zur ausführlichen Abgrenzung Böhmes von Quaternitätsphantasien vgl. Mw II 2, 2 f.) Die Dreifaltigkeit der Urkonstitution erhält erst im Spiegel der Weisheit die phänomenalisierende Gestaltungskraft zur tatsächlichen leiblich - situativen Vermittlung und lebensweltlichen Verortung des schöpferischen Gotteslebens. Böhme knüpft dabei an das jüdische Theologumenon von der Schöpfungsmittlerschaft der Weisheit (vgl. Spr. 8, 22 - 31) an: "Die ewige Jungfrau der Weisheit... war in ihrer Figur eine Bildniß in sich selber, aber ohne Wesen,...: Und aus derselben Jungfrau schuf GOtt der Erden Matricem, daß es ein sichtlich begreiflich Bild im Wesen wäre, darinnen Himmel, Erde, Sternen und Elementen im Wesen stünden; und alles was lebet und webet, das war in diesem einigen Bilde." (3fL 11, 13 = 40 F 1, 54) Böhme nennt die Weisheit als den real bildenden Prototyp der Lebenswelt mit einer bereits deutlich präformierten Binnendifferenzierung auch deren "Model", in dem sich die dreifaltige Urkonstitution als leibhaftig gestaltungswirksam erweist: "Und das ist die Ursache der Schöpfung dieser Welt, daß das Model ist also in einem Spigel von Ewigkeit erschienen, und ist in den ewigen Essentien in der Figur, als in einer Jungfrau ohne Gebären gestanden" (40 F 1, 73 = Mw II 1, 9; Gw 1, 14; 6 Pk 2, 30). In dieser weltbildenden Funktion erscheint die Weisheit als ein "Leib der Drey = Zahl so GOtt genant wird, und ein Leib der Engel, also daß der Geist in einer Bildniß stehet, sonst würde er nicht erkant." (40 F 1, 205) Dadurch daß die Weisheit, nicht aber unmittelbar die Welt der "Leib Gottes" genannt wird, vermeidet Böhme hier durch die geschickte Einfügung der ontologischen Differenz 11 die pantheistische Verwechselung von Gott und Welt. Das schöpferische Gottesleben zeitigt vor Ort der Weisheit eine leiblich - situativ ausdifferenzierte Lebensweltphänomenalität, so daß letztere die innerzeitliche Verwirklichung des urzeitlichen Möglichkeitshorizonts ersterer ist. Jener kommt in seinen Zeitigungen immer so zur Darstellung, daß er nicht in einem Augenblick aufund deshalb mit dessen Vergehen prompt untergeht. Die "Sophia" als real bildender Prototyp von Lebenswelt mit ihrer konkret präformierten Binnendifferenzierung zeitigt gleichwohl nicht unmittelbar die dinglich materialisierte und ortsräumlich nach Lagen und Abständen

11

Ganz im Sinne von Aristoteles, der Zwei - Naturen - Lehre, Luther und schließlich Heidegger, wie oben unter 3.2.3. erläutert. Es gibt also keinen Pantheismus bei Böhme; vgl. E. Metzke, Von Steinen und Erde, S. 133 f.: "Aber das ist bei Böhme keine Abschwächung der realen Naturwirklichkeit, sondern dient lediglich der Abwehr einer billigen Naturvergötzung, die die Wirklichkeit der Natur und Gottes verkennt, indem sie beides pantheistisch verschwimmen läßt.... Ohne mit Gott einfach identisch zu sein oder lediglich seine Emanation darzustellen, ist die Natur doch leibhafte Gegenwart seiner schöpferischen Wirklichkeit."

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

bestimmte Körperwelt, wie sie dem in die rein körperliche Existenz gefallenen Homo faber im zentralen Gesichtsfeld erscheint. Deshalb greift Böhme im Zusammenhang mit dem weisheitlichen Weltprototyp auf die Metapher von der "Engelwelt" zurück, um dadurch den qualitativen, noch über die ontologische Differenz zwischen Gottesleben und Lebenswelt hinausgehenden Unterschied weisheitlicher Real - Bildungen zur geometrischen Präsentationsweise des nach Lagen und Abständen aufgebauten körperweltlichen Ortsraumes mit seinen undurchdringlichen Oberflächen zu markieren. Deshalb verwendet Böhme auch die Idiosynkrasie eines körperhaften Geistes, d. h. der Geist - Leiblichkeit, um die leiblich - situative Dynamik der Lebensweltphänomenalität von der Statik einer rein körperlich existenten Dingwelt mit ihren Flächen, Formen und Farben eigens abzuheben: 12 "Dann im Willen des corporalischen Geistes gehen auf die Wunder, die fasset der Geist der Ewigkeit als der H. Geist; also ists ein Klang und Gesang aus dem ewigen Wundern, dann des corporalischen Geistes Wille ist darinne." (40 F 1, 207 = Sg 8, 1) Böhme bietet zum Ersatz der statischen Kategorien des körperlichen Ortsraumes, wie sie im Vollzug einer rein körperlichen Existenz durch den kognitivistischen Distanzierungsgestus im zentralen Blickfeld des Homo faber entstehen, die synästhetischen Charaktere des dynamischen Schallraumes an, um so die für die leiblich - situative Wahrnehmung der Lebensweltphänomenalität abträgliche Monopolisierung eines aus dem Sensorium commune künstlich ausgesonderten Gesichtssinnes durchbrechen zu können. Er unterscheidet vor allem gewichtig bedrängende Eindrücke von erhebenden (vgl. oben 3.1.). "Zu dem lautbaren Leben oder Schalle ... gehöret Härte und Weiche, Dicke und Dünne, und ein Bewegen; denn ohne Bewegen ist alles stille, und mag doch auch kein Lauten seyn" (Mm 5, 16).13 Diese leiblich - situativ vermittelten Deskriptionskategorien der Lebensweltphänomenalität beziehen sich vor Ort der Weisheit nicht allein auf die Re12

13

Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VII/ S: 61 : "(E)ine lebendige geistleibliche Substanz: da bekommt alles einen Bestand, es ist die himmlische Leiblichkeit, die höchste Schönheit, die alle Farben in sich und aus sich gibt." Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 142 - 147. Vgl. auch G. Böhme, Jakob Böhme (1575 - 1624), S. 167: Modell leiblicher Individualität sei das "Musikinstrument", durch das sich von dem Hintergrund der an sich amorphen Körperwelt auf einmal ein qualitativ völlig eigenständiger Resonanzraum leiblich - situativen In - der Welt - Lebens abheben läßt. Vgl. auch ders., Für eine ökologische Naturästhetik, S. 133 135. Vgl. auch J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 24 ff., S. 31 - 35. 42 f. 44 - 62, bes. S. 58: "Wiederum ein Geschöpf, ganz Auge - wie unerschöpflich ist die Welt seiner Beschauungen! ... Seine Sprache ... würde eine Art unendlich feiner Pantomime, seine Schrift eine Algebra durch Farben und Striche werden - aber tönende Sprache nie! Wir hörende Geschöpfe stehen in der Mitte: wir sehen, wir fühlen; aber die gesehene, gefühlte Natur tönet! Sie wird Lehrmeisterin zur Sprache durch Töne! Wir werden gleichsam Gehör durch alle Sinne! ... Der Sinn zur Sprache ist unser Mittel- und Vereinigungssinn geworden; wir sind Sprachgeschöpfe."

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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qualifizierung der Körperwelt, sondern werden auch auf die dynamischen Relationen der trinitarischen Urkonstitution angewandt. Die Relation von Vater und Sohn kann nämlich erst vor Ort weisheitlicher Lebensweltphänomenalität als alchemische Relation von "Feuer" und "Licht" beschrieben werden: "... Und verstehet also den Vater für die feurende Welt, den Sohn für die Licht= und Kraft = Welt; den H. Geist für das Leben der Gottheit, als für die ausgehende führende Kraft; ...". (Mw II 5, 9) "So ist nun das Feuer die erste Ursache des Lebens, und das Licht die andere Ursache, und der Geist die dritte Ursache, und ist doch Ein Wesen, welches sich in einem Leib schliesset, und offenbaret, und also mit dem Suchen findet." (40 F 1, 211) Das trinitarische Verhältnis von Vater = "Feuer", Sohn = "Licht" und Geist = "Wesen" bzw. "Leiblichkeit" steht für die leiblich - situative Ausdifferenzierung der die Lebenswelt phänomenalisierenden Polarität von Vater = Vitalität und Sohn = Formalität. Alle drei die Lebenswelt phänomenalisierenden Komponenten des schöpferischen Gotteslebens sind vor Ort der Weisheit wechselseitig aufeinander angewiesen. Leiblich - situativ ausdifferenziertes Leben ist ohne dies weisheitliche Beziehungsgeflecht eigentlich schon undenkbar und keinesfalls wahrnehmbar. "Feuer" braucht "Wesen", da es nur am "Wesen" zu "Licht" wird und sonst in die "Finsterniß" (3fL 4, 69 f.) des reinen Nichts zurücksinkt: 14 "So giebet nun das Feuer Leben, und die freye Lust gibt Wesen ins Leben, und im Wesen ist die Geburt, da der Vater, als der ewige Grund, sein Wesen, als sein Hertz, aus dem Ungrunde in sich erbieret, das ist...: Der Sohn wird des Vaters Grund;...". (Sg 7, 33) "Und ist dis der Unterscheid, daß der Vater und Sohn zwo Personen genant werden, und doch nur ein GOtt in einem Wesen; ... In des Vaters Schärfe ist Feuer, und in des Sohnes Schärfe ist Licht; und ist doch in einander wie Feuer und Licht. Aber gleichwie das Feuer will frey seyn, oder ersticket, und brennet doch aus dem ... Holtze ...: und ob es gleich aus vielen Materien brennet, so gibt es doch nur eine Qual, als Hitze und Licht." (3fL 4, 69 f.) Die alchemische Relation von "Feuer" und "Licht" impliziert zugleich ein atmosphärisches Spannungsverhältnis, das eine elementare Polarität des Gefühlsraumes der sich bildenden Lebenswelt beschreibt. Diese Polarität entspricht den in 3.1. bereits aufgezeigten Offenbarungsmodi Gottes, entweder augenblicksgöttlich eruptiv und leiblich niederschmetternd oder in der Christusfigur einen personalen Gegenwartsraum zur typologischen Besinnung entfaltend und leiblich erhebend: "Im Feuer heisset Er ein zorniger GOtt: aber im Licht oder Liebe = Feuer heist Er der heilige GOtt" (Mm 7, 14 = 8, 25).

14

Vgl. G. Simmel, Lebensanschauung, S. 12 ff. bes. 21; P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 210 ff: "Dynamik und Form".

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

Durch diese Spannung wird die sich immer wieder neu herausbildende, leiblich - situativ vermittelte Lebensweltphänomenalität charakterisiert: "... Gott der Vater ... ist die Natur, und darinnen Liebe und Zorn; Der Zorn ist eine Ursache seiner Stärcke und Macht, und auch eine Ursache des Lebens, und aller Beweglichkeit,... Und die Liebe ist eine Ursache seines Hertzens, seiner Majestät, und eine Ursache der Drey = Zahl, und auch der drey Principien: ... Und sehen wir, wie das Licht und das Feuer in zweyerley Qual stehet, das Feuer ist stachlicht, grimmig, fressend und verzehrend, und das Licht ist lieblich, süsse und sehnend, als eines Leibes; die Liebe begehret Leib, und das Feuer begehret auch den Leib zu seiner Speise, aber es frisset ihn gar auf, und das Licht zeucht ihn auf, und begehret ihn zu füllen, es nimt nichts von dem Leibe, sondern zeucht ihn auf und macht ihn freundlich;...". (3fL 7, 41) "Und ist in der Natur immer eines wieder das ander gesetzt, daß eines des andern Feind sey, ... daß eines das ander im Streite bewege, und in sich offenbare, auf daß das Mysterium Magnum in Schiedlichkeit eingehe, und in dem ewigen Einen eine Erheblichkeit und Freudenreich sey auf daß das Nichts in und mit Etwas zu wircken und zu spielen habe,...". (Gw 2, 22) Die prototypische Lebensweltbildung vor Ort des weisheitlich gespiegelten Gotteslebens basiert also auf dessen vital - formaler Polarität. Das Zusammenprallen von "Zorn" und "Liebe" im Augenblick eines vitalen Urknalls primitiver Gegenwart steht bei Böhme immer für einen Moment höchster leiblicher Intensität, den er als Schreck einführt. 15 Im Moment des leiblich individuierenden Erschreckens setzt sich die Liebe bereits immer schon gegen die atmosphärische Dominanz des Zornes durch, so daß das Leben nicht in amorpher Todesangst gefangen bleibt und gestaltlos untergeht, sondern sich von der primitiven Gegenwart personal emanzipieren kann, da sie sich in der Lebensgestalt des Christus praesens entfaltet darstellt und zur mimetischen Wiederholung dieser Entfaltung der Gegenwart einlädt (vgl. auch oben 3.1.1. - 3.1.4.): 16 "Nun theilet sich der Wille im Feuer = Schrack in zwey Reiche, da ein iedes in sich selber wohnet: Als der Schrack in der Finsterniß ist GOttes Zorn; und der Schrack in der Wiederfassung gegen der freyen Lust, wird, in der freyen Lust die hochtriumphirende Göttliche Freudenreich. Denn also wird die freye Lust erhebende, und in ein ringendes Liebe = Spiel eingeführet, und also wird sie quellend und wirckende." (Mm 4, 6) Zur weitergehenden Konkretisierung der leiblich - situativen Ausdifferenzierung von Lebensweltphänomenalität aus der fundamentalen vital - formalen Polarität und deren leiblich individuierender Intensität im Schreck spezifiziert Böhme das Wirken des Geistes durch ein drittes kosmogonisches Prinzip, das ebenfalls bereits in der weisheitlichen Binnendifferenzierung angelegt ist. Es 15 16

Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 129 . 143. Dazu vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, § 87/ S. 541 ff.: "Jakob Böhme".

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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zielt auf den körperweltlichen Resonanzraum zur alltäglichen Manifestation der leiblich - situativen Bildungsdynamik im Existenzraum des Handwerkers und seines dinglich - verdinglichenden Weltumgangs: "Dieser Anfang aber der aus dem Verzehren wieder ausgehet, ist ein Geistlicher Anfang, und gibt 3 Welte: Als erstlich die finstere Feuer = Welt in Hitz und Kälte, eine gantze Rauhigkeit ohne Wesen, (2.) Die andere Welt ist die Geistliche, Lichte oder Englische Welt, (3.) Und die dritte hat ihren Anfang mit der Zeit Anfang genommen. Als GOtt die beyde innere Welten hat beweget, so hat Er diese äussere sichtbare Welt daraus in eine Form einer Zeit erboren und geschaffen." (Mm 4, 12 = Mw II 4, 12- 14) Es findet eine Verwesentlichung des "innem" Gotteslebens, wie es in der leiblich - situativen Binnendifferenzierung der Weisheit präformiert ist, am "äussern" Leben der alltäglichen Körperwelt statt. Die raumzeitliche Phänomenalisierung der Lebenswelt basiert sogar auf der materiellen Substanzgrundlage der Körperweit, "denn wäre keine Materia, so wäre auch kein Geist oder Finden" (Mw II 5, 4). Böhme mißt der Körperwelt im Zusammenhang mit der weisheitlichen Ausdrucksentfaltung also durchaus eine positive Bedeutung zu. Die genuin lebensweltliche Requalifizierung des körperweltlich geometrisierten Ortsraumes durch eine leibliche Situierung des Menschen inmitten des chaotisch - mannigfaltigen Resonanzraumes aller den Menschen umgebenden Körper setzt diese ebenso wie seine eigene körperliche Existenzgrundlage voraus. Böhme ist trotz aller scharf vorgetragenen Kritik an der Reduktion der Körperwelt auf ihr "klangloses" dingliches Vorhandensein durch den Homo faber mitnichten ein prinzipieller Dualist. 17 Das Stichwort der körperlich materiellen Verwesentlichung der leiblich - situativen Dynamik der Lebenswelt legt Böhme seinem Leser förmlich in den Mund: "..., es muß Wesen seyn: denn wo kein Wesen ist, da ist kein Schaffen, da doch ein creatürlicher Geist kein begreiflich Wesen ist; aber er muß ihme Wesen in sich einziehen durch seine Imagination, sonst bestünde er nicht." (Mw 15, 19 = Mw III 7, 1; 40 F 30, 19 f.) An dem "irdischen Gleichniß", an dem sich die weisheitlichen Binnenstrukturen äußern, interessiert Böhme nicht die vier - elementische Materialität an sich, sondern die an ihr manifest werdende Lebensweltphänomenalität. Diese erscheint "nicht essentialisch, sondern in Figuren, in Bildnissen und Gleichnissen, in Formungen" (Mw III 7, 1), d. h. an Konstellationen und Konfigurationen, die körperliches Vorhandensein gleichsam beseelen.

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Gegen G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 119, der Böhmes Polemik dogmatologisch überinterpretiert und daher dualistischen Aponen aufsitzt: "Die Welt ist Teufels werk. ... Das Ergebnis, seinem Wesen nach nichts weiter als eine Müllhalde, ist die Erde." Das ist m. E. schlichtweg falsch.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

4.1.3. Die sieben dynamischen Urgestalten Dieses Offenbarungsgefälle der Lebensweltphänomenalität in die Konkretion körperweltlicher Ausdruckswirklichkeit bedarf noch der genaueren Explikation. 18 Zur Entstehung einer in leiblich - situativer Hinsicht ausdrucksstarken Körperwelt, die nicht in beziehungsloser Existenz dem menschlichen Lebensvollzug entfremdet gegenüber steht, sondern leibhaft, beseelt und lebendig ad hominem gerichtet erscheint, verhelfen sieben dynamische Gestaltungselemente, deren "Liebe = Spiel" (Mm 4, 6) eine unendliche Vielzahl einzelner leibhaftig situierter Lebensgestalten ergibt, die niemals im körperlichen Vorhandensein aufgehen, sondern an den Körpern erscheinen, jedoch noch einmal eigens von denselben unterschieden werden. In sehr freier Anlehnung an L. Klages läßt sich von einem "kosmogonischen Eros" sprechen, 19 durch den der Geist die im himmlisch - urzeitlich noch ungezeitigten An - sich der bloßen Möglichkeiten des weisheitlichen Prototyps noch implizite Sinnenfülle der Weisheit an körperlichen Manifestationen leibhaftig aufzeigt. "Alda sie dann einander empfahen in ihrer heiligen Conjunction, wenn eine die andere schmeckt, riecht, fühlet, höret, und in der Essentz siehet, darinnen dann die wahre Göttliche Freudenreich stehet, sowol das wachsende Leben dieser Welt" (Mm 5,4). Die Sinne sind nun aber nicht exklusiv auf das physikalische und chemische Vorhandensein der Körper als quantifizierbarer Gegenstände anzuwenden, sondern verdanken sich stattdessen einer Reperspektivierung des menschlichen Sensoriums nach Analogie des atmosphärisch schwingenden Schalles (siehe oben 4.1.2.). Der körperlich vorhandene, leibhaft lebendige,

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Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VII/ S. 59, dort zum hier zu explizierenden Übergang von "den drei göttlichen Bestandkräften oder Geburten oder actibus purissimis" im weisheitlich trinitarisch vermittelten schöpferischen Gottesleben zu den "sieben Geister(n)..., aber nicht als stillstehende Wesen, sondern in ewigem Umlauf, Jak 3, 6." Klages kennt die Lehre von den sieben Lebensgestalten nicht; er geht daher unmittelbar von der elementar sich verleiblichenden Polarität von Vitalität und körperweltlich konkretisierter Formalität aus; vgl. L. Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 61: "Der Kosmos lebt, und alles Leben ist polarisiert nach Seele (Psychae) und Leib (Soma). ... Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der Seele. Was immer geschieht hat einen Sinn; und jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint. Der Sinn wird erlebt innerlich, die Erscheinung äußerlich. Jener muß Bild werden, wenn er sich mitteilen soll, und das Bild muß innerlich werden damit es wirke. Das sind, ohne Gleichnis gesprochen, die Pole der Wirklichkeit. - Betrachten wir nun erfassend und denkend die Welt von außen, so wird sie uns überall die pelasgische Dreiheit der in der Einheit des Ganzen auseinandergegliederten Pole zeigen. Der Raum ist der Leib der Zeit, die Zeit die Seele des Raumes." Klages greift hier auf den griechischen Mysteriengott "Eros Kosmogonos" zurück, der anstelle von Böhmes Weisheit - Sophia "als dieser Dämon planetarischer Schwangerschaft und ewiger Wiedergeburt" (S. 37) Leben gestaltet. S. 56: "Und er heißt kosmogonisch, weil er ein Zustand sich ergießender Fülle ist, welchem gemäß das Innre -sofort sich auch ausgebärend- augenblicklich ein Äußeres, Welt und erscheinende Wirklichkeit wird."

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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beseelte Mensch bildet demzufolge einen Resonanzraum zur leiblich - situativ vermittelten und lebensweltlich verorteten Ausdruckskraft seiner alltäglich körperweltlichen Umgebung, von der er sich in der nicht anatomisch - physiologisch reduzierbaren, sondern unhintergehbar synästhetischen Totalität des Leibes insgesamt beeindrucken läßt. Er empfindet auf diese Weise die nicht quantifizierbaren Anmutungsqualitäten einer leiblich - situativ requalifizierten und lebensweltlich potenzierten Körperwelt: "Dieser Schall des Hörens, Sehens, Fühlens, Schmeckens und Riechens, ist das wahre verständliche Leben: denn so eine Kraft in die andere eingehet, so empfähet sie die andere im Schalle, wenn sie ineinander dringen, so erwecket eine die andere und erkent eine die andere. In dieser Erkentniß stehet der wahre Verstand, welcher ohne Zahl, Maß und Grund ist, nach Art der ewigen Weisheit, als des Einen, welches alles ist." (Mm 5, 14) Eine anatomisch - physiologische Isolierung des akustischen Sinnes schließt Böhme als unzulässige sensualistische Reduktion kategorisch aus (vgl. Mm 5, 19).20 Böhme unterscheidet nun sieben Eindrucksqualitäten, die zugleich konstitutiv für die leiblich - situative Ausdifferenzierung der Phänomenalität sind. Mit ihrer Hilfe kann zugleich die Ausdruckskraft körperlicher Erscheinungen erfaßt werden. Böhme denkt an das individuell verschiedene, organische Zusammenwirken von sieben dynamischen Bewegungssuggestionen, aus dem sich individuell ansprechende, leibliche Gestaltverläufe an den körperlichen Erscheinungen ergeben. 21 "(W)ie die Gestalten in ihrer Ordnung in iedem Dinge stehen, also figuriren sie das Corpus" (Sg 13, 1). "(D)ie Creaturen sind aus diesem siebenfachen Ente in Ein Leben geführet worden, da ein ieder Grad wieder sieben in sich hat zu seiner Offenbarung, daraus die Unendlichkeit, als die Form der Weisheit GOttes erscheinet, und daß in der geformten Weisheit derer Bildniß nicht vergehen soll" (Mm 32, 16).

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21

Offensichtlich steht "Schall" bei Böhme für das Sensorium commune; vgl. J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 54 - 62; Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 277 ff.; H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 19 ff.: "Sensualistische Reduktion". Bereits Feuerbach spricht deshalb von einem die banale Sinnesphysiologie transzendierenden "absoluten Sensualismus"; vgl. ders., Wider den Dualismus von Leib und Seele, S. 144: "Nur dadurch also ist der Mensch Mensch, daß er nicht wie das Tier ein beschränkter, sondern ein absoluter Sensualist ist, daß nicht dieses oder jenes Sinnliche, daß alles Sinnliche, daß die Welt, das Unendliche, und zwar rein um seiner selbst, d. h. um des ästhetischen Genusses willen, Gegenstand seiner Sinne, seiner Empfindungen ist." Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VIII/ S. 61, versucht, die allgemeine Sprachnot im Nachvollziehen dieses kabbalistisch - pansophischen Gedankengangs bei Böhme dadurch zu überwinden, daß er die sieben Urgestalten in eine eigenwillige "Doppellektüre" aus Newtons Mechanik und leibnizisch - wolffischer Epistemologie übersetzt: "Repercussion, Perception, Apperception, Distinction, Organisation, Sensum ..., aus dem sensu in eine lebendige geistleibliche Substanz ... Hier ist manifestatio sui recht begreiflich." Hier sind bereits einige Züge des Schmitzschen "Alphabets der Leiblichkeit" präformiert; vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 121 ff.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

D i e Interpretation der s i e b e n G e s t a l t u n g s e l e m e n t e a l s B e w e g u n g s s u g g e s t i o n e n rechtfertigt sich erst auf den z w e i t e n B l i c k . S i e e n t s t a m m e n nämlich der Geschmacksmetaphorik der A l c h e m i e . Der M u n d als der Sitz der G e s c h m a c k s e m p f i n d u n g verhält sich j e d o c h als ein "Leib im Kleinen". S e i n e "Engung" und "Weitung" stehen s o m i t repräsentativ für die leibliche A u s d r u c k s d y n a m i k . 2 2 Genau daraufhin perspektiviert B ö h m e auch sein Inventar der s i e b e n Naturgestalten zur "Infaßlichkeit" der dreifaltigen S c h ö p f u n g s dynamik:23 "Wir e m p f i n d e n vornehmlich s i e b e n E i g e n s c h a f t e n in der Natur, damit d i e s e e i n i g e Mutter alles wircket, das sind diese: Als erstlich die Begierde, die ist herbe, kalt, hart und finster. Zum andern Bitter, das ist der Stachel des herben, harten In = sich = Ziehens, der ist die U r s a c h e aller B e w e g lichkeit und Lebens. Zum dritten Angst, w e g e n des W ü t e n s in der Impress i o n , da d i e e i n g e p r e s s e t e Härtigkeit w e g e n des S t a c h e l s in ein Zerb r e c h e n , A n g s t u n d W e h t h u n k o m m t . Zum vierten Feuer, d a sich der e w i g e W i l l e in dieser Angst = B e g i e r d e in e i n e m ängstlichen, schielenden B l i t z einführet, als in Stärcke und Verzehrlichkeit der Finsterniß, mit w e l c h e m d i e Härtigkeit w i e d e r verzehret, und in e i n e n cörperlichen, w e b e n d e n G e i s t eingeführet wird. Zum fünften des freyen W i l l e n s A u s g e h u n g aus der Finsterniß, und aus d e m Feuer, und in sich selber Wohnen: A l d a der freye W i l l e .. leuchtet und scheinet als ein Licht aus d e m Feuer 22

23

Vgl. Schmitz, ebd., S. 132 - 134. bes. S. 132 f.: "Der Mund ... ist unter allen Leibesinseln unerreicht durch die Vielfalt der Gelegenheiten und Überraschungen, die er zu bieten hat, ein Leib im Kleinen. Zunge, Gaumen, Zähne und Lippen müssen in beständigem Zusammensein auf kleinem Raum mit einander auskommen; die wesensverschiedenen selbstbezüglichen Erfahrungen der Selbstbetastung und des eigenleiblichen Spürens der Leibesinseln sind dadurch wie im Verhalten der tastfähigen Gliedmaßen zur eigenen Körperoberfläche verquickt, aber inniger als da, weil die Berührung im Mund dauernd, durch Gleichförmigkeit der Eindrücke nachhaltig und mit fester Rollenverteilung von Aktivität und Passivität im Berührvorgang verbunden ist, während die beiden Hände sich nur zufällig und willkürlich berühren und dann jede im Verhältnis zur anderen mehr oder weniger aktiv sein kann. [...] Darüber hinaus ist er ein Feld und Modell des Hervortretens aller Kategorien aus dem Alphabet der Leiblichkeit mit einer von keiner der anderen Leibesinseln erreichten Prägnanz. Einen besonderen Vorzug besitzt im Mund die Weitung. Den Mund kann man willkürlich oder unwillkürlich aufmachen; wenn man gähnt, sind Spannung und Schwellung in der Bewegung vereinigt, aber in anderen Fällen konkurriert mit dieser Weitung keine spannende Engung, so daß die Weitung privativ ist. ... Beim Gähnen ist die Konkurrenz von Spannung und Schwellung nur intensiv; sowohl intensiv als auch rhythmisch kommt sie im Anstemmen der Zunge gegen die Härte des Gaumens und der Zähne vor, wobei die Weichheit und Beweglichkeit der Zunge sowie die Fülle der Haltungen, Formen und Gebärden, deren sie fähig ist, trotz der Enge des Mundraumes einer übermächtigen Hemmung des Wegdrängens, also der Angst und dem Schmerz..., vorbeugt." Hieran geht Metzke, Von Steinen und Erde, vorbei, da er ausschließlich auf die Erfahrung der Undurchdringlichkeit von Festkörpern in der materiellen Natur aus ist. Leiblichkeit geht aber nicht in Körperdinglichkeit auf, sondern weit darüber hinaus. Zum Zusammenhang von Kosmogonie und eigenleiblichem Spüren bei Böhme vgl. auch H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 541 ff.

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..., indeme er im Feuer des Wesens der Finsterniß der ersten Gestalt ist abgestorben, und es verzehret ist, so zeucht er ihme ietzt in des Lichts Begierde das Wesen aus dem Feuer = Sterben, nach seinem Hunger in sich, das ist nun Wasser ... und ... Tinctur von Feuer und Licht, als eine Liebe = Begierde, oder eine Schönheit der Farben ... Zum sechsten die Stimme und Klang, welches in der ersten Gestalt nur ein Pochen oder Getön von der Härte ist, und im Feuer demselben erstorben ist, und ... wieder aus dem Sterben des Feuers im Lichtes = Glantz in der Tinctur wieder in lieblicher Eigenschaft, als ein Hall eingefasset wird, darinnen die fünf Sensus, als Hören, Sehen, Fühlen, Riechen und Schmecken in der Tinctur des Lichts vom Feuer entstehen. Zum siebenten das Menstruum oder der Same aller dieser Gestalten, welches die Begierde in ein greiflich Corpus oder Wesen impresset, darinnen alles lieget: Was die sechs Gestalte Geistlich sind, das ist die siebente im Wesen. Das sind also die sieben Gestalten der Mutter aller Wesen, daraus alles erboren wird was in dieser Welt ist: ... ein Rad, ... daraus sie immer schöpfet und wircket ... nach dem Model ... in der Weisheit GOttes ..., daraus die ewigen Geister sind in ein Geschöpfe gangen und eingetreten." (Sg 14, 10 f. = 4, 4 - 15; Mr 8, 15 - 11, 1; Gw 3; Mm 3, 8 - 6; ep 47 Tab. 1/ 2; ep 47 Kurze Erklärung zu Tab. I, 10/1- VII). [Hervorhebungen durch Verf.] Böhme leitet die sieben Naturqualitäten aus dem Hexaemeron des ersten biblischen Schöpfungsberichtes her: "Und obwol das Geschöpfe in einer solchen Zeit, als in sechs Tage = Längen ist vollendet worden, so haben die Tagwercke doch gar viel einen subtilem Verstand: Denn es werden die sieben Eigenschaften darunter verstanden, da ihr sechs zum wircklichen Regiment zu Guten und Bösen gehören; und der siebente, als das Wesen, ist die Ruhe, darinnen die andern Eigenschaften ruhen" (Mm 12, 2 = 12 - 16; 51, 4; Gw 3, 39; Sg 9, 2 f.). Der siebente Tag wird als das die Lebenswelt endgültig ad hominem phänomenalisierende Verleiblichungs- und Situierungsprinzip von den andern sechsen abgesetzt. Er umschließt die Weltwoche, da er die sechs anderen aus sich entläßt und wieder zur Sabbatruhe Gottes in sich versammelt. Die siebente Zahl steht somit auch für die übergreifende Einheit von Schöpfung und Neuschöpfung: "In der siebenten Eigenschaft werden alle Dinge an ihr Ende gebracht, als in den ersten Tag des Anfangs aller Wesen: Denn der siebente Tag, als die siebente Eigenschaft der ewigen Natur, ist ... von Ewigkeit ausser aller Zeit gewesen, denn ... in ihme stehet die ewige Weisheit GOttes offenbar, als die Kräfte und Wunder des Göttlichen Verstandes, in welchem die Gottheit wircket." (Mm 16, 27 = 12, 6) Böhme entwirft anhand der ihm über die pansophische Tradition vermittelten Tagesnamen der lateinischen Woche eine regelrechte Wochenastrologie. Sieben dynamische Naturgestalten, sieben Schöpfungstage und sieben Planeten des Gestirns bilden

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

somit ein in sich konsistentes Analogiesystem, 24 innerhalb dessen sich der Mensch aufgrund der mythopoetischen Phänomenalisierung der Lebenswelt durch einen kosmogonischen Gestaltungsprozeß leibhaftig situiert wiederfindet. Noch heute orientieren wir uns als Westeuropäer im Blick auf die zu gestaltende Lebenszeit anhand dieser kosmogonisch - planetarischen Weltwoche: 1. "Da hat in dem ausgesprochenen Worte angefangen der Sonntag, das ist, der wahre Paradeisische Tag, da die Kräfte in grosser Herrlichkeit in einander gewircket haben. [...] ...: also hat dieselbe Kraft, daraus die Sonne geschaffen ward, die erste Stunde des Anfangs der Welt regieret, und hat ihr Regiment also angefangen; das wäret bis an der Welt Ende; und darum regieret die Sonne die erste Stunde am Sonntage, und wird der Tag billig also gennenet." (Mm 12, 7 f.; vgl. dt. Sonn-tag; engl. Sun-day); 2. "Den andern Tag heissen wir Montag, und darum, daß der Mond die erste Stunde am Tag regieret; ...". (Mm 12, 19; vgl. dt. Mon-tag von Mond-tag, engl. Mon-day von Moon-day, frz. Lurt-di von lat. Lunae dies)', 3. "Nun hat Mars am Dinstage die erste Stunde des Tages im Regiment, ...". (Mm 12, 37; vgl. frz. Mar-di von lat. Martis dies)·, 4. "Den vierten Tag hat Mercurius die erste Stunde des Tages, ...". (Mm 13, 1 ? vgl. frz. Mercre-di von lat. Mercurii dies)', 5. "Den fünften Tag hat Jupiter die erste Stunde des Tages unter den Planeten das Regiment,...". (Mm 14,4; vgl. frz. Jeu-di von lat. Iovis dies)·, 6. "Der sechste Tag in der Schöpfung ist der Freytag, an welchem Venus die erste Stunde des Tages regieret,...". (Mm 15, 1; vgl. frz. Vendre-di von lat. Veneris dies); 7. "Denn den siebenten Tag, als den Sonnabend, hat Saturnus die erste Stunde des Tages das Regiment im planetischen Rade, welches eine Figur der siebenfachen Gebärunge der ewigen Natur ist; [...], und die Alten haben ihn Sonnabend geheissen: Er heisset aber recht Sönabend, darinnen GOttes Liebe 24

Zur phänomenalisierenden Deskription anhand in sich konsistenter Analogiesysteme mit anderer Abstraktionsbasis als dem Quantifizieren fester Körper im zentralen Gesichtsfeld vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 21 - 23, und E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt [3. Auflage] 1971; ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956; ders., Philosophie der symbolischen Formen. Teil III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1972, dort bes. S. 222 ff.: "Symbolische Prägnanz". Cassirer zeigt in Anknüpfung an Diltheys geistesgeschichtliche Lebenshermeneutik (vgl. oben 1.3.2.1.) immer wieder aufs Neue, daß das analoge Symbolisieren der Eindruckswirklichkeit in der kulturellen Ausdruckswirklichkeit menschlichen Lebens der universale hermeneutische Schlüssel zur phänomenalen Wahrnehmungswelt in leiblich - situativer Vermittlung und lebensweltlicher Verortung ist. Bestimmte Wahrnehmungswelten korrelieren bestimmten Einstellungen, die wiederum bestimmten Haltungen oder Lebensentwürfen entsprechen. So kommt es bei Böhme zur unhintergehbaren Korrelation von christlicher Welt und biblisch - typologischer Einstellung einschließlich christenmenschlicher Lebensführung oder von dinglicher Körperweit und lebenspraktischer Gottlosigkeit der rein körperlichen Existenz des Homo faber.

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den Zorn versöhnet, als da sich die sechs Eigenschaften im Gewircke in der Impression in des Grimmes Eigenschaft entzünden,... welches sich hat mit den sieben Eigenschaften in Natur und Wesen eingeführet; und davon saget Moses recht: GOtt ruhete am siebenten Tage von allen seinen Wercken, und heiligte den siebenten Tag" (Mm 16, 17. 23; vgl. engl. Satur-day von lat. Saturni dies). Die Neuschöpfung im Christus praesens ist für Böhme also bereits in der Schöpfung als ein lebenskonstitutives Gestaltprinzip angelegt. Im Banne pansophischer Vollständigkeit ergänzt Böhme die planetarische Weltwoche noch um sieben Weltzeitalter (vgl. Mm 30, 34 ff.) sowie um sieben alchemische Relata: 1. "Saturnus: Sal"; 2. "Mercurius"; 3. "Sulphur"; 4. "Salniter"; 5. Oele"; 6. "(d)er lebendige Mercurius, der Ton"; 7. "ein weisses crystallinisches Wasser" (Mm 10, 18 - 27; zur neuschöpferischen Typik des Tauf - Wassers s. o. 3.2.2.2.). Schließlich stellt Böhme neben die sieben Tage der lebensbildnerischen Urwoche noch zwei weitere, biblische Typologien: "(d)ie sieben Paar der reinen Thiere" aus Gen 7, 2 ff. (vgl. Mm 32, 16) sowie die sieben Siegel der Apokalypse: "(S)o musten die sieben Gestalten der ewigen Natur erboren werden, welche sind die sieben Siegel des Sohnes GOttes, wie die Offenbarung Johannis zeuget" (3fL 3, 21. 36 f.). Die Siebenzahl weist also auf den Christus praesens in kosmogonischer Hinsicht hin, durch dessen Gestaltbildung eine leiblich - situativ ausdifferenzierte Lebensweltphänomenalität entsteht. 25

4.1.4. Die Schlüsselstellung von Leibhaftigkeit und Menschengestalt Die siebente Naturqualität zur Konstitution leiblich - situativ vermittelter und lebensweltlich verorteter Phänomenalität weist analog dem Schema der sieben Schöpfungstage der planetarischen Urwoche eine Schlüsselstellung auf. Das charakteristische Zusammenwirken der sechs übrigen Naturqualitäten macht erst einen Sinn vor dem Hintergrund der siebenten als dem Principium individuationis. "(D)ann ein Geist ist rohe ohne Leib; Da aber doch kein Verstand ohne Leib ist, und auch der Geist in sich selber ohne Leib nicht bestehet" (3fL 4, 5), "begehret ein ieder Geist Leib, beydes zu einer Speise und zu einer Wonne." (40 F 4, 1) Erst unter der Voraussetzung einer leiblichen Manifestation können die Züge und Proportionen der vitaldynamischen Ausdrucksgestalt des schöpferischen Gotteslebens im Einzelnen wahrgenommen werden: "Der siebente Geist GOttes in der Göttlichen Kraft ist der Corpus, der aus den andern sechs Geistern geboren wird, darinnen alle himmlischen Figuren bestehen, und darinnen sich alles bildet und formet, und darinnen alle Schönheit und Freude aufgehet. Das ist der rechte Geist der Natur, ja die Natur selber, darin-

25

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VII/ S. 61: "Alles zielt nicht auf leere Apparenz, sondern auf die körperliche Menschheit Jesu, damit sich alles körperlich solle darstellen, was in Gottes Tiefen verborgen ist."

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

nen die Begreiflichkeit stehet, und darinnen alle Creaturen formiret sind im Himmel und auf Erden. ... So dieser Geist nicht wäre, so wäre auch kein Engel noch Mensch, und wäre GOtt ein unerforschliches Wesen, welches nur in unerforschlicher Kraft bestünde." (Mr 11,1) Für den Menschen bildet der Leib zugleich das Zentrum der Empfindsamkeit (vgl. oben 1.4.). Böhme zeichnet das eigenleibliche Spüren im Idealzustand vollkommenen Lebensglücks als "Eine in sich selber wirckliche, wesentliche, geistliche Kraft, die allerhöchste einfältigste Demuth, und Wolthun, als Liebe = Fühlen, Liebe= und Wol = Schmecken; im Sensu der süssen Gebärung, Wol= und = Gerne Hören." (Gw 1, 20) Es handelt sich offenbar um einen Zustand vollkommener Ausgeglichenheit: 26 "(A)lle Sensus qualificiren in gleicher Concordirung" (Gw 1, 21). Böhme vermag mit dem deskriptiven Instrumentarium der sechs übrigen Naturqualitäten aber auch einen Zustand höchster "leiblicher Intensität" zu schildern, in dem ein Gleichgewicht zentrifugaler und zentripetaler Vitalkräfte den Leib zum Zerreißen gespannt erscheinen lassen: 27 "Die Angst = Qual wird also verstanden: Die herbe Begierde die fasset sich, und zeucht sich in sich, und macht sich voll, hart und rauhe; so ist das Ziehen ein Feind der Härte. Die Härte ist haltend, und das Ziehen ist fliehend; Eins will in sich, und das Ander will aus sich: So es aber nicht voneinander weichen oder sich trennen kann, so wirds ineinander gleich einem drehenden Rade; Eins will über sich, das ander unter sich." (Mm 3, 15 = Mr 5, 20 in Bezug auf Ein- und Ausatmen) Böhmes besonderer Hervorhebung des Leibes entspricht die Rolle der Menschengestalt. Sie erscheint als "eine Figur im Spigel der Weisheit GOttes" (Mw I 9, 6). Anknüpfend an den Locus classicus der Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1, 26 f. in Mw I 5, 2 und Gw 5, 12) schildert Böhme den Menschen als Wiederholung bzw. dynamische Postfiguration der göttlichen Infassungsdynamik, wie sie sich in der Weisheit als dem Prototyp der Lebensweltphänomenalität spiegelt: "Dann die menschliche Kraft ist der Göttlichen eine Empfindlichkeit, oder Findlichkeit, darinnen sich die Göttliche Kraft in Etwas, als im geformten Wesen ... der Kraft findet, darinnen sich die Göttliche Kraft liebet, als in ihrem empfindlichen Wesen, wie sich die Seele in ihrem Leibe liebet." (abm 3, 6) Die Entsprechung von Weisheit und Mensch veranlaßt Böhme zur Aufnahme des mythologischen Topos vom Weltmenschen (κοσμος άνθρωπος). 2 8 Die chaotische Mannigfaltigkeit körperlicher Dinge konfiguriert sich zu einer leiblich - situativ ausdifferenzierten Wirklichkeit auf der 26 27 28

Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 298 f., zur "reinen erfüllten Stimmung" in der angstfreien Weite des Gefühlsraumes. Vgl. ebd., S. 2 9 9 - 3 0 1 . Zur Motivgeschichte dieses Topos der antiken und spätantiken Religionsgeschichte vgl. E. Käsemann, Leib und Leib Christi. Eine Untersuchung zur paulinischen Begrifflichkeit, in: Beiträge zur historischen Theologie. Bd. 9, Tübingen 1933.

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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Folie der Leibgestalt des Menschen: "Wir zeigen euch dieses, daß das ewige Wesen gleich ist einem Menschen, und diese Welt ist auch gleich einem Menschen; ... Es ist Himmel, Erde, Sternen und Elementa alles im Menschen, darzu die Drey = Zahl der Gottheit,... Es sind alle Creaturen im Menschen ...; wir sind allzumal mit dem gantzen Wesen aller Wesen nur ein Leib in vielen Gliedern, da ein iedes Glied wieder ein gantzes ist, und hat ein iedes Glied nur ein sonderlich Geschäfte." (3fL 6, 48 f. = Mr 24, 67; Gw 5, 12; Mm 15, 10 12. 16) "Da kommen die Wesen der Vielheit wieder in eines,...". (3fL 5, 122) Das Beziehungsgeflecht zwischen Mikro- und Makrokosmos erstreckt sich sowohl auf das Körperschema mit den Gliedmaßen als Symbolisierung der Ordnung zwischen Himmel und Erde (vgl. Mr 2, 19. 24 f.), als auch auf einzelne Organe als Symbolisierungen der vier Elemente (vgl. Mr 2, 1 9 - 2 1 ) , als auch auf den Körperumfang als Symbolisierung der Sternbahnen (Mr 2, 24). So erscheint der Mensch schließlich in alchemischer Metaphorik als Quintessenz (nämlich als "Mesch", mit einer hörfälligen Assonanz zu Mensch und Gemisch, und "Limus") der elementar ausdifferenzierten Schöpfungswirklichkeit: "ein lebendiges, vernünftiges und verständiges Bilde ... aus dem Mesch aller Wesen, aus aller Kräfte Eigenschaft und Gestirne, ein Limum aus allen Wesen" (Mm 15, 5 f.; vgl. auch "Mesch", "Mensch", "vermischte Person" in Mw I 3, 13); ein "Limum aus der Erden, und aller geschaffenen Wesen aus allen Gestirnen und Gradus an sich zu einem Corpus" (Mm 15, 8). "Der Leib ist ein Limus aller Wesen ... als die Offenbarung Göttliches Verstandes." (Mm 15, 16 = Gw 5, 1 2 p Als Ebenbild der göttlichen Infassungsdynamik postfiguriert der Mensch auch die Dreifaltigkeit der drei weltbildenden Prinzipien, die jeweils dem Vater = Feuer = Zorn, dem Sohn = Licht = Liebe und dem Geist = Verleiblichende Manifestation der lebensweltkonstitutiven Korrelation von Vater = Vitalität und Sohn = Formalität in der Körperwelt zugeordnet sind: "Wir befinden, daß das menschliche Leben dreyfach ist, mit drey Geistern in einander, als wäre es nur ein Geist, und ist auch nur ein Leben; aber es hat drey Regimente, da iedes eine Mutter hat, die das gibet. Das Centrum Naturae mit seinen Gestalten ist das ewige Leben, dann es ist das Feuer = Leben; und der Geist, so aus dem Centro Naturae erboren wird und ausgehet, der in der Tinctur wohnet, ist das ewige Seelen = Leben; und der Geist Luft, mit der Qualität des Sternen = Regiments ist das anfängliche und endliche zerbrechliche Leben, das ist das viehische Leben. Nun ist die Seele nur aus den beyden ersten erboren, und das dritte ist ihr eingeblasen worden: nicht daß sie soll da eingehen, und sich darein ergeben, wie sie in Adam gethan hat, sondern daß sie soll mächtig über dasselbe herrschen, und die grossen Wunder GOttes, so von Ewigkeit in der Weisheit GOttes ersehen worden, darinnen eröffnen; denn das dritte Regiment ist aus dem ersten erboren und geschaffen worden. Und das ander Regiment 29

Zu den paracelsischen Parallelen vgl. H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 55 - 60. 185 - 192.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

solte in seinem Sitze, in der edlen Tinctur im Paradeis bleiben, und solte in dem dritten die grossen Wunder eröffnen: darum war der Mensch ein Herr über alle Dinge; ... Die Tinctur der Erden war sein Schmuck und Spiel, alles kindlich ohne Geitz: kein ander Kleid war ihme noth; ... ohne Mackel ... war auch sein kindlich Gemüthe." (3fL 14, 32 f. = Mm 11, 20; 15, 18 - 20) Die drei Prinzipien konstituieren und bestimmen das menschliche Leben, jedoch immer nur so, daß darüber die Leibeseinheit des Menschen nicht verlorengeht: "Der gantze Mensch mit Leib und Seele ist dreyfach, und doch nur ein einiger Mensch: Der Leib ist aus dreyerley Wesen, und die Seele aus dreyerley Eigenschaften des Geistes." (Mm 15, 27 = 24) Im Anschluß an die Paradiesesidylle 30 in Gen 2, 4b ff. situiert Böhme den Menschen als Konkreator inmitten der Körperweit, d. h. als "Werckzeug GOttes ..., mit deme GOtt wolte seine Wunder in Figuren offenbaren; Er solte nur ein kindlich Gemüthe behalten, und in GOtt gelassen seyn." (Mm 17, 12) Der Mensch postfiguriert die phänomenalitätskonstitutive Relation von Vitalität und Formalität, indem er sich durch sein Ordnungshandeln anhand von gemachten Konfigurationen in der Körperwelt als wirksam erweist. "(D)er Mensch ist zu dem Ende darein erschaffen worden, daß er dasselbe Mysterium offenbare, und die Wunder ans Licht und in Formen nach der ewigen Weisheit bringe" (Mw III 7, 4). Das Dominium terrae (vgl. die Anspielung auf Gen 1, 28 in Gw 7, 6 und Mw 1 2 , 13) des Menschen besteht also in einer die Natur gestaltenden Tätigkeit. Dabei entfaltet der Mensch vor Ort der Lebenswelt diejenigen Gestalten in leiblich - situativer Individualität, die in der Weisheit als dem Prototyp der Schöpfung immer schon angelegt waren. Das Verhältnis des Menschen zur Körperwelt gestaltet sich insofern problematisch, als er seine sinnstiftende Tätigkeit in der Körperwelt nur ausüben kann, solange er sich nicht an deren ephemere Sinnkonstrukte verliert, indem er diesen eine exklusive und alternativlose Verbindlichkeit zuerkennt. Er muß sich innerhalb des "dreyfachen Lebens" orientieren, entweder in ebenbildlicher Entsprechung zur Korrelation von Vitalität und Formalität zu leben oder sich auf eine beziehungslose, körperliche Existenz zu beschränken: "Aber es stehet in dreyen Quellen: nach iedem Principio wird der Geist und Leib getrieben; und nachdem ein Principium im Menschen die Oberhand krieget, daß sich ihme der Mensch mit seinem Willen eineignet, nach demselben machet er seine Wercke, und die andern hangen ihme nur an, ohne genügsame Macht." (3fL 9, 35 = 6, 33) "... Jetzt thut der Bildniß noth, daß sie sich wehre, den irdischen Gast nicht einzulassen, vielweniger den feurigen; ... Darum thut dem Menschen = Bilde hoch noth, daß es ein mässiges nüchternes Leben führe, und sich mit

30

Vgl. H. Timm, Geerdete Vernunft, S. 99 ff.: "Zwischen Irgendwo und Nirgendwo. Die Asylfunktion der Idyllenliteratur."

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

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dem äussern Reiche nicht zu sehr fülle, denn es machet sonst seine Inwohnung in der edlen Bildniß." (Mw ΙΠ 7, 4 = 3fL 3, 35) Die Zitate zeigen, daß das "dreyfache Leben des Menschen" im Idealfall bedeutet, daß keines der drei Prinzipien einseitig die Lebensführung bestimmt, da der Mensch ansonsten chaotische Vitalität oder formal erstarrte Körperlichkeit, nicht aber eine lebendige Ausdrucksgestalt zur leibhaftig - lebensweltlichen Darstellung bringt. Böhme reformuliert daher die biblisch offenbare Idealgestalt Adams in dieser Hinsicht: "Der Mensch war aus allen 3 Principien nach Leib und Seele geschaffen, und war in den Principien, in den Eigenschaften der innern und äussern Welt, in gleiche Zahl, Maß und Gewichte gesetzt: Kein Principium übertraf das andere, es war eine gleiche Concordantz; das Göttliche Licht temperine alle Eigenschaften, daß sie alle mit einander in einem Liebe = Spiel stunden. [...] , und war eine gleiche Concordantz, ... ein eitel Wolwollen, Wolschmecken, Wolhören, Wolriechen, freundlich und lieblich Sehen, und sanfte Fühlen, und Wolthun." (Mm 17, 17. 20 = 6 Pk 3, 13) Genau entsprechend verwendet Böhme auch "Temperantz" oder "Temperatur" (vgl. Mm 17, 36; 21, 6; Gw 4, 25. 45. 49; 6, 2. 9. 14 - 18. 21). Nur wenn der Mensch derartig ausgeglichen sich zur vitalen Dynamik der Lebensweltschöpfung verhält, vermag er sein Leben in einer leiblich - situativ ausdifferenzierten Phänomenalität sinnvoll einzurichten.

4.1.5. Der Sündenfall aus der "Concordantz" in eine rein körperlichen Existenz Böhmes mythopoetische Adaption der biblischen Geschichte vom Sündenfall (Gen 3) knüpft unmittelbar an die Differenzerfahrung des Menschen angesichts der biblischen Paradiesesidyllik. Der in "Concordantz" leiblich wohlsituierte Mensch, der die weisheitlichen Strukturen der dynamischen Lebensweltschöpfung tatsächlich an der Körperwelt zur Darstellung bringt, ohne von den Beschränkungen körperlicher Existenz sich daran gehindert zu fühlen, erscheint unter den Bedingungen der Alltagswirklichkeit als eine ungeheuerliche Zumutung. Das leibliche Befinden des paradiesischen Menschen stellt sich dem Bibelleser als mühelose Beherrschung des Körpers zum vollkommenen Lebensausdruck dar: "Keine Hitze noch Frost, keine Kranckheit noch Ungefall, auch keine Furcht solte ihn rühren noch schrecken: Sein Leib konte durch Erden und Steine gehen, unzerbrochen derer eines; denn das wäre kein ewiger Mensch, den die Irdigkeit könte bändigen, der zerbrechlich wäre." (Mw I 2, 13) Die vollkommene Freiheit zu einer leiblich individuierten Postfiguration der göttlichen Lebensweltschöpfung als ebenbildlicher Konkreator kennzeichnet für Böhme die biblische Utopie von Gen 2. Angesichts der Zerbrechlichkeit seiner körperlichen Existenz entwickelt der Mensch bestenfalls Sehnsucht nach diesem biblischen Idealzustand vollkommener Leiblichkeit: "(D)arum so schwinget sich das Leben nun über das Wesen dieser Welt" (Bsch

258

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

2, 9). 31 Wie unter 3.1. erwähnt, steht der Mensch unter dem Eindruck eines augenblicksgöttlichen Zorneinbruchs mit vital unmittelbarer Phänomenalität seiner körperlichen Vorfindlichkeit auf einmal völlig entfremdet gegenüber. Er ekelt sich vor der Banalität humanbiologisch aufdringlicher Körpervollzüge (vgl. "Lebens = Eckel" Sg 14, 67; Mm 19 - 21; bes. Mm 19, 1 9 - 2 1 . 25; 20, 4; vgl. auch oben 3.1.2.). Dieses Entfremdungserlebnis ist Böhme zufolge durch die Erzählung vom Sündenfall (Gen 3) immer schon biblisch präformiert. Sie erklärt die unglückliche, weil zum Scheitern verurteilte Sehnsucht des Menschen, als Homo faber die Bedingungen der Möglichkeit seiner körperlichen Existenz selbst produzieren zu wollen ohne Rücksicht darauf, daß sich alles der "Infaßlichkeit" des dreifaltigen schöpferischen Gotteslebens verdankt und daher nicht anders als leiblich - situativ vermittelt und lebensweltlich verortet erscheint: "Aller Wille der in seine Selbheit eingehet, und den Grund seines Lebens Gestaltniß suchet, der bricht sich vom grossem Mysterio ab, und trit in ein Eigenes, er will ein eigen Regiment seyn, ... und dis Kind ... strebet in Ungehorsam wieder seine eigene Mutter, die es erboren hat: ...". (Sg 15, 7) Der Eigenwille hat zur Konsequenz, daß der Mensch die "Concordantz" als die dreifaltige Komplexqualität seiner Stellung in der Welt einseitig zugunsten beziehungsloser Körperlichkeit sensualistisch reduziert. 32 Aus der Lebensgestalt des Konkreators wird auf diese Weise die nackte Existenz des Homo faber, der sich selbst ohne leibliche Situierung prompt an eine chaotische Fülle völlig beliebiger Konstruktionsmöglichkeiten verliert: "Davon entstund Adams Imagination und heftiger Hunger, daß er wolte vom Bösen und Guten essen, und in eigenem Willen leben, das ist, sein Wille ging aus der gleichen Concordantz aus in die Viele der Eigenschaften, denn er wolte sie probiren, fühlen, schmecken, hören, riechen und sehen ...; welches auch im Fall geschähe, daß sie Böse und Gut erkanten, schmeckten, sahen und fühleten, davon ihnen Kranckheit, Wehethun und das Zerbrechen entstund." (Mm 17, 37 = 3fL 5, 120 f.) " ... Denn sobald sie der irdischen Frucht in den Leib assen, so ging die Temperatur aus einander, und ward der Leib nach allen Eigenschaften in dem Spiritu Mundi offenbar, da fiel Hitze und Kälte auf ihn, und drangen in ihn ein ..., davon ihme Kranckheit und der Tod der Zerbrechung entstund." (Gw 7, 5) Adams Option für die "Apotheose der Sinnlichkeit" 33 bleibt vor dem Hintergrand der vier - elementischen Welt insofern trügerisch, als er nun auf 31

32 33

Vgl. P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, S. 113 - 115; dort zur Erlösungssehnsucht des gefallenen Menschen bes.: "Die Frage nach der Geschichte oder der eindeutig gerichteten sinnerfüllten Zeit trifft also zusammen mit der Frage nach einer konkreten Wirklichkeit, in der das Sinnwidrige als überwunden angeschaut, die Möglichkeit letzter Sinnlosigkeit aufgehoben ist." Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 19 - 25. Vgl. U. Reitemeyer - Witt, Apotheose der Sinnlichkeit. Siehe auch oben 1.1.4. !

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

259

das körperliche Vorhandensein auf Gedeih und Verderb festgelegt ist (vgl. auch Sg 15, 4). Die vermeintliche Freiheit einer einseitig körperlichen Existenz entpuppt sich als vollkommene Unfreiheit angesichts der unvermeidlichen Vergänglichkeit materieller Existenzgrundlagen: 34 "Der freye Wille fassete sich in der Schlangen = List und Teufels = Begierde, und fórmete ihm im Ente des Fleisches, eine solche Figur wie die Begierde war, davon der irdische Leib vor GOtt eiteler war als ein Thier." (Mm 27, 24 = 9, 21) "Wie Adam auch geschähe, da er nach Bös und Gut imaginirte: So verblich in seiner Essentz auch die freye Lust der heiligen Welt Wesen. ... Er starb an der heiligen Göttlichen Welt, und wachte auf der grimmen Welt GOttes Zornes." (Mm 9, 12 f.) Unter den Bedingungen einer rein körperlichen Existenz befindet sich das phänomenalitätskonstitutive Zusammenspiel von Vitalität und Formalität durch die einseitige Betonung des Vitalprinzips im Zustand der "Unmacht" und "Verdunckelung" (vgl. Mm 18, 34). Anstelle der Wirkung des Gestaltprinzips kommt in der Körperwelt nur die "feurische Lust" (Mm 9, 9) bzw. der "Feuer = Willen" (Mm 9, 17 f.) als chaotische Vitalität zum Ausdruck. "Die Finsterniß wolte auch gerne creatiirlich seyn, die zog ihren Spielmann der grossen Feuers = Kraft, den Lucifer ... in seiner selbst = feurischen und finstern Essentz Eigenschaft und Willen." (Mm 9, 9) Mit der Chiffre "Lucifer" oder "Teufel" bezeichnet Böhme hier jene "Phantasey" (Gw 2, 12; 4, 43) oder "falsch(e) Scientz" (Gw 2, 34), mit der sich ein unverminderter "élan vital" völlig amorph über die "Temperatur" (ebd.) erhebt und in einem ewigen Plus ultra oder "Mehr - Leben" Bahn bricht. 35 Teuflisch ist für das Leben also die Haltlosigkeit, in der der Mensch von Augenblick zu Augenblick, von Gelegenheit zu Gelegenheit, von Ding zu Ding eilt, ohne Sinn und Verstand. 36 Die phänomenale Ausdifferenzierung der Lebenswelt verkehrt sich durch eine derartig vitalistische Lebenseinstellung in eine "Schiedlichkeit" (Gw 2, 34; 6, 10), die nur noch für die Unüberschaubarkeit chaotischer Mannigfaltigkeit steht. Mit der "feurische(n) Scientz, als ... Wurtzel der Seelen" verabsolutiert Adam als Prototyp des Homo faber in seinem Lebensvollzug nämlich den "ungründlichen Willen des Anfangs" (Gw 6, 16). Er postfiguriert lediglich "ein Particular des ewigen Willens" (ebd.), nämlich dessen augenblicksgöttlich - eruptiven Charakter. So kommt es jenseits der "Temperantz" bzw. "Temperatur" zur "Scheidung der Natur ... in unterschiedliche Scientz" (ebd.). Die "Infaßlichkeit" des chaotischen Präsentationsgestus des schöpferischen Gotteslebens

34 35 36

Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. II, S. 35 - 43; ders., Systematische Theologie. Bd. ΠΙ, S. 45 - 129. Vgl. G. Simmel, Lebensanschauung, S. 20 ff., zur Differenz von unvermittelter Vitalität qua "Mehr - Leben" und Formalität als Bedingung der Möglichkeit leibhaftiger Bedeutungsgestalten qua "Mehr - als - Leben". Zur Fragmentation der geschichtlichen Erfahrungswirklichkeit vgl. P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, S. 113 ff.; ders., Systematische Theologie. Bd. III, S. 64 ff. 107 ff.

260

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

wird auf der Ebene einer rein körperlichen Existenzweise rückgängig gemacht und durch ein chaotisches "Plus ultra!" ersetzt. An die Materie ausgeliefert fällt der Mensch "in das Haus der Finsterniß und des Zorns, darinnen er wolte ein Herr über das Wesen der Liebe GOttes seyn, und gauckelischer = weise darinnen regieren" (Mm 10, 14). Er verliert seine Stellung als Konkreator, der an der ihn unmittelbar mitbetreffenden Lebensweltschöpfung teilhat. Die Welt tritt ihm stattdessen in gegenständlicher Entfremdung entgegen: "Dann GOtt wolte ihme diese geoffenbarte Kräfte, darinnen er ein Fürst war, nicht mehr gönnen noch lassen; Sondern schuf sie in eine Coagulation, und speyete ihn daraus aus." (Mm 10, 13) Die sog. "Coagulation des Spiritus Mundi" bedeutet für Böhme die einseitige Dominanz all jener physikalischen Qualitäten, an denen der Homo faber in sensualistischer Reduktion nur noch die ihm gegenübertretende Dingwelt wahrnehmen kann. Er orientiert sich nicht mehr an der individuellen Proportion dynamischer Qualitäten, die ihn leiblich ansprechen, sondern an der materiellen Widerständigkeit der Dinge. Die vitale Eigendynamik der Lebewesen ist zu Festkörpern geronnen, die nurmehr physikalisch als "streng, rauh, trocken, herb, dick, finster und hart", "scharf, feurig, finster, rauh, stachlicht, neidig, feindig, widerwillig ..., tödtlich, sterbend, grimmig" (Bsch 2, 27. 29) klassifiziert werden. Die feinstoffliche Eigendynamik hat sich durch "Impression und Einschliessung" zu "einem harten Stein ... gefasset und koaguliret." (Bsch 2, 30) Der Stein und "der erstarrete Leib der Erden" (Mr 24, 29) stehen im Gesamtwerk Böhmes völlig stereotyp für die Erstarrung des menschlichen Lebens in reiner Körperlichkeit. Sie symbolisieren den Tod als letzte Konsequenz einer bedeutungslosen Existenz. Als biblischen Prototyp für diese Todessymbolik präsentiert Böhme die Geschichte von der Erstarrung der Ehefrau Lots zu einer Salzsäule (vgl. Gen 19, 26), "daß doch der Mensch solte sehen, was er nach dem äussern Leibe ist, so GOtt seinen Geist daraus entzeucht" (Mm 44, 32). 37

4.1.6. Die Restitution leiblich - situativ vermittelter Lebensweltphänomenalität Die Todessymbolik von Erde und Steinen als Hinweis auf die Erstarrung der inneren Dynamik der Lebensweltschöpfung zeichnet bereits die neuschöpferische "Figur" vor, "wie ein Mensch müsse wieder durch die neue Geburt aus solcher Gefängniß ausgrünen" (Mm 68, 44). Der Homo faber, der in der chaotischen Fülle möglicher Sinnkonstrukte für eine rein körperliche Existenzweise untergegangen ist, soll aus der Entfremdung von einer ihm beziehungslos gegenüberstehenden Körperwelt befreit werden, indem er die sein Leben leibhaftig besinnende Stellung des an der Lebensweltschöpfung ebenbildlich beteiligten Konkreators zurückerhält. Zugleich rekonfiguriert sich die unüber37

Vgl. E. Metzke, Von Steinen und Erde, S. 136 - 139.

4.1. Die leiblich - situative Vermittlung von Lebensweltphänomenalität

261

schaubare Körperwelt zu einer leiblich - situativ gestalteten Lebensweltphänomenalität. Dieser neuschöpferische Durchbruch kann am "Ausgrünen" frischer Vegetation aus der winterlich erstarrten Erde natursprachlich plausibilisiert werden. Dabei wird die materielle Gegebenheit der Körperwelt vorausgesetzt. Die neuschöpferische Wirkung der Lebensweltschöpfung ereignet sich mitten in der alltäglich vorhandenen Körperwelt am ganz normalen Homo faber. Es ist seine reine körperliche Existenz, die verlebendigt, d. h. leiblich situativ requalifiziert und lebensweltlich potenziert wird, indem er nämlich leiblich inmitten einer ihm phänomenalen Lebenswelt situiert wird: "... Aus wasserley Materia oder Kraft ist dann das Gras, Kraut und Bäume herfür gangen? [...] Nun aber stehet in beyden, in der Erden und auch in deinem Fleische, das Licht der klaren Gottheit verborgen, und bricht durch, und gebäret ihm einen Leib nach iedes Leibes Art, dem Menschen nach seinem Leibe, und der Erden nach ihrem Leibe: denn wie die Mutter ist, so wird auch das Kind. Des Menschen Kind ist die Seele, die wird aus der siderischen Geburt aus dem Fleische geboren; und der Erden Kinder sind Gras, Kraut, Bäume, Silber, Gold, allerley Ertz." (Mr 21, 58. 70) "Nun aber war das Vornehmen GOttes, daß Er wolte ein schön englisch Heer aus der Erden machen, darzu allerley Bildung. Denn es solte darinnen und darauf alles grünen und sich neu gebären: wie man denn siehet an Ertzt, Steinen, Bäumen, Kraut und Gras, und allerley Thieren nach himmlischer Bildniß." (Mr 24, 24 = Mm 17, 4) Die Neuschöpfung ist ein integraler Teil der dreigliedrigen Lebensweltschöpfung. Er ist bereits im schöpferischen Präsentationsgestus des "Ungrunds" angelegt. Die amorphe Körperwelt hätte nämlich in letzter Konsequenz eine Annihilation der Schöpfung bedeutet, so als ob der "Ungrund" sich niemals in einen "Grund" überführt hätte, um dadurch gerade das Mäandrieren seiner vitalistischen Abundanzstruktur zu vermeiden: "So hätten die sechs Tage = Wercke der Schöpfung müssen zurücke gehen, und in eine unwirckliche Ruhe eingeführet werden, das wolte GOtt nicht; die gantze Creation solte und muste in seiner ersten Bewegung bestehen, sein erst = geformtes Ens ... solte bestehen, es geschehe gleich in Liebe oder Zorn" (Mm 26, 9). Auch wenn durch den Sündenfall des Menschen die mäßigende Wirkung des Gestaltprinzips zugunsten reiner Vitalität und Apotheose der Sinnlichkeit in der rein körperlichen Existenz an seiner Wirkung gehindert wird, setzt es sich letztlich doch mit seiner Gestaltungskraft durch. Leben kann nur in leiblich - situativer Ausdifferenzierung eine welteröffnende Phänomenalität für sich beanspruchen. Reine Vitalität in ihrer ungeschiedenen dynamischen Potentialität steht dagegen für das "Nichts" (vgl. oben 4.1.1.). Darin sieht Böhme die kosmogonische Funktion des Christus praesens, da durch seine Formkraft Schöpfung und Neuschöpfung so zusammengebunden werden, daß die Verströmung unvermittelter Vitalität ans endlos weite Nichts verhindert wird (vgl. dazu auch Mr 20, 76 ff. in Opposition zu Calvins Kritik an einer

262

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

leiblichen Wirkungsweise des himmlischen Erlösers). 38 Der grimmige Charakter der Atmosphäre des Gotteszorns, in die die entfremdete Körperwelt dem ob seiner Bedeutungslosigkeit zu Tode erschrockenen und ob seiner Eigenwilligkeit und Beziehungslosigkeit beschämten Menschen getaucht erscheint, behält nicht das letzte Wort (vgl. oben 3.1.): "Weil aber GOtt wol erkante, daß ihn der Teufel würde anfechten, und ihme der Ehren nicht gönnen; so hat sich die tiefeste Liebe GOttes (als der hohe Name Jesus aus Jehovah) hierein verwilliget, diese Hierarchiam, welche Lucifer hatte verunreiniget, wieder neuzugebären, und durchs Feuer zu fegen, und seine höchste Liebe darein zu führen; und den Grimm, den Lucifer erwecket hatte, mit der Liebe zu überwinden, und in Göttliche Freude, als wieder in einen heiligen Himmel zu transmutiren, an welchem Orte das Jüngste Gerichte stehet; Und alhie ists, das S. Paulus saget: Der Mensch sey in Christo JEsu versehen, ehe der Welt Grund sey geleget worden Eph. 1: 4." (Mm 17, 32 = 25, 20) So ergibt sich zur Erhaltung der Lebensweltschöpfung als leiblich - situativer Ausdifferenzierung der Phänomenalität von vornherein eine Schematik dreier Geburten, in denen der gegenwärtige Weltmensch seit dem Sündenfall steht und die als Remedium peccati fungieren, als verborgenes, die Neuschöpfung vorbereitendes Wirken der Christusfigur. Er "grünt" in drei Stufen "aus", angefangen von seiner körperlichen Vorfindlichkeit über seine dynamische Vitalität bis hin zur leibseelischen Integralgestalt des wahren Menschen. Die primäre Geburt manifestiert den menschlichen Körper als grobstofflichen, aber an sich toten Gegenstand. In einer sekundären Geburt erhält dieser zunächst durch einen "siderischen Lebensimpuls" den "élan vital" der Gestirnbewegungen mitgeteilt. Der von den Sternbewegungen vitalisierte, an sich aber tote rein körperliche Mensch existiert in der Spannung zwischen Tod und Leben, Stofflichkeit und Dynamik. Er bewegt sich in dem ambiguitären Gefühlsraum der Gotteswelt diesseits des Himmels, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Liebe. Erst die Eröffnung der ebenbildlichen Darstellungsrelation integriert das heillose Hin und Her in einer leibseelischen Vollgestalt des Menschenlebens. Die "animalische" dritte Geburt wiederholt die dreifaltige "Infassung" von Theo- und Kosmogonie. Sie repräsentiert die Entstehung des Makro- vor Ort des Mikrokosmos. Sie entzieht sich der Verfügbarkeit der menschlichen Vitalität. Aus der Einsicht, die Bedingungen der menschlichen Existenz nicht selbsteigen produzieren zu können, erwächst schließlich der Konkreator. Er beherrscht seine ihm individuell zugeeignete Lebenswelt, indem er deren Schöpfungsdynamik durch die Schaffung leibhafter Ausdrucksgestalten in der Körperwelt postfiguriert und auf diese Weise der Versuchung widersteht, sich als Homo faber der, durch rigorose Verdinglichung der Lebenswelt verabsolutierten, "siderischen" Vitalität (z. B. der mobilen Energieressourcen der Erde) zu bemächtigen: "Es ist wol alles ein Corpus, die äusserste Geburt und auch 38

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § IX/ S. 66 - 68. § XI/ S. 69 f. Anhang/ S. 90.

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

263

die innerste, mit samt der Vesten des Himmels, so wol auch die siderische Geburt darinnen, ...: aber es ist gegen einander wie das Regiment im Menschen. Das Fleisch bedeut 1) die äusserste Geburt, welches ist das Haus des Todes: die andere Geburt im Menschen ist die siderische, in welcher das Leben stehet, und da Liebe und Zorn mit einander streiten.... Die dritte Geburt wird zwischen der siderischen und äussersten geboren, und dieselbe heist die animalische oder die Seele, und ist so groß als der gantze Mensch.... Denn ein ieder Mensch, der da will selig werden, der muß mit seinen instehenden Geburten seyn wie die gantze Gottheit mit allen 3 Geburten in dieser Welt." (Mr 20, 50 - 55 = 19, 32 - 34) Damit ist ein Abschluß markiert. Die leiblich - situative Ausdifferenzierung der Lebensweltphänomenalität arbeitet einer sensualistischen Reduktion der christlichen Welt auf ihr rein körperliches Vorhandensein entgegen, indem dieses in einen dynamischen Prozeß eingeschlossen wird, durch den das Leben in der spannungsvollen inkarnationsmorphologischen Polarität von Vitalität und Formalität zur leibhaftigen Darstellung kommt. Der Mensch steht angesichts der Komplexqualität des Lebens aus Kraft und Gestalt bei der Lebensund Weltbemeisterung in der ihn alltäglich umgebenden Körperwelt zwischen Scheitern und Gelingen. Er neigt dazu, die "Concordantz", "Temperantz" oder "Temperatur" des Lebens als leiblich - situativ vermittelter, lebensweltlich verorteter und körperweltlich manifester Ausdruck der weisheitlichen Einheit von Vitalität und Formalität in die unvermittelte vitale Amorphie einer chaotisch entgrenzten Körperwelt hinein aufzulösen. Er versucht seine vitalistischen Lebensmöglichkeiten durch die Körperwelt derart zu steigern, daß er seine lebendige Ausdrucksgestalt an eine amorphe körperliche Existenzweise verliert. Die daraus resultierende Entfremdung von Vitalität und widerständigem Körperding wird durch die biblische Offenbarung des christomorphen Gestaltprinzips überwunden. Der Christus praesens bewirkt eine Reintegration der vitalen und der dinglichen Komponente vital unmittelbarer Phänomenalität durch deren leiblich - situative Vermittlung und lebensweltliche Verortung. Die Ermöglichung wohnweltlicher Geborgenheit ist also das Ziel von Böhmes inkarnationsmorphologischer Applikation des biblischen Schöpfungsdramas, so daß die christliche Welt durch die biblische Typik ad hominem spürbar phänomenalisiert erscheint.

4.2. Die worthafte Vermittlung von

Sprachweltphänomenalität

Völlig strukturanalog zur Konstitution leiblich - situativ vermittelter und lebensweltlich verorteter Phänomenalität (s. o. 4.1.) entwickelt Böhme die "Infassung" von Sprache zur Anrede. Hierbei geht es um die qualitative Potenzierung eines in sich noch völlig undifferenzierten Redeschwalls mit

264

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

einem chaotisch mannigfaltigen Bedeutungsansinnen zu einer worthaft ausformulierten persönlichen Anrede ad hominem. Dabei übernimmt das Wort eine analoge Funktion zum Leib (s. o. Einleitung zu 4.). Der leiblich - situativen Vermittlung und lebensweltlichen Verortung der vitalen Phänomenalität des schöpferischen Gotteslebens entspricht hier die worthafte Vermittlung und sprachweltliche Verortung einer phänomenalen Gottesrede, durch die ein beziehungsloses innergöttliches Soliloquium personal ad hominem ausgerichtet und sein chaotisch mannigfaltiges Bedeutungsansinnen zur individuell lebensbedeutsamen Anrede ausformuliert wird: "Welches Hauchen das ewige Wort der ungründlichen Gottheit ist, als ein Aussprechen des Ungrundes in Grund, des Unwesentlichen in ein Wesentliches: In welchem die gantze Creation mit dem Aussprechen, als in der Schiedlichkeit des Sprechens, ihren Anfang genommen, und noch immerdar nimt; Und stehet alles Leben in derselben Schiedlichkeit des Sprechens, da sich die ingemodelte Imagination in dem Aushauchen in Schiedlichkeit theilet: In welcher Theilung man die Sinnlichkeit des Einigen Lebens verstehet, da sich das Eine in der Vielheit beschauet." (t I 1, 6) Wort und Leib weisen allerdings außer ihrer analogen Funktion im Hinblick auf die die christliche Welt phänomenalisierende Ausdifferenzierung von beziehungslosem Soliloquium bzw. chaotischem "élan vital" auch ein sich wechselseitig spezifizierendes Verhältnis auf. Wort bedeutet bei Böhme eine Spezifikation der hermeneutischen Elementarstruktur der real bildenden Prototypik der Weisheit, die sich als leiblich - situativ vermittelte Lebensweltschöpfung an der den Menschen alltäglich umgebenden Körperwelt manifestiert: 39 "... Also ist auch GOttes Weisheit das ausgesprochene Wesen, dadurch sich die Kraft und der Geist GOttes in Gestältniß, verstehet in Göttlichen Gestaltnissen und Formungen in Wundern, offenbaret." (Ti II 64 = Mw I 1, 12) "Das Wort begehrt nichts mehr, als nur seine heilige Kraft durch die Schiedlichkeit zu offenbaren; und in dem Worte wird die Gottheit in der Schiedlichkeit durchs Feuer und Licht offenbar: Also sind die zwey, als das Wort und Mysterium Magnum, in einander, wie Seele und Leib: denn das Mysterium Magnum ist des Wortes Wesenheit, darinnen und damit der unsichtbare GOtt in seiner Dreyheit offenbar ist...; denn dessen das Wort in Kraft und Schall ist, dessen ist das Mysterium Magnum ein Wesen, es ist das ewige wesentliche Wort GOttes." (Gw 8, 22) Die leiblich - situativ vermittelte Lebensweltphänomenalität erscheint hier noch einmal eigens als worthaft vermittelte Sprachweltphänomenalität. Die christliche Welt wird als phänomenale Gottesrede hinsichtlich der in der weisheitlichen Spiegelung der trinitarischen Infassungsdynamik des schöpferischen Gotteslebens mitgesetzten hermeneutischen Elementarstruktur

39

Die Fassung der Sprachwelt als hermeneutischer Elementarstruktur des leiblich - situativen Aufbaus der Lebenswelt findet sich bei M. Heidegger, Sein und Zeit, § 31 - 34/ S. 142 - 166.

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

265

ihrer leiblich - situativen Ausdifferenzierung dergestalt spezifiziert, daß die weisheitlich präformierte Lebensweltschöpfung erst vor Ort weisheitlicher Sprachweltschöpfung zu ihrer real bildenden Wirksamkeit kommt. Die Sprachweltschöpfung rekapituliert die Lebensweltschöpfung auf einer höheren hermeneutischen Reflexionsstufe. Böhmes inkarnationsmorphologische Applikation des biblischen Schöpfungsdramas zur worthaften Vermittlung und sprachweltlichen Verortung von vital unmittelbarer Phänomenalität basiert auf einer Doppellektüre von Joh 1, 1 - 18 und Gen 1 f., die ihrerseits strikt auf den in 4.1. beschriebenen, leiblich situativen Aufbau der Lebenswelt bezogen. Die "Infassung" eines chaotischen Lebenswillens in eine leiblich - situativ ausgestaltete Lebenswelt bleibt also auch hier die metaphorisch leitende Typik.

4.2.1. Das "sprechende Wort" als Urkonstitution Dem chaotischen "Ungrund" schreibt Böhme ein nicht vernehmbares "Aushauchen" oder "ewig Sprechen" (Bsch 2, 21) zu. Das "ewig(e) Aussprechen GOttes" (Bsch 2, 19) steht für ein in sich völlig amorphes und insofern chaotisch mannigfaltiges Bedeutungsansinnen: "(D)asselbe Sprechen ist das Bewegen oder Leben der Gottheit... ohne Gewicht, Ziel oder Maß" (Mm 1, 7). Das "Sprechen seiner Kraft zu seiner Selbst = Offenbarung" (Gw 8, 21) droht in das Nichts hinein zu mäandrieren. Es bedarf daher einer Struktur, "daß sie das Sprechen ... infasset, und in sich hält" (Gw 6, 38). Diese Struktur der "Infaßlichkeit" findet Böhme in der schöpfungsdynamischen Korrelation von Vater = Vitalität und Sohn = Formalität: "Die feurische Scientz ist aus dem Willen des Ungrundes, welcher Wille ein Vater aller Wesen heisset, in welchem GOtt geboren wird (als vom Vater der Sohn), welcher Wille sich in Kräften zum Worte, als zum Aussprechen, einführet." (Gw 6, 20) Der dynamische Charakter dieser "Infassung" wird daran deutlich, daß Böhme noch nicht an ein Wort im grammatikalisch - lexikalischen Primärsinn denkt, sondern an ein "ungeformte(s) Göttliche(s) Wort der Kraft" (Mm 36, 18). Es handelt sich also um Worthaftigkeit bzw. um ein transzendentales Urwort. 40 Böhme spricht deshalb 40

Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VI/ S. 58 f.: "Das erste Principium kann man sich als ununterscheidend vorstellen: aber das zweite als sehr distinkt unterscheidend; daher heißt es das Wort, darin sind vocales und consonantes, geistliche und leibliche Unterschiede." Oetinger spielt in seiner Interpretation auf Reuchlins "De verbo mirifico" an; dazu vgl. auch Hirsch, Jakob Böhme, S. 222, und G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 349 f. Anm. 11. S. 351 Anm. 19. Bei Böhme finden sich tatsächlich Stellen, die an Reuchlins Argumentation erinnern. Das Urwort entsteht dort als inkarnationsmorphologische "Infassung" des Gottesnamens aus der zunächst chaotisch mannigfaltigen Schallfolge unvermittelter Vokale: "I + E + O + U + A". Diese Vokale weisen an sich noch keine konkrete Lebensbedeutsamkeit auf. Ihr amorphes Bedeutungsansinnen wirkt nicht

266

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

auch vom "Grund des sprechenden Worts" (Gw 9, 9). Hier ist bereits die gesamte Lebensweltschöpfung in nuce sprachweltlich präformiert, d. h. die Ausdifferenzierung der "Natur", die Bedingung der Möglichkeit konkreter Ausgeburten bzw. Naturierungen, in "Form und Gestaltniß ... in ein Leben und Wircken" (ep 47, 6): "So ist nun das Wort GOttes der Grund aller Wesen, der Eigenschaften Anfang; das Wort ist das Sprechen GOttes, und bleibt in GOtt, aber das Aussprechen als der Ausgang vom Wort... das ist Natur und Eigenschaft, auch ein eigener Wille; denn der ungründliche Wille scheidet sich vom Sprechen, und fasset sich in ein Selbst = Eigensprechen in die Schiedlichkeit, als in einen anfänglichen Willen ..., da sich das Wort der Kraft aus sich hat für sich gesetzt, als das ungründliche, unfaßliche Wort des Lebens in eine Faßlichkeit, darinnen es lebe: diese Faßlichkeit ist Natur, und das unfaßliche Leben in der Natur ist GOttes ewigsprechendes Wort, das in GOtt bleibet, und GOtt selber ist." (Gw 9, 9 f.) Hieran wird zugleich deutlich, wie Böhme durch die ontologische Differenz zwischen dem "ewig = sprechende(n) Wort" als dem Urwort und der "Natur" als der weisheitlich - prototypischen Potentialität zur leiblich - situativen Vermittlung und lebensweltlichen Verortung von Phänomenalität eine pantfieistische Verwechselung von Gott und Lebenswelt ebenso geschickt vermeidet wie die platte Identifikation von Natur und Sprache (vgl. oben 4.1.2.): "(D)as ewig = sprechende Wort herrschet durch alles ..., ... es wircket von Ewigkeit in Ewigkeit, und sein Gewircke wird gefasset. Denn es ist das geformte Wort, und das wirckende ist sein Leben und faßlich, denn es ist

personal ansprechend, bleibt ad hominem völlig unverständlich. Erst als das "H" als christomorphes Gestaltprinzip und Prototyp aller Konsonanten die chaotisch mannigfaltige Schallfolge der Vokale zu strukturieren beginnt, kommt es zu einem worthaft vermittelten Verstehenkönnen des Gottesnamens (vgl. Mm 35, 49 - 51). Aus "JEHOVA" (Mm 35, 50) kann Böhme dann auch "JHESUS" (nWgb 3, 5) oder "JEHSUS" (Sti II 46) herleiten, so daß deutlich wird, daß das "H" hier an der Stelle von Sohn = Formalität in der Lebensweltschöpfung verwendet wird. Nun kann sich die Sprachwelt in worthafter Vermittlung entfalten. In der von Konsonanten strukturierten Sprache sind die Vokale aber immer noch die bedeutungskonstitutive "Kraft der Wörter" (Mm 60, 49). Die Polarität von vokalischer Vitalität und konsonantischer Formalität bleibt irreduzibel und unhintergehbar, da eine reine Konsonantensprache ohne vitales Bedeutungsansinnen bliebe (vgl. Mm 36, 42). Diesen Gedankengang rekonstruiert ausführlich G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 233 - 242. Die Schwäche an Bonheims exklusiver Betonung dieses Gedankengangs zu Böhmes Sprachweltkonstitution liegt zunächst einmal darin, daß Böhme hier im Wesentlichen etwas wiedergibt, was man ihm über Reuchlin erzählt hat. Sodann bleibt bei dieser humanistischen Spekulation die für Böhme so signifikante typologische Methode applikativer Schrifthermeneutik im Hintergrund. In typologischer Hinsicht aber bietet Böhme nicht nur wesentlich mehr als diese humanistische Spekulation, sondern kann drittens auch noch Sprachwelt und Lebenswelt hinsichtlich ihrer elementaren Strukturanalogie ausweisen. Daher wird der Gedankengang in dieser Arbeit anders rekonstruiert.

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

267

ausser allem Wesen, nur blos als ein Verstand oder eine Kraft, die sich in Wesen einführet." (Mm 2, 10) Gleichzeitig deutet sich hier bereits die innersprachlich bestehende ontologische Differenz zwischen "ewig = sprechende(m) Wort" und "ausgesprochene(m) Wort" an, das auf der prototypischen Folie des Urworts als dessen jeweils in raumzeitlicher Konkretion entsprechender Antityp "geformt" wird (vgl. Mm 2, 2. 6 - 8). Gemäß dem biblischen Topos von der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi (Joh 1,3; Eph 1, 10; Kol 1,16; Hebr 1, 2) steht das schöpferische Urwort als universales Gestaltprinzip an der Stelle des Sohnes: "Das Wort ist nun das Gefassete, das im Willen ein Nichts ist, und mit dem Fassen eine Gebärung wird ...; Aber ... in des Willens Fassung ... heissets Hertz als ein Centrum oder Lebens = Circuì, darinnen der Urständ des ewigen Lebens ist." (Mm 2, 1 = 1, 6; 22, 45) Böhme umschreibt die urkonstitutive "Infassung" des "élan vital" des "Ungrunds" zum "Grund", des amorphen Wollens zum etwas Wollen, vitaler Potenz des Vaters zur formalen Intention des Sohnes in sprachlicher Hinsicht ganz analog als "das Ewig = sprechende Wort, das der Vater im Sohne ausspricht" (Gw 1, 27). Das schöpfungsmittlerische Urwort an der Stelle des Sohnes wird sodann im Anschluß an Gen 1, 1 als "Wort oder die Kraft Schuf" (Mm 10, 56) oder im Anschluß an Gen 1, 3 als "Verbum Fiat" (Mm 11, 9; ep 47, 4 f.) spezifiziert: " ... denn von Ewigkeit ist nichts als nur GOtt in seiner Dreyfaltigkeit in seiner Weisheit gewesen, ... und darinnen die Scientz, als das Sprechen, aus sich Aushauchen, Fassen, Formen und in Eigenschaften führen. Das Fassen ist das Schuf...; denn ... GOtt schuf durchs Wort." (Gw 3, 2) " ... das Sprechen ist im Fiat gestanden, und das Fiat ist die herbe Matrix ..., welche die Natur fasset und hält." (3fL 3, 48) Das "Verbo Fiat" als die biblisch typologische Spezifikation des schöpfungskonstitutiven Urworts, d. h. des "sprechenden Worts", steht seinerseits als ein "Model" (40 F 30, 19 = kE 5, 9) der worthaft vermittelten Sprachwelt an der Stelle des weisheitlichen Schöpfungsprototyps leiblich - situativ ausdifferenzierter Lebensweltphänomenalität (vgl. oben 4.I.2.). 41 In dieser Hinsicht 41

Gegen Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 232 f., der "Fiat" und "Schuf' nicht mit dem "sprechenden Wort" identifiziert, sondern als Produkte der vom "sprechenden Wort" ausgehenden Offenbarungsbewegung erst dem "ausgesprochenen Wort" zuschlägt. Das "sprechende Wort" wird von Bonheim offensichtlich mit der vorgängigen Konstituierung eines göttlichen Sprechersubjekts identifiziert, der dann ein "Fiat" erst sekundär ausspricht. Das ist im Unterschied zu Böhme subjektivitätsmetaphysisch gedacht. Die Korrelation von "sprechendem Wort" und "ausgesprochenem Wort" basiert für Böhme auf der typologischen Entsprechung ein und derselben Infassungsdynamik und nicht auf dem zweckrationalen Zusammenhang von Sprecher und Rede. Das "ausgesprochene Wort" verdankt sich der dynamischen "Infassung" des "sprechenden Wortes", indem es dieselbe aus urzeitlicher Prototypik in raumzeitlich konkreter Individuation antitypisch wiederholt. Wenn das "sprechende Wort" nun nicht eine derartige Infassungsdynamik, sondern stattdessen ein statisch gegebenes Sprechersubjekt wäre, dann wäre es selbst immer schon ein "ausgesprochenes Wort". Dann aber gäbe es keine ontologische Differenz mehr zwischen dem "ewig sprechenden" Urwort als Bedingung der Möglich-

268

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

n i m m t e s die Funktion e i n e s "Separator(s)" (ep 4 7 , 11), eines D i f f e r e n z i e rungsprinzips, ein. A l l e worthaften A u s d i f f e r e n z i e r u n g e n der Sprachwelt als der hermeneutischen Elementarstruktur der L e b e n s w e l t sind i m "Verbo Fiat" bereits angelegt: "Das verständliche L e b e n ist das ausgehallete Wort, das sich durch d i e E i g e n s c h a f t e n offenbaret. D i e s e E i g e n s c h a f t e n sind in d e m S c h u f , das ist, i m V e r b o Fiat impresset, und in eine Wesenheit e i n g e g a n g e n , . . . " . ( M m 1 3 , 7 = 2 2 , 1. 14)

4 . 2 . 2 . D a s "ausgesprochene" oder "geformte Wort" als den Welttext phänomenalisierende Gottesrede D a s "Mysterium d e s geformten Wortes" ( G w 8, 26) bedeutet d e n "Vorsatz GOttes W o r t s ..., daß Er Leben und Creaturen gebäre und das ausgesprochene W o r t in Bildlichkeit einführe, daß iede Kraft in der Scientz der Schiedlichkeit in e i n e m L e b e n und B i l d e stehe" ( G w 8, 2 9 ) . Es geht also u m d i e worthafte G e n e r i e r u n g distinkter Lebensbilder, deren p h ä n o m e n a l e A u s d i f f e r e n z i e r u n g e i n e n s p r a c h f ä h i g e n m e n s c h l i c h e n B e w u ß t h a b e r zu entsprechenden Sprachs c h ö p f u n g e n anregt. D a s göttliche Urwort hat "eine natürliche Wirckung", i n d e m e s als "Schatten d e s innern Grundes" i m B e r e i c h der K ö r p e r w e l t keit worthaft ausdifferenzierter Sprachweltphänomenalität und den tatsächlich "ausgesprochenen Worten" der konkret ausdifferenzierten Sprachwelt. Das "sprechende Wort" im Sinne Böhmes muß daher ein vitaldynamisches Gestaltungsprinzip bleiben; darf also nicht selbst bereits ein sinnvoll ausgestaltetes Wort sein. "Fiat" und "Schuf' vermeiden diese Aporie, in die Bonheim mit seiner Interpretation sich verstrickt, denn sie erfüllen die von Böhme selbst aufgestellten Kriterien, um das "sprechende Wort" vor Ort weisheitlicher Prototypik an der Stelle des Sohnes qua Gestaltprinzip angemessen zu spezifizieren: Sie sind 1. biblisch präformiert (Gen 1, 1.3), 2. formal genug, um als vitaldynamisches Gestaltungsprinzip aller dann tatsächlich "ausgesprochenen Worte" fungieren zu können, und liegen 3. auch dem zweckrationalen Zusammenhang von Sprechersubjekt und Rede als Bedingung der Möglichkeit von Sprachweltphänomenalität überhaupt noch voraus. Die Urkonstitution des "sprechenden Worts" aus einem vital - ursprünglichen, chaotisch - mannigfaltigen Redeschwall ist transzendental und muß daher auch mit einem Transzendentalwort umschrieben werden. "Fiat" und "Schuf' sind ihrerseits auch deutlich hörbar keine Bestandteile einer sprachweltlich ausdifferenzierten Rede eines Sprechersubjekts, sondern die von Böhme mythopoetisch - narrativ phänomenalisierte Bedingung von deren Möglichkeit. Die Selbstoffenbarung Gottes als ontologisch vorgegebenes Sprechersubjekt, das sich zum Zweck der Rede im "sprechenden Wort" konstituiert, stünde der sprachweltlichen Entfaltung bestenfalls im Sinne eines willkürlichen Vorhabens, aber ansonsten unverwandt gegenüber. Auf das menschliche Unvermögen, ein derartig metaphysisch distanziertes, göttliches Sprechersubjekt aufgrund seiner absoluten Willkürsetzungen verstehen zu können, weist bereits Oetinger, Kurzer Inbegriff der Grundweisheit, Anhang/ S. 90, hin: "Gott selbst aber in seiner Tiefe hat weder motum, noch Raum, noch Bild, noch etwas Leibliches; in der Offenbarung aber zeigen sich die sieben Geister Gottes geistlich und leiblich. ... Darin beweist er, daß keine Wesensdreieinigkeit, sondern eine Offenbarungsdreieinigkeit sei." Die Sprachwelt im Sinne Böhmes kann eben nicht auf göttliche Aussageintentionen reduziert werden. Das ist mit dem "sprechenden Wort" nicht gemeint.

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

269

"(m)aterialisch" wird (vgl. ApR 17). Böhme bezeichnet es dann als "ausgeflossenes wesentliches Wort" (ebd.), "in welchem ... der innere Himmel und die sichtbare Welt stehet, samt allem Creatürlichem Wesen, daß GOtt habe alle Dinge durch sein Wort gemachet, Joh: 1." (ApR 16) Im unmittelbaren Anschluß an Joh 1, 1 ff. erscheint die Lebensweltschöpfung als eine "Creation des geformten Worts in seiner Schiedlichkeit" (Gw 6, 33). Der sprachlich ausdifferenzierte Welttext ist also nichts anderes als der phänomenale Wortleib (vgl. "Formunge des Worts" in Gw 6, 38) für "das Göttliche Hauchen oder Sprechen" (ApR 16). 42 Das inkarnatorische Gefälle des göttlichen Sprachhandelns reicht bis in die Niederungen körperlicher Materialität hinein. 43 Deren Differenzen sind also sprachlich präformiert: "Das gantze Werck ist das geformte Wort GOttes, (verstehet das natürliche Wort, indeme das lebendige Wort GOttes, das GOtt selber ist, im Innern verstanden wird) das spricht sich durch die Natur aus, in einen Spiritum Mundi, als in eine Seele der Creation. Und im Aussprechen ist wieder die Scheidung in der feurischen Astralischen Scientz im Spiritu Mundi, da sich die feurische Scientz in eine geistliche Scheidung ausführet; in welcher Scheidung die Geister in den Elementen verstanden werden, und solche nach Entscheidung der vier Elementen, in iedem Element nach seiner Eigenschaft." (Gw 5, 16) Die Vielfalt leiblich - situativer Individuationen korreliert also der sprachlichen Variationsbreite des ausgesprochenen Worts: "Dann von GOttes 42

43

Das inkarnationsmorphologische Denkbild vom Welttext als phänomenalisierender Gottesrede, die ihrerseits aufgrund ihrer vitalen Ausdrucksdynamik nicht auf die an sich amorphen Aussageintentionen eines göttlichen Sprechersubjektes reduziert werden kann, wird zuerst von J. G. Hamann aufgegriffen und von diesem aus über J. G. Herder an die Moderne bis hin zu W. Benjamin und Adorno weitergegeben; vgl. H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 193 - 195. 210 Anm. 14. Vgl. J. G. Hamann, Aesthetica in nuce, in: ders., Sokratische Denkwürdigkeiten & Aesthetica in nuce, hg. v. S. - A. J0rgensen, Stuttgart 1968 = 1987, S. 74 - 147, hier S. 87. 89: "Rede, daß ich dich sehe! - - Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist. ... Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch - - und philosophisch oder charakteristisch seyn können." Zu Hamann vgl. auch H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 192 - 198. Vgl. J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 44 - 47, bes. S. 46: "... - die ganze vieltönige, göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe bei ihm vorbei: jedes trägt seinen Namen auf der Zunge und nennet sich diesem verhüllten sichtbaren Gotte! als Vasall und Diener. Es liefert ihm sein Merkwort ins Buch seiner Herrschaft, wie ein Tribut, damit er sich bei diesem Namen seiner erinnere, es künftig rufe und genieße. ..., ich frage, ob je diese trockne Wahrheit auf morgenländische Weise edler und schöner könne gesagt werden als: 'Gott führte die Tiere zu ihm, daß er sähe, wie er sie nennete! Und wie er sie nennen würde, so sollten sie heißen!' ...: Der Mensch erfand sich selbst Sprache! - aus Tönen lebender Natur! - zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes!" Vgl. auch W. Benjamin, Über Sprache überhaupt und über Sprache des Menschen, in: ders., Gesammelte Schriften. Abt. II/ 1. Bd. 4, Frankfurt/Main 1980, S. 140 - 157. Vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 242 - 246.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

Sprechen ist das Leben ausgangen, und in Leib kommen, und ist anders nichts als ein bildlicher Wille GOttes" (Bsch 2, 20 = 3, 1). Die genauere Ausdifferenzierung leiblicher Phänomenalität verdankt sich somit der zunehmenden Virtuosität sprachlicher Variationen. Das Wort übernimmt die Rolle eines "Separator(s)" (vgl. Bsch 3, 5. 14. 18 f.), dessen Variationspotenz sich immer neue Repräsentanten in der an sich völlig chaotischen Mannigfaltigkeit der Körperweit ersinnt. Dadurch bildet sich die phänomenale Lebenswelt als "Gegenwurf" (Bsch 3, 7. 12. 32) eines phänomenalisierenden Sprachhandelns. 44 Die "ausgesprochenen, compactirten, geformten Worte" (Gw 1, 30), die bei dieser Sprachschöpfung herauskommen, entstehen jeweils durch die raumzeitlich konkret individuierte Wiederholung des Urworts "Fiat" oder "Schuf". Dadurch werden individuelle sprachweltliche Situationen vor Ort der leiblich - situativ vermittelten Lebenswelt evoziert, die sich auf dem chaotisch mannigfaltigen Hintergrund der Körperwelt und ihrer unüberschaubaren Fülle abzeichnen. Für Böhme steht der gemeinsinnliche Reichtum der Sprache im Vordergrund. Die deskriptive Ausweisung immer neuer Gegenstandsbereiche der Schöpfung steht und fällt mit der sensitiven Modulationsfähigkeit der den Schöpfungsprozeß der leiblich - situativ vermittelten Lebenswelt onomatopoietisch rekapitulierenden Wortbildungen: "Nun möchte aber kein Aussprechen, oder Schallen geschehen, denn die Kräften stehen alle in einer einigen Kraft in grosser Stille; wenn sich nicht dieselbe einige Lust in ... eine Scientz oder Einziehen fassete ... zu einer Formunge der Kräften, aufdaß die Kräften in eine Compaction zu einem lautbaren Halle eingehen, davon die sensualische Zunge der 5 Sensuum entstehet, als eine innigliche Beschauung, Fühlung, Hörung, Riechung und Schmeckung, welches doch alhie nicht creatürlicher, sondern nur auf Art der ersten Empfindlichkeit und Findlichkeit sensualischer Art, soll verstanden werden." (Gw 2, 10) Böhme betont dabei, daß die worthafte Ausdifferenzierung der Sprachwelt der körperlichen Gegebenheit der Dinge nicht nachfolgt, sondern dieser insofern schöpferisch vorausgeht, als 44

Zum strukturellen Zusammenhang von Lebenswelt und Sprachwelt, zum Verstehen der Eindruckswelt nach Maßgabe der Auffassungsformen sprachlichen Ausdruckswelt vgl. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 1 ff. 9 ff., dort über G. Vicos "scienza nuova" mit ihrem Diktum "verum et factum convertuntur"; S. 19: An Stelle eines 'Dinges an sich', eines Gegenstandes 'jenseits' und 'hinter' der Erscheinungswelt, sucht sie die Mannigfaltigkeit, die Fülle und die innere Verschiedenheit des 'Erscheinens selbst'. Diese Fülle ist dem menschlichen Geist nur dadurch erfaßbar, daß er die Kraft besitzt, sich in sich selbst zu differenzieren. Er bildet für jedes neue Problem, das ihm hier entgegentritt, eine neue Form der Auffassung aus." Vgl. auch ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 177, dort im freien Anschluß an den Cohenschen Erzeugeridealismus (vgl. dazu auch S. 178. 187) in einer spezifisch phänomenologisch - hermeneutischen Wendung: "Dieser Prozeß stellt sich und überall dort dar, wo das Bewußtsein sich nicht damit begnügt, einen sinnlichen Inhalt einfach zu haben, sondern wo es ihn aus sich heraus erzeugt. Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet."

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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sie sie diese zuallererst leiblich - situativ vermittelt und zu einer Lebenswelt konfiguriert. Sprache ist für Böhme von daher nicht "creatürlich", weil sie kein Abbild dinglicher Vorbilder ist. 45 Die "erste Empfindlichkeit" (Gw 2, 10) bedeutet in diesem Zusammenhang nämlich, daß jede konkrete Wortbildung vor Ort der Sprachwelt sich strukturanalog zum schöpferischen Urwort "Fiat" verhält. Sie konfiguriert leibliche Ausdrucksgestalten, evoziert leiblich vermittelte Situationen und zeitigt dadurch schließlich eine den Menschen leibhaftig umgebende Lebenswelt.

4.2.3. Das menschliche Wort als darstellende Wiederholung der Gottesrede Das menschliche "Wieder = Aussprechen aus der Zeit Formungen, aus dem Halle der Zeit" (Mm 8, 32) findet zwar eine körperlich manifeste Welt vor, verfaßt aber die Benennungen zur lebensweltlichen Orientierung immer in Analogie zur "Stimme des geoffenbarten Worts GOttes" (ebd.). Deshalb schreibt Böhme: "Das Ausgesprochene ist ein Model des Sprechenden, und hat wieder das Sprechen in sich; dasselbe Sprechen ist ein Same zu einer andern Bildniß nach der ersten: dann beyde wircken, als das Sprechende und das Ausgesprochene." (Sg 13, 2) Der sprachbegabte Konkreator schafft sich zuallererst seine ihm eigene, sprachlich ausdifferenzierte Lebenswelt, indem seine deiktischen Wortbildungen das biblisch offenbare Sprachhandeln Gottes mimetisch postfigurieren. 4 6 Diese stiften nämlich ebenso kontingent eine Referenz zu jeweils entsprechenden leiblichen Repräsentanten wie das göttliche "Fiat". Der Mensch bildet zwar "dasselbe geistliche Wort... nach den lebhaften und wachsenden Dingen" (Mm Vorr., 6). Diese Nachbildung zeichnet jedoch die leiblich - situativ vor Ort der Lebenswelt erscheinenden Gegenstände nur insofern nach, als "dadurch die unsichtbare Weisheit GOttes mit dieser Bildung in schiedliche Formungen gemodelt wird" (ebd.). Die Onomatopoiie des Menschen orientiert sich an der schöpferischen "Infassung" des Gotteslebens, wodurch "der menschliche Verstand alle Kräften in ihrer Eigenschaft ausspricht, und allen Dingen Namen giebet, nach iedes Dinges Eigenschaft: durch welches die verborgene Weisheit in ihrer Kraft erkant und verstanden wird, und der verborgene GOtt mit den sichtbaren Dingen offenbar wird, zum Spiel 45

46

Vgl. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 178: "Indem wir die Eindrücke, die von außen auf uns einzudringen scheinen, nicht bloß wie tote Bilder auf einer Tafel betrachten, sondern indem wir sie mit der Lautgestalt des Wortes durchdringen, erwacht in ihnen selbst ein neues, vielfältiges Leben. Jetzt gewinnen sie in der Differenzierung und Scheidung, die ihnen zuteil wird, zugleich eine neue inhaltliche Fülle. Denn das Lautzeichen ist nicht der bloße Abdruck solcher Unterschiede, die im Bewußtsein schon bestehen, sondern ein Mittel und eine Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellung selbst." Vgl. auch S. 183. Zur leiblichen Gestik als Sitz im Leben der gesprochenen Sprache vgl. M. Merleau Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 207 ff.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

der Göttlichen Kraft" (ebd.)· 47 Die menschlichen Benennungen ahmen also nicht die Gegenstände Körperwelt nach, sondern die Art und Weise, wie sich das worthafte Sprachhandeln Gottes an diesen in leiblich - situativer Vermittlung und lebensweltlicher Verortung manifestiert: "(D)as geoffenbarte Wort... offenbaret sich also durch die ewige und auch zeitliche Natur, und führet sich also in Formen zum Aussprechen. Dann das geformte Wort hat wieder eine solche Macht in sich die Gleichheit zu gebären, als ein solch Wesen wie die Geburt des Geistes ist." (Mm 5, 18) Durch eine derartige Ebenbildlichkeit menschlicher Benennungen wird die unüberschaubare Fülle der chaotischen Körperwelt wieder in das die leiblich situativ vermittelte Lebensweltphänomenalität konstituierende Sprachhandeln Gottes versammelt. 48 Das tendenziell chaotische Stimmengewirr des phänomenal verkörperten Welttextes, durch das dieser in die beziehungslose Körperwelt einerseits und ein chaotisch mannigfaltiges Redeansinnen andererseits auseinanderzufallen droht, erhält und bewahrt nämlich durch die christomorphe Gestaltungskraft der paradiesischen Onomatopoiie Adams seinen die göttliche Infassungsdynamik typologisch repräsentierenden Charakter einer worthaft in sich ausdifferenzierten, die gesamte Schöpfung unter Einschluß der Körperwelt integrierenden Sprachwelt. Die von der biblischen Prototypik präformierte Benennungspraxis des sprachschöpferischen Menschen konkretisiert und konserviert also das Corpus des Welttextes als eine phänomenale Gottesrede: "Denn durch seine Stimme werden alle obgemeldete Stimmen der Wunder = Linien, daraus die Reiche der Welt sind entstanden, in Eine Stimme und Erkentniß verwandelt, und in Ein Reich ... Adams versetzet, der heisset nicht mehr Adam, sondern Christus in Adam: Alle Völcker Zungen und Sprachen hören diese Stimme, denn es ist das erste Wort, daraus das Leben der Menschen hervor kommen ist: Denn alle Wunder kommen im Worte wieder zusammen in Ein Corpus, und dasselbe Corpus ist das geformte Göttliche Wort, welches sich erstlich hat mit Adam in einen einigen Stamm eingeführet ... zur Beschaulichkeit der Göttlichen Weisheit in den Wundern der Kräfte, Farben und Tugend, nach Bösen und Guten." (Mm 30, 50)

47

48

Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 522: "Das Nennen ist ein Nackschaffen des Wesens der Dinge im menschlichen Wort aus dem Stoff der eigenen Qualität des Menschen. Das schöpferische Moment des menschlichen Nennens besteht darin, dass im Namen das Wesen und Leben des benannten Gegenstandes in allen seinen Qualitäten unmittelbar zum Ausdruck kommt, dass ... aus der Bildung und Gestalt des Namens die Bildung und Gestalt des Genannten ablesbar sind." Auch ebd., S. 524, und E. H. Pältz, Jakob Boehme. Glaube und Tat, S. 395. Vgl. E. Benz, ebd., S. 521 : "Der Mensch spricht, und in der Entstehung des menschlichen Wortes spiegelt sich die Theogonie des göttlichen Wortes."

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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4.2.4. Der Mensch als Sprachwesen Die onomatopoietische Begabung des Menschen als eines genuinen Sprachwesens hängt mit seinem ebenbildlichen Verhältnis zum göttlichen Schöpfungshandeln zusammen. 49 Dadurch ist er nicht allein eine Repräsentation des "ausgesprochenen", sondern auch des "sprechenden Worts". Gott "hat also mit dem Menschen ein Bilde seines sprechenden und ausgesprochenen wesentlichen Wortes dargestellet, in deme die Göttliche Scientz mit der Schiedlichkeit des ewigen Sprechens inne lieget" (ep 47, 1). Der Mensch repräsentiert den gesamten innergöttlichen Wortbildungsprozeß aus dem "ewigen Hauchen". Seine Lebensgestalt bildet sich daher erst im Vollzug eigener Sprachschöpfungen heraus. Er wird zum "geformten Wort", in dem er selber Worte formt: "Die Seele stehet im ungründlichen Willen GOttes, in dem ewig = sprechenden Worte: Sie ist ein Funcke vom Göttlichen Sprechen, da sich der Ungrund, als das ewige Eine, in die Scientz, Verstand und Erkentniß der Unterschiedlichkeit ausspricht; sie ist im Sprechen in Natur und Creatur kommen, und hat nun den Gewalt zum Wieder = Aussprechen, als ein Bild nach ihr." (Mm 61, 24) Böhme unterscheidet im Bereich der körperweltlich manifesten "Natur", d. h. hier also: "alle Dinge des Sichtbaren", die "(L)ebhaften" als die "Wachsenden" von den "Stummen" als den "Metallischen" (vgl. ep 47, 4. 28). Der Mensch ist "als das Bilde GOttes, in dem das Göttliche Sprechen offenbar ist" (ep 47, 28), seinerseits von dieser Differenz belebter = lebendig ansprechender und unbelebter = nicht ad hominem ansprechender Naturdinge noch einmal unterschieden. Er buchstabiert die Entstehung "alle(r) Dinge des Sichtbaren ... aus der Schiedlichkeit und Infaßlichkeit des aussprechenden Worts", d. h. "aus der "Experientz des geschiedenen Worts", nach (ep 47, 4), indem er das inkarnationsmorphologische Gefälle der die Lebenswelt phänomenalisierenden Gottesrede vor Ort der eigenen Rede verstehend nachvollzieht und mimetisch postfiguriert. Sprachschöpfungen bilden also den elementaren Ausweis genuin menschlicher Lebendigkeit. Die Sprachbegabung drückt sich deshalb auch in der autobiographischen Entwicklung eines ebenbildlichen, weil worthaft ansprechenden Lebensbildes aus: "Das Leben des Menschen ist eine Form des Göttlichen Willens und ist vom Göttlichen Einhauchen in das geschaffene Bilde des Menschen kommen: Es ist das gebildete Wort Göttlicher Wissenschaft" (Bsch 2, 2). Der menschliche Lebensvollzug entspricht dem göttlichen

49

Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. I, S. 104. 349 - 354, und ebd., § 16. E. Jiingel, Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: H. - G. Gadamer/ P. Vogler (Hg.), Neue Anthropologie. Bd. VI: Philosophische Anthropologie. Erster Teil, Stuttgart 1975, S. 342 - 372, hier S. 363 ff.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

Schöpfungshandeln als ein worthaft - sprachweltliches Ausdrucksgeschehen. 50 Das ist bereits biblisch präformiert. In Adam hat nämlich "der Geist GOttes das Ens Göttlicher Weisheit in ein formlich Leben durchs sprechende Wort figuriret, und die Natur der drey Principien in ein Corpus; in welches Corpus ... der Geist GOttes dasselbe figurirte creatiirliche Leben Göttliches Verstandes hat eingeblasen." (Mm 35, 2) Insofern ist die Menschengestalt eine phänomenale Gottesrede im Kleinen wie der Welttext im Großen. Sie stellt deren Wortleib in mikrokosmischer Verdichtung dar.51

4.2.5. Der Sündenfall des Menschen aus der den Welttext phänomenalisierenden Gottesrede Wie oben unter 4.1.5. bereits erwähnt, erlebt der Bibelleser die schmerzliche Differenz, die sich angesichts seiner sprachlichen Befindlichkeit in dieser Welt gegenüber der vollkommen lebensweltlich verorteten sprachschöpferischen Potenz des biblisch präformierten Menschen auftut. Die szenographische Prototypik der biblischen Sündenfallszene (Gen 3) benennt diese Differenzerfahrung als den Verlust der göttlichen Sprachbegabung durch die Abwendung von der ebenbildlichen Verantwortungsrelation. Anstatt die dynamische Genesis des Welttextes aus dem "sprechenden Wort" vor Ort des "ausgesprochenen Wortes" zu wiederholen, beschränkt sich der Mensch in seiner rein körperlich orientierten Existenz auf eine idolatrische Abbildung statisch vorhandener Dinge in der ihn umgebenden Körperwelt. Aus der phänomenalisierenden lebendigen Rede des Menschen wird ein Sammelsurium lexikalisch fixierter Wortdinge: 52 "... Unsere Seele war vorm Anfange der menschlichen, seeli50

51

52

Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 521: "Das Sprechen ist das eigentliche Werk des Menschen, weil es das erste Werk seines Urbildes, Gottes, ist. Gott, der unfassliche, überwesentliche, jenseits aller Gestalt und Form, stellt sich dar, verwirklicht und gestaltet sich in seinem Wort als der fassbaren Form seines Wesens. So ist auch das erste Werk seines Abbildes, des Menschen, das Wort. Die spezifisch menschliche Form der Selbstverwirklichung des Menschen ist Sprechen." Vgl. ebd., S. 524 f.: "Aussprechen ist Nachmachen, Sprechen ist: Nachvollzug der Schöpfung Gottes im Wort. An dieser Nachschöpfung sind alle Kräfte des Menschen beteiligt und geben dem Wort seine eigentümliche Gestalt. Da der ursprünglich vollkommene Mensch selbst eine 'kleine Welt', ein Auszug aus dem Wesen aller Wesen und die Zusammenfassung aller Prinzipien der Schöpfung, Schnittpunkt aller Kräfte, Qualitäten und Formen des Universums ist, so stehen ihm zu der Nachbildung des geschauten Dinges im Schall auch alle Qualitäten seines Wesens zur Verfügung." Vgl. ebd., S. 530: "Die Verwirrung selbst ist ausserordentlich tiefsinnig gedeutet als die Entwertung des lebendigen Wortes zum Begriff, zur Form, die Entartung des lebendigen Worts, das aus den lebendigen Qualitäten des Menschen die Qualitäten des Dinges nachschafft, zum 'stummen' Wort, das nur noch konventionelle Bezeichnung und Münze ist." Darunter leiden letztlich alle lexikalischen Semantiken; vgl. G. Kleiber, Prototypensemantik; zur Kritik H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 193 f.: "Beruht die früheste Stufe der Signifikation auf einer prinzipiellen Verwandschaft des Zeichens mit der Natur der

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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sehen Creatur ein Ens des Worts GOttes im Worte, Joh. 1:1. und ward aber vom sprechenden Worte GOttes dem Menschen = Bilde in ein natürlich und creatiirlich Leben eingesprochen, und in ein Bilde des ewig = sprechenden Worts formiret. Dieses creatürliche Seelen = Leben wandte sich in Adam von dem Göttlichen Sprechen ab, in ein eigen Wollen und Sprechen, und war deshalb vom gantzen ungründlichen Wesen abgebrochen und von GOtt geschieden." (Mm 56, 23 = 11 1, 8; 4, 24) Der Sündenfall der einen Sprache in die babylonische Vielfalt der Weltsprachen (Gen 11, 1 - 9; vgl. oben 2.3.) ist gekennzeichnet von einem zunehmenden Verlust an Ausdruckskraft, da die Sprachbegabung auf die technische Übermittlung von Informationseinheiten mittelst eines Codes reduziert wird (vgl. Mm 22, 6 ff.; 35, 7 ff.). Die expressiv - explikative Dimension der Sprache tritt dahinter ganz zurück. 53 Böhme weist diesbezüglich auf die Fragmentation menschlicher Sprache hin. Es gibt nur noch "Splitter = Reden" (Mm 22, 48 f.). Die Sprache wird zunehmend unverständlicher. Hinzu kommen "Flüche, Schweren und Stachel = Reden" (Mm 22, 49). Die Sprache verliert ihre Eindeutigkeit, wodurch sie Mißtrauen statt Einverständnis produziert. Besonders an der zeitgenössischen Kontroverstheologie könne man den Sprachverfall studieren: "Wie doch heutiges Tages von Vielen geschiehet, da der Menschen = Teufel GOttes Wort auf der Zungen führet, und aber damit nur der Schlangen Ens ... in das buchstabische Wort einführet, daraus Babel die Mutter aller Geistlichen Hurerey erboren ist, ein eitel Wort = Zancken, da der Teufel und Schlangen Ens wieder das Göttliche Ens im geformten Göttlichen Worte lauffet." (Mm 22, 54) Die biblische Sprache wird dadurch künstlich verrätselt und von der tatsächlichen Lebenswelt des Menschen unnötig distanziert. Der Verlust der ebenbildlichen Sprachpietät 54 hat eine unmittelbare Auswirkung auf die Lebensgestalt. Mit ihrem sprachlich manifesten Eigenwillen artikuliert die Seele lediglich das vom Gestaltprinzip losgelöste, vitalistische Lebensprinzip: "(S)o spricht sich die falsche Seele nur in einen Feuer = Quali. Denn ihr Wille zum Sprechen, welcher in GOtt im Ungrunde stehet, welcher sich durch die Begierde ins Feuer = Sprechen, als in Eigenschaften einführete, der ... ist ... nur derselbe Feuer = Quell: ... Das ewige Eine, als

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Dinge selbst, welche im Zeichen konfigurativ oder onomatopoetisch nachgeahmt werden, so herrscht im gegenwärtigen philosophischen Zeitalter die 'große Einteilung willkürlicher Zeichen'...". Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 517: "Selbstverständlich kommt der Sprache auch die Aufgabe der Information zu, aber es ist unsinnig, den Informationscharakter zu isolieren und zur Hauptaufgabe der Sprache zu erklären. Das Vaterunser ist ebensowenig eine Information wie eine Hymne von Hölderlin ..., ... Ausdruck der Intuition, der Ergriffenheit." Zur expressiv - explikativen Sprachfunktion vgl. auch H. Schmitz, Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 59 - 79: "Philosophische Grundlagen der Sprachtheorie". Bei Heidegger, Sein und Zeit, § 35/ S. 167 ff., fällt die "Sprache" qua "Rede" ins "Gerede" als die uneigentliche Geschwätzigkeit des "Man" und seiner Moden. Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 544 ff.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

GOtt, ist in ihr, und sie begreiffet ihn nicht, sie machet sich zum zornigen GOtt, da GOttes Wort im Zorn spricht, und sich in Natur und Creatur formet, sie wircket in ihrer Selbheit Bosheit" (Mm 61, 26 - 29). Durch falsche Artikulationen erscheint die Lebenswelt des Menschen auf einmal in eine Atmosphäre göttlichen Zornes getaucht (vgl. oben 3.1.1.). Die Körperwelt nimmt den Charakter reiner Gegenständlichkeit und chaotischer Unüberschaubarkeit an; sie kann nicht mehr sprachweltlich als Lebenswelt requalifiziert werden. Der Mensch verliert als Sprachwesen also nicht nur den eindeutigen Sprachgebrauch, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen mühelos ein wechselseitiges Einvernehmen zu erzielen vermag, sondern auch sein leiblich lebensweltliches Orientierungswissen und das damit einhergehende Gefühl von Geborgenheit. Er verliert mit der Sprachbegabung sein Proprium und verschwindet somit als ein Staubkorn in der erdrückenden Fülle der Körperwelt.

4.2.6. Die Restitution worthaft vermittelter Sprachweltphänomenalität durch den "Namen JEsus" Die Sprachlosigkeit des nurmehr körperlich existierenden Menschen, der völlig entfremdet einer amorphen Gegenstandswelt gegenübersteht, wird ebenfalls durch das göttliche Sprachhandeln überwunden. Das Wort "Fiat" steht als sprachschöpferisches Gestaltprinzip an der Stelle des Sohnes. Analog fungiert in neuschöpferischer Hinsicht der "Name JEsus" als Principium individuationis der Restitution worthaft vermittelter Sprachweltphänomenalität vor Ort menschlicher Rede: "Diesem ... kam das lebendige, ewigsprechende Wort, der höchsten Liebe Eigenschaft, aus lauter Gnaden zu Hülfe, und sprach sich wieder in das verblichene Ens ... zu einem wirckenden Leben ein ..., und wolte das lebendige heilige Ens, in den Namen JEsu, in dieses Einsprechen, oder eingesprochenes Wort, wieder einführen, welches in Christi Menschwerdung geschah. ... Und in derselben eingesprochenen Stimme kriegte die arme Seele wieder Göttlichen Odem und Leben: und dieselbe eingesprochene Stimme ward im menschlichen Leben (als eine Figur des wahren Ebenbildes ...) mit fort von Mensch auf Mensch, als ein Gnaden = Bund, gepflantzet." (Gw 7, 15 f. = 11 1, 26; 2, 29 ff.; Mw I 6, 5 f.; 7, 12; 10, 2) Der "Name JEsus" steht also zunächst einmal für ein aktuelles göttliches Sprachhandeln, durch das der Mensch seine Sprachbegabung zurückerhält. Das "Einsprechen des Namen JEsus" ereignet sich sowohl in der Buße qua Bekehrung (vgl. 3.2.1.) als auch in der Taufe (vgl. 3.2.2.): "In der gelassenen Seele spricht GOtt der Vater den heiligen Namen JEsu, als die Gnade und das Erbarmen aus, das ist, Er gebieret Christum in ihr, und führet den Adamischen, bösen, gebornen Willen durch Christi Leiden und Tod durch, wieder in das ewige Eine, da der Sohn dem Vater das Reich der seelischen Natur wieder überantwortet." (Mm 61, 32) "...; und mit der Tauffe verlobet und verleibet

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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sich das gebildete Wort wieder mit dem ewigen Sprechen GOttes, daß es will mit GOtt wollen und sprechen, als GOttes Gerechtigkeit und Wahrheit." (t I 4, 24) Sodann steht aber der "Name JEsus" ganz im Sinne von Eph 1, 4 für eine Restitution der menschlichen Sprachbegabung, die bereits im die christliche Welt qua Welttext phänomenalisierenden Sprachhandeln des schöpferischen Gotteslebens präformiert ist: "Nun aber hatte sich GOttes Liebe ... als der H. Name JEsus ... in die Scientz des Aussprechens, (verstehet in das menschliche ewige Bilde, darein die creatiirliche Seele geschaffen ward) eingeleibet. Und in dieser Einleibung ist der Mensch in Christo JEsu versehen worden vor der Welt Grunde." (Gw 7, 30) Der Mensch ist schöpfungsgemäß auf die seinen Sprachverlust immer wieder überwindende Ausdrucksgestalt des "Namens JEsu" angelegt. Er trägt die Christusgestalt als Verbum internum in sich. Diese ist auch immer dann schon als "anonyme" wortbildende Gestaltungskraft für eine ausdifferenzierte Sprachwelt heilswirksam, wenn der Mensch noch nicht mit ihrer expliziten Gestalt im biblischen Lebensbild Jesu als des Christus konfrontiert ist: 55 "Das sprechende Wort in Christo hat durch alle sieben Gestalte, durch das ausgesprochene Wort in der Menschheit, Wunder gewircket, ehe das gantze Universal im Leibe der menschlichen Eigenschaft offenbar, und der Leib verkläret ward." (Sg 10, 17; vgl. auch Ti 1281 ff.) Immer wieder gelingen auch dem gefallenen Menschen Sprachschöpfungen, die die amorphe Körperwelt besinnen. Diese Begabung verdankt sich dem impliziten Wirken des "Namens JEsu" als der auch in der gefallenen Sprache unhintergehbaren Möglichkeit zu einer eigentlichen, die Lebenswelt phänomenalisierenden Rede: "Das Wort das sich hatte eingeleibet, hatte von aussen das Feuer = Schwert, als den Cherub, und von innen den JEsum, der solte das Feuer = Schwert mit Liebe überwinden: Also stund der Name JESUS im Feuer = Schwert verborgen, und war nicht offenbar, bis auf die Zeit, daß sich GOtt wolte darein bewegen, und denselben offenbaren." (Mm 26, 13) Das "eingecorporirte Wort" (Mr 21, 24), die "eingesprochene Gnade" (t I 2, 8 - 1 0 ) , der "eingeleibte Grund" oder das "eingeleibte Bilde" (Mm 56, 29 33), das "eingebildete" (Mw 17, 12) und das "eingeleibte Wort" (Mm 23, 30; 26, 16; 29, 20) fungieren allesamt als Böhmes Adaptionen der Tradition des Verbum internum. Den Anknüpfungspunkt zur Aufnahme dieses spiritualistischen Topos bildet für den typologisch argumentierenden Inkamationsmorphologen Böhme das Protevangelium aus Gen 3, 15. Der Topos des Verbum internum erwächst somit nicht aus einem unvermitteltem Subjektivismus, sondern 55

Zum "anonymen und unthematischen" Wissen von Gott vgl. oben 2.4. sowie K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, S. 32. 303 ff. Hirsch, Jakob Böhme, S. 229 f., kritisiert Böhmes Lehre vom Verbum internum, verkennt allerdings, daß dieses bei Böhme trotzdem immer mit seiner expliziten Gestalt in der biblischen Prototypik zusammengedacht wird; vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 49. 58, und E. H. Pältz, Jacob Boehmes Gedanken, S. 92 f. 97 - 104. Einen Ausgleich zwischen Schriftorthodoxie und spiritualistischem Verbum internum versucht R. Rothe, Zur Dogmatik, Gotha 1863.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

aus der extra nos vorgegebenen biblischen Prototypik: "Und dieses Wort, das sich in des Weibes Samen einverhieß und einleibte, war dasselbe Wort das sich in Marien Samen bewegete" (Mm 23, 30 = 29, 20). Die "Bewegung des eingeleibten Wortes, in dem Namen JEsu" (Mm 23, 31), bedeutet dementsprechend die Inkarnation des Verbum internum in die konkrete Sprachgestalt der evangelischen Erzählungen des Lebens Jesu. "(D)as Wort ward Mensch" (Mm 59, 16; 60, 2; 75, 10 f.). So zitiert Böhme Joh 1, 14 im Hinblick auf den Bedeutungssurplus des biblischen Christusbildes. Es geht nunmehr um "den Eid, welchen GOtt in Christo mit dem Menschen gemachet hat, daß sich GOtt hat mit seinem Worte der Liebe mit dem Menschen verleibet, und verteuffet" (Mm 74, 58). Das Verbum internum wird für alle Zeiten prototypisch auf der biblischen Bühne inszeniert und in allen seinen Einzelzügen exemplifiziert. Erst dadurch kann es dem individuellen Christenmenschen als real bildendes Vorbild zum mimetischen Nachvollzug eines worthaft ansprechenden Lebensvollzugs dienen: " ...: und das lebendige Wort.... zog an sich das Fleisch Mariä, verstehe das Wort zog das Fleisch, als die Essentien aus Mariä Leibe ... und ward also in neun Monat ein vollkommener Mensch, mit Seele, Geist und Fleisch." (3fL 6, 79) Die phänomenal ausdifferenzierte Lebensgestalt des biblischen Christusbildes reintegriert das in einer rein körperlichen Existenz ausufernde Vitalprinzip der Seele mit dem sprachschöpferischen Gestaltprinzip des Worts zu einer ebenbildlichen Person (vgl. 3fL 6, 81 - 83). Diese synthetisierende Qualität der Hauptperson des evangelischen Dramas verleiht ihr selbst eine worthafte Anspruchsqualität: "Er ist nach seiner Gottheit das ewig = sprechende Wort, als die Kraft der Gottheit, die Kraft des Göttlichen Lichts, und nach der Menschheit ist Er das geformte ausgesprochene Wort, welches mit dem ewig sprechendem Worte gantz Eines ist." (abm 3, 5) Böhme bezeichnet die biblische Sprachgestalt Jesu Christi daher auch als "Verbum Domini" (3fL 6, 76) oder als "Wort des Lebens" (3fL 3, 87; Mw III 5, 4) oder als "lebendige(r) Buchstabe, welcher GOttes selbständiges ausgesprochenes Wort und Wesen ist" (Sg Vorr., 4). Die derartig beschriebene evangelische Sprachgestalt des Lebens Jesu zielt auf den "Lebens = Schall in allen Seelen" (Mw II 9, 3), d. h. auf das gegenwärtige Leibesleben als den natürlichen Resonanzraum dieser Erzählung. Sie verhält sich "in diese Welt ausgebärend" (ebd.). Sie regt den Leser zum mimetischen Mitvollzug an, "damit... derselbe solchen Nutz in sich selber befinde und erfahre" (Sg Vorr., 4). Das "Wort" der evangelischen Lebensgeschichte Jesu Christi wird wiederum "in uns ... Mensch" (3fL 3, 50), indem die rein körperliche Existenz des Menschen durch die neuschöpferische Sprachkraft des "Namens JEsus" wieder zu einer worthaften Lebensgestalt gebildet wird: "Dieses gebildete Wort, oder Ebenbild GOttes, ist nun der Wesentliche Glaube

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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und Christus selber im Menschen" (Mm 70, 63). 56 Die körperliche Existenz des Menschen erscheint nämlich immer dann als ein gebildetes Wort, "wenn das creatürliche menschliche Wort, welches GOtt in eine Creatur fórmete, als das menschliche verständliche Leben, wieder GOttes Wort aus sich ausspricht, und in heilige Bilde formet." (Mm 76, 5) So kommt es zu einer die amorphe Körperwelt spürbar besinnenden Symmorphie (vgl. Phil 3, 10) zwischen einer menschlichen Lebensgeschichte und der prototypischen Lebensgeschichte Jesu Christi: "In uns Menschen aber, so viel der Mensch in der Habhaftigkeit in eigenem Wesen von GOtt und Christo in sich hat, ist das Wort geformet und wesentlich: und dieses geformte, wesentliche Wort isset wieder von dem geformten Worte GOttes, als von Christi Fleisch und Blut, darinnen doch auch das ungeformte Wort samt der gantzen Fülle der Gottheit wohnet." (Mm 70, 65) Jetzt ist der phänomenalitätskonstitutive Zusammenhang von chaotischem Bedeutungsansinnen des "élan vital" und individuellem Bedeutungsträger in der Körperwelt wiederhergestellt. Das "sprechende Wort GOttes" erscheint wieder "in dem geformten compactirten Worte" (Mm 39, 3), so daß der Welttext und seine Wortleiber nicht im materiellen Vorhandensein einer rein körperlichen Existenz auf- bzw. untergehen, sondern stattdessen wieder leiblich situativ vermittelte und lebensweltlich verortete Repräsentanten einer welteröffnenden Sprachschöpfung werden können. Der Mensch gewinnt seine Sprachbegabung zurück, weil er nun seine eigene körperliche Existenz wieder als Repräsentant einer autonomen sprachlichen Sinnschöpfung begreift. Das Selbstverständnis einer worthaften Sinnträgerschaft wird dem Menschen durch die evangelische Sprachgestalt des Lebens Jesu zum mimetischen Mitvollzug anempfohlen: 57 "Denn dieses eingenommene Wort rechtfertigte das creatürliche Wort, als das ausgesprochene geschaffene, verstehet, das sich in menschlicher Eigenschaft hat geformet, und in eine Creatur, als aus drey Principien in Ein Bilde begeben ...". (Mm 39,4 = 39, 5 ff.) Hieran wird abschließend deutlich, daß Verbum internum, das "eingecorporirte Wort", und biblische Sprachgestalt des Lebens Jesu Christi, das "Wort des Lebens", schließlich im "eingenommene(n) Wort" münden. Böhme benennt mit diesem Terminus das leibhaftige Glaubensleben des gegenwärtigen Christenmenschen als den Sitz im Leben der neuschöpferischen Wirkung des "Namens JEsus". "Aber also muß es gehen, aufdaß das geformte und

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Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XI/ S. 70: "Der Glaube ist nicht nur eine Beredung von der Wahrheit göttlichen Worts, sondern eine wesentliche Grundstellung der Dinge, die man hofft, Ebr. 11,1. Wo unser Schatz ist, da ist unser Herz. Der Glaube ist eine gänzliche Übergabe in den Dienst Jesu Christi; er bildet unsere Seele nach dem Muster Jesu Christi." Vgl. auch G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 247 - 252, zur Rekonfiguration menschlicher Biographien angesichts der biblischen Figuren. Vgl. Bonheim, ebd., S. 256 - 258.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

gefassete Wort in GOttes Kindern geschärfet und geübet wird, und die Wahrheit empor steiget." (Mm 22, 55) Erst wenn der Christenmensch seine eigene Lebensgestalt als Repräsentation der evangelischen Sprachgestalt versteht, kann die amorphe Körperwelt wieder zu worthaften Sinngestalten oder gar zum lebensweltlich verorteten Text einer christenmenschlichen Sprachwelt rekonfiguriert werden.

4.2.7. Die Entdeckung der sprachmorphischen Wirkmächtigkeit des Gebets Am Beispiel des Gebets zeigt Böhme, in welchem Maße der Christenmensch das sprachschöpferische Gestaltungspotential des ebenbildlichen Konkreators zurückerlangt. Wie der paradiesische Adam kann der Christenmensch onomatopoietisch wirksam werden, indem er Variationen des "Namens JEsus" vornimmt und dadurch Repräsentanten in einer christlichen Welt benennt. Darin entspricht der Christenmensch dem alchemischen "Magus", "Artista" oder "Künstler" (vgl. Sg passim, ζ. Β. 7, 59 ;9, 26 ; 8, 51 ff.), der ebenfalls durch sprachweltliche Symbolhandlungen seine Lebenswelt manipuliert, indem er die Repräsentanten seiner Handlungen der indifferenten, nur körperlich vorhandenen Umgebung einstiftet und dieselbe seiner sprachschöpferischen Gestaltungspotenz anverwandelt. 5 8 Im Unterschied zum Alchemisten kann der Christenmensch jedoch seine deutsche, alltägliche Umgangssprache zur sprachschöpferischen Lebensweltgestaltung verwenden. Aufgrund der "Biblia deutsch" Martin Luthers ist der Christenmensch an seine Muttersprache verwiesen, um dort die ursprachliche Genesis des Welttextes im Sprachhandeln Gottes mimetisch nachzuvollziehen (vgl. oben 2.3.). 59 Wenn also die sprachliche Ausdifferenzierung der phänomenalen Lebenswelt sich aus einem chaotischen Bedeutungsansinnen eines göttlichen Soliloquiums ergibt, das sich gemäß der Inkarnationsfigur zum Urwortleib "Schuf", "Fiat" oder "Sprach" (dazu vgl. Mr 21, 18) "infaßt", dann entspricht das auf der Ebene des muttersprachlich verorteten Christenmenschen der Infassung eines menschlichen Ausdrucksansinnens zu einer deiktisch distinkten Wortbildung vor Ort des stimmphysiologisch fundierten phonetischen Apparates. Böhme geht davon aus, daß die natursprachliche Urbedeutung der Wörter aller jeweiligen Muttersprachen (vgl. 3fL 5, 86: "Es wird in aller Völcker Sprachen also erkant, ein iedes in der seinen ...") an der phonetisch - semantischen Ausdrucksmotorik des menschlichen Stimmapparates zur Artikulation der einzelnen Silben des betreffenden Worts unmittelbar abgelesen werden 58

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Darauf beziehen sich Eiert und Bonheim, wenn sie Böhmes Schriftstellerei als ein sprachmagisches Umschreiben der ihm eigenen Gemütsverfassung eines Melancholikers interpretieren; vgl. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 23 - 25. 89 - 94; Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 394 - 409, auch S. 313 ff.: "Alchemie der Sprache". Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 533 f. 536. 544.

4.2. Die worthafte Vermittlung von Sprachweltphänomenalität

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kann. Böhmes Methode zur "morphonologischen" 60 , d. h. stimmphysiologisch - phonetisch - semantischen Rekonstruktion der göttlichen "Natur = Sprache", die er in seinem Gesamtwerk immer wieder zur Schriftexegese einsetzt, klingt verblüffend einfach: "(S)o du dieselbe Sprache verstehen wilt, so mercke im Sinne, wie sich ein iedes Wort vom Hertzen im Mund fasset, was der Mund und die Zunge damit thut, ehe es der Geist wegstösset: wann du dis begreiffest, so verstehest du alles in seinem Namen, warum ein iedes Ding also heisset" (3fL 5, 85). Die Bedeutungsgenerierung des biblisch offenbaren Urwortes "Schuf" exemplifiziert Böhme am mimetischen Nachvollzug vor Ort der menschlichen Lautbildung in der Mundhöhle. Er beobachtet die bedeutungskonstitutive Kooperation von Lippen, Zunge, Gaumen und Zähnen, die zur deutlichen Aussprache des Wortes unbedingt notwendig ist (vgl. 3fL 5, 88). 61 Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von einer "transzendentalen Linguistik" Böhmes. 62 M. E. wäre die Rede von einer stimmphysiologisch - phänomenologischen Hermeneutik, phonetischen Semantik oder "Morphonologie" wesentlich geeigneter, um den beschriebenen Sachverhalt zu charakterisieren. Böhmes sorgfältige Beobachtungen und Deskriptionen zeigen, daß er in puncto Physiologie und Anatomie auf der Höhe frühneuzeitlicher Medizin ist. Die unter 4.1.3. bereits angeklungene Metaphorik der Geschmacksentwicklung in der Mundhöhle wird hier durch Stimmphysiologie und "Morphonologie" vertieft. Es wird wiederum deutlich, daß der Mund für Böhmes leibphänomenologische Beobachtungen einen mikrokosmischen Verdichtungsbereich darstellt. 63 Das wirksame Gebet weist einen weiteren charakteristischen Unterschied zur alchemischen Sprachmagie auf. Es funktioniert nicht ex opere operato, sondern setzt einen lebendigen Inkarnationsglauben voraus. Böhme spricht diesbezüglich immer wieder vom notwendigen sprachmorphischen "Ernst": "...; dagegen formen alle Kinder GOttes, denen es auch Emst ist, ihre Worte im heiligen Ente, sonderlich das Gebet, wann sich der freye Wille der Seelen im heiligen Ente, (welches durch Christi Menschheit ist eröffnet worden) fasset, so formet er das wahre, wesentliche Wort GOttes in sich selber, daß es zur Substantz wird." (Mm 22, 50) Die Sprachhandlung des Gebets manifestiert sich also an einer wesentlichen Requalifizierung der im Gebet besprochenen körperweltlichen Alltagsumgebung des Christenmenschen. Als Beispiel für eine die christliche Welt phänomenalisierende Gebetsrede des sprachweltlich restituierten Christenmenschen bietet Böhme die Brotbitte des Vaterunsers (Mt 60 61

62 63

Vgl. E. Holenstein, Art.: Morphologie III. Linguistik und Literaturwissenschaft, Sp. 210. Vgl. hierzu auch E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 525 f. 539, dort zur "Lautwert-" bzw. "Schallanalyse" bei Böhme. Zu den stimmphysiologischen Voraussetzungen von Morphonologie bzw. phonetischer Semantik vgl. G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 366 Anm. 72. Vgl. ebd., S. 269 ff. Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 132 ff.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

6, 11 = Lk 11, 3) dar. Sie erfüllt sich als ein performativer Sprechakt von selbst. Brotbitte und Brotherstellung bilden einen untrennbaren sprachschöpferischen Zusammenhang, der sich am leiblich - situativen Gefüge der christenmenschlichen Lebenswelt spürbar manifestiert: "Und darum beten wir auch im Vater = Unser: Gib uns unser täglich Brod, Matth. 6 : 1 1 . Daß also derselbe Ton oder Wort Gib, welches wir ... aus dem Munde von uns stossen in die Göttliche Kraft, soll in der Göttlichen Kraft als eine Mitformung oder Mitgebärung helfen unser täglich Brod bilden, welches uns hernach der Vater zur Speise giebet. Und wenn denn also unser Ton in GOttes Ton incorporiret wird, und wird also die Frucht gebildet, so muß es ... in GOttes Liebe seyn, und haben die Speise als für Natur = Recht zu gebrauchen, dieweil unser Geist in GOttes Liebe hat dieselbe helfen bilden und formen." (Mr 13, 110 f.) Auf diese Weise gelingt es Böhme, anhand des biblischen Schöpfungsdramas und der evangelischen Lebensgeschichte Jesu als des Christus die leiblich - situativ vermittelte Lebensweltphänomenalität ihrerseits noch einmal auf ihre sprachweltliche Elementarstruktur und deren worthafte Vermittlung hin zu befragen. Genau wie die Lebensweltphänomenalität an die körperliche Existenzweise des Homo faber verloren gehen kann, kann auch die Sprachwelt an einen rein auf die Abbildung von Körperdingen zielenden Informationscode verloren gehen. In beiden Fällen bzw. Sündenfällen löst sich die für den leibhaftigen Lebensvollzug des Menschen so wesentliche Symmetrie von Ein- und Ausdruckswirklichkeit zu einer Asymmetrie auf. Ohne seine sprachweltlichen Auffassungsorgane gelingt es dem Menschen nicht mehr, die ihn umgebende Körperwelt lebensweltlich zu requalifizieren. Übrig bleibt ein Mißverhältnis unvermittelter Vitalität mit einem chaotisch - mannigfaltigen Bedeutungsansinnen einerseits und erstarrter Körperlichkeit mit ihren bedeutungsleeren, nurmehr lexikalisch inventarisierten Worthülsen andererseits. Der biblische Christus reintegriert angesichts dieser Situation sowohl die Körperwelt zur leiblich - situativ vermittelten Lebenswelt, als auch die beziehungslose Geschwätzigkeit mit sinnentleerten Worthülsen zur worthaft vermittelten Sprachwelt. Lebens- und Sprachwelt werden darüberhinaus wieder hinsichtlich ihrer fundamentalen Strukturanalogie epiphan. Der Christus praesens phänomenalisiert ihren inkarnationsmorphologischen Zusammenhang, nämlich ihre Abhängigkeit von der Infassungsdynamik des schöpferischen Gotteslebens aus der namenslosen Vielfalt bloßer Möglichkeiten zu einer worthaft, personal ad hominem ansprechenden und leibhaftigen Wirklichkeit.

4.3. Die morphologische Vermittlung der phänomenalen Wahrnehmungswelt

4.3. Die morphologische Vermittlung der phänomenalen

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Wahrnehmungswelt

Hier soll es um die sog. "Signaturenlehre" gehen, die Böhme mit Paracelsus eng verbindet. 64 Eine sowohl leiblich - situativ und worthaft vermittelte, als auch lebens- und sprachweltlich verortete Phänomenalität ist bereits vorausgesetzt. Die morphologische Präsentation der Lebewesen basiert auf der leiblich situativen Lebenswelt- und worthaften Sprachweltschöpfung. Böhme geht davon aus, daß jedes Lebewesen seine distinkte Phänomenalität in einer signifikativen Oberflächengestalt zum Ausdruck bringt, die er als "Signatur" bezeichnet. Die morphologische Grundeinsicht besteht also darin, "daß die Signatur oder Gestaltniß kein Geist ist, sondern der Behälter oder Kasten des Geistes, darinnen er lieget" (Sg 1, 5): "Nun werdet ihr an der Signatur im äussern die innere Gestaltnisse sehen, ...". (Sg 8, 38) "Die gantze äussere sichtbare Welt mit all ihrem Wesen, ist eine Bezeichnung oder Figur der inneren geistlichen Welt; alles was im inneren ist, und wie es in der Wirckung ist, also hats auch seinen Character äusserlich: Gleichwie der Geist ieder Creatur seine innerliche Geburts = Gestaltniß mit seinem Leibe darstellet und offenbaret; Also auch das ewige Wesen." (Sg9,l) "... das Innere hält das Äussere vor sich als einen Spiegel ...; das Äussere ist seine Signatur." (Sg 9, 3) "... und wie sich alle Dinge im ausgesprochenem Wort gebären, also signiren sie sich auch in ihrer innern Gestaltniß, welche auch das äussere also signiren." (Sg 15,48) Angesichts dieser Definitionen von "Signatur" könnte man auch von "Physiognomik" sprechen, wenn man das Gesicht als besonderen Verdichtungsbereich der Eindruckswirklichkeit vernachlässigt und auf die gesamte Oberfläche eines beseelten Körpers ausdehnt. 65 Die mit "Signatur" bezeichnete Oberflächengestalt bringt die leibhaftige Lebensbedeutsamkeit eines Gegenstandes der Körperweit zum Ausdruck, durch den er dem menschlichen Betrachter vertraut erscheint und zur Entwicklung einer bedeutsamen Lebensgestalt dient. Das Charakterbild oder Lebensprofil eines belebten Körpers umfaßt die individuelle Proportion seiner Farbe, Form, Volumen, Oberflächenbe64

65

Vgl. G. Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, S. 121 ff.: "Sprechende Natur: Die Signaturenlehre bei Paracelsus und Jacob Böhme"; W. Kayser, Böhmes Natursprachenlehre und ihre Grundlagen, in: Euphorion 31, 1930, S. 521 - 560. Vgl. auch H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 170. 179 ff., bes. S. 185 - 198; E. Rothacker, Das "Buch der Natur", sowie in kritischer Hinsicht H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Den Verdichtungsbereich des Gesichts untersucht im Anschluß an Lavater K. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 48 ff. Ebd., S. 104 ff., im Anschluß an Herders "Hieroglyphe" eine ganz allgemeine morphologische Ordnungsgestalt, die als gestalthermeneutischer Universalschlüssel dient. Vgl. auch H. Böhme, Natur und Subjekt, S. 198 - 204.

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4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

schaffenheit, Gewicht, Lage im Raum, sonstige sinnliche Eindrucksqualitäten sowie seiner Lebensgeschichte und seiner Beschreibung durch die biblische Sprachschöpfung. 66 Der diesbezüglichen morphologischen Beobachtung geht es Böhme zufolge also um die "Gestalt des Leibes", "Sitten und Gebärden", um "Halle, Stimmen und Sprachen", die "an allen lebendigen Creaturen" beobachtet werden können wie "an Bäumen, Kräutern, Steinen und Metallen" (Sg 9, 4 = 1, 16). Dank seiner "Signatur" läßt sich jeder Körper individuell erkennen, indem die "Signatur" seine phänomenale Konstituierung in der leiblich - situativen wie worthaften "Infassung" des ursprünglich chaotischen "élan vital" nachzeichnet: "leder Cörper ist an ihm selber ein stumm und als ein todt Wesen: Er ist nur eine Offenbarung des Geistes der im Cörper ist; Der Geist signiret sich mit dem Cörper: was der Geist in sich ist im unbegreiflichem Wircken, das ist der Cörper im begreiflichen und sichtlichen...., das ist die Offenbarung Göttlicher Weisheit, in dem ausgesprochenem Wort aus Liebe und Zorn." (Sg 13, 1) "... denn der Leib aller Dinge oder Wesen ist anders nichts, als eine Signatur oder Gehäuse nach dem Geiste: Wie die Geburt im Ente ist, da sich der Geist formet, also ist auch der Leib aller Geschlechte in den lebhaften und wachsenden Dingen." (Mm 19, 28) Die morphologischen Wahrnehmungen bilden für Böhme eine natursprachliche Matrix, an der sich der Mensch für seine Lebensführung orientieren kann. "Und das ist die Natur = Sprache, daraus iedes Ding aus seiner Eigenschaft redet, und sich immer selber offenbaret, und darstellet, worzu es gut und nütz sey, dann ein iedes Ding offenbaret seine Mutter, die die Essentz und den Willen zur Gestaltniß also gibt." (Sg 1, 17) Die natursprachliche Matrix zielt also ihrerseits auf das bei Böhme an der Stelle traditioneller Christologie stehende Gestaltprinzip. Der Christenmensch kann durch die "Signaturenlehre" seine morphologische Wahrnehmungskompetenz auch im Hinblick auf die ihm begegnenden Menschen schulen, um das chaotisch - mannigfaltige Bedeutungsansinnen der Eindrucksfülle einfühlsam und schonend zu typisieren und den Menschen dem jeweils festgestellten Charaktertyp entsprechend virtuos behandeln zu können. Hier kommt neben der Beobachtung des genuin menschlichen Ausdrucksverhaltens die physiognomische Komponente der Signaturenlehre stärker zum Tragen: "... Und wie es nun in der Gewalt der Qualität inne stehet, also bezeichnet sichs im äussern in seiner äusserlichen Forme und Gestaltniß,... der Mensch in seinen Reden, Willen und Sitten, auch mit der Form der Glieder, der er also zu derselben Gestaltniß haben und gebrauchen muß: Seine innere Gestaltniß zeichnet ihn auch in der Gestaltniß des Angesichts, ... Dann den Menschen kennet man hierinn an seiner täglichen Übung,...". (Sg 1, 11 f.) 66

Vgl. J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 54 ff., Bes. S. 61 f.

4.3. Die morphologische Vermittlung der phänomenalen Wahrnehmungswelt

285

Unter den Bedingungen des Sündenfalls kommt es nun dazu, daß sich der Mensch "vom Guten ins Böse verwandelt" (Sg 1, 12). Er behält zwar äußerlich sein perzeptives Körperschema, aber der leibhaftige Ausdruckscharakter seiner Psychomotorik verwandelt sich zu einer tierischen Gestalt. Damit ist gemeint, daß das Eindrucksganze des Ausdruckshandelns eines betreffenden Menschen sich nicht mehr zu einem menschlichen Profil verdichten und als solches bezeichnen läßt, sondern stattdessen Assoziationen tierischer Verhaltenstypen aufdrängt. So klassifiziert Böhme die Menschen, die sich nicht mehr unter der biblischen Sprachschöpfung "Mensch" begreifen lassen, als "die unvernünftigen Thiere ..., welche im Äussern Menschen = Gestalt haben, aber in ihrer Bildniß, im Geiste, böse und wilde Thiere sind, welches sich an ihren Eigenschaften eröffnet und darstellet" (6 Pk Vorr., 1). Böhme entwickelt eine regelrechte Charakterologie der Verhaltenstypen des gefallenen Menschen nach tierischen Emblemen. 67 Dem Geiz einspricht der Wolf, dem Neid der Hund, dem Stolz das Roß oder der Pfau (vgl. 40 f 7, 18): "Daran soll sich ein ieder lernen erkennen, er darf nur nach seiner Eigenschaft forschen, worzu ihn sein Wille stets treibet, in dem Reiche stehet er, und ist nicht ein Mensch, wie er sich selber dafür hält, und ausgibt, sondern eine Creatur der finstern Welt; als ein geitziger Hund, ein hoffärtiger Vogel, ein unkeusches Thier, eine grimmige Schlange, eine neidige Kröte voller Gift, etc. ..." (6 Pk 7, 37 = Gw 7, 3 f.; 8,42; 11, 26 - 28; 3fL 11, 38 ff.; 40 F 34, 2; 36, 7; Mm 23, 27 f.; 24, 1) Böhme geht es hier offensichtlich nicht um die absurde Identifikation von Mensch und Tier, sondern um einen metaphorischen Sprachgebrauch, der es erlaubt, das chaotische Bedeutungsansinnen eines vielschichtigen Eindrucks schonend zu reduzieren und zu explizieren. Bei dieser morphologischen Reduktion des komplexen Ausdrucksverhaltens eines beobachteten Menschen stehen biblische Typen Pate. Böhme ist sich der Metaphorik seines charakterologischen Sprachgebrauchs immer bewußt: "(W)iewol sie ohne einen solchen Leib sind, so haben sie doch solche Eigenschaft in ihrem geistlichen Leibe; und ob sie zwar Leib haben, ist er doch nach Geistes Art, als die Teufel haben." (6 Pk 9, 18) Die morphologischen Tiertypen charakterisieren ein Verhaltensmuster, durch das der Mensch nur auf die Steigerung seiner selbsteigenen Lebensmöglichkeiten bedacht ist. In der lebenspraktischen Orientierung wird das bibliologische Referenzsystem durch ein bio-logisches ersetzt. Anstelle einer bedeutsamen Lebensgestalt, die ein "Mehr - als - Leben" darstellt, kommt lediglich ein zerstörerischer Drang nach "Mehr - Leben" zum Ausdruck. 68 Böhme schildert diese Lebenssituation "unter den Menschen und Thieren" als "ein Beissen, Feinden, Schlagen, und hoffärtiger Eigen = Wille ..., da ein iedes will

67 68

Zur Charakterisierung menschlichen Ausdrucksverhaltens mit Tiergestalten vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 21 - 23. bes. Anm. 5 f. Vgl. G. Simmel, Lebensanschauung, S. 20 ff.

286

4. Phänomenalisierung von Lebens-, Sprach- und Wahrnehmungswelt

über das andere herrschen, das andere erwürgen, fressen, und sich allein erheben; auch alles mit List, Grimm, Bosheit und Falschheit untertreten, und sich zum Herrn machen." (6 Pk 9, 17). An der neuzeitlichen Geldwirtschaft kommt für Böhme dieser kulturlose Naturzustand am krassesten zum Ausdruck: "Deine Signatur, damit du ietzo bist von aussen bezeichnet, ist der grosse Geitz und Neid, mit dem bösen Gelde deiner Wehrung, und deine grosse Grimmigkeit deines Drangsais des Elenden, indeme sich dein Geitz hat also hoch gezwungen, in willens alles in sich zu fressen, daraus deine grosse Steigerung aller menschlichen Nothdurft ist entstanden." (Mm 44, 10) Vor dem Hintergrund des dreißigjährigen Krieges, an dem einige offenbar gut verdienen, assoziiert Böhme die gegenwärtige Befindlichkeit seiner Mitmenschen mit der biblischen Situationsbeschreibung von "Sodom" (Mm 44, 7 ff.). Er erwartet dementsprechend ein göttliches Gericht, bei dem den Übeltätern die Menschenmaske, die diese sich zur Mimikry übergestülpt haben, heruntergerissen und die wahre "Signatur" ihres Handelns offenbar wird: "Und wisse gewiß, daß dir der HErr hat ietzo die zwey Engel zur Letze geschickt; einer hat die Wahrheit in sich, und heisset Lot mit seinen Töchtern aus Sodom gehen, und der ander hat das strenge Gerichte, und hat dich ietzt zum letztenmal gesichtet, und deine inwendige Signatur heraus gedrehet, und vor den HErm gestellet, und dein Mord = Geschrey ist vor den Höchsten kommen, und ist sehr groß, der hat seinen Engel gesandt dich zu verderben, und die Stätte umzudrehen." (Mm 44, 9) Böhme geht es bei dieser gerichtsprophetischen Äußerung um die Demaskierung eines seiner Ansicht nach weit verbreiteten pseudoreligiösen Habitus. "Christi Purpur = Mantel" (ApR 44) diene ganz im Sinne der Bildlogik der hier verwandten Textilmetaphorik meistens nur der Bemäntelung eines Lebenswandels, der keineswegs christomorph sei (vgl. Sg 15, 40 f. 46). Ein derartiger Formenschwindel ist für Böhme biblisch präformiert. Der Mißbrauch des christomorphen Lebenshabitus werde dort als "Signatur des Antichrists" (ApR 47) beschrieben: "Wann ich den Antichrist solte beschreiben, so könte ich ihn änderst nicht andeuten, als daß er sich einen Christen nennet, und sich mit Christi Purpurmantel zudecket, und mit dem Munde Christum bekennet und lehret, sein Hertz ist aber gantz wieder Christum gerichtet; änderst lehret er, änderst thut er: Auswendig heisset er sich einen Christen, und inwendig ist er eine Schlange. Er verfolget Christum in seinen Gliedern, und wiederstehet dem Geist Christi; er gleisset, und will in Christi Namen geehret seyn, und ist inwendig aber ein reissender Wolf, wie Christus die Phariseer hieß, welche auf Mosis Stuhl sassen, und das Gesetze trieben." (ApR 29) Die "Signatur", das Charakterbild des menschlichen Verhaltensmusters, ist also immer schon gegenwärtig "verhanden" (ApR 68). Seine Wirkmächtigkeit kann an der Ausdruckswirklichkeit menschlichen Handelns abgelesen werden, wenn die menschliche Auffassungsgabe an den Charakterisierungen der biblischen Typologien geschult ist.

4.3. Die morphologische Vermittlung der phänomenalen Wahrnehmungswelt

287

Die eben beschriebene Mimikryproblematik gibt es auch in umgekehrter Hinsicht. Das körperliche Vorhandensein des Christenmenschen ist nicht von demjenigen des Homo faber zu unterscheiden. Beide zeigen sich zunächst mit der gleichen biologischen Banalität. Da bedarf es einer besonderen Sensibilisierung für eine angemessene Charakterisierung des Ausdruckshandelns, um unter der rauhen Schale den edlen Kern zu entdecken. Dabei richtet Böhme das Hauptaugenmerk auf die Pietät sprachlicher Äußerungen. Die biblische Folie zu dieser Sensibilisierung gibt Gen 27, 1 - 40 (vgl. bes. V. 11 f. 16. 21 - 23. 27) ab, in der sich Jakob an Esaus Stelle den Erstgeburtssegen erteilen läßt: "Und denn sehen wir in dieser Figur, daß unsere Thieres = Haut im Fleisch und Blute, damit wir also prangen, vor GOtt nur ein Trug sey, gleichwie Jacob in diesem Thieres = Felle vor seinem Vater als ein Betrieger stund, und seinen Vater mit der Thieres = Haut blenden wolte: Also auch trit der irdische Mensch in seiner thierischen Eigenschaft vor GOtt und begehret GOttes Segen: Aber es mag ihme nicht wiederfahren, er habe denn Jacobs, als Christi Stimme unter dieser Thieres = Haut in ihme." (Mm 55, 28) Mit der morphologischen Vergegenständlichungsweise lebens- wie sprachweltlich ausdifferenzierter Phänomenalität zielt Böhme am deutlichsten auf die leiblich - situative wie worthafte Selbstbesinnung des Christenmenschen inmitten einer ihn alltäglich umgebenden Körperwelt. Die biblischen Typologien werden morphologisch perspektiviert, um einen Maßstab abzugeben, der die Wahrnehmungskompetenz des Christenmenschen dahingehend sensibilisiert, das Augenmerk bei der Beurteilung von Lebenserscheinungen hauptsächlich auf das worthaft ansprechende, leibhaftige Ausdrucksprofil zu richten. Das Vorhandensein der Körperwelt entläßt ein chaotisches Sammelsurium möglicher Lebensbedeutsamkeiten aus sich. Relevant zur Herausbildung einer christenmenschlichen Lebensgestalt sind aber nur einige wenige, die eigens hervorgehoben, d. h. phänomenalisiert werden müssen. 69 Dazu dient die "Signaturenlehre". Die morphologische Repräsentation der Gegenstände der Körperwelt oder leibhaftig begegnender Menschen wiederholt im Rahmen von Lebens- und Sprachwelt lediglich ihre im biblischen Schöpfungsdrama präformierte "Signierung" oder "Selbstbezeichnung", d. h. ihre dynamische Konstituierung im schöpferischen Gottesleben. Wie bei menschlichen Benennungen vor Ort der Sprachweltphänomenalität bezieht sich auch die morphologische Vergegenständlichung von Phänomenalität vor Ort der Wahrnehmungswelt nicht unmittelbar auf vorhandene Gegenstände der Körperwelt, die es photographisch abzubilden gilt, sondern um die szenographische Wiederholung ihrer Phänomenalisierung aus dem schöpferischen Gottesleben und seiner inkarnationsmorphologischen Infassungsdynamik.

69

Ganz im Sinne von Rothackers "Satz der Bedeutsamkeit"; vgl. ders., Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, § 13/ S. 44 ff.

5. Leib und Körper: Die Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber Die böhmesche Inkarnationsmorphologie ist bisher zunächst in kritischer Abgrenzung der auf die christenmenschliche Leibesgegenwart bezogenen Erfahrungssoteriologie und applikativen Schrifthermeneutik gegenüber dem Distanzierungsgestus der altprotestantischen Lehrorthodoxie entfaltet worden (2.)· Anschließend ging es im biblisch präformierten Erfahrungsraum des Christus praesens um den soteriologisch - hermeneutischen Zusammenhang von Typologie und Phänomenologie (3.). Hier wurde einmal (3.1.) mithilfe der Schrifttypen zum individuellen Wiedergeburtserlebnis Böhmes eine phänomenologisch - typisierende Szenographie erstellt. Zum anderen (3.2.) ging es um die szenographische Deskriptionskraft der biblisch präformierten Situationsdramatik des Christus praesens, durch die die Erfahrungssoteriologie typologisch ad hominem phänomenalisiert werden konnte. Das vierte Kapitel führte auf das Feld einer inkarnationsmorphologischen Kosmologie (4.). Hier wurde das biblische Schöpfungsdrama auf eine mythopoetische Theorie der christlichen Welt als des umweltlichen Horizonts christenmenschlichen Besinnens auf sein Sichfinden appliziert. Auf der Basis der körperlichen Alltagswelt des Menschen konnte deren leiblich - situativ vermittelte lebensweltliche Requalifizierung (4.1.) ebenso phänomenalisiert werden wie deren worthaft vermittelte und sprachweltlich verortete hermeneutische Elementarstruktur (4.2.), so daß schließlich die vital unmittelbare Phänomenalität des schöpferischen Gotteslebens durch eine morphologische Vergegenständlichungsweise in eine christenmenschliche Wahrnehmungswelt integriert werden konnte (4.3.). Nachdem nun also zur soteriologischen Besinnung die Erfahrungsgebundenheit (2. und 3.) und die Orts- bzw. Horizontgebundenheit des Christenmenschen (4.) mit den typologischen Mitteln applikativer Schrifthermeneutik deskriptiv phänomenalisiert worden sind, geht es jetzt um das eigentliche "Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden" (vgl. oben 2.5.), d. h. um die notwendige Leibgebundenheit eines christenmenschlichen Lebensvollzugs einschließlich dessen Ausdruckshandeln (5.). Hier wird ein leibliches Orientierungswissen wiederum mit den Mitteln biblischer Prototypik phänomenalisiert. Der Gedankengang verläuft über sechs Stationen: Die erste Station (5.1.) entwickelt die phänomenalitätskonstitutiven Bedingungen des menschlichen Lebensvollzugs. Die Theorie des Christenmenschen basiert für Böhme auf der Grundannahme, daß ein beseelter Mensch seine Lebendigkeit nur gestalthaft zum Ausdruck bringen kann. Seine Seele bedarf einer leiblichen Präsentationsform, d. h. eines Habitus (vgl. oben 1.4.).

290

5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Erst der leibliche Habitus verleiht dem indifferenten Vorhandensein von Seele und Körper eine lebendige Aufdringlichkeit, zu der man sich, personal angesprochen, unumgänglich verhalten muß. Die zweite Station (5.2.) behauptet eine dualistische Alternative des menschlichen Lebensvollzugs. Einerseits könne der Mensch sich auf die Irrelevanz seiner rein körperlichen Existenz beschränken, andererseits dank eines christomorphen Habitus zur genuin leiblichen Situierung in der alltäglichen Körperwelt seinem Leben den Charakter von Bedeutsamkeit verleihen. Deshalb wird es hier und in der folgenden Station (5. 3.) gleichzeitig darum gehen, wie Böhme die leibfeindlichen Aporien des platonisch - paulinisch - augustinischen Dualismus vermeidet. Die dritte Station (5.3.) vertieft die eben eröffnete, dualistische Alternative dahingehend, wie depersonalisierend eine rein körperliche Existenz auf den Menschen wirkt. Paradoxerweise kommt Böhme zu dem Schluß, daß gerade eine rein äußerliche Existenzweise leibfeindlich ist. Die vierte Station (5.4.) plädiert für die Konzentration auf den Christus praesens als integrale Sinngestalt menschlicher Lebensführung. Die leibfeindliche Depersonalisierung einer rein körperlichen Existenz, die nur auf eine unendliche Steigerung der Lebensmöglichkeiten gerichtet ist, soll durch die Einkehr in die Endlichkeit überwunden werden. Selbstbehauptung gibt es bei Böhme nur um den Preis der Selbstbeschränkung.1 Trotz aller Kritik an einer rein körperlichen Existenzweise des Menschen schätzt Böhme auch das körperliche Vorhandensein des Menschen unglaublich hoch ein (5.5.). Nur im banalen, ephemeren, diesseitig materiellen Körper hat die menschliche Seele überhaupt erst die Gelegenheit, sich einen leiblichen Habitus als Ausdrucksform anzueignen. Theologische bzw. anthropologisch soteriologische Besinnung findet also nur zur Zeit körperlicher Existenz statt. Die sechste Station (5.6.) setzt die gleiche Überlegung in eschatologischer Hinsicht fort. Wenn der Mensch zur Zeit körperlicher Existenz keinen qualitativ von seinem körperlichen Vorhandensein unterschiedenen, leiblichen Habitus erwirbt, bleibt seine Seele am Ende der körperlichen Existenz "nackt". Ganz im biologischen Primärsinn des medizinischen Todes verschwindet ihre Vitalität ins rein körperdingliche Nichts der zurückgebliebenen Leiche, die nun als ein unbelebter Gegenstand zur Obduktion in der Anatomie bzw. Gerichtsmedizin oder schlicht zum biologischen Verfall in der Erde freigegeben werden kann. Die Lebensgeschichte einer solchen Seele ist amorph geblieben

1

Das Phänomen der "Depersonalisation" als Entfremdung von leiblicher Intensität und leiblicher Dynamik zwischen den Polen Enge/ Spannung und Weite/ Schwellung durch eine Entgrenzung leiblicher Befindlichkeit zur amorphen Weite hin, wodurch schließlich die fünf Momente leibhaftiger Gegenwart "Ich - Hier - Dieses - Dasein - Jetzt" haltungslos ins fade Nichts hinein mäandrieren, beschreibt H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, § 68/ S. 269 ff.

S. 1. Leiblicher Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens

291

und weist daher keine erinnerungsfähige Leibesgestalt jenseits der sterblichen Hülle ihres Körpers auf.

5.1. Der leibliche Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens Die Phänomenalitätsstruktur des menschlichen Lebens entwickelt Böhme analog der leiblich - situativen "Infassung" eines chaotischen "élan vital" (vgl. oben 4.1.). Das Seelenleben bedarf zur Selbstpräsentation einer leiblichen Ausdrucksgestalt, in der Vitalität und Formalität vor Ort leibhaftiger Gegenwart vermittelt sind: 2 "Und so wir uns denn nun des Lebens entsinnen, was das sey, so finden wir, daß es ein brennend Feuer sey, das da zehret; und so das nicht mehr zu zehren hat, erlischt es, wie das an allen Feueren zu sehen ist. Denn das Leben hat seine Zehrung vom Leibe, und der Leib von der Speise: denn so der Leib nicht mehr Speise hat, so verzehret ihn des Lebens Feuer, daß er verwelcket und verdirbet, als eine Wiesen = Blume, so die nicht Wasser hat, umfält. So aber noch ein Leben im Menschen ist, das da ewig und unzerbrechlich ist, als die Seele, welche auch ein Feuer ist, und muß eben sowol Zehrung haben, als das elementische (tödtliche) Leben ..., daß es in Ewigkeit nicht erlösche." (3fL 1, 3 f.) Die Seele steht hier als Inbegriff menschlicher Vitalität. Sie weist ein diffuses, chaotisch - mannigfaltiges Bedeutungsansinnen, ein reines Wollen ohne intentional spezifiziertes Auf - dieses - hin - leben Wollen, ein reines Lebenkönnen ohne Hier - jetzt - tatsächlich - so - Leben auf. Ihr "Magisch Feuer" (Ti I 80) muß sich zuallererst am körperlichen Vorhandensein des Menschen als Anwesen leibhaftigen Zugegenseins ausweisen lassen, wenn anders ihre Individualität nicht in der chaotischen Fülle des "élan vital" untergehen soll, da sie keine individuelle, eigenständige und personal ansprechende Bedeutsamkeit gewinnt. 3 An sich bleibt die "Seele" als nacktes Vitalprinzip "roh" (40 F 7, 2). "Die rechte Seele hat keinen greiflichen Leib der Seele heisset" (40 F 7, 10). Sie verfügt über keine unmittelbar selbsteigene Existenzform, sondern ist wesentlich auf eine leibhaftige Ausdrucksgestalt angelegt, "also daß sich das Leben siehet und kennet, aus welchem Vernunft und Sinnen entstehen" (40 F 7, 8). 2 3

Vgl. auch L. Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 61. Vgl. auch H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 33 ff.: "Konfrontation - Inmitten zugegen sein". Timm markiert mit der Urszene dialogisch - personaler Begegnung von Mensch und Mensch den hier angesonnenen qualitativen Fortschritt als Inkarnation der Abundanzstruktur des menschlichen Gesichts (S. 23 ff.), das sich ebenfalls -wie die Seele- an die Weite des Horizonts zu verlieren droht, in seine tatsächliche Vorstelligkeit im frontal begrenzten Gegenüberverhältnis zu einer gegenläufigen und deshalb personal ansprechend wirkenden Entgrenzungstendenz, die sich genauso von der Endlichkeit der Kon-frontation gestellt sieht.

292

5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Das "Sinn" - Defizit der Seele kann durch das rein biologische Vorhandensein des Menschenkörpers nicht ausgeglichen werden. Dessen Existenz ist nicht automatisch schon eine leibhaftige Ausdrucksgestalt seelischer Lebendigkeit, die sich zunächst nur im an sich amorphen Ausgriff unvermittelter Willensdynamik manifestiert: "Der Seelische freye Wille ist also dünne als ein Nichts; und ob er in seinem Cörper wol mit dem Etwas umgeben ist, so ist doch sein gefassetes Etwas in einem falschsüchtigen Wesen, vom Urständ der Sünden." (Mm 27, 4) Die Seele qua amorpher Willensenergie äußert sich zunächst einmal nur als "Hunger", d. h. als ein chaotisch mannigfaltiges Darstellungs- und Bedeutungsansinnen. Als Sünde bezeichnet Böhme hier die unvermittelte Vitalität, die in ihrer Unvermitteltheit zerstörerische Ausmaße annimmt, so daß letztlich die Individuation der Seele in Frage steht. "Seele" steht bei Böhme somit für das an sich völlig amorphe Ausdruckspotential des menschlichen Willens und des gleichursprünglich damit einhergehenden Eindruckshungers. Durch jedes konkrete leiblich - situativ vermittelte Wollen im Bereich der lebensweltlich requalifizierten alltäglichen Körperwelt erhält die Seele jedoch eine manifeste Ausdrucksgestalt, die Böhme textilmetaphorisch als "Kleid" bezeichnet: 4 "So denn nun der Wille aus dem Seelen = Feuer erboren wird, so ... ist zwischen dem Willen und der Seelen keine Trennung; sondérn der Wille ... wird der Seelen Kleid, ... daß ob sie gleich im Leibe wohnet, noch dennoch ist sie mit ihrem Willen umfangen, ...". (Mw III 2, 5) Das "sich infassende" Gestaltungspotential des Willens ergibt also der Textilmetaphorik zufolge einen Habitus, der als "Seelen Spigel" oder "Wohn = Haus" (40 F 7, 15) fungiert. 5 Dank eines solchen Habitus, an dem sich das Wollen der Seele als eine konkrete Ausdrucksgestalt mit einer deiktisch ausdifferenzierten Gestik und Mimik manifestiert, kann sich die Seele als lebendig, weil leibhaftig wirksam erweisen. So nimmt bei Böhme Wirklichkeit den Charakter von leibhaftiger Wirksamkeit qua leiblicher Be- und Auswirkung, Wahrheit den Charakter von leibhaftiger Bewährung qua leiblicher Bewahrheitung an. 6

4 5 6

Vgl. M Schmidt/ C. F. Geyer (Hg.), Typus, Symbol, Allegorie, S. 11 ff.: S. Brock, Clothing Metaphors as a Means of Theological Expression. Den strukturellen Zusammenhang von Textil- und Wohnmetaphorik beobachtet im Anschluß an Herder K. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 172 - 174. auch S. 174 ff. Vgl. Η. v. Soden, Was ist Wahrheit? Vom geschichtlichen Begriff der Wahrheit, in: ders., Urchristentum und Geschichte. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Bd. I: Grundsätzliches und Neutestamentliches, Tübingen 1951, S. 1 - 24, hier bes. S. 7 - 11 die alttestamentlich - föderaltheologische (Gründer; s. o. 1.3.2.2.) Argumentation zu "'emunah", '"emeth" und "τενοιιο" im Unterschied zu griechisch "αληιίως". Wahrheit ist nicht die Ent-deckung eines in einer Hinterwelt an sich immer schon Vorhandenen, sondern das leiblich - situativ vermittelte und lebensweltlich verortete In - Erscheinung - Treten des schöpferischen Gotteslebens bzw. seines entsprechenden Geschichtswirkens ad hominem. Wahrheit ist Bewahrheitung qua treuer Bewährung der Gestaltungskraft der Prototypen angesichts der vital andrängenden Unmittelbarkeit des Lebens.

5.1. Leiblicher Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens

293

Die derartig beschriebene Seele entspricht ebenbildlich der leiblich situativen Vermittlung und lebensweltlichen Verortung des die Schöpfung phänomenalisierenden Gotteslebens aus chaotischer Schöpfungspotenz ("Ungrund") und leiblicher Urgestalt ("Grund"; vgl. 4.1.1.)· Böhme zitiert zur Untermauerung der Strukturanalogie von schöpferischem Gottesleben und beseeltem leibhaftigen Menschenleben Gen 2, 7 als vitaltheoretische Parallele zu Gen 1, 26 f.: "(W)ie denn der theure Moses gar recht davon schreibet: GOtt habe dem Menschen den lebendigen Odem eingeblasen, so sey der Mensch eine lebendige Seele worden. Gen 2: 7." (3fL 1, 8 = Ti I 194; vgl. ebd. 193 mit Hinweis auf Gen 1, 26 f.; so auch Mw 13, 16) Die leibliche Entfaltung der individuellen Seele entspricht also der "dreyfachen" Infassungsdynamik (vgl. 3fL 1, 9; Mw I 3, 16 ff.; Ti I 193 ff.), die der Lebensweltschöpfung zugrundeliegt. Sie schafft sich insoweit selbst, als sie ihre Potenz zur Selbststilisierung dahingehend nutzt, daß sie sich eine Rolle entwirft, in der sie sich präsentiert. Ihr "nacktes" Vorhandensein an sich hat noch nichts zu bedeuten: "Die Seele, was sie pur alleine antrift, ist ein Feuer = Auge, oder ein Feuer = Spigel, darinn sich die Gottheit hat geoffenbaret nach dem ersten Principio, als nach der Natur; denn sie ist eine Creatur, doch in kein Gleichniß geschaffen; Aber ihre Bildniß, welche sie aus ihrem Feuer = Auge im Licht erbieret, das ist die rechte Creatur, um welcher willen GOtt Mensch ward, und sie wieder aus dem Grimm der ewigen Natur in Ternarium Sanctum einführete." (Mw I 3, 21) Die Seele an sich stellt lediglich die Möglichkeit zu einem Menschenleben dar. Dessen freie schöpferische Herausbildung aus der statisch vorhandenen Körperwelt, der die Seele als reines Vitalprinzip zunächst völlig unvermittelt gegenübersteht, bewirkt sie dann als sich verleiblichende Imago Dei. 7 Die Seele postfiguriert dadurch die göttliche Lebensweltschöpfung, zu deren leiblich - situativer Vermittlung und lebensweltlicher Verortung die Menschengestalt das elementare Principium individuationis darstellt (vgl. oben 4.1.4.). Die Seele als sich verleiblichende Imago Dei bedeutet also gleichzeitig, daß ihre leibliche Ausdrucksgestalt vor dem Hintergrund der Körperwelt, von der diese sich aufgrund ihrer personalen Anspruchsqualität abhebt, Imago mundi ist. 8 Das menschliche Körperschema versammelt die gesamte Lebensweltschöpfung als Mikrokosmos in sich, indem es als Symbolgestalt die chaotische

7 8

Ebenfalls im Anschluß an den inkarnationsmorphologischen Wahrheitsbegriff der hebräischen Wurzel '"aman" qua Gestaltbewährung und gezeitigter Wirklichkeit denkt auch Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XVIII/ S. 88: "..., daß Gott sich in Menschengestalt auf dem Throne sitzend präsentiere, nicht nur menschlicherweise, sondern höchst wahrhaftig und Gott geziemend. Daher saget die Heil. Offenbarung zu allen körperlichen Figuren: diese Worte sind gewiß und wahrhaftig." Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, Anhang/ S. 89: "(D)ie Seele wird per traducem aus der Tiefe des Leibes herausformieret, Ps. 139, sie wird erst eine Substanz." Zur Trias "Ecce Deus = Ecce Homo = Ecce Mundus" in der Physiognomik J. C. Lavaters vgl. Κ. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 75 ff.

294

5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Mannigfaltigkeit der Körperwelt besinnt: 9 "Der Jünger sprach: Was ist dann der Leib eines Menschen? Der Meister sprach: Er ist die sichtbare Welt, ein Bild und Wesen alles dessen was die Welt ist; und die sichtbare Welt ist eine Offenbarung der innern geistlichen Welt, aus dem ewigen Lichte, und aus der ewigen Finsterniß, aus dem geistlichen Gewircke: Und ist ein Gegenwurf der Ewigkeit, mit dem sich die Ewigkeit hat sichtbar gemacht, da eigen Wille und gelassener Wille untereinander wircket, als Böses und Gutes. Ein solches Wesen ist auch der äussere Mensch: dann GOtt schuf den äussern Menschen aus der äussern Welt, und blies ihm die innere geistliche Welt zu einer Seelen und verständigem Leben ein: Darum kann die Seele, in der äussern Welt Wesen, Böses und Gutes annehmen und wircken." (üL 44) Es wird deutlich, daß Böhme den menschlichen Körper als biologische Existenzgrundlage von der auf dem Körperschema als einer Symbolgestalt basierenden leibhaftigen Ausdrucksgestalt deskriptiv unterscheidet. 10 Die am Körperschema ablesbaren Ausdrucksbewegungen zeigen die über das statische Vorhandensein des Körperdings hinausgehende Energie des freien Willens. 11 "(D)er freye Wille ...: Will er seine Macht erzeigen, so muß er in etwas seyn, darinnen er sich fasset und formet." (Mm 27, 5). Der Wille an sich ist ja nichts anderes als der unmittelbare Vitalitätsausdruck der "pure(n) Seele" und insofern ^nichts leibliches" (40 F 7, 17). Durch das dynamische Zusammenspiel mit dem Körperschema aber bildet sich eine eigenständige Größe heraus, die Böhme als "Kraft = Leib" (ebd.) sowohl von Seele und Wille einerseits, als auch vom biologischen Vorhandensein eines Körperdings andererseits deskriptiv abhebt. 12 Der Wille der Seele schafft sich im "Kraft = Leib" eine ihm strukturell entsprechende, auratische bzw. feinstoffliche Ausdruckswirklichkeit, die an den Ausdrucksbewegungen des Körperschemas manifest wird: 13 "Er formiret seine eigene Gestalt im Geiste: Er hat auch die Macht, daß er kann eine andere Bildniß im Geiste ausm Centro Naturae formiren: er kann dem Leibe eine andere Forme geben nach dem äussern Geiste; dann der innere ist ein Herr des äusseren, der äussere muß ihme gehorsam seyn,

9 10 11

12

13

Zum Topos des κοσμος άνθρωπος vgl. E. Käsemann, Leib und Leib Christi. Zur Differenz Körper vs. motorisches Körperschema (Leib) vgl. Merleau - Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 97 ff. 115 ff. 123 ff. Zum leibhaftig lebensbildenden Richtungssinn des menschlichen Körperschemas im Anschluß an Herders Sprachmorphologie "ανω-τροπος = der Himmelwärtige" vgl. H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 13 - 21. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 99: "(D)er Mensch ist ανϋρωπος, ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf." Vgl. P. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 341: "Leib im Wortgebrauch Böhmes ist die persönliche klar = geformte und begreifliche Wirklichkeit eines Geistigen ... Verwirklichung und Begreiflichkeit eines Wesens". Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XVIII/ S. 88: "..., daß die Seele die Figur eines Menschen habe".

5.1. Leiblicher Habitus als individuelle Präsentationsgestalt menschlichen Lebens

295

und er kann den äussern in eine andere Bildniß setzen, aber nicht beharrlich." (40 F 6, 10) "Dann wie der Geist ist, also ist auch der Leib; in was Willen der Geist flieget, mit solcher Form und Qual figuriret er auch seinen Leib." (3fL 6, 56 = 11, 42 im Hinblick auf einen sündigen Lebens - "Wandel") Seele und Körper sind durch die Beschreibung dieses "Kraft=" oder Geist Leibes zu einem übergreifenden Ausdrucksgeschehen zusammengebunden: "Ich verstehe es im Gleichniß zu reden also, wie die Seele im Leibe sich durch des Fleisches Essentz offenbaret, und das Fleisch die Macht nicht hätte, so nicht ein lebendiger Geist innen wäre". (Ti II 64) Dieses Ausdrucksgeschehen umfaßt den gesamten Lebens - "Wandel" (3fL 11, 42). Der "Kraft = Leib" präsentiert die Lebensgeschichte, die Res gestae, die die menschliche Erscheinungsgegenwart qua Habitus maßgeblich mitgestalten. 14 Böhme weiß durchaus, daß seine Deskriptionstechnik die alltägliche Körpervorstellung metaphorisch verdoppelt, u. z. in ein biologisches Körperding einerseits und einen Habitus als seelischen Ausdrucksleib andererseits. Er geht deshalb auf das ontologisierende Mißverständnis phänomenologischer Heuristik und Hermeneutik explizit ein: "Die Vernunft wird uns übel verstehen, und sagen: ich rede von zweyerley Menschen; Ich aber sage nein, ich rede nur von einem Einigen, der ein Gleichniß nach GOtt ist, als nach dem geoffenbarten GOtt, nach dem ausgesprochenen, geformten Worte der Göttlichen Kraft, des Göttlichen Verstandens." (Mm 16, 13) Die scheinbare Verdoppelung der alltäglichen Körpervorstellung entpuppt sich bei näherem Hinsehen sogar als einzigartige Möglichkeit, den Seele - Körper - Dualismus auf den Habitus als die eine leibhaftige Erscheinungsgegenwart hin zu transzendieren und somit zu überwinden. Böhme behauptet deshalb, seine Deskriptionstechnik betone gerade, daß "Leib und Seele Eins sind ..., und wäre eins ohne das ander nichts" (Mm 8, 26). Letztlich verbirgt sich hinter seiner eigenwilligen Deskriptionstechnik eine geschickte phänomenologische Adaption der Zwei - Naturen Christologie für die biblische Anthropologie (vgl. v. a. Gen 2, 7): "Der Leib des Menschen ist an einem Theil ein Limus der Erden, und am andern ein Limus des Himmels; und in diesem Leibe ist der freye Wille eingeführet worden, und ist Leib und Seele nur Ein Mensch." (Mm 27, 18)15 Wenn Böhme das Zusammenspiel von Seele und Körper so stark betont, geht es darum, daß die aufgrund seelischen Ausdruckshandelns entstehenden Sinngestalten in der Körperwelt einen eigenständigen Gegenstandsbereich konstituieren, der weder

14 15

Vgl. W. Schapp, In Geschichten verstrickt. In dieser Hinsicht verläuft Böhmes anthropologische Deskriptionstechnik in erfahrungssoteriologischer Perspektive völlig parallel zu Luthers Abendmahlschristologie. Bei Luther entspricht die zwienatürliche Personeinheit Jesu als des vor Ort des Gotteslebens vollkommenen Menschen der konsubstantiellen Ausdruckseinheit der im Hic et Nunc beglaubigt konsumierten Abendmahlselemente; vgl. Luther, Vom Abendmahl Christi, S. 352 ff. passim, bes. S. 389 - 418.

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

unter innerseelischen, noch äußerlich körperlichen Phänomenen verbucht werden kann. Anstelle dieser zu schmalen Abstraktionsbasen zielt Böhme auf die geistleibliche Konstitution von Sinngestalten als einer Ein- und Ausdruckswirklichkeit sui generis: "Das Mens aber lieget im Ens, wie die Seele im Leibe, das Mentalische Wort spricht aus das Entalische; der Himmel beschleust das Mens, und die Phantasey das Ens ...: Im Mens wird verstanden die Göttliche heilige Kraft in der Fassung des Worts, da sich das Wort der Kräften einfasset in ein geistlich Wesen, da das Wort der Kräften wesentlich ist." (Gw 5, 4) Ein geistleiblicher Habitus, in dem das seelische Ausdruckshandeln in einer individuellen Menschengestalt am Körperschema zur phänomenalen Darstellung kommt, setzt eine "Imagination" der Seele "ins Hertz GOttes, als in des Lichts Centrum" (Ti I 201) voraus. "(V)erstehet, das seelische Feuer hätte ... in Göttlicher Qual gebrant, als in Liebe und Sanftmuth. Durch dasselbe Brennen oder Leben wäre dem äusseren Leben Göttliche Wesenheit eingeführet worden, als himmlisch Fleisch, und wäre in der Tinctur des andern Principii der heilige Leib gestanden, und das äussere Regiment von der äusseren Welt wäre in der innern Welt verborgen gestanden, und in der äussern offenbar." (ebd. 201 f.) Der angemessene "Seelen = Leib" mit "Fleisch und Blut ... aus himmlischer Essentz und Wesenheit" (Ti I 208) kann sich nur an Jesus Christus als dem personifizierten Gestaltprinzip der Lebensweltschöpfung (vgl. oben 4.1.1.) herausbilden. 16 Die vitale Seele darf ihr chaotisch mannigfaltiges Ausdruckspotential nicht unmittelbar auf das körperliche Vorhandensein inmitten der amorphen Fülle der Körperwelt hin entwerfen, da es sonst in dieser Fülle mäandriert, ohne daß sich die am Körperschema ablesbaren seelischen Ausdrucksbewegungen zu einer individuellen leiblichen Menschengestalt konfigurieren, an der ebenbildlich die Infassungsdynamik des schöpferischen Gotteslebens zur Darstellung kommt. 17 Durch ihren Sündenfall in eine nurmehr rein körperliche Existenz hat die Seele jedoch diesen geistleiblichen Habitus verloren (vgl. oben 4.1.5. und in sprachweltlicher Hinsicht 4.2.5.). Sie verliert sich an die chaotisch mannigfaltige Fülle der Körperweit, da ihre Ausdrucksbewegungen sich nicht mehr zu einer individuell leiblichen und personal ansprechenden Menschengestalt verdichten lassen. Sie wirkt, beziehungslos an die amorphe Fülle und Weite der Körperweit verloren, wie tot: 18 "Dann die Seele ist im Anfang ihrer Schöpfung mit dieser himmlischen Wesenheit bekleidet und gezieret gewesen, und ist der Seelen innerlicher rechter Leib gewesen; und sie ist aber in Adam aus dieser Wesenheit mit ihrer Imagination 16 17

18

Zur Christozentrik vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 167. 246. 259. 272. 333 ff. Vgl. ebd., S. 355: "Der persönliche Mensch aber der die Allmöglichkeit des Lebens zum Eigenleben und Schicksal bilden will", muß sich in einer leibhaftigen Lebenshaltung manifestieren. Vgl. ebd., S. 123. 235. 331. 345. 357.

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ausgegangen, davon dieselbe Wesenheit ist wieder in Tod, als ins stille Nichts, geschlossen worden." (Ti I 373)

5.2. Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus Zur Wahl eines leiblichen Habitus' oder Entwurfes stehen nach dem Zerfall der ebenbildlichen "Concordantz", "Temperatur" oder "Temperantz" der drei lebenskonstitutiven Prinzipien leiblich - situativ vermittelter und lebensweltlich verorteter Phänomenalität (vgl. oben 4.1.5.) drei dementsprechend voneinander unterschiedene Möglichkeiten offen. Die dreifaltige Lebensweltschöpfung löst sich postlapsarisch in ihre drei Komponenten, 1. Vitalität = Vater, 2. Formalität = Sohn und 3. das beide als vitalformale Polarität verleiblichende Inkarnationsgefälle bis in die körperliche Äußerlichkeit hinein = Geist, auf. Dadurch bilden sich folgende, atmosphärisch - erfahrungsräumlich voneinander unterschiedenen Lebensmöglichkeiten: 1. der teuflische, weil zerstörerisch unvermittelte Vitalismus im "Zorn"; 2. der christomorphe Lebenswandel in der "Liebe"; und 3. das indifferente Dahinleben in rein körperlicher Existenz. "So müssen wir recht betrachten, was für ein Mensch in uns sey, der Christi Gliedmaß und ein Tempel GOttes sey, der im Himmel wohne; und dann auch, was das für ein Mensch sey, der nur in der äussern Welt wohne, und was das für ein Mensch sey, den der Teufel regiere und treibe ..., und sind doch nicht drey Menschen in einander, sondern nur ein einiger." (nWgb 1,11 = T i l 187 f. 210 f. 215) Bei näherem Hinsehen erkennt man allerdings eine strukturelle Verwandschaft zwischen dem teuflischen Vitalismus und dem adamitischen Körperkult. 19 Adam verhält sich Gen 3 zufolge gerade nicht indifferent zu seiner körperlichen Existenz, sondern mit vitalistischer "Begierde und Imagination" (Ti I 211). Er versucht von dort an, seine Lebensmöglichkeiten permanent mit den Mitteln der Körperweit zu steigern. 2 0 Insofern bleibt für Böhme 19 20

Vgl. J. Baudrillard, Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper. Vgl. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 27: "Durch den Werkzeuggebrauch hat sich der Mensch zum Herrscher über die Dinge aufgeworfen. Aber diese Herrschaft ist ihm selbst nicht zum Segen, sondern zum Fluch geworden. Die Technik, die er erfand, um sich die physische Welt zu unterwerfen, hat sich gegen ihn selbst gekehrt. Sie hat nicht nur zu einer steigenden Selbstentfremdung, sondern zuletzt zu einer Art Selbstverlust des menschlichen Daseins geführt. Das Werkzeug, das zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestimmt schien, hat statt dessen unzählige künstliche Bedürfnisse geschaffen." Ganz ähnlich beschreibt die Befindlichkeit des Homo faber F. G. Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt [2. Auflage] 1949, S. 4 ff. 17 ff. 25 ff. 31 ff. 135 ff. 179 ff.: Die Technik führe zu einer Multiplikation des Verbrauchs natürlicher und menschlicher Ressourcen. Energien und Arbeitszeit würden durch den Rationalisierungsprozeß nicht weni-

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lebenspraktisch nur noch die dualistische Alternative zwischen einer christomorphen Lebensgestalt und einer rein körperlichen Existenz als Homo faber übrig: 21 "Aber in diesem äussern Leben stehet der Mensch im Streit: Es ruhen zwey Regimente in ihme, auch zweyerley Qual und Gesetze. (1) Das Göttliche, zur Liebe und Gerechtigkeit. (2) Das grimmige, im Aufsteigen der Hoffart in Feuers = Macht, im strengen, herben, höllischen Geitze, Neide, Zorn und Bosheit; welchem sich der Geist eineignet, desselbigen Regiments ist er: Das ander hanget ihme an, und schilt ihn unter Augen, als einen Meineidigen und Abtrünnigen, zeucht ihn aber doch, und will ihn haben. Also stecket das Leben zwischen beyden in der Presse, und ist mit ihme selber uneinig." (6 Pk 9, 28) Welche Wahl der Mensch trifft, ist insofern vorentscheidend, als er in der Konsequenz seiner Wahl habituell festgelegt ist und gleichsam ein Gefangener der Rolle seines Lebensentwurfes wird: "... Denn schwingen wir uns in die irdische Sucht, so fänget sie uns; so ist die Qual des Abgrunds unser Herr, und die Sonne unser zeitlicher Gott. Schwingen wir uns aber mit unserm Willen in die Welt ausser dieser Welt, so fänget die Licht = Welt unsern Willen, und wird GOtt unser HErr, und lassen das irdische Leben dieser Welt, und nehmen mit uns mit, was aus der Licht = Welt ist in uns gekommen, verstehe in Adam, das wird mit dem Willen, der mit GOtt Ein Geist wird, aus dieser Welt ausgef ü h r t . " (6 Pk 6,5f.) Böhme spricht auch von "zweyerley Lebens = Begriff" oder "zweyerley Wohnungen" (vgl. Mm 49, 1 0 - 1 8 passim). Er differenziert dadurch zwei menschliche Lebenseinstellungen, von denen die eine über die Körperweit hinaus bedeutsame Sinnschöpfungen vornimmt, die die Körperweit leiblich situativ requalifizieren und zur Lebenswelt potenzieren, 22 die andere dagegen auf die entfremdete, weil nur ephemere Produktion körperlicher Konstrukte zur Substitution leibhaftig andauernder Sinngestalten angelegt ist. 23 Im ersten Fall

21 22

23

ger, sondern immer mehr in Anspruch genommen, da immer neue Gebiete menschlichen Lebens vom technischen Arbeitscharakter durchdrungen würden. Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 344: Nur in dieser Hinsicht besteht ein Widerstreit zwischen "Geist und Körper". Vgl. ebd., S. 142 - 147, bes. 143: "Die Gegenwart das gegenwärtige Leben sollte nicht nur als aus Gott entquollen und durch menschlichen Fürwitz verderbt erkannt werden, sondern auch als noch in Gott lebend als noch voll Sinn und als gültiges Recht das alle Zeiten über dauert. Nahe greifbare Gegenwart, Leib und Welt sollen erscheinen als gestalteter Geist." S. 147: "Jedes persönliche menschliche leibhafte Leben gestaltet, indem es sich verwirklicht, das Mysterium magnum. Nicht nur im einmaligen Dasein und nur in der Zeit irdischen Lebens wird es dauern. Böhme kündet die Unsterblichkeit aller Gestalt." Vgl. ebd., S. 52 f., bezogen auf die Situation der Menschen im dreißigjährigen Krieg als unhintergehbares Ende naiver Sinnlichkeit: "Wie des Simplicissimus Leben sich ständig aufzulösen droht in der bunten farbigen Fülle zufalliger Gut= oder Bosheiten, ohne eine menschliche Persönlichkeit zu zeigen die mit ihrer bildenden und formenden Kraft eigene eigentümliche Lebensgestalt aus allem Zufallenden sich aufbaut, so erscheint das geistige Leben dieser Epoche Deutschlands sich in seelischen und geistigen Abenteuern entfesselter Leidenschaften und spielender Geistigkeiten zu verlieren." S. 59: "Die Renaissance

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zeichnet sich der Mensch vor dem Hintergrund seiner körperlichen Existenz leibhaftig als persönlicher Konkreator aus, da er die einzelnen Dinge im Horizont einer leiblich - situativ vermittelten Lebenswelt requalifiziert. Im zweiten Fall erscheint der Mensch nur als das Machersubjekt des Homo faber, da er die einzelnen Dinge im zentralen Gesichtsfeld von seiner eigenen Person distanziert und in ihrer körperlich - materiellen Entfremdung lediglich quantifiziert. Das Ausdruckshandeln des Konkreators ahmt die Infassungsdynamik des Gotteslebens individuell nach. Die persönliche Note seines Schaffens weist qualitativ über das letztlich nur quantifizierbare Vorhandensein körperlicher Konstrukte hinaus. Der Stil des Schaffens prägt den Habitus unabhängig vom Vorhandensein der Gegenstände, an denen er in Erscheinung getreten ist, und gehört insofern untrennbar zur leiblichen Erscheinungsgegenwart der menschlichen Seele. Das Ausdruckshandeln des Konkreators findet zwar in der banalen Körperwelt statt, geht jedoch in dieser nicht auf bzw. unter, sondern manifestiert an ihrer Gegenständlichkeit das Wirken einer individuellen, genuin menschlich - leibhaftigen, weil ebenbildlichen Lebensgestalt. Diese konstituiert sich weder als rein seelische, noch als rein körperliche, sondern als eine leibhaftige Ausdruckswirklichkeit, die über eine eigenständige Lebensrelevanz unabhängig vom reinen Vorhandensein der Körperweit verfügt: "So nun die Seele mit ihrem Geiste in ihrer Bildniß will GOtt schauen ..., so muß sie in dieser Welt zwey Wege gehen, so wird sie den ewigen Leib, als GOttes Bildniß, und dann auch das äussere Leben mit dem irdischen Leib erhalten, und wird die Wunder, dazu sie GOtt ins äussere Leben geschaffen, welche sie soll im äusseren Leben erwecken, alle in das innere Leben einführen, und sich ewig darinnen erfreuen, und sie als einen Spigel haben, und das ist der rechte Weg ...".(40 F 12, 11) Der Homo faber dagegen vermag seine Schaffenskraft nicht unabhängig vom körperlichen Vorhandensein ihrer Produkte zu präsentieren. Sie steht und fällt mit der nackten Existenz ihrer Objektivationen. Diese gehören aber untrennbar zu dem Augenblick, der die Produktion bestimmter Konstrukte veranlaßt. Mit dem augenblicklichen Vorübergehen des Anlasses verlieren die Konstrukte ihre Relevanz. Die amorphe Schaffenskraft wendet sich daher anderen Konstruktionsvorhaben zu. Ein individueller Stil zur persönlichen Charakterisierung des Produzenten kann sich angesichts dieser strukturellen Augenblicklichkeit seiner Konstrukte nicht herausbilden. Der Homo faber bleibt daher an sich selbst amorph. Mit dem Zerbrechen seiner Konstrukte bleibt nichts als die reine Möglichkeit zu weiteren Vorhaben. Abgesehen von der Körperwelt bleibt also nichts von ihm übrig: 24 "... So wir mit dem Willen mit ihrem Willen zum Leibhaften und Persönlichen scheint im deutschen Barock nicht nur gewandelt sondern ganz verneint, und alle Individualität droht den Charakter zufälliger Laune eines Naturspiels zu erhalten das in jedem Augenblick sie verwischen und auslöschen kann. Der Mensch geht im All unter statt darin einzugehen als Gliedgebilde."

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in das Gemachte eingehen, daß wir unser Hertz und Willen in unserer Hände Werck setzen, als in Geitz: so sind wir in der Seelen gantz blind, und haben kein Licht in uns, als nur das äussere Licht der Sonnen, welches dem äusseren Leibe leuchtet: und so der zerbricht, so ist die Seele mit dem Dinge gefangen ...". (40 F 12, 5) Es ist letztlich die Beziehungslosigkeit einer rein körperlichen Existenz, an der der Homo faber scheitert: "Dann GOtt hat uns nicht zur Eigen = Herrschaft geschaffen, sondern zum Werckzeuge seiner Wunder, durch welche Er will seine Wunder selber offenbaren" (wGl 1, 37 = Mw I 3, 23; 4, 7). Diese hoffnungslose Bedeutungslosigkeit des Menschen qua vorhandenes Körperding schreibt Böhme einer geradezu teuflischen Verengung des menschlichen Blickwinkels zu. Dieser "zeiget dem Menschen nur seine harte, elende, fleischerne, nackende Gestalt; aber die Gestalt in der Unschuld, da Adam nicht wüste daß er nackend war, decket er zu, den Menschen zu betriegen." (Mw 14, 1) Die Gefahr dieses Blickwinkels auf das menschliche Leben, durch den es amorph bleibt und kein eigenständiges Lebensbild entwirft, charakterisiert Böhme durch eine faszinierende Doppellektüre von Gen 3 mit Lk 10, 30: "Also ward das Bild irdisch, und fiel unter die Mörder, die schlugen und verwundeten es, und Hessens halb todt liegen: Alhier ging Adam von Jerusalem gen Jericho, wie Christus saget." (Ti 1213) Der Homo faber kommt also der elementaren, jedem Lebensvollzug gestellten Gestaltungsaufgabe nicht nach, sondern versäumt sich derart bei den Provisorien einer rein körperlichen Existenz, daß er schließlich mit diesen so untergeht, als ob es ihn nie gegeben hätte. Der Lebensentwurf des Homo faber bietet eigentlich gar keine wahre Alternative zur Herausbildung einer leiblichen Lebensgestalt. Im Hinblick auf das Gelingen des Lebens besteht eine Asymmetrie zwischen einer rein körperlichen Existenz und einem christomorphen Habitus. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Gelingen des Lebens erscheint die erste der beiden habituellen Lebensmöglichkeiten als minderwertig. Die von Böhme aufgezeigte Alternative erweist sich somit als ein Dualismus im eigentlichen Sinne, da eine Lebensmöglichkeit eo ipso immer schon zum Untergang verurteilt ist. Dadurch tritt Böhme in den klassischen Problemhorizont von Peccatum originale, Dualismus, Gemina praedestinatio, Theodizee und Synergismus: Wie kommt Adam in paradiesischer Freiheit dazu, das Schlechte, nämlich die Unfreiheit, zu wählen? Hat der gütige Schöpfergott das Böse an Adams Entscheidung nicht allein vorausgesehen, sondern positiv gewollt? Wer ist dann für das 24

Diese Befindlichkeit des Menschen offenbart die atmosphärische Herrschaft des Teufels im alltäglichen Erfahrungsraum; vgl. Hankamer, ebd., S. 331, dort unter bewußter Aufnahme Böhmescher Metaphern in einer nacherzählenden Interpretation: "Er will und vermag nur gestaltloses Allerlei und so das Nichts. Zusammenhangslos widerstreitet sich im Bereich luziferischer Art alles und jedes. Denn im Teuflischen ist kein Wille zur gestaltenden Norm aus der einheitlich gegliederte Mannigfaltigkeit wird, nur Sucht zur Zerstörung und Zerstückelung."

5.2. Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus

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P e c c a t u m o r i g i n a l e verantwortlich, Gott oder M e n s c h ? Gibt e s gar e i n e G e m i n a praedestinatio? W e n n A d a m sich aus f r e i e m W i l l e n ins Unheil stürzen konnte, m u ß er sich auch aus f r e i e m W i l l e n z u m Heil w e n d e n können; w o bleiben dann Erlösung und Rechtfertigung sola gratia? W e n n A d a m schließlich ohne e i g e n e n freien W i l l e n erlöst und gerechtfertigt wird, w o bleibt dann seine sittliche Verantwortlichkeit? Droht dann nicht ein heilloser Libertinismus? etc. B ö h m e stellt sich diesen Fragen nicht im Sinne einer traditionellen ontot h e o l o g i s c h e n Spekulation, sondern geht d a v o n aus, daß sie sich ohnedies nur aus der Perspektive des sich gegenwärtig auf sein Glaubensleben besinnenden C h r i s t e n m e n s c h e n s t e l l e n . 2 6 Seiner R e f o r m u l i e r u n g des P e c c a t u m originale

25 26

Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XII/ S. 71 ff., widmet diesem Problemkreis bei Böhme deshalb einen ganzen Paragraphen. Oetinger arbeitet gut heraus, wie Böhme all diese Fallen und Aporien christlicher Dogmatik geschickt vermeidet. Das Problem, daß der Mensch aus seinem Menschsein heraus notwendig Gottes Gottsein nicht wollen bzw. zulassen kann und insofern Gott gegenüber völlig unfrei ist, stellt sich für Böhme erst von der Warte eines von sich entfremdeten, anläßlich des Mißlingens seines Lebensentwurfes enttäuschten und im Scheitern zu Tode erschrockenen Homo fabers, dessen Gewissen sich seiner ihm eigentlich eingetauften christenmenschlichen Gestalt entsinnt. Insofern hat es wenig Sinn, wenn Bornkamm, Luther und Böhme, S. 114 ff. 118 ff., Böhme pauschal ein mangelhaftes Reflexionsniveau im Unterschied zu Luthers "De servo arbitrio" vorwirft. Es stellt sich vielmehr ganz im Gegenteil die umgekehrte Frage, ob nicht Luther -wie Böhme- aus einer ganz ähnlichen Intention und erfahrungstheologischen Perspektive heraus argumentiert, dabei aber der abstrakten subjektivitätsontologischen Fragestellung des Erasmus soweit nachgegangen ist, daß Luther seinerseits die Freiheit als menschliches Vermögen Gott gegenüber nun nicht mehr erfahrungstheologisch, sondern derart prinzipiell bestreitet, als ob es tatsächlich -gemäß der metaphysischen Abstraktion des Erasmus- ein "natürliches" Menschensubjekt gäbe, das aus seiner ontologisch - überzeitlichen Gottlosigkeit heraus auf einmal die Frage nach dem gerechten Gott stellen würde und dann -ohne Rekurs auf das Extra nos der Gnade Gottes- im Sinne einer prinzipiellen Verdammung beantworten müßte. Egal ob der Wille nun ontotheologisch betrachtet frei oder unfrei zu dieser Frage ist, ungestellt vom augenblicksgöttlichen Zorneinbruch, d. h. ohne diesen konkreten erfahrungstheologischen Ausgangspunkt als das Ende aller vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, und ohne die immer vorauszusetzende Prototypik der Schrift, aus der allein der affektiv betroffene (also gerade nicht der in seiner a priori selbsteigenen Natur in Ruhe gelassene) Mensch den zornigen Augenblicksgott namentlich als seinen Gott erkennen und ansprechen kann, bleibt die sonst nur metaphysisch abstrakt verhandelte Frage ohne die unhintergehbare erfahrungstheologische Lebensbedeutsamkeit. Darüberhinaus gerät Luther mit den singulären metaphysisch - abstrakten Spitzensätzen in eine gefährliche Nähe zu einem sündentheologischen Dualismus, der aus einer antipelagianischen Überreaktion heraus die personale Gegenwart des Menschen im Gnadengeschehen prinzipiell ausschließt bzw. auf ein "Nichts" reduziert. Ein derart unfreier Mensch müßte die Rechtfertigung auf unterpersönlichem Niveau über sich ergehen lassen, etwa wie die automatische Nötigung des Niesens, zu der der Mensch sich auch nicht personal verhalten kann: Er muß reflexhaft Niesen. Das reimt sich jedoch schlecht zu Luthers gegenteiliger Betonung, daß es auf das unvertretbare "Amen! Ja, ich glaube aufs Wort!" des personal gegenwärtigen Menschen im Rechtfertigungsgeschehen wesentlich ankomme. So äußerte sich schon Melanchthon kritisch gegenüber den jegliche christen-

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zufolge hat sich der gegenwärtige Christenmensch, der der biblischen Prototypik als Leser antitypisch gegenübersteht (vgl. oben 1.3.2.2.), wie seinerzeit menschliche Subjektivität zerstörenden Aponen, in die Luther sich unfreiwillig zu verstricken drohte; vgl. CR 21, 654 ff, bei Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, S. 161: "Auch geschieht die Bekehrung in David nicht, wie wenn ein Stein in eine Feige verwandelt würde, sondern es handelt ein gewisser freier Wille (aliquid liberum arbitrium) in David: als er den Verweis und die Verheißung gehört hat, da gesteht er nunmehr willig und frei das Vergehen... Gottes Befehl ist ewig und unbeweglich, daß du der Stimme des Evangeliums gehorchen sollst, daß du den Sohn Gottes hörest, daß du den Mittler erkennest." Die altprotetstantische Orthodoxie ist -leider Gottes- hinter das Reflexionsniveau des von Melanchthon so klar benannten Problems wieder zurückgefallen. Sie beschränkte sich lediglich darauf, die neo - manichäische Extremposition des Matthias Flacius, daß die Sünde zum Wesen des Menschen geworden sei, zurückzuweisen, hielt aber andererseits in einer Art kontroverstheologischen Betriebsblindheit daran fest, daß der Mensch die Imago Dei, die mitunter auf die Iustitia originalis verkürzt wurde, vollständig verloren habe und von daher der Krankheit der Sünde im Sinne einer unausweichlichen Neigung zum Bösen vollkommen erlegen sei. Von daher wird das Liberum arbitrium so total negiert, daß der sündige Mensch schlechterdings gesinnungsunfähig wird und folglich das Heilsangebot Gottes weder wahrnehmen, geschweige denn mit einem "Amen! Ja, ich will mich in Christo aus der Hand Gottes neu empfangen!" annehmen könnte. Das von Melanchthon messerscharf angesprochene Problem, daß die Iustificatio impii keinesfalls auf unterpersönlichem Niveau am Menschen vollzogen werden darf, wenn der Mensch im Heilsstand tatsächlich zur "Freiheit eines Christenmenschen" berufen sein soll, kommt aufgrund der dezidiert antikatholischen (antpelagianischen) und insofern um den Antimanichäismus verkürzten Augustinexegese nicht mehr in den Blick. Vgl. H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch - lutherischen Kirche, S. 150 ff., bes. S. 151. 155 Anm. 13, 160 ff., bes. 161. 163 Anm. 4, S. 174 f. Eine weitere Frage stellt sich angesichts Bornkamms emphatischer Betonung der Paradoxic und Antinomie, die Luther in ihrer vollen existenziellen Schärfe zu ertragen bereit sei (ebd., S. 123). Böhme rationalisiere das Freiheitsproblem vorschnell (S. 122: "Verschiebung ins Rationale"; auch 129). Hier sekundiert E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 224 f. 230 ff.: Böhme wolle die Kirchenlehre "unanstößiger" (S. 224) machen, um so "dem denkenden Geiste erträglich zu werden" (S. 225). Bornkamm und Hirsch sind sich hinsichtlich der Bedenklichkeit dieser Entwicklung einig. Hirsch überschreibt die eben zitierte Melanchthonstelle prompt: "Die synergistische Erweichung der Lehre Luthers" (Hilfsbuch, S. 160; vgl. auch Hirsch, Christliche Rechenschaft. Bd. I, S. 5: "Es wäre nach Überzeugung dieser Rechenschaft ein Mißbrauch der wesentlichen Unaussprechlichkeit gelebter Wahrheit, wenn man aus ihr mystagogische Folgerungen ziehen wollte.... Dieses radikale Verfahren, welches alle Verhüllung wegnimmt, ist... wenig beliebt, weil es die christliche Rechenschaft ganz in die Armut der Innerlichkeit zwingt und ihr das geistreiche Spiel mit Symbolen verwehrt.") Die weitere Frage ist nun schlicht die, ob Böhme nicht sehr zurecht auf ein existenzialistisches Pathos kierkegaardscher Prägung verzichtet, das -einmal abgesehen von der fragwürdigen Lebensbedeutsamkeit einer völlig unvermittelten Zumutung des Sacrificium intellectus beim unbesonnenen "Sprung ins Dunkle"in nichtssagenden Antinomien und Paradoxien schwelgt. Hieran wird verblüffenderweise deutlich, daß Böhme ein wesentliches Grundanliegen der altprotestantischen Lehrorthodoxie teilt, nämlich den Wunsch nach Einsichtigkeit des Glaubens und gemäßigter Besonnenheit im Unterschied zu den gnesiolutherischen Übertreibungen (Sünde als Wesen des Menschen; gute Werke schädlich; überhaupt keine effektive Veränderung des Menschen); vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 99: "Denn Böhme will Klarheit und Vernunft in seinem Leben. Das Dämonische auch in seinem Charakter als Vemunftlosigkeit will er überwinden. Gewissen soll Wissen werden."

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Adam als der Prototyp aller Menschen von der ihm prinzipiell offenstehenden Möglichkeit, ein christomorphes Leben zu führen, bewußt abgewandt. Die primär mit der Taufe gegebene Libertas Christiana wird von ihm jetzt also, wie seinerzeit der freie Wille von Adam, dahingehend mißbraucht, eine Lebensoption zu wählen, die den Menschen dann erst sekundär unfrei macht, d. h. an unpersönliche Sachzwänge ausliefert. Der gegenwärtige Christenmensch trägt, wie seinerzeit Adam, die volle Verantwortung für den frei gewählten Lebensentwurf, mit dem er sich habituell vor Gott und der Welt präsentiert: "Weil wir nun solches wissen, was wir sind, und daß es uns GOtt lässet wissen, so mögen wir nur zusehen, und was Gutes aus uns gebären, denn wir haben das Centrum Naturae in uns: Machen wir einen Engel aus uns, so sind wir das, machen wir einen Teufel aus uns, so sind wir das; auch: wir sind alhier im Machen in der Schöpfung, wir stehen im Acker.... GOtt ist Mensch worden, und will uns haben; so will uns sein Zorn ins Reich des Grimmes auch haben; der Teufel will uns auch in seine Gesellschaft haben, und GOttes Engel auch in ihre: wo wir nun hinwerben, da hinein gehen wir. Setzen wir unsere Imagination ins Licht GOttes, und gehen mit Ernst hinein, so kommen wir hinein, und werden noch mit Ernst hinein gezogen; wollen wir denn unsern Willen in dieser Welt Herrlichkeit setzen, und das Ewige lassen fahren, so haben wir auch zu hoffen, daß wir mit dieser Welt Grimm werden müssen ins erste Mysterium eingehen ...". (Mw II 9, 2) Spekulationen über eine Gemina praedestinatio weist Böhme kategorisch zurück: Sie wären zum einen das Ende eines Glaubens an einen gütigen Schöpfergott, zum anderen würden sie den Menschen jeglicher Verantwortung entheben (vgl. Gw passim). Das trifft um so mehr zu, als der Mensch in seiner Wahl sogar zum Guten hin, d. h. zur Wahl eines christomorphen Habitus, beeinflußt wird: "Dieses ist erstlich hoch zu betrachten, wie allen Menschen eine Gnaden = Thür offen stehet, und daß GOtt keine Wahl in die Natur habe prädestiniret, sondern daß die Wahl aus dem freyen Willen entstehet, wenn er sich vom Guten ins Böse wendet." (Mm 32, 4 = 26, 52; Gw 9, 51. 54. 57 ff.; 11,21.45) Hieran wird endgültig deutlich, daß Böhme nicht einmal spekulativ dazu bereit ist, einen "natürlichen" Menschen subjektivitätsmetaphysisch, d. h. als rein an sich existierende Monade, also völlig abgesehen von Schriftoffenbarung, Taufe und Verbum internum qua impliziter Erlösungssehnsucht, zu konstruieren. Im Unterschied zum "natürlich" widergöttlichen, weil gefallenen Menschen in Luthers "De servo arbitrio" geht es bei Böhme um den Menschen, der entweder immer schon unter der göttlichen Verheißung qua Wirken des Verbum internum in Korrelation zur alttestamentlichen Prototypik oder bereits unter der christomorphen Erfüllung im evangelischen Leben Jesu steht und insofern "widernatürlich" sich der Realisierung einer ihm schon längst eingetauften christlichen Lebenspraxis entzieht. Deshalb behaftet Böhme -ganz im

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Sinne von Paulus ( R o m 1, 18 ff.)- den Menschen als "anonymen" Christenm e n s c h e n s o e m p f i n d l i c h bei seiner Verantwortung für sein l e i b h a f t i g e s Erscheinungsbild, ohne darüber das Wirken der göttlichen Gnade in irgend einer W e i s e schmälern oder gar in Abrede stellen zu wollen. 2 7 Im Gegenteil versucht B ö h m e diesbezüglich drohende Mißverständnisse v o n Luthers "De servo arbitrio", die ihm offenbar unerachtet der tatsächlichen Argumentation Luthers mündlich zugetragen worden sind, auszuräumen. D a s v o n i h m a m meisten perhorreszierte Mißverständnis der A r g u m e n t a t i o n Luthers zum unfreien W i l l e n ist offenbar die Konsequenz, daß der göttliche G n a d e n w i l l e nur einer erwählten Minderheit von außen ohne Rücksicht auf ihre leibhaftige Lebensgestalt oder auf lebenspraktische Bewährung eingeflößt wird. Dann wäre der göttliche Gnadenwille 1. regionalisiert bzw. provinzialisiert, so daß die übrige S c h ö p f u n g v o n vornherein zur M a s s a perditionis bestimmt wäre (vgl. die Ablehnung der Gemina praedestinatio in G w s o w i e auf e n g s t e m Raum M w I 5, 25), und 2. ohne jegliche sittliche Verpflichtung, weil abgesehen v o n der tatsächlichen Lebenspraxis und Leibesgestalt v ö l l i g vergeistigt. 2 8 Beide Mißverständnisse schreibt B ö h m e zwar nicht Luther zu, wohl aber seinen gnesiolutherischen Fehlinterpreten, die B ö h m e in seiner Zeitgenossenschaft erlebt. 2 9 Der W i l l e Gottes zur N e u s c h ö p f u n g ist bei B ö h m e -zur 27 28

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Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, S. 178 f. Vgl. Mw I 5, 25: "...: Meinest du, GOtt werde dem Teufel eine englische Crone aufsetzen? Bist du Feind so bist du nicht Freund; wilt du Freund seyn, so verlasse die Feindschaft, und gehe zum Vater, so bist du Sohn...." Die Vorstellung von einer indifferenten Massa perditionis, aus der die göttliche Erwählung abgesehen vom göttlichen Vorherwissen, wer sich ihrer würdig erweisen werde, einzelne Menschen wie "Körner aus der Spreu" zum Heil "herauspickt", das Gros aber dem Unheil überläßt, interpretiert H. Schmitz als Ausdruck der "dynamistischen Verfehlung des abendländischen Geistes" und als Vorzeichnung seiner "autistischen Verfehlung", für die das westkirchliche Christentum in besonderem Maße verantwortlich zu machen sei. Im Unterschied zur ostkirchlichen Imago Dei- und Inkarnationslehre, die ein wesentlich optimistischeres, weil gemeinschaftlicheres Weltverhältnis eröffnet habe, als es die dunkle Sündenangst des abendländischen Mittelalters mit ihrer radikal individualistischen "Rette sich wer kann!" - Moral zugelassen habe; vgl. H. Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 37 ff., bes. S. 45; S 140 ff., bes. S. 141. 145 - 148. Mit Blick auf die Theologiegeschichte zur Zeit Augustine dürfte m. E. darüberhinaus noch von einem Erliegen gegenüber der Versuchung eines in der Sündentheologie zwar antipelagianisch motivierten, aber nichtsdesoweniger manichäischen Dualismus zu sprechen sein, von dem auch Luther in "De servo arbitrio" sich hat anstecken lassen (s.o. Anm. 792); vgl. zu Luthers Übertreibungen Schmitz, ebd., S. 199 ff., bes. S. 208 f.213 f. Eine ähnliche Krise der spätantiken Gnadentheologie haben zwei Schriften Augustins ausgelöst: "De praedestinatione sanctorum et de dono perseverantiae" und "De correptione et gratia". Böhmes Argumentation erinnert in vielerlei Hinsicht an den sog. "semipelagianischen" Streit und seinen auf Vermittlung bedachten Wortführer, den südgallischen Mönch Vincenz von Lérin; vgl. Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate et universitate adversus profanas haereticorum novitates, hg. v. D. A. Jülicher, in: SQS. Heft 10, Freiburg i. Β./ Leipzig 1895. Die Böhme zweifelsohne nicht unbekannten Wogen der gnesiolutherischen Streitigkeiten, insbesondere des interimistischen, synergistischen und majoristischen Streites sind m. E.

5.2. Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus

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Eliminierang solcher Mißverständnisse- schon in der Schöpfung mitgesetzt. Er bewährt bzw. bewahrheitet sich freilich nicht automatisch. Der Mensch sündigt bei Böhme -wie gesagt- immer insofern, als er sich dem supralapsarischen göttlichen Heilswillen trotz dessen biblischer Offenbarung bewußt zu entziehen versucht: "Gleichwie eine schöne wolriechende Blume aus der Erden wächst, also war auch GOttes Vorsatz, weil Er erkante, daß er nicht bestehen würde. Darum saget auch Paulus: Wir sind in Christo JEsu versehen, ehe der Welt Grund geleget ward, das ist, als Lucifer fiel, da war der Welt Grund noch nicht geleget, und war aber der Mensch schon in GOttes Weisheit ersehen; ... und aida hat sich der holdselige Name JEsus mit eingebildet, als ein Heiland und Wiedergebärer, denn der Mensch ist das grosseste Geheimniß, das GOtt gewircket hat. Er hat die Figur wie sich die Gottheit hat von Ewigkeit aus dem Grimm, aus dem Feuer durch das Ersincken, durch den Tod in ein ander Principium anderer Qual ausgeboren: Also wird er auch aus dem Tode wieder ausgeboren, und grünet aus dem Tode in einem andern Principio anderer Qual und Kraft, da er der Irdigkeit gantz los wird." (Mw I 5, 23; vgl. auch Mw I 5, 25) Angesichts der biblischen Prototypik hat der Mensch die vollen Konsequenzen seiner Entwurfwahl, seiner habituellen Selbststilisierung, 30 zu tragen: "Darum hat der freye Wille sein eigen Gerichte zum Guten oder Bösen in sich, er ... hat GOttes Liebe und Zorn in sich; was er fasset und begehret, das formet er in sich; und formet sich also nur selber in seiner eigenen Lust in ein Centrum." (Mm 26, 60) Zu diesen Konsequenzen gehört nun, daß der Homo faber seine Freiheit zum Guten im Sog alltäglicher Konstruktionen und Produktionen verliert: 31 "Eure Verstockung kommt aus euch selber" (Gw 11, 45 = 12, 34). Nichts wäre abwegiger für Böhme, als Gott dafür verantwortlich zu

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nichts anderes als eine Neuauflage des semipelagianischen Streits im werdenden Luthertum. Auch diesmal kommt es -Gottseidank- zu keiner überzogenen Auffassung der augustinischen "Gratia irresistibilis", so daß die Subjektivität des Christenmenschen praktisch übergangen würde. An CA XVIII konnte auch die extremste Lutherorthodoxie nicht vorbeigehen. Vgl. Mw I 5, 25: "... bist du doch dein selbeigener Macher, warum machst du dich böse?" Das "potuit peccare" schließt für Böhme offenbar immer auch ein "potuit non peccare" ein. Adam befindet sich nicht in der Situation eines "non potuit non peccare", denn dann wäre er zum Bösen prädestiniert und in letzter Konsequenz Gott als Schöpfer für das notwendig zum Bösen geschaffene Wesen verantwortlich. Hier ergibt sich wiederum eine deutliche Parallele zwischen Böhme und Melanchthon; vgl. CR 9, 766, auch bei Hirsch, Hilfsbuch, S. 160: "Ich hab bei Leben Lutheri und hernach diese Stoica et Manicheaea deliria verworfen, daß Luther und andere geschrieben haben, alle Werk, gut und bös, in allen Menschen, guten und bösen, müßten also geschehn. Nun ist öffentlich, daß diese Rede wider Gottes Wort ist, und ist schädlich wider alle Zucht, und lästerlich wider Gott." Vgl. CA XVIII. Hierin stimmt Böhme also durchaus mit Luther und Melanchthon überein. Gegen Bornkamm, Luther und Böhme, S. 119 f., der Böhme die erasmische Gegenposition zu Luther unterschiebt.

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

m a c h e n , 3 2 daß der H o m o faber das A n g e b o t e i n e s christomorphen L e b e n s habitus z u r ü c k w e i s t u n d daß selbst der Christenmensch in alltäglicher Selbstv e r g e s s e n h e i t nur allzu b e r e i t w i l l i g sein L e b e n s g l ü c k auf die u n e n d l i c h e S t e i g e r u n g seiner L e b e n s m ö g l i c h k e i t e n im R a h m e n einer rein körperlichen Existenz setzt (vgl. M w I 5, 18 ff. bes. 28. 20. 2 2 - 2 5 ) . 3 3 "GOttes Freuden = Spiel" und "GOttes Zorn = Spiel" ( w G l 2, 8) üben s c h o n innerbiblisch eine ambivalente atmosphärische Faszinationskraft auf den M e n s c h e n aus. B e i d e w e i s e n aber nicht die Struktur automatischer N ö t i g u n g s g r ü n d e auf, d. h. w i e der v o n ihnen ergriffene M e n s c h sich zu ihnen verhält, liegt nicht v o n vornherein f e s t . 3 4 B ö h m e v e r w e n d e t d i e biblischen Prototypen auch hier in t y p o l o g i s c h p h ä n o m e n a l i s i e r e n d e r Hinsicht (vgl. oben 3.2.). Er konstatiert d e s h a l b e i n e biblisch präformierte Konkurrenz z w i s c h e n z w e i R o l l e n oder Entwürfen, die sich d e m B i b e l l e s e r insofern dualistisch darstellt, als nämlich g e w i s s e r m a ß e n alternativlos "das h e i l i g e Leben" oder "das wahre Leben" als "das Göttliche, s e n s u a l i s c h e , p a r a d e i s i s c h e Grünen mit den heiligen S i n n e n und Wircken" ( B s c h 2, 12) a n e m p f o h l e n wird. V o r der Faszinationskraft der "äussere(n)

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Vgl. Mw I 5, 25: "... Darum wer GOtt schuldiget, der ist ein Lügner und Mörder als der Teufel auch: ...". Vgl. Mw I 5, 25: "Darum thun die gantz falsch und unrecht, die da sagen, GOtt wolle nicht alle Menschen im Himmel haben: Er will, daß allen geholfen werde, es fehlet am Menschen selber, daß er ihme nicht will helfen lassen; Und ob mancher böser Anneiglichkeit ist, das ist nicht von GOtt, sondern von der Mutter der Natur. Wilt du GOtt schuldigen? Du leugest, GOttes Geist entzeucht sich niemanden, ... ergib dich GOtt; so wird dir geholfen: denn darum ist JEsus begoren, daß Er helfen will....". Das ist die Crux, auf die der sog. "semipelagianische" Streit aufmerksam macht. Gnade darf nicht auf einem unterpersönlichen Niveau quasi dinglich dem Menschen eingeflößt werden. Eine "automatische Nötigung" pervertiert Gnade zu billiger Gnade. Die unterschiedlichen Nötigungscharaktere beschreibt H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 328 - 331. 334 - 337. 349 f. 439 f.: 1. automatische Nötigung = Reflexe wie Niesen, etc., die der Mensch unterpersönlich und völlig unwillkürlich befolgen muß, Zwang; 2. exigente Nötigung = Begegnung einer Autorität mit (a) bedingtem oder (b) unbedingtem Ernst. Der Mensch ist personal angesprochen, kann sich im Fall (a) aber emanzipatorisch über die Zumutung von Gehorsam hinwegsetzen (etwa gegenüber elterlichen Verboten bis hin zum Hochverrat gegenüber einer legitimen Regierung beim Staatsstreich). Im Fall (b) dagegen kann jeglicher Emanzipations versuch nur um den Preis schizophrener Unredlichkeit unternommen werden kann, ist also eo ipso zum Scheitern verurteilt. Trotzdem ist im Fall (b) menschliche Freiheit essentiell notwendig. Exigente Nötigungen, etwa wie eine Gewissenspflicht oder die direkte namentliche Anrede, der man sich schlechterdings niemals entziehen kann, ohne das Gesicht zu verlieren, oder Gefühlsmächte wie Scham und Angst, bedürfen allesamt in ihrer Eigenschaft als subjektive Tatsachen des (schweigenden) Einverständnisses der persönlich gemeinten Person: "Amen, ja ich will! Ich, in meiner Unvertretbarkeit, gestehe mir und niemand anderem ein, daß ich unhintergehbar affektiv betroffen und persönlich gemeint bin!" Vgl. auch oben zum Freiheitsproblem 3.1.3. Die widergöttliche Tatsünde des Menschen geschieht bei Böhme also immer um den Preis schizophrener Unredlichkeit, da er sich seinem Von - Gott - gestellt - Sein zu entziehen versucht.

5.2. Die dualistische Alternative bei der Wahl eines Habitus

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Welt", die immer auf ein "zeitliche(s)" oder "äusser(es) Leben" (üL 42) hinwirkt, wird dagegen ausnahmslos gewarnt: "... Denn Christus will offenbar seyn, so will der Grimm der Natur auch offenbar seyn: so stehen nun diese beyde Vorsätze in geformten Wort im Streite um den Menschen, als um das Bilde GOttes; das Reich der Gnaden im Lichte will das besitzen, und sich in ihme offenbaren: so will es das Reich der Natur im Grimm des Feuers in der Natur Schiedlichkeit auch haben, und sich in ihme offenbaren; und dieses beydes lieget im geformten Worte, als des Vaters Eigenschaft im Grimme, und des Sohnes Liebe = Eigenschaft im Lichte." (Gw 8, 47 = 8,71) Böhme stellt sich die freie Wahl eines habituellen Lebensentwurfes offensichtlich so vor, daß der beseelte Mensch nicht allein aus sich selbst heraus nach einem Habitus sucht und sich diesen auf Gedeih' und Verderb' aneignet, sondern auch besonders der eigentümlichen Faszinationskraft zweier möglicher Entwürfe gegenübersteht. Die ihm begegnende Faszinationskraft verdankt sich der Ambiguität der Lebensschöpfung. Die Komplexqualität von Vitalität und Formalität wird vom Menschen normalerweise auf einen vitalistischen Körperkult reduziert. "Dann alles was in der Welt ist, das liebet er, und hat es an Christi Stelle gesetzet, und ehret es mehr als GOtt" (wB II 9). Das göttliche Gnadenwirken sieht Böhme nun darin, daß der Mensch als Homo faber angesichts der biblischen Prototypik jederzeit in Gestalt einer durch die Lektüre eröffneten Epoche bzw. eines Moratoriums die Möglichkeit zu einer freien Besinnung erhält. Er kann diese ihm im Gegenwartsraum vor dem Schrifttext eröffnete Freiheit dahingehend nutzen, sich von dem dort angebotenen, christomorphen Habitus faszinieren und einkleiden zu lassen, den habituellen Entwurf des Homo faber dagegen abzustreifen. Gnade bleibt dadurch auch bei Böhme das Empfangen einer lebenspraktischen Gestaltungsmöglichkeit, die der Mensch nicht selbst produziert hat und als Homo faber auch garnicht produzieren kann, sondern zu deren Vorgängigkeit in der Heiligen Schrift er sich lediglich zustimmend ("Amen, ja ich will!") verhält. Die biblische Prototypik will den als Homo faber dahinlebenden Menschen für den christomorphen Habitus sensibilisieren. Deshalb perspektiviert Böhme sie gerade in dieser Hinsicht. Böhmes Deskriptionstechnik erinnert an paulinische Figuren. In den paulinischen Briefen konkurrieren "σαρξ" und "πνεύμα" als atmosphärisch präformierte Angebote zweier Lebensentwürfe bzw. Rollenschemata, die zur konkreten Ausgestaltung des menschlichen "σωμα" alternativ im Räume stehen. "Σωμα" entspricht Böhmes "Kraft = Leib" (40 F 7, 17), d. h. der leibhaftigen Präsens von "Seele" und "Wille", die bei Paulus mit "εσω ά ν θ ρ ω π ο ς " bezeichnet werden. Das biologische Körperding bezeichnet Paulus im Unterschied zum "σωμα" mit "τα μελη". "σαρξ" und "πνεύμα" gestalten das "σωμα" nun so, entweder daß es im sarkinischen Einflußbereich auf die Ebene

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

des nackten Körperdings herabgezogen wird oder daß es sich im pneumatischen Einflußbereich zu einem ebenbildlichen Habitus ausgestaltet. 35

5.3. Die Leibfeindlichkeit einer rein körperlichen Existenz Das Lebensprojekt des Homo faber, der Entwurf einer rein körperlichen Existenz, ist Böhme zufolge zum Scheitern verurteilt. Dieses Urteil wird von ihm breit angelegt szenographisch phänomenalisiert. Böhme entwirft mit phänomenologischen Mitteln eine regelrechte Dramaturgie des Scheiterns des Homo faber, um nicht den Eindruck eines metaphysischen Apriorismus wie bei der Gemina praedestinatio zu erwecken. Böhme präsentiert die Amorphie der Existenz des Homo faber so sensitiv ergreifend, daß die Sinnentleerung affektiv mitempfunden werden kann. Der Mensch ist in den Schilderungen Böhmes an die Banalität seines nackten Vorhandenseins geradezu ausgeliefert: "(D)ann es gehet alhie mit Manchem schrecklich zu, daß auch die äussere Vernunft meinet, dieser Mensch sey sinnlos, und vom Teufel besessen" (wB I 37). Jedem nur möglichen Unfall ausgeliefert erscheint das von der Laune des Augenblicks umhergeworfene Leben "gleich einem ängstlichen unsinnigen Rade, das immer über sich gehen will, und gehet doch auf der andern Seiten unter sich" (40 F 18, 15). Böhme diagnostiziert eine regelrechte "Krankheit zum Tode" 3 6 . Ohne leiblichen Habitus löst sich die menschliche Ausdrucksgestalt unter dem zunehmenden Druck körperlicher Beschwernisse unweigerlich auf: "(D)ie Kranckheit zum Sterben ist anders nichts, als daß sich die Turba hat entzündet, und will das Wesen zerbrechen; sie ist am Ziel, und will das eingeführte Mittel wegwerfen; und das ists auch daß der Leib stirbet." (40 F 18, 12) Ohne die Vermittlung einer leibhaftigen Ausdrucksgestalt droht die ungezügelte Vitalität der Seele schließlich so über die körperlichen Begrenzungen hinauszuschießen, daß sie das individuierte "Wesen" zerbricht und ohne leibhaftige Präsens ins Nichts hinein mäandriert. 37 Das Lebensgefühl seelischer Vitalität steht der körperlichen Existenzweise schließlich völlig entfremdet gegenüber. Qua Körperding ist der Mensch der Eigengesetzlichkeit der Materie hoffnungslos ausgeliefert. Er begegnet einer "Zerbrechlichkeit", die sich in Krankheiten, Schmerzen und klimatischen Einflüssen manifestiert und ihn an der unendlichen Steigerung seiner Lebensmöglichkeiten auf ebenso jämmerliche Weise behindern wie die biologische Faktizität von Geburt und Tod: "Nun ist aber dis Leben zerbrechlich, denn es 35 36 37

Zu dieser Paulus - Exegese vgl. H. Schmitz, Der Leib. II/ 1, S. 507 - 528. Vgl. auch oben 1.4. Vgl. S. Kiekegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1982. Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 359 f.

5.3. Die Leibfeindlichkeit einer rein körperlichen Existenz

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anfanget sich, und stehet nur in vier Gestalten, als in Feuer, Luft, Wasser und in der Wesenheit, welche Leib ist ...". (3fL 8, 20) "... Es ist liberal Sorge, Kummer, Furcht, Kranckheit, und endlich der Tod: ...". (3fL 17, 8) " ...: als er aber fiel ..., ... fiel zuhand Hitze und Kälte auf ihn, daß er sich muste kleiden, und fiel mit der äussern Welt Macht in die Zerbrechlichkeit seines Leibes." (Ti II 223) Aus der beschriebenen Entfremdung von vitalistischem Lebensgefühl sowie Lebensbedürfnis und körperlichen Beschränkungen resultiert schließlich der Eindruck einer amorphen Unruhe, die ein rein auf die körperliche Existenz beschränktes Leben atmosphärisch ausstrahlt: "Also hat das Leben verloren das Temperamentum, als die ewige Ruhe, und hat sich mit der eigenen Begierde finster, peinlich, strenge, hart und rauh gemachet, und ist worden eine eitele Unruhe, und lauffet nun in irdischer Kraft in einem ewigen Grunde, und suchet in der Zerbrechlichkeit Ruhe, und findet aber keine: Denn die Zerbrechlichkeit ist nicht des Lebens Gleichheit...: Dann es hat sich aus dem Göttlichen Ente in ein Irdisch (Thierisch) Ens geführet, und in ein zerbrechlich Wesen gesetzt, und will in dem herrschen, das ihme doch zerbricht, und geschwinde wie ein Rauch vergehet." (Bsch 2, 9) Der seelische Lebenshunger versucht sich zunächst mit rein quantitativen Akkumulationen unverbundener Sinnatome über die empfundene Bedeutungslosigkeit seines reinen Vorhandenseins inmitten einer Körperwelt hinwegzutäuschen. Doch auch in dieser Hinsicht wird der Geschmack an einer rein körperlichen Existenz bald schal. Die Gier bleibt ewig unbefriedigt. Böhme intoniert hier überdeutlich den skeptischen Tonfall biblischer Weisheit (vgl. Qoh/ Pred): "... dem Reichen schmecket sein Köstliches nicht besser, als dem Hungrigen sein Bissen Brot. ... Es ist nur ein Spigelfechten in dieser Welt, ... Es ist ein gantz jämmerlich Ding, daß der Mensch deme also nachlauft, das ihm doch selber nachlieffe, wäre er gerecht und fromm: Er läuft nach Kummer und Sorgen ... und machet ihme Unruhe: liesse er sich genügen, so hätte er Ruhe. Er setzet ihme einen fressenden Wurm ins Hertze der ihn plaget, und machet ihme ein bös Gewissen, das ihn naget, und ist nur ein Narr darmit: Dann sein Gut lässet er andern, und den nagenden Wurm im bösen Gewissen nimt er mit von dieser Welt, und hält das für seinen Schatz, der ihn ewig plaget: ...". (3fL 17, 8 f.) Böhme sensibilisiert seine Leser besonders für die Auslieferung an die Beliebigkeit des Augenblicks und an die amorphe Fülle der Körperwelt. Eine nur aus Augenblicken bestehende, fragmentierte Biographie ohne durchgängige Gestalt wirkt sinnlos. Der Mensch "zeucht einen Hauffen böse Einfälle von aussen an sich" (Gw 8, 65). Alles, was er macht, bleibt eine Geburt des Augenblicks, "geschwinde und fliegende als die Gedancken." (40 F 34, 2) "Sie haben ein Spiel als die Narren thun ..., ein Gauckeln und Narren ist ihre Zeit = Vertreibung, wiewol keine Zeit ist" (ebd.). In ähnlicher Hinsicht greift Böhme auf die aquatische Metaphorik zurück: "Die andern aber, so nur in ihrem eigenen magischen Willen, aus Fleisch und Blut lebeten, denen ersoff ihr Wille

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

in der Turba,... die suchten nur die Zahl der Vielheit" (ihM 8, 10). Übrig bleibt nur ein "Immer = Sehnen ... nach den Gestalten ihres eigenen Lebens, als nach eigenem Glantze, und nach der irdischen Vielheit" (Sg 15, 18). Diese Gier nach "Mehr - Leben" zeichnet eigentlich einen "thierischen Willen" (Gw 7, 14) aus. Bei Tieren findet sich dieselbe maßlose Besitzlust. Den Tieren dermaßen ähnliche Menschen "wollen alles alleine im Besitz haben, wollen gerne das schönste Kind im Hause seyn, davon die Hoffart, Geitz, Neid und Haß entstehen." (ebd.) Der Homo faber gebärdet sich als "des Teufels Narr, und der Licht = Welt Affe: gleichwie ein Affe will witzig seyn, und mit allen Dingen spielen, und alles nachthun; also ist auch des irdischen Menschen der doch nur ein Affe ist, sein Gauckel = Fechten mit der Licht = Welt. ... (E)r ist ein Thier = Mensch, so lange er mit seinem Willen am Äusseren hanget, und hält dieser Welt Gut für seinen Schatz" (6 Pk 3, 22). Der vitalistische Lebenshunger verliert sich im Augenblicklichen. Er kann sich nur selbst reproduzieren, da er nichts über den Augenblick hinaus Bleibendes oder Verbindliches stiftet: "Denn ein Ding, das keinen Anfang noch Grund hat, das hat auch kein Ende; sondern es ist selber sein Grund, es gebieret sich selber." (Mw I 11, 1). So hat die Seele schließlich "keine Fühlung" (40 F 34, 3) mehr. Das "Leben in Leib, und in alle(n) seine(n) Wesen und Wercke(n)" (Bsch 2, 25) wird systematisch in disparate Einzelteile fragmentiert. Böhme spricht von "zersteuen", "zerbrechen" und "Gift darein führen" (vgl. Bsch 2,26). Die Leibfeindschaft oder "Fährlichkeit" (ebd.) am Lebensduktus des Homo faber hängt damit zusammen, daß die Vitalität der Seele der fremd gewordenen Körperwelt absolut gegenübergesetzt wird. Derartig absolute Seelen gehen aber an dieser Entbindung von der Herausbildung leibhaftiger Lebensgestalten zugrunde: "Sie sind frey, in nichts eingesperret, sie mögen fahren so tief sie wollen, so ist überal der Abgrund und die Finsterniß" (40 F 34, 5). "(S)o stehet alsdann deine arme Seele gantz nacket, hungerig und blos" (3fL 14, 4). Die Gegenstände der Körperwelt können die Auflösungserscheinungen des seelischen "élan vital" nicht aufhalten. Sie stellen für die Schaffenskraft des Homo faber nämlich nur einen dem Augenblick "entlehnte(n) Spiegel" (6 Pk 7, 23) dar: "(A)ber wenn der äussere Spiegel zerbricht, so ists aus, und gehet das Seelen = Feuer ins ewige Trauer = Haus, als ins Centrum der Finsterniß." (6 Pk 7, 17) Eine absolute Seele löst sich in das Nichts des "Ungrunds" (vgl. 4.1.1.) hinein auf. Ihre ungezügelte Energie nimmt zerstörerische Ausmaße an und richtet sich gegen die Lebensweltschöpfung, deren phänomenale Ausdifferenzierung sie durch ihre Unfähigkeit zur leiblich situativen Gestaltung annihiliert: "Welches auch geschähe, so die Natur ihrer Gestalt beraubet würde, so müste in der Natur des Menschen GOttes Reich in

5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten

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der Liebe, und auch GOttes Reich in der Feuers = Macht aufhören" ( M m 69, 44). 3 » D i e Pointe v o n B ö h m e s Kritik a m Körperkult des H o m o faber liegt also g e n a u darin, daß die A u f l ö s u n g des S e e l e und Körper z u s a m m e n b i n d e n d e n , l e i b l i c h e n A u s d r u c k s g e s c h e h e n s dazu führt, daß die S e e l e vitalistisch entgrenzt, und der Körper auf sein Vorhandensein beschränkt w i r d . 3 9 D i e S e e l e versucht ihre L e b e n s m ö g l i c h k e i t e n permanent zu steigern, während der Körper als an sich bedeutungloser Spielball seelischer Schaffenskraft seiner Sterblichkeit ausgeliefert ist. Übrig bleibt das beängstigende C h a o s e i n e s riesigen D i e s irae: "(D)ie Turba ... hat L e i b und S e e l e gefangen, und führet den L e i b immer z u m Ziel, da sie ihn alsdann zerbricht und hinwirft, so bleibet alsdann die arme S e e l e roh ohne L e i b ... und hat die Turbam in ihr, w e l c h e das Feuer erwecket in ihrer grossen A n g s t , ... dann die Turba hält uns g e f a n g e n i m grimmen Zorne GOttes" ( 4 0 F 1 4 , 4 f . ) . 4 0

5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten auf die Endlichkeit leibhaftiger Lebenswirklichkeit

personale

A u s der A t m o s p h ä r e der Unruhe, die eine rein körperliche E x i s t e n z ausstrahlt (vgl. S g 15, 38: "(U)nd ist doch keine Stätte der R u h e in der irdischen Selbheit 38

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Vgl. auch P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. I, S. 210 - 214; Systematische Theologie Bd. II, S. 52 ff., bes. 57 ff.: "Entfremdung als hybris" , 60 ff.: "Entfremdung als Konkupiszenz", S. 69 ff.: "Existentielle Selbst - Zerstörung und die Lehre vom Übel". "Selbst - Verlust und Welt - Verlust im Zustand der Entfremdung". V. a. S. 73 f.: "Unter der Herrschaft von hybris und Konkupiszenz wird der Mensch nach allen Richtungen auseinandergetrieben, ohne ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Inhalt. Seine Dynamik ist in ein formloses Verlangen nach Selbst - Transzendenz verkehrt. Es ist nicht die Sehnsucht nach der neuen Form, die die Selbst - Transzendenz antreibt, sondern die Dynamik als solche ist Ziel seines Verlangens. Man könnte von einer 'Versuchung des Neuen' sprechen, ... Wenn die Form fehlt, wird nichts Reales mehr geschaffen, denn nichts ist real ohne Form." Vgl. W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 31 ff., mit einer ganz ähnlichen Pointe. Vgl. Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § VIII/ S. 64 f.: "Durch das Lebenslicht oder durch den Geist sollte der Mensch das Licht aus dem vermischten Erdwesen herausziehen. Die Welt war paradiesisch, gewächslich, vegetabilisch, animalisch, mineralisch. Er sollte über alles herrschen durch große Scheidewissenschaft. Er sollte die Erde bauen und die Finsterniß ausschließen. Der Mensch hatte ein sensorium gegen der Kreatur und gegen Gott; keines sollte er ohne das andere gebrauchen. Er bestand aber nicht in dieser Koordination der Kräfte des Lichts, sondern trennte das Welt = Sensorium vom göttlichen Lichts = Sensorio, und fiel aus seinem guten Stand in den bösen. [...] Da nun der Mensch unwissenderweise rückgängig geworden, aus dem Licht in die starke Macht des ersten principii, so schlug die ganze Erde durch das Lebens = principium in ein ausgeartetes Leben aus; das Licht wich zurück, die Finsternis brach hervor, alles war kalt und entzündet mit unordentlichem Feuer und verderbten Elementen. Da fraß der Zorn Gottes die Erde. Auf diese Art war der Zorn Gottes offenbar, in der verderbten Kreatur."

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

..."; auch Hebr 3, 7 - 4, 13 als biblische Folie), resultiert eine Art Erlösungssehnsucht, die Böhme als Ahnung einer vollkommenen leiblichen Ausdrucksgestalt beschreibt: 41 "Denn die Seele des Menschen hungert und dürstet immer von dem schweren Falle nach solchem Fleisch und Blut, und sie nahm das an sich, als GOttes Kleid; denn die Seele ist Geist, und bedarf Leib, da kriegte sie Leib, einen neuen, ewigen, unzerbrechlichen Leib in dem alten Adamischen." (3fL 13, 17) Aufgrund dieser Ahnung hat der Mensch zumindest die Möglichkeit, sich über seine Befindlichkeit als Homo faber klar zu werden und "imaginativ" nach alternativen Gestalten zur leibhaftigen Lebensführung zu suchen: "Dieses ist nun dem Menschen hoch zu betrachten, und nicht also blind zu seyn: (S)o je der Mensch ist ins Mysterium dieser Welt eingangen, so soll er aber darum nicht also als ein Gefangener auch in die irdische Sucht des Todes Einschliessung eingehen; sondern er soll ein Erkenner und Wisser des Mysterii seyn, und nicht des Teufels Eule und Narr. Sondern soll mit der Imagination stets wieder ausgehen in die Licht = Welt, darzu er geschaffen ward, aufdaß ihm das Licht Glantz gebe, daß er sich erkenne, und das äussere Mysterium sehe, so ist er ein Mensch; ...". (6 Pk 3, 22) Angesichts der biblischen Prototypik bricht für Böhme zwangsläufig eine Differenzerfahrung auf. Der Bibelleser erkennt an Schöpfungserzählung und Evangelium, "daß uns GOtt nicht in solch'Fleisch und Blut, als wir ietzt an uns tragen, hat geschaffen; sondern in ein solch Fleisch, als dem Willen in der neuen Wiedergeburt angezogen wird, sonst wär es ja bald vor dem Fall irdisch und zerbrechlich gewesen. ... So finden wir ja klar, daß noch ein ander Wesen in unserm Fleische ist, daß sich nach deme sehnet, das es ietzt nicht ist" (Mw II 6,4). Trotzdem hat es die Erlösungssehnsucht nicht leicht, sich durchzusetzen. "(D)iese eingebildete(n) und angeerbte(n) Bilder" (wB II 10) des vitalistischen Körperkults weisen eine große Faszinationskraft auf. "Die Einbildlichkeit des irdischen Wesens verhindert das Hertze, daß es nicht mag GOtt stille stehen, und in seinen inwendigen Grund, da GOtt lehret und höret, kommen." (Gw 12, 16) Zur Besinnung ist dieser Stillstand (vgl. oben 5.2.) von der sorgenvollen Betriebsamkeit zur vitalistischen Steigerung der Lebensmöglichkeiten aber unumgänglich: "Die Seele soll von der Bildlichkeit der irdischen Creaturen stille stehen, und nicht irdisches Ens in ihr Feuer = Leben einführen, daraus ein falsch Licht entstehet" (Gw 8, 38). Nur "wenn sie anhebt von der Einbildung der Falschheit stille zu stehen" (Gw 13, 7 f.), ist die Seele empfänglich für die biblisch präformierte Restitution ihrer leiblichen Gestaltungskompetenz: "Ie mehr der Mensch von sich aus den Bildern ausgehet, ie mehr gehet er in GOtt ein; bis solang Christus in der eingeleibten Gnade lebendig wird, welches geschieht in grossem Ernst des Vorsatzes." (wB II 16) Dazu kommt der Mensch jedoch nicht aus eigener Kraft. Die biblische Prototypik selbst stellt 41

Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, S. 87 ff.: "Die Frage nach dem Neuen Sein und der Sinn des Christus - Symbols", bes. S. 96 - 99. 103 - 106.

5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten

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den Homo faber ruhig: "Du kanst in eignem Vermögen nicht zu solcher Ruhe kommen, daß dich keine Creatur berühre, es sey dann daß du dich in das Leben unsers HErrn JEsu Christi gantz einergebest, und dein Wollen und Begierde Ihm gantz übergebest und ohne ihn nichts wollest: so stehest du mit deinem Leibe in der Welt in den Eigenschaften, und mit deiner Vernunft unter dem Creutze unsers HErrn Christi" (üL 9). Das Extra nos besteht für Böhme offensichtlich darin, daß der Mensch außerhalb der biblisch offenbaren Prototypik des Christus praesens schlechterdings zu keiner leiblichen Ausdrucksgestalt kommt. Es geht bei ihm immer um die sensitive Ergriffenheit durch und sensible Empfänglichkeit für diesen normativ - konkreten leiblichen Habitus. Er fordert deshalb, daß die Christenmenschen "nicht sollen sagen, wir sind Christus, sondern wir sind sein Haus, in deme Er wohnet" (Mm 47, 17). Böhme hebt auch hier auf die aus 3.1.3. bekannte Haltung reiner Empfänglichkeit ab, durch die eigentlich jedes synergistische Mißverständnis ausgeschlossen ist: "Allein in der rechten Gelassenheit ist Christus und der Mensch gantz Eins; wann der menschliche Wille ausser Christo nichts mehr will, sondern sich gantz in Christo ergiebet, so ist er der Selbheit todt, und lebet allein Christus in ihme: ...". (Mm 47, 18) Angesichts der biblischen Prototypik gewinnt der von ihr alternativlos ergriffene Mensch einen "Anfang zum neuen, geistlichen Leibe, welche Kraft der Seelen Glaubens = Begierde in ein Wesen fasset oder führet, das ist, zum Wesen machet, aus der Begierde in ein Wesen oder geistlich Corpus, welches geistliche Wesen der Tempel GOttes ist" (Mm 52, 8). Die diffuse Erlösungssehnsucht bekommt szenographisch eine konkrete leibhaftige Ein- sowie Ausdrucksgestalt zur mimetischen Nachahmung und Anverwandlung vor Ort des jemeinen Leibes vorgeführt. Böhme spricht deshalb auch von einer regelrechten Investitur der Seele in bewußter Anknüpfung an die paulinische Textilmetaphorik aus 2. Kor 5, 2 - 4: "... Wir müssen unseren Seelen ein neu Kleid anziehen, als den Rock Christi, die Menschheit Christi ...; wir müssen darein eingehen, und seinem Bilde ähnlich werden, alsdenn ist uns Christi Leiden und Tod nütze." (Mw 115, 16) Das Thema der individuellen Heilsaneignung erscheint hier als eine Frage des leiblichen Habitus, in dem ein Mensch sein Seelenleben über das körperliche Vorhandensein hinaus präsentiert. Der Christenmensch soll Böhme zufolge "Adams Peltze, den der Teufel besudelt hat", ausziehen und den "Vernunfts = Peltz wegwerfen" (Mw I 4, 19). Dabei verhält sich jedoch das neue Seelengewand keineswegs wie ein gewöhnliches Kleidungsstück, das man beliebig tragen und ablegen könnte. 42 Der Christenmensch soll "GOttes Wesen anziehen, nicht als ein Kleid, sondern als einen Leib der Seelen" (Mw I 11,8). Ohne das neue habituelle Gewand kann das Leben genausowenig fortgeführt werden, wie ohne Körper als biologische Existenzgrundlage. Böhme 42

Vgl. W. Stählin, Die Bitte um den Heiligen Geist, S. 56.

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

b e z e i c h n e t d i e b i b l i s c h e Prototypik qua R o l l e n s c h e m a o d e r h a b i t u e l l e n Lebensentwurf als "den neuen Leib" (Ti I 70). D i e christomorphe Ausdrucksgestalt konstituiert zuallererst ein "recht Leben oder Leib" ( M w 1 1 2 , 24). D e s halb werde sie biblisch auch an e i n e m konkreten M e n s c h e n l e b e n prototypisch exemplifiziert "und m u ß in uns auch M e n s c h werden. U n d in d e m s e l b e n L e i b e stehet das rechte W o l l e n und Thun, auch das Vollbringen; und die Möglichkeit eines Christen = M e n s c h e n : ausser d e m e ist kein Christ" (Ti 1 7 0 f.). D i e habituelle Reformulierung der individuellen Heilsaneignung adaptiert d i e k l a s s i s c h e Z w e i - Naturen - C h r i s t o l o g i e für e i n e leibliche T h e o r i e des C h r i s t e n m e n s c h e n . B ö h m e betont den synthetischen Charakter der christomorphen Ausdrucksgestalt. W i e S e e l e und Körper i m leiblichen Ausdrucksg e s c h e h e n präsentiert werden, so führt der christenmenschliche Lebensentwurf die biblische Prototypik und die E x i s t e n z eines aus S e e l e und Körper bestehenden, raumzeitlich konkreten M e n s c h e n zu einer phänomenalen Gesamterscheinung z u s a m m e n , ohne die beiden K o m p o n e n t e n miteinander zu v e r w e c h seln oder m i t e i n a n d e r zu identifizieren. D i e s e r s y n t h e t i s c h e Charakter des "recht L e b e n ( s ) o d e r Leib(es)" ( M w I 12, 2 4 ) ist biblischerseits durch die raumzeitlich konkrete Inkarnation der gottgegebenen, leibhaftigen M e n s c h e n person Jesus von Nazareth präformiert: 4 3 "(D)es M e n s c h e n S e e l e ist aus GOtt 43

Es hat in der Forschung für einige Verwirrung gesorgt, daß Böhme manchmal (keineswegs immer) mit "JEsus" den himmlischen Sohn, mit "Christus" aber seine irdischen Erscheinung im evangelischen Leben Jesu als des Christus bezeichnet; vgl. E. Hirsch, Jakob Böhme, S. 222; Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 334: "Christus verwirklicht die Jesus = Gnade erst zur menschlich = irdischen Gestalt und zum vorbildlichen Schicksal. Christus ist die persönlich zeitlich = menschliche Verleihung der ewigen Wesenheit Jesu, ist der menschgewordene, menschliche Persönlichkeit gewordene reine Gott und ist nicht Geschöpf Gottes, sondern er selbst." Einmal abgesehen davon, daß Hankamer hier dem latenten Monophysitismus der römischen Tradition erliegt, fällt an Böhmes zeitweiliger Eigenwilligkeit im Umgang mit dem Eigennamen und Hoheitstitel der zentralen biblischen Erlösergestalt folgendes auf: 1. Böhme akzentuiert so um, daß der christologische Hoheitstitel sich schriftgemäß gerade auf das irdischen Heilshandeln des Erlösers bezieht. Die Hoheit des Christus zeigt sich erst sub contrario am Kreuz (vgl. oben 1.3.1. zu Phil 2, 6 - 11). 2. Die historisch einmalige Konkretion des Christus inkarniert insofern die göttliche Prototypik des "JEsus", als sie in ihrer Gottgegebenheit und soteriologischen Anspruchsqualität nicht mehr überholbar ist. 3. "JEsus" bleibt also die allemal ad hominem ansprechende Menschengestalt des einmal gekreuzigten Christus. Dessen individuelle Leibhaftigkeit bleibt in der prototypischen "JEsus" - Figur heilswirksam. 4. "JEsus" ist der inkarnationsmorphologische und erfahrungssoteriologische Skopos der Christologie. Das ist schon alles. Wie gesagt, ist Böhme nur zeitweilig in puncto Eigenname und Hoheitstitel eigenwillig. Viele Zitate zeigen völlig traditionelle christologische Begriffszuweisungen, wie z. B. im folgenden Text, wo von Christomorphose, nicht aber von Jesumorphose die Rede ist. Die Mimesis der Christusprototypik bedeutet keine Identität mit dem Leben Jesu, weder als Gottes-, noch als Menschensohn. Die Heilsaneignung durch Wiederholung respektiert die ontologische Differenz zwischen dem Einen und dem Sein (Aristoteles) als Bei - sich - Sein im Anders - Sein (Hegel).

5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten

315

und aus dem Ewigen; aber des Menschen Leib ist ein Spigel des Ewigen: [...] Also ... ward aus den beyden eine Seele, und blieb doch die Creatur unterschieden von GOttes Geist: aber GOttes Geist wohnete darinne, und ward ... Fleisch und Blut, also daß ein himmlischer Mensch im irdischen zugleiche auf einmal Mensch ward; Daß man konte sagen, das ist des Weibes Sohn, als Marien rechter leiblicher und natürlicher Sohn, mit Seele und Leib, mit Fleisch und Blut, und allem deme was ein Mensch hat; und dann auch GOttes wahrer Sohn, ...". (40 F 36, 13. 16 = Sg 11, 11 ff.) Die leibhaftige Prototypik der seelisch - körperlichen Inkarnation Jesus von Nazareth eröffnet den Möglichkeitshorizont zu weiteren analogen Reinszenierungen in raumzeitlicher Individuation. Der Christenmensch postfiguriert als raumzeitlich einmalige, leibhaftige Person den unauflöslich synthetischen Charakter eines christomorphen Menschenlebens, das sowohl aus der seelisch - körperlichen Existenz, als auch aus dem antitypischen, weil Christus ebenbildlichen Habitus, Lebensentwurf oder Rollenschema besteht: "Christus soll in dir, in deiner Bildniß, und du in Ihme, leben: du und Christus solt Einer werden: Er der Leib, und du sein Glied." (Ti I 240) Diese synthetische Komplexqualität des Christen = Menschen qua leibhaftiger Person mit Seele und Körper findet Böhme bereits in der Josephsnovelle (Gen 37 - 50) typologisch vorgezeichnet: "Die zween Brüder, Joseph und Benjamin, sind das Bilde der Christenheit und eines Christen = Menschen, welcher in seiner Figur zweyfach stehet, als der adamische Mensch, welcher in seiner Natur ist Benjamin, und der neue Mensch aus dem Bunde in Christi Geiste ist Joseph andeutend; und stehet die Figur, wie Christus habe den adamischen Menschen an sich genommen, daß dieser Mensch halb adamisch und halb himmlisch sey, und gantz in einer Person aida stehe, welche nicht mag getrennet werden." (Mm 77, 50) Der phänomenologische Rückgriff auf die Zwei - Naturen - Christologie leistet ein Zweifaches: Die erste Funktion ist eben beschrieben worden. Der Christenmensch wird durch die biblisch offenbare Prototypik des Christus praesens habituell neu konstituiert. Der amorphe Homo faber erhält auf diese Weise überhaupt erst die Möglichkeit zu einer leibhaftigen Selbstpräsentation als Person zurück. Die zweite Funktion betrifft nun das Verhältnis des neu eingeleibten Christenmenschen zur ihn weiterhin umgebenden Körperwelt. Die Überschrift dieser vierten Station im Gedankengang des fünften Kapitels spricht von einer "Konzentration" auf den einen Habitus im Unterschied zu einer Identitätsdiffusion in der Fülle augenblicklicher Lebensmöglichkeiten vor Ort der Körperwelt. Führt Böhmes Besinnung des Christenmenschen letztlich zu einer Feindschaft gegenüber der sinnlichen Fülle der Körperwelt? Oder gibt es durch die Adaption der Zwei - Naturen - Christologie eine Stellung des Christenmenschen inmitten der Körperwelt, die deren Sinnlichkeit keineswegs feindlich gegenübersteht, deren chaotische Mannigfaltigkeit lediglich nicht unmittelbar als letzten Lebenssinn mißversteht, sondern durch freie Gestaltung in dieser Hinsicht zuallererst qualifiziert?

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Die Körperwelt erscheint bei Böhme bisweilen dualistisch und pessimistisch abgewertet. Der nackte Körper ist für Böhme genauso irrelevant, wie die "rohe" oder "pure" Seele. An sich betrachtet, hält er das Seelenleben so "gefangen" wie ein Feuerstein das Feuer (vgl. Mw I 10, 10). In seinem dinglichen Vorhandensein erscheint er als "ein finster Thal" (Mm 73, 5 f.), "Jammerthal" (wB 143) oder "Jammer = Meer" (Mw 114, 1), an dem nur "Fleisches = Lust" (Mm 73, 6 f.) zum Ausdruck kommt. Der menschliche Körper befördet also die lebensfeindliche Amorphie der Seele, der der Homo faber erliegt. So kommt es zu Äußerungen, in denen scheinbar die individuelle Heilsaneignung allein die Seele betrifft, die erst jenseits der Todesgrenze, wenn sie vom Körper befreit ist, neu eingeleibt werden kann: "In dieser irdischen Hütten mag sie nicht GOttes Reich erben, ob ihr wol von aussen das Sünden = Reich anhanget, welches in der Erden verfaulen, und in neuer Kraft aufstehen soll." (wGl 2, 35) " ... Dis verstehe mit dem Sterben und Verwesen, da wird das grobe irdische Fleisch abgeschmeltzet, so bleibet das jungfräuliche geistliche Fleisch alleine." (Mw I 14, 5) In der Tat scheint Böhme hier, das körperliche Vorhandensein des Menschen manichäisch abzuwerten. Trotzdem sollten diese Äußerungen m. E. nicht überbewertet werden, da der Tod bei Böhme ohnedies weniger das faktische Lebensende markiert, als vielmehr metaphorisch das Ende der körperlichen Existenzweise des Homo faber bzw. seiner leib- und lebensfeindlichen Einstellung bezeichnet. Manichäische Konsequenzen drohen im Gegenteil nur bei der vitalistischen Existenzweise des Homo faber. "So aber die Licht = Welt im Menschen nicht mag offenbar werden, daß sie Herr wird, so bleibet die Seele in Zerbrechung der äussern Welt blos in der finstern Welt; denn aida mags nicht mehr seyn, daß die Licht = Welt angezündet werde: Es ist kein Spiegel mehr zum Lichte darinnen, der der Seelen entgegen stünde" (6 Pk 7, 31). Böhme geht es also um die positive Bemeisterung der körperlichen Existenz zugunsten einer bereits innerweltlich qualitativ hervorgehobenen, genuin leiblichen Präsenz, so daß schließlich "der gantze Mensch solte erlöset werden." (Mm 32, 6) Folgende Äußerungen unterstreichen diese These: Zunächst einmal hält Böhme gerade für den christenmenschlichen Habitus am köperlichen Vorhandensein des Menschen fest: "(I)edoch will ich dein äusser Leben nicht wegwerfen, sondern ofte mit meinen Liebe = Strahlen heimsuchen, dann deine äussere Menschheit soll wiederkommen" (wB I 49). "..., wie GOtt das Reich der Natur im Menschen nicht habe verworfen, sondern daß Ers in Christo aus der Angst und Wiederwillen wolle erlösen, und daß ein Mensch im Reiche der Natur solte und müste bleiben innen stehen ..., ... ein Kind Gottes ... muß in Gott wircken mit Lehren und Beten, und auch in der Natur mit Hand Arbeiten den äussern Menschen zu nehren, und die Wunder der äussern Welt im geformten Wort zu treiben, und in Figuren zur Beschaulichkeit der Weisheit GOttes formen und helfen offenbaren." (Mm 48, 36) Der Christenmensch ist nach wie vor zum Konkreator in der Körperwelt eingesetzt.

5.4. Die Konzentration körperlicher Existenzmöglichkeiten

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Daher muß er, manichäischer Askese diametral widersprechend, seinen Körper pflegen. "Thue deiner Natur nichts!" (Mm 48, 26 = Gen 22, 12), zitiert Böhme deshalb den Zuruf Gottes an Abraham, als dieser mit einer Art manichäischer Devotion gerade Hand an seinen Sohn Isaak legt. "Das äussere irdische Leben ist dem Geist dieser Welt heimgefallen, der Bauch bedarf irdische Speise, und der Leib irdische Kleider, und eine Hütte zur Wohnung; darnach muß der äussere Geist (Mensch) trachten, er soll arbeiten und wandeln." (3fL 17, 3) Der Körper bleibt auch für das Glaubensleben des Christenmenschen das Principium individuationis raumzeitlicher Individuation. Er darf bei Böhme prinzipiell nicht zu einem körperlosen Geistwesen verfremdet werden: "Verstehet, daß die Natur des Menschen soll bleiben, und ist nicht gantz von GOtt Verstössen, daß also ein gantz fremder neuer Mensch solte aus dem Alten entstehen; sondern aus Adams Natur und Eigenschaft, und aus GOttes in Christi Natur und Eigenschaft, daß der Mensch sey ein Adam = Christus; und Christus ein Christus = Adam; ein Mensch = Gott, und ein Gott = Mensch." (Mm 51, 26) "... also auch muß der irdische Leib in sich Christum helfen gebären, ob er gleich nicht Christus ist, noch in Ewigkeit nicht wird, auch zum Reiche GOttes kein nütze ist, dennoch muß er ein Werckzeug helfen seyn;...". (Gw 8, 94) "...: Nicht ist der neue Mensch nur ein Geist, er ist im Fleisch und Blut; gleichwie das Gold im Steine nicht nur Geist ist, es hat Leib; aber nicht einen solchen, wie der grobe Stein ist, sondern einen Leib, der ... im Feuer bestehet; ...". (Mw I 14, 6) Böhme nutzt die Zwei - Naturen - Christologie also dahingehend, daß der Christenmensch über eine vom Körper deutlich unterschiedene, genuin leiblich - habituelle Ausdrucksgestalt verfügt, die nichtsdestoweniger ausschließlich an diesem Körper in Erscheinung tritt. Der Körper wird dadurch nicht mehr als unmittelbare Sinngestalt überschätzt. Im lebendigen und gestalthaften Zusammenspiel mit einem christomorphen Lebensentwurf gewinnt der Körper als Rollenträger zuallererst eine konkrete Bedeutung. Er inkarniert den Christus praesens zu einem raumzeitlich konkreten Konkreator, der die Körperwelt "regiere(n) und pflege(n)" (Mm 75, 26) soll. 44 Damit der nackte, unmittelbar vom Erlebnishunger der Seele beherrschte Körper nicht mit einer automatisch vorhandenen, rein vitalistischen Sinngestalt verwechselt wird, muß der "natürliche Mensch ... Knecht werden, und das monstrosische Huren = Bild ablegen und wieder neu = geboren werden; die Seele durch Christi Geist, und der Leib durch die Putrefaction der Erden, davon er am Ende der Tage soll geschieden werden, und wider ins Bilde 44

Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 141 ff. bes. 145: "Die körperliche Welt ist nicht Gott, aber der Mensch vermag sie zu einer Ausdrucksform zu einem Leib Gottes zu bilden so wie das Paradies es war." Böhme vertrete keine "moralisch = asketische Kirchenlehre". S. 241: "Aber selbst in dieser selbstisch = starren körperhaften Vereinzelung wird alles Einzelding als verleibter Gottesgedanke der Ahnung wenigstens kenntlich."

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

GOttes formiret werden." (Mm 76, 18) Das bedeutet erstens im Hinblick auf die noch nicht geschehene Neuschöpfung am Ende aller Tage, daß der an der prototypischen Sinngestalt des biblischen Christus bereits zu Lebzeiten gebildete Leib durch die eitrige Verwesung alles dessen, was nur körperdinglich vorhanden, nicht aber leibhaftig bedeutsam war, im Sinne der Alchemie noch endgültig geläutert werden muß, zweitens aber im Hinblick auf die den Getauften schon jetzt mögliche Entfaltung ihres künftigen Auferstehungsleibes, "daß der neue Mensch, aus GOttes Segen geboren, soll über alle Glieder seines natürlichen Leibes herrschen; und daß sie sollen dem neuen Menschen unterthan seyn" (Mm 55, 33). Das griechische Neue Testament spricht mit der stoisch - kynischen Popularethik des Hellenismus diesbezüglich von "εγκρατεια". 4 5 Böhme übersetzt: "Nüchtern seyn, ein mäßig Leben führen, ist eine gute Purganti" (Mw I 5, 25). "So sollen wir nun den Leib zähmen, ihme nicht Raum lassen, seine Begierde dampfen, nicht füllen wenn er will, sondern nur zur Nothdurft, daß er nicht ein geiler Esel werde, und den Teufel zur Herberge einlade." (3fL 8, 12). "Es gehöret ein wachendes Leben darzu, das sich casteye, und nicht mit dem fleischlichen wollüstigen Geiste dieser Welt überschütte, nicht ein immer = trunckenes volles Leben: Dann so bald die Seele mit der Kraft des irdischen Geists entzündet wird, so ... ist die Seele vom Geiste dieser Welt gefangen" (3fL 16, 22 = 12, 38). Böhme verlangt im Umgang mit dem eigenen Körper das paulinische Ethos des "ως μη" (vgl. 1. Kor 7, 29 - 31). Der Mensch solle in seinem Körper leben, "gleich als wäre er im äussern todt" (3fL 10, 25). Der leibliche Habitus des Christus praesens dient der Konzentration, indem er zeigt, "wie er seine eigene Natur soll lernen bändigen, und gegen GOtt führen, daß sie in allen Dingen begehre GOttes Werckzeug und Diener zu seyn" (Mm 48, 39). Aus dem "ως μη" (1. Kor 7, 29 - 31) folgt bei Paulus schließlich eine versöhnliche Bewertung von Körper und Körperwelt (Rom 8, 28): "Ob gleich der äussere Leib in dieser Welt ist, und der Eitelkeit unterworfen, so schadet ihme nun nichts mehr, ... alle Fehle, die er nun im Fleische thut, müssen ihme zum Besten dienen ...". (Mm 70,25) Die Rolle des Christenmenschen als ebenbildlicher Konkreator inmitten der Körperwelt zeigt dann endgültig eine positive Bewertung der Materialität. Der Mensch arbeitet an ihrer gestalthaften Phänomenalisierung, zu der ihr dingliches Vorhandensein nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Möglichkeit darstellt. Der Mensch verwesentlicht die chaotisch - mannigfaltige Potentialität der Körperwelt zugunsten einer leiblich - situativen Vermittlung und lebensweltlichen Verortung einer personal ad hominem ansprechenden Phänomenalität: 46 "Denn diese Welt ist von der Schöpfung in

45 46

Vgl. W. Grundmann, Art.: "εγκρατεια ...", in: ThWNT. Bd. II, S. 338 ff. Vgl. Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 142: "Der Trieb zur Gestalt offenbart sich vor allem in der Liebe zu jeder sinnlichen Gegenwart und Verleihung."

5.5. Die Bedeutsamkeit des Körpers für die Individualität

319

der ewigen Weisheit, als eine unsichtbare Figur von Ewigkeit gestanden, und die ist nun zu dem Ende als ein eigen Principium geschaffen, daß sie soll alle ihre Wunder und Wercke zum Wesen bringen, daß sie nach der Zeit erscheinen in ihrer Figur. ... keine Creatur kan der Welt Wunder an Tag und ans Licht bringen, als der Mensch: darum hat sich auch der Geist dieser Welt also sehr nach dem Menschen gesehnet..., daß er möge seine Wunder in ihme erzeigen, daß der Mensch solte alle Künste und Sprachen in ihm hervorbringen, darzu aus der Erden, aus den Metallen den Geist und das Hertze als den Edlen Stein Lapidem Philosophorum ...". (3fL 9, 6) Die Körperwelt soll nun nicht in beliebiger Vielfalt Wunder offenbaren, sondern primär zur Lebens- und Wohnwelt des Menschen ausgebaut werden. Der christenmenschliche Konkreator erscheint daher als Architekt des Mundus christianus, in dem "viele Wohnungen sind" (Joh 14, 2. 23), d. h. der nach Möglichkeit allen Menschen zugute kommen soll und kein exklusives Privileg der Getauften darstellt: "Denn ein Christen = Mensch ist eben als ein Zimmer = Beil GOttes, da GOtt sein Haus mit bauet, den heiligen Kindern zu einer Wohnung, und auch den Gottlosen; sie müssen die alle beyde bauen, inwendig aus dem Geiste bauen sie GOttes Tempel, und auswendig mit den Händen müssen sie dienstbar seyn,...". (Mm 39, 27) Gottesdienst und Askese münden wie bei Paulus so auch bei Böhme in die "οικοδομή", die jedoch wie der Christus praesens weit über die Grenzen der Ecclesia visibilis hinausgeht und in alle lebensweltlichen Bezüge des Christenmenschen hineinreicht. Der leibliche Habitus des Christenmenschen bedeutet also keinesfalls einen quietistischen Rückzug auf eine kirchliche oder seelische Provinz der Innerlichkeit, eine körper- und sinnenfeindliche Vergeistigung oder gar im Sinne einer übermenschlichen Biologie eine supranaturalistische Projektion der Leibhaftigkeit in nachzeitliche Jenseitigkeit. 47

5.5. Die Bedeutsamkeit des Körpers für die Individualität des christomorphen Habitus Eine Vita Christiana spielt sich also, wie eben gezeigt wurde, wenn überhaupt nur während der körperlichen Lebenszeit des Menschen ab. Insofern ist die körperliche Existenz des Menschen heilsentscheidend. Danach kann es zu einer mimetisch postfigurierten Inkarnation der Lebensgestalt des Christus praesens 47

Vgl. W. Eiert, Die voluntaristische Mystik, S. 94: keine "quietistische Gefühlsgymnastik" bei Böhme; Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, S. 141 f.: "Aus der Abkehr von so entfugter Gegenwart drohte Flucht vor dem Leben überhaupt zu werden, das dem Menschen nur in seiner persönlichen gegenwärtigen Gestalt gegeben ist. Böhme hatte, wollte er seiner Zeit Erlösung bringen, das Leben zu deuten und zu verwirklichen als im persönlichen im einmal Gegenwärtigen sinnvoll."

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

nicht m e h r k o m m e n : "Dann nach d i e s e m L e b e n ist k e i n W i e d e r g e b ä r e n mehr: dann die vier E l e m e n t a mit dem äussern Principio sind w e g , darinnen die G e b ä r e r i n i m W i r c k e n u n d S c h a f f e n stund; s i e hat n i c h t s m e h r z u g e w a r t e n n a c h d i e s e r Z e i t , ...". ( 3 f L 5 , 129) " ... d a n n n a c h d e m L e b e n ist k e i n b e s s e r M a c h e n , s o n d e r n e i n i e d e s bleibt als e s h i n e i n k o m m t . " ( 4 0 F 3 1 , 3 ) B ö h m e w e i s t d i e s b e z ü g l i c h auf das j e s u a n i s c h e G l e i c h n i s v o n d e n w e i s e n J u n g f r a u e n h i n ( v g l . 3 f L 11, 3 8 m i t expliziter E r w ä h n u n g v o n M a t t h 2 5 , 1 - 13), in d e m d e u t l i c h w i r d , d a ß d i e κ ρ ι σ ι ς mit d e m T o d e d e f i n i t i v a b g e s c h l o s s e n ist. D a n n k o m m t u n w e i g e r l i c h z u m V o r s c h e i n , o b der M e n s c h e i n e l e i b h a f t i g e G e s t a l t h e r a u s g e b i l d e t hat, d i e u n a b h ä n g i g v o m k ö r p e r l i c h e n V o r h a n d e n s e i n e i n e e i g e n e R e l e v a n z a u f w e i s t u n d d e s h a l b B e s t a n d hat, o d e r o b der M e n s c h m i t s e i n e m k ö r p e r l i c h e n V o r h a n d e n s e i n ins N i c h t s hinein v e r s c h w i n d e t : 4 8 "(E)s ist nur u m d a s Ä u s s e r e z u thun; w a n n d i e v i e r E l e m e n t a a m M e n s c h e n z e r b r e c h e n , s o ist d i e S e e l e s c h o n i m Paradeis, o d e r i m A b g r u n d e d e s Centri in der f i n s t e r n M a t r i c e ; a l l e s n a c h d e m e , w o r i n n e n d i e S e e l e in d i e s e r Z e i t auf E r d e n g e w a c h s e n ist." ( 3 f L 5, 1 2 6 ) D a s k ö r p e r l i c h e V o r h a n d e n s e i n

des

M e n s c h e n b i l d e t "bey l e b e n d e m Leibe" ( M w II 5, 15) d i e B a s i s d e s Erfahrungr a u m s e i n e r e s c h a t o l o g i s c h e n P r ä s e n z . 4 9 D e s h a l b w i r d bei B ö h m e d i e körperl i c h e L e b e n s z e i t , d i e "Zeit d e s ä u s s e r e n L e i b e s " ( 6 Pk 7, 18),

geradezu

e x i s t e n z i a l i s t i s c h b e t o n t : "(D)arum ist e s gut, a l h i e in d i e s e m L e b e n a u s w a c h s e n . [...] W e r d e n w i r alsdenn nicht G ö t t l i c h e Imagination, als G l a u b e n , in 48

49

Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § XIV/ S. 84 f., geht an dieser Spitze von Böhmes Verankerung des christenmenschlichen Lebenswillens in der Gegenwart vorbei, wenn er -Böhme fehlinterpretierend- im Sinne der traditionellen Kirchenlehre und deren Jenseitsspekulation behauptet: "Nun ist klar, daß der Stand nach dem Tode vorbereitend ist auf höhere Stände. Es ist der Scheol nach vielerlei Aussichten eine Gebärmutter der formlosen Seelen. ... (D)er Stand nach dem Tode ist ein Übergang zum neuen Leben." Eine formlose, weil leiblose Seele hat mit dem Ende ihres Körpers jede Möglichkeit zur Bekehrung zur göttlichen Gnade verwirkt. Es gibt keine postmortale, gleichsam automatische Verwandlung zum Christenmenschen, wenn die Seele nicht wenigstens ansatzweise die Leibesgestalt Christi aufweisen kann, so daß bei der für das materielle Körperding unausweichlichen "Putrefaction der Erden" (Mm 76, 18) wenigstens ein wenn auch noch so schemenhaftes Gezüge übrig bleibt, das wieder "ins Bilde GOttes formiret" (ebd.) werden kann. Böhme nähert sich dem jesuanischen Zeitverständnis deutlich an. Zur "realized eschatology" in der Verkündigung Jesu vgl. C. H. Dodd, The Parables of the Kingdom, Digswell Place/ Welwyn/ Herts. 1965, S. 34 f.: "The eschaton has moved from the future to the present, from the sphere of expectation into that of realized experience. [...] ... as 'realized eschatology'. Vgl. ebd., S. 157 ff. bes. S. 166 - 169 zum Geschichtsbegriff Jesu; S. 169: "The true prophet always fore - shortens." In Ensprechung zum typologischen Geschichtsverständnis (vgl. oben 1.3.2., bes. 1.3.2.2.) vgl. S. 168: "Thus we are at liberty to recognize in one particular series of events a crisis of supreme significance, and to interpret other events and situations with reference to it. Christian thought finds this supreme crisis in the ministry and death of Jesus Christ with the immediate sequel. Its supreme significance lies in the fact that here history became the field within which God confronted man in a decisive way, and placed before them a moral challenge that could not be evaded.... The whole series of events remains plastic to the will of God, and serves to bring men again and again face to face with the eternal issues."

5.6. Individuelle Eschatologie

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uns haben ..., du erlangest den nimmermehr" (Mw II 9, 2). "(U)nd alhie heissets Neu = geboren werden, oder ewig in der Höllen von GOtt verloren werden" (3fL 6, 58). "(A)lso lange der Mensch in dieser Hütten lebt, so hat er Macht GOttes Kind zu werden" (Ti I 558). "(I)n dieser Zeit, dieweil die Seele noch im Blut schwimmet und brennet, kann es wol seyn" (Mw III 5, 2). Präsentisch faßt Böhme die Eschatologie schon allein deshalb auf, weil er eine besondere Himmel- oder Höllenfahrt post mortem schlicht bestreitet: "..., es ist kein Einfahren auf solche Weise; dann Himmel und Hölle ist liberal gegenwärtig: Es ist nur eine Einwendung des Willens, entweder in GOttes Liebe oder Zorn; und solches geschieht bey Zeit des Leibes,...". (üL 37 = 3fL 5, 125; 40 F 1, 179; Ti I 266 f.; Mm 15, 24) Böhme geht es immer um den leibhaftigen Bedeutungsmehrwert raumzeitlicher Individuationen in der Körperwelt. Der Habitus des christomorphen Konkreators ereignet sich, wenn überhaupt, nur im banalen Hic et Nunc der alltäglichen Umgebung des Menschen: "Der Leib aus der Erden soll erst in der Auferstehung Christum essentialiter anziehen, die Seele muß in dieser Zeit Christum in seinem himmlischen Fleische anziehen, und in Christo muß der Seelen der neue Leib gegeben werden,...". (Gw 8, 98 = 3fL 18, 9) Eine nachzeitliche Metamorphose des menschlichen Körperdings wird von Böhme damit nicht a limine ausgeschlossen. Der Christenmensch sollte zu seiner Besinnung sich allerdings nicht darauf verlassen, sondern das Augenmerk auf einen gegenwärtig zu vollziehenden Gestaltwandel richten. Die Gefahr, mit Blick auf die reine Jenseitigkeit des geglaubten Heils ohne leibhaftige Konsequenzen für die Lebensführung in der Gegenwart letztlich nur die eigene Selbstgerechtigkeit und Untätigkeit zu rechtfertigen und zu überspielen, ist für Böhme allemal wesentlich realer und zerstörerischer. Wahrhaftigkeit des Glaubens gibt es nur als Leibhaftigkeit christlicher Lebensbildung.

5.6. Individuelle

Eschatologie

Wenn man den Habitus des Christenmenschen als Tatenleib auffaßt, der die gesamte Biographie mit allen menschlichen Ausdruckshandlungen virtuell in sich versammelt und einen eigenständigen leibhaftigen Präsenzmodus des Menschen unabhängig von seinem körperlichen Vorhandensein darstellt, dann ist es mit Böhmes biblisch - phänomenologischen Mitteln möglich, die individuelle Eschatologie ad hominem so zu reformulieren, daß sie aus dem Bereich indifferenter Spekulation zugunsten einer gegenwärtig nachvollziehbaren Lebensrelevanz herausgelöst werden kann. Zeit ereignet sich für Böhme nur unter der Voraussetzung der Körperwelt. Hier entfaltet sich der weisheitliche Prototyp der Schöpfung in phänomenaler Ausdifferenzierung (vgl. 4.1.1.): "Alles das, wessen diese Welt ein irdisch

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Gleichniß und Spiegel ist, das ist im Göttlichen Reich in grosser Vollkommenheit im geistlichen Wesen; nicht nur Geist, als ein Wille und Gedancke, sondern Wesen, cörperlich Wesen, Saft und Kraft, aber gegen der äusseren Welt wie unbegreiflich" (Sg 16, 20). Das leiblich - situative Erscheinungsbild der ausdifferenzierten Lebensweltphänomenalität weist erst nach Ablauf ihres basalen körperlichen Vorhandenseins in Raum und Zeit einen unhintergehbaren Bedeutungssurplus gegenüber der an sich nur potentiellen Prototypik der im Schöpfungsprozeß der Urkonstitution transzendental verorteten Weisheit auf. Die einzelnen Lebewesen, die sich raumzeitlich in der Körperwelt individuiert haben, sind um ihren leibhaftigen Lebensvollzug insofern bereichert, als sie sich unter den Bedingungen raumzeitlicher Kontingenzen, die Leib und Leben an Körper und Seele affektiv betreffen, bewährt oder nicht bewährt haben. Sie haben dann entweder die weisheitliche Prototypik in Freiheit selbständig nachvollzogen oder nur mit rein körperlichen Scheinkonstruktionen überformt. Nach dem Ende seines körperlichen Vorhandenseins "gehet ein iedes Ding in seinen ewigen Behälter ein: ..., dann darzu sind alle Ding erschienen, aufdaß die Ewigkeit in einer Zeit offenbar werde: Mit Wunderthat hat sichs in die Form der Zeit eingeführet, und mit Wunderthat führet sichs wieder aus der Zeit in ihren ersten Locum ein. Alle Dinge gehen wieder in das ein, daraus sie gegangen sind; aber ihr eigen Form und Model, wie sie sich im ausgesprochenem Halle haben eingeführet, behalten sie" (Sg 15, 48). "(D)enn im Sterben ist eine Trennung; alsdann erscheinet die Bildniß mit und in denen Dingen, was sie alhie hat in sich genommen" (Mw III 4, 3). Das gilt besonders für die Seele als dem Zentrum menschlicher Vitalität. Sie "bleibet bey ihren hie gemachten Wundern und Wesen, ... sie wohnet in ihren Wundern, das ist ihr Haus." (40 F 21, 3 f.) Der Habitus, den die Willensäußerungen der Seele eingenommen haben, erscheint nun unabhängig von den augenblicklichen Konstellationen in der Körperwelt, an denen er wirksam geworden ist und die ihn wesentlich mitgeprägt haben. "So nun der Leib zerbricht und stirbet, so behält die Seele ihre Bildniß, als ihren Willen = Geist: ietzt ist er von des Leibes Bildniß weg" (Mw ΠΙ 4, 3). Der Mensch behält auch ohne äußeres Körperschema, das postmortal durch die Verwesung alles Grobstofflichen zertsetzt wird, seine leibhaftige Lebensgestalt, die zu Lebzeiten die körperliche Ausdrucksmotorik mit einem unverkennbar individuellen und personal ansprechenden Stil belebt hat. Sie erscheint nun in der Form, wie sie von den Gegenständen, auf die der Mensch sich hin entworfen hat, maßgeblich mitgeprägt worden ist. "(W)as er in seinem Willen mitnimt, das ist seine Bildniß; wo sein Hertz ist, da ist auch ... seine Ewigkeit." (40 F 18, 22) Als Inbegriff seiner konkreten Ausdruckshandlungen verselbständigt sich der Lebensentwurf als ein eigenständiger menschlicher Präsenzmodus in individuell vollendeter Gegenwart (vgl. im Englischen das Tempus "present perfect"). "Die Figur bleibet im Willen stehen, dann der Wille kann nicht brechen, und muß die Seele also im Willen bleiben, und nimt die Figur für Materiam, und brennt

5.6. Individuelle Eschatologie

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i m W i l l e n ..., aber seine Materia des irdischen L e b e n s ... wird ihme abgebrochen." ( 4 0 F 18, 7 = 3 f L 12, 5 ) 5 ° V o n unseren "Wercke(n) oder G e m ä c h t e ( n ) " bleibt ihr "Schatten o d e r B i l d , w i e w o l sie wahrhaftig i m W e s e n bleiben" ( M w III 3, 8). "(A)lle W o r t e u n d W e r c k e ... b l e i b e n i m W e s e n der Figur; ... D r u m wird ein ieder G e i s t Freude und L e i d in seinen Wercken und Worten in der Ewigkeit haben" ( 3 f L 5, 1 3 2 f.). D i e R e s gestae, die ein M e n s c h in der Körperwelt vollbringt, gehören zur leiblich - lebensweltlichen Ausdifferenzierung seines Habitus. S i e bringen e i n e b l e i b e n d e Verbindlichkeit hervor, i n d e m sie untrennbar zur l e i b l i c h e n A u s d r u c k s g e s t a l t des s e e l i s c h e n Präsentationsgestus m e n s c h l i c h e n L e b e n s g e h ö r e n . 5 1 "(U)nd wisset, daß sie d o c h in j e n e m L e b e n erscheinen w e r d e n in der Figur, aber in anderer Qual" ( 3 f L 5, 134). D a s gilt ζ. B . für den Ehebruch: "Auch ist das ein Werck, das d e m M e n s c h e n i m Schatten nachfolget, und seine Qual wird i m G e w i s s e n dermaleines räge gemachet werden" ( M w 1 6 , 11). D i e G e w i s s e n s q u a l i t ä t der v o l l e n d e t e n G e g e n w a r t dieser Tat darf nicht darüber h i n w e g t ä u s c h e n , daß e s sich u m e i n e n leiblichen P r ä s e n z m o d u s handelt, in d e m d i e m e n s c h l i c h e Biographie in der nachzeitlichen N e u s c h ö p f u n g g a n z in

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Oetinger, Inbegriff der Grundweisheit, § X/ S. 68, verdeutlicht diesen Gedankengang am "descendit ad inferos" des Apostolicums: "Christus ... ist ... räumlich hingereist in die untersten Orte der Erde, in der Figur der Menschheit, die die Seelen alle haben, wenn sie aus der Hütte des Leibes ausgehen." Vgl. dazu in systematischer Hinsicht W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Vgl. auch H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 166 ff. und 272 - 274. Alle Sachverhalte, Programme und Probleme, die im lebendigen Ein - sowie Ausdruck einem Menschen widerfahren sowie von ihm hervorgebracht worden sind, sinken im ständig aufs Neue von der Zustelligkeit des Zu der Zukunft gezeitigten Lebensvollzug in die chaotische Mannigfaltigkeit der persönlichen Situation, wo sie implizit im Vergessen oder explizit in der Erinnerung gegenwärtig bleiben. Identität ist dementsprechend als ein Kometenschweit vorzustellen, den ein menschlicher Lebensvollzug hinter sich herzieht. Diese Vorstellung hat Konsequenzen für das Lebensende, das als vollendete Gegenwart die perspönlichen Situation in expliziter Erinnerung vollständig zur Anschauung bringt; vgl. dazu bes. S. 273 f.: "Das ist die Auferstehung der Toten, und nicht allein ihrer, sondern aller Gegenstände, die jemals gewesen sind, ζ. B. jeder Wolke, die einmal für eine kurze Frist am Himmel gestanden hat, jeder Laune, jedes noch so flüchtigen Eindrucks. Sie besteht darin, daß nichts mehr vorbei ist, weil kein Abschied mehr die Verangenheit von der Gegenwart trennt, sobald die Zukunft ausbleibt, durch deren Eintreten die Gegenwart aus der Dauer, die dann als Vergangenheit zurücksinkt, abgerissen wird. Bei der Auferstehung der Toten geschieht nicht etwas mit der Natur in der Zeit, sondern etwas mit der Zeit : das Ausbleiben der Zukunft. [...] Die Gegenwart, als Maßstab der Entschiedenheit (principium individuationis) in der Modalzeit nur das Wohin der Appräsenz, eine ideale Grenze, tritt dann rein hervor, als das zur Ewigkeit geronnene Plötzliche; das ist das jüngste Gericht. Ewigkeit ist Endgültigkeit, in die mit der Wiederbringung aller Dinge durch Ausbleiben der Zukunft die Welt eintritt. ... Auferstehung der Toten ... die Wiederbringung des Vergangenen." Die origenistische Gedankenfigur von der α π ο κ α τ α σ τ α σ ι ς πάντων erscheint bei Schmitz als "total recall", als totale Erinnerung der gesamten persönlichen Situation, die in die geamte umgebende Weltsituation implantiert ist, d. h. den gesamten lebensweltlichen Erfahrungsraum mitbetrifft und nicht in eine leiblose seelische Innerlichkeit introjiziert werden kann.

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

Analogie zur hiesigen Lebensweltschöpfung sich "infasst" (vgl. oben 4.1.1.) und von dieser Tat, wie von allen anderen Taten, gezeichnet und geprägt als leibliche Gestalt vorstellig wird. Es geht in der Eschatologie Böhme zufolge um einen Tatenleib qua leibhaftig inkarniertem Rechenschaftsbericht: "...: dann das Fiat zeucht den Leib an die Seele mit allen seinen Thaten und Wundern, mit allem deme, was er alhie gethan hat mit Worten und Wercken; alles was der Seelen Abgrund erreichet hat, das muß hervor. [...] Der Leib der hie auf Erden gegangen ist, der böse verderbte Leib, ... der soll kommen, und darstehen mit der theuren Bildniß in ihme; er soll Rechenschaft um GOttes Bildniß geben. [...] Dann ... wird alles in seiner Ordnung dargestellet werden vom Fiat, als einem Könige und Kayser seine Unterthanen, über welche er geherrschet hat, einem Fürsten, Edelmann, Bürgermeister und Obern, ein ieder in seinem Ruffe. [...] Nun gebet Rechenschaft von eurem Leben, Worten, Wercken, Thaten und Wesen;... dann ietzt wird alles in der Figur in ihnen und ausser ihnen vor ihnen stehen, daß also kein Leugnen seyn wird; dann der Geist prüfet... Seel, Geist und Fleisch; hie ist alles offenbar." (40 F 30, 50. 53. 64. 66) Das biblischerseits präformierte jüngste Gericht kann es Böhmes phänomenologischer Deskriptionstechnik zufolge also nur geben, weil sich die Biographie des Menschen an seiner leibhaftigen Ausdrucksgestalt wie an einem virtuellen Bild ablesen läßt, nämlich "daß uns unsere Wercke sollen nachfolgen, da ein ieder soll ernten was er gesäet hat. Apoc. 14: 13." (3fL 4, 52 = 8, 46; 11, 37. 61; Mm 22, 47 f.; 58, 23; Ti II 268) Menschen werden als Autoren der Rolle beurteilt, die sie sich auf den Leib geschrieben haben. "In eines ieden Wercken wird man erkennen was ieder gewesen ist, wann sie ihren Kram werden in der himmlischen Magia darstellen, als die Kinder im Spiele thun." (40 F 32, 12) Böhme denkt ganz theateranthropologisch. 52 Wenn der Schauspieler von der Bühne abtritt, bleibt der Eindruck der dargebotenen Rolle bestehen. "Was er aus sich machet, das ist er" (Ti I 584). "Also siehest du Mensch, was du bist; und was du ferner aus dir machest, das wirst du in Ewigkeit seyn" (Mw II 6, 7). So tut sich hier noch einmal die dualistische Alternative hinsichtlich des Scheiterns und Gelingens auf. Der an der Gestaltungsaufgabe des Lebens gescheiterte Homo faber findet sich nachzeitlich ewig auf den amorphen Flickenteppich seines Lebens festgelegt; "so stehet er alsdann blos" (40 F 1, 241). Der Christenmenschen bietet dagegen eine ebenbildliche Infassung des schöpferischen Gotteslebens dar: "Wol nun denen, welche Christi Geist haben, die haben ihre erste Bildniß im Verbo Fiat, daß muß sie wieder geben, und eben in den Adamischen Leib an die Seele. Welche aber Christi Geist nicht haben werden, die werden wol in dem bösen Leibe darstehen; aber ihre Seele 52

Systematisch vgl. hierzu H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. VII, Frankfurt/ Main 1982.

5.6. Individuelle Eschatologie

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wird die rechte Bildniß verloren haben, und werden eine Bildniß im Seelen = Geiste haben, nachdeme sie im Willen sind gestanden, was ihre tägliche Lust ist gewesen, also wird ihre Bildniß seyn." (40 F 30, 54 f.) Böhme spricht im Hinblick auf das jüngste Gericht in enger Anlehnung an Paulus (vgl. 1. Kor 3, 11 - 17) von einer "Feuerprobe", in der sich der Charakter des leiblichen Habitus bewähren soll, ob er in einer nachzeitlichen Neuschöpfung Bestand habe oder sich ins Nichts hinein auflöse. Das Kriterium besteht für Böhme darin, ob die Vorhaben, an denen der Mensch seine seelische Lebendigkeit zum Ausdruck gebracht hat, so verfaßt waren, daß sie die phänomenale Ausdifferenzierung der Lebensweltschöpfung bereichert haben. Nur "Geist mit Leibe" (40 F 1, 238) hat einen bleibenden Bestand. Ansonsten kommt nur die "Turba" (ebd.), der amorphe Drang nach "Mehr Leben", zum Ausdruck. Ohne Körperwelt mäandriert die Seele aber in das Nichts hinein, da sie keine eigenständige Gestalt hervorgebracht hat: "Der alte Adam ... soll durchs Feuer GOttes bewähret werden, und die Wunder wiedergeben, die er verschlungen hat: Sie müssen wieder zum Menschen kommen, und dem Menschen nach seinem Willen erscheinen, so fern er sie alhie hat in GOttes Willen gemachet; Wo aber zu GOttes Unehre, so gehören sie dem Teufel im Abgrunde. Darum sehe ein ieder zu, was er alhie thue und mache, mit was Gemüthe und Gewissen er rede, thue und wandele, es soll alles durchs Feuer bewähret werden: und was dieses Feuers wird fähig seyn, das wirds verschlingen, und dem Abgrunde in die Angst geben; dessen wird der Mensch Schaden haben, und in jener Welt entbehren, daran er könte und solte Freude haben, daß er wäre ein Arbeiter in GOttes Weinberge gewesen. ..." (Mw II 6, 13 f. = 5, 15; 3fL 11, 36; 40 F 1, 238; 30, 80; 31, 2) Mit der "Feuerprobe" wird zugleich deutlich, welcher Konsistenz der nachzeitliche Leib des Menschen ist. Er wird von Böhme feinstofflich beschrieben, da er weder dem "élan vital" unvermittelter Willensenergie der Seele, noch der grobstofflichen Materialität entspricht. Im ersten Falle wäre er mit dem Feuer identisch, im zweiten Fall würde er rückstandslos verbrannt. Die dann in Erscheinung tretende leibliche Präsenz des nachkörperzeitlich, leibhaft ewigen menschlichen Individuums dagegen kann sich auch weiterhin vor Ort des Eindrucksspürens am eigenen Leibe als ein atmosphärischer "sentiment de présence" im prädimensionalen "Weite - Raum" manifestieren. Im Unterschied zu diesem weist sie aber eine gemeinsinnlich voll ausdifferenzierte, personal ad hominem ansprechende leibliche Gestalt auf. Der körperlich verstorbene Mensch erscheint auf diese Weise der leiblich verspürten Erinnerung seiner nur körperlich hinterbliebenen Mitmenschen. Er bleibt gleichwohl gegenwartsräumlich verortet als leibhaftig persönliche Atmosphäre bzw. geistleibliche Hypostase: 53 "...: Nicht grob thierisch Fleisch, als wir im alten 53

Vgl. H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. III/ 4, S. S. 98 ff. 107 - 109, zum "sentiment de présence" und den davon eigens zu unterscheidenden persönlichen Atmosphären

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5. Leib und Körper: Lebenshaltungen des Christenmenschen und des Homo faber

A d a m haben; sondern subtile Fleisch und B l u t , . . . das da kann durch Holtz und S t e i n e g e h e n ..., w i e Christus zu seinen Jüngern durch die verschlossene Thiire e i n g i n g , das ist ein Leib, in w e l c h e m keine Turba noch Zerbrechen ist; dann die H ö l l e kann Ihn nicht ergreiffen: Er ist ähnlich der Ewigkeit, und ist d o c h w a h r h a f t i g F l e i s c h u n d Blut, das unsere h i m m l i s c h e Hände betasten, g r e i f f e n u n d fühlen, ein sichtlicher Leib, als h i e in dieser Welt." ( 4 0 F 33, 13 = M w I 2 , 13; 14, 7) E s dürfte somit deutlich g e w o r d e n sein, daß eine t y p o l o g i s c h - p h ä n o m e n a l i s i e r e n d e B e s i n n u n g auf das g e g e n w ä r t i g e G l a u b e n s l e b e n des Christenm e n s c h e n sich auch auf die private E s c h a t o l o g i e erstreckt, insofern diese lediglich die " A u f h e b u n g der Gegenwart" in eine Art v o l l e n d e t e m Präsens b z w . "present perfect" darstellt. 5 4 D i e nachkörperzeitliche Leibesgegenwart vor Gott

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als leibhaftig - gegenwartsräumliche Präsenzmodi individuell und persönlich ansprechender Epiphanien numinoser Gestalten. In diesem Sinne erscheinen Erinnerungsgestalten vor Gott wie vor den Menschen in leibhaftig - gegenwartsräumlicher Vermittlung. Vgl. H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 271 - 274, dort auch die Perspektive des Verstorbenen, der seinerseits auf die andauernde Gegenwart seiner ihm vollständig präsenten Lebensgeschichte und persönlichen Situation festgelegt ist, da er nicht mehr die Zustelligkeit des Zu der Zukunft zu gewärtigen hat, in dem die personale Entfaltung der Gegenwart immer wieder auf das Augenblickliche Nu, die primitive Gegenwart, zusammengedrängt wird und von daher immer unabgeschlossen und unscharf hinsichtlich ihrer Identität bleibt; bes. S. 274: "Ewigkeit ist die Endgültigkeit, in die mit Wiederbringung aller Dinge durch Ausbleiben der Zukunft die Welt eintritt. Dann ist ein für allemal jede Neuerung abgeschnitten; die Zukunft kann nicht wiederkehren, nachdem sie einmal ausgeblieben ist, denn dann stünde noch etwas bevor und sie wäre gar nicht entfallen. Die beim jüngsten Gericht eintretende Entschiedenheit kann man so verstehen, daß alle Maßstäbe und Gesichtspunkte ganz streng, scharf und prägnant werden, insbesondere alle Gattungen, die in der Zeit etwas Verschwommenes haben, wie sogar die Identität, für die ... keine allgemeine und eindeutige Kennzeichnung gelingt. Identität ist die Grundlage aller Eindeutigkeit; ihre maximale Schärfung gehört daher ganz besonders zum jüngsten Gericht. ...; sonst wäre das jüngste Gericht nicht die Auferstehung der Toten..., die Wiederbringung des Vergangenen." Vgl. auch ders., Die Aufhebung der Gegenwart, in: ders., System der Philosophie. Bd. V, Bonn 1980. Analog als Abschluß der Entwicklung der Person zu vollkommener lebensgeschichtlicher Identität von Selbst und Ich begreift Pannenberg die Aufhebung der Gegenwart im Tod und im jüngsten Gericht. Er konzentriert das Augenmerk jedoch zugleich auf das Fragmentarische und Torsohafte, das die Lebensgeschichte von sich aus als Charakter annehmen kann, wenn der Tod den Menschen zu früh aus seinem Lebenswerk herausreißt und er dieses unvollendet zurücklassen muß. Er kann dadurch später die vom Tode nicht zerstörbare dialogische Bezogenheit Gottes in Jesus Christus auch auf unvollständige Lebensgeschichten mit dem Gedanken der Rechtfertigung "allein aus Gnade und nicht durch des Gesetzes Werke" näher bestimmen. Sogar Torsos können auf diese Weise von Gott als "etwas Ganzes vom Leben" (Oetinger) angerechnet werden; vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 229 ff., bes. S. 231 der Hinweis auf Sartres Bestimmung des Todes als sinnwidriger Absurdität; auch S. 279 ff. Hirsch, Jakob Böhme, S. 221, bemängelt, daß Jakob Böhme die Denkzumutung von der traditionellen Kirchenlehre behaupteten "fleischlichen", d. h. körperdinglichen, Auferstehung zu entziehen versuche, indem er, wenn auch genial, diesen Anstoß wegrationalisiere. Auch hier ist die oben schon angeklungene Frage zu stellen, ob es denn mit der Wiederholung solcher traditionellen Denkzumutungen getan ist, zumal wenn die Schrift

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wie in der Erinnerung der körperlich Hinterbliebenen basiert auf dem schon jetzt gegenwärtigen Habitus des Menschen. Beide sind von der körperlichen Existenz eigens unterschieden. Der einzige Unterschied besteht für Böhme nun darin, daß post mortem die biographische Vollgestalt des menschlichen Lebensvollzugs sich eindeutig abzeichnet, da mit dem Ende körperlicher Zuund Unfälle keine neuerlichen Sinnbildungen mehr zum leiblichen Erscheinungsbild der individuellen Seele hinzukommen können. Das Lebensbild ist in sich abgeschlossen und tritt in die terroristische "Selbstreferenz" eines nach außen hin hermetisch abgeschlossenen Textkorpus über. Dessen Aufbau kann nicht mehr verändert werden, da die Rolle nicht mehr vor dem unbedingt notwendigen Bühnenhintergrund der Körperwelt mit auktorialer Authentizität fortgeschrieben werden kann. Wohl dem, der dann auf diese Weise incurvatus in seipsum einer Gestalt angesichtig wird, die einem genuin leibhaftigen Menschenleben auch tatsächlich genügt! Sonst findet der von seiner eigenen Absolutsetzung unvertretbar und unausweichlich betroffene Mensch bei sich nämlich keine Ruhe, da er seiner eigenen Unfertigkeit auf ewig ausgesetzt ist. Es kommt gerade nicht zu der schon von Augustin im Anschluß an Hebr 3, 7 - 4, 13 beschworenen ewigen Sabbatruhe als dem letzten Endes einzig unzerstörbaren Heilsgut des leibhaftigen Christenmenschen. Das Herz, das bei Augustin als Inbegriff der leibhaftigen Person steht, soll in der vollendeten Gegenwart Gottes ohne innere Unruhe zu seiner endgültigen Gestalt stehen können: "(F)ecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donee requiescat in te." (Augustin, Confessiones I, 1, 1, 1) Die christliche Auferstehungshoffnung verheißt dem Christenmenschen mit seiner christomorphen Leibgestalt stattdessen eine derartige leibhaftige Selbsterkenntnis, angesichts der der Mensch tatsächlich zur Ruhe kommen kann, da er nicht ewig der Mängel des eigenen Leibes und Leibenslebens angesichtig sein muß und nicht auf seine vereinzelte Lebensgeschichte in völliger selbstreferentieller Isolation festgelegt wird, sondern stattdessen die universale inkarnationsmorphologische Bedeutungsgestalt des Christus praesens am eigenen Leibe im Modus der darstellenden (repräsentierenden) Stellvertretung vollkommen ver-stehen kann. Von hier aus öffnet sich der Horizont auf seine individuelle Stellung inmitten des schöpferischen Gotteslebens, an dessen Phänomenalisierung mitgewirkt zu haben ihm nun "ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit" (BSLK, S. 511) frei zuerkannt wird. "Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin." (Paulus, 1. Kor 13,

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selbst dem typologisch auf sie Bezug nehmenden Theologen bzw. erfahrungssoteriologisch orientierten Anthropologen die Möglichkeit bietet, den auch von Böhme voll mitgetragenen Bekenntnisgehalt anders zu phänomenalisieren, u. z. so, daß dieser vor Ort des Spürens am eigenen Leibe eine aufdringliche Plausibilität erhält. Zur terroristischen Selbstreferenz eines hermetisch nach außen hin abgeschlossenen Textkorpus vgl. J. Derrida, Grammatologie.

6. Homiletisch - paränetische Konkretion Der dem Menschen anempfohlene christenmenschliche Lebenshabitus, durch den das reine Vorhandensein des Homo faber als Körper und Seele inmitten einer amorphen Körperwelt soteriologisch überboten wird, bedeutet, wie schon häufig betont (vgl. bes. 2.4.; 5.4.), keineswegs einen quietistischen Rückzug auf eine reine Innerlichkeit oder nachzeitliche Jenseitigkeit des Menschen. Böhme fordert expressis verbis ein öffentliches Ausdruckshandeln des raumzeitlich individuierten Christenmenschen: "... Wir müssen in dieser Welt in diesem mühseligen Jammerthal mit Werben und Wercken umgehen, wir sollen nicht in Löcher, Clausen und Winckel kriechen, denn Christus spricht: Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie euren Vater preisen in euren Wercken; Matth. 5: 16. ...". (3fL 12, 35) Die Öffentlichkeit der "gute(n) Wercke" (Mw II 7, 15) besteht im "Exempel geben" (Mw II 5, 18), so daß andere zu einem christomorphen Lebenswandel animiert werden. Dieses öffentliche Ausdruckshandeln soll nun aber nicht auf einen kultischen Sonderbezirk beschränkt bleiben. "Es wäre besser, keine Ceremonien, sondern nur blos der Gebrauch des ernsten Befehls GOttes, was Er uns in seinem Bunde und Testament hat gelassen" (3fL 11, 56; vgl. auch oben 2.4.). Sacrum officium bzw. Sacrificium erstrecken sich weit über die Grenzen der sonntäglichen Veranstaltung des Kirchgangs hinaus in das Alltagsleben. Böhme folgt der reformatorischen Übersetzung der sakralen Opfersymbolik der mittelalterlichen Abendmahlsszene in das alltägliche Leibesleben des Christenmenschen (vgl. Rom 12, 1), "da Christus in ihnen wircket, lebet und ist" (Gw 8, 80, hier in deutlicher "Doppellektüre" mit Apg 17, 28). 1 Es geht primär um den gegenwärtigen Vollzug des Glaubenslebens in einem dem Glauben strukturell genau entsprechenden, weil derartig gestalteten Ausdruckshandeln. "Wilt du, daß dein Göttlich Glaubens = Feuer brennen soll, so must du dasselbe auf= blasen, und ... ins Leben Christi eingehen ..., und sein Werck treiben" (Mw II 7, 15). Böhme fordert entsprechend der Theologie des Jakobusbriefes seine Leser auf, "Thäter des Worts" (Mw Π 7, 14 = Jak 1, 22. 23. 25; vgl. auch "der Wissenschaft Thäter" in Ti II 301) zu werden. "Thun, Thun muß es seyn, oder es gilt nicht." (t 1/ til/ abm Vorr., 12 = Ti II 61) "Er muß thun, nicht allein wissen. ... Die Practica muß folgen, oder es ist ein Falsch und Trug." (Mw Π 5, 16 = Mm 69, 28) 2 1 2

Vgl. dazu auch W. Stählin, Mysterium, S. 113 f. 139 - 147. Vgl. auch The Book Of Common Prayer, S. 276 f. Vgl. Ε. H. Pältz, Zum Verständnis, S. 15 f.: "Practica" sei "Anleitung zum 'Existieren'", Ders. Jacob Boehmes Gedanken, S. 89: "Boehmes Verkündigung" sei "auf die 'Practica',

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6. Homiletisch - paränetische Konkretion

Für Böhme geht es keineswegs um die Einführung synergistischer Werkgerechtigkeit. Dazu fehlt bei ihm die notwendige Zuschreibung der guten Werke zu einer eigenständigen menschlichen, von Christus zu unterscheidenden Intention. Diese kommt im christenmenschlichen Habitus aber gerade nicht mehr zum Tragen: "Und was wir thun, das thut Christus in uns, und GOtt in Christo." (3fL 11, 72 = 12, 35) Der das menschliche Ausdruckshandeln als christomorph charakterisierende Habitus wird auch nicht mit dem seelisch körperlichen Vorhandensein des Menschen und dessen unmittelbaren Willensäußerungen verwechselt: "(A)uch kann der Mensch nicht sagen: Ich bin Christus, weil Christus in ihm wohnet und wircket, als in seinem Ebenbilde oder geformten Worte GOttes." (Mm 70, 63) Synergismus und Werkgerechtigkeit werden expressis verbis zurückgewiesen: "Die Gnade kommt nicht aus Verdienst der Wercke, sondern aus dem Lebens = Brunnen Christo alleine, aber die Wercke bezeugen, daß die Gnade in Christo in der Seelen lebendig sey; denn folget das Werck nicht, so ist Christus in dir noch nicht auferstanden aus dem Tode: denn wer aus GOtt geboren ist, der thut Göttliche Wercke; wer aber aus der Sünde ist, der dienet der Sünden mit seinen Wercken." (Gw 11,6 = wGl 2, 39 f.) Trotz der deutlichen Zurückweisung von Synergismus und Werkgerechtigkeit wird jedoch betont, daß die prototypische Glaubensgestalt des biblisch offenbaren Christus praesens nur so vor Ort der Glaubensgegenwart des Christenmenschen sich als Habitus inkarnieren kann, daß dieser am Ausdruckshandeln des Menschen spürbare und nachvollziehbare Konsequenzen zeitigen muß. Es geht Böhme also um die unhintergehbare Isomorphie von Glaubensinhalt und Lebensgestalt: "Nein Fritz, aus Glauben muß Gerechtigkeit und Wahrheit erfolgen, ein eiferiges Hertze zur Gerechtigkeit und Wolwollen" (3fL 11,54 = wGl 2,40).3

3

die Verwirklichung des Gotteswillens gerichtet". Auch ebd., S. 93: "Es ist nicht zu übersehen, daß in der Wirkungsgeschichte seiner Gedankenwelt die 'Leiblichkeit', der Wirklichkeits- und Weltbezug des Glaubens besonders nachdrücklich zum Tragen gekommen sind." Auch hierin argumentiert Böhme gut lutherisch, indem er nämlich sorgfaltig differenziert zwischen dem "Christus - in - nobis" als der eigentlichen Antriebskraft zu guten Werken, und des Menschen eigener Kraft abgesehen von dessen leibhaftiger Ergriffenheit durch den Christusgeist (Mm 70, 63): "Derselbe wesentliche Glaube ist auch der Rebe am Weinstock Christi, welche Kraft den gantzen Menschen durchdringet, wie die Sonne ein Kraut. Nicht daß solche Gewalt bey dem Leben des Menschen stünde, daß er könte GOttes Wesen in eigener Kraft nehmen; Nein, es wird ihm aus Gnaden gegeben, gleichwie sich die Sonne dem Kraut aus ihrem Willen giebet, das Kraut aber darum nicht sagen kann: Ich bin die Sonne, darum daß die Sonne in ihm wircket; also auch kann der Mensch nicht sagen: Ich bin Christus, weil Christus in ihm wohnet und wircket, als in seinem Ebenbilde oder geformten Worte GOttes." Vgl. M. Luther, Von den guten Werken. 1520, in: BoA. Bd. I, Bonn 1912, S. 227 - 298. Vgl. dazu schon Melanchthons Luther - Interpretation in CA VI und XX, die sich trotz der gnesiolutherischen Streitigkeiten aufgrund der hohen Schätzung der CA im frühneuzeitlichen Luthertum schließlich durchsetzt.

6. Homiletisch - paränetische Konkretion

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Böhmes zentrale Frage lautet also, "wie der Glaube zum Wesen komme" (Mm 52, 9). "(A)lhie gilt es nun erst mit der That Beweisens, daß wir uns lassen Christen nennen" (wB I 39). Der "Wesentliche Glaube und Christus selber im Menschen, der im Menschen bleibet, der des Menschen Leben und Licht ist" (Mm 70, 63), entspricht also als "gebildete(s) Wort, oder Ebenbild GOttes," (ebd.) dem Glauben, der in der paulinischen Paränese "durch die Liebe tätig ist" (Gal 5, 6). Der griechische Text verwendet "ενεργεισΦοα", also wörtlich: "sich ins Werkwirken setzen". Böhme modifiziert das unpersönliche Medium des griechischen Originals zu einer persönlichen Vermahnung an den Glaubenden, seinen Glauben auch tatsächlich in der Liebe wirksam werden zu lassen: "(S)o soll er es ins Werck richten, nicht nur wollen, und nicht thun: Im Wollen stehet der Zug des Vaters zu Christo, aber im Thun stehet das rechte Leben." (nWgb 5, 6) Die diffuse Erlösungssehnsucht des Menschen erfüllt sich nur dann, wenn die geahnte Lebensgestalt sich im biblisch offenbaren Christus praesens derart manifestiert, daß dessen Prototypik alle menschlichen Lebensäußerungen fortan maßgeblich bestimmt. "Er muß in uns eine Gestalt gewinnen, sollen wir im Himmel seyn" (nWgb 5, 14 = Gal 4, 19). Die Aktivierung der biblisch offenbaren Sprachgestalt des Glaubens entspricht einer Sprachhandlung, d. h. dem mimetischen Mitvollzug des Gestaltverlaufs des biblischen Lebensbildes Jesu Christi im jemeinen habituellen Lebensvollzug. Böhme markiert deshalb einen scharfen Unterschied zu einem vom eigenen Lebensvollzug künstlich abstrahierenden "Reden über Gott" 4 mit dem kognitivistischen Distanzierungsgestus orthodoxer Metaphysik (vgl. oben 2.1.): "S. Paulus sagte nicht zu seinem Jünger: Disputire vom Geheimniß GOttes; sondern: Erwecke die Gaben, die in dir sind. 2. Tim. 1: 6." (3fL 16, 21) Erst das tatsächlich vollzogene Ausdruckhandeln des Christenmenschen weist jenen irreduziblen Surplus auf, an dem Böhme soviel liegt. Ein gutes Werk schafft eine subjektive Tatsache, von der sich der betreffende Christenmensch schlechterdings nicht distanzieren kann, wie von einem bloßen Gedankenspiel, da er die Konsequenzen des Werks in seiner lebensweltlichen Umgebung notwendig am eigenen Leibe mitzutragen hat. Das Werk stiftet eine Verbindlichkeit, die Böhme atmosphärisch charakterisiert. Gute Werke transformieren die chaotische Fülle der Körperwelt zu einer bewohnbaren Lebenswelt, so daß der vitale Drang der Seele eine leiblich - habituelle Behausung findet, in der sie daran gehindert wird, ins Nichts hinein zu mäandrieren: "Das Werck ist ... das Gebäu, das der wahre Geist in seinem Wesen bauet: es ist sein Wohnhaus" (nWgb 6, 17). Die Glaubenserkenntnis besteht bei Böhme unmittelbar aus dem Glaubensvollzug in "Wesen, Worte(n) und Thaten" (Mm 27, 45 - 48). Die Schrifterkenntnis gestaltet sich dementsprechend so, daß "ihr mit dem Buch-

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Vgl. R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), S. 26 f.

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6. Homiletisch - paränetische Konkretion

stabischen Worte selber mitwircken sollet." (ApR 45) 5 Der mimetische Mitvollzug resultiert aus dem "wirckende(n) Wort" (Mm 54, 13) der biblischen Prototypik, da dieselbe als ein "Realbild" im Sinne Tillichs (vgl. oben 1.3.1.) auf eine bewährende Manifestation in einer jemeinen Lebenswirklichkeit zielt. "Es ist eine lebendige, thätliche, wirckliche Gnade" (abm 4, 25). Das dem biblisch offenbaren Glauben verheissene Heil verstehend sich aneignen können nur "diese, welche in der Gnade lebendig sind, und in der Gnade gute Wercke wircken" (Gw 11,8 = 11, 30). "(D)enn der rechte Glaube ist nicht nur eine eingebildete Figur, sondern ist Kraft, Geist und Leben" (ApR 46). Die Lebensrelevanz des christlichen Glaubens ereignet sich also in der Praxis pietatis und erschließt sich daher nur dem konkreten Christenmenschen in seinem Lebensvollzug. Böhme denkt bei Praxis pietatis an folgende Handlungsfelder: Private religiöse Übungen wie "Beten, Fasten, und sich zum Reich bereiten" (3fL 16, 7 = 16, 22) 6 gehören genauso zu den guten Werken wie die Arbeit in Gottes Weinberg als Konkreator bei der göttlichen Lebensweltschöpfung (vgl. Ti II 168). Die Rolle eines Konkreators nimmt ein jeder Mensch bereits dann ein, wenn er seine alltägliche Berufsarbeit leistet (40 F 12, 22). Dazu ist keine Metaphysik oder übertriebene Esoterik notwendig. Den Universitätstheologen und seinen alchemisch gebildeten Zeitgenossen hält Böhme scharf entgegen, als wären sie allesamt praxisferne Gnostiker und quietistische Esoteriker: "(V)iel Wissen ist euch kein nütze, lerne ein ieder sein Werck, damit er seinen Leib nehret, er sey ein Oberer oder ein Laye." (3fL 12, 35) Hinsichtlich der christenmenschlichen Berufung im Taufstand gibt es keine Hierarchie. Diese erstreckt sich nur auf die körperliche Existenz des Menschen, nicht aber auf seine leiblich - habituelle Anspruchsqualität als Christenmensch (vgl. 3fL 12, 36; 17, 7; Mm 33, 5 - 9). Aus der leibhaftigen Christenmenschlichkeit resultiert nämlich eine neue Nuancierung der öffentlichen Verkehrsformen des Menschen. Er ist in puncto Gewissenhaftigkeit und Beschämbarkeit insofern hochgradig sensibilisiert, als ihm durch das Gefälle der bilischen Prototypik in die homiletisch - paränetische Konkretion die leibhaftigen Konsequenzen seines Tuns für andere wie für ihn selbst hinsichtlich seines Spürens am eigenen Leibe immer wieder aufs Neue, zu jeder Zeit und in jeder Situation, szenographisch phänomenalisiert werden. Der wechselseitige Umgang soll die Christusgestalt zum Ausdruck bringen. "In Handel und Wandel habt Gerechtigkeit lieb, dencket, daß ihr eure Wercke Gott treibet.... (T)hut alles von gantzem Hertzen in reinem Gemüthe, dencket, daß ihrs Christo thut, und daß es Christi Geist in euch thut!" (3fL 12, 35) Dazu gehört die Ehrlichkeit in Geldverkehr und Warenaustausch: "(N)icht mit Heucheley einem gedoppelt 5 6

Vgl. K. Huizing, Homo legens, S. 209 ff. Zur Übersetzung altkirchlicher "Askese" und ignatianischer bzw. sonstwie klösterlicher Exerzitien ins Protestantische als private religiöse Leibesübungen inmitten des alltäglichen körperlichen Weltumgangs vgl. auch W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, S. 137 ff.

6. Homiletisch - paränetische Konkretion

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oder vierfach nehmen, und dem andern eine Parteke geben." (Ti II 180) Gottesdienst ist bei Böhme daher nichts anderes als die Inszenierung von Nächsten- als Geschwisterliebe: "Wenn wir uns nur selber suchen und lieben, so lieben wir GOtt: was wir uns selber unter einander thun, das thun wir GOtt; wer seinen Bruder und Schwester suchet und findet, der hat GOtt gesuchet und funden." (3fL 11, 106)7 Die Negativfolie zum Ausdruckshandeln des wahren Christenmenschen bildet der lebenspraktische Egoismus des Homo faber, der ohne Rücksicht auf Verluste nur darauf bedacht ist, seine Lebensmöglichkeiten zu steigern. Solche Menschen können gleichwohl getauft sein. Sie bewähren sich jedoch nicht als Christenmenschen in ihrer alltäglichen Lebensführung: "(D)enn sie sind in Christi Geiste beruffen, Er hat sich ihnen eingegeben, mit ihnen gewircket, und ihre Vernunft erleuchtet; aber sie sind nicht aus Christi Geiste geboren worden, sondern in der Welt Wollust, sie haben Christum nur mit Füssen getreten, und Ihme nie gedienet, Christus ist ihnen Hungerig, Durstig, Kranck, Gefangen, Nackend und Elend gewesen, und sie haben Ihme nie gedienet: Sein Name hat wol in ihrem Munde geschwebet, aber ihre Seele hat sich stets in eigene Lust der Welt und des Teufels eingewendet, und haben Christum lassen stehen" (Gw 8, 78). Menschen dieser Art vernachlässigen den leiblichen Habitus des Christenmenschen. Statt aktiver Leibsorge, monopolisieren sie vitalistisch ihr körperliches Vorhandensein inmitten der chaotischen Fülle der Körperwelt zugunsten einer leiblich - situativ nurmehr völlig unvermittelbaren Steigerung ihrer Lebensmöglichkeiten ins Unendliche, wodurch der vor dem Andrängen der unwillkürlichen Wirklichkeit bergende Rahmen einer gehegten Lebensund Wohnwelt gesprengt wird. Daß eine derartige Lebensführung letztlich zum Scheitern verurteilt ist, da sie die Bedrohung durch das Nichts nicht ernst genug nimmt, ist bereits ausgeführt worden (vgl. bes. 5.2. ff.). Im zwischenmenschlichen Bereich kritisiert Böhme daher Heiraten aus Staats- oder Geschäftsräson, die für ihn nur vorgeschobene Gründe zur Legitimierung profaner Gewinnsucht sind. Er plädiert für die Liebesheirat, an der die Christusgestalt in der Alltags weit zum Ausdruck kommt (vgl. Eph 5, 22 33). Ansonsten würde wiederum Hochmut menschliches Lebensglück zerstören (vgl. Gw 8, 51 f.). Etwas anders als die kühle Berechnung eines das Menschenpaar vergegenständlichenden Ehekontrakts schadet aber auch die viehische Lust einer auf sexueller Gier basierenden Beziehung der Eheleute der von ihnen antitypisch zu inszenierenden christomorphen Liebesgestalt. Daher soll der verliebte Christenmensch darauf achten, daß das Ausleben seiner

7

Vgl. E. Benz, Die schöpferische Bedeutung des Wortes, S. 544 ff., dort zur Sprachpietät, d. h. zum spezifischen Taktempfinden in der menschlichen Rede.

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6. Homiletisch - paränetische Konkretion

Sexualität nicht mit der gestaltlosen Unmittelbarkeit der Sexualität eines Hundes oder einer Katze verwechselt werden kann (vgl. Gw 8, 62). 8 Angesichts des dreißigjährigen Krieges hält Böhme jedoch für die wichtigste leibliche Manifestation christomorpher Lebensführung die Gestaltung, Einhaltung und Pflege der Pax Christiana. Christenmenschen sollten sich ihre Lebenswelt so einrichten, daß von ihr eine Atmosphäre allgemeiner Friedfertigkeit ausgeht. Die Umgebung christenmenschlichen Miteinanders soll Ruhe und Geborgenheit vermitteln. Böhme nähert sich bereits deutlich dem quäkerischen Pazifismus (vgl. Mm 33, 23 f.). In theologischer Hinsicht ist er auf jeden Fall ein leidenschaftlicher Ireniker (vgl. Ti I 112. 118. 641; auch oben 2.4.). Die homiletisch - paränetischen Konkretionen der phänomenologischen Übersetzung der Glaubenslehre in den gegenwärtigen Vollzug des Glaubenslebens vor Ort eines raumzeitlich konkreten, christenmenschlichen Lebenshabitus zielen letztlich auf eine Spielart des von der biblischen Weisheit präformierten Tun - Ergehens - Zusammenhangs. Die Vita Christiana erklärt sich bei Böhme als eine Sprachhandlung, durch die die Performanz des christlichen Sprachspiels, besonders aber der biblisch offenbaren Prototypik des Christus praesens zum leibhaftigen Ausdruck gebracht wird. Dadurch wird Wahrheit reformuliert als Bewährung, Wirklichkeit als Wirkung im doppelten Sinne von Be- und Auswirkung, Verwirklichung, Wirken und Werk. 9 In diesem Sinne findet sich Böhmes inkarnationsmorphologische Programmatik von Erfahrungssoteriologie und szenographischer Schriftapplikation in sensitiver wie in normativer Hinsicht in folgendem Satz auf den Punkt gebracht: "Wilt du es aber in diesem Leben erfahren, so laß ab von deiner Heucheley, Finantzen und Betrug, auch von deiner Spötterey, und wende dein Hertz mit gantzem Ernst zu GOtt, und thue Busse für deine Sünde, in rechtem ernsten Fürsatz heilig zu leben, und bitte GOtt um seinen H. Geist, und ringe mit Ihm, wie der H. Ertz = Vatter Jacob hatte die gantze Nacht mit Ihm gerungen, bis die Morgenröthe hatte angebrochen, und auch nicht ehe nachgelassen, bis Er ihn gesegnet hatte; (Genes. 32: 26.) also thue du ihm auch, der H. Geist wird wol eine Gestalt in dir bekommen. ... Du wirst auch gar ein ander Mensch werden, und wirst dran dencken, weil du lebest; deine Lust wird mehr im Himmel seyn als auf Erden. Denn die heilige Seele wandelt im Himmel; und ob sie gleich auf Erden in dem Leibe wandelt, so ist sie doch allezeit bey ihrem Erlöser JEsu Christo, und isset mit dem zu Gaste; das mercke." (Mr 6, 24 f.) Der Zielpunkt der Böhmeschen Inkarnationsmorphologie, des fundamentalen Zusammenhangs von Erfahrungssoteriologie und applikativer Schrifthermeneutik, liegt in einer typologisch phänomenalisierten, eudämonistischen 8

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Hirsch, Jakob Böhme, S. 220. 251, geht zu weit, wenn er Böhme grundsätzliche Skrupel an der erotischen Leiblichkeit und sexuellen Körperlichkeit der christlichen Ehe unterstellt. Vgl. Η. v. Soden, Was ist Wahrheit?

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Ethik. 10 Inkarnationsmorphologie = Inkarnation der Lebensgestalt des Christus praesens vor Ort christenmenschlicher Lebensführung = Leibhaftigkeit: Das ist eine Programmatik, die in ihrer sensitiven Stoßrichtung der phänomenalisierenden Applikation der Schrifttypik immer zugleich normativ ist und die normativ nur sein kann, weil der Christenmensch bei seiner sensitiven Empfindsamkeit (Schreck, Angst, Scham, Ekel) behaftet wird. So wird das christenmenschliche Gewissen in die Verbindlichkeit der jemeinen leibhaftigen Lebensgestalt mitsamt der habituell dazugehörigen Lebensgeschichte inkarniert: "Gleubstu ßo hastu. Zweyffelstu ßo bistu vorloren." 11 "So aber der Mensch nun umkehret, und von der Selbheit ausgehet, und in GOttes Willen eintritt, so wird auch das Gute, das er in der Selbheit hat gewircket, von dem Bösen so er gewircket hat, erlediget werden. Dann Esaias spricht: Ob eure Sünde blut = roth wären; so ihr umkehret, und Busse thut, so sollen sie schnee = weiß werden als Wolle. Esa. 1: 18. Dann das Böse wird verschlungen im Zorn GOttes in den Tod, und das Gute gehet aus, als ein Gewächse aus der wilden Erden." (wGl 1, 48) "Oder wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist, welchen ihr habt von Gott, und seid nicht euer eigen? Denn ihr seid teuer erkauft; darum so preiset Gott an eurem Leibe." (1. Kor 6, 19 f. zitiert in Mm 70, 63).

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Vgl. in kritischer Hinsicht W. Eiert, Die voluntarische Mystik, S. 81: Bei Böhme finde sich "der krasseste autonome Eudämonismus". "Die Gemeinschaft mit der Gottheit bedeutet im Grunde nichts anders als: sich einig sein mit dem besseren Teil des eigenen Ich." Das stellt den Textbefund auf den Kopf, insofern Eiert meint, daß dieser Ich - Teil nicht die pathisch christenmenschliche Subjektivität, sondern stattdessen der subjektivitätsmetaphysisch mißverstandene Autokrat mit der absoluten Willkür eines "natürlichen" Menschen sei. Richtig ist aber daran, daß Böhme tatsächlich Wohltat und Wohlempfinden typologisch vor Ort des Spürens am eigenen Leibe phänomenalisiert. Zur antiken Herkunft der eudämonistischen Ethik im Unterschied zur Pflichtethik Kants vgl. W. Kamiah, Christentum und Geschichtlichkeit, S. 261 - 280. Vgl. M. Luther, Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe. 1519, S. 192.

7. Schluß und Ausblick Die Untersuchung über "Leibhaftigkeit. Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie " abschließend gilt es nun, den Gedankengang vor dem inneren Auge des Lesers noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Rekapitulation schließt der ureigenen Bildlogik des Wortes entsprechend mit dem Haupt, von dem aus der Blick in die Ferne schweifen kann, d. h. mit einem Aus-blick. Hier werden sich zukünftige Forschungsprojekte mit ähnlicher Fragestellung an Inkarnationsmorphologen aus der Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes abzeichnen. Doch zunächst beginnt die Kapitalisierung der vielfältigen Ergebnisse beim Fundament und bei den Füßen, auf denen die leibliche Denkgestalt Jakob Böhmes steht und von denen aus sie sich zur vollen Leibesgröße aufrichtet: 1. Fundament und Füße - Die Abstraktionsbasis: Die theoriegeschichtliche Ausgangslage, aus deren Not heraus die Inkarnationsmorphologie Jakob Böhmes zustande kommt, bilden die dogmatischen Vergegenständlichungen des christlichen Glaubens in den entstehenden Lehrsystemen der Schulorthodoxie. Von diesen grenzt sich Böhme recht polemisch ab, da er durch ihren kognitivistischen Distanzierungsgestus die affektive und pragmatische Phänomenalisierung der materialen Glaubensinhalte hinsichtlich deren formgebender Lebensbedeutsamkeit ad hominem vermißt. Trotz einer eher affektiven und pragmatischen, im Unterschied zu einer überwiegend kognitiven Abstraktionsbasis für Explikationen theologischer Besinnung teilt Böhme den von der Tradition vorgegebenen Umfang der materialen Glaubensaussagen völlig übereinstimmend mit der frühlutherischen Lehrorthodoxie. Wie diese beruft sich Böhme auf die reformatorischen Einsichten Martin Luthers. Er nimmt lediglich für sich in Anspruch, Luther mit seiner mythopoetischen Erbauungsschriftstellerei und ihren sprachlichen Mitteln aus der pansophischen Topik besser gerecht zu werden als die altprotestantischen Dogmatiken mit ihren lateinischen Begriffsdistinktionen. Böhme befürchtet nämlich, daß durch die kognitivistische Verobjektivierung des eigentlich angesonnenen Glaubenslebens die reformatorische Grundeinsicht Luthers, daß es nur der jemeine Glaubensvollzug sei, durch den der einzelne Christenmensch leibhaftig des in Christo gewirkten Heils teilhaftig werden könne ("solus Christus" - "extra nos" - "sola gratia" - "sola scriptura" - "pro me" - "sola fide" - "vita Christiana vel praxis pietatis"), zunehmend aus dem Blick gerät. Das erkenntnisleitende Interesse systematischer Theologie kann in seinen Augen somit nicht ein anhand der Lokalmethode systematisiertes Inventar zur Kognition metaphysischer Richtigkeiten sein, sondern muß vielmehr in der affektiven und pragmatischen Phänomenalisierung individuell lebensbedeutsamer Heilsgewißheiten

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7. Schluß und Ausblick

liegen. Die notwendige Abstraktionsbasis theologischer Explikationen kann dann nicht mehr im Drei - Artikel - Schema der altkirchlichen Bekenntnistradition liegen, sondern muß hinter alle objektiven Tatsachen der theologisch reflexiven Abstraktion zurückgehen auf den konstitutiven "Sitz im Leben" (Gunkel) aller Heilstatsachen als "subjektiver Tatsachen" im "affektiven Betroffensein" (Schmitz). Diese können aber nicht in diskursiver, propositionaler Informationssprache ad hominem appliziert werden. Stattdessen bedarf es eines mythopoetischen Stils, dessen metaphernreiche Rhetorik aus der pansophischen Topik die Subjektivität des Glaubens affektiv, suggestiv und pragmatisch ad hominem appliziert. Böhme amplifiziert dabei die christliche Glaubenssprache der lutherischen Reformation aus den Metaphernschätzen der über das Mittelalter bis ins Christentum hineinwirkenden jüdischen Kabbala, der deutschsprachigen christlichen Mystik des Hochmittelalters und der ins Deutsche übersetzten Devotio moderna, des Neuplatonismus der Renaissance, der über Paracelsus vermittelten alchemischen und hermetischen Traditionsbestände, der klassischen Astrologie und der neuzeitlichen Astronomie eines Nikolaus Kopernikus sowie des schwärmerischen Spiritualismus bei Sebastian Franck, Valentin Weigel und Caspar Schwenckfeld. Schon an der Vielfalt der impliziten, d. h. immör nur mittelbar über die gesellschaftliche Einbildungskraft der Topik des "kollektiven Gedächtnisses" (Halbwachs/ Assmann) zu rekonstruierenden Einflüsse aus ganz unterschiedlichen Geistesströmungen, die Böhme nirgends explizit zitiert und diskutiert, wird deutlich, daß es ihm mitnichten um die Konstruktion eines über den materialen christlichen Glaubensbestand hinausgehenden esoterischen Weltbildes geht. Alle Einflüsse der pansophischen Topik weisen immer eine eindeutige phänomenologische bzw. inkarnationsmorphologische Explikationsfunktion auf. Sie sollen allesamt den für Böhmes theologische Schriftstellerei konstitutiven Zusammenhang von Erfahrungssoteriologie und applikativer Schrifthermeneutik zur leibhaftigen Darstellung bringen. Daher scheint es mir durchaus möglich, wenn nicht gar angeraten, Jakob Böhme in theologiegeschichtlicher Hinsicht trotz zeitgenössischer Ab- bzw. Ausgrenzungsversuche bei Abraham Calov 1 oder Ehregott Daniel Colberg 2 als einen im weitesten Sinne frühlutherischen Denker zu bezeichnen und ihn somit seinem Selbstverständnis entsprechend aus der erst von Gottfried Arnold 3 dann

1 2

3

Anti Boehmius, in qua docetur, quid habendum de secta Jacobi Boehmen, sutoris Goerlicensis, Leizig 1684 und ebd. [2. Auflage] 1690. Das Platonisch - Hermetische Christentum/ Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosenkreutzer/ Quaecker/ Boehmisten/ etc., Frankfurt/ Leipzig 1690/91. Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie von Anfangs des Neuen Testaments bis 1688, zuerst erschienen a. D. 1699.

7. Schluß und Ausblick

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endgültig vorgenommenen Zuordnung zur Ketzerhistorie herauszulösen. Die abschließende Einstufung Jakob Böhmes als eines frühlutherischen Denkers mag zunächst verblüffen, hat aber doch viele Argumente für sich, wie die Textuntersuchung im Einzelnen gezeigt hat. 4 Wenn Böhme also im Unterschied zur Lehrorthodoxie, aber in bewußter Anlehnung an Martin Luther einfordert, die individuelle Lebensbedeutsamkeit des christlichen Glaubens auszuweisen, dann hat er offensichtlich die leibhaftige christenmenschliche Subjektivität im Blick. Das hat Böhme in der Forschung den Vorwurf eines heillosen religiösen Subjektivismus und Individualismus eingetragen. Dieser Kritik liegt aber zumeist ein anderes Subjektivitätsverständnis zugrunde. Jakob Böhme denkt mitnichten, daß der individuelle Mensch das willkürlich agierende Machersubjekt seines individuellen Heils sei. Vielmehr ist es ihm darum zu tun, die Subjektivität des jemeinen Heilsglaubens als pathische Subjektivität zu fassen, durch die der extra nos vorgängige Taufglaube aufgrund eines ihm inhärenten Pro me hinsichtlich seiner individuellen Lebensbedeutsamkeit in spontaner Rezeptivität eines rein empfangenden "Amen, ja ich will!" als subjektive Tatsache aufgefaßt wird. Böhme rekurriert, ganz analog zu Luther, auf die in der lebendigen Schrifttradition deutlich präformierte Szenographie der kirchlichen Bußpraxis, die er zur hermeneutisehen Schlüsselszene seines individuellen Wiedergeburtserlebnisses macht, aus dem er zum leibhaftig eigenständigen Christenmenschen auferstanden ist. Im affektiven Betroffensein von einem augenblicksgöttlichen Zorneinbruch, der Böhme in die primitive Gegenwart aus Schreck, Scham und Ekel hinsichtlich seiner ausdruckslosen Existenz als Homo faber inmitten einer amorphen Körperwelt stürzt, so daß er seinen aufrechten Stand verliert, kann er sich seines Getauftseins entsinnen und nun anhand der ihm vom Taufglauben her offenbaren biblischen Prototypik das affektive Betroffen- in persönliches Gemeintsein verwandeln, so daß sich nun 4

Diese Zuordnung wird m. E. unterstützt durch die auffälligen Parallelen zwischen Melanchthon und Böhme in ihrem jeweils eigentümlichen Verhältnis zu Luther und dessen Augustininterpretation. Den Begriff des Luthertums "philippistisch" auszuweiten und nicht auf eine Lutherrezeption in "gnesiolutherischer" Orthodoxie zu beschränken ermöglicht zuallererst die Entdeckung der Tatsache, daß Böhmes gewiß manchmal eigenwillige Lutherrezeption doch so etwas wie das organisierende Prinzip und Kriterium für die Rezeption der pansophisch - hermetischen Topik bildet und Luthers Einsichten eben gerade nicht umgekehrt ihrerseits nur zu dem allgemeinen pansophischen Synkretismus bei Böhme hinzuaddiert werden, um darin dann an sich bedeutungslos geworden unterzugehen. Die Verwendung der pansophisch - hermetischen Topik in all ihrer inneren Disparatheit und verwirrenden Vielfältigkeit nach Maßgabe einer phänomenologischen bzw. inkarnationsmorphologischen Explikationsfunktion resultiert aus Böhmes reformatorisch geprägter Frömmigkeit, wie sie ihm aus dem Katechismusunterricht und unter den Kanzeln in Fleisch und Blut übergegangen war. Zur eigentlich überfälligen, stärkeren Einbeziehung Melanchthons in die Begriffsbestimmung des werdenden Luthertums, durch die dann auch der Blick auf bisherige Randgestalten wie Jakob Böhme freier wird, vgl. J. Haustein (Hg.), Philipp Melanchthon. Ein Wegbereiter für die Ökumene, in: Bensheimer Hefte 82, 1997.

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7. Schluß und Ausblick

ein Gegenwartsraum zur leibhaftigen personalen Entfaltung und Erneuerung des himmelwärtigen Stehvermögens auftut. In diesem Erlebnis - Erleidnis empfindet sich Böhme gewiß nicht als autarkes Machersubjekt, wohl aber mit Blick auf seine schlechthinnige Unvertretbarkeit im aktiven Vollzug des individuell lebensbedeutsamen Heilsglaubens in die persönliche Libertas Christiana berufen, im Horizont derer sich zuallererst die Möglichkeit zu einem individuell gelingendem Lebenkönnen in leiblicher Gestalthaftigkeit erschließt. Die auf der Grundlage der individuellen Lebensbedeutsamkeit des lutherischen Tauf- und Schriftglaubens erwachsende individuelle religiöse Subjektivität ist nur insofern pathische, d. h. kindlich oder marianisch - jungfräulich empfangende, leibhaftig ergriffene, affektiv betroffene und persönlich gemeinte Subjektivität, als sie sich immer erst angesichts der aus dem unwillkürlichen Extra nos plötzlich andrängenden vitalen Unmittelbarkeit des Lebens ausbilden kann. Im gesicherten Dahinexistieren unter der aktivistischen Herrschaft selbsteigener Willkür kommt es nicht zu dieser pathischen Requalifikation von Subjektivität. Diese ist aber mitnichten passiv. Das ist vielmehr ein von Böhme mit polemischer Schärfe entlarvter Trugschluß der Dogmatiker der Gemina praedestinatio. Der Mensch wird nicht ein willensloses Objekt des göttlichen Gnadenswillens, auch wenn seine Willkürherrschaft durch einen augenblicksgöttlichen Zorneinbruch als hochgradig labil offenbart wird. Auf spontane Rezeptivität will und kann Böhme schlechterdings nicht verzichten. Pathische Subjektivität gestaltet den ihr kausallogisch voraufgehenden Eindruck des schöpferischen Gotteslebens gleichursprünglich durch ihr leiblich - sprachliches Ausdruckshandeln. Die literarische Aktivität Böhmes ist also nichts anderes als das irdene Gefäß, in dem der himmlische Schatz inkarnationsmorphologisch entfaltet, gestaltet, phänomenalisiert und schließlich auch hinsichtlich seiner individuellen Lebensbedeutsamkeit leibhaftig ver-standen werden kann. Böhmes pathisch - subjektiver Tagebuch - Stil wirkt für den Protestantismus insgesamt gattungsbildend. 5 Das "Memorial" soll "Indenck und Aufrichtung" sein, d. h. ein weithin sichtbares literarisches Denkmal der individuellen 5

Durch die englische Übersetzung beeinflußt er John Bunyan; vgl. C. Mannsov, Pelgrims en Profeten: John Bunyan's "The Pilgrim's Progress" in de mystieke denkwereld van Jakob Böhme, Utrecht 1985. Den "Übergang vom logischen zum dichterischen Denken" in der deutschen Romantik führt J. Sánchez de Murillo zu einem erheblichen Teil auf Jakob Böhme zurück, dessen von Hegel so scharf kritisierte Verwechselung von Vorstellung und Begriff gerade stilbildend auf die Mythopoetik der Romantiker wirkt; vgl. Sánchez de Murillo, Der Geist der deutschen Romantik, S. 187 ff. Ähnlich argumentiert: H. Timm, Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht wird die dichterische Denkform eigens gewürdigt bei: G. Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkennntisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991.

7. Schluß und Ausblick

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Heilsvergewisserung, in der die leibliche Auferstehungsmotorik aus dem Wiedergeburtserlebnis ihren kongenialen Ausdruck findet. Das "Memorial" bildet für Böhme das autobiographische Auffassungsorgan für die subjektiv erlebte Bewährungsstunde des jemeinen Tauf- und Schriftglaubens. Alle pansophischen Bilder und Metaphern, alle biblischen Szenen und Typen dienen nur der die gesamte Lebensgeschichte einschließenden Phänomenalisierung des individuell erfahrenen Stehvermögens innerhalb des christenmenschlichen Heilsstandes. Schriftstellerei wird dadurch ein integraler Bestandteil alltäglicher Praxis pietatis. Daher stuft Böhme den lebensfernen Stil akademischer Abständigkeit von der alltäglichen christenmenschlichen Lebensführung als völlig inadäquaten Ausdruck dieses Heilsstandes an, durch den es gerade nicht zu einer Selbstvergewisserung kommt, sondern zu einer Selbstdistanzierung im völlig unvermittelten Gegenüber zu den objektiven Tatsachen. Typisch frühlutherisch ist an Böhmes die Subjektivität im sprachlichen Ausdruckshandeln rekonstituierender Schriftstellerei sein rigides Festhalten am reformatorischen Sola scriptura, auch wenn er es lebensbedeutsam und -praktisch umakzentuiert. Individuelle theologische Besinnung auf die subjektive Befindlichkeit im christenmenschlichen Heilsstand qua leibhaftig vorgegebenem Taufglauben bedeutet nämlich nicht die beliebige literarische Produktion völlig unvermittelter und unvermittelbarer Seeleneinsichten. Mystische Neuoffenbarungen will und kann Böhme nicht bieten. Ein leibhaftiges Selbstverständnis des jemeinen Taufglaubens inmitten des individuellen Lebensvollzugs gibt es nur im Gegenüberverhältnis zur Prototypik der Schrift, die zugleich der exklusive Maßstab zur Verwendung spiritualistischer, alchemischer, astrologischer und pansophischer Metaphern wird. Sie ist der Lehrtext zu den Emblemen außerchristlicher Traditionsstränge, da nur sie dieselben hinsichtlich ihrer individuellen Lebensbedeutsamkeit aufschließen kann. Dieses dynamische Gefälle der Schriftoffenbarung in die pathische Subjektivität ad hominem ist für Böhmes theologische Besinnung die unhintergehbare Inspirationsquelle. 2. Unterkörper - Der inkarnationschristologische Sitz im Leben: Böhme ist Inkarnationschristologe, insoweit er Erfahrungssoteriologe ist. Die Fundierung theologischer Besinnung in der Erfahrung der individuellen Lebensbedeutsamkeit des christlichen Tauf- und Schriftglaubens ist eben schon als das Spezifikum von Böhmes Zugehörigkeit zur geistesgeschichtlichen Situation des Frühluthertums deutlich geworden. Hier geht es nun weniger um das affektiv ergreifende Erlebnis des Daß dieser Bedeutsamkeit, sondern vielmehr um die auch kognitiv und pragmatisch eindeutige Erfahrung des Wie, d. h. um die Explikation des materialen Gehalts dieses sich als subjektiv wirksam herausstellenden Tauf- und Schriftglaubens. Erfahrung ist, wie Böhmes eigenes Wiedergeburtserlebnis deutlich macht, immer eine situationsdramatisch ausgestaltete Christuserfahrung, d. h. das selbsteigene Miterleben dessen am eigenen Leibe, was im biblischen Christusbild szenographisch vorgezeichnet ist.

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7. Schluß und Ausblick

Inkarnation bleibt dabei immer dem wörtlichen Primärsinn entsprechend die Verleiblichung des jemeinen Heilsglaubens sowohl im prototypischen Einmal der biblischen Lebensgeschichte Jesu als des Christus, als auch im antitypisch sich wiederholenden Allemal der Lebensgeschichten der Menschen als Christen - Menschen. Leiblich ist dabei erstens in sensitiver Hinsicht (quasi auf der affektiven Lernebene einer vor Ort des leiblichen Gemeinsinns vernehmenden Vernunft) die jedem individuellen Erlebnis extra nos vorgegebene inkarnationsmorphologische Besinnungsgestalt, die dadurch über die primitive Gegenwart eines augenblicksgöttlichen Schreckerlebnisses hinausgeht, daß sich für den affektiv betroffenen Leib "in, mit und unter" dem an sich amorphen Erleben ein personal strukturierter Gegenwartsraum auftut, dessen Konturen die Besinnung des Erlebnisses als persönliche Erfahrung ermöglichen. Leiblich ist dabei zweitens in sensibler6 Hinsicht (quasi auf der kognitiven Lernebene einer Vernunft mit szenischer Einbildungskraft) die situationsdramatische Entfaltung der persönlichen Erfahrung durch eine szenographische Explikation des im An - sich des Erlebniskerns lediglich chaotisch - mannigfaltig gegebenen Bedeutungsansinnens. Leiblich ist dabei drittens in normativer Hinsicht (quasi auf der pragmatischen Lernebene einer lebensgeschichtlich inkarnierten Vernunft qua Besonnenheit) die Übersetzung der nunmehr leiblich - lebënsweltlich situierten Erfahrungsepisode mit ihrem situationsdramatischen und erfahrungssoteriologischen Bedeutungsgehalt in einen ihr entsprechenden individuellen Entwurf einer christomorphen Lebensgeschichte bzw. eines christomorphen Lebensbildes. Die Inkarnationsfigur basiert auf der biblisch präformierten Formkraft der Christusgestalt. Sie bewirkt im Sinne der biblischen Prototypik die "Infaßlichkeit" des chaotisch mannigfaltigen "élan vital", durch die Vitalität und Formalität zu einer leibhaftig individuierten Lebensgestalt vor Ort des menschlichen 6

Die hier vorgenommene Bedeutungsdifferenz zwischen "sensitiv" und "sensibel" wirkt nur in der deutschen Sprache gequält. Das Englische differenziert -auf der Ebene der Adjektive wenigstens- sorgfältig zwischen "sensitive" im Sinne von feinsinnlicher Empfindsamkeit ("sensitivity" als Substantiv gleichbedeutend mit "sensibility" im Unterschied zur grobsinnlichen Lust "sensuality"), wenn das Gefühl unwillkürlich - pathisch auf seinen leiblichen Gemeinsinn vor Ort der vernehmenden Vernunft hin angesprochen ist, und "sensible" im Sinne von besonnen ("reasonable"), wenn die leiblich - lebensweltliche Einbildungskraft der Vernunft ihrerseits willkürlich - aktiv mitspricht ("to make sense of something"). Wenig "sensible" wären dabei allerdings reine Willkürkonstruktionen ohne Sitz im Leben ("senseless" = sinnlos), d. h. ohne Bezug auf unwillkürliche Empfindungen ("sensations" oder "impressions"). Bei Hume ist z. B. jede "idea" ohne sinnlich ("sensual") ausweisbare "impression" als sinnlos ("senseless") aus dem Verkehr zu ziehen. Umgekehrt schließen "sensuality, sensitivity und sensibility" ihrerseits immer schon einen Bezug auf die vor Ort der sprachlichen Topik präformierten Typen ein. Die chaotische Mannigfaltigkeit der "sensations" zielt von sich aus auf "sense and sensibility" (vgl. Jane Austens gleichnamigen Roman "Verstand und Gefühl" [also gerade nicht "Sinn und Sinnlichkeit"]), d. h. auf die explikative Herausbildung von in der Empfindsamkeit implizit angelegten Gestalten vor Ort der im weitesten Sinne sprachlichen Besinnungsleistung menschlicher Einbildungskraft.

7. Schluß und Ausblick

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Ebenbildes gegenüber der trinitarischen Schöpfungsdynamik synthetisiert werden. Als anthropologisches und kosmogonisches Gestaltprinzip ist der biblisch offenbare Gottessohn zugleich Christus praesens und kosmischer Christus; aber auch dieses immer nur insofern, als er vollkommener Adam ist, d. h. leibhaftig inkarniertes, personal individuiertes, individuell profiliertes Lebensbild, dessen genuin menschliche Lebensgeschichte untrennbar mit einem Eigennamen verbunden ist: "JEsus". Der geschichtlich einmalige Lebenslauf des Jesus von Nazareth hat sich in die im Allemal wiederholbare Szenographie der Evangelien inkarniert, die diesen Jesus als den lebensbildenden Christus für jedes individuelle Menschenleben zeigen. Der vollkommene Adam restituiert so die ebenbildliche Lebenswirklichkeit des inmitten unzähliger Möglichkeiten einer rein körperlichen Existenz gestalt- und gesichtslos gewordenen Homo faber. Die biblische Inkarnationsfigur zielt ad hominem auf eine Erfahrungssoteriologie, von der aus Schöpfungs-, Trinitäts- und Offenbarungstheologie zu reformulieren sind. Durch die biblische Inkarnationsfigur sind Leib- und Gestaltthematik so konfiguriert, daß das dynamische Gottesleben ad hominem mehr bedeutet als die lästige Störung des scheinbar enttäuschungsresistenten Dahinexistierens inmitten einer von Willkür beherrschten Körperwelt durch einen augenblicksgöttlichen Zorneinbruch. Zwar kommt es durch den störenden Einbruch des ewig schöpferischen Lebens zum Anstoß einer leiblich - situativ vermittelten und lebensweltlich verorteten Requalifikation vital unmittelbarer Phänomenalität; aber erst im Namen "JEsus" entsteht dann tatsächlich aus der von vitalistischer seelischer Willkür dominierten rein körperlichen Existenz des Homo faber das leibhaftig besonnene Leben eines leiblich - lebensweltlich individuierten Christenmenschen, der als ebenbildlich - persönlicher Konkreator am sich leiblich - lebensweltlich ausdifferenzierenden Schöpfungsleben eigenverantwortlich mitwirken kann. Aus der chaotischen Vielfalt bloß quantitativer Kombinationsmöglichkeiten der in der Körperwelt vorhandenen Dinge zu beliebigen Willkürkonstrukten als Substitutionen eines verlorenen leiblichen Sinns bilden sich auf einmal tatsächlich wirkliche Lebens- und Sinngestalten, Situationen, Szenen sowie persönlich ansprechende Ausdruckscharaktere heraus, die die an sich amorphe Körperwelt qualitativ potenzieren, indem sie sie inkarnationsmorphologisch zu einer leibhaftig besonnenen Lebenswelt transformieren. Inkarnation ist für Böhme in Schöpfung und Neuschöpfung also beides: sowohl Bedingung der Möglichkeit von leibhaftig "Erscheinen", als auch leibhaftig "Erscheinen - machen". 7 Erfahrungssoteriologie in diesem Sinne will und kann nicht auf eine Erfahrungsontologie mit einem Kanon ewig beständiger und objektiv gültiger Erfahrungen zurückgreifen, die wie Dinge einfach 7

Vgl. G. Böhme, Erscheinen und Erscheinen - machen, in: M. Großheim (Hg.), Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994, S. 19 - 30.

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7. Schluß und Ausblick

vorhanden sind. Stattdessen will Erfahrungssoteriologie jeweils im individuellen Augenblick eines konkreten Erlebnisses die rein körperliche Existenz von Mensch und Welt dadurch transzendieren, daß sie die sensualistischen Reduktionen des Homo faber und seine analytisch fragmentieren Sinnesdaten von einer nur dinglich vorhandenen Körperwelt zugunsten leibhaftig ansprechender Sinnamplifikationen vor Ort einer synästhetisch reintegrierten Wahrnehmungswelt aus Lebens- und Sprachwelt revidiert. Der -ganz im Sinne der Krisistheologie des XX. Jahrhunderts- aufgrund einer eschatologisch erlebten ("Non plus ultra!"), primitiven Gegenwart mit seinem Latein ans Ende gelangte Homo faber kann jetzt auf den Trümmern der endgültig schal und bedeutungslos gewordenen Körperwelt als inkarnationsmorphologisch wiedergeborener Christenmensch die christliche Welt, die er während seines durch ubiquitäre Indifferenz vermeintlich gesicherten Dahinlebens verloren hat, wieder neu errichten. Die wechselseitige Entfremdung von vitalistischer seelischer Willkür und bedeutungsloser Körperlichkeit soll wieder "ingefasst", d. h. vor Ort des leiblichen Gemeinsinns reintegriert werden. Deshalb weist Inkarnation als zentrale Denkfigur von Schöpfung und Neuschöpfung ein notwendiges Gefälle in die hermeneutische Besinnung auf. Leib- und Gestaltthematik gehören erfahrungssoteriologisch sowie kosmologisch' und -im Sinne der Krisistheologie- gegenwartseschatologisch mit der applikativen Schrifthermeneutik zusammen. Böhmes Erfahrungssoteriologie qua "realized eschatology" 8 basiert nämlich auf der inkarnationsmorphologischen Einheit von Schöpfung und Neuschöpfung, auf ihrer typologischen und insofern real bildenden Entsprechung von Typos und Antitypos vor Ort der H. Schrift. 9 3. Brustkorb - Der Resonanzraum der szenographischen Methode: Die Lebensbedeutsamkeit des in der H. Schrift extra nos vorgegebenen Taufglaubens, der sich unter dem augenblicksgöttlichen Eindruck vital unmittelbarer Phänomenalität bewähren muß, steht und fällt mit der szenographischen Gestaltungskraft der biblischen Prototypik. Diese ist und bleibt die elementare Voraussetzung zu jeder leibhaftigen Besinnungsleistung, wenn die kognitivistische Beliebigkeit metaphysischer Spekulationen vermieden werden soll. Die szenographische Gestaltungskraft der biblischen Prototypik basiert für Böhme strukturell auf der Inkarnationsfigur, durch die die Menschen zu mimetisch begabten Schriftlesem transformiert werden. Im antitypischen Gegenüberverhältnis zu den biblischen Szenen, Typen und Gestalten können sich die leibhaftigen Schriftleser auf die gegenwärtige religiöse Befindlichkeit ihres Leibeslebens besinnen, um so, und nur so, der ureigenen, aber an sich noch völlig 8

9

Diese Anregung, Jakob Böhme den Vertretern einer "realized eschatology" zuzurechnen, wird auch von David Walsh weiter verfolgt: D. Walsh, The Mysticism of Innerworldly Fulfillment. A Study of Jacob Boehme, Gainesville [University Press of Florida] 1983. Weitergehende Ergebnisse der gegenwärtigen Typologieforschung finden sich bei V. Bohn (Hg.), Typologie.

7. Schluß und Ausblick

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unvermittelten und insofern "augenblicksgöttlichen" (Usener) Wirklichkeitserfahrung einen inkarnationschristologischen Sitz im Leben zuweisen und diesen erfahrungssoteriologisch in die leibhaftige christenmenschliche Personalität integrieren zu können. Es ist die Gestaltungskraft der biblischen Prototypik, die Böhmes theologische Besinnung dazu veranlaßt, ein regelrechtes Alphabet der Leiblichkeit zu entwickeln, um somit überhaupt erst den Leib als einen Gegenstandsbereich sui generis jenseits von Seele und Körper phänomenalisieren zu können. Die das christenmenschliche Leibesleben im Ganzen betreffenden und persönlich meinenden Erfahrungen müssen für Jakob Böhme immer durch die Schrifttypik szenisch gegliederte Situationsdramen sein. Leibliche Ausdrucksgestalten können somit nur diejenigen Rollen, Entwürfe und Haltungen mitsamt entsprechendem Habitus sein, die von der prototypischen Szenographie der H. Schrift vorgezeichnet sind: die Umkehrmotorik des Bußdramas, die leibliche Ausdrucksmotorik des Taufdramas, die Verinnerlichungsgestik des Abendmahls, die szenographische Bildlogik des Kreuzes sowie die marianische Prototypik (vgl. oben unter 3.2.). Morphologie, das ist die Wirklichkeit vor dem Text, die christliche Welt vor dem Schrifttext, dessen sensitive, sensible und normative Gestaltungskraft (auch ohne das explizite menschliche Bewußtsein von ihm) ein nicht mehr wegzudenkender, ja die Wirklichkeit der christlichen Welt zuallererst integrierender Bestandteil der menschlichen Sprachwelt ist. Die sensitive, sensible und normative Gestaltungskraft des Schrifttextes gilt es durch die theologische Besinnung mittels der typologischen Methode applikativer Schrifthermeneutik dahingehend bewußt zu machen, daß prinzipiell alle Menschen zur selbsttätigen Nachahmung der Schrifttypik vor Ort des eigenen Leibeslebens animiert werden. 4. Das Herz - Die Lebensgestalt des Christus praesens: Diese bildet für Böhme die genuin inkarnationsmorphologische Mitte des auf der szenographischen Gestaltungskraft der Schrift basierenden Taufglaubens. Sie ist Ausgangs- und Zielpunkt des individuellen Heilserlebens in sensitiver Hinsicht, der individuellen Heilsvergewisserung in sensibler Hinsicht und der individuellen Lebensgestaltung in normativer Hinsicht. Das leibhaftig individuierte Menschenleben des biblischen Christus behaftet den Menschen affektiv, kognitiv und pragmatisch bei seinem ureigenen leibhaftigen und lebensweltlich situierten Lebensvollzug, so daß nicht Provinzen des alltäglichen Lebens, etwa die des indifferenten Räsonnierens oder beliebigen Spekulierens, zum hermeneutischen Schlüssel erhoben werden können. Deren kognitivistisch verobjektivierende Abstraktionsbasis ist für die universale Fragwürdigkeit des menschlichen Lebens, wie sie im augenblicksgöttlichen Schreck offenbar wird, schlichtweg viel zu schmal. Die Abstraktionsbasis theologischer Besinnung angesichts der radikalen Fragwürdigkeit menschlichen Lebens kann für Böhme nichts Geringeres als

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7. SchluB und Ausblick

der Prototyp oder das "Realbild" wahrhaft gelingenden Lebens sein, das sich auch für den Tod nicht zu schade ist. Hieran soll jenes Lebenkönnen in sensitiver, sensibler und normativer Hinsicht einstudiert werden, das das schöpferische Gottesleben nicht in der individualistischen Vereinzelung eines "heroischen Realismus", 10 sondern in der individuellen Endlichkeit einer wahrhaften, weil leibhaften Demutsmystik zur vollkommenen Darstellung diesseits des Himmels bringt. So, und nur so, ist es mehr als Leben, d. h. vom vitalistischen Taumel des Immer - mehr - Lebens deutlich unterschieden. 5. Erhobenes Haupt - Leibhaftigkeit: An der Spitze von Böhmes Denkgestalt steht die inkarnationsmorphologische Neufassung der Rede von der Wahrhaftigkeit als dem zentralen Kriterium am "großen Scheidetag". Wahrhaftig ist aufgrund der biblischen Prototypik zunächst einmal das schöpferische Gottesleben selbst, indem es sich vorgängig von sich aus in der leibhaftigen Lebensgeschichte des Menschen Jesus von Nazareth inkarniert und dort zur individuell gestalteten, endlichen und nur deshalb auch vollkommenen Darstellung bringt. Die Wahrhaftigkeit der Schriftoffenbarung bzw. die Wahrheit des Wortes Gottes ist seine geschichtliche Bewährung, seine religiöse Verwirklichung, sein Wirken als Be- und Auswirken, seine Wirkung als Be- und Auswirkung, seine Inkarnation in individuelle Leibhaftigkeit vor dem Hintergrund einer rein körperlichen Existenz inmitten einer Dingwelt, ein wirklich gelungener Lebensvollzug in der Praxis pietatis. Sodann ist der Tauf- und Schriftglaube des Christenmenschen wahrhaftig, wenn er sich in ebenbildlicher, antitypischer Korrelation zur vollkommenen Menschengestalt der evangelischen Lebensgeschichte Jesu als des Christus an der alltäglichen Lebenspraxis bewährt. Leibhaftigkeit ist also nichts anderes als die lebenspraktische Bewahrheitung des christenmenschlichen Heilsstandes in einer lebendigen Ausdrucksgestalt. Der Christenmensch ist nicht nur Konkreator am schöpferischen Glaubensleben, sondern in seinem leibhaftigen Lebensvollzug auch der Offenbarer der Lebensgestalt des Christus praesens. Seine leibliche und lebensgeschichtliche Erscheinungsgestalt bringt den Christus praesens mimetisch zur Darstellung. 11 Die leibhaftige Auferstehung des biblischen Christus 10

11

Zur Begriffsgeschichte vgl. M. Großheim, Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Gegenwart, in: ders./ H. - J. Waschkies, Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 143 - 178, bes. S. 164 - 169. H. Schmitz selbst weist den "heroischen Realismus" mitsamt seinem existenzialistischen Pathos, dessen Titanismus -etwa in E. Jüngers "Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt"weit über eine besonnene "Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart" hinausgeht, der sog. "ironistischen Verfehlung" des abendländischen Geistes und deren "rezessiver Entfremdung" der Subjektivität seit Fichte zu; vgl. Adolf Hitler in der Geschichte, S. 64 ff., bes. S. 70. Vgl. E. Benz, Der Mensch in christlicher Sicht, S. 393: "Der einzelne Christ ist berufen Nachfolger Christi zu werden; die Einfügung in den Leib Christi führt durch die Erfüllung und den Nachvollzug des Christusschicksales hindurch. Die altkirchliche Bezeichnung ist 'Christopherus' - Christus = Träger. Die Selbstüberwindung als freiwillige Selbsthingabe bis zum Tod ist in diesem Gedanken mit eingeschlossen. Das Leiden ist ein

7. Schluß und Ausblick

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ist nun qua Leibhaftigkeit in das gegenwärtige Auferstehungsleben des Christenmenschen inkarniert. Dort weist der schon am Körperschema ablesbare himmelwärtige Richtungssinn seines aufrechten Standes auf das neuschöpferische Auferstehungsleben hin, in dem der ursprüngliche Schöpfungssinn zur vollkommenen Darstellung kommen soll. Diesen hat der Homo faber insofern pervertiert, als seine körperweltliche Obsession den himmelwärtigen Richtungssinn des aufrechten Standes zu ebener Erde herabzog und dort in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig diffundieren und somit seinen Lebensfluß mäandrieren ließ, so daß dieser nicht anders als in ubiquitärer Bedeutungslosigkeit versickern konnte. Leibhaftigkeit, das ist der sensitive, sensible und normative Ausgangs- und Zielpunkt des Sichbesinnens des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt. Leiblichkeit im Sinne Böhmes ist nicht einfach etwas dinglich Vorhandenes, körperlich Gegebenes, sondern vielmehr ein Bildungsprogramm zum eigentlichen Lebenkönnen des individuellen christenmenschlichen Subjekts. Böhme realisiert sein Bildungsprogramm mittels einer typologisch phänomenalisierenden Sensibilitätsschulung. Er bietet dem Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt deshalb auch eine typologische, situationsdramatische, szenographische und inkarnationsmorphologische Mythopoetik biblischer Provenienz, die in affektiver (sensitiver), kognitiver (sensibler) und pragmatischer (normativer) Hinsicht als universelles sprachleibliches Lehr- und Lernmedium fungiert. Die spezifisch gestaltete Leibhaftigkeit des Christenmenschen versteht sich nicht von selbst, da sie nicht einfach körperlich vorhanden ist, sondern erwächst aus der inkarnationsmorphologischen Gestaltungskraft der biblischen Prototypik und deren antitypischer Applikation auf die gegenwärtig zu vollziehende christenmenschliche Leibesbildung. 6. In die Ferne schweifender Aus-blick . Horizont der Denkgestalt Jakob Böhmes in ihrer ureigenen prototypischen Ausstrahlung: Nach dem Abschluß der Rekapitulation der Denkgestalt Jakob Böhmes, kann nun der Blick von der theologiegeschichtlichen Relektiire auf die gegenwärtig andauernde Relevanz Böhmes gelenkt werden. Man mag Böhmes Programmatik zur unhintergehbaren Leibhaftigkeit theologischer Besinnung als von der aufklärerischen Erfindung reiner Begriffssprachen überholt ansehen, da Böhmes biblisch - pansophische Bilderflut sinnliche Wirklichkeit mit Begriffen verwechsele. Dem ist nicht so, macht Böhme doch selbst bereits deutlich, daß die Illusion nicht auf seiner, wohl aber auf der Seite derer liegt, die glauben, es könne eine metaphernfreie Begriffssprache geben, mit der die Wirklichkeit endgültig bestimmt wäre. 12 Böhme steht bereits jenseits solcher aufklärerischer Illusionen bezügunabdingbares Element in dem großen Drama der Freiheit, das von Gott her gesehen und von Gott her gewirkt mit dem Drama der Erlösung identisch ist. ... Eintritt in ein neues geistig - leibliches Sein ...,... neue Form der Geist - Leiblichkeit...".

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7. Schluß und Ausblick

lieh einer potentiell endgültigen Abschließbarkeit philosophischer Deskriptionen und zeigt gerade dadurch eine größere Neuzeit- und Modernekompetenz. D e r m y t h o p o e t i s c h e Präsentationsgestus seines "Memorials" versteht e s a u s g e z e i c h n e t , narrative Fiktionen rhetorisch s o zu funktionalisieren, daß sie d i e leibhaftige Wirklichkeit der christlichen W e l t erscheinen machen b z w . ad h o m i n e m phänomenalisieren und den Leser dadurch suggestiv sensibilisieren, i n d e m s i e auf s e i n e a f f e k t i v e Resonanz zielen. S o kann der M e n s c h , der v o n B ö h m e z u m m i m e t i s c h e n N a c h v o l l z u g der Christomorphose angeregt werden soll, sich sein Urteil aus affektivem Betroffen- und persönlichem G e m e i n t s e i n heraus auf der Grundlage seines ureigenen Sprachempfindens bilden. N i c h t die indifferente B e l i e b i g k e i t rationalistischer Kalkulationen oder m e t a p h y s i s c h e r

12

E. Hirschs Kritik an Hegel zielt in genau dieselbe Richtung, führt aber zu einer genau gegenteiligen Konsequenz: Hirsch postuliert aufgrund des Nichtvorhandenseins einer reinen Begirffssprache und deren vollständiger, weil restfreier Explikation die prinzipielle "Unaussprechlichkeit" der christlichen Gewissenswahrheit; vgl. Christliche Rechenschaft. Bd. I, S. 5 f. Hirsch ist sich durchaus der sich daraus ergebenden Gefahr bewußt, daß "die das persönliche Sein bestimmende Gewißheit, daß der lebendige Gott mit seiner Wahrheit ... uns gegenwärtig ist", sich in existenzialistischer Amorphie zu verflüchtigen droht. Sie verkäme ja zu einem leeren Pathos, anstatt sich zu einer leibhaftig gestalteten Lebenshaltung zu bilden; vgl. Hirsch, Christliche Rechenschaft. Bd. II, S. 2. S. 5: "Der christliche Glaube ist nicht gestaltlose Mystik, sondern persönliches Erlebnis der in einer geschichtlichen Religion zum Menschen kommenden und sich ihm erschließenden göttlichen Wahrheit. Diese geschichtliche Religion bedarf der geistig - geschichtlichen Daseinsgestalt." Die geschichtliche Daseinsgestalt resultiert für Hirsch aber nicht aus der Inkarnationsmorphologie der prototypischen Gestalt des biblischen Christus wie bei Kahler oder Tillich oder bei Jakob Böhme, sondern ausschließlich "aus den volkhaften, kulturellen, zeitgeschichtlichen Bedingungen eines echten menschlichen Daseins" (ebd., S. 2). Das bedeutet konkret die alternativlose Verabsolutierung des abendländischen Rationalismus als der einzig noch möglichen, wenn auch ikonoklastischen Explikationsform: "(S)o bekommt die Rechenschaft von der christlichen Lehre unter Völkern, die eine Wissenschaft ausgebildet haben, ganz selbstverständlich auch die Form wissenschaftlichen Denkens." (ebd., S. 4) Die sogenannte Form wissenschaftlichen Denkens ist ja rein geistig und dekonstruiert leibliche Symbolgestalten. (Bd. I., S. 5 f.) Es geht letztlich also wiederum um die kritizistische Aufhebung aller Vorstellungen im reinen Begriff, wenn Hirsch formuliert: "Der Glaube hat an der Form der Einsicht seine geistig - geschichtliche Daseinsgestalt. " (ebd., S. 5) Deren Orientierung an reiner Begrifflichkeit aber ist aufgrund ihrer Verhaftung im historisch Ephemeren diesseits von Lessings garstig breitem Graben zu den ewigen Vernunftwahrheiten notwendig unvollkommen, so daß "die Dogmatik den letzten Grund des Wahrheitsbewußtseins des Glaubens nicht sichtbar machen kann." (ebd.) Aufgrund der letztlich resignativen Verabschiedung von Inkarnation und Schriftprototypik gibt es bei Hirsch keine Kriterien mehr für die genuine Christusgemäßheit der von ihm nurmehr beschworenen, aber eigentlich dekonstruktivistischen "geistig - geschichtlichen Daseinsgestalt" der an sich prinzipiell unaussprechlichen christlichen Gewissenswahrheit. Prompt können dann (einmal abgesehen vom abendländischen Rationalismus als der von Hirsch bevorzugten "Form der Einsicht") auch ganz andere, menschlich - allzumenschliche Totalitarismen mit ihren Führergestalten an die Stelle der biblischen Christusgestalt und dem sich ihr gegenüber bildenden Mundus christianus treten, wie bei Hirsch ja -leider Gottes- geschehen; vgl. R. P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München/ Wien 1986, S. 167 - 267.

7. Schluß und Ausblick

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Spekulationen, auch nicht der Zwang logischer Deduktionen steht hier im Mittelpunkt des erkenntnisleitenden Interesses der theologischen Besinnung, sondern die Freiheit szenographisch phänomenalisierender Typologien, die auf den gleichwohl verbindlichen Ernst spielerischer Identifizierung mit den leibhaftig präsentierten Rollenentwürfen und Verhaltensschemata abzielen. Böhme handhabt die mythopoetische Bilderflut so, daß sie niemals aus der explikativ - expressiven Funktion der Sprache herausfällt. Nichts läge ihm ferner, als auf allegorischem Wege eine esoterische Ontologie festschreiben zu wollen; mitnichten! Im Gegenteil geht es für ihn bei der Sprache immer darum, zu vermeiden, daß ein Sprachspiel monopolisiert wird und dadurch Gefahr läuft fetischisiert oder dämonisiert zu werden. Das kann sogar mit der biblischen Prototypik geschehen, wenn sie nämlich nicht mehr typologisch auf die leibhaftige Gegenwart appliziert, sondern vielmehr allegorisch auf ewig gültige, quasi begriffliche Symbolwerte festgelegt würde, die aufgrund ihres hohen spekulativen Abstraktionsniveaus nicht mehr zu einer gegenwartskompetenten Deskription verwandt werden könnten. Deshalb konfiguriert Böhme die Schrifttexte mit pansophischen Emblemen, Metaphern und Motiven, ohne darüber den exklusiven Maßstab ihrer inkarnatorischen Formkraft für die jeweils leibhaftig zu beschreibende Gegenwart zu verlieren. Sprache kann schlechterdings niemals monadologisch in die vermeintliche Eigentlichkeit eines Nunc stans eingeschlossen werden. Sie ist muttersprachlich geerdete Natursprache, d. h. sie hat Anteil an der vitalen Dynamik des schöpferischen Gotteslebens. Deshalb muß sie je nach der geschichtlichen Situation "manchmal und auf mancherlei Weise" (Hebr 1, 1) den Menschen inkarnationsmorphologisch auf seine leibliche Befindlichkeit hin ansprechen, um dieselbe hinsichtlich ihrer Lebensbedeutsamkeit zu phänomenalisieren. Was immer der Mensch leibhaftig einsehen soll, steht und fällt mit der Wahl der sprachlichen Auffassungsorgane, die ihn in leiblicher Gemeinsinnlichkeit rundum zu sensibilisieren vermögen. Insofern macht die Reduktion der puriformen, sinnen-bildlichen Sprache auf die amorphe Begriffsontologie reiner Vernunft den Menschen gerade nicht gegenwartskompetent, sondern nur die Schulung eines ausdrucksstarken Sprachgebrauchs nach Maßgabe leibhaftiger Eindruckssituationen. Durch die unterschiedlichen sprachlich präformierten Besinnungsangebote kann der Mensch sich nämlich so sensibilisieren, daß er seine alltäglichen Erlebnissituationen der sprachlich präformierten Inkarnationsmorphologie entsprechend zu Erfahrungen gestalten und aus diesen sprachlich gestalteten Erfahrungen eine individuelle Lebensgeschichte bilden kann. Die biblische Prototypik ist für Böhme das Vorbild zu diesem an Hamann und beinahe auch schon an die Neukantianer Vaihinger und Cassirer erinnernden Sprachgebrauch. Sie geht ihrerseits bereits aus der Doppellektüre von leibhaftig erlebter Geschichte und in Schrifttypen vorgegebener Sprachtradition hervor. Auf diese Weise zielt die biblische Prototypik auch immer wieder auf

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7. Schluß und Ausblick

das leibhaftige Erleben von Geschichte, ohne dieser die Bedingungen ihres Erscheinens a priori vorschreiben zu wollen. Immer wieder aufs Neue gelingt es der Schrift, die primitive Gegenwart eines geschichtlichen Erlebnisses zu entfalten, das chaotisch - mannigfaltige Bedeutungsansinnen in biographisch bedeutsame Erlebnisse übersetzen zu helfen, aus der Amorphie einer an die Möglichkeiten der Körperwelt verlorenen rein körperlichen Existenz heraus eine individuelle, personal ansprechende Lebensgestalt auszubilden und schließlich das nur allzuoft von Krankheit, Tod und Lächerlichkeit verzerrte körperliche Erscheinungsbild des Menschen durch eine leibhaftige Ausstrahlung so zu requalifizieren, daß scheinbar unüberwindliche Grenzen durchbrochen werden können, weil sich ein neuer Freiraum zur gegenwärtigen Lebensentfaltung auftut. Das ist ein Beitrag Böhmes, der auch inmitten der vielschichtigen Pluriformitäten unserer postmodernen Moderne ohne weiteres seinen Anspruch auf Lebensbedeutsamkeit aufrecht erhalten kann. Nicht umsonst wird gerade der Böhme - Interpret Alexandre Koyré zu einem der maßgeblichen Initiatoren der phänomenologischen Bewegung in Frankreich. Böhmes Deskriptionskompetenz hat zur Phänomenalisierung einer volleren Realität in hermeneutisch phänomenologischer Hinsicht nichts an Relevanz eingebüßt. "Erscheinen und Erscheinen - machen" ist ihr zentrales Anliegen. 7. Vom Scheitel bis zur Sohle. Musterung antitypischer Denkgestalten zu Jakob Böhmes Prototypik: Zum Abschluß des Ausblicks soll nun die inkarnationsmorphologische Fragestellung mit der durch Böhme geschärften Optik auf die spätlutherische Wirkungsgeschichte angewandt werden, indem zwei Anstösse zur weitergehenden Erforschung gegeben werden sollen. Die Arbeit hat ein offenes Ende, da ihre Fragestellung eine Heuristik zu vielfältiger theologiegeschichtlicher Anwendung bietet. 7. 1. Friedrich Christoph Oetinger: Oetinger 13 nimmt den Faden der Lebenstheologie Böhmes auf, verzichtet aber zunehmend auf dessen mythopoetische Deskriptionstechnik und versucht stattdessen, ein ebenso sinnenbildliches terminologisches Instrumentarium zu entwickeln, das über den "Teutschen Philosophen" hinausgehend durch seine lateinische Fassung an den Problemkanon abendländischer Philosophiegeschichte anzuknüpfen vermag. Im Zentrum seiner inkarnationsmorphologisch vorgehenden "Theologia ex idea vitae deducta" steht daher wiederum der Leib, diesmal aber terminologisch spezifiziert als "Sensus communis". Das hat viele Vorteile. Oetinger kann nun eine epistemologisch fundierte Phänomenologie der leibhaftigen Epiphanien der einzelnen Gegenstände der Schöpfung Gottes vor dem Hintergrund der Weite des Raumes entwerfen. Dabei ist es der fünfsinnige Integral13

Vgl. zu den folgenden vagen Andeutungen die Arbeiten von R. Piepmeier, Aponen des Lebensbegriffs seit Oetinger, in: Symposion. Bd. 58, Freiburg/ München 1978, und M. Weyer - Menkhoff, Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers, in: AGP. Bd. 27, Göttingen 1990.

7. Schluß und Ausblick

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sinn des menschlichen Leibes, der zu einer sinnenvollen Erkenntnis der Dinge über ihr ephemeres Vorhandensein nach Lagen und Abständen, Flächen, Formen und Farben im Ortsraum hinaus dienlich ist. Sensualistische Reduktionen sind bei Oetingers "Central - Schau oder Erkenntnis, wie die Engel erkennen" genauso ausgeschlossen wie die im Gefolge der leibnizisch - wolffischen Schulphilosophie immer stärker werdende Dichotomie zwischen der alltäglichen menschlichen Wahrnehmungswelt und der akademisch lebensfernen Gedankenwelt. Auch bei Oetinger ist es nicht bloß ein renitenter Antimodernismus, 14 der zu solchen deskriptionshermeneutischen Reperspektivierungen der menschlichen Wahrnehmungswelt aufgrund der Schrifttypik führt, sondern vielmehr eine Kritik des existenzialistischen Pathos der Aufklärung, in vollkommener existenzieller Ernüchterung inmitten einer der menschlichen Willkür zu Gebote stehenden Körperwelt zu leben, da die Lebenswelt den reinen Gedanken entschwunden zu sein scheint. Dieses aufklärerische Pathos ist mitsamt seiner Faszinationskraft selbst nur Produkt eines bestimmten subjektivitätsmetaphysisch orientierten, sprachlichen Auffassungsorgans, das aber über seine bezüglich der lebensweltlich verorteten Sinngestalten anästhetisiernde Nebenwirkung hinaus noch die Schwäche aufweist, sich selbst von seiner elementaren Geschichtlichkeit verabsolutieren zu wollen. "Sensus communis" bedeutet zudem aber auch eine wichtige Vertiefung des religiösen Individualisten Böhme, für den Geschichtlichkeit primär immer die individuelle Lebensgeschichte im typologischen Gegenüberverhältnis zur biblisch - pansophischen Sprachtradition bedeutete, ohne diese noch einmal als gemeinschaftlichen Traditionszusammenhang eigens zu thematisieren. Er wurde als bestehend vorausgesetzt. Oetinger versteht den Gemeinsinn demgegenüber so, daß er die diachrone Entfaltung des pansophischen Traditionsprozesses zu beschreiben vermag. "Gemeinsinn" in diesem übergreifenden Sinne ist für Oetinger daher auch nicht mehr nur in der transzendentalen schöpfungskonstitutiven Prototypik der himmlischen Weisheit präformiert, sondern stattdessen ganz ins Diesseits des Himmels inkarniert, u. z. als die "Philosophie der Alten", d. h. der Patriarchen aus der Genesis, die noch heute lebendig als "Weisheit auf der Gasse" 15 tradiert wird. Der "Sensus communis" zeigt in dieser Hinsicht eine neue Dimension von Leiblichkeit, nämlich das geschichtliche Wachstum eines sprachlichen Traditionsprozesses. W i e diese vorläufigen Mutmaßungen sich en détail an den Texten substantialisieren lassen, ist Gegenstand einer neuen Untersuchung. Der durch Böhme vorgegebene inkarnationsmorphologische Fragehorizont wird dabei allerdings sehr wohl fruchtbar sein, zumal besonders bis dato keiner in seinem

14 15

Gegen R. Piepmeier, ebd., S. 245 - 247. S. 231 ff. Vgl. Fr. Chr. Oetinger, Die Weisheit auf der Gasse. Eine Textsammlung hg. v. J. Roessle, Metzingen 1962.

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7. Schluß und Ausblick

Selbstverständnis so offensichtlich ein kreativer Böhme - Schüler sein wollte wie Friedrich Christoph Oetinger. Sein "Biblisches und emblematisches Wörterbuch" zeigt deutlich, wie sehr er die hermeneutischen Vorgaben von Böhmes Sinnenbildlichkeit produktiv aufnimmt und in die überschaubarere, für den alltäglichen Lebensvollzug des Christenmenschen geeignetere Form eines Handbuches bzw. Nachschlagewerkes bringt. Das "Öffentliche Denkmal der Lehrtafel der weil. Wirrtembergischen Prinzessin Antonia" unterstreicht das praktisch didaktische Interesse Oetingers im Anschluß an Böhmes phänomenalisierende Typologien. Die zahlreichen hermeneutischen Schriften zur applikativen Schriftlektüre zielen ebenfalls in diese Richtung. Der nächste Schritt möglicher Forschung ist mit Oetingers Ausweitung des leibspezifischen "Sensus communsis" auf die lebendige Tradition der Weisheit in der diachronen Entfaltung der Weltgeschichte bzw. Menschheitsgeschichte fast zwingend: Johann Gottfried Herder, wenn auch dessen Böhme - Rezeption eher indirekt durch Hamann vermittelt vorzustellen ist. Trotzdem gehört er zweifelsohne in die Wirkungsgeschichte böhmescher Inkarnationsmorphologie. 7. 2. Johann Gottfried Herder: Bei Herder 1 6 ist es vor allem die Auferstehungstypik aus Böhmes "Aurora" (Mr), die zu einer groß angelegten Vertiefung gebracht wird. Nicht nur der Einzelne steht in seiner Ontogenese zum himmelwärtigen Richtungssinn des menschlichen Körperschemas auf, bis er den aufrechten Stand des heliotropen Mannesalters als Zenit seiner konkreativen Wirkungskraft erreicht, sondern auch die Geschichte der Menschheit stellt sich als ein einziger phylogenetischer Kapitalisierungsprozeß dar, dessen Ziel der vollkommene Mensch ist. Allerdings ist der Kapitalisierungsprozeß im Sinne Herders mitnichten so zu verstehen, als ob die jeweils am Ende des Aufrichtungsprozesses stehende Gestalt für sich genommen der vollkommene Mensch im biblischen Sinne sei, sondern vielmehr so, daß alle Lebensalter in allen Kulturen nur zusammen das symbolisieren, was Menschheit im biblischen Sinne sein soll und sein kann. Kein Abschnitt ist hier für sich genommen allein wegen seiner zufälligen Position auf dem einem oder anderen Punkt der diachronen Zeitachse der Geschichte minder- oder höherwertig, sondern jeder einzelne in sich eine individuelle Darstellung des Adam - Christus, die unersetzbar ist und keineswegs an einem anderen Ort der Entwicklung stehen dürfte. Herder ist deshalb niemals mit einer linearen evolutionären Schematik in Verbindung zu bringen, die darüberhinaus auch seinem inkarnationsmorphologischen Denken fern läge. Fortschritt und Verfall mag man nur insofern feststellen, als einzelne Epochen und Kulturen den im Denkbild des Adam Christus verorteten menschheitsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang auf16

Vgl. zu den folgenden vagen Andeutungen K. Huizing, Das erlesene Gesicht, S. 104 ff. bes. 149 ff., sowie H. Timm, Von Angesicht zu Angesicht, S. 13 ff.; auch ders., Geerdete Vernunft. Johann Gottfried Herder als Vordenker der Lebenswelttheologie in Deutschland.

7. Schluß und Ausblick

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grund einer merkwürdig geschichtsvergessenen Vereinzelung schlechterdings nicht mehr zur inkarnationsmorphologischen Darstellung bringen können. Hieran wird deutlich, daß der Anthropologe und Geschichtsphilosoph Herder durch die böhmesche Heuristik ein viel stärkeres Profil hinsichtlich seiner biblisch hermeneutischen Denkgesittung als Theologe gewinnt. Kulturelle Phänomene -wie die Architektur etwa- sind als leibliches Ausdruckshandeln des übergreifend sich realisierenden, gottebenbildlichen Menschenlebens deshalb so lebensbedeutsam, weil sich an ihnen im Diesseits des Himmels das Wirken des biblisch präformierten schöpferischen Gotteslebens manifestiert. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die Sprache. Herder perfektioniert in hermeneutischer Hinsicht Böhmes antireduktionistischen, phänomenalisierenden Sprachumgang. Sprache ist für ihn die Elementarstruktur leiblich - situativ vermittelter und lebensweltlich verorteter Phänomenalität. Die vom "Gemeinsinn" im Sinne Oetingers traditionell vorgegebene Sprache entwirft eine besprochene Welt, die zugleich die phänomenalisierte Lebenswelt ist, in der der Mensch sich sein Leben wohnweltlich einrichten kann. Sprache ist bei Herder insofern notwendig "denk-bildlich", "sinnen-bildlich", emblematisch konfigurierend und dadurch spielerisch phänomenalisierend: eine Sprach Welt als integrales Auffassungsorgan der Wahrnehmungswelt. Sie muß und will sich an vitalen Erfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes bewähren lassen, wofür Herder seine Seereise von Riga bis Nantes (1769) oder etwa den Unterricht unter der Morgenröte als lebensphänomenologische Elementarisierungen des biblischen Schöpfungsglaubens einsetzt. Die aufgrund der Aufklärung arg reduzierte Wahrnehmungswelt des Menschen wird dadurch von Herder unter bewußter Beibehaltung der aufklärerischen Ablehnung der mittelalterlichen Dingontologie wieder mit überschießender sensitiver Lebensbedeutsamkeit ausgestattet, die sie weder als unerreichbares "Ding - an - sich" im Sinne Kants, noch auf der Ebene des reinen, d. h. außergeschichtlich transzendentalen Gedankens aufweisen könnte. Das spezifisch Soteriologische an Herders Sprachphilosophie liegt nun darin, daß der Mensch dazu ermuntert wird, sich seiner konkreativen Begabung auch tatsächlich zu bedienen und die aufklärerischen Skrupel gegenüber einem poetisch - phänomenalisierenden Sprachgebrauch abzulegen. Auch hier gilt es, erst in detaillierter Forschungsarbeit diese Mutmaßungen zu substantialisieren. Es dürfte nichtsdestoweniger deutlich geworden sein, wie sich von Böhme her ganz neue Schneisen durch das von Dilthey schon beklagte Dickicht der neuzeitlichen und modernen Philosophie und Theologie schlagen lassen. Böhmes Programm einer "Leibhaftigkeit" hat mitsamt seiner inkarnationsmorphologischen Methodologie eine weitverzweigte Wirkungsgeschichte gehabt. Immer wieder begegnet die Intuition Böhmes, das Hauptgeschäft theologischer Besinnung liege in der sensitiven sowie normativen Phänomenalisierung der christlichen Welt, so daß der Christenmensch sich in der

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7. Schluß und Ausblick

Gestaltung seines Leibeslebens sowohl affektiv betroffen, als auch persönlich gemeint und in die Pflicht genommen weiß. Weitere Aufschlüsse über die Wirkungsgeschichte einer subjektiv - phänomenologischen Leibtheologie und Inkarnationsmorphologie sind wohl auch von einer bewußt systematisch - theologischen Johann Arnd - Forschung zu erwarten, 17 dessen "Vier Bücher vom wahren Christentum" ja beinahe zeitgleich mit Böhmes Hauptschriften erscheinen, von diesem aber an keiner Stelle explizit rezipiert werden. Wichtiger als die wechselseitige Textkenntnis ist jedoch die ähnlich Übersetzung der Devotio moderna des Thomas' von Kempen ins Deutsche und die jeweils eigentümliche Adaption der pansophischen Topik, die sich, wenn auch in erheblich geringerem Maße als bei Böhme, ebenfalls bei Arnd findet, z. B. in dessen breiter Entfaltung des "Liber naturae" als dem biblisch - naturphilosophisch vorgeprägten Inbegriff der Lebenswelt des Christenmenschen. Dieser Vergleich ist zudem in wirkungsgeschichtlicher Perspektive insofern interessant, als Arnd aufgrund seines erheblich weniger anstössigen Stils über Spener wesentlich stärker auf den genuin lutherischen Pietismus gewirkt hat 18 als Böhme, der ja schon bald fast ausschließlich den kirchenfernen Philosophen als Entdeckungsquelle diente. Es bleibt zu hoffen, daß das neue Jahrtausend dahingehend ein Neuanfang wird; daß Jakob Böhme gerade von den lutherischen Theologen entdeckt wird als eine Inspirationsquelle zur leibphänomenologischen Reformulierung des "Ordo salutis". Im Lichte der Entdeckung der subjektiven Tatsachen durch Hermann Schmitz kommt es mehr denn je darauf an, Theologie konsequent zu betreiben als "Sichbesinnen des Christenmenschen auf sein Sichfinden in der christlichen Welt". Das Stichwort "Inkarnationsmorphologie" spezifiziert die Abstraktionsbasis in methodischer Hinsicht: die Verknüfung von leibphänomenologischer Erfahrungssoteriologie einerseits und applikativer, weil typologischer Schrifthermeneutik andererseits. Jakob Böhme weist weit über das beginnende 17. Jahrhundert hinaus ...

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Für ein leibliches Natur- und Schöpfungsverständnis liegen hier schon einige wertvolle Ergebnisse vor; vgl. T. Koch, Das göttliche Gesetz der Natur. Zur Geschichte des neuzeitlichen Naturverständnisses und zu einer gegenwärtigen theologischen Lehre von der Schöpfung, Zürich 1991. Vgl. J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, S. 12 - 16.

8. Literaturverzeichnis1 8.1. Primärtextausgabe und Abkürzungsverzeichnis der Kurztitel2 Böhme, Jakob, Theosophia Revelata. Oder: Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens von Altseidenberg. Faksimile - Neudruck der Ausgabe von 1730 in 11 Bänden. Begonnen von A. Faust. Neu hg. v. W. - E. Peuckert, Stuttgart 1942- 1961. - Band I: Mr = Aurora, oder Morgenröthe im Aufgang -Bandii: 3P = Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens -Band III: 3fL = Vom Dreyfachen Leben des Menschen 40F = Viertzig Fragen Von der Seelen UAu = Das Umgewandte Auge, Von der Seelen und ihrer Bildniß - Band IV: Mw I - III = Von der Menschwerdung Jesu Christi I - ΠΙ 6Pk = Sex Puncta Theosophica kE = Sex Puncta Mystica ihM = Mysterium Panspophicum wB 1/ wB II = Von wahrer Busse V Π GbB = Vom Heiligen Gebet wGl = Von der wahren Gelassenheit nWgb = Von der Neuen Wiedergeburt üL = Vom übersinnlichen Leben Bsch = Von Göttlicher Beschaulichkeit hds = Gespräch Einer erleucht= und unerleuchteten Seelen Tsch = Trost= Schrift Von vier Complexionen 1

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Es werden hier nur Titel erwähnt, die tatsächlich auch in der Arbeit erwähnt bzw. zitiert werden. Die Erstellung einer vollständigen Böhme - Bibliographie konnte diese primär systematische Arbeit schon aus Platzgründen nicht leisten. Auch hier kann auf Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 418 ff., verwiesen werden, dessen Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur immer noch relativ vollständig sein dürfte. Das System der Kurztitel verdanke ich G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache, S. 418. Es ist sehr zu wünschen, daß diese Abkürzungsweise sich fest etabliert. Bisher hat sich jeder Forscher sein eigenes Abkürzungssystem ersonnen, das dann jeweils langwierig zu erläutern war. Nach Bonheims vollständigem Inventar aller Kurzitel zur Böhme Ausgabe von 1730 kann man sich diese Arbeit getrost sparen. Alle sonstigen Abkürzungen werden nach Schwertner/ IATG vorgenommen.

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8. Literaturverzeichnis

- Band V: Ti I = Die Erste Schutz= Schrift wieder Balthasar Tilken Ti II = Die Zweyte Schutz= Schrift Wieder Balthasar Tilkens, eines Schlesischen von Adel, angeklebte Zedelchen Sti I = Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein Sti Π = Vom Irrthum der Secten Esaiae Stiefels und Ezechiel Meths ApR = Schutz= Rede, wieder Gregor. Richter SchV = Schriftliche Verantwortung (= ep 54) Κ 1/ Κ II = Unterricht von den Letzten Zeiten (= ep 8 und ep II) 3 - Band VI: Sg = De Signatura Rerum Gw = Von der Gnaden= Wahl 11/1Π = Von der H. Tauffe V Π abm = Von Christi Testament des H. Abendmahls - Band VII: Mm = Mysterium Magnum (Anfang bis Capitel 43) - Band VIII: Mm = Mysterium Magnum (Capitel 44 bis Ende) - Band IX. BgO = Betrachtung Göttlicher Offenbarung Tab = Tabulae Principiorum Cl = Clavis Clsp = Clavis specialis ep = Theosophische Send= Briefe - Band X: De Vita et Scriptis Jacobi Böhmii. -Band XI: Register über alle Theosophische Schriften

8.2. Sekundärliteratur Althaus, Paul, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh [5. Auflage] 1980. - ders., Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh [Nachdruck der 8. Auflage] 1972.

3

SchV und Κ I und Κ II sind von der Ausgabe von 1730 aus systematisch - inhaltlichen Gesichtspunkten aus dem Korpus der Theosophischen Sendbriefe herausgenommen worden. Es wird zu ep 54 bzw. ep 8 und ep 11 kurz auf diese Eigenwilligkeit hingewiesen. Diese Arbeit macht die Umbenennung rückgängig, erwähnt aber den jetzigen Fundort mit dem anderen Kürzel, so daß ein sofortiges müheloses Auffinden der zitierten Stellen möglich ist.

8.2. Sekundärliteratur

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9. Register 9.1. Adorno: 269 Andrëae: 97 f. Althaus: 102, 231 Aristoteles: 219, 243, 314 Arndt, Ε. M.: 31 Arnd, J.: 33, 354 Arnold: 33, 338 Assmann: 338 Athanasius: 61, 62, 141 Auerbach: 80, 92, 93, 98, 150 Augustinus: 29, 41, 157, 302,304, 339 Austin: 203 von Baader: 2 , 1 0 0 Bachofen: 31 Bacon: 13 Baldermann: 173 Barth: 231 Baudrillard: 107, 184, 297 Bayer: 116 f., 132, 187 Benjamin: 269 Benrath: 39 Benz: 49 f., 51 f., 76 f., IIS, 118, 131, f., 148, 167, 176, 192, 221 f., 272, 274f., 280f., 333, 346 Bergson: 107, 239 Bernhard: 125 Beyreuther: 28 f., 115, 123, 176 Biehl: 103, 105, 132, 173 Blüher: 153 Blumenberg: 28, 49, 283 Böhme, G.: 23 f., 50, 109, 118f. 221, 283, 343 Böhme, H.: 64, 183, 196, 215, 255, 283 Bohn: 77, 79f., 171, 344 Β olino w: 74, 109 Bonaventura: 29 Bonheim: 5, 6, 40, 49, 50 f., 9 3 , 1 1 8 , f., 150, 167, 186, 197, 235, 274, f., 279 - 281 Bornkamm: 6, 12, 14 f., 22 - 26, 50, 127, 129, 135f., 235, 301 f .

Personenregister Bornscheuer: 129, 133 f . 167 Braunfels: 100 Buddecke: 3, 23 Bultmann: 54, 59f., 81, 86, 109, 130, 331 Bunyan: 340

327,

Calov: 7, 338 Calvin: 29 Carus: 31 Cassirer: 252, 270f., 297, 349 Chadwick: 157 Colberg: 338 Colpe, 69 - 71, 7 6 , 1 6 4 Cyrill: 92 Dalferth: 59,191, 203 Deghaye: 24 Derrida: 124, 326 Descartes: 16 Dilthey: 3, 39, 64 - 69, 70, 72, 74 - 78, 162,172, 252, 353 Dodd: 320 Dohmen: 125

142 229,

244, 269,

142 266 118,

Eagleton: 151, 203 Ebeling: 94 f., 120f., 130, 1 8 6 , 1 9 0 f . , 273 Eckhart: 47 Eichrodt: 80 f., 84, 86, 89 Eiert: 39 - 43, 5 0 , 7 4 f., 77 f., 115 f., 119f., 129, 135 f., 147, 161 f., 166 f., 169, 189 f., 195, 197, 223, 229 f., 277, 280, 319, 334 Ephraëm: 92,139 Erastus: 157 Ericksen: 348 Fahlbusch: 229, 231 Feuerbach: 2, 15 - 20, 46, 54, 118, 234, 237, 240, 249 Fichte: 189, 191 Ficino: 100 Flacius: 116 Fraas: 57, 67f., 85, 132 Franck: 338

376

9. Register

Francke: 174 Frisch: 111 Fror: 199 Frye: 80 Gabriel: 4, 340 Gerhard: 145,187 Gichtel: 3 f., 6 f . Görres: 31 Goethe: 31, 33, 64, 107 f., 189 Gogarten: 191 Gollwitzer, G.: 64 Goppelt: 80 - 83, 86f., 87, 88f., 139, 151 Graß: 135, 219 von Grimmelshausen: 44, 106, 183, 184 Großheim: 55, 109, 346 Gründer: 80, 82 - 85, 87 - 90, 93, 138, 145, 150, 188 Grundmann: 195, 318 Grunsky: 4 Gryphius: 44, 98, 103 f., 106 Gunkel: 65 Härle: 121 Halbfas: 103, 199 Halbwachs: 338 Hamann: 5, 33, 80, 9 3 , 1 0 0 , 116, 145, 150, 183, 269, 349, 352 Hamberger: 2, 6, 116 Hankamer: 43 - 46, 154, 160, 162, 179 f., 184, 294, 296, 298 - 300, 302, 308, 314, 317-319 von Harnack: 30, 152 Hegel: 2, 12 - 15, 17, 19 f., 29, 33 f., 46, 118, 235, 239, 314, 340, 348 Heidegger: 29, 55, 109, 111, 121, 126, 179, 219, 224, 237, 243, 264 Heinz - Mohr: 100 Henkel: 98 Herder: 5, 31, 33, 72, 72 - 74, 97 f., 105, 126, 144, 147, 199, 244, 249, 269, 283f., 292, 294, 352 f. Herms: 105, 121 f., 134, 162, 191, 205 Hick: 59, 203 Hirsch: 26 - 29, 30, 81, 115, 119 - 121, 124, 136, 142, 146, 153 f., 157-159, 164, 174, 177, 184, 189, 218 f., 230 f., 241, 266, 277, 301 f., 305, 314, 326, 333, 348 Hobhouse: 11 Holenstein: 49, 281 Holl: 21 - 2 3 , 34 f., 38 f., 41 Hollaz: 163 Huber: 11 Hugo von St. Victor: 102

Huizing: 64 f., 67, 73 f., 86, 94 - 96, 110, 118, 139 f., 147 f., 173, 283, 292 f., 331, 352 Hume: 342 Husserl: 9 f., 14, 29, 46, 65, 109, 126 Irenaeus: 61, 226 Isidor: 92 Jacobi: 2, 33 Jaspers: 60 Jons: 98 - 1 0 6 Jülicher: 170 Jüngel: 169, 273 Jünger, E.: 346 Jünger, F. G.: 297 Jung: 67 Jung - Stilling: 2 Justin: 156 Kahler: 4 f., 62, 160, 348 Käsemann: 254, 293 Kamiah: 41, 335 Kant: 5, 2 9 , 4 1 , 1 9 1 , 335, 353 Kaym: 116 Kayser: 283 Kehl: 125 Kepler: 172 Kierkegaard: 2 9 , 1 7 9 , 302, 308 Klages: 3 0 , 1 0 8 f . , 129, 248, 291 Kleiber: 126, 274f. Koch: 354 Kober: 119 Kopernikus: 338 Koyré: 4, 46 - 49, 129, 131 f., 140, 165 f., 169,189, 223, 237, 350 Kretschmar: 210 Kretschmer: 64, 196, 211 Lavater: 6 4 , 1 4 0 , 1 4 7 , 183, 283, 293 Leese: 29 - 32, 52,118, 158, 162, 165, 189 van der Leeuw: 153, 203, 210, 214, 217 Leibniz: 12 Lévinas: 110, 173 Lichtenberg: 2 Lipfert: 100 Luther: 5, 21 - 25, 29, 33 - 35, 37 f., 39, 41, 51, 52, 55, 75, 101 f., 104, 111, 116, 118 - 120, 121, 135, 137, 141, 143, 146, 153, 154, 160, 174, 177, 182, 187, 190, 207, 208 f . , 209, 214, 219, 231 243, 280, 295, 301 f.., 303 f., 304 f., 330, 335, 337, 339

9.1. Personenregister

Mannermaa: 141 Mannsov: 340 Marquard: 69 Melanchthon: 25, 101, 121, 163, 301 f., 305, 330, 339 Merleau - Ponty: 58, 106 - 108, 126, 128, 158, 237, 249, 271 Meth: 116 Metzke: 34 - 39, 177 f., 196, 235 - 237, 243, 250, 260 Molendijk: 3, 72 Moller: 119 Moltmann: 226 Müller: 102 Newton: 11, 225, 249 Nietzsche: 31 Novalis: 2 , 1 8 3 Obst: 6 f . Oetinger: 9 - 12, 15, 19 f., 30, 33, 54, 115, 129, 140, 197, 221, 225, 242, 244, 248 f., 253, 262, 265, 292 - 294, 301, 311, 320, 322, 350 - 353 Ohly: 80, 102 Otto: 4, 110, 131, 140, 169, 174 f., 186 Orígenes: 29

100, 234, 279, 326,

177,

Pältz: 5, 52, 53 - 56, 118, 123, 142, 145f., 152, 155, 165 -168, 226, 272, 277 Pannenberg: 24, 144, 326 Paracelsus: 24 f., 34, 37 f., 64, 119, 135, 183,213, 275, 255,283, 338 Paulus: 29, 60, 87, 108, 125, 151 Peuckert: 3 - 5, 23, 119, 166f. Pfaff: 73 Pico della Mirandola: 100 Piepmeier: 64, 78, 351 Plato: 9 9 , 1 8 3 Plessner: 324 Poppe: 11 von Rad: 81 f., 84, 86, 88, 90 Rade: 158 Rahner: 154, 277, 304 Reitemeyer - Witt: 18, 259 Rendtorff: 154 Reuchlin: 50,100, 265f. Richter: 13, 33 f., 115 Ricoeur: 81, 95,110,126, 133,170,173 Riemann: 67 Ritsehl: 231 Roob: 100, 214

377

Rothacker: 3, 49, 77, 77 f . 108, 139, 148, 283, 287 Rothe: 277 Sánchez de Murillo: 33, 237, 340 Sauter: 24 Schapp: 106, 208, 295, 323 Scheler: 75, 31, 44, 47, I I I , 208 Schelling: 2, 3 0 , 1 0 0 Schiller: 33 Schlegel: 2 Schleiermacher: 5, 29, 54, 62, 65, 67f., 71, 145, 153, 153 f., 156 f., 189, 191, 204, 222, 229, 231 Schmitz: 29, 36, 39,42, 58, 65, 78, 83, 96, 107 - 110, 108, 121 f., 124 f., 127 129, 139, 145, 158, 162, 170, 174 176, 179, 181, 187, 190 - 192, 196, 205 f., 211, 237, 241, 244, 246, 249 f., 252, 254, 258, 281, 285, 290, 304, 306f., 323, 325f., 346, 354 Scholem: 11 Schwenckfeld: 22, 24 f., 116, 119, 135, 146,160, 338 Seils: 121 Simmel: 55, 107, 240, 245, 259, 285 von Soden: 292, 334 Spener: 6 - 9, 12, 19, 33, 115, 174, 204, 354 Spengler: 72 - 75, 77 f. Spinoza: 13, 15 Spoerri: 45 Spranger: 3, 68, 77 Stählin: 172, 203 - 207, 209f., 219f., 224, 227f., 311, 313, 329, 332 Stantio: 142 Stiefel: 116 Sulzer: 98 - 101 Swedenborg: 12 Tertullian: 152, 156 Thomas von Aquin: 29 Thomas von Kempen: 140, 354 Tilken: 116 Tillich: 28, 62 f., 125, 130f„ 150, 154, 156, 176, 201, 203, 239, 241, 245, 258 f., 310f., 348 Timm: 2, 4, 13, 20, 28, 57, 59 - 61, 104, 108, 110, 131, 151, 173, 175, 199, 205f., 208, 224, 256, 291, 194, 340 Tönnies: 153 Tomasoni: 18 Troeltsch: 81

378

9. Register

Usener: 131

Wedekind: 107 Weigel: 22, 119, 338 Weiße: 31 Welsch: 2, 13,16 Weiter: 10, 109 Weyer - Menkhoff: 350 Windelband: 31 Wolff: 9

Vaihingen 170, 349 Vico: 270 Vincenz: 304 Wach: 75 - 77 Waldenfels: 46, 58, 109, 237 Wallmann: 6, 354 Walsh: 344 Walther: 33 Weber: 3, 71 f., 77, 164

Zimmerli: 125

9.2. Sachregister Abendmahl: 205 - 208, 217 - 222, 345 Abstraktionsbasis: 34, 36, 69, 295, 337 f., 345, 354 Affekt, affektiv: 16, 29, 43, 78, 103, 110, 120, 122, 130, 132 f., 136, 139, 161, 165, 168 ff., 174, 185, 189,189 - 191, 201, 217, 301 f., 308, 337 ff., 342, 347 f., 354 Alchemie, alchemisch, alchemistisch: 1, 22, (51: Sprachalchemie), 73, 98, 213 ff., 218, 232, 244 f., 250, 280 f., 332, 338 Amorphie, amorph: 3, 14, 32, 43, 57 f., 78, 104, 111, 172 f., 180, 234, 238 f., 259, 261, 263, 276, 292, 308 f., 315, 339, 343, 349 gestaltlos: 73 Gestaltlosigkeit: 18, 78, 111 Anschauung: 14, 42, 58, 61, 75, 233 Anthropogonie: 17 Anthropologie: 10, 16 f., 19 f., 27, 47, 76, 224, 343 Theo-anthropologie: 163 f. Antityp: 79, 8 7 - 9 1 , 93, 99, 105 antitypisch: 60, 84 f., 89, 94 f., 217, 302, 344, 347 Applikation, applizieren: 4, 12, 20, 55, 57, 80, 91 - 94, 137, 149, 263, 265, 335, 338, 347, 352 Archetyp: 70 Astrologie, astrologisch: 1, 338 Astrologiekritik: 2 Atmosphäre: 110, 145, 158, 168, 176 f., 178, 192 ff., 262, 311, 334 atmosphärisch: 61, 108, 174 f., 177, 187, 204, 246 f., 299, 306, 309, 325, 331

Auferstehung: 10, 27, 209 ff., 327, 330, 340 f., 346 f. Augenblick: 58, 65, 71, 73, 75, 104, 111, 173, 246, 259, 309, 322, 344 Ausdifferenzierung: 10, 17 f., 20, 34, 68, 254, 259, 264, 271, 278, 321, 323 Ausdruck (leiblich): 31, 43 f., 48, 73, 107, 111,230,289, 332 Ausdrucksbewegung: 107 f., 129, 294, 296 Ausdrucksform: 62, 73, 290 Ausdrucksgestalt: 31, 174, 253, 311 f., 346 Ausdruckshandeln: 141, 195, 199, 285, 296, 299, 322, 329 ff. Ausdruckskraft: 106 Ausdrucksmotorik: 108, 128, 130, 174 f., 185, 203 f., 208 ff., 224 ff., 280, 345 Ausdrucks verhalten: 68, 79 Ausdruckswirklichkeit: 159, 195, 236, 296 Ausdruck (sprachlich): 10, 19, 31 f., 37, 45,73,77,79, 104, 107, 113 Ausdrucksform: 31, 62, 65, 67, 74 Ausdrucksgeschehen: 274 Ausdrucksmittel: 30,42 Ausdrucksphänomen: 77 f. Barock: 43 - 46, 96 - 106, 238 f. Bedeutung, Bedeutungs-...: 50, 86, 89 f., 98, 103, 108, 140, 148, 167, 172, 188, 238, 264, 279, 291 Bedeutungslosigkeit: 57, 63, 173, 176, 196, 309,311

9.2. Sachregister Bedeutsamkeit, bedeutsam: 62, 78, 85, 102, 107, 140, 290, 341 Begriffssprache, reine und metaphernfreie: 9, 14, 77, 347 Besinnung, theologische: 32, 112, 122 f., 130, 136 - 138, 141, 149, 158 - 163, 164 ff., 171 f., 186, 189, 224, 301, 353 f. (Selbst-)Besinnung: 91, 122, 164 ff., 287, 347 Bibel, biblisch: 1, 7, 9, 31, 38 f., 40, 46 f., 51, 54 f., 79, 81, 85, 87, 90, 97, 101 f., 104 f., 117, 126 f., 130 f., 138, 140 f., 147, 150, 159 ff., 178, 182, 185, 194, 199, 216, 233, 238, 263, 278, 280, 287, 305 ff., 332, 342, 353 Bild: 1, 13, 51, 57, 83 f., 97 - 100, (101: Pictura), 103, 124 - 126, 133, 138, 199, 240,269, 277, 279, 341, Bildungs-...: 4, 10, 45, 105, 347 Buch (als Metapher für den Menschen oder die Natur bzw. Lebenswelt): 16, 49, 51 f., 55, 148, 148 f., 160, 173 Liber naturae et liber vitae: 101 f., 105, 116, 148, 163 Christenmensch, christenmenschlich: 3 f., 25, 28, 46, 53, 55 - 57, 60 f., 80, 90 92, 94, 105 f., 111 f., 117, 120, 122, 135 - 141, 147 f., 152, 157 ff., 164 ff., 172 f., 174, 185 f., 187 ff., 192 ff., 199 - 232, 233 ff., 278, 280 ff, 289 ff., 315 ff. christomorph: 60, 62, 145, 149, 155, 157 f., 161, 174, 189, 195, 201, 209, 211, 297, 300, 303, 315, 317, 329, 333, 342 Christomorphose: 140 f., 194, 348 Christologie: 23, 27, 37, 59, 61, 89 f., 122, 134- 136, 141, 317 Christus (allgemein; auch Jesus Christus): 8, 10, 12, 19, 25 - 28, 37 f., 40 f., 48, 51 - 56, 61 f., 80, 84, 88 f., 91, 112, 116, 120, 133 - 141, 145, 156 f., 159, 161 f., 188, 193, 200, 227, 276 ff., 286, 296, 333 Christus, biblischer: 4, 40 f., 46, 62, 80, 317, 347 Christusbild, biblisches: 140, 157, 160, 173, 278, 341 Christi biblische Lebensgeschichte: 228, 342 Christusgestalt, Gestalt und Lebensgestalt Jesu Christi: 46, 51, 53, 56 f., 132,

155, 174, 188, 192 f., 194, 198, 212, 231,277, 332, 342, 346 Erlösergestalt: 5 9 - 6 1 Christusfigur: 245, 262 Christus-in-uns: 29, 40, 51, 329 f. Einwohnung Jesu Christi: 217 Christus, kosmischer: 112, 343 Christus praesens: 5, 24 f., 112, 116, 132, 135 f., 138, 140, 146, 159 166, 168 f., 171 ff., 195, 199 235, 246, 253, 263, 290, 318 f., 330 f., 343, 345 ff. Christwerdung: 27

379 201,

118, 162, 233, 327,

Darstellung: 13, 24, 48, 152, 292, 346 Deskription, deskriptiv: 4, 11, 31, 35 f., 54, 58, 162 - 164, 171 f., 189, 213, 233, 244, 294, 348 - 350 Doppellektüre (auch Synopse): 4, 10, 91, 101, 105, 162 f., 173, 233, 329, 349 Dreieinigkeit, Dreifaltigkeit (auch Trinität und Trinitätsfigur): 13 f., 20, 112, 128, 132 f., 214, 224 f., 230, 239 ff., 244 ff., 250, 267, 343 Durchbruchserlebnis: 39, 112, 172, 187, 192, 199 Bekehrungserlebnis: 130 Einbildungskraft: 27, 133, 342 Einbildlichkeit: 312 Eindruck: 31, 38, (42: Impression), 43, 58, 77, 107, 111, 130, 174, 285, 340, 344 Eindrucksphänomen: 77 f. Eindrucksqualitäten: 14, 58, 249 Eindruckssituation: 58, 349 Eindruckswirklichkeit: 42, 79, 87, 103 f., 110, 159,236, 283 Ekklesiologie, ekklesiologisch: 6, 88, 122, 152 ff. Ecclesia militans: 152, 168 Ecclesia spiritualis seu invisibilis: 26, 154 Ecclesia visibilis: 319 Emblem, Emblematik, emblematisch: 96 106, 221, 225, 228, 285, 349, 352 f. Empfindung: 15 f., 20, 41, 75, 103, 110, 127 f., 130, 171 Empfindlichkeit: 234, 239, 254, 270 f. Empfindsamkeit: 107,158, 254, 335 Entwurf: 4,96, 108, 111 f., 306, 342, (349: Rollenentwurf) Lebensentwurf: 139, 298 ff., 315 Erfahrung: 25 f., 29, 35, 37, 56, 61, 85 f., 90, 94 f., 131, 182, 193, 341 ff., 349, 353

380

9. Register

Erfahrungsraum: 171 f., 233 Erfahrungswirklichkeit: 38, 61 Erfahrungssoteriologie: 4 f., 20, 28 f., 41, 51 - 54, 56 f., 61 - 63, 91, 96, 105, 112 f., 171 f., 234, 334, 337 ff., 344, 354 Ergriffenheit, subjektive oder leibliche: 117 f., 121, 121, 146, 174, 189- 191, 209, 230, 306 Erleben: 40 - 42, 70, 120, 130, 132, 188 Erlebnis: 17, 26 f., 31, 33 f., 36, 43, 51, 65, 78, 96, 104, 112, 129, 172 ff., 189 191, 340 f., 344, 350 Erlebnisgestalt: 62 Erlebnissituation: 67, 349 Erlebniswirklichkeit: 56 - 58, 84, 90 f., 94 f., 233 Esoterik, esoterisch: 1 - 3, 16, 21, 52, 99 f., 167, 332, 338, 349 Eudämonismus: 41, 334 f. Exegese: 5, 80 f., 90, 149 Bibelexegese: 98 Schriftexegese: 11 expressiv: 4, 165, 169, 199, 349 extra pos: 37, 42, 87, 110, 120, 136 f., 188 - 191, 278, 301 f., 312, 337, 340, 342, 344 Figur: 9f., 17, 47, 55, 68, 92, 150 f., 173, 200, 222, 247, 249, 254, 322 f., 332 figürlich: 86, 96, 102 figurai: 4 f., 10 f., 47, 149 f. Form: 9, 14, 16, 44, 65, 73, 75, 107, 148, 240, 249, 256, 273, 284, 342, 349, 352 Formalität: 236, 239, 242, 245, 255 f., 259, 263, 291, 307, 342 Gefühl: 14 f., 66, 77, 110, 181 Gefühlseindruck: 168 Gefühlsraum: 168, 175, 177, 186, 245 Gefühlswelt: 200 Gegenüberverhältnis: 58, 68, 78, 85, 89,94 f., 198 f., 341,344 Gegenwart, Gegenwarts-...: 2, 13, 20, 55 57, 64, 78, 85 - 88, 91, 93 f., 104 106, 110, 122, 128 - 130, 136, 138, 140 f., 146 f., 152, 158, 164, 187, 193, 205, 224, 246, 322 ff., 339, 344, 349 f. gegenwartshermeneutisch: 87, 90 f., 93, 228 Gegenwartsraum: 161, 173, 235, 238, 245, 307, 340, 342

Geist (allgemein): 9 f., 16 f., 20, 31, 37, 44 - 46, 52, 55, 117, 180, 238, 244, 247, 286, 332 Geistesgegenwart: 13 f., 20, 62, 213 Geisteswissenschaft: 1, 3 Geist, heiliger: 7, 26, 52, 55, 133, 151, 187, 205, 214, 224, 244 f., 324, 333 f. Geistleib, geistleiblich: 9, 27, 45, 47, 244, 295 f., 307, 325 Gemeinsinn: 12, 18, 98, 103 f., 107, 248 f., 271, 325, 342, 344, 349, 351, 353 Gestalt (allgemein): 3, 9, 17, 44 f., 47, 51, 54, 57, 61, 63, 73, 75, 141, 238, 251, 343 Gestaltthematik: 5, 29, 55, 57, 61, 96, 343 Gestaltwahrnehmung: 18 Gestalt, leibliche: 4, 9, 45, 47, 58, 104, 130, 132, 145, 148, 159, 194, 284, 289,312,319 Gestalthaftigkeit, leibliche: 9, 20, 63, 107, 109 Gestaltung: 45, 63, 74, 78, 93 f., 159, 243, 292, 334, 344 f., 354 Glaube: 10, 25, 33, 37, 41, 52, 120 - 122, 172,190 f., 199, 329 ff., 337 ff. Glaubensgegenwart: 135, 163, 173, 200 f., 234 Glaubenshaltung: 34 Glaubensleben: 133,137, 147, 160, 172 f., 195,279,301,329, 337, 346 Glaubenslehre: 3, 73, 133, 157 Glaubenssprache: 10, 40, 120, 337 f. Gott: 7, 9, 11, 13, 17, 21, 25, 27 f., 33 f., 36 - 38, 41 f., 44, 47, 51, 59, 61 f., 75, 84 ff., 102, 123 - 135, 186, 200, 205, 238 ff., 251, 267, 277, 296, 334, 350 (Gott-)Ebenbildlichkeit: 47 - 49, 53, 61, 128, 130 - 133, 140, 149, 161, 163, 182, 185, 195, 208 f., 212, 223, 234, 254, 262, 273 ff., 279 f., 293, 296, 299, 302, 342 f., 353 Gottesleben: 47, 49, 53, 112, 127 f., 140, 169, 233, 235, 296, 299, 340, 343, 346 Gottesrede: 49 f., 264, 268 - 273 Habitus: 4, 56, 68, 108, 112, 139, 170, 194, 290 - 327, 345 Haltung: 4, 35, 71, 79, 95, 104, 108, 111, 345 Heiligung: 31, 40, 334 f. Heilsaneignung, individuelle: 6, 19, 27, 41, 56, 88, 106, 122, 136 f., 166, 168, 170,313,315, 337 f., 345

9.2. Sachregister Heilsgegenwart: 25, 56, 57, 61, 63, 135, 235, 344 Heilstatsachen: 40 f., 338 Heilsstand: 341 Hermeneutik, hermeneutische Methode: 3, 19, 32, 47, 51, 64, 67 f., 68, 87, 90, 96 - 98, 100 f., 103, 112, 149 f., 173, 233, 295, 350 Geschichtshermeneutik: 64 - 77, 82, 96 Heterodoxie, heterodox: 6, 8, 22, 29, 36, 56, 115 historisch, historistisch: 40, 54, 120, 124, 136, 147 f., 151, 162- 164, 168 f. Homo faber: 111 f., 124, 172, 174, 177, 179, 181 f., 185 f., 188, 194 - 197, 201, 205, 240, 243 f., 247, 258, 260, 282, 287, 289 ff., 339, 344 Idealtyp: 71 f., 99 Imagination: 27, 41, 48, 140, 197, 201, 212, 230, 247, 258, 264, 296, 311 f. Imitatio Christi: 48, 140 f., 217 Individualismus: 3, 26, 339 Individualität: 70, 256, 291, 319 - 321 Individuation: 17, 75, 270, 276, 292 f. individuell: 55, 69 f., 70, 73, 89, 104, 107, 111 - 113, 117, 140, 149, 160, 163 f., 168, 172, 198, 270, 278 f., 299, 339 ff. Infaßlichkeit, Infassung: 17, 233 f., 236, 238 ff., 242, 250, 254 f., 264 ff., 270, 272 f., 284, 292 f., 296, 299, 342, 344 Inkarnation: 4 f., 10, 19 f., 40, 46 - 49, 57 63, 73, 75, 78, 107, 130, 136, 138, 140 f., 147, 159, 173, 197, 201, 277 f., 314, 319, 334 f., 342, 351 Inkarnationsfigur: 10, (60, 63: Kondeszendenzfigur), 132 f., 140, 201 f., 228, 233, 235, 280, 342 f. Inkarnationslehre: 9 - 1 1 Inkarnationsmorphologie: 3 f., 10, 14, 20, 26, 31, 34, 37, 39, 41, 46, 51, 55 57, 89, 96, 105, 112 f., 123, 131, 158 - 160, 163 f., 202, 233, 239, 242,263, 265, 287, 327, 334, 337 ff., 351 f., 354 Inspiration, Inspirations-...: 27 f., 51 f., 115, 117 Inszenierung: 15, 112, 138, 199, 228, 278, 333 Intentionalität, intentional: 9, 43, 47, 110, 239 f. Kabbala, kabbalistisch: 1, 10, 338

381

Kirche: 7, 26 f., 40, 54, 62, 152 ff., 203, 354 Klasse: 69 f. Klassifikation: 67, 69 f., 169 Körper, körperlich: 9, 32, 38 f., 43, 97, 104, 106 ff., 112, 176, 178, 180 f., 183 f., 194 - 196, 214 ff., 227, 243 f., 247 f., 257 ff., 269, 282 ff., 290, 292 ff., 344, 346 f. Körperschema: 223 ff., 228, 237, 255, 285, 293 f., 322, 347 Körperwelt: 35 - 38, 44, 47, 112, 195, 212, 215, 237, 244, 247, 249, 255 263, 274, 276, 287, 290, 292 ff., 339, 343 f. kognitivistisch: 29, 112, 115 ff., 122 f., 158, 237, 244, 331,337, 344 kognitiv: 103, 139, 201, 337, 342, 347 Konfession, Konfessions-...: 1, 26, 152 ff. Konfessionalismus: 1, 152 ff. Konfiguration: 78, 82, 101 f., 104 f., 247, 256, 353 Konkreator: 44, 49, 140, 195, 260 ff., 280, 299, 316, 318, 332, 343 Konzentration: 17,44, 290, 311 - 3 1 9 Korrelation: 47, 79 f., 80, 88 f., 91, 94 f., 99, 101 - 105, 148, 172, 188, 239, 256, 303, 346 Kosmos: 102 Kosmogonie: 11, 16, 23 f., 31, 224, 233 ff., 246, 248,252 f., 262 Kosmologie: 23 f., 82, 108, 213, 224, 233, 344 Kreuz: 37, 39, 61, 187 f., 204, 222 - 226, 345 Leben: 16, 27 f., 30 - 33, 37, 40, 43 - 47, 54 f., 57, 61, 64 - 66, 68, 70 f., 77, 79, 94 f., 102, 107, 109, 111, 132 f., 138, 164, 168, 178, 244 f., 249, 273, 285 f., 291 ff. 332, 343, 345 f. Lebensausdruck: 257 Lebensäußerung: 70 Lebensbedeutsamkeit, Lebensrelevanz: 37, 112, 122, 130, 133, 136, 139, 141, 145, 147 f., 150, 158, 163, 171 f., 187, 195, 205, 209 ff., 213 ff., 233 f., 299, 339-341,350 Lebensbild: 63, 80, 105, 132, 172, 223, 300, 327, 342 Lebenserfahrung: 20, 36, 47, 49, 66, 104, 173 Lebensgeschichte: 112, 132, 161, 278 f., 290 f., 295, 322 ff., 326, 341 f., 346, 349

382

9. Register

Lebensgestalt: 4 f., 25 f., 44 f., 51 f., 55 f., 60 - 62, 78 f., 95, 111, 130 - 132, 148 f., 163, 168, 208 f., 233 f., 246, 248, 278, 280, 285, 300, 304, 319, 342 f., 346 Lebenshaltung: 112, 289 - 327 Lebenskultur: 43, 152 Lebensphilosophie: 30 - 32, 46, 65 f., 107 f. Lebenspraxis: 5, 8, 19, 33, 41, 44, 48, 50, 78, 90, 93, 106, 113, 122, 184 f., 212, 227, 237, 303 f., 346 Lebenssinn: 37 Lebenstil: 79, 108, 111, 123, 197 Lebensvollzug, -wandel, -fiihrung: 10, 27, 32, 61, 63, 75, 77 - 79, 111, 123, 140, 153, 159, 161, 181, 189, 197, 199, 219, 227, 259, 295, 300, 312, 326 f., 333 f., 341, 345 Lebenswelt: 4, 10, 38, 43, 49, 51, 63, 104, 106, 109 f., 112, 120, 122, 125 f., 140 f., 146 - 148, 159, 173, 187 f., 192, 195, 202, 234 ff., 241 ff., 245, 252, 261, 273, 276, 282, 287, 293 ff., 343, 345, 353 Lebenswirklichkeit: 17,61, 126 f., 129, 150, 158, 195, 229, 233 f., 343 Leib: 9 f., 16, 25, 27, 30, 45, 47, 55, 61 f., 98, 104, 106 ff., 122, 131, 139, 149, 173, 180 f., 183 ff., 187, 209, 223, 236, 238, 253 ff., 291 ff., 307, 341 ff. Leibesgestalt: 61, 104, 112, 291 Leibesleben: 3, 62, 92, 113, 134, 162, 188, 198, 278, 345 leibfeindlich: 290, 308, 310, 315 Leibhaftigkeit, leibhaftig: 3, 10, 20, 25, 38, 44, 46 - 49, 51, 55 - 58, 61 - 63, 78, 87, 89, 99, 103 - 106, 112 f., 122, 131 ff., 138, 140, 147, 157 f., 161, 171, 180, 185 f., 193, 197, 200 f., 205, 234, 243, 253 - 257, 279, 287, 291 ff., 343 f., 346 ff. Leiblichkeit, leiblich: 4, 9 f., 32, 49 51, 53, 56 f., 59, 63, 78, 104, 106, 108, 111 f., 120, 127, 130, 140 f., 146, 174 f., 185, 196, 198, 205, 213, 236, 241 ff., 257, 287, 290 ff., 342 ff. Luthertum: 12, 20 - 22, 29, 36, 74 f., 118 f., 133, 337 ff. Magie, Magus, magisch: 41, 215, 280 f. Materialität, Materie, Körperdinglichkeit: 36 - 38, 177, 180, 224, 247, 260 f., 263, 269, 290, 295, 308, 318, 321 f., 325

Melancholie: 39 f., 50, 178, 197 f. Menschengestalt: 9, 253 - 257, 346 Menschwerdung: 10, 40, 53, 62, 132, 140, 161, 194 f., 200 ff., 220, 276 Metapher, metaphorisch: 1, 4, 8 f., 14, 24, 36, 48, 59, 103, 139 f., 169, 265, 292, 338, 341, 349 Metaphorik: 2, 15, 19 f., 59, 104, 218, 292, 309 Metaphysik, metaphysisch: 16 f., 23, 33 f., 38, 42, 46 f., 49, 51, 56, 59, 64 f., 122 - 124, 129 f., 132 ff., 150, 162 f., 169, 172,201,332, 337 f., 344 Mimesis, mimetisch, Postfiguration: 44, 48, 62, 79, 95, 134, 140 f., 147, 149, 151, 159 f., 165,168,200 f., 204, 210 f., 216, 257, 278 ff., 313, 319, 331, 344 ff. Monade, monadologisch: 10, 42, 303, 349 Morphologie, morphologisch: 4, 57, 64, 66, 69, 72 - 78, 94, 96, 105, 198, 236 f., 283 - 287, 345 Morphonologisch: 49 f., 280 f. Muttersprache: 49 f., 142 ff., 280, 349 Mystik, mystisch: 22 - 24, 33,42, 53 f., 62, 71, 100, 129, 230, 338, 341 mythologisch: 59, 82 Mythopoetik, mythopoetisch: 4, 31, 106, 116, 133, 169 f., 237, 257, 337, 347 ff. Naturphilosophie: 17,20,23, 34 - 39 Neuschöpfung: 24, 38, 48 - 50, 60, 93, 136, 214 f., 225, 237, 251, 253, 261 f., 276, 278, 304 f., 344 objektiv(-e Tatsache): 22, 42, 54, 56, 86, 92, 117, 120, 122, 147, 160, 166, 190, 301 f., 337 f., 341 Objektivismus, Objektivierungsstil: 40, 55 f., 121, 123, 134, 145, 162, 165, 172,191,299, 337 f. Offenbarung: 12, 52, 55, 77, 84, 122, 249, 255, 265, 305, 343, 346 Offenbarungsgestalt: 131 Neu- und Sonderoffenbarung: 26, 51, 115,341 Schriftoffenbarung: 9, 55, 117 f., 127, 186, 303, 341,346 Orthodoxie, altprotestantische Lehrorthodoxie: 6, 8 f., 21, 29, 52, 112, 115 f., 119 - 122, 132, 134, 158, 172, 302, 337 ff.

9.2. Sachregister Panentheismus: 34 pansopisch (auch Allwissenheit und Allwissenschaft): 1, 10, 17, 27, 51, 98, 100, 102, 119, 169, 178, 198, 209, 213,216, 233, 251,253, 338 ff. Pantheismus: 13, 20, 23, 33, 47, 129, 243, 266 Pathos, pathisch: 31, 42 f., 110, 117 f., 189 - 191, 339 ff. Performanz, performativ: 10, 51, 59 f., 113,203,218, 282, 334 Person, Persönlichkeit, persönlich, Personalität, personal: 24, 26, 40, 45, 47 49, 53, 78, 104, 106, 117, 131 - 133, 164, 167, 185, 223, 238, 240, 245, 278, 290, 301 f., 315, 327, 340, 342, 345 Phänomen: 69, 74, 99, 107, 110, 176 ff., 295 phänomenal: 70, 235, 259, 264, 272, 278, 283 ff., 321 Phänomenalst: 235 ff., 241 ff., 245 ff., 256, 261, 264 ff., 279, 287, 297 Phänomenalisierung: 3, 112 f., 145, 160, 172 f., 199 - 233, 235, 237, 243, 245, 252, 263 f., 270, 273, 277, 287, 306, 308, 341,345, 348, 353 f. Phänomenologie: 5, 11, 35 f., 46, 51, 55, 58, 94, 96, 106 ff., 112, 171, 180, 184, 189, 192, 198, 223, 295, 308, 338, 350, 354 Philosophie: 12, 15 f., 64 f., 67, 76, 78 f. Physikosoteriologie und -theologie: 11, 213 Physiognomik: 64, 73, 283 ff. Pietismus: 1,6, 12, 26, 115, 354 Poetik, poetisch: 16, 44 - 46, 98 f., 103, 353 Polarität, polare Spannung: 11, 22 f., 35, 37, 46, 76, 245, 297 Prädestination: 27, 124, 300 f., 303 ff., 308, 340 pragmatisch: 103, 139, 217, 237, 337 ff., 342, 347 Praxis pietatis: 4 0 , 4 8 , 332, 341, 346 Prophet (Böhme): 9, 26, 39, 44, 51 f., 115, 118

pro me: 37, 55, 120, 141, 188 - 191, 206, 301 f., 337 prepositional: 25, 59, 98, 120, 123, 338 Prototyp, prototypisch: 31, 44, 60, 69 - 71, 73, 78, 85 - 90, 93, 95 f., 105, 140, 193, 198, 200, 217 f., 223, 242 ff., 248, 254, 256, 278, 302, 321,342

383

Prototypik: 38, 57, 75, 91, 104, 110, 126 f., 140 f., 144, 157, 159 - 162, 167 f., 171 ff., 182 f., 194 f., 198, 208, 210, 227 f., 230, 278, 302 f., 307, 213 ff., 341,349 Psychologie, psychologisch: 16 - 20, 23, 41 f. erlebnispsychologisch: 66 - 70, 72 Raum: 73, 75, 108, 110, 180, 325, 351 Ortsraum: 244 Resonanzraum: 146, 247, 249, 278, 344 ff. Rechtfertigung, Rechtfertigungs-...: 8, 31, 4 8 , 5 1 , 5 9 , 189- 191,301 f. Rechtfertigungslehre: 5, 8, 25, 34, 136 138, 188, 192, 195, 202 Reduktion: 25, 35, 173, 185, 213, 249, 260, 351,353 Reformation, reformatorisch: 1, 12, 20 f., 26, 30, 115, 118, 188 Regenerierung: 50 Reinszenierung: 79, 86, 140, 314 Reintegration: 14, 53 - 56, 63, 137, 282, 344 Religion, religiös: 1, 3 f., 6, 13, 19, 36, 40, 73, 153 f., 172, 192, 344 Restitution: 50, 208 Rolle 4, 108, 111, 169, 195, 298, 306, 345 Schema, Schematisierung: 25, 28, 72, 139 f. Schöpfer: 19, 32, 47, 116, 126, 240 f. schöpferisch: 11, 17, 33, 112, 140, 233, 236,239, 287, 296, 346 Schöpfung: 24, 27, 31, 34, 38, 40, 44, 48 f., 56, 103, 124, 155 f., 214, 224 f., 233 ff., 238, 251, 256, 261 f., 305, 321, 344 Schöpfungsdrama: 112, 237, 263, 287 Schöpfungsintentionalität: 10, 34 Schöpfungstheologie: 10, 20, 34, 47 f., 56 Schrift, heilige: 1, 7 - 12, 20, 26, 28, 32, 47, 52, 54 - 56, 94 f., 102, 116, 118, 145, 147 - 149, 171, 173, 195, 307, 341, 345, 350 Schrifthermeneutik, applikative: 4 f., 11, 20, 25, 28, 32, 41, 45, 51 - 55, 57, 64, 88, 91, 96, 105, 112 f., 116, 149, 171, 188, 334, 338, 344 f, 354 Schriftsinn: 40, 142, 144 - 149, 151 Schriftstellerei (Böhmes): 4, 16 f., 21, 39 f., 43 f., 50 - 52, 55, 96, 117, 123, 133, 168, 338, 340 f.

384

9. Register

Seele, seelisch: 9 f. 15 f., 20, 27, 32, 42, 45, 70, 73, 99, 106 ff., 117, 120, 127 f., 130, 138, 157, 185, 193, 197, 212, 224, 236, 274 f., 289 ff., 343 Selbstbewußtsein: 12 - 14, 18, 46 f. Sensibilisierung: 32, 112, 168, 204 f., 212 f., 220, 287, 307, 348 f. Sensibilitätsschulung: 124, 127 f., 158, 172, 192, 195, 199 - 232, 347 Sensibilität: 36, 43, 189, 217, 230, 335 sensitiv: 113, 129, 158 f., 312, 342, 345, 347 Signatur-...: 1, 13, 64, 97, 283 - 287 Sinnen-bilder, sinnen-bildlich: 57, 96 106, 110, 163, 173, 349 Sinngestalt: 38, 57, 97, 101, 103, (107: Sinnfigur), 174,189, 194, 298 Sinnlichkeit, Sensualismus: 14 f., 17 - 20, 43, 47, 54, 57, 61, 63, 102 - 104, 106, 141,208,248,258-261 Sinnenwelt: 46, 63 Situation: 31, 43, 56, 58, 74, 79 f., 94, 104, 110, 112, 159, 168, 173, 179, 186, 233, 236, 241 ff., 283, 285, 287, 332, 3,43, 349 Situationsdramatik: 85 f., 90, 94, 96, 104, 110, 112, 150 f., 171 ff., 199 232, 341, 347 Sitz im Leben: 35, 65, 177, 279, 338, 345 Soteriologie: 4, 20, 23, 26 f., 37, 46 - 48, 50, 54, 56, 59, 63, 78, 88 - 90, 93, 133 f., 136 f., 141, 147, 163, 195, 202, 223 f. Spekulation, spekulativ: 13, 15, 20, 23, 27, 34, 42, 47, 49, 54, 56, 82, 119, 122, 138, 201,301,321,349 Spiritualismus: 1, 25, 53 f., 115 f., 146, 159, 277 f., 338 Sprache, sprachlich: 15, 17 f., 20, 25, 31 f., 36, 38, 44 - 47, 49 - 52, 65, 73, 79, 82 ff., 90 f., 102 - 106, 113, 125 f., 142 ff., 161, 168, 178, 199, 203, 264 282, 349 Sprachform: 45,167 Sprachgestalten: 104 f., 110, 278 ff. Sprachhandeln: 269 f., 277, 280 ff., 334 Sprachschöpfung: 40, 44 f., 49, 270, 273, 276, 278, 280, 285 Sprachspiel (christliches): 13, 334, 349 Sprachtheologie: 49 - 51, 102 Sprachwelt: 112, 236, 264 - 282, 287 Spüren: 130, 332 Subjekt, Subjektivität: 6, 9, 12, 17, 38, 120 ff., 159, 189- 191,301 f., 338 ff.

subjektiv(-e Tatsache): 22, 26, 42, 55, 57, 92, 102, 113, 118, 120 ff., 130, 160, 166, 171, 186, 189 - 192, 201, 301 f., 331, 338 f., 341, 354 Subjektivismus (Böhmes): 1 f., 26, 42, 159 f., 339 Symbol: 49, 63, 73, 75,98, 195, 204 Synergismus: 25 f., 49, 56, 116, 137, 189 192,202, 300-302,313, 330 Szene (biblische): 1, 150, 199 - 233, 341, 343 szenisch: 85 f., 90, 94, 104, 110, 199 232, 345 Szenographie, szenographisch: 112, 145, 171 ff., 185, 192, 196, 199 - 233, 287, 289, 308, 313, 332, 334, 339, 341 f., 344 Taufe: 137, 182, 205 - 217, 253, 303, 332, 339 f., 345 Terminologie, terminologisch: 5, 15, 22, 106, 108, 111, 181 Theogonie: 16, 31, 233 ff., 262 Theologie: 1 - 4, 8 f., 16, 28, 56, 88, 118 f., 152, 157, 162 f., 337 f., 354 Erfahrungstheologie: 84, 87, 90,134 Föderaltheologie: 85, 87, 90 f., 93 f. theosophisch: 17 f., 134 Topik: 129, 143,221,233,338 Topos: 130, 132, 188, 267, 278 Tradition: 1, 29 f., 32, 38, 42, 49, 62, 87, 98, 115 f., 161, 169, 172, 238, 251, 277.284, 301,338,349, 351 Typ, typisch: 1, 62, 66, 68 - 71, 76, 79, 82 - 91, 99, 104, 173, 182, 187, 198 f., 216.285, 341 ff. Typik: 85, 138, 173, 185 f., 188, 238, 253, 263, 265 Typologie, typologisch: 4 f., 24, 38 f., 55 57, 64, 69, 75 - 77, 80, 82 - 94, 97 f., 100, 104, 112, 116, 150, 169, 171 f., 188, 199 - 232, 237, 253, 287, 344, 351, 354 Adam - Christus - Typologie: 24, 150 f., 222, 352 Ismael - Isaak - Typologie: 138 vital: 10, 27, 32, 77 f., 93 - 95, 104, 106, 132, 173, 185, 194 f., 224, 253, 259, 297, 307, 309 ff., 331, 340, 344 Vitalität: 107, 173, 236, 238 f., 242, 245, 255 f., 259, 261 - 263,290 - 294, 307 f., 322, 342 Vitalismus, vitalistisch: 31, 189, 297, 343, 346

9.2. Sachregister Vorstellung: 13 f., 17 f., 25 Wahrheit: 8 f., 14, 99, 292 f., 334, 346 Wahrnehmung: 35 f., 44, 55, 57 f., 79, 86, 94, 101 f., 107, 149, 205,244, 284 ff. Wahrnehmungswelt: 112, 283 - 287, 351, 353 Weisheit, weisheitlich: 1, 12, 99 f., 105, 117, 124, 147, 242 - 249, 251, 254, 256, 264 ff., 321,351 Werke, gute: 27, 116, 324, 329 ff. Weltanschauung: 34 f., 38, 65 - 69, 76 Weltanschauungstypen 66 - 69, 72, 75, 79 Wiedergeburt: 24 - 26, 40, 52, 112, 116, 141, 171, 174, 181, 187, 198, 200, 202, 228 - 232, 339 ff. Wiederholung: 40 f., 48, 70, 72, 78 - 80, 82, 84, 91, 94, 254, 270 ff., 287

385

Wille, Willkür: 11, 16 f., 43, 52, 66 f., 87, 179, 189 - 191, 194 f., 205, 239 f., 259, 267, 273, 292, 301 f., 304 f., 339 f., 343 f., 351 Wirklichkeit: 42, 83, 90, 102 f., 118, 130 f., 186, 206, 226, 228, 254, 292, 333 f., 345 f. Wort (Gottes): 7, 60, 97, 99, 105, 133, 146, 195, 200, 220, 236 f., 264 - 282, 303, 330, 346 Zorneinbruch, augenblicksgöttlicher: 39, 130 f., 160 f., 176 - 179, 181 ff., 185 ff., 192, 194, 199, 205, 212, 216, 230, 235, 245, 258, 339, 343

LARS EMERSLEBEN

Kirche und Praktische Theologie Eine Studie über die Bedeutung des Kirchenbegriffes für die Praktische Theologie anhand der Konzeptionen von C. I. Nitzsch, C. A. G. v. Zezschwitz und Fr. Niebergall 1999. 23 χ 15,5 cm. XII, 408 Seiten. Leinen. D M 174,-/öS 1270,-/sFr 155,-/approx. US$ 102.00 • ISBN 3-11-016267-9 (Theologische Bibliothek Töpelmann 99) Konzeptionsanalyse dreier aufeinander bezogener und dennoch unterschiedlich konstruierter Gesamtentwürfe der Praktischen Theologie, die für deren Entwicklung bis heute paradigmatische Entscheidungen nach sich gezogen haben und sich dabei organisch an ihrem jeweiligen Kirchenbegriff orientieren. Der Autor untersucht Schriften von: C. I. Nitzsch (17871868; Bonn, Berlin), C. A. G. v. Zezschwitz (1825-1886; Erlangen), Fr. Niebergall (1866-1932, Heidelberg, Marburg).

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XXÄLTI.R DI