Suchtlexikon [Reprint 2014 ed.] 9783486789423, 9783486235258

Die Inhaltliche Vielfalt des Lexikons reicht von Fragen der genetik bis hin zu soziologischen Konzepten, Von geschichtli

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German Pages 658 [660] Year 1999

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Suchtlexikon [Reprint 2014 ed.]
 9783486789423, 9783486235258

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Benutzungshinweise
Abkürzungen
A-D
E-G
H-N
O-R
S-Z

Citation preview

Suchtlexikon Herausgegeben von

Prof. Dr. Franz Stimmer

unter Mitarbeit von

Petra Andreas-Siller (Redaktion und Kurzstichwörter)

R.01denbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Suchtlexikon / hrsg. von Franz Stimmer. Unter Mitarb. von Petra Andreas-Siller (Kurzstichwörter). - München; Wien : Oldenbourg, 2000 ISBN 3-486-23525-7

© 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag SmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH ISBN 3-486-23525-7

Vorwort Ein „Suchtlexikon" herauszugeben ist beim heutigen Diskussionsstand ein sicher angreifbares aber dennoch notwendiges Unternehmen. Allein schon der Begriff „Suchtlexikon" wird manch kritischen Leser die Stirne runzeln lassen. Kann man heute noch von „Sucht" sprechen oder heißt es nicht eigentlich „Abhängigkeit"? Sollte es nicht besser „Drogenlexikon" heißen? Aber was verbirgt sich wiederum hinter dem Begriff „Drogen"? Ist damit auch Tabak und Alkohol gemeint oder sind es nur die „illegalen Drogen"? Dann gibt es wiederum „Neue Süchte". Was ist mit den „stoffungebundenen Süchten"? Fragen über Fragen, die, wenn nicht drei oder vier Lexika mit unterschiedlichen Titeln hätten erscheinen sollen, dazu geführt haben, den Pauschalbegriff „Suchtlexikon" zu wählen und zu versuchen, die vielen Begrifflichkeiten und unterschiedlichen Meinungen zuzuordnen. Die inhaltliche Vielfalt des Lexikons reicht von Fragen der Genetik bis hin zu soziologischen Konzepten, von geschichtlich-kulturellen Aspekten bis zu Suchtstoffanalysen, von der Gesundheitsförderung bis zur zwangsweisen Unterbringung, von der Psychoanalyse bis zur Verhaltenstherapie, von der Entgiftung bis zur Nachsorge, von der Kindheit bis zum Alter, vom Genußmittel Alkohol bis zu chronisch mehrfachgeschädigten Menschen, von geschlechtsspezifischen bis zu berufsspezifischen Fragen, von der Ethik bis zu Suchtstoffgruppen ... Daß bei den unterschiedlichen soziologischen, psychologischen, medizinischen, psychotherapeutischen, sozialpädagogischen, juristischen, politischen, kriminologischen ... Betrachtungsweisen keine Eindeutigkeit in der Begrifflichkeit und in den Zielvorstellungen zu erreichen ist, kann nicht überraschen. Dies spiegelt auch den Stand des heutigen Wissens wieder. Die oft gehörte Klage, daß es keine anerkannte allgemeingültige Theorie der Sucht gibt und man nicht so genau wisse ... ist zwar als Wunschvorstellung nach Ordnung und Handlungssicherheit verständlich, macht aber bei dem multiperspektivischen Gegenstand doch wenig Sinn. Unterschiedliche, manchmal auch widersprüchliche Meinungen und Erkenntnisse, wie sie auch in diesem Lexikon zu finden sind, beleben das Geschäft und machen, je nach Raster, das angelegt wird, den einen oder anderen Aspekt deutlicher. Ingesamt existieren aber doch schon viele bedeutsame Mosaiksteine, die das Gesamtbild in Umrissen schon erahnen lassen. Dabei konkurrieren manche dieser Mosaiksteine um denselben Platz miteinander, andere fügen sich schon gut zu einer größeren Einheit zusammen, neue wiederum werden hinzukommen, das eine oder andere gehört vielleicht auch eigentlich in ein anderes Bild. Im „Suchtlexikon" sollen die teilweise noch sehr verstreuten Mosaiksteine den ihnen angemessenen Platz finden. Das war jedenfalls mein Ziel als Herausgeber. Hinweise und kritische Vorschläge für die weitere inhaltliche Gestaltung des Lexikons im Rahmen einer künftigen Überarbeitung werde ich gerne berücksichtigen. Ich bedanke mich sehr bei allen Verfasserinnen und Verfassern der Hauptstichwörter, bei Frau Dipl.-Soz.Päd. Petra Andreas-Siller, die neben der redaktionellen Mitarbeit einen erheblichen Teil der Kurzstichwörter verfaßt hat, bei Herrn Dipl.-Soz.Päd. Stefan MüllerTeusler für die umfangreiche redaktionelle Mitarbeit und bei Frau Dipl.-Soz.Päd. Ulrike Halla, die die Kurzstichwörter zu den Institutionen erarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht hat. Mein Dank gilt weiter Frau Dr. Hilde van den Boogaart und Herrn Dr. Georg Hey für die kollegiale Unterstützung bei der Planung des Lexikons, Herrn Jost Leune vom Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V. für viele weiterführende Hinweise und Herrn Dipl.-Volkswirt Martin M. Weigert als hilfreichen Ansprechpartner des Verlags. Franz Stimmer

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Gisela Adam-Lauer, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg (Embryopathie) Petra Andreas-Siller, Dipl.-Soz.-Päd., drobs Lüneburg (Elementarbereich) Ingrid Arenz-Greiving, Dipl.-Soz.-Päd., Beratungspraxis, Dülmen (Kinder suchtkranker Eltern) Prof. Dr. Harald Ansen, Berufsakademie Stuttgart (Armut) Prof. Dr. Hans J. Bochnik, Zentrum der Psychiatrie der Universität Frankfurt a. M. (Drogenfreigabe, Ethik) Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Universität Bremen (Drogenrecht) Prof. Dr. Jobst Böning, Psychiatrische Universitätsklinik Würzburg (Persönlichkeit und Suchtverhalten) Dr. Hilde van den Boogaart, Justizbehörde Hamburg (Sucht und Kriminalität) Prof. Dr. Helmut Coper, Universitätsklinikum Benjamin Franklin, Berlin (Cannabis) Christiane Deneke, Dipl.-Soz., Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften, Lüneburg (Selbsthilfe) Dr. phil. Dr. med. Stephan Dressler, C. D„ Berlin (Hepatitis) Dr. Reinhard Dübgen, Nervenarzt, Dipl.-Psych., Landeskrankenhaus Lüneburg (Qualifizierte Entgiftung) Dr. Karin Elsesser, Universität-Gesamthochschule Wuppertal (Konsummuster Ost und West) Prof. Dr. Jörg Fengler, Universität Köln (Co-Abhängigkeit) Prof. Dr. Wilhelm Feuerlein, Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München (Alkoholabhängigkeit) Dr. Petra Franke, Psychiatrische Universitätsklinik Bonn (Genetik) Prof. Dr. Peter Franzkowiak, Fachhochschule Koblenz (Gesundheitsförderung) Prof. Dr. Dietlinde Gipser, Universität Hannover (Eßstörungen) Dr. Matthias Gottschaidt, Oberbergkliniken, Hornberg (Berufsspezifische Aspekte) Prof. Dr. Erich Grond, Hagen (Sucht im Alter) Dr. Angelika Groterath, Centro Italiano di Solidarieta, Rom (United Nations International Drug Control Program) Dr. Ulfert Hapke, Dipl.-Psych., Dipl.-Soz.-Päd., Universität Greifswald (Epidemiologie, Motivational Interviewing. Psychologische Konzepte) Prof. Dr. Wolfgang Heckmann, Fachhochschule Magdeburg (Drogenabhängigkeit) Prof. Dr. Hans Heinze, Wunstorf (Psychiatrie-Enquete) Irene Helas, Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.-Arb., Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe, Kassel (Fort- und Weiterbildung) Dr. Peter Herrmann, Systeam - Consult GmbH, Bonn (Familie) Dr. Georg Hey, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg (Krankheit, Soziale Arbeit, Selbsthilfe) Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld (Jugend) Prof. Dr. Ulrich John, Universität Greifswald (Epidemologie) Priv. Doz. Dr. Michael Kämper - van den Boogaart, Humboldt-Universität Berlin (Drogen in der Literatur) Dr. Uwe E. Kemmesies, Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Drogenforschung) Prof. Dr. Michael Klein, Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Köln (Sucht und Gewalt) Heinz Klement, Blaues Kreuz Wuppertal (Abstinenzbewegungen) VII

Prof. Dr. Rudolf Knapp, Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Köln (Erziehung) Prof. Dr. Joachim Körkel, Evangelische Fachhochschule Nürnberg (Rückfall) Dr. Ludwig Kraus, Institut für Therapieforschung, München (Einstieg in den Drogenkonsum) Prof. Dr. Michael Krausz, Universitäts-Krankenhaus Eppendorf, Hamburg (Psychosen) Georg Kremer, Dipl.-Psych., Psychiatrische Kliniken Bethel (Motivational Interviewing) Dr. Heinrich Küfner, Institut für Therapieforschung, München (Diagnostik, Psychotherapie) Prof. Dr. Hubertus Lauer, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg (Sozialrecht) Knut Lehmann, Dipl.-Soz., Landesamt für Versorgung und Soziales, Halle (Professionalisierung) Jost Leune, Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V., Hannover (Finanzierung, Musik und Drogen, Suchtberatung, Suchtkrankenhilfe) Dr. Jürgen Lotze, Landeskrankenhaus Lüneburg (Forensik, Psychiatrie) Prof. Dr. Peter Loviscach, Fachhochschule Dortmund (Genese) Prof. Dr. Wolfgang Maier, Psychiatrische Universitätklinik Bonn (Genetik) Dr. Friedrich Maritsch, Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung, Wien (Geschichte des Tees und des Kaffees) Christian Meyer, Dipl.-Psych., Universtität Greifswald (Epidemiologie) Dr. Gerhard Meyer, Universität Bremen (Spielsucht) Stefan Müller-Teusler, Diplom-Soz.-Päd., Weidenhof - Heim für Menschen mit Autismus, Hitzacker (Behinderung) Dr. Guido Nöcker, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (Prävention) Dr. Stefan Poppelreuter, Universität Bonn (Arbeitssucht) Prof. Dr. Wolfgang Poser, Universtität Göttingen (Medikamentenabhängigkeit) Prof. Dr. Peter Raschke, Universität Hamburg (Substitution) Christian Rausch, Dipl.-Päd., Mainz (Europa) Weif Reinhold, Diplom-Kfm., Advocard, Hamburg (Kosten-Nutzen-Analyse) Prof. Dr. Helmut Richter, Universität Hamburg (Akzeptierende Drogenarbeit) Prof. Dr. Hans Rommelspacher, Universitätsklinikum Benjamin Franklin, Berlin (Neurobiologie) Dr. Wolf-Detlef Rost, Gießen (Psychoanalyse) Dr. Hans-Jürgen Rumpf, Dipl.-Psych., Medizinische Universität Lübeck (Epidemiologie, Motivational Interviewing) Dr. Peter Schäfer, Universität Lüneburg (Drogenrecht (internationales und europäisches), Liberalisierung) Dr. Henning Schmid-Semisch, Universität Bremen - BISDRO (Drogenpolitik) Ralf Schneider, Dipl.-Psych., Salus-Klinik, Friedrichsdorf (Verhaltenstherapie) Dr. Wolfgang Schneider, INDRO, e. V., Münster (Maturing out) Prof. Dr. Harald Schütz, Universität Gießen (Blutalkoholkonzentration, Haaranalyse, Suchtstoffanalysen) Prof. Dr. Wolfgang Schulz, Technische Universität Braunschweig (Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker, Komorbidität, Qualitätssicherung, Sucht) Helmut Schwehm, Dipl.-Päd., Therapiezentrum Ludwigsmühle, Ingenheim (Humanistische Psychologie) Franziska Sitzler, Diplom-Psych., Universität Dortmund (Konsummuster Ost und West) Prof. Dr. Alfred Springer, Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung, Wien (Geschichte der Opiate, Heroin, Iatrogene Abhängigkeit, Sexualität und Suchtmittel) Prof. Dr. Marianne Springer-Kremser, Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie, Wien (Sexualität und Suchtmittel) VIII

Prof. Dr. Werner Steffan, Fachhochschule Potsdam (Streetwork/Aufsuchende Arbeit) Prof. Dr. Franz Stimmer, Universität Lüneburg (Kindheit, Soziologische Aspekte) Prof. Dr. Norbert Sturm, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg (Kosten-Nutzen-Analyse) Dr. Elmar Supe, Hochschule Vechta (Schule) Prof. Dr. Karl-Ludwig Täschner, Bürgerhospital Stuttgart (Kokain) Siegfried Tasseit, Dipl.-Soz., Suchtambulanz Alfeld (Ambulante Einrichtungen: Struktur und Organisation; Ambulante Einrichtungen: Historische Entwicklung) Priv. Doz. Dr. Rainer Thomasius, Universitätskrankenhaus Eppendorf, Hamburg (Designer-Drogen, Ecstasy, Familientherapie, Schnüffelstoffe) Dr. Erich Trüg, Klinikum Nord, Ochsenzoll, Hamburg (Entzug) Prof. Dr. Jürgen v. Troschke, Abtlg. für Medizinische Soziologie, Universität Freiburg (Geschichte des Tabaks, Nikotin) Dr. Alfred Uhl, Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung, Wien (Evaluation, Geschichte des Tees und des Kaffees) Dr. Uwe Vertheim, Institut für Interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (Substitution) Prof. Dr. Irmgard Vogt, Fachhochschule Frankfurt am Main (Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht) Dr. Hans Watzl, Universität Konstanz (Geschichte des Alkohols) Prof. Dr. Dr. Heiko Waller, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg (Gesundheitswissenschaft) Dr. Heinz-Gerd Weijers, Dipl.-Psych., Psychiatrische Universitätsklinik Würzburg (Persönlichkeit und Suchtverhalten) Georg Wiegand, Μ. Α., Sozialmedizinischer Dienst, Landesversicherungsanstalt Hannover (Rehabilitation) Dr. Matthias Wienold, M.S.P, Medizinische Hochschule Hannover (AIDS) Dr. Gerhard A. Wiesbeck, Psychiatrische Universitätsklinik Würzburg (Persönlichkeit und Suchtverhalten) Dr. Henno Wiesner, Praxis Supervision und Organisationsentwicklung, Lüneburg (Betriebliche Suchtprävention) Gunnar Carsten Witt, Arzt, Landeskrankenhaus Lüneburg (Körperliche Entgiftung (Alkoholabhängigkeit)) Herbert Ziegler, Systeam - Consult GmbH, Bonn (Entwöhnung)

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Benutzungshinweise 1. Die Stichwörter des Lexikons umfassen die für das Thema „Sucht" relevanten Fachbegriffe (als Kurz- und als Hauptstichwörter) sowie Institutionen und Organisationen in diesem Feld. 2. In den einzelnen Stichwörtern werden Verweise mit „-»" gekennzeichnet, am Ende eines Abschnitts mit „(-•)". Empfehlungen für weitere Stichwörter am Ende des Beitrags werden mit „->" angeführt. 3. Um verwirrende Konstruktionen zu vermeiden, wurde in den Stichwörtern die männliche Form gewählt; sie steht sowohl für die weibliche als auch die männliche Form der Begriffe. 4. Die im Text verwendeten Abkürzungen sind dort meist erläutert. Zudem besteht ein Abkürzungsverzeichnis. 5. Im Text werden keine Unterstreichungen, Kursivschrift oder sonstige Hervorhebungen verwendet; spezielle Betonungen werden aus dem Text ersichtlich.

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Abkürzungen AVG BGB BSHG BSG BtM BtMG DSM DVO GG ICD i.V. KJHG MPU Reha RehaAnglG SGB StGB WHO

Angestelltenversicherungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundessozialhilfegesetz Bundessozialgericht Betäubungsmittel Betäubungsmittelgesetz Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders Durchführungsverordnung Grundgesetz International Classification of Deseases intravenös Kinder- und Jugendhilfegesetz Medizinisch-Psychologische-Untersuchung Rehabilitation Rehabilitationsangleichungsgesetz Sozialgesetzbuch Strafgesetzbuch World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)

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Abstinenz

Abbruchquote

A Abbruchquote Die A. ist das Maß für den Anteil aus der Gesamtheit einer Klienten- oder Patientengruppe, der nach Beginn einer Beratung oder Behandlung diese von sich aus beendet, ohne daß die Beratung oder Behandlung formal und/oder inhaltlich als beendet betrachtet werden kann. Die Abbruchquote liegt erfahrungsgemäß sowohl in den ambulanten wie in den stationären Behandlungen zu Beginn sehr hoch und nimmt mit der Dauer der Behandlung ab. So ist zum Beispiel das Abbruchrisiko in den ersten 12 Wochen einer stationären Entwöhnungsbehandlung Drogenabhängiger am höchsten und nimmt mit der Verweildauer ab. Anamnestische Erhebungen haben bisher zu wenig verwertbaren Ergebnissen hinsichtlich der Vorhersage des Therapieabbruchs geführt. Klienten brechen dann eher ab, wenn die kognitiven Bindungen an den Drogenmarkt stark ausgeprägt sind, die Klienten nicht von der Therapie profitieren und die therapeutischen Anforderungen den psychosozialen Kompetenzen der Klienten nicht gerecht werden. -•Ebis; -\Sedos Abhängigkeit 1. A. bezeichnet grundsätzlich eine, die freie Entwicklung und die Autonomie der eigenen Entscheidungen einschränkende Bindung an Menschen, Ideen oder Stoffe. 2. 1968 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschlossen, den Begriff der -»•Sucht (drug addiction) durch den Begriff der A. (drug dependence) zu ersetzen. Hier ist der Begriff allerdings auf Substanzen beschränkt und A. liegt dann vor, wenn der Konsum einer Substanz oder Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden und sich eine Toleranz und/oder •Entzugserscheinungen nachweisen lassen. -»Diagnostik;

-•Alkoholabhängigkeit; ->Drogenabhängigkeit; -»low dose dependence; -•Medikamentenabhängigkeit; -•Mehrfachabhängigkeit 3. Bei A. wird zwischen der stoffgebundenen (wie Alkohol, Medikamenten, illegalen Drogen) und stoffungebundenen A. (wie -•Spielsucht, Eßsucht) unterschieden, wobei weder Eßsucht noch Spielsucht im ->ICD 10 den Abhängigkeiten zugeordnet werden. Hier wird A. ausschließlich auf Substanzen bezogen. 4. Bei der A. wird schließlich zwischen der seelischen (psychischen) und körperlichen (physischen) A. unterschieden. Die psychische Abhängigkeit zeigt sich in dem starken, gelegentlich übermächtigen Wunsch, ->psychotrope Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu sich zu nehmen, während sich die körperliche Abhängigkeit durch -•Toleranz auszeichnet (es werden immer höhere Dosen der Substanz erforderlich, um die gleiche Wirkung zu erzielen). -•Entzug; -•Körperliche Entgiftung Absehen von der Strafverfolgung Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ermöglicht mit § 31 eine Strafmilderung oder auch das Absehen von Strafe bei freiwilliger Offenbarung des Wissens zur Tataufdeckung, mit § 31a das Absehen von der Strafverfolgung bei geringer Schuld des Täters (geringe Mengen illegaler Drogen zum Eigengebrauch), wobei es eine einheitliche, bundesweit geltende Obergrenze dafür nicht gibt. In den §§ 35-37 ist für betäubungsmittelabhängige Straftäter die notwendige therapeutische Behandlung geregelt. -•Drogenpolitik; -•Drogenrecht Abstinenz 1. Allgemein bezeichnet A. die Enthaltsamkeit bestimmter Personen, Bevölkerungsgruppen oder ganzer Staaten z.B. von Alkohol aufgrund kultureller und/ 1

Abstinenzbewegungen oder religiöser Überzeugungen. Beispiele dafür sind etwa islamische Staaten, wie Saudi-Arabien, in denen Alkohol gesetzlich verboten ist, oder Religionsgemeinschaften, wie die Quäker, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung grundsätzlich keinen Alkohol trinken. Der Begriff der Enthaltsamkeit wird aber auch auf andere „weltliche Genüsse" und Vergnügungen, wie Tanzveranstaltungen, Musik, Sexualität, Essen, angewandt und ist häufig Bestandteil der -•Askese. 2. Abstinenz ist das am häufigsten genannte Behandlungsziel bei -»Abhängigkeit von einer psychoaktiven Substanz. Abstinenzbewegungen Seit der frühesten Geschichte waren alkoholhaltige Getränke, ihr Mißbrauch und die oft problematischen Folgen bekannt. Schon von d e m „ersten Weingärtner" Noah wird berichtet, daß er sich betrunken habe und dadurch zum Gespött seines Sohnes wurde (Genesis 9, 20 ff.). Jahrhunderte später schildert der Verfasser der „Sprichwörter Salomos" anschaulich die fatalen Auswirkungen unmäßigen Weingenusses (Sprüche 2 3 , 2 9 f f . ) . Natürlich ist es nicht angebracht, hier schon von „Abstinenzbewegungen" zu sprechen, aber allein die Tatsache, daß die problematischen Seiten des Weingenusses festgehalten werden, zeigt, daß Alkoholmißbrauch nicht unwidersprochen blieb. Ganz abgesehen davon, daß schon in der Frühgeschichte konkret von einem Familienverband berichtet wird, dessen Mitglieder bewußt alkoholfrei lebten (die Sippe Rechab - Jeremia 35). Auch sonst finden wir in der antiken und mittelalterlichen Literatur Hinweise auf Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Alkohols und der Alkoholexzesse. So stammen z.B. von Karl dem Großen zahlreiche Gesetzesvorschriften, in denen die Eindämmung der Trunkenheit gefordert wurde. Im Zeitalter der Reformation gab es zwar keine alkoholgegnerische Bewe2

Abstinenzbewegungen gung, die protestantischen Geistlichen jedoch traten sehr energisch gegen die Trunksucht auf. - In der Mitte des 16. Jahrhunderts erschien in Deutschland eine anonyme Schrift: „Wider die Trunkenbolde" und etwa zur gleichen Zeit von Mattheus Friderichs: „Wider den S a u f f t e u f e l . . . " . Auch Martin Luther, der bekanntlich kein besonders mäßiges Leben führte, wandte sich gegen das exzessive Trinken. Von ihm soll der Satz stammen: „Wer erstlich Bier gebraucht hat, der war Deutschlands Pest." Die eigentliche Alkoholbekämpfung allerdings begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits Jahrzehnte bevor die heute im deutschen Sprachraum bekannten Abstinenz-Organisationen gegründet wurden, entstanden da und dort alkoholgegnerische Bewegungen. Eine führende Persönlichkeit dieser Bewegung war Albert Freiherr von Seid (1799-1867), der als Pionier der Abstinenzbewegung vor allem im damaligen Königreich Preußen wirkte. In seinem Buch: „Sechzig Jahre" (erschienen 1926 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen) beschreibt er anhand vieler Beispiele die Situation in den Jahren 1 8 1 5 1850: Der Branntwein-Konsum nahm vor allem bei den entlassenen Soldaten aus den Befreiungskriegen rapide zu. König Friedrich Wilhelm III. hatte von der erfolgreichen Tätigkeit der Abstinenzvereine in den U S A gehört und ließ einen ihrer führenden Vertreter, Prediger Baird, nach Berlin kommen. Dessen Bericht fand bei dem f r o m m e n König begeisterte A u f n a h m e : Auf königliche Order wurden 3 0 0 0 0 Exemplare dieses Berichts gedruckt und an alle Geistlichen im Königreich versandt mit der Auflage, die Gründung von „Abstinenz-Vereinen" zu fördern. Diese Vereine bekämpften vor allem - einige Quellen sprechen von „ausschließlich" den Branntweinkonsum, hatten aber dank des unermüdlichen Einsatzes des „Baron von Seid", wie er überall genannt wurde, erstaunlichen Erfolg. Be-

Abstinenzbewegungen reits 1841 gab es in Preußen 302 „Mäßigkeitsvereine" (die Worte Mäßigkeit, Abstinenz und Enthaltsamkeit werden in den Quellen ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied wechselweise verwendet) mit rund 2 0 0 0 0 Mitgliedern, „aber Hunderttausende gelobten, sich des Branntweins zu enthalten" (Dahlbusch und Nau 1960, S. 19). Einen großen Rückschlag erlebte die Abstinenzbewegung durch die Revolutionswirren des Jahres 1848. Vielleicht auch dadurch, daß man in den folgenden Jahren „in den Mäßigkeitsvereinen die Herde politisch- und kirchlich-reaktionärer Elemente zu sehen glaubte." Zeitgleich entstanden vielerorts andere Vereine, z . B . für Studenten, Schützen, Turner usw., in denen vor allem Geselligkeit und „derbe Trinksitten" gepflegt wurden (ebd., S. 20). Obwohl sich Baron von Seid auch in den Jahren nach 1850 ohne Rücksicht auf seine Gesundheit für die Abstinenzbewegung einsetzte und unermüdlich im ganzen Königreich seine „Feldzüge" durchführte, verfiel die A. in den folgenden Jahren in die Bedeutungslosigkeit, vielleicht weil sie - anders als in den skandinavischen Ländern - nach dem Tod von Albert von Seid im deutschsprachigen R a u m keinen mitreißenden Fürsprecher mehr hatte. Da die „Branntweinpest" aber immer mehr zunahm, sahen sich staatliche Stellen genötigt, etwas zu unternehmen. So entstand 1883 der „Deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke", der sich das Ziel setzte, die Trunksucht zu bekämpfen, aber diese und viele andere Versuche lösten keine Volksbewegung aus. Es blieb vielmehr einzelnen Persönlichkeiten vorbehalten, durch hohen persönlichen Einsatz Vereinigungen ins Leben zu rufen, die in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet Erstaunliches auf d e m Gebiet der Abstinenzbewegung und Suchtkrankenhilfe leisteten. Gemeinsam war diesen Gründer- und Pionier-Persönlichkeiten ein hohes Verantwortungsbewußtsein für das Wohlerge-

Abstinenzbewegungen hen ihrer Mitmenschen. Je nach Herkunft war es in ihrem christlichen Glauben oder in ihrer humanistischen Einstellung begründet. Sie konnten es nicht mitansehen, wie ihre Mitmenschen durch den Alkoholkonsum zugrunde gingen und setzten ihre ganze Kraft dafür ein, sowohl den direkten als auch den indirekten „Opfern der Trinksitten und des Wirtshauslebens" tatkräftige Hilfe anzubieten. Dabei sahen sie alle die eigene Alkohol-Enthaltsamkeit als ein unverzichtbares Beispiel an. Außerdem versprachen sie sich davon einen unentbehrlichen Solidarisierungseffekt mit den Betroffenen und ihren Angehörigen. Gleichzeitig kämpften diese Frauen und Männer - z u m Teil verbissen - gegen den „Mißbrauch des Alkohols". M a n c h e machten ihren - abstinenten - Lebensstil zum Maßstab für ihre Umgebung, so daß sie sich bisweilen selbst im Weg standen, Spott und Hohn auf sich luden und ihren Teil mit dazu beitrugen, daß die Worte „Abstinenz" und „Abstinenzler" einen unangenehmen Beigeschmack bekamen. Diese negativen Begleiterscheinungen schmälern aber nicht das Verdienst, das sich diese Persönlichkeiten und die von ihnen gegründeten Abstinenz-Verbände um die Volksgesundheit erworben haben. Sie leisteten in ungezählten Fällen Einzelfall- und Familien-Hilfe und boten in ihren Versammlungen Beratung und einen „alkoholfreien Lebensraum" an. Schonungslos prangerten sie in ihren zahlreichen Veröffentlichungen (Zeitschriften, Traktate, Plakate, Erzählungen usw.) das Leid und das Elend an, das durch die Trinksitten, durch leichtfertige Verführung (aufdringliche Werbefeldzüge kannte man damals noch nicht!) und letztlich auch durch die Herstellung des Alkohols angerichtet wurden. Im deutschsprachigen Raum sind - vor allem um die Jahrhundertwende - zahlreiche solcher Vereine entstanden, viele von ihnen nur für einige Jahre, einige haben jahrzehntelang mit wechselndem Erfolg gearbeitet.

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Abstinenzbewegungen Die drei größten Abstinenz-Verbände, deren Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen, sind heute das Blaue Kreuz, der Guttempler-Orden und der Kreuzbund: 1. Das Blaue Kreuz wurde 1877 in Genf von einem reformierten Pfarrer, Louis Lucien Rochat, gegründet als „Schweizerischer Mäßigkeitsverein". Drei Jahre später gab sich die Vereinigung den Namen „Blaues Kreuz" mit folgender Begründung: „Wo die Fahne des Roten Kreuzes weht, erwacht H o f f n u n g in der Brust des Verwundeten . . . So zeige sich unser kleines Rettungskorps mit dem blauen Kreuz überall, wo die Verwundeten der Trunksucht und des Wirtshauslebens liegen . . . " . Durch Pfarrer Bovet k a m das Blaue Kreuz in die deutschsprachige Schweiz und 1885 nach Hagen in Westfalen. Gleichzeitig bzw. kurz davor waren an einigen anderen Orten in Deutschland Β laukreuz-Vereine durch den Methodistenprediger Ernst Gebhardt entstanden. Der Bahnbrecher aber dieser Abstinenzbewegung, die ihre Wurzeln im evangelischen Pietismus hat, wurde Curt von Knobelsdorff (1839-1904), der als preußischer Offizier selbst Trunksucht durchlitten hat und nach seiner Genesung als begabter Volksredner und Evangelist, vor allem in den Jahren 1890-1902 im ganzen damaligen Deutschen Reich und darüber hinaus für die Abstinenzbewegung unter d e m Motto „Evangelium und Abstinenz" warb. Er wurde der erste Vorsitzende des 1892 in (Wuppertal)-Barmen gegründeten „Deutschen Hauptverein des Blauen Kreuzes", der 1914 seine größte Ausdehnung mit 45 128 Mitgliedern in 816 Ortsvereinen hatte. 1.1 Der Rechtsnachfolger dieses Vereins ist das -»„Blaue Kreuz in Deutschland e.V.", das am 3 1 . 1 2 . 9 6 6832 eingeschriebene Mitglieder und mehr als 2 0 0 0 0 Freunde und Besucher in 1064 Vereinen und Selbsthilfegruppen zählte. Unter seiner Trägerschaft befinden sich 2 Fachkliniken f ü r alkoholkranke Männer, sowie zahlreiche Rehabilitations-

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Abstinenzbewegungen Einrichtungen und Beratungsstellen. Die Arbeitsweise ist von A n f a n g an bis heute eindeutig geprägt von dem Grundsatz „Abstinenz und Evangelium", oder - um die zeitgemäße Formulierung zu wählen - „Methodenvariable Therapie, Selbsthilfe und christliche Seelsorge". Dabei geht es entsprechend der Satzung darum, „Suchtgefährdeten, Suchtkranken - vor allem Alkoholabhängigen und den ihnen nahestehenden Personen umfassend zu helfen . . . sowie dem Mißbrauch des Alkohols . . . und der Suchtgefährdung vorzubeugen. Mit seinen Veranstaltungen und Einrichtungen bietet es einen alkoholfreien Lebensraum in christlicher Gemeinschaft" (Hauptsatzung des B K D vom 4. 7. 1994 § 3.2). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß 1945 das „Blaue Kreuz" in der damaligen sowjetischen Besatzungszone verboten wurde. Die Mitarbeiter schlossen sich der „Inneren Mission" an und gründeten 1960 die „Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchtgefahren". Unter dem Kürzel A G A S wurde diese bewußt christlich geprägte Suchtkrankenarbeit bald in der ganzen D D R bekannt und konnte - weitgehend ungestört von staatlicher Einflußnahme - ungezählten Menschen Rat und Hilfe anbieten. Nach der „Wende" schlossen sich die meisten A G A S - G r u p p e n dem Blauen Kreuz in Deutschland e. V. an. 1.2 Im Jahr 1902 wurde der „Deutsche Bund evangelisch-kirchlicher Blaukreuz-Verbände" (seit 1954: -»-„Blaues Kreuz in der evangelischen Kirche e. V.") gegründet. Dieser Bund entstand z.T. aus Blaukreuz-Vereinen, die sich aus theologischen und/oder persönlichen Gründen vom Barmer Hauptverein lösten oder sich nie demselben angeschlossen hatten. Diese Vereinigung entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer Selbsthilfe-Organisation, die vor allem in Norddeutschland und Westfalen vielen Alkoholkranken und ihren Angehörigen Rat und Hilfe anbietet. A m 3 1 . 1 2 . 1 9 9 6 hatte das Blaue Kreuz in der

Abstinenzbewegungen Evangelischen Kirche e.V. 3243 eingeschriebene Mitglieder. Etwa 6000 Frauen und Männer besuchen die 333 regelmäßig stattfindenden Selbsthilfegruppen. 2. Der •Guttempler-Orden (IOGT). Der Orden entstand 1851 im Staate N e w York/USA. Ein Jahr später erhielt er den Namen: „Independent Order of Good Templars" (IOGT). Das Wort „Templar" wurde von dem mittelalterlichen Tempelritter-Orden abgeleitet. Diese Ritter schützten die Wallfahrer, die in das Heilige Land zogen, halfen den Kranken und Armen, richteten Pflegestätten ein. Eine besondere Erscheinung war, daß sie „die Lasterhaften und Gottlosen ..., kurz, die verwahrlosten Elemente der Ritterschaft in ihre Gemeinschaft aufnahmen, um sie durch verantwortliche Tätigkeit heranzubilden". Dieser integrierenden A u f g a b e - allerdings in einem anderen Sinne - widmete sich auch die neue Organisation. Es gab zwar beträchtliche Anfangsschwierigkeiten, aber 1887 wurde im gesamten Orden die Gleichberechtigung aller Menschen ohne Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion und Geschlecht proklamiert. Nirgends auf der Welt galten damals die Frauen als gleichberechtigt, die Schwarzen waren zur Zeit der Ordensgründung noch Sklaven, galten weithin überhaupt nicht als Menschen. Im Orden dagegen waren alle gleichberechtigt. 1883 entstand die erste „GuttemplerL o g e " in Hadersleben im damaligen Deutschen Reich, 1887 die erste auf heutigem deutschen Gebiet in Flensburg. 1887/88 schlossen sich die zum Teil dänisch·, zum Teil deutschsprachigen Logen zu „Deutschlands Großloge" zusammen. Rasch entstanden neue Logen in ganz Schleswig-Holstein, im übrigen Reichsgebiet ging es zögernd voran. Aber bereits 1899 trafen sich 6375 Mitglieder in 175 Logen, 1914 - beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges - waren es 5 9 3 1 7 Mitglieder in 1542 Logen.

Abstinenzbewegungen Mit den Guttemplern kam etwas völlig Neues nach Deutschland. Sie betrachteten die Trunksucht als Krankheit, während die Allgemeinheit die „Trinker" als „lasterhafte, verkommene Subjekte" abschrieb und die Christen Trunksucht als Sünde bekämpften. Außerdem starteten sie zahlreiche alkoholpolitische Initiativen, da sie überzeugt waren, daß der Alkoholmißbrauch auch von staatlicher Stelle intensiv bekämpft werden sollte. Überhaupt entwickelten sie zahlreiche sozialpolitische Aktivitäten, z . B . gründeten sie einen Versicherungsverein „Abstinenz" und Ferienkolonien für Kinder und Jugendliche. Wie auch die anderen Abstinenzverbände erlitten die Guttempler durch den Ersten Weltkrieg einen gewaltigen Rückschlag in ihren Aktivitäten. Der kurzen Blütezeit in den zwanziger Jahren folgte die schlimme Zeit des Dritten Reiches, in der alle drei Abstinenzverbände hart ums Überleben kämpfen mußten und z.T. äußerst problematische Kompromisse eingingen, um den Fortbestand der Arbeit zu sichern. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß alle drei Verbände erleben mußten, wie ihre zentralen Geschäftsstellen durch Bombenangriffe völlig zerstört wurden, so daß die gesamten Archive verloren gingen. Heute sieht der Guttempler-Orden seine A u f g a b e darin, durch bewußt alkoholfreie Lebensweise des einzelnen zu verhindern, daß eine Abhängigkeit auftritt, Abhängigen und Angehörigen Rat und Hilfe zur Überwindung der Krankheit anzubieten, Hilfestellung bei der Persönlichkeitsentwicklung zu geben und für den Frieden in der Welt einzutreten. Am 31. Dezember 1996 hatte der Guttempler-Orden 9059 eingetragene Mitglieder. In den 834 Gruppen treffen sich regelmäßig ca. 21 800 Besucher, um sich gegenseitig auf dem Weg der Abstinenz zu ermutigen. 3. Der -> Kreuzbund wurde 1896 als „Kreuzbündnis - Verein abstinenter Katholiken" von Pater Joseph Neumann in

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Abstinenzbewegungen

Aachen gegründet. Zwei Aufgaben werden besonders herausgestellt: Die Bekämpfung des Alkoholismus durch Anleitung zur Abstinenz sowie die Trinkerrettung und Trinkerfürsorge in katholischen Kreisen. Der derzeitige Bundesvorsitzende Josef Hayck beschreibt im Jubiläums-Heft „Weggefährte" (Festausgabe März/April 1996) die Entwicklung des „Kreuzbundes" folgendermaßen: „Von Anfang an stand der notleidende Mensch im Mittelpunkt ... Tragendes Fundament war über lange Zeit der Gedanke der Trinkerfürsorge und des fürbittenden Gebets für den alkoholkranken Menschen. Eng verbunden damit war der Opfergedanke und die Opfergesinnung, gelebt durch die solidarische Abstinenz. Höhen und Tiefen, Sternstunden und tiefe Dunkelheit haben den Kreuzbund durch 100 Jahre begleitet und geprägt. Zwei große Weltkriege haben unser Vaterland und die halbe Welt in Brand gesetzt. Viele Weggefährten des Kreuzbundes bezahlten dafür mit dem Leben. Die Zeit und ihre Menschen haben auch bewirkt, daß der Kreuzbund sich gewandelt hat. Stand in den ersten Jahrzehnten die Trinkerfürsorge im Vordergrund, so hat er sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Selbsthilfe-Gemeinschaft entwikkelt. Kennzeichnendes Merkmal ist dabei die eigene Sucht-Betroffenheit seiner Mitglieder..." Vor einigen Jahren wurde dieser Entwicklung dadurch Rechnung getragen, daß der Name wesentlich erweitert wurde: „Kreuzbund e.V. Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und deren Angehörige". Der Kreuzbund hatte am 31. Dezember 1996 14063 eingeschriebene Mitglieder. In 1414 Gruppen treffen sich regelmäßig ca. 27500 Besucher in dieser bemerkenswerten Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft. Beachtet werden muß in diesem Zusammenhang, daß eine ausgezeichnete Suchtkrankenhilfe auch außerhalb dieser drei erwähnten großen Verbände ge6

Abstinenzbewegungen

leistet wird. Viele Selbsthilfe-Initiativen sind in den letzten Jahren entstanden, die sich bis jetzt keinem der bestehenden Verbände angeschlossen haben. Sie verstehen sich aber nicht als Organisationen der Abstinenzbewegung, genau so wenig wie die international tätige Gruppierung der -»„Anonymen Alkoholiker" oder die zahlreichen Freundeskreise", von denen sich die meisten in der -•„Bundesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise" zusammengeschlossen haben. Darüber hinaus ist beachtenswert, daß es einige Verbände gibt, die sich zwar zur Abstinenzbewegung zählen, ihren Schwerpunkt aber eindeutig auf die Präventionsarbeit legen. Besonders erwähnt sei hier der -»„Deutsche Frauenbund für alkoholfreie Kultur e. V.", der es sich zur Aufgabe gemacht hat, für eine anspruchsvolle alkoholfreie Gastlichkeit einzutreten. Die Dachorganisation dieser Verbände gab sich den Namen -•„Arbeitsgemeinschaft der deutschen Abstinenzverbände". Die Abstinenzbewegung und die Suchtkrankenhilfe hat es in den vergangenen 150 Jahren nie geschafft, die Mehrheit der Bevölkerung aufzurütteln, aber sie hat es erreicht, daß heute in unserer Gesellschaft wesentlich unbefangener über die Probleme gesprochen werden kann, die der Alkoholmißbrauch verursacht. Aus verachteten „Trunkenbolden" wurden Alkoholkranke, die einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Behandlung haben. (-»Blaues Kreuz in Deutschland e.V.; -»Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche e.V.; -»Deutscher Guttempler-Orden e.V.; Kreuzbund e.V.). Lit.: Dahlhaus, Wilhelm und Nau, Hermann: „Das Blaue Kreuz in Hagen", herausgegeben von der Inneren Mission im Kirchenkreis Hagen 1960; Eckhoff, Renata: „Selbsthilfebewegung der Alkoholiker", Diplomarbeit im Fachbereich Sozialarbeit an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen/Neckar, Sommersemester 1997; Die gute Nachricht - die

AIDS

Abstinenzparadigma Bibel im heutigen Deutsch; Handbuch für die Suchtkrankenhilfe - 4. Ergänzungslieferung, Blaukreuz-Verlag Wuppertal 1996; Klement, Heinz: „Das Blaue Kreuz in Deutschland - Mosaiksteine aus über 100 Jahren evangelischer Suchtkrankenhilfe", Blaukreuz-Verlag Wuppertal, 1990; „Kreuzbund" Projekt „Dokumentation und Statistik", Herausgeber: Kreuzbund-Geschäftsstelle Hamm 1997; „Kreuzbund" Zeitschrift „Weggefährte" - Festausgabe März/ April 1996; Vogt, Wilhelm: „Albert Freiherr von Seid - Sechzig Jahre", Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1926 Heinz Klement, Wuppertal Abstinenzparadigma Sammelbegriff für eine Haltung, die die Suchtmittelfreiheit als einziges Ziel, z. T. auch als Voraussetzung für Hilfen beschreibt. Das A. steht im theoretischen Gegensatz zum -»'Akzeptanzparadigma. Mit der weitergehenden Differenzierung der Interventionsziele bei Suchtkranken verliert das A. an Bedeutung. -•Drogenpolitik; -»Drogenrecht; -»Europa Abusus (lat. der Mißbrauch) Als A. wird der schädliche Gebrauch einer Substanz ohne medizinische Indikation oder in übermäßiger Dosierung mit der möglichen Folge einer Schädigung der psychischen und körperlichen Gesundheit bezeichnet. Der Mißbrauch kann sowohl einmalig, episodisch wie auch chronisch betrieben werden. Mißbrauch kann sich auf Medikamente, aber auch auf Genußmittel, wie Alkohol oder Tabak beziehen. Es ist zweckmäßig, den Mißbrauch deflatorisch von der Abhängigkeit zu trennen - auch wenn der Ubergang fließend ist - bzw. überhaupt auf den Begriff zu verzichten und die Unterscheidungen der WHO von 1981 zu nutzen: unerlaubter Gebrauch, gefährlicher Gebrauch, dysfunktionaler Gebrauch und schädlicher Gebrauch. -•ICD-10; -»-Mißbrauch

Acamprosat A. ist ein Anti-Craving Medikament, das in Deutschland unter dem Markennamen Camprai® seit 1996 zugelassen ist. Es soll das -»-Craving mindern bzw. unterdrücken, indem es direkt auf die - an der Abhängigkeitserkrankung - beteiligten Botenstoffe des Gehirns einwirkt. Acamprosat kann motivierte Abhängige unterstützen, die Patienten sollen aber an einer -•Psychotherapie teilnehmen oder eine Selbsthilfegruppe besuchen. Acid (engl. Säure) In der Drogenszene ist A. ein gebräuchlicher Begriff für -»LSD. Adaption (lat. Anpassung) Als Adaptionsphase wird die Abschlußphase einer stationären Entwöhnungsbehandlung bezeichnet, in der der ehemalige Patient seine - in der Therapie erworbenen - Fähigkeiten ausprobiert und überprüft, inwieweit sie in seinem gewohnten Umfeld tragfähig sind. -•Nachsorge; -•Suchtkrankenhilfe Adipositas (lat. Fettleibigkeit) -•Eßstörungen Äthanol -•Alkohol Äther Ä. war früher medizinisch ein bedeutsames Inhalations-Narkosemittel, heute findet es gelegentlich Verwendung als Kombinationsnarkotikum und mißbräuchlich als •Schnüffelstoff. -•Lösungsmittel Äthylalkohol -•Alkohol Ätiologie (griech. die Lehre von den Krankheitsursachen) ^•Genese AIDS 1. Definition. Am 16.8.1981 wurde erstmals öffentlich über das Auftreten einer 7

AIDS

AIDS

Immunschwächekrankheit bei homosexuellen Männern in den U S A berichtet. 1983 wurden die bei Drogenkonsumenten, die sich ihre Droge, überwiegend Heroin, intravenös injizieren, Haitianern und Blutern auftretenden Fälle zusätzlich in die Klassifikation AIDS (Acquired Immune Defiency Syndrome) einbezogen. 1984 entdeckte dann der französische Forscher Luc Montagnier, das A. verursachende Virus, das heute als HIV (Human Immunedefiency Virus, menschliches Immunschwäche Virus) bezeichnet wird. Inzwischen sind unterschiedliche Stämme HIV-1 und HIV-2 (Verbreitungsgebiet überwiegend Afrika) und mehrere Subtypen (HIV-1-A-I) bekannt. Stammbaum der HI-Viren und Vorkommen Subtyp A

- Subtyp Β

Γ

HIV-1 - -

Subtype

überwiegendes West-, Zentral-, Ostafrika Nordamerika und Europa

Süd-, Ostafrika, Westasien

- Subtyp D HIVUrtyp

- Subtyp Ε

Thailand, Südostasien

F, G, Η, I,

Virustypen entstehen durch Veränderung des Virus durch Mutation (Veränderung der Erbsubstanz)

2. Vermehrungszyklus. HIV braucht zu seiner Fortpflanzung menschliche Zellen. Es lagert sich an die Oberfläche von Zellen an, die über das sogenannte C D 4 Antigen verfügen. Solche CD4-Zellen finden sich nicht nur im Blut (hier werden nur die C D 4 tragenden weißen Blutkörperchen gemessen). Viele Zellen des Immunsystems verfügen über diese Oberflächenstruktur. Mit Hilfe zweier erst 1996 beschriebenen weiteren Oberflächenbestandteile der Zelle (Fusin und C C - C K R 5) gelingt dann HIV das Einbringen seiner Erbinformation in die

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Zelle. Das Erbmaterial von HIV wird zunächst in brauchbare Information für die Zelle übersetzt. D a f ü r muß es durch einen Abschreibeprozeß in D N S gewandelt werden. Dieser Vorgang heißt reverse Transkription. Das dafür verantwortliche Eiweiß ist die Reverse Transkriptase. Viele Medikamente gegen HIV sind auf diesen Vorgang gerichtet und versuchen ihn zu unterbinden ( H e m m e r der Reversen Transkriptase, RT-Hemmer). Das Erbmaterial kann nach der Umschreibung in den Zellkern a u f g e n o m m e n werden. Ein E n z y m (Integrase) macht so die Erbinformation dem Zellkern verfügbar. Ist die Zelle aktiv (vermehrt sie sich, wird sie zur Produktion angeregt), kann diese Information zur Virusproduktion verwendet werden. Es werden aber nicht bereits in der Zelle vollständige neue Viren gebildet. Vielmehr werden das Erbmaterial, die innere und die äußere Virushülle getrennt voneinander hergestellt. Durch ein weiteres Enzym werden die Virusbausteine noch einmal „packungsgerecht" zurechtgeschnitten. Dies EiweißSchneide-Eiweiß heißt Protease oder Preoteinase. Protease-Hemmer (Protease-Inhibitoren) sind in Kombination mit RT-Hemmern wirksame Medikamente gegen die HIV-Infektion. RTH e m m e r verhindern die Eingliederung der Erbsubstanz von HIV in den Zellkern. Dadurch kann die Zelle im eigentlichen Sinn zwar infiziert werden, sie wird aber keine neuen Viren produzieren können. Protease-Inhibitoren verhindern den Zusammenbau von vollständigen Viren. Nur voll ausgereifte Viren können auch neue Zellen infizieren. Bei der Verarbeitung von Erbinformation in der Wirtszelle kommt es zu Fehlern in der Genauigkeit der Ablesung. Fehlerhafte Erbinformation kann bedeuten, daß das Virus dadurch neue Eigenschaften erhält. Veränderungen im Erbgut werden als Mutationen bezeichnet. HIV-Mutationen können z . B . das Virus unempfindlich gegen bestimmte Medikamente machen (Resistenz).

AIDS

3. Übertragungswege. Vaginaler und analer Geschlechtsverkehr, die gemeinsame Benutzung von Spritzbestecken, Mutter-Kind-Übertragungen und die Übertragung durch Blut und Blutprodukte sind seit 1983 anerkannte Übertragungswege von HIV. Das ausschließlich humanpathogene HI-Virus verfügt nicht über andere Vektoren als den Menschen. In Ermangelung eines Impfstoffes stehen somit auch nur im begrenzten Umfang Möglichkeiten einer Begrenzung der Ausbreitung zur Verfügung. Die Zuordnung der HIV-Infektionen zu bekannten Übertragungswegen erfolgt nach hierarchischer Stufung. Hochriskante Verhaltensweisen eines Infizierten resultieren in seiner Zuordnung zu einer Gruppe (unterschieden werden homo/ bisexuelle Männer, Konsumenten intravenös zugeführter Drogen, Hämophile, Heterosexuelle, peri- und postnatale Infektionen, und Infektionen bei Menschen aus Ländern, in denen die heterosexuelle Übertragung von HIV überwiegt - sogenannte Pattern II Länder). 4. Klinik. Neben der Falldefinition wurden auch mehrere Verfahren zur klinischen Klassifikation entwickelt (WalterReed Staging, Frankfurter Klassifikation), von denen sich inzwischen eine klinische Stadieneinteilung der Centers for Disease Control durchgesetzt hat. Unterschieden werden darin auch verschiedene Schweregrade der HIV-Erkrankungen vor dem Ausbruch von AIDS (CDC-A,_3 und C D C - B ^ ) , sowie bei AIDS unterschiedliche Erkrankungen (CDC-C N 3 ). Die Schwere des Immundefektes wird anhand des Verlaufes der T-Helferzellen (CD4-, T4-Zellen) bestimmt. Fallende Zellzahlen zeigen einen zunehmenden Immundefekt an. Ab der Helferzahl von unter 200/μ1 steigt die Gefahr des Auftretens der AIDS-definierenden Erkrankungen rapide. Aus der Bestimmung der Viruslast (Anzahl der Viruskopien im Blut) läßt sich darüber hinaus eine Aussage über die Geschwindigkeit des Gesamtver-

AIDS

laufs der HIV-Infektion bei Einzelpersonen ableiten. So geht man davon aus, daß Menschen mit einer erhöhten Viruslast (> 15000 Viruskopien/μΐ) ein höheres Risiko haben, schnell einen Immundefekt zu entwickeln. Liegt die Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze wird ein sehr langsamer Verlauf erwartet. 4.1 Diagnose und Epidemiologie. Das Vorliegen einer HIV-Infektion wird durch den Nachweis von Antikörpern im Blut diagnostiziert, die ca. 8 - 1 6 Wochen nach der Infektion gebildet werden. Ein früher direkter Nachweis von viraler Erbsubstanz kann mit neueren Verfahren gelingen. Weltweit einheitlich werden seit 1983 die auf einem erworbenen Immundefekt basierenden lebensbedrohlichen Folgeerkrankungen einer Infektion mit dem HI-Virus als AIDS (oder AIDS-Vollbild) bezeichnet. Die europäische Falldefinition wurde zuletzt 1993 um die Lungentuberkulose, wiederholte Pneumonien (>1 in 12 Monaten) und das Zervixkarzinom ergänzt. Bis 30.6.1998 wurden auf der Basis dieser Definition 218938 Fälle von AIDS in Europa gemeldet. Die Mehrzahl der weltweit auf über 34 Millionen geschätzten Infektionen (davon 95% in Entwicklungsländern) wird auch weiterhin auf der Basis klinischer Falldefinition ohne Durchführung des HIV-Antikörpertests erhoben. Bis zum 31.3. 1999 waren dem Robert-Koch-Institut 18111 Fälle einer AIDS-Erkrankung gemeldet (davon waren 11 628 verstorben). Gleichzeitig wird von 50-60000 in Deutschland lebenden Menschen mit HIV ausgegangen. Die folgende Tabelle gibt den Stand der seit 1982 gemeldeten AIDS-Fälle wieder. 4.2 Therapie. Die Therapie der HIV-Infektion richtet sich zum einen gegen das Virus, zum anderen gegen die durch die Immunschwäche begünstigten Erreger und Folgeerkrankungen. Die seit 1989 klinisch wirksame Entwicklung von Medikamenten gegen die HIV-Infektion und opportunistische Erkrankungen 9

AIDS AIDS-Fälle: Vollständigkeit der Erfassung: >85% Gesamtzahl der Meldungen seit 1982: 18111 Davon als verstorben gemeldet: 11628 Verteilung nach Geschlecht: Männer: 88% Frauen: 12% Kinder unter 13 Jahren: 117 (0,6%) Neuerkrankungen pro Jahr: um 800 Infektionswege (im letzten Jahr diagnostizierte Fälle): Homosexuelle Kontakte bei Männern: 47% i.v. Drogengebrauch: 14% Heterosexuelle Kontakte: 13% Patienten aus Endemiegebieten (Pattern-III): 10% Hämophile: 0% Bluttransfusionen und -produkte: 1% Vertikale Transmission (Mutter-Kind): 0% ohne Angabe: 15% Meldestatistik des Robert-Koch-Instituts, Berlin

führte in Deutschland seit Beginn der 90er Jahre zu einer mehr als Verdreifachung der mittleren Überlebenszeiten nach AIDS von 6,4 Monaten (vor 1988) auf 19,1 Monate (Hamouda). 4.2.1 Antiretrovirale Therapie. Hierzu zählen die Hemmer der Virusvermehrung. Sie sollen vor allem bewirken, daß die im Verlauf der HIV-Infektion produzierte Virusmenge reduziert wird. Dadurch kann eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs erreicht werden. Auch ist es möglich, durch die Gabe antiretroviral wirkender Mittel die Übertragung von HIV während der Schwangerschaft deutlich zu reduzieren. Da die einzelnen Medikamente jedoch bislang nicht zu einer ausreichenden Hemmung der Virusmenge führen, werden unterschiedliche Präparate zu einer Kombinationstherapie gebündelt. 4.2.2 Behandlung der Folgeerkrankungen. Zur Behandlung der Folgeerkrankungen stehen sowohl präventive als auch kurative Verfahren zur Verfügung. Der häufigsten Todesursache bei Menschen mit AIDS - einer Pneumocystes carinii Lungenentzündung - kann durch die Einnahme von Medikamenten vorgebeugt werden. Gleiches gilt für eine 10

AIDS

Reihe anderer Infektionskrankheiten. Für die Behandlung der AIDS-assoziierten Krebsarten (Kaposi Sarkom, Lymphome, Gebärmutterhalskrebs), der neurologischen Manifestationen der HIVInfektion und der unspezifischen Stoffwechselerkrankungen (z.B. Wasting) stehen immer mehr Therapien zur Auswahl. Gleichwohl hat die AIDS-Erkrankung nichts an ihrem lebensbedrohenden Charakter verloren. 5. Prävention. Zwei Botschaften haben primär die Erfolge in der HlV-Prävention geprägt: - Safer Sex, womit die Verwendung von Kondomen bei penetrativem Geschlechtsverkehr gemeint ist, und - Safer Use, die Benutzung eines Spritzbestecks nur zum Eigengebrauch. Um die Akzeptanz dieser Kampagne zu steigern, werden zunehmend in niedrigschwelligen Angeboten der Drogenhilfe Spritzen 1:1 und Tupfer getauscht und Kondome verteilt. Maßnahmen der HIV-Prävention richten sich überwiegend an Zielgruppen, wobei die Entwicklung eines präventiven Verhaltens unabhängig vom eigenen Infektionsstatus eine bedeutende Rolle spielt. Dem sollen auch Maßnahmen der strukturellen Prävention dienen, die primär auch der Antidiskriminierung bereits Infizierter zugute kommen. Die jährliche Inzidenz von Neuinfektionen in Deutschland wird auf 2-2500 geschätzt. Diese Zahlen liegen weit unter den zu Beginn der Epidemie prädiktiv ermittelten Daten. Durch Rückberechnung lassen sich Rückgänge in den Neuinfektionszahlen für homo/bisexuelle Männer (ab 1983 um 70-80%), i. v.Drogengebraucher (ab 1984 um 6070%), Hämophile (ab 1982 um nahe 100%) und für Heterosexuelle ab 1986 um 15-20% ermitteln (Hamouda). Der Anteil der Frauen an HIV-Infektionen und AIDS-Fällen ist dabei kontinuierlich gewachsen. Matthias Wienold, Hannover

Akutbehandlung Akutbehandlung Kommt es entweder aufgrund einer Vergiftung oder eines Entzuges von einer Substanz zu lebensbedrohlichen Symptomen, muß eine Akutbehandlung in einem Krankenhaus veranlaßt werden, ggf. unter Einleitung eines Beschlusses zur -»-Unterbringung nach dem PsychKG. Grundsätzlich hat hier die medizinische Versorgung des Patienten Vorrang vor allen anderen Maßnahmen. Akzept - Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik e. V. Der 1990 in Bremen gegründete Verein Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik akzept e. V. versteht sich als Verband, dessen Aufgabe es ist, für eine Veränderung in der drogenpolitischen Landschaft einzutreten. Er engagiert sich in der bundesweiten drogenpolitischen Arbeit, setzt sich auf dieser Ebene mit Entscheidungen zu Suchtprävention, Drogenhilfe und Drogenpolitik auseinander und vertritt als Dachverband eine Vielzahl akzeptierend arbeitender Drogenhilfeeinrichtungen. Zu den wichtigsten Forderungen des Vereins gehören: Die Entkriminalisierung des Drogenkonsums, vorbehaltslose, tabufreie und nicht bewertende Auseinandersetzung mit dem Gebrauch von illegalen Drogen auf deren sozio-kulturellen Hintergrund, Erlernen des risikobewußten Umgangs mit Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen, Achtung von Persönlichkeitsund Menschenrechten in therapeutischen Beziehungen mit Drogengebraucherlnnen, bedürfnisorientierte Hilfen ohne Vorbedingungen und eine breite Palette von Angeboten von der Suchtbegleitung bis zu Ausstiegshilfen, Entwicklung von Modellen der Legalisierung, Beseitigung aller Vorurteile gegenüber drogengebrauchenden Menschen sowie die umfassende Forschung im Bereich von Drogen. Der Verein organisiert praxisorientierte wissenschaft-

Akzeptierende Drogenarbeit liehe Kongresse und Tagungen zu den Bereichen Drogenarbeit- und politik, veröffentlicht Tagungsbände und Rundbriefe. Anschrift: Am Roggenkamp 48, 48165 Münster, Tel.: 0 2 5 0 1 / 2 7 5 7 2 , Fax: 02382/81179 Akzeptanzparadigma Das A. bezeichnet eine Haltung, die Drogenkonsum als (natürliches) Bedürfnis des Menschen ansieht. A. steht im Gegensatz zum Abstinenzparadigma. In der akzeptierenden Drogenarbeit werden praktische Hilfen zur Lebensführung der Abhängigen ohne Verpflichtung zur akuten oder zukünftigen Drogenfreiheit angeboten. -••Akzeptierende Drogenarbeit; -»Drogenpolitik; -»Drogenrecht; -»Europa Akzeptierende Drogenarbeit 1. Seit dem Ende der 80er Jahre werden im Begriff der akzeptierenden Drogenarbeit verschiedene Konzepte gegen die abstinenzorientierte Drogenarbeit zusammengefaßt, die zunächst unter dem Namen „nicht-bevormundende", „suchtbegleitende", „klientenorientierte" oder „niedrigschwellige" Drogenarbeit entwickelt worden waren. Im Unterschied auch noch zur niedrigschwelligen Drogenarbeit gilt dabei die Akzeptanz nicht nur den Drogenkonsumentlnnen, sondern auch dem Drogenkonsum. Dieser Paradigmawechsel von der Abstinenz zur Akzeptanz basiert auf einer Neubewertung dessen, was unter Drogen, Drogenkonsum sowie Abhängigkeit und Sucht zu verstehen ist. Ausgangspunkt für die Neubewertung des Drogenbegriffs ist die erst im Jahre 1975 gemachte Entdeckung der sog. Neurotransmitter gewesen. Seitdem ist erwiesen, daß jeder gesunde Mensch in seinem Körper Drogen - nämlich u.a. -»Endorphine, d. h. endogene Morphine - produzieren und aktivieren muß, um seine Erlebnisse als angenehm wahrnehmen zu können. Wird zudem bedacht, daß heutige legale Drogen, wie z.B. Kaffee, Tabak oder Alkohol, einmal ver11

Akzeptierende Drogenarbeit botene Drogen waren und niemand schon deshalb krank wird, weil er sich Drogen exogen zuführt, statt sie nur endogen zu erzeugen, so verliert der Slogan „Drogen - nein danke" seinen Sinn. Vor diesem Hintergrund ist daher nicht der (exogene) Drogenkonsum zu kritisieren, aber auch noch nicht die Abhängigkeit - unterstellt eine solche Kritik doch eine Un-Abhängigkeit, die auch dem Atmen oder der Liebe ihre Menschlichkeit nähme. Problematisch erscheint danach alleine die Sucht, die einen Menschen wegen einer übermäßigen psychischen Abhängigkeit von exogenen oder endogenen Drogen seines freien Willens und damit seiner Wahrhaftigkeit, d. h. seiner Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit bei der Bewältigung des Alltagslebens beraubt (Scheerer 1995). Im Kontext dieser Neubewertungen hat die akzeptierende Drogenarbeit ihre Haltung gegenüber den Drogenkonsumentlnnen einerseits und der Drogenpolitik und Drogenarbeit andererseits herausgebildet. Drogenkonsumentlnnen wird grundsätzlich ihre Mündigkeit und damit ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlichem Handeln unterstellt. Entsprechend dem altliberalen Grundsatz, wonach die Freiheit eines Menschen solange unbeschränkt ist, wie andere dadurch nicht geschädigt werden (Mill 1973 [1859]: 131), ist somit der Drogenkonsum als Teil eines Lebensstils zu akzeptieren. Hieraus folgt die Freiwilligkeit und Voraussetzungslosigkeit für die Teilnahme an den Angeboten und Maßnahmen der Drogenarbeit. Abzulehnen sind demnach eine abstinenzorientierte Drogenpolitik und Drogenarbeit, die auf der Grundlage eines Betäubungsmittelgesetzes den Drogenkonsum stigmatisieren und kriminalisieren, statt ihn zu legalisieren und sozialverträglich zu gestalten (Stöver 1994). 2. Praxis. In der Praxis versteht sich die akzeptierende Drogenarbeit als ein Handlungsfeld der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, in dem sowohl eine Alterna12

Akzeptierende Drogenarbeit tive zum Therapie-Anspruch der sog. hochschwelligen Drogenhilfen wie auch zum zumindest impliziten Kontroll- und Abstinenz-Anspruch der niedrigschwelligen Drogenhilfen angeboten wird. Ausgehend von der Selbstbestimmung der Drogengebraucher, tritt die akzeptierende Drogenarbeit zunächst einmal als eine drogenpolitische Gegenbewegung auf. Durch die Herstellung einer „Gegenöffentlichkeit" (Böllinger u. a. 1995: 50) will sie zu einer Legalisierung der Drogen beitragen und so die Voraussetzungen für einen risikoarmen und genußvollen K o n s u m in der Lebenswelt der Konsumierenden schaffen. Zentrales T h e m a eines solchen Aufklärungs- und Bildungsprozesses ist es, auf die M ö g lichkeiten und Grenzen von Präventionsprogrammen hinzuweisen: Im Wissen um die Einheit von endogenen und exogenen Drogen kann es nicht mehr das Ziel sein, für eine Drogenprävention einzutreten, sondern einzig für eine Suchtprävention. Ihr Erfolg hängt jedoch entscheidend davon ab, wieweit eine auf soziale Handlungskompetenz ausgerichtete Individualpädagogik in eine Sozialpädagogik eingebunden ist und - gestützt durch sozialpolitische Strukturmaßnahmen - zur Herstellung und Absicherung der Qualität von kommunalen Lebenswelten beitragen kann (Richter 1998). In einem zweiten Schritt geht es unter den Bedingungen der Prohibition darum, mögliche irreversible Schäden, wie z . B . eine HIV- (-»Aids) oder -»Hepatitis-Infektion durch lebensweltnah ausgestaltete Überlebenshilfen und Maßnahmen der Gesunderhaltung weitestgehend zu verhindern. Hierzu zählen (vgl. Böllinger u. a. 1995: 135 ff.): - Kontaktläden bzw. Szene-Cafes mit den Angeboten Kaffee- und Teeausschank, Essen, Duschen und Spritzentausch, Beratung, Safer-Use-Aufklärung und Substitutionsbehandlung, medizinische Basisversorgung und Arztvermittlung, Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, So-

Akzeptierende Drogenarbeit zialhilfe- und Rechtsberatung sowie Freizeitaktivitäten; - „Gesundheitsräume", in denen der hygienische und streßfreie Drogenkonsum trotz rechtlicher Bedenken ermöglicht wird; - ^Streetwork und -»aufsuchende Sozialarbeit, um die Drogengebraucher dort anzusprechen, w o sie sich treffen; - Übernachtungsstätten für Obdachlose, Therapieabbrecher, Haft- oder Psychiatrieentlassene; - Frauenspezifische Angebote insbesondere für drogenabhängige Prostituierte. Neben den professionellen Maßnahmen der akzeptierenden Drogenarbeit sind auch die Aktivitäten verschiedener Selbsthilfeeinrichtungen von Bedeutung: Als ein Teil der drogenpolitischen Gegenbewegung tritt seit 1989 vor allem das überregionale Aktionsbündnis kommunaler Selbsthilfegruppen JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte) auf, das im Rahmen der Deutschen AIDS-Hilfe Seminare zur Drogen- und AIDS-Situation veranstaltet und die Legalisierung und Akzeptanz des Drogenkonsums einfordert (vgl. Schuller/Stöver 1991). Im Bereich der lebensweltlich orientierten Überlebenshilfen und M a ß n a h m e n der Gesunderhaltung ist insbesondere auf die Selbsthilfeaktivitäten im sozialen Nahfeld hinzuweisen, wie z . B . die Kontaktläden von Drogengebrauchern und Nicht-Benutzem, die Elternkreise von drogenkonsumierenden Jugendlichen oder die Nachsorge ehemaliger Drogenabhängiger (vgl. Böllinger u. a. 1995: 147 f.). 3. Probleme. Obwohl die akzeptierende Drogenarbeit eine beeindruckende Akzeptanz durch die Drogengebraucher vorweisen kann - das Hamburger D r o b Inn z . B . hat zur Zeit täglich über 500 Besucherinnen, und der Spritzentausch wird fast 400mal pro Tag genutzt (Drob Inn 1998: 36) befindet sie sich gegen-

Akzeptierende Drogenarbeit wärtig in einer strukturellen Krise, weil die von ihr formulierte Voraussetzung zur Bewältigung des Drogenproblems: die Liberalisierung des Strafrechts, nach jahrelangen vergeblichen parlamentarischen Bemühungen auf lange Sicht keine Realisierungschance mehr haben dürfte. Es ist deshalb zu befürchten, daß auch die akzeptierende Drogenarbeit wie vorher schon die Release-Bewegung (Gerlach/Engemann 1994) - sozialpolitisch funktionalisiert und in die Kontrolle abweichenden Verhaltens eingebunden wird. Jede Hilfsmaßnahme unterliegt zunehmend dem Verdacht, als kontrollierende „ B e v o r m u n d u n g " die Autonomie der Betroffenen nach d e m alten Abstinenz-Schema in Frage zu stellen (Trautmann 1993). Die intendierte Suchtprävention steht in der Gefahr, wieder in den Status einer Drogenprävention zurückzufallen. Damit nicht genug, schlägt auch die Finanzknappheit der staatlichen Haushalte unmittelbar auf die akzeptierende Drogenarbeit durch und bewirkt ihre Instrumentalisierung durch die kommunalen Sozial- und Gesundheitsbehörden. Ihnen geht es nicht vorrangig um die Durchsetzung einer alternativen Drogenpolitik, sondern um die Ausgestaltung der Drogenarbeit in Form einer effizienten und effektiven Dienstleistung (Bossong 1996). Die damit verbundenen politischen Erfolgsvorgaben nehmen der akzeptierenden Drogenarbeit den Charakter einer drogenpolitischen Gegenbewegung mit dem sozialpädagogischen Ziel einer interkulturellen Anerkennung differenter Lebenswelten und vereinnahmen sie für gesundheitspolitische Interessen. Dies gilt insbesondere für die sog. Gesundheitsräume, die in ihrer jetzigen Form nicht zu einer sozialen Integration des Drogenkonsums beitragen, sondern höchstens seiner juristischen und medizinischen Unbedenklichkeit genügen. Im Rahmen der aktuellen Z w ä n g e gerät somit die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz des Drogenkonsums, wie die 13

Akzeptierende Drogenarbeit

akzeptierende Drogenarbeit sie einmal anstrebte, immer mehr in den Hintergrund. Dagegen werden unter dem Stichwort „Sozialpädagogik als Dienstleistung" zunehmend individuelle Problembearbeitungsstrategien in den Blick genommen. Von dem Anspruch, die abstinenz-orientierte Einzelfallhilfe durch eine politisch motivierte Sozialpädagogik zu ersetzen, bleibt dadurch nur noch die klassische Form einer individual-orientierten Sozialpädagogik. 4. Perspektiven. Die Krise der akzeptierenden Drogenarbeit dürfte nicht zu lösen sein, indem sie in der Grauzone von Legalität und Illegalität an ihrer individual-orientierten Sozialpädagogik festhält und darauf hofft, daß ihre Forderungen nach - Stoffkontrollen, - Tolerierungsbereichen für den Kleinhandel mit kontrolliertem Stoff zu festgelegten Preisen, - niedrigschwelliger Methadonvergabe und - qualifizierten Entzugsbehandlungen (-•Qualifizierte Entgiftung) (Drob Inn 1998: 58 f.) eingelöst werden. Die Krise wird auch nicht dadurch bewältigt, daß sich die akzeptierende Drogenarbeit dem Trend zur Dienstleistungsorientierung anpaßt. Denn so wenig Effizienz und Effektivität im Widerspruch zu einer akzeptierenden Drogenarbeit stehen müssen, so schwierig dürften dennoch pädagogische Erfolgskriterien zu benennen sein, die einverständlich von einer abstinenzverpfiichteten Bürokratie und akzeptanzfordernden Drogenkonsumentlnnen nachvollzogen werden. Entscheidend für die Krisenbewältigung wird vielmehr sein, daß die akzeptierende Drogenarbeit ihre Glaubwürdigkeit nach dem Scheitern der Legalisierungsbemühungen zu bewahren vermag, indem sie ihren Anspruch auf Akzeptanz der Menschenwürde wechselseitig erhebt: sowohl gegenüber einer absti14

Akzeptierende Drogenarbeit

nenzorientierten Öffentlichkeit wie gegenüber den akzeptanzorientierten Drogengebrauchern. Das heißt, - die Differenz zwischen der Droge und der Sucht erkennbar hervortreten zu lassen, - zu verdeutlichen, daß eine der Mündigkeit verpflichtete Pädagogik den süchtigen Menschen wohl als Menschen, nicht aber in seiner Sucht akzeptieren kann, - die Angst vor der Droge zumindest als Angst vor der Sucht ernst zu nehmen und einer abstinenzorientierten Öffentlichkeit nicht von vornherein zu unterstellen, sie wolle der Macht der Argumente für eine Drogenlegalisierung die Argumente der Macht für ein Drogenverbot entgegenstellen. Ein solches doppeltes Akzeptanzverständnis läßt sich nur verwirklichen, wenn allen Beteiligten bewußt ist, daß es dabei nicht „ohne das Fühlen von Konsequenzen, ohne Erfahrung von Verlust, ohne ,Leidensdruck' (Quensel 1998: 8) abgehen wird. Verlusterfahrung aber setzt Bindung voraus, und eine pädagogische Bindung dürfte nur auf Dauer herzustellen und zu sichern sein, wenn es der akzeptierenden Drogenarbeit gelingt, die in den Zentren der Städte aufgebauten professionellen Kontaktläden mit den dezentralen Aktivitäten der verschiedenen Selbsthilfeeinrichtungen institutionell zu vernetzen und in der Form von sozialpädagogischen Strukturangeboten auf Stadtteilebene zu entspezialisieren (Bathen 1996), um so den Weg für eine lebensweltlich ausgerichtete soziale Integration zu bereiten. Allerdings: Die akzeptierende Drogenarbeit sollte keinen Zweifel daran lassen, daß eine Suchtprävention so wenig wie eine Drogenprävention eine Erfolgsgarantie dafür übernehmen kann, Menschen von der Sucht abzuhalten oder zu heilen. Die Möglichkeit des Scheiterns ist elementare Voraussetzung des Gelingens von pädagogischem Handeln, und die Wirklichkeit des Scheiterns ist daher nicht schon als pädagogi-

Alateen scher Mißerfolg zu evaluieren. ( » D r o genfreigabe, -»Drogenpolitik, ->Drogenrecht, -»Prävention) Lit.: Bathen, Rainer 1996: Stadtteilintegrierte Jugend- und Drogenarbeit im Hammer Norden, in: Wegehaupt, Hiltrud, Wieland, Norbert (Hg.), Kinder, Drogen, Jugendliche, Pädagogen. In Kontakt bleiben. Dokumentation des 1. Europäischen Drogenkongresses in Münster 1996. Münster 1996, S. 2 6 4 271); Böllinger, Lorenz, Stöver, Heino, Fietzek, Lothar 1995: Drogenpraxis, Drogenpolitik, Leitfaden für Drogenbenutzer, Eltern, Drogenberater, Arzte und Juristen. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1995; Bossong, Horst 1996, Wenn Soziale Arbeit Zukunft haben soll. Konzeptionelle Überlegungen zu Modernität und Professionalität in der ambulanten Suchtkrankenhilfe in Deutschland, in: neue praxis, 26. Jg., H. 3, 1996, S. 197-202.; Drob Inn Hamburg, Jugendhilfe e. V. (Hg.) 1998, Mehr als 10 Jahre. Kontakt - Treffpunkt - Beratung für Drogenkonsumentlnnen. Hamburg 1998; Gerlach, Ralf, Engemann, Stefan 1994, Zum Grundverständnis akzeptanzorientierter Drogenarbeit. Münster 1994; Mill, John Stuart 1973 [1859], Die Freiheit. (On Liberty. 1859). Übersetzt und mit Einleitung und Kommentar hg. von Adolph Grabowsky. Darmstadt 1973; Quensel, Stefan 1998, Akzeptanz und Abstinenz - Zwei aufeinander angewiesene drogenpolitische Lager, in: Akzeptanz, Η. 1, 1998, S. 4 - 8 ; Richter, Helmut 1998, Sozialpädagogik - Pädagogik des Sozialen. Grundlegungen - Institutionen - Perspektiven der Jugendbildung. Frankfurt a. M. 1998; Scheerer, Sebastian 1995, Sucht. Reinbek bei Hamburg 1995; Schuller, Klaus, Stöver, Heino (Hg.) 1991, Akzeptierende Drogenarbeit. Ein Gegenentwurf zur traditionellen Drogenhilfe. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau 1991; Stöver, Heino, Drogenfreigabe: Plädoyer für eine integrative Drogenpoli-

Al-Anon Familiengruppen tik. Freiburg im Breisbau 1994; Trautmann, Franz 1993, Autonomie und/oder Bevormundung - zum Spannungsverhältnis von akzeptierender Drogenarbeit und Konsumentlnnen(organisation), in: akzept e. V. (Hg.), Menschenwürde in der Drogenpolitik. Hamburg 1993, S. 55-63. Helmut Richter, Hamburg Alateen Gruppen für Kinder und Jugendliche von Alkoholabhängigen im Rahmen der Arbeit der -»Anonymen Alkoholiker. -•Al-Anon; -»Kinder suchtkranker Eltern Al-Anon Familiengruppen - Selbsthilfegruppen für Angehörige und Freunde von Alkoholikern Der Name Al-Anon Familiengruppen leitet sich ab von „Alcoholics Anonymous" (AA) Family Groups. Die AlAnon Familiengruppen sind eine weltweite Gemeinschaft von Angehörigen und Freunden von Alkoholikern, die sich unter dem Schutz der Anonymität regelmäßig treffen, um durch Gespräche und Erfahrungsaustausch ihre gemeinsamen Probleme zu lösen und gegenseitige Hilfestellung zu leisten. Die Angehörigen und Freunde von Alkoholikern nahmen bis Ende der 40er Jahre an den Meetings der -»Anonymen Alkoholiker (AA) teil. Dabei erkannten sie, daß in ihrem Leben mit Alkoholikern andere Probleme und Schwierigkeiten im Vordergrund standen, als bei den Anonymen Alkoholikern. So entstanden 1951 in den USA die Al-Anon Familiengruppen als selbständige Gemeinschaft. Al-Anon ist nicht gebunden an irgendeine Sekte, Konfession, politische Gruppierung oder Institution. Die Selbsthilfegruppen finanzieren sich ausschließlich über freiwillige Zuwendungen der Mitglieder und dem Verkauf von eigener Literatur und Broschüren. Die Aufgabenbereiche in den Selbsthilfegruppen werden durch ehrenamtliche Mitarbeiter geleitet. Zu Al-Anon gehö15

Alkaloide

Alkohol-Abhängigkeit

ren auch Gruppen für Kinder und Jugendliche von Alkoholikern, genannt Alateen (Al-Anon-Teenager Group). Diese arbeiten nach dem gleichen Prinzip wie Al-Anon Gruppen. Die erste deutsche Al-Anongruppe wurde 1967 in das Weltregister aufgenommen. In Deutschland gibt es ca. 960 Al-Anon/Alateen Gruppen. Anschrift: Emilienstraße 4, 45128 Essen, Tel.: 0 2 0 1 / 7 7 3 0 0 7 , Fax: 0 2 0 1 / 773008, e-mail: [email protected] http://www.al-anon-alateen.org/de/index/htm

hol bildet den berauschenden Bestandteil aller alkoholischen Getränke. Alkohol für den G e n u ß durch Menschen entsteht entweder bei der Gärung von Zukkerarten, die durch H e f e in A. und Kohlendioxyd gespalten werden (z.B. Bier, Wein) oder durch die Destilleration (z.B. Branntweine). Alkohol gilt als die verbreitetste aller -»Rauschdrogen und die -•Alkoholabhängigkeit ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland, gleichzeitig spielt -»Alkohol als Wirtschaftsfaktor eine wichtige Rolle.

Alkaloide A. sind Naturstoffe, die in vielen Pflanzen (besonders in tropischen und subtropischen) enthalten sind. Ein Alkaloid ist einer Lauge oder Base ähnlich und kann mit Säuren Salze bilden; so lassen sich A. durch Salzbildung wasserlöslich machen. Bisher sind ca. 3000 A. bekannt. Alle A. sind schon in geringen Mengen pharmakologisch stark wirksam. Zu den bekanntesten zählen Atropin, das aus dem -»Bilsenkraut und der »Tollkirsche gewonnen wird (med. z . B . in der Augenheilkunde: Pupillenerweiterung); -•Codein, -»Ephedrin (med. z . B . in Hustensäften und Nasentropfen; kreislaufanregend, stimulierend -»Doping) -»Morphin (med. z . B . als narkotisierendes Schmerzmittel) und --»Nikotin.

Alkohol-Abhängigkeit 1. Alkohol. Alkohol (Ethanol) ist eine chemische Verbindung, die eine Reihe von Eigenschaften aufweist, die sich sonst kaum in einer einzigen Substanz vereint finden. Alkohol ist 1. ein Nahrungsmittel mit hohem Energiegehalt; 2. ein Genußmittel, das Getränken Wohlgeschmack verleiht; 3. eine psychoaktive Substanz, die zu Bewußtseinsänderungen führt. Deswegen dient sie als Rauschmittel, als Mittel für sakrale Zwecke, als Mittel zur Förderung sozialer Kontakte. Als psychoaktive Substanz kann Alkohol aber auch Schaden stiften: er kann soziale Probleme verursachen und er kann wegen seines hohen Abhängigkeitspotentials zum Suchtmittel werden; 4. ein Pharmakon, das früher und auch heute noch (in begrenztem U m f a n g ) als Heilmittel verwendet wird, das aber wegen seiner starken Nebenwirkungen zum Gift werden kann. Bei akuter Überdosierung kann Alkohol rasch zum Tod führen, bei chronischem Konsum schon relativ kleiner Mengen kann er fast alle Organsysteme schädigen.

Alkohol A. wird aus dem arabischen al-kuhl (feines Pulver, die Augenschminke) abgeleitet: Paracelsus übertrug den Begriff „Alkohol" auf eine Substanz, die sich aus der Destillation von Wein gewinnen ließ. A. ist eine zusammenfassende Bezeichnung für organische chemische Verbindungen, die wenigstens eine Hydroxylgruppe enthalten. Unter A. versteht man im allgemeinen das Äthanol, das auch Äthylalkohol genannt wird. Äthanol ist eine klare, farblose, leicht bewegliche, brennend schmeckende, leicht entzündliche Flüssigkeit. Die chemische Formel lautet: C 2 H 5 O H . Alko16

2. Mißbrauch und Abhängigkeit. A. wird heute als Synonym für die älteren Begriffe „Trunksucht" und „Alkoholism u s " verwendet. Als Trunksucht wurde

Alkohol-Abhängigkeit ein „heftiger Trieb oder ein unwillkürliches Verlangen zum Genuß geistiger Getränke" bezeichnet. 1852 wurde der Begriff Alkoholismus geprägt, womit ursprünglich die chronischen körperlichen Folgeerscheinungen langfristig exzessiven Alkoholkonsums gemeint waren. Der Terminus Alkoholismus hat sich wegen seiner Praktikabilität weltweit verbreitet, ist aber ähnlich verschwommen wie der Suchtbegriff. Deswegen wurde von der •Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) vorgeschlagen, zwischen alkoholbezogenen Folgeschäden (Mißbrauch) und A. zu unterscheiden (Edwards u. Mitarb. 1977). Diese Differenzierung hat sich (auch für andere Stoffe mit hohem Abhängigkeitspotential) allgemein durchgesetzt und Eingang in die internationalen Klassifikationsschemata -»ICD 10 bzw. >DSM IV gefunden. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird aber vielfach unter der Bezeichnung „Alkoholismus" sowohl Mißbrauch von Alkohol wie A. subsumiert. Unter Mißbrauch wird ganz allgemein der Konsum einer entsprechenden Substanz verstanden, der zu Problemen auf körperlichen, psychischen und/oder sozialen Gebieten führt. Die meisten der alkoholbedingten Folgeschäden können auch auf bloßen Alkohol-Mißbrauch zurückzuführen sein. Der in angloamerikanischen Ländern verwendete Begriff „problem drinking" (d. h. Trinken, das zu Problemen führt) wird weder in der ICD 10 noch in der D S M IV verwendet. Bei der A. wird zwischen „körperlicher" und „psychischer" Abhängigkeit unterschieden. „Körperliche Abhängigkeit" wird durch das Auftreten von Toleranzsteigerung und Entzugssyndromen definiert. Toleranzsteigerung liegt vor, wenn zunehmend höhere Dosen einer Substanz erforderlich sind, um die ursprünglich durch niedrigere Mengen verursachten Wirkungen zu erzielen. Unter dem Begriff -•„Entzugssyndrom" werden eine Reihe typischer Symptome (z.B. Zittern, Schweißausbruch, Übel-

Alkohol-Abhängigkeit keit, Angst, Schlafstörungen, epileptische Anfälle) zusammengefaßt, die dann auftreten, wenn eine entsprechende Substanz nach längerem übermäßigen Gebrauch rasch abgesetzt wird. Durch erneuten Gebrauch der betreffenden (oder einer ähnlich wirkenden) Substanz können diese Symptome wieder zum Verschwinden gebracht werden. Unter „psychischer Abhängigkeit" versteht man vor allem 4 Symptome: das gesteigerte Verlangen nach Alkohol, die mangelnde Fähigkeit, den Konsum zu kontrollieren, die Zentrierung des Denkens und Strebens auf Alkohol und die Fortsetzung des Alkoholkonsums trotz subjektiv wahrgenommener negativer Konsequenzen. Dementsprechend werden in den erwähnten Klassifikationsschemata die Symptome von Mißbrauch und Abhängigkeit explizit aufgeführt. In der International Classifikation of Diseases (10. Revision 1994) (ICD 10) werden die o. g. 6 Kriterien der A. aufgeführt, von denen mindestens 3 während des letzten Jahres vorhanden gewesen sein müssen. Im Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (DSM IV) werden für die A. Kriterien genannt, die denen der ICD 10 sehr ähneln. Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationsschemata bestehen jedoch hinsichtlich der Definition des Mißbrauchs, der in den ICD 10 „schädlicher Gebrauch" genannt wird. Danach ist er nur dann anzunehmen, wenn es durch den Konsum zu einer körperlichen und/oder psychischen „Gesundheitsschädigung" gek o m m e n ist. In der D S M IV hingegen werden auch psychosoziale Kriterien zur Definition des Alkohol-Mißbrauchs herangezogen. Seit Jahrzehnten hat man versucht, Alkoholiker nach Typen zu differenzieren. Von den älteren Typologien ist die bekannteste die von Jellinek (1960): - Alpha-Trinker („Konflikttrinker") - Beta-Trinker („Gelegenheitstrinker") - Gamma-Trinker („süchtige Trinker") 17

Alkohol-Abhängigkeit - Delta-Trinker („Gewohnheitstrinker") - Epsilon-Trinker („episodische Trinker"). Solche idealtypischen Konstruktionen sind in ihrer vollen Ausprägung real nicht vorfindbar. Konkrete Menschen sind diesen Typen immer nur mehr oder weniger angenähert. So kann eigentlich nur von einem Mißbrauch oder einer Abhängigkeit vom Typ Alpha oder G a m m a die Rede sein und nicht von Alpha- oder Gamma-Trinkern. Nach neueren Untersuchungen werden meist zwei Typen unterschieden, die sich auch klinisch identifizieren lassen. Als Beispiel sei die Typologie von Cloninger (1996) dargestellt (-»Persönlichkeit und Suchtverhalten): Typ I: Er ist bei Männern wie bei Frauen zu beobachten und tritt relativ spät auf, erst nach Jahren „schweren Trinkens". Psychologisch ist er charakterisiert durch die Tendenzen der „Schadensvermeidung", der Angstminderung und durch Schuldgefühle. Bei der Entstehung der A. spielen sowohl genetische wie umweltbedingte (psychosoziale) Prädispositionen eine Rolle. Typ II: Er tritt hauptsächlich bei Männern auf. Ziemlich häufig sind die Väter (und andere Verwandte ersten Grades) Alkoholiker oder Depressive. Die A. beginnt meist schon im Alter unter 25 Jahren. Relativ häufig sind gleichzeitiger Mißbrauch von Rauschdrogen und schwere alkoholbezogene soziale Komplikationen (anti-soziales Verhalten). Psychologisch ist Typ II charakterisiert durch ausgeprägte „Suche nach N e u e m " , während Tendenzen von „Schadensvermeidung" und „Abhängigkeit von Belohnungen" weniger ausgeprägt sind. Bei der Entstehung spielen umweltbedingte Prädispositionen (im Gegensatz zu Typ 1) eine geringere Rolle. Die A. weist in der Regel einen jahrelangen, chronischen Verlauf auf, bei dem 3 Phasen unterschieden werden können (Jellinek 1952): 1. Prodromal18

Alkohol-Abhängigkeit phase, 2. kritische Phase, 3. chronische Phase. 3. Krankheitsmodelle. Während früher übermäßiger Alkoholkonsum auf einen Charakterfehler zurückgeführt wurde, wurde er im Z u g e der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts als Krankheit aufgefaßt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1968 die „Trunksucht" als solche (also nicht nur ihre medizinischen Folgeschäden) durch ein Urteil des Bundessozialgerichts als ^ K r a n k heit anerkannt. Dieses Urteil hat zu weitreichenden Konsequenzen geführt. Vor allem wurde dadurch die Kostenübernahme der Behandlung bzw. Rehabilitation von Alkoholikern auf eine gesetzliche Grundlage gestellt, was den A u f b a u eines entsprechenden Therapieansatzes wesentlich gefördert hat. Das Krankheitskonzept, das erstmals um die Wende zum 19. Jahrhundert entwickelt wurde, war von A n f a n g an umstritten; die Diskussion geht bis heute weiter (vgl. Feuerlein-Küfner-Soyka 1998). Für das Krankheitskonzept sprechen zahlreiche Argumente. Die wichtigsten sind folgende: 1. Das Krankheitsmodell ist wertneutral. Dies hilft der weitverbreiteten Tabuisierung des Alkoholismus entgegenzuwirken und den therapeutischen Zugang zu erleichtern. 2. Die Krankenrolle bringt dem Alkoholiker zwar eine Entlastung seiner Verantwortung und eine Dispensierung seiner normativen Rollenverpflichtungen, stellt aber zugleich die Forderung kompetente Hilfe zu suchen. 3. Das rein biologische Krankheitsmodell, an d e m sich die meisten Kritiker orientieren, ist für viele Krankheiten, vor allem auf psychiatrischem und psychosomatischem Gebiet, nicht ausreichend, da es nicht die zusätzlichen psychischen und sozialen Entstehungsbedingungen mit berücksichtigt. Deswegen ist gerade beim Alkoholismus ein umfassendes biopsychosoziales Krankheitsmodell nötig. Aber selbst wenn

Alkohol-Abhängigkeit

Alkohol-Abhängigkeit

man hier nur vom biologischen Modell ausgeht, so ist zu bedenken, daß neuere Forschungsergebnisse darauf hinweisen, daß für die Entstehung der A. biologische Faktoren (z.B. auf genetischem und molekularbiologischem Gebiet) eine zunehmende Bedeutung erlangen. In den letzten Jahren ließ sich auch im Tiermodell ein Konsum-Muster reproduzieren, das viele Ähnlichkeiten mit der A. beim Menschen aufweist (Wolffgramm 1997). 4. Bedingungsfaktoren. Bei der Entstehung der A. sind dementsprechend viele Faktoren beteiligt. Ein einfaches Modell geht von drei großen Faktorengruppen oder Bedingungen aus, die sich in einem Dreieck (Abb. 1) darstellen lassen. Es sind dies: - Der Alkohol mit seinen spezifischen Wirkungen; - das Individuum mit seinen körperlichen und psychischen Eigenschaften, wie sie sich bei der jeweiligen genetischen Disposition im Laufe des Lebens entwickelt haben;

Droge

psychologische Faktoren)

Abb. I.

- das Sozialfeld, wozu neben den interpersonalen, sozialisierenden Beziehungen auch die beruflichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie die traditionsgebundenen und religiös orientierten Nonnen zu rechnen sind. Die Faktoren dieses Bedingungsgefüges treten in Interaktion, beeinflussen sich also gegenseitig in verschiedener Weise, so daß u. U. ein positives Feedback im Sinne eines Teufelskreises entsteht (Abb. 2). 5. Epidemiologie. Der Alkoholkonsum ist in verschiedenen Ländern hinsichtlich der Menge und der Art der alkoholi-

Alkoholtrinken als Bewältigungsstrategie

Abb. 2.

Teufelskreise der Alkoholabhängigkeit (aus: H. Kiifner: WienerZ. Suchtforsch. 4 [1981] 3).

19

Alkohol-Abhängigkeit

sehen Getränke unterschiedlich. Deutschland gehörte 1995 mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von (umgerechnet) 9,9 Litern reinem Alkohol pro Jahr zu den „Spitzenreitern", gefolgt von Österreich und der Schweiz (Breitenacher 1997). Allerdings ist der Alkoholkonsum nicht gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt. Nur ein relativ kleiner Prozentsatz verbraucht etwa die Hälfte der alkoholischen Getränke. Die Zahl der (behandlungsbedürftigen) Alkoholkranken in Deutschland wird derzeit auf etwa 2,5 Mill, geschätzt, d. h. auf etwa 3% der Bevölkerung (Hüllinghorst 1997). Die Mehrzahl der Krankenhausfälle (82%) entfällt auf die Altersgruppen zwischen 25 und 55 Jahren. Nur 3% sind älter als 65 Jahre. Bei Jugendlichen beträgt der Anteil der Alkoholabhängigen noch weniger als 1%. Von jungen Erwachsenen konsumieren jedoch schon 7% der Männer und 3% der Frauen täglich mehr als 40 g bzw. 20 g Alkohol. 6. Folgeschäden. Die Folgeschäden der A. sind vielfältig. Alkohol führt, wenn er in größeren Mengen innerhalb kurzer Zeit getrunken wird, zu einer akuten Vergiftung, die tödlich enden kann. Häufig und letztlich gefährlicher sind aber die Folgen langdauernden Gebrauchs relativ geringer Mengen. Seit Jahren wurde versucht „Grenzwerte" für gesundheitlich unbedenklichen Alkoholkonsum aufzustellen. Sie werden derzeit von der WHO mit 40 g für Männer und 20 g für Frauen (etwa entsprechend einem bzw. einem halben Liter Bier) angegeben. Besonders häufig betroffen sind die Leber (Leberzirrhose), die Bauchspeicheldrüse, das Herz (alkoholische Kardiomyopathie), der periphere Kreislauf (Bluthochdruck). Eine Reihe von Krebserkrankungen, vor allem im Bereich der oberen Verdauungswege, aber auch anderer Organe sind ζ. T. auf Alkohol zurückzuführen. Wichtig sind auch die Schädigungen des zentralen Nervensystems. Es kann dabei nicht nur 20

Alkohol-Abhängigkeit

zu -»Psychosen (z.B. Alkoholdelir) und zu einem organischen Psychosyndrom mit schweren Gedächtnisstörungen, Demenz und zu Persönlichkeitsveränderungen kommen, sondern auch zu Schädigungen des Kleinhirns, die sich in Gleichgewichtsstörungen und anderen Symptomen äußern. Auch das periphere Nervensystem wird häufig geschädigt: meist sind es Nervenentzündungen, die u. a. zu Schmerzen und Lähmungen führen. Besonders zu erwähnen ist die Schädigung des ungeborenen Kindes durch die A. der Mutter („Alkohol-Embryopathie"). Nach Schätzungen wurden 1995 in Deutschland etwa 2200 Kinder mit solchen Schädigungen geboren, die sich meist nicht mehr zurückbilden. Es handelt sich dabei meist um Minderwuchs, Mißbildungen und vor allem um psychische Retardierung (-•Embryopathie). Entsprechend der Häufigkeit der alkoholbedingten Krankheiten (und der Suizide) ist die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle hoch, aber aus methodischen Gründen nicht genau zu bestimmen. In Deutschland sind (nach vorsichtigen Schätzungen) 1993 etwa 33 000 Personen an den Folgen von A. oder akuter Alkohol-Einwirkung verstorben. Wahrscheinlich lag die Zahl aber wesentlich höher. Auf psychosozialem Gebiet sind im allgemeinen durch A. bedingte Folgeschäden viel früher zu beobachten als im medizinischen Bereich. Sie betreffen den Konsumenten selbst ebenso wie auch das soziale Umfeld, hier in erster Linie die Familie, wo es häufig zu Scheidungen und Störungen der Entwicklung der Kinder kommt (-»Kinder von suchtkranken Eltern). Auch die Berufswelt (-»Betriebliche Suchtprävention) ist betroffen (z.B. durch alkoholbedingte Minderleistungen, Fehltritte und Unfälle). Oft vollzieht sich die berufliche Desintegration nicht kontinuierlich, sondern etappenweise. Eine häufige Folge sind Arbeitslosigkeit, die aber umgekehrt auch zur Mitursache der A. werden kann. A. kann, auch we-

Alkohol-Abhängigkeit

Alkohol-Abhängigkeit

gen der damit nicht selten verbundenen Persönlichkeitsveränderungen, zu einer Mitursache von delinquentem Verhalten (vor allem Eigentums- und Gewaltdelikte) werden (-»Sucht und Gewalt, -•Sucht und Kriminalität). Auch Enthemmungs- und Erregungsdelikte (z.B. Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Sexualdelikte) werden häufig unter Alkohol-Einwirkung begangen. Ein besonders schwerwiegendes Problem stellen die alkoholbedingten Beeinträchtigungen der Verkehrstüchtigkeit dar (-Straßenverkehr und Substanzgebrauch).

schränken, u. U. sogar auf das bloße Überleben (Existenzsicherung). Abstinenz von Alkohol ist letztlich nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung für die Erreichung des genannten Ziels. Sog. kontrolliertes Trinken kann bei A. aus verschiedenen Gründen nicht empfohlen werden, vor allem deswegen, weil die Entwicklung der psychischen Abhängigkeit, der Kontrollverlust, mit dem kontrollierten Trinken kollidiert. Außerdem bilden sich die meisten Alkoholfolgekrankheiten erst bei jahrelanger Abstinenz zurück. -»Geschichte des Alkohols

7. Diagnose. Die Diagnose des Alkoholismus ist nur in Extremfällen einfach. Dies hat verschiedene Gründe. So treten die alkoholbedingten Folgeschäden auf körperlichem Gebiet oft später auf als die psychosozialen Probleme. Außerdem können die meisten Folgekrankheiten auch andere Ursachen als den übermäßigen Alkoholkonsum haben. Es existieren zahlreiche Verfahren zur Objektivierung der Diagnose (Näheres siehe Feuerlein-Küfner-Soyka 1998). Die meisten stützen sich auf standardisierte Befragungen über das Ausmaß des Alkoholkonsums und die dadurch bedingten psychosozialen Störungen, wie sie in den o. g. Diagnosekriterien der ICD 10 bzw. DSM IV dargestellt sind. Der einfachste von ihnen (der sog. CAGE-Test) kommt mit 4 Fragen aus. Außerdem wurden verschiedene biologische Verfahren zur Feststellung alkoholbedingter Körperschäden entwickelt. (-»Diagnostik).

Lit.: Breitenacher, M., Alkohol-Zahlen und Fakten zum Konsum. In: DHS Jahrbuch 98, Neuland Geesthacht 1997; Cloninger, C. R., Sigverdsson, S., Bohman, M., Type I and type II alcoholism: an update. Alcohol World 20 (1996) 18-23; Edwards, G„ Gross, Μ. M., Keller, M., Moser, J., Room, R., Alcohol-related disabilities. W H O Offset Publ. 32 (1997); Feuerlein, W.: Alkoholismus. 3. Aufl. C. Η. Beck München 1999; Feuerlein, W„ Küfner, H„ Soyka, M.: Alkohol-Mißbrauch und Abhängigkeit, 5. Aufl. Thieme Stuttgart 1998; Hüllinghorst, R., Zur Versorgung Suchtkranker in Deutschland. In: DHS Jahrbuch 98, Neuland Geesthacht 1997; ICD 10, Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Bd. 1, Symptomatisches Verzeichnis, Berlin 1994; Jellinek, Ε. M., Phases of alcohol addiction. W H O Techn. Rep. Ser. 48 (1952) 26; Jellinek, Ε. M., Alcoholism, a genus and some of its species. Canad. Med. Assoc. J. Suppl. 1 83 (1960) 1341; Küfner, Η., Systemwissenschaftlich orientierte Überlegungen zu einer integrativen Alkoholismus-Theorie. Wien. Z. Suchtforschung 4 (1981) 3; Wolffgramm, J., Abhängigkeitsentwicklung im Tiermodell. In: Watzl, H., Rockstroh, B., Mißbrauch und Abhängigkeit. Hogrefe Göttingen 1997.

8. Behandlung. Die Behandlung der A. erfordert, entsprechend der Vielfalt seiner Bedingungsfaktoren, ein komplexes Vorgehen (->Suchtkrankenhilfe). Die Behandlung sollte wie bei jeder anderen Krankheit auf eine Heilung abzielen, also in der völligen Beseitigung der Krankheit und ihrer körperlichen und psychosozialen Folgen. Sofern dies nicht möglich ist, muß sich die Therapie auf eine Reduktion der Symptome be-

Wilhelm Feuerlein, München 21

Alkohol als Wirtschaftsfaktor

Alkoholfolgekrankheiten

Wirtschaftliche Bedeutung von Alkohol in Deutschland

BSI'95

Produktion 1995 Betriebe Beschäftigte

Anzahl 21 159 83796

Steuereinnahmen 1995 Branntweinsteuer Biersteuer Schaumweinsteuer Zwischenerzeugnisse

Summe (Mio) 4836,7 1766,4 1083,3 42,5

Prozent der Steuereinnahmen 0,6% 0,2% 0,1% 0,0%

Prozent der Verbrauchssteuern 5,1% 1,9% 1,1% 0,0%

insgesamt

7728,9

0,9 %

8,1%

Quelle: Suchtbericht Deutschland 1997

Alkohol als Wirtschaftsfaktor Der Jahresumsatz der Alkoholwirtschaft beträgt in Deutschland seit Jahren etwa gleichbleibend zwischen 30 und 35 Mrd. DM, das entspricht einem Betrag zwischen 57000 und 66000 DM pro Minute, Tag und Nacht. In rund 1400 Braustätten, 116 Alkoholbrennereien und Betrieben zur Spirituosenherstellung und ca. 20800 Betrieben zur Weinerzeugung arbeiten knapp 85000 Menschen. Etwa 800000 Beschäftigte zählt das Gaststättengewerbe, das mit alkoholischen Getränken große Anteile seines Umsatzes erzielt. Die Steuern, die, mit Ausnahme von Wein, auf den Verbrauch sämtlicher alkoholischer Getränke erhoben werden, leisten einen Beitrag zu den Gesamtsteuereinnahmen von fast 8 Mrd. DM (ca. 1%). Im Jahr 1997 sind die Einnahmen aus der Bier- und Branntweinsteuer durch den Konsumrückgang gesunken, die Einnahmen aus der Schaumweinsteuer jedoch um fast 3% gestiegen. Alkoholembryopathie Durch den Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft verursachte Erkrankungen und Mißbildungen des Embryos (Kind in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten) bzw. des Fötus (Kind nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten). -»Embryopathie Alkoholfolgekrankheiten A. sind psychische (die von der W H O als -•Alkoholabhängigkeit zusammen22

gefaßt werden) und körperliche Erkrankungen infolge des schädlichen Gebrauchs von Alkohol bzw. der Alkoholabhängigkeit. Nach Schätzungen der WHO liegen alkoholbezogene (nicht alkoholabhängigkeitsbezogene) Erkrankungen bereits auf Platz drei der Weltrangliste und es gibt so gut wie kein Organsystem, das den Folgen von zu hohem Alkoholismus widersteht. Zu den häufigsten körperlichen Schäden gehören alkoholbedingte Lebererkrankungen (Toxische Hepatitis, »Fettleber, -»Leberzirrhose), Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis), der Herzmuskeln (Kardiomyopathie), des Magens (Gastritis) und Darms und des zentralen wie des periphären Nervensystems (Polyneuropathie). Differentialdiognostisch muß zwischen alkoholbedingten und anderen möglichen Ursachen für eine Organerkrankung unterschieden werden. Die Leber ist das wichtigste Organ für den Abbau von Alkohol im Körper und der Alkohol wirkt auf die Leber direkt toxisch. Die häufigste Erkrankung der Leber ist die alkoholbedingte Fettleber. Die Leber ist durch die Einlagerung von Fetttropfen in den Leberzellen vergrößert. Die subjektiven Beschwerden sind in der Regel sehr gering und es werden zeitweiliges Völlegefühl, Appetitlosigkeit, zeitweilige Übelkeit, ein leichtes Druckgefühl im Oberbauch geschildert. Die Leber ist vergrößert, die Laborbefunde können im Norm- oder Grenzbe-

Alkoholkonsum

Alkoholhalluzinose

reich liegen. Die alkoholbedingte Fettleber bildet sich bei Abstinenz zurück. Bei der toxischen Hepatitis kommt es in unterschiedlichen Formen zu entzündlichen Veränderungen des Lebergewebes und dem Absterben von Leberzellen. Die subjektiven Beschwerden zeigen sich in Völlegefühl, Verdauungsstörungen und diffusen Beschwerden. Die Leber ist vergrößert und druckempfindlich. Die Laborbefunde sind gering bis deutlich erhöht. Die toxische Hepatitis ist bei früher Erkennung rückbildungsfähig, in fortgeschrittenen Fällen kann es zu einer Leberzirrhose kommen. Ca. 10-20% der Alkoholabhängigen leiden unter einer Leberzirrhose. Es werden kompensierte, inaktive von dekompensierten Leberzirrhosen unterschieden. Die kompensierte Leberzirrhose zeichnet sich durch eine leichte Einschränkung der Leberzellfunktion aus und äußert sich u. a. in Beschwerden wie Appetitlosigkeit, Völlegefühl, Müdigkeit und Verdauungsbeschwerden. Die Leber ist groß und tastbar. Eine Rückbildung der Zirrhose ist bei Abstinenz - nicht nur von Alkohol, sondern auch von anderen lebertoxischen Substanzen - durchaus möglich. Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) sind eine der häufigsten Folgen chronischen Alkoholkonsums. Am häufigsten sind die akute und die chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Ursachen sind, neben der direkten toxischen Wirkung des Alkohols auf die Bauchspeicheldrüse, auch eine hochkalorische, fett- und proteinhaltige Ernährung, aber auch ein Proteinmangel. Subjektiv werden Beschwerden wie Bauchschmerzen, nach links, aber auch gürtelförmig, geschildert. Bei Abstinenz von Alkohol und einer internistischen Therapie besteht eine günstige Prognose. Als Folge der direkten toxischen Wirkung des Alkohols auf das Herz kann es bei langjährigem überhöhten Alkoholkonsum zu Erkrankungen des Herzmuskels, wie Herzfunktionsstörungen und Herzschwäche kommen. Als subjektive Beschwerden werden Herzschmerzen,

Müdigkeit und Atemnot genannt. Die Prognose der alkoholbedingten Kardiomyopathien ist bei früher internistischer Behandlung und Abstinenz von Alkohol günstig, später ungünstig: die 5-JahreÜberlebensrate liegt bei unter 50%. Entzündungen der Magenschleimhaut (Gastritis) sind häufig. Subjektive Beschwerden zeigen sich u. a. durch Übelkeit, Erbrechen und einem Druckgefühl im Oberbauch, in schweren Fällen kann es zu Bluterbrechen und Schock kommen. Alkoholbedingte Schädigungen der Nervenbahnen (Polyneuropathie) treten bei chronischem Alkoholismus häufig auf, entwickeln sich langsam und beginnen oft an den unteren Extremitäten. Die subjektiven Beschwerden sind u. a. schmerzhafte Mißempfindungen, Kribbeln, Taubheitsgefühle, Muskelkrämpfe und eine starke Unsicherheit beim Gehen und Stehen. Die Prognose ist bei Abstinenz günstig und die u. U. sehr ausgeprägten Ausfälle bilden sich weitgehend zurück. Alkoholabhängigkeit; -•Drogentote; > Mortalität(sziffer) Alkoholhalluzinose Die A. ist eine relativ seltene Form der Alkoholpsychose. Das Hauptsymptom sind akustische Halluzinationen bei ansonsten klarer Bewußtseinslage und guter Orientierung. •Halluzinose; -»Psychose Alkoholismus Alkoholabhängigkeit Alkoholismustypologien Es wurde immer wieder versucht, Alkoholismus nach Typen zu differenzieren, obwohl konkrete Menschen in der Realität immer mehr oder weniger den idealtypischen Konstruktionen entsprechen. Zu den bekanntesten Typologien zählen die von Jellinek (1960) und von Cloninger (1981) (s. Tabellen S. 24). -•Alkoholabhängigkeit Alkoholkonsum Der Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol (s.S. 24) wird üblicherweise als 23

Alkoholkonsum

Alkoholkonsum

Typologie nach Jellinek (1960): Art des Alkoholismus

Versuch einer Typisierung

Abhängigkeit

Suchtkennzeichen

Alpha

Erleichterungs-, Konflikttrinker

Nur psychisch

Kein -»Kontrollverlust, aber undiszipliniertes Trinken mit Fähigkeit zur Abstinenz

Beta

Gelegenheitstrinker

Keine, außer soziokulturelle

Kein Kontrollverlust

Gamma

Süchtiger (Problem-) Trinker

Zuerst psychische. dann körperliche Abhängigkeit

Kontrollverlust, jedoch Fähigkeit zur Abstinenz und Phasen von Abstinenz

Delta

Gewohnheitstrinker

Körperliche Abhängigkeit

Unfähigkeit zur Abstinenz, kein Kontrollverlust

Epsilon

Episodischer Trinker

Psychische Abhängigkeit

Kontrollverlust, jedoch Fähigkeit zur Abstinenz

Typologie nach Cloninger (1981): Typ II:

Typ 1:

Eher von hereditären (vererbten) Faktoren abhängig

Eher von Umweltfaktoren abhängig Später Beginn (nach dem 25. Lebensjahr) Bei beiden Geschlechtern vorkommend Eher milder Verlauf des Alkoholabusus Hohe Abhängigkeit von Belohnung (reward dependence) Hohe Vermeidung von Schaden (harm advoidance)

Früher Beginn (vor dem 25. Lebensjahr) Auf das männliche Geschlecht begrenzt Eher schwerer Verlauf des Alkoholabusus Niedrige Abhängigkeit von Belohnung (reward dependence) Niedrige Vermeidung von Schaden (harm advoidance)

Niedriges Suchen nach „sensation seeking" Etwa: Gefühle, Empfindungen, großes Aufsehen bestes Beispiel: U-Bahnsurfen

Hohes „sensations seeking"

Pro-Kopf-Verbrauch von reinem Alkohol seit 1900 15

DHS '85-97

12,5

0 Η 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 1900 Ost West Gesamt 10,1

1913

1929

1938

1950

7,6

5,2

4,9

3,3

Quelle: Suchtbericht Deutschland 1997

24

1960 4,1 7,8

1970 6,1 11,4

1980 10,1 12,7

1990 12,6 11,8

1995 11,2

Alkoholsteuer

Alkoholpsychosen Pro-Kopf-Verbrauch verschiedener Alkoholika seit 1955

1950

1965

1980

1995

Liter 1955 1965 1980 Ost 68,5 80,6 138,7 West 68,8 122,3 145,7 Gesamt

1995

Liter 1955 4,4 Ost 3,4 West Gesamt

1995

1965 4,7 7,2

1980 12,3 8,1

137,7

6,5

Standardmaß für die Verbreitung und den Umfang des Alkoholkonsumes in einer Gesellschaft genutzt. Die Trinkmengen sind aber nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt, so trinken viele wenig und nur wenige trinken viel, der ProKopf-Verbrauch verschiedener Alkoholika differiert stark und die Konsummuster verschiedener Alkoholika haben sich seit Jahrzehnten erheblich verändert. Alkoholpsychosen Bei Alkoholabhängigkeit, u. U. auftretende Störungen: z.B. -»-Delirium tre-

1950

1965

Wein 1955 Ost 1,7 West 11,0 Gesamt

1965 4,2 18,1

DHS '85-97

1980 1980 9,6 26,6

1995 1995 22,2

Wein 1955 1965 1980 1995 Ost 4,8 3,9 10,1 12,7 West 5,2 10,0 Gesamt 11,2 Quelle: Suchtbericht Deutschland 1997

mens, ->Halluzinose, -•Korsakow-Syndrom, -»Psychosen Alkoholsteuer Die A. ist eine Verbrauchssteuer die in Deutschland auf sämtliche alkoholischen Getränke, mit Ausnahme von Wein, erhoben wird. Die Einnahmen leisteten 1995 einen Beitrag zu den gesamten Steuereinnahmen von fast 8 Mrd. DM (ca. 1%), wovon nahezu 5 Mrd. DM auf die Branntweinsteuer entfielen. ->• Alkohol als Wirtschaftsfaktor 25

Alkoholtests Alkoholtests Α. werden in der Regel für die Beurteilung von Verkehrsteilnehmern in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit, aber auch bei alkoholisierten Straftätern in Bezug auf die Schuldfähigkeit durchgeführt. Das häufigste Verfahren ist, den Alkoholgehalt der Atemluft zu messen ( - • Atemalkoholkonzentration), das zweithäufigste die Abnahme von Blut zur Bestimmung der -•Blutalkoholkonzentration. Weitaus seltener wird Urin oder Speichel als Untersuchungsmaterial genutzt. -•Suchtstoffanalysen Alkoholvergiftung Als A. bezeichnet man ein vorübergehendes Zustandsbild nach der Aufnahme von Alkohol mit Störungen des Bewußtseins, der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, des Affektes, des Verhaltens und anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Wann eine Alkoholvergiftung eintritt, ist individuell unterschiedlich, ebenso wie das Abklingen der Symptome. In der Regel verschwinden die Symptome ohne erneute Alkoholzufuhr vollständig und es erfolgt eine Erholung. Erste Vergiftungserscheinungen zeigen sich bei normal Konsumierenden bei etwa 0,5 Promille Blutalkoholwert (z.B. verlängerte Reaktionszeit, Aufmerksamkeitsstörungen). Eine Alkoholvergiftung mit sehr hohen Blutalkoholwerten (über 3,5 Promille) kann zur Bewußtlosigkeit und zum Tode führen. Eine -»• Akutbehandlung mit Intensivüberwachung ist dann unerläßlich. Diagnostische Kriterien bei einer Alkoholvergiftung: - I C D - 1 0 : F l 0 . 0 -•Blutalkoholismuskonzentration Alraune Das -•Nachtschattengewächs Alraunwurzel gehört neben dem ^Bilsenkraut und der •Tollkirsche zu den sog. Hexenkräutern mit halluzinogener Wirkung. -•Drogenpflanzen; -»Magische Pflanzen

26

Ambulante Einrichtungen Alte Menschen -•Sucht im Alter Ambulante Einrichtungen I. Ambulante Einrichtungen: Struktur und Organisation II. Ambulante Einrichtungen: Historische Entwicklung I. Ambulante Einrichtungen: Struktur und Organisation 1. Definition. Unter einer „ambulanten Einrichtung" (aE) im engeren Sinne versteht man ein hinsichtlich seiner Mitgliederzahl kleines soziales System mit einer teamförmigen Kooperationsstruktur und fachgeschultem Personal aus den humanwissenschaftlichen Disziplinen der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, der Klinischen und Sozial-Psychologie sowie der Inneren Medizin und Psychiatrie (Aspekt der Multi- und Interdisziplinarität), wobei die spezifisch professionelle Interaktion und Kommunikation im Sinne einer Beeinflussung von Klienten bzw. Patienten (Abhängigkeitskranke, Konsumenten mit schädlichem Gebrauch und Angehörige) sich auf nur wenige Stunden pro Woche beschränkt, und die Patienten überwiegend in ihrem sozialen Milieu verbleiben. Betont wird mit dem Begriff „soziales Milieu" die Verflochtenheit von sozial bedeutsamer Raumstruktur (z.B. Wohnung, Büro, Werkhalle, Straße oder Stadtteil) und räumlich bedeutsamer Sozialstruktur (z.B. Familie, Arbeitsgruppe, Freundeskreis oder Nachbarschaft). 1.1 Suchtberater und Psycho- bzw. Sozialtherapeuten als Experten interagieren und kommunizieren mit Patienten als Laien im Hinblick auf das Ziel: Hilfe bei Abhängigkeitserkrankungen und schädlichem Gebrauch -•psychotroper Substanzen (-•Suchtkrankenhilfe), etwa als Erreichen und Sichern von Abstinenz oder als Rückfallverhütung (-»Rückfall) oder zunächst als Harm Reduction im Sinne von Risikominderung und Schadensminimierung. Das generelle Ziel: die Wiederherstellung von Gesundheit sowie die damit verbundene Erfüllung

Ambulante Einrichtungen sozialer Rollen und das Funktionieren sozialer Systeme bedeutet unter funktionalem Aspekt, daß aE einen Beitrag liefern zur gesellschaftlichen Integration bei drohender oder bereits eingetretener sozialer Desintegration in Form von abweichendem Verhalten einer größeren Zahl von Gesellschaftsmitgliedern (z.B. der ca. 2,5 Mio. Alkoholabhängigen in Deutschland). Interaktion und K o m m u nikation orientieren sich dabei an spezifischen Programmen und nicht-technischen Technologien als vorab festgelegten Verfahrensweisen und diagnostischen und therapeutischen Methoden sowie an organisations- und berufsspezifischen Normen und Vorschriften. Z u d e m sind Interaktion und Kommunikation gebunden an die besonderen Leistungen bzw. Aufgaben von -»Anamnese und -»Diagnose, motivationaler Intervention und -•qualifizierter Entgiftung, Beratung und Betreuung, Behandlung als -»Psychotherapie und Soziotherapie sowie als medizinische -»-Rehabilitation, - • N a c h s o r g e und »Krisenintervention, Aktivierung und Unterstützung von Selbsthilfe sowie Primärvention (-»Prävention) und -»Gesundheitsförderung. Die Zielverwirklichung im Sinne der Leistungswirksamkeit kann über Methoden der quantitativen und qualitativen empirischen Sozialforschung im Rahmen von -»Evaluations- und Katamnesestudien festgestellt werden (Aspekt der -»Qualitätssicherung). 1.2 In der Regel handelt es sich bei den aE zum einen u m „Ambulante Beratungsstellen für Suchtkranke, -gefährdete und ihre Angehörigen". Häufig nennen sie sich auch „Psychosoziale Beratungsund Behandlungsstelle" (PSBB) oder nur „Suchtberatungsstelle", „Sucht-" bzw. „Fachambulanz". Z u m andern handelt es sich um „Jugendund Drogenberatungsstellen" (DROBS), die sich auf Konsumenten illegaler Drogen spezialisiert haben. Je nach Bundesland und den dort geltenden Mindestkriterien in den Förderrichtlinien verfügen die aE über eine unterschiedliche An-

Ambulante Einrichtungen zahl von Mitarbeitern. Zumeist sind es mindestens zwei Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen als hauptberufliche Mitarbeiter, ein Psychologe und ein Arzt (auf Teilzeitstellen) sowie eine Bürokraft. Im weiteren Sinne - und gerade im Hinblick auf die Geschichte der aE - können unter aE auch Sozialpsychiatrische Dienste bei den Gesundheitsämtern gefaßt werden, sofern sie Abhängige betreuen, sowie Kontakt- und Anlaufstellen, die von Laien als Mitglieder von Selbsthilfegruppen betrieben werden und sich in der Trägerschaft von Selbsthilfeorganisationen, Wohlfahrtsverbänden und Kirchengemeinden befinden; des weiteren Institutsambulanzen von psychiatrischen Krankenhäusern, Polikliniken oder den Suchtfachkliniken angegliederte Ambulanzen und nicht zuletzt die Praxen von niedergelassenen Ärzten, entweder als Nervenärzte, Psychiater und Psychotherapeuten oder als Allgemeinmediziner und Internisten, sowie neuerdings von psychologischen Psychotherapeuten. 1.3 Begriffsbestimmungen in diesem Bereich unterliegen der Gefahr definitorischer Zirkel („ambulante Dienste sind die Gesamtheit der nicht-stationären Hilfeangebote") und begreifen „ambulant" als Restkategorie (z.B. als „extramuraler Bereich"). Solche Definitionen orientieren sich zwar häufig implizit an stationären Einrichtungen, etwa Suchtfachkliniken, explizieren allerdings nicht deren hier interessierende spezifische Merkmalsausprägungen. Diese können gleichsam als Endpunkte von Variablen verstanden werden, die auch zur Charakterisierung von aE brauchbar sind. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Ansatz von E. G o f f m a n (1971) relevant, solcherart Einrichtungen unter dem Aspekt totaler Institutionen, besser: totale Organisationen, zu betrachten. Die aE trennen weder die mit ihr interagierenden Patienten von ihrem sozialen Milieu bzw. versuchen nicht, sie in eine anfangs von der sozial-räumlichen U m 27

Ambulante Einrichtungen

welt abgeschotteten „Anstalt" außerhalb von Siedlungen einzugliedern, noch verwalten sie deren soziale Verhaltensweisen und individuellen Bedürfnisse nach einem umfassenden Plan, z.B. in Form von Hausordnungen und Therapieschemata, noch nehmen sie deren ganze Person für sich in Anspruch. Auch ist in den aE - im Gegensatz zu den stationären Einrichtungen - die räumliche Trennung von Wohn- und Schlafbereich, Arbeit und Freizeit nicht aufgehoben, sondern sie ist geradezu konstitutiv für die therapeutische Bearbeitung von Suchtproblemen. 2. Zur Sozialen Struktur von ambulanten Einrichtungen 1. Gab es Anfang der 80er Jahre in den alten Bundesländern erst 450 aE, so stellen gegenwärtig, im zehnten Jahr des wiedervereinten Deutschland, die insgesamt circa 1200 aE, darunter nach Schätzungen etwa 125 Drogenberatungsstellen, die Stützpfeiler in der Betreuung von Abhängigkeitskranken dar; d. h. auf rund 65000 Einwohner kommt mittlerweile eine aE. Insgesamt haben sie - geht man von den + EBIS-Zahlen aus - jährlich zu ungefähr 420000 Personen Kontakt, wovon circa 175000 Klienten bzw. Patienten i. e. S. sind, die beraten und behandelt werden. In drei von vier Fällen sind die Patienten zwischen 30 und 60 Jahre alt; allerdings ist der Anteil jüngerer Patienten höher als in stationären Einrichtungen. Überwiegend geht es um Alkoholprobleme (Anteil: 71,9%), der Anteil weiblicher Patienten liegt gegenwärtig bei circa 31%. Rechnet man beim Personal den inzwischen nicht geringen Anteil von Teilzeitkräften auf volle Stellen um, so waren Mitte der 90er Jahre (einschließlich der Bürokräfte) ungefähr 5900 Personen in aE tätig; in den alten Bundesländern waren es pro Einrichtung durchschnittlich 4,9 Mitarbeiter, in den neuen Bundesländern 3,4; davon sind annähernd zwei Drittel Fachhochschulabsolventen der 28

Ambulante Einrichtungen

Sozialarbeit/Sozialpädagogik und rund 8% Diplom-Psychologen. Hinsichtlich der Art der absolvierten therapeutischen Weiterbildung nahm von den geläufigen Verfahren bis 1992 die tiefenpsychologisch orientierte Sozialtherapie den Spitzenplatz ein, gefolgt von der Gesprächspsychotherapie und der Familientherapie, allerdings waren die in der EBIS-Statistik unter „andere Verfahren" zusammengefaßten Richtungen am häufigsten in aE anzutreffen. Bei einer Steigerungsquote von 2% jährlich lag 1995 der Etat einer aE im Westen im Durchschnitt bei 485000 DM und im Osten bei 312000 DM, wobei den aE in freier Trägerschaft kommunale Mittel in Höhe von 32,5% zuflössen; Landesmittel machten 24,7% aus und Bundesmittel 4,7%. An Eigenmitteln wurden 27,9% aufgebracht und nur weniger als 5% der Haushaltsmittel kamen von den Renten- und Krankenversicherungsträgern. Zu circa 70% arbeiten die aE unter der Trägerschaft von gemeinnützigen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, 30% sind in kommunaler Trägerschaft und damit Teil einer Behörde. Die kommunalen Einrichtungen befinden sich vor allem in den fünf neuen Bundesländern. So lag beispielsweise in Brandenburg diese Quote bei 55%. Als Behörden im Sinne bürokratischer Organisationen setzen sie demnach eine bedeutsame historische Tradition der aE fort. 2.2 Unter analytisch-klassifikatorischen Gesichtspunkten wurden aE eingangs als kleine soziale Gebilde bzw. Systeme bezeichnet. Orientiert man sich an dem immer noch brauchbaren Hinweis von R. Mayntz (1963), Ziele und Zwecke als Unterscheidungsmerkmale zu nutzen, dann handelt es sich bei aE um soziale Gebilde, deren Ziel es ist, in spezifischer Weise auf eine Personengruppe (hier: Patienten mit einer Abhängigkeitsproblematik) einzuwirken und sie zu beeinflussen. Ein weiterer Typus ergibt sich aus dem Ziel, Leistungen zu erstellen, seien es produzierte Güter oder Dienst-

Ambulante Einrichtungen

leistungen. Unter diesem Aspekt zählen aE, in denen vornehmlich Patienten beraten und behandelt werden, zunächst einmal weder zu den bürokratischen Organisationen noch zu den auf einem Markt operierenden Dienstleistungsorganisationen - wie etwa „Essen auf Rädern", das möglicherweise von demselben Träger angeboten wird. Was den Begriff „Markt" anbelangt, der in Zusammenhang mit aE seit Anfang der 90er Jahre in Mode gekommen ist, kann in Anlehnung an Überlegungen von H. Albert (1998) davon ausgegangen werden, daß soziale Beziehungsnetze, die aus Interaktionen zwischen den Trägern sozialer Rollen entstehen, sich hinsichtlich ihrer Struktur analytisch zerlegen lassen in die beiden Teilklassen „Organisation" und „Markt", wobei Organisation eine zentrale Führung aufweist, Markt dagegen nicht. Zugleich liegen jeweils komplementäre Rollenmuster vor: bei Markt die Rolle des Produzenten oder Anbieters und komplementär dazu die Rolle des Konsumenten oder Kunden; bei Organisationen die Rolle des Vorgesetzten und des Untergebenen. Ein weiteres analytisches Unterscheidungsmerkmal sind die Mechanismen, welche die sozialen Austauschprozesse regeln. Geld bzw. die Kaufkraft der Konsumenten ist bei Markt das Medium, welches die Interaktionen steuert; in Organisationen ist es seit Max Webers Idealtypus der Bürokratie Herrschaft. Jedoch läßt sich neben „Markt" und „Organisation" eine weitere Systemstruktur und ein gesonderter institutioneller Komplex ausmachen. Denn die Beziehung zwischen einem Suchttherapeuten und einem Rat und Hilfe suchenden Patienten ist qualitativ eine andere als etwa die eines Anbieters von „Essen auf Rädern" zu einem Pensionär, der gegen einen Aufpreis andere Beilagen zum Fleischgericht gereicht bekommen möchte. Sie ist auch eine andere als die des Leiters eines Wohlfahrtsverbandes zur gerade eingestellten Sekretärin. Die komplementären Rollen in aE sind die des Experten und

Ambulante Einrichtungen

des Laien. Hinsichtlich der Gebildestruktur handelt es sich um eine Assoziation, d. h. eine solidarische Gemeinschaft von Gleichen im Dienste von gesamtgesellschaftlich allgemein anerkannten soziokulturellen Werten, etwa Gesundheit zu fördern, Leiden zu vermindern und Leben zu erhalten. Laien, die diese Werte anerkennen, begegnen den Experten zunächst einmal als Gleiche - ähnlich wie in einem Verein, in den man eintritt, weil man seine Ziele teilt und eben dadurch zu einem gleichberechtigten Mitglied wird. Dieser Aspekt der Assoziation von prinzipiell Gleichberechtigten taucht beispielsweise in der Diskussion um aE auf, wo von „Beteiligten" oder „Bemündigung" gesprochen und dabei gegen eine allzu rasche „Klientifizierung" und Entmündigung durch Experten argumentiert wird. Allerdings ist solch eine Position im Kontext der Suchtkrankenhilfe ergänzungsbedürftig, denn es wird etwas vorausgesetzt, was in Wirklichkeit erst am Ende einer Behandlung stehen kann: der in jeglicher Hinsicht sozial mündige Beteiligte. Solange er körperlich oder psychisch vom Suchtmittel abhängig ist, ist er ein sich selbst und andere hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Partizipationsfähigkeit täuschender Patient, der behandlungsbedürftig ist. Dieser Sachverhalt konstituiert (nicht nur) in aE ein Kompetenzgefälle zwischen Experten (Suchttherapeut) und Laien (Patient) sowie Rollenbeziehungen, die typischerweise asymmetrisch sind. Für aE, analytisch zurechenbar dem sog. professionellen Komplex neben dem ökonomischen (Markt) und administrativen (Organisation), ergibt sich als Daueraufgabe der schwierige Balanceakt, Gleichheit der Interaktionspartner zu gewährleisten, ohne dabei das Recht des Therapeuten zu gefährden, autonom über die Behandlung des Patienten bestimmen zu können. Das Äquivalent zu Geld und Herrschaft bzw. Macht ist im professionellen Komplex „Einfluß" - in Anbetracht des Kompetenzgefälles in der asymmetrisch 29

Ambulante Einrichtungen

Ambulante Einrichtungen

professioneller Komplex

administrativer Komplex

ökonomischer Komplex

Gebildestruktur

Assoziation als solidarische Gemeinschaft im Dienste gesamtgesellschaftlich anerkannter Werte

bürokatisch-hierarchische Organisation

Markt

komplementäre Rollen

Experte

Vorgesetzter

Produzent

Laie (Klient)

Untergebener

Konsument

Einfluß

Macht bzw. Herrschaft

Geld bzw. Kaufkraft

„Medium" der sozialen Steuerung

Abbildung I: Drei institutionelle Komplexe

komplementären Rollenbeziehung (siehe Abbildung 1). Wie jeder Experte, sei er nun Arzt, Rechtsanwalt oder Lehrer, möchte der Therapeut in aE den Patienten überzeugen von den Vorteilen einer bestimmten Handlungsweise (hier: Abstinenz) und appelliert daher an die gemeinsamen Wertorientierungen, z.B. das Leben zu erhalten und nicht mehr leiden zu müssen (etwa unter körperlichen Entzugserscheinungen, psychischen Beeinträchtigungen oder sozialen Nachteilen). In allen der in aE verwirklichten Behandlungsphasen, am deutlichsten wohl während der Motivierung, kommt das zum Tragen, was mit dem Medium „Einfluß" gemeint ist. Nimmt man den professionellen Komplex der aE genauer unter die Lupe, dann verwirklicht sich „Einfluß" unter Anwendung von praktischen Kunstlehren im Sinne von überwiegend nicht-technischen „Technologien" aus Medizin, Psychologie und (Sozial-)Pädagogik. Diese gehen in motivationale Interventionen im Rahmen der qualifizierten Entgiftung ebenso ein wie in eine gruppentherapeutische Sitzung oder in ein soziotherapeutisch orientiertes Nachsorgegespräch. Personeller Kern des professionellen Komplexes bei aE ist das Berater- und Therapeuten-Team: ein soziales Zwitterwesen (Hybrid), das aufgrund der Betonung von Informalität (Enthierarchisierung, freie Gestaltung der Beziehungen 30

untereinander, Aufwertung von Emotionen) bei Beibehaltung formaler Züge (Auswahl qualifizierter Mitarbeiter, formelle Mitgliedschaft, Ziel- und Programmorientierung) in einer konflikthaften Sphäre zwischen familienähnlicher Kleingruppe und formaler Organisation angesiedelt ist (Tasseit 1997). Gelegentlich zählen zu den aE Selbsthilfegruppen. Da ihnen nur Laien angehören, liegen sie außerhalb des professionellen Komplexes; doch lassen sich ihre Handlungen und Interaktionen mittlerweile inspirieren von Elementen aus Kunstlehren (z.B. „Co-Counseling"). Meist trifft man dort auf Phänomene einer Vergemeinschaftung unter charismatischer Leitung eines seit vielen Jahren abstinent lebenden Gruppenältesten, wobei die Mitglieder der Selbsthilfegruppe gewissermaßen zu „Gefolgschaft" werden. 2.3 Da aE unter dem Dach eines Trägers arbeiten und einen Verbands- oder Vereinsvorstand bzw. einen Geschäftsführer als Repräsentanten des Trägers haben, reichen sie über den professionellen Komplex hinaus und können zudem dem administrativen Komplex zugerechnet werden. Sie fallen demnach in die Teilklasse von Beziehungsnetzen, welche durch Führung kontrolliert werden. Aus diesem Blickwinkel können sie als formale, bürokratisch-hierarchisch verfaßte Organisationen begriffen werden. Außerdem sind aE, wenn sie über-

Ambulante Einrichtungen

Ambulante Einrichtungen leben wollen, auf finanzielle Ressourcen von außen angewiesen. Sie sind mittelbar, über ihre Träger, den Konditionen des ökonomischen Komplexes und damit Marktbedingungen unterworfen, wobei die Träger der aE mit anderen Trägern um die in Zukunft immer knapper werdenden finanziellen Mittel konkurrieren, aber auch um Anerkennung, Wohlwollen und Ansehen in der Öffentlichkeit. Nur unter der Betrachtungsweise, daß es sich bei aE um umweit-

offene Systeme handelt, sind sie angemessen zu analysieren (siehe Abbildung 2). Zur Um- als Außenwelt gehören dann z . B . Sozial- und Kommunal Verwaltungen, Gesundheits- und Sozialpolitiker auf kommunaler wie auf Landesebene, Bezirksregierungen und Sozialministerien, Kranken- u n d Rentenversicherungsträger, Arbeitgeber von Klienten, niedergelassene Ärzte, Allgemein- und psychiatrische Krankenhäuser und nicht

Umwelt als Außenwelt: Landkreis, Bezirksregierung, Sozialministerium, Rentenversicherungsträger, Krankenversicherungsträger, Suchtfachkliniken, Ämter der Sozialversicherung u.a. Träger

administrativer Komplex

ökonomischer Komplex

Vereinsvorstand -V

Ziele und Leistungen Vorschriften ^ Programme — ^ und ^ — ^ Medizin

Klinische Psychologie

Sozialarbeit Fürsorge

Erwachsenenbildung

Selbsthilfe (-gruppen)

Kunstlehren als Technologien körperliche Untersuchung

psychologische Diagnostik

Entgiftung somatischpharmakologische Behandlung

Sozialanamnese Beratung

Psychotherapie (VT, GT, PsyAnal. u.a.)

in Gruppen:

"CoCounseling"

Information, Aufklärung

GrundversorPrävention gung (Lebensunterhalt) Angehörigenlebensprakbetreuung tische Hilfen [zur Selbsthilfe) Ernährungslehre

professioneller Komplex Teams unter legaler Herrschaft, Legitimitätsregelung rationalen Charakters

Vergemeinschaftung in der Gefolgschaft unter charismatischer Herrschaft, Legimitätsregelung charismatischen Charakters

Abbildung 2: Die Sachtberatungsstelle und ambulante Behandlungsstelle (Psychosoziale Behandlungsstelle / Suchtambulanz / Fachambulanz) in ihrer spezifischen Umwelt

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Ambulante Einrichtungen zuletzt Fachkliniken. Es sind dies in der Mehrzahl bürokratisch-hierarchisch verfaßte Organisationen, die dem administrativen Komplex zugerechnet werden können. Unter dem Aspekt von InterOrganisations-Beziehungen und ökonomischen Austauschprozessen zwischen aE und ihrer Umwelt können Fragen der Bestandssicherheit und des Überlebens in einer „turbulenten U m w e l t " bearbeitet werden, etwa mit d e m Hinweis auf die Notwendigkeit einer flexiblen Anpassung vor allem der sozialen Struktur an die sich rasch wandelnden Umweltbedingungen im administrativen und ökonomischen Komplex (ζ. B. durch die Änderung von Erlassen, Sozialversicherungsbestimmungen oder die Kürzung von Fördermitteln). 3. Krise und Kritik der ambulanten Einrichtungen Im Gefolge der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einsetzenden Debatte um die „Ausgabenexplosion" im Gesundheitswesen und um Möglichkeiten zur Kostendämpfung, dann vermehrt seit d e m Ende der D D R und dem Einzug der Marktwirtschaft in Ostdeutschland, tauchten auch im Bereich von aE, verbunden mit einer Kritik an ihrer Binnenstruktur und Leistungswirksamkeit, Schlagworte und Formeln aus der Betriebswirtschaftslehre und Managementtheorie auf wie z.B. Dienstleistungsphilosophie, Kundenorientierung, Effizienz, Controlling, Monitoring, kontinuierlicher Verbesserungsprozeß, T Q M oder Benchmarking. Häufig wurden sie vorgetragen im Brustton tiefster Überzeugung, daß Wirtschaftsunternehmen als Vorbilder taugten; man wollte glauben machen, man kenne sich in ihnen genau aus und habe gar schon vieljährige praktische Erfahrungen gesammelt. 3.1 Zugleich sollten diese kritischen Hinweise und Empfehlungen, von Profit-Organisationen zu lernen, die Reduzierung der in den vergangenen Jahren bereitwillig gewährten staatlichen und 32

Ambulante Einrichtungen kommunalen Förderung bzw. Subventionierung der aE freier Träger legitimieren - angesichts der leeren Kassen der öffentlichen Hand. Diese Entwicklung und die damit verbundene Kritik an aE hat jedoch nicht nur etwas zu tun mit der nachhaltigen Krise der öffentlichen Haushalte, den Kosten der Wiedervereinigung und den Folgen des föderalen Konsolidierungsprogramms für die Finanzen der Länder und Gemeinden. Vielmehr war in Großbritannien und den U S A bereits viel früher, im Z u g e einer konservativen Wende in der Sozialpolitik und der damit verknüpften Frage nach dem wirtschaftlichen Wert sozialstaatlichen Handelns, die „era of cost containment" angebrochen. Das für diese Ära tonangebende Leitmotiv hieß: Rationalisierung von Dienstleistungssystemen. Gerade für die Situation des wiedervereinten Deutschland ist es daher nicht verwunderlich, daß Begriffe wie „Markt" oder „Rationalisierung" rasch Eingang gefunden haben in die Debatte um die Finanzierung und den Betrieb von aE. 3.2 Dabei bezieht sich die Kritik genau genommen auf die Verhältnisse im ökonomischen Komplex und läßt sich an den Trägern von aE festmachen. Denn die Diskrepanz zwischen dem mittlerweile erreichten Stand absolvierter Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Fachkräfte im professionellen Komplex und dem häufig anzutreffenden betriebswirtschaftlich naiven Dilettantismus ehrenamtlich oder nebenberuflich tätiger Vorstände und Geschäftsführer von aETrägervereinen ist offenkundig. Ein Indiz übrigens für die Höhe des Qualifikationspotentials im professionellen Komplex - und ein zusätzliches Problem von aE - ist, daß bereits seit Ende der 80er Jahre bei den Suchttherapeuten zwischen Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und Ex-Usern bzw. lange Zeit abstinent lebenden Betroffenen ein Verdrängungswettbewerb eingesetzt hat, der sich mit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes, der Ausdehnung

Ambulante Einrichtungen

des gemeinsamen europäischen Arbeitsmarktes und der wachsenden Anzahl arbeitsloser oder von Praxis- und Klinikschließungen bedrohter Ärzte noch verschärfen wird. Hinzu kommt, durch die Koppelung der Gehälter in aE an die Vergütungsgruppen des Öffentlichen Dienstes, der problematische Dauerzustand einer sog. relativen sozialen Deprivation, verbunden mit einer Unzufriedenheit im Beruf, in der großen Gruppe der aufstiegsorientierten Sozialarbeiter vor allem des Zweiten Bildungsweges, welche die Ungerechtigkeit beklagen, für die gleiche Arbeit niedriger als die Psychologen eingestuft zu werden. Die Diskrepanz zwischen dem jeweils im professionellen und im ökonomischen Komplex vorhandenen kognitiven Kapital wird noch größer, wenn es richtig ist, daß das Führen und Leiten einer aE, die sich auf einem Markt zu behaupten hat, aufgrund der Bewältigung zahlreicher systemimmanenter Widersprüche und Paradoxien härtere Anforderungen an die Verantwortlichen stellt als das Führen eines Wirtschaftsunternehmens (Patak 1997). Dafür spricht, daß - es angesichts der zahlreichen Bezugsgruppen mit teilweise sich widersprechenden Erwartungen keine eindeutigen Erfolgs- und Effizienzkriterien gibt; - aufgrund unterschiedlicher, sich diametral gegenüberstehender Interessen der Umwelt-Repräsentanten permanent die Balance zwischen notwendiger Transparenz und Verschleierung der eigenen Mission gehalten werden muß (ζ. B. Durchführung eines Suchtpräventionsprogramms für eine Industrie-Gewerkschaft sowie für einen Industriebetrieb und zugleich die Einzelfall-Betreuung eines dort Schichtarbeit leistenden und darunter leidenden Mitarbeiters); - der Umgang mit Geld prekär ist: für den Fortbestand der Einrichtung sind fehlende finanzielle Mittel genau so problematisch wie eine ausreichende

Ambulante Einrichtungen

Finanzierungsdecke, weil dann Fördergelder, Spenden und Mitglieder(beiträge) ausbleiben; - häufig unklar bleibt, wer überhaupt Mitglied ist angesichts vieler Selbsthilfegruppenmitglieder, die sich nur vorübergehend engagieren, - zumal die Einrichtung diese Mitglieder nicht aussuchen und auch nicht entlassen kann; - viele Mitarbeiter in Anbetracht der „weichen" Organisationsziele, der fach(hochschul)spezifischen Sozialisationsbedingungen und ihres persönlichen Engagements formale Strukturen, Berufsrollen-Erwartungen und Führung nur schwer akzeptieren können; - anerkannt gute Beratungsangebote und therapeutische Leistungen ein intensives Nachfrageverhalten auslösen, dessen Befriedigung nicht im Interesse der aE ist (ζ. B. an der Behandlung ihres Alkoholismus uninteressierte MPU-Kandidaten eine Bescheinigung für „Besuche" der aE haben wollen, weil sie davon hörten, daß Patienten der aE erfolgreich die MPU des TÜV absolvierten); - die Nachfrage der Patienten nach therapeutischen Leistungen sich über ein adäquates Angebot (d. h. über das rasche Gelingen von Therapie) nach kurzer Zeit selbst aufheben und überflüssig machen soll - ein Umstand, der dem von den Kritiken den aE empfohlenen Dienstleistungskonzept mit einer anzustrebenden Kundenorientierung und Kundentreue hohnspricht. 3.3 Die dysfunktionalen und latenten Folgen einer bereits seit langem angebahnten Entwicklung von aE sollen schließlich in zwei Thesen zusammengefaßt werden: 1. Eine zunehmende Konfrontation und allmähliche Durchdringung der Arbeit von aE mit behandlungsirrelevanten Erwartungen und Zielsetzungen von Seiten der Umwelt wie auch der Träger, damit eine Ausrichtung des professionellen

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Ambulante Einrichtungen Komplexes an den Bedingungen des ökonomischen Komplexes und dadurch an Markt und Geld bzw. Kaufkraft von Patienten als Konsumenten, wird - wie seit vielen Jahren in der privaten Medizin und Zahnmedizin beobachtbar zum einen die Konsequenz einer zunehmenden Ungleichheit in der Behandlung und Betreuung von Suchtkranken haben und zum anderen hierdurch einen genuinen Beitrag der aE zur Verfestigung sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft liefern. 2. Die in den 20er Jahren mit der Einrichtung von behördlichen Trinkerfürsorgestellen begonnene, in der D D R im Rahmen der Dispensaires fortgeführte und auch in der Bundesrepublik wahrnehmbare Entwicklung der aE hin zum Typus bürokratisch-hierarchischer Organisationen mit einer damit einhergehenden verschärften administrativen Kontrolle des professionellen Komplexes und des Binnenbereichs von Suchtkrankenhilfe hat paradoxerweise - weil entgegen der zweifelsohne guten Absichten der heutigen Akteure und Vordenker im administrativen Komplex mindestens zwei dysfunktionale Folgen: zum einen die Aufweichung der Patienten-Orientierung und zum anderen die Z u n a h m e von Konflikten u m die gerade von den nichtärztlichen Therapeuten und ihren Teams im Z u g e ihrer Professionalisierungsbemühungen beanspruchten Autonomie, als Experten über die Behandlung bestimmen zu können. Die permanente, weil aE-strukturimmanente Gefahr des Aufweichens der Patienten-Orientierung, des Untergrabens der therapeutischen Beziehung und schließlich des Aufgebens der Gebildestruktur einer Assoziation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der aE. Unter bestimmten historischen, sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Konstellationen wird er überdeutlich sichtbar und für die Betroffenen zum einschneidenden Faktum. Dann wird der Patient vom Partner zum Untergebenen, sein notwendiges Gehor-

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Ambulante Einrichtungen samspotential wird nicht mehr vornehmlich durch Einfluß, sondern durch Macht erzeugt (Schluchter 1980), und er wird durch das soziale Disziplinierungsinstrument von aE auf den „richtigen W e g " gezwungen. Lit.: Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, 2., stark veränd. Aufl., Tübingen 1998; Feuerlein, W„ Die Behandlung von Alkoholikern in Deutschland von den Anfängen bis heute, in: Suchtgefahren 34 (1988) 5: 3 8 8 - 3 9 5 ; G o f f m a n , E., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a . M . 1971; Hauschildt, E., „Auf den richtigen Weg zwingen..." Trinkerfürsorge 1922— 1945, Freiburg i. Br. 1995; Kielstein, V., Aufgaben des Beauftragten des Bezirksarztes für die Betreuung von Alkoholund Medikamentenabhängigen, in: Keyserlingk, H. v.; Kielstein, V. und Rogge, J. (Hrsg.), Behandlungsstrategien bei Alkoholmißbrauch und Alkoholabhängigkeit, Berlin 1989; Mayntz, R., Soziologie der Organisation, Reinbek b. Hamburg 1963; Patak, M., Non-Profit-Organisationen: Die besseren Manager, in: Socialmanagement 7 (1997) 2: 13-15; Schluchter, W., Legitimationsprobleme der Medizin, in: ders., Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a. M. 1980: 185-207; Tasseit, S., Teamarbeit als Mythos - zur Organisationssoziologie der Drogenhilfe, in: Drogen Visionen. Zukunftswerkstatt für eine innovative Drogenpolitik und Drogenhilfe, Berlin 1997: 97-111; T h a m m , B. G., Der jugendliche Polytoxikomane - eine Herausforderung für die ambulante Therapie, in: Tasseit, S. (Hrsg.), Ambulante Suchttherapie. Möglichkeiten und Grenzen, Geesthacht 1992; Wanke, K „ „Wir haben nichts im Angebot". Wie sich die Suchtkrankenhilfe in den letzten 30 Jahren geändert hat, in: SuchtReport (1995) 3: 16-23. Siegfried Tasseit, Alfeld

Ambulante Einrichtungen II. Ambulante Einrichtungen: Historische Entwicklung Eine Gesamtübersicht zur Geschichte der aE im deutschsprachigen R a u m existiert bislang nicht, da dieser Bereich institutionengeschichtlich noch nicht systematisch erforscht worden ist. Lediglich Einzeldarstellungen wie etwa die von Feuerlein (1988), Kielstein (1989), T h a m m (1992), Hauschild (1995) oder Wanke (1995) liefern Hinweise auf historische Entwicklungslinien, die hier kurz nachgezeichnet werden sollen. 1. Sich orientierend an dem parallel zur Industrialisierung a u f k o m m e n d e n Verständnis von -»Sucht als eigenständigem Krankheitsbild, doch nicht frei von rassenhygienischen und degenerationstheoretischen Begründungen, halfen alkoholgegnerische Vereinigungen durch die Einrichtung von zunächst stationären, dann ambulanten Möglichkeiten zur „Heilung" und „Rettung" von „Trinkern" (Trinkerheilstätten, Trinkerrettungsheime), Suchtkranke der Kontrollgewalt von Arbeits-, Irren- und Strafanstalten zu entziehen. Allerdings weisen im Vergleich zu den •Fachkliniken die erste wurde als „Trinkerasyl" 1851 bei Ratingen-Lintorf bei Düsseldorf gegründet - die aE eine bedeutend jüngere Geschichte auf. Während zur Jahrhundertwende das „Verzeichnis der deutschen Trinkerheilanstalten" 37 stationäre Einrichtungen umfaßte und dann bis zum Ersten Weltkrieg ein B o o m einsetzte (1914 waren es bereits 54 Heilstätten), wurden erstmals 1907 in Hamburg, der Hochburg der deutschen Mäßigkeits- und Abstinenzbewegung, eine „Auskunftstelle für Trinkerfürsorge" gegründet. Diese aE des •Guttemplerordens, untergebracht in dessen Geschäftsstelle, verfügte zudem über eine öffentliche Lesehalle mit alkoholgegnerischer Literatur. Das jeweils von den Trägern umgesetzte Organisationsmodell für öffentliche Fürsorgestellen als aE richtete sich nach der Anzahl und Kooperationsbereitschaft der örtlichen

Ambulante Einrichtungen Mäßigkeits- und Abstinenzverbände: Entweder schlossen sich mehrere Verbände zusammen wie ebenfalls in H a m burg 1909, w o der Bezirksverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke ( D V M G ) zusammen mit dem Evangelischen - • B l a u e n Kreuz und dem Verein für Innere Mission eine öffentliche Trinkerfürsorgestelle einrichtete, oder es gab nur einen Verband als Betreiber wie im Falle der ersten aE im Kaiserreich. 1926 wurden bereits 140 Trinkerfürsorgestellen des •Deutschen Caritasverbandes und 80 der Inneren Mission gezählt. Ziel dieser Auskunftstellen der freiverbandlichen Antialkoholbewegung war die Vermittlung der Klienten an einen Abstinenzverein oder - in „schweren Fällen" - an eine Heilstätte. Das ambulante Behandlungskonzept lag in einer Hand. Es wurde von Laien, den ehrenamtlichen Trinkerpflegern der freien Wohlfahrtspflege realisiert; häufig waren sie abstinent lebende Alkoholiker. An einigen Orten wurden die freiverbandlichen Trinkerfürsorgestellen bereits staatlich unterstützt. Doch erst Mitte der 20er Jahre (in H a m burg dagegen schon 1922), trat der Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik auf diesem Fürsorgegebiet mit eigenen aE auf den Plan. Mit sozialhygienischen Argumenten: d e m Hinweis auf die Notwendigkeit der Entlastung öffentlicher Haushalte von den (allerdings empirisch nicht belegbaren) Folgen der sozialen „Volksseuche" Alkoholismus und den sog. „Schmarotzern am Volkskörper" sowie der Senkung der Ausgaben der öffentlichen Armenpflege, wurden kommunale und staatliche Trinkerfürsorgestellen eingerichtet. Es entstand ein - allerdings auch in der Zeit des Nationalsozialismus nur weitmaschig gebliebenes und keinesfalls flächendeckendes - Netz behördlicher Trinkerfürsorgestellen, denen ebenfalls Gelder aus dem Branntweinmonopolgesetz zuflössen. Die Anlaufstellen der behördlichen Trinkerfürsorge wurden als eigene Abteilun-

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Ambulante Einrichtungen gen den neu gegründeten Wohlfahrtsämtern, ab 1935 den Gesundheitsämtern der größeren deutschen Städte angegliedert. Als Behörden kooperierten sie eng, gem ä ß der Arbeitsteilung nach d e m sog. Dualen System, mit den alkoholgegnerischen freien Verbänden. Behördliche und ehrenamtliche Trinkerfürsorge sind seit dieser Zeit miteinander verzahnt allerdings unter der Hegemonie der Fürsorgebehörden - und bilden eines der bis heute gültigen Grundmuster einer gegliederten - > Suchtkrankenhilfe. Das gestaffelte Vorgehen in diesem „Progressivsystem", ein Vorläufer der Behandlungskette, bestand aus zwei Phasen: zunächst mit Beeinflussungsversuchen, Angehörigenarbeit und Hausbesuchen von seiten der geprüften, mit amtlichem Ausweis versehenen und zur Berichterstattung gegenüber den Wohlfahrtsstellen verpflichteten ehrenamtlichen Trinkerpfleger; darauf, bei wenig Aussicht auf Erfolg, mit der rigorosen Ausübung von Z w a n g und der Einweisung in Arbeitshäuser unter Verwendung der Instrumente von Vormundschaft und Entmündigung von seiten der Behörde. Legitimiert wurde dies durch die Vorstellung einer überwiegend für behandlungsunwillig angesehenen Klientel sowie der prinzipiellen Unterscheidungsmöglichkeit in „heilbare" und „unheilbare Trinker". Im Zusammenhang mit d e m staatlichen Engagement in der Trinkerfürsorge setzte in der Zeit bis zur Weltwirtschaftskrise ein reichsweiter Rationalisierungs- und Bürokratisierungs- wie auch Professionalisierungsschub ein mit der Einführung von einheitlichen Formularen und umfangreichen Anamnesefragebögen, präzisen Aufgabenverteilungskatalogen und schriftlichen Arbeitsanweisungen für die Mitarbeiter sowie Schulungen, Fachtagungen und Fachzeitschriften mit wissenschaftlicher Ausrichtung. Die gegenwärtig geführte Debatte um Qualitätssicherung in aE gleicht in vielen Punkten der damaligen Diskussion um Erfolgskontrollen sowie 36

Ambulante Einrichtungen besondere Trinkerfürsorge-Weiterbildungen und Ausbildungspläne für die Wohlfahrtspflegeschulen. Mithin fanden in Deutschland die aE erst im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte wieder zu den Grundlagen ihrer A u f b a u - und Expansionsphase in der Weimarer Republik zurück. Bereits Ende der 20er Jahre war der Modernisierungsprozeß der aE ins Stocken geraten aufgrund der desolaten Haushaltslage der öffentlichen Hand und eines rigorosen Sparkurses im Fürsorgebereich wie auch aufgrund der wiederbelebten rassenhygienischen Argumentation der Medizin mit der eugenischen Dichotomisierung von Trinkertypen in einerseits „Besserungsfähige" und andererseits erblich veranlagte „Nicht-Besserungsfähige", unheilbar „psychopathisch Minderwertige". Ab 1933 gab es einen gewaltigen Radikalisierungsschub. Die aE verkamen größtenteils zu Instrumentarien des Aufspürens, der Auslese und der fürsorgerischen Betreuung von „erbbiologisch wertvollen", seit dieser Zeit sogenannten Alkoholgefährdeten, deren Behandlung sich noch lohne. Auf der anderen Seite betrieben die aE ein gezieltes eugenisches Ausgrenzen der „Asozialen", die dann der Asylierung und Sterilisation zugeführt wurden. Schätzungsweise fielen bis zu zehn Prozent der 3 0 0 0 0 0 Alkoholiker in der Nazi-Zeit der „Reinigung der Rasse" zum Opfer. Es ging der behördlichen Trinkerfürsorge um die Verfolgung und Eliminierung eines für „erbminderwertig" gehaltenen „Völksteiles", der, wenn er nicht regelmäßig einer Arbeit nachging, dem Wohlfahrtsstaat zu teuer kam - getreu dem Motto eines NS-Hetzplakates: „Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 5 0 0 0 0 R M " . 2. Die Zeit von 1945 bis heute ist in Westdeutschland gekennzeichnet durch einen zunächst allmählichen, dann ab den 70er Jahren rascher verlaufenden Umwandlungs-, Expansions- und Dif-

Ambulante Einrichtungen ferenzierungsprozeß. Die behördlichen sowie in noch viel stärkerem M a ß e die freiverbandlichen Trinkerfürsorgestellen mit ihren ehrenamtlichen Helfern waren hinsichtlich der Ausdehnung des Leistungsumfanges von aE einem nachhaltigen Wandel unterworfen. Dieser führte von der traditionellen Alkoholikerberatung und Unterbringung der Betroffenen in „Trinkerheilanstalten" durch die Suchtkrankenfürsorge der Nachkriegs- und 50er Jahre über die therapeutisch orientierte Nachsorge nach Aufenthalten in „Heilstätten für Alkoholsüchtige" in den 60er Jahren sowie ersten ambulanten Behandlungsansätzen und sozialtherapeutischen Maßnahmen neben den üblichen der „Heilstätten für Suchtkranke" und „Fachkrankenhäusern" in den 70er und 80er Jahren hin zu einer eigenständigen ambulanten Therapie als medizinische Rehabilitation nun auch für Medikamentenabhängige ab Beginn der 90er Jahre. Damit einher ging bei den aE der Wohlfahrtsverbände eine Verberuflichung der ehren- oder nebenamtlich, im Rahmen der kirchlichdiakonischen Arbeit wahrgenommenen Tätigkeiten der Trinkerpfleger bzw. Suchtkrankenhelfer. Es war eine nachholende Angleichung an die Qualifikationsstruktur der behördlichen Beratungsstellen, die mit den Fürsorgern und den (ab der 70er Jahre an Fachhochschulen ausgebildeten) Sozialarbeitern/Sozialpädagogen bereits seit den 20er Jahren Semi-Professionelle beschäftigt hatten. Dabei wurde die Orientierung an christlich-patriarchalischen Ideen und an hausväterlich, wie einen Familienbetrieb zu führenden aE zunehmend abgelöst von der Hinwendung zur Sozialpsychologie und ihren Theorien über Arbeitsgruppen und Teams. So ist neben der Verberuflichung eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Arbeit in aE erkennbar, insbesondere im Behandlungsbereich. Es etablierte sich, ausgehend von der Klinischen Psychologie und den gängigen psychotherapeutischen Schulen, seit Mitte der 70er Jahre

Ambulante Einrichtungen eine sog. tätigkeitsfeldspezifische Weiterbildung zum Sozial- und Suchttherapeuten. So hatten bereits 1984 circa 73% der therapeutisch tätigen Mitarbeiter in aE, die am einrichtungsbezogenen Informationssystem *EBIS teilnahmen, eine Weiterbildung begonnen oder abgeschlossen. Auch die statistischen Datenerhebungen über aE durch EBIS setzten erst 1980 ein. Z u d e m kamen zwei neue Berufsgruppen hinzu: im Z u g e der Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit durch das Urteil des Bundessozialgerichts von 1968 und der damit verbundenen noch stärkeren Ausrichtung an der Medizin mit Anamnese, Diagnose, Therapie und Rehabilitation wurde die Mitarbeit von Ärzten, dann - in Angleichung an die personelle Besetzung von stationären Rehabilitationseinrichtungen - auch von Diplom-Psychologen unumgänglich. Bedeutsame Stationen auf dem Weg der aE zu anerkannten Behandlungs- und Rehabilitationsstätten waren neben der -•„Empfehlungsvereinbarung Ambulante Rehabilitation Sucht" (EVARS) von 1991 (bzw. in überarbeiteter Fassung von 1996) und den sie präzisierenden „Gemeinsamen Leitlinien f ü r die Entscheidungen zwischen ambulanter und stationärer Entwöhnung bei Abhängigkeitserkrankungen" (1995) vor allem die -»-Psychiatrie-Enquete von 1975 mit der Empfehlung zur Einrichtung von Sucht-Fachambulanzen im Bereich der gemeindenahen Grundversorgung, die Rahmenpläne der -"-Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) von 1979 und 1992 für die Anforderungen an Suchtberatungs- und Behandlungsstellen und deren Ausbau sowie die Ende der 70er Jahre von den Landesregierungen verabschiedeten Landespläne zur Versorgung psychisch Kranker und psychisch Behinderter, die den Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Suchtberatungsstellen vorsahen. Zu diesen Marksteinen gehört die in Niedersachsen bereits 1981 in Kraft getretene Rahmenvereinbarung, wonach nicht37

Ambulante Einrichtungen

ärztliche therapeutische Leistungen (auch Motivationsbehandlungen) in aE mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden konnten, wie auch die ab 1987 bundesweit geltende „Empfehlungsvereinbarung Nachsorge" für die ambulante Betreuung nach einer stationären Behandlung, wobei neben den Rentenversicherungen nun auch die Ersatzkassen als Leistungsträger in Frage kamen. Mit Blick auf die Vereinheitlichung beruflicher Standards bei ambulanten Behandlungen und die Sicherung der Strukturqualität von aE als Therapie· und Rehabilitationseinrichtungen gegenüber dem - anfangs der 90er Jahre dann auch in Ostdeutschland - anzutreffenden Wildwuchs an Zusatzausbildungen und der dadurch drohenden Ausbreitung von Dilettantismus lieferte der vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) 1992 veröffentlichte Kriterienkatalog einen Maßstab für die Beurteilung von Weiterbildungen der in aE tätigen Sucht- und Sozialtherapeuten. 3. Bereits Anfang der 70er Jahre setzte in Westdeutschland als Reaktion auf die bereits seit Mitte der 60er Jahre sich ausbreitende Drogenszene bei den aE ein weiterer institutioneller und organisatorischer Differenzierungsprozeß ein: neben der bestehenden Suchtberatung etablierte sich eine „Jugend- und Drogenberatung" für Abhängige von sog. illegalen Drogen, die als „Fixer" sich merklich unterschieden von den Morphinisten, mit denen vor allem die Mediziner bis dahin zu tun hatten. In Frankfurt am Main wurde bereits 1967 von einer Arbeitsgruppe um den Psychiater Klaus Wanke die erste Beratungsstelle für Drogenkonsumenten in Deutschland eröffnet. Nach und nach entstanden weitere Drogenberatungsstellen, etwa 1970 in Heidelberg und Hamburg, 1971 in Berlin, orientiert an der ab 1967 von Großbritannien ausgehenden Laientherapie-Bewegung -»„Release" oder später an der US-amerikanischen Gruppe -»-„Synanon". Zu38

Ambulante Einrichtungen

gleich verlagerte sich die Versorgung weitgehend von den Ärzten auf junge nicht-ärztliche Helfer: neben einigen Psychologen waren es vor allem Sozialarbeiter, etwa aus der sozialpädagogischen Jugendarbeit, die als „Drogenarbeiter" sich über learning by doing das „Handwerk" der Drogenhilfe rasch anzueignen versuchten und ihr neu erworbenes Wissen aus der „Basisarbeit" einbrachten in „Therapeutische Ketten" mit Teestuben und Kontaktstellen als aE. Dabei verhielt man sich gegenüber den Wissensbeständen und Erfahrungen aus der Alkoholismustherapie lange Zeit indifferent. Im Gefolge der ab Mitte der 80er Jahre zunehmenden Zahl von Drogenabhängigen, die HIV-positiv oder an -»AIDS erkrankt waren, wurden vermehrt bei den aE niedrigschwellige Hilfsangebote im Sinne von Harm Reduction (Schadensbegrenzung) angesiedelt, wobei das die Suchtkrankenhilfe bislang dominierende Abstinenzprinzip in den Hintergrund trat. Vielmehr wird bei diesen mittlerweile ca. 160 aE mit Blick auf eine Zielhierarchie das Augenmerk zunächst auf die Sicherung des Überlebens und die Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes gerichtet. Dabei bestehen die Hilfeangebote der aE etwa in der psycho-sozialen Betreuung während der Methadon- und Heroinabgabe oder in der Bereitstellung von Konsumräumen („Druckraum"). Angesichts einer ebenfalls seit Mitte der 80er Jahre zu beobachtenden Zunahme der Zahl von jugendlichen Polytoxikomanen mit schädlichem Gebrauch sowohl von mehreren Drogen als auch von Alkohol und Medikamenten gibt es in letzter Zeit in Deutschland Bemühungen, die institutionelle Trennung von Suchtund Drogenberatung aufzuheben und beide vor Ort in integrierten aE zusammenzufassen. 4. Die Entwicklung in der DDR war zunächst bestimmt durch vergleichsweise niedrige Alkoholkonsumziffern. Alkoholismus als abweichendes Verhalten

Ambulante Rehabilitation Sucht

und als soziales Problem schien im real existierenden Sozialismus nicht aufzutreten, über spezielle Behandlungsformen brauchte daher nicht nachgedacht zu werden. Die Trinkerheilanstalten waren aufgelöst und später auch nicht wieder als Suchtfachkliniken neu gegründet worden, die wenigen Neuaufnahmen in psychiatrischen Krankenhäusern, zur Verwahrung der Alkoholiker, häufig im Wege der Zwangseinweisung, spielten eine nur untergeordnete Rolle. Erst zu Beginn der 60er Jahre und parallel zu den rasch ansteigenden Verbrauchs- wie auch Alkoholabhängigenzahlen bemühte sich eine kleine Gruppe von Nervenärzten um adäquate Therapieverfahren auch für aE. Angeknüpft wurde dabei weniger an die Erfahrungen aus der Weimarer Republik als an jene aus dem sozialistischen Ausland, z.B. der Tschechoslowakei. Allerdings waren schon in den 50er Jahren einige wenige Beratungsstellen eingerichtet worden, so etwa durch v. Keyserlingk sen. in Magdeburg, die dann bis 1990 als Teil der ambulanten Neurologisch-psychiatrischen Abteilungen Bestand hatten. Gegenüber der staatlichen Suchtkrankenbetreuung spielten die kirchlichen Träger eine untergeordnete Rolle. Hilfreich war für den Aufbau einer kreisübergreifenden und bezirksumfassenden Suchtkrankenbetreuung in den 70er Jahren mit Beratungsstellen nach der sog. Dispensaire-Methode auf Stadtbezirks· und Kreisebene, daß bereits Mitte der 60er Jahre die Sozialversicherung der DDR Alkoholismus als Krankheit anerkannt hatte, und daß das Sozialversicherungssystem sich nicht in eigenständige Kranken- und Rentenversicherungen ausdifferenziert hatte, was eine Vereinfachung des Antrags- und Genehmigungsverfahrens und damit eine nahtlose Weiterbehandlung in den aE mit sich brachte. Ein Erfahrungswert war, daß für ungefähr 70% der Patienten eine ambulante Entwöhnungsbehandlung in Frage kam. Besetzt waren die aE in der Regel mit mindestens einer Fürsorgerin,

Amotivationales Syndrom (AMS)

einer Krankenschwester, einem Psychologen, einem dort stundenweise mitarbeitenden Nervenarzt und einer Sekretärin. Als Zielgröße für die 90er Jahre galt für Beratungsstellen mit einem Einzugsbereich von etwa 125000 Einwohnern ein Arzt, zwei klinische Psychologen, zwei Sozialarbeiter/Sozialpädagogen und eine Verwaltungskraft. Zudem war geplant, die aE weiter auszubauen unter Einbeziehung des Betriebsgesundheitswesens. Denn umgesetzt werden sollte die „Richtlinie über die Aufgaben des Gesundheits- und Sozialwesens zur Verhütung und Bekämpfung der Alkoholkrankheit" vom 1.7. 1989 des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR. Doch war mit dem Ende der DDR der Abbruch des ersten Versuches eines integrativen Versorgungssystems mit ambulanten, tagesklinischen, teilstationären, kurz-, mittel- und langfristigen stationären Behandlungsangeboten verbunden. Es konnten auch nicht mehr weiter die - ambivalent bewerteten - Inspektionen von aE auf Kreisebene durchgeführt werden, die beispielsweise erbrachten, daß mehr Mitarbeiter als nötig für die Betreuung von Suchtkranken zur Verfügung standen, daß eine durchgängige Abneigung der Therapeuten gegenüber dissozialen Abhängigen festzustellen war oder daß akuter Raummangel herrschte und die aE in wenig attraktiven Altbauten untergebracht waren. Freilich konnte auch nicht mehr das Ziel weiterverfolgt werden, das noch 1990 den therapeutischen Aufgaben der aE zugerechnet wurde: „die Erfassung der Suchtpatienten des Territoriums". Lit.: Siehe I. Ambulante Einrichtungen: Struktur und Organisation Siegfried Tasseit, Alfeld Ambulante Rehabilitation Sucht

-»•Empfehlungsvereinbarung Ambulante Rehabilitation Sucht Amotivationales Syndrom (AMS)

Das Α. M. S. oder auch Amotivationssyndrom bezeichnet ein Verhalten, das 39

Amphetamine durch Antriebsschwäche, Schwunglosigkeit, Unwilligkeit, Passivität u. ä. gekennzeichnet ist. Es wird in Zusammenhang mit dem Konsum von -»Cannabis und -»Kokain diskutiert. Amphetamine A. gehören zur Gruppe der -»Psychostimulanzien und sind synthetisch hergestellte Betäubungsmittel. A. fördern die Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin. A. wirken anregend auf die Psyche und damit steigern sie z.B. die Leistungsfähigkeit und Aktivität, sie wirken aufmunternd-stimulierend, erhöhen den Puls- und den Blutdruck, verursachen Schlaf- und Appetitlosigkeit. Nach der oralen Aufnahme beginnt die Wirkung nach ca. 3 0 - 6 0 Minuten und dauert bis zu drei Stunden. A. sollen asthmatische Symptome lindern, dem Risiko des Mißbrauchs wurde zunächst wenig Beachtung geschenkt. -»Kokain und A. haben ähnliche Wirkungen. Die positive Wirkung der A. machten es für einen Einsatz im Leistungssport (-»Doping) interessant. Das Abhängigkeitspotential ist hoch und es kommt zu einer Toleranzbildung. Der Konsum von A. ist zwischen 1992 von 10,9% auf 17,7% 1995 bei erstauffälligen Konsumenten harter Drogen gestiegen. Die gängigsten Konsumformen sind die orale Aufnahme und das Schnupfen. A. werden umgangssprachlich zu den -»Designerdrogen gezählt, gehören aber streng genommen nicht dazu. A. sind gem. § 1 Abs. 1 -»BtMG in Verbindung mit der Anlage III ein Verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel. Es wurde 1981 mit dem Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts diesem gleichgestellt. -»Drogenabhängigkeit; -»Medikamentenabhängigkeit; -»Weckamine Amphetamin-Derivate Amphetamin-Abkömmlinge. Der Sammelbegriff für diese Substanzen ist -»Ecstasy.

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Animalalkoholismus Analgetika (lat. Schmerzmittel) Klasse von Medikamenten, die das Schmerzempfinden unterdrücken, aber nicht die Ursachen des Schmerzes beseitigen. Sie blockieren Schmerzsubstanzen und damit die Schmerzimpulse oder sie beeinflussen die Schmerzwahrnehmung und -Verarbeitung im Gehirn. Schmerzmittel lassen sich in zwei große Gruppen teilen: 1. Nichtnarkotische Schmerzmittel, dazu gehört z.B. Acetylsalicylsäure (Aspirin®). 2. Narkotische Schmerzmittel, die auf das zentrale Nervensystem wirken und zu den Suchtmitteln zählen, wie -»Morphium. Narkotische Schmerzmittel werden nur bei sehr starken Schmerzzuständen eingesetzt und unterliegen dem -»Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Der Dauergebrauch kann zur Gewöhnung und Abhängigkeit führen. Die meisten Schmerzmittel wirken auch entzündungshemmend und fiebersenkend. Die Kombination von Schmerzmitteln mit zentral erregenden, wie Koffein oder zentral dämpfenden Substanzen, wie -»Codein, sind für die Entwicklung einer Abhängigkeit in besonderer Weise geeignet. -»Medikamentenabhängigkeit Anfälligkeit Als A. bezeichnet man fehlende persönliche, soziale und gesellschaftliche Bedingungen, die Individuen oder Gruppen nicht in die Lage versetzen, gegen etwas geschützt zu sein. -»Genese; -»Vulnerabilität Animalalkoholismus Als Pendant zum -»Alkoholismus des Homo sapiens ist auch in der Tierwelt ein weit verbreiteter Hang zum Alkohol zu beobachten. Ebenso wie Menschen sind auch Tiere in der Lage, den Zustand der alkoholischen Euphorie zu erleben und tun in der Regel alles, um diesen Zustand wieder herbeizuführen. Dabei lassen sich je nach Tierart natürlich viele

Anlage-Umwelt-Diskussion

Anonyme Alkoholiker - Interessengemeinschaft e.V. -

Unterschiede feststellen, sowohl im Konsumverhalten als auch im Benehmen unter Alkoholeinfluß. Während ein Fisch nur wenige Tropfen Alkohol im Aquarium benötigt, um dann bauchoben zu schwimmen, ist der Vogel mit 3,1 Promille sogar noch flugfähig. Ein Elefant wiederum benötigt bis zu 75 Liter, um berauscht zu sein (angeblich am liebsten mit Minzgeschmack). Schimpansen bevorzugen es, ihren Alkoholkonsum auf einem vergleichsweise mittleren Level zu halten (Spiegeltrinker); bevorzugte Getränke sind Wodka, Sherry und Portwein. Der Zustand des Rausches kann vor allem auf den Reisen durch Afrika und Asien durch den Konsum von gärendem Getreide, Säften oder Früchten bestimmter Palmen herbeigeführt werden. Bei Eseln und Ziegen sind auch Abhängigkeiten beobachtet worden, die in der Regel durch verantwortungslose Menschen verursacht worden sind. Besonders Esel sind dieser Gefahr ausgesetzt, da sie ihre Ohren dann nicht mehr unter Kontrolle halten können, die dann wie zwei Propeller am Kopf rotieren, wodurch sie dem Homo sapiens als Belustigung dienen. Bekannt geworden ist auch eine Bergziege in Texas, die Ausflüglern ihre Bierdosen abnahm, mit den Zähnen knackte und austrank, weshalb sie den Spitznamen SixPack-Kid bekam. Ähnlich wie der Mensch entwickeln auch die Tiere bei länger andauerndem und stetigem Konsum eine Abhängigkeit. Deshalb gibt es auch eine erste Einrichtung in England für alkoholabhängige Tiere. Anlage-Umwelt-Diskussion -»•Genese Anonyme Alkoholiker - Interessengemeinschaft e.V. Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker (AA) entstand 1935 in Ohio (USA) und konnte sich über die letzten Jahrzehnte weltweit ausbreiten. In Deutschland gibt es seit 1960 AA-Kontaktstellen bundesweit. Die AA sind . Menschen aller Völker, Kulturen, Be-

kenntnisse und sozialer Schichten, die versuchen, ihr gemeinsames Problem den Alkoholismus - zu lösen. Bei den meisten wöchentlichen Gruppentreffen (Meetings) sprechen sie von ihren Erfahrungen mit dem Trinken, dem Aufhören und dem Leben ohne Alkohol. Die Gemeinschaft der AA erhebt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, sie erhält sich durch eigene Spenden. Sie ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden; sie will sich weder an öffentlichen Debatten beteiligen, noch zu irgendwelchen Streitfragen Stellung nehmen. Die AA stellen ihr gemeinsames Problem, ihre Abhängigkeit vom Alkohol, in den Mittelpunkt all ihrer Bemühungen um Genesung vom Alkoholismus. Anschrift: Postfach 4 6 0 2 2 7 , 80910 München, Tel.: 0 8 9 / 3 1 6 9 5 0 0 , Fax: 0 8 9 / 3 1 6 5 1 0 0 , e-mail: [email protected] - http://www.Anonyme-Alkoholiker.de Anorexia (lat. Appetitlosigkeit) Anorexia nervosa (lat.) -•Magersucht; •Eßstörungen Antabus® Markenname eines Disulfirams (Alkoholentwöhnungsmittel). A. wird in der medikamentösen Behandlung von Alkoholabhängigen als Aversivtherapie (-•Verhaltenstherapie) zur Rückfallvorbeugung eingesetzt, wobei A. wenig zweckmäßig und therapeutisch nur vertretbar ist, wenn der Patient auch psychotherapeutisch betreut wird. Bei Alkoholkonsum während der Einnahme von A. kann es zu Herz-Kreislauf-Kollaps, Herzrhythmusstörungen, Krämpfen und zu Herzversagen kommen (Antabus-Syndrom). Anti-Akoholbewegungen -•Abstinenzbewegungen Anti-Cra ving-Medikamente •Acamprosat®; -«-Craving 41

Anti-Depressiva Anti-Depressiva Gruppe von chemisch heterogenen Medikamenten, die gegen Depressionen eingesetzt wird. Einige wirken zunächst aktivierend und erst nach längerer Einnahme stimmungsaufhellend, während andere zunächst dämpfend und angstlösend und später stimmungsaufhellend wirken. Der Krankheitsverlauf wird nicht verkürzt, sondern symptomatisch verbessert. A. sollten nur in Verbindung mit medizinischer Beratung oder einer Psychotherapie eingesetzt werden. A. werden von Drogenkonsumenten in Kombination mit Alkohol als „Stimmungsheber" eingenommen. •Drogenabhängigkeit; -•Medikamentenabhängigkeit Antörnen A. ist ein jargonhafter Ausdruck für „in den Drogenrausch versetzen". Appetitzügler Als A. werden Medikamente bezeichnet, die bewirken sollen, daß das Hungergefühl reduziert bzw. aufgehoben wird. A. werden aus diesem Grund im Zusammenhang mit -•Eßstörungen mißbräuchlich verwendet. Da sie - als Nebenwirkungen - häufig anregend und stimmungsaufhellend wirken, werden A. auch aus diesen Gründen mißbräuchlich verwendet. Obwohl das Risiko der Abhängigkeit besteht, sind A. in der Regel nicht verschreibungspflichtig. Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (AWO) Die AWO wurde 1919 gegründet. Die AWO ist ein Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege, als gemeinnützig anerkannt, demokratisch aufgebaut und in Vereinen organisiert. Die AWO hat derzeit 650000 Mitglieder. Durch Bezirks· und Landesverbände, Kreisverbände und Ortsvereine ist sie in jedem Bundesland, in jeder Stadt und nahezu in jeder Gemeinde repräsentiert. Rund 100000 ehrenamtlich tätige Frauen und Männer engagieren sich in der AWO für soziale Aufgaben. 119000 hauptberuf42

Arbeitsplatz lich Tätige arbeiten in den sozialen Diensten der AWO. Ob Kindergarten, Einrichtungen der Jugendhilfe, ambulante Pflegedienste, Essen auf Rädern, Müttergenesung, Altenzentren, Behindertenarbeit oder Einrichtungen der Suchthilfe - die AWO ist ein Teil im sozialen Versorgungsnetz der Bundesrepublik Deutschland. Die AWO gibt neben einer Schriftenreihe die Fachzeitschrift „Theorie und Praxis der sozialen Arbeit" heraus. Anschrift: Oppelner Straße 130, 53119 Bonn, Tel.: 0228/6685-0, Fax: 0228/ 6695209, e-mail:[email protected]. org. - http://www.awo.org. Arbeitsgemeinschaft katholischer Fachkrankenhäuser für Suchtkranke e.V. Unter dem Namen „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Fachkrankenhäuser für Suchtkranke" haben sich Träger katholischer Fachkrankenhäuser und sonstiger stationärer Therapieeinrichtungen für Suchtkranke im Katholischen Krankenhausverband Deutschlands e. V. zusammengeschlossen. Ziel der Arbeitsgemeinschaft ist es, den Erfahrungsaustausch der Mitglieder in allen Fragen der Suchtkrankenbehandlung zu fördern. Zudem zählt zu ihren Aufgaben die fachliche Beratung und Unterstützung der Mitglieder im therapeutischen, organisatorischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereich, sowie auf dem Gebiet der Suchtkrankenhilfe, insbesondere im stationären Bereich, Anregungen und Förderung zu geben. Ferner vertritt die Arbeitsgemeinschaft die Interessen der Mitglieder nach außen. Anschrift: Karlstraße 40, 79104 Freiburg, Tel.: 0761/200369, Fax: 0761/ 2003050. Arbeitsplatz In den letzten zehn Jahren ist der Arbeitsplatz und der Betrieb eines berufstätigen Menschen in mehrfacher Hinsicht in das Bewußtsein der Suchtkrankenhilfe gerückt: 1. Als Risiko- und Belastungsfaktor bei einer Abhängigkeits-

Arbeitsprojekte entwicklung und 2. als Ort der Früherkennung und -intervention. Während zunächst der Alkoholmißbrauch am Arbeitsplatz eine zentrale Bedeutung hatte, rückten später auch der Ge- und Mißbrauch von Medikamenten und der Mißbrauch illegaler Drogen in den Blickwinkel. Der Konsum psychotrop wirkender Substanzen (nicht nur Alkohol) führt nicht nur zu unzähligen Arbeitsunfällen und Fehlzeiten, sondern auch zu betriebs- und volkswirtschaftlichen Ausgaben in Milliardenhöhe (dazu zählt Produktionsausfall, Kranken- und Übergangsgelder, Behandlungskosten usw.). -»Betriebliche Suchtprävention; -»•Dienstvereinbarung Arbeitsprojekte -•Rehabilitation Arbeitssucht 1. Definition. Aufgrund der defizitären Forschungslage kann bislang lediglich eine operationale Definition der A. formuliert werden, die sich an ausgewählten allgemeinen Indikatoren nicht-stoffgebundener Süchte ( •Stoffungebunde Süchte) orientiert (vgl. Schumacher 1986). Danach ist unter A. eine Symptomatik zu verstehen, die sich primär kennzeichnen läßt durch - den Verfall an das Arbeitsverhalten (die Zentrierung des gesamten Vorstellungs- und Denkraumes auf die Arbeit), - den -•Kontrollverlust (die Unfähigkeit, Umfang und Dauer des Arbeitsverhaltens zu bestimmen), - die Abstinenzunfähigkeit (es wird subjektiv als unmöglich erlebt, kürzere oder auch längere Zeit nicht zu arbeiten), - das Auftreten von Entzugserscheinungen bei gewolltem oder erzwungenem Nicht-Arbeiten (bis hin zu vegetativen Symptomen), - die >Toleranzentwicklung (zur Erreichung angestrebter Gefühlslagen/Bewußtseinszustände muß immer mehr gearbeitet werden) und

Arbeitssucht - das Auftreten psychosozialer und/ oder Psychoreaktiver Störungen. Es bedarf noch weiterer Klärung, wieviele der Indikatoren in welcher Intensität und über welchen Zeitraum hinweg auftreten müssen, um eine zuverlässige A.diagnose stellen zu können. Die A. muß sich nicht zwangsläufig auf eine Berufstätigkeit oder Erwerbsarbeit beziehen, sondern kann auch im Rahmen von Hausarbeit (Putzen, Kochen, Waschen, Garten), ehrenamtlichen Tätigkeiten, Prüfungsvorbereitungen (Lernen) etc. auftreten. 2. Theoretische Konzepte. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik der A. ist bislang noch unbefriedigend. Allgemeine Erklärungsansätze zur Entstehung von A. basieren in der Regel auf verhaltenstheoretischen oder psychoanalytischen Erklärungsmodellen. Eine spezielle Theorie der A. existiert allerdings weder im verhaltenstheoretischen noch im psychoanalytischen Bereich. Beide Konzepte vertreten den Anspruch, menschliches Verhalten in seiner Komplexität analysieren, erklären und unter gewissen Umständen auch dessen Veränderung ermöglichen zu können. Süchtiges Verhalten wird als eine spezielle Form menschlichen Verhaltens verstanden, ohne hinsichtlich der Erklärung der Entstehung von Sucht (-•Genese) zwischen einzelnen Suchtmitteln zu differenzieren. 2.1 Verhaltenstheoretische Erklärungen (-•Verhaltenstherapie) arbeitssüchtigen Verhaltens gehen von der Grundannahme aus, daß das Arbeitsverhalten eines Individuums (wie jedes Verhalten) auf der Basis allgemeiner Lerngesetze erworben, aufrechterhalten und verändert wird. Süchtiges und normales Arbeitsverhalten unterscheiden sich demnach a priori nicht grundsätzlich voneinander. Beide Verhaltensformen kommen durch vergleichbare lerntheoretische Prozesse zustande, die lediglich verschieden verlaufen. Die Grundlagen der A. sind nach verhaltenstheoretischer Auffassung zunächst 43

Arbeitssucht in Verstärkungen und Bekräftigungen spezifischer Arbeitsverhaltensweisen zu suchen. Für Arbeitssüchtige wird angenommen, daß sie schon in frühester Kindheit Verhaltensmuster und Einstellungen bzw. Werthaltungen erlernen, die eine enge Beziehung zu Leistung und produktivem Tätigsein aufweisen (vgl. Cherrington 1980). Aber nicht nur Belohnungen, sondern auch die negative Verstärkung, also der Wegfall einer „Bestrafung", kann Ursache für exzessives Arbeitsverhalten sein, z.B. wenn durch die Vielarbeit eine Auseinandersetzung mit Problemsituationen, eigenen Unzulänglichkeiten oder unangenehmen Gefühlszuständen vermieden wird (vgl. Orford 1986). Cherrington (1980) argumentiert, daß Arbeitssüchtige die Arbeit mißbrauchen, um G e f ü h l e der Angst, der Schuld oder der Unsicherheit zu verdrängen, oder um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Unter Bezugnahme auf die Lerntheorie ist zu erwarten, daß die positive Verstärkerwirkung einer bestimmten Verhaltensweise (hier: des Arbeitens) insbesondere dann zur Zunahme dieses spezifischen Verhaltensmusters führt, wenn sonstige Verstärkerquellen mit vergleichbaren Wirkungen (z.B. das Freizeiterleben) nicht verfügbar sind. Dies gilt auch für Arbeitssüchtige, denn für sie ist es nicht möglich, außerhalb von Arbeits- oder arbeitsähnlichen Situationen Befriedigung zu erleben, weil sie, so Cherrington (1980) im Rahmen ihrer „Lerngeschichte" keine positiv bewerteten alternativen Verhaltensmuster erworben haben. Neuere Verhaltenstheorien nehmen an, daß eine Erforschung der vielfältigen Wechselbeziehungen von kognitiven, behavioralen, sozialen und biologischen Faktoren zur schlüssigen Aufklärung der A.problematik notwendig ist. 2.2 Die psychoanalytischen Erklärungsmodelle ( -»Psychoanalyse) zur Suchtentstehung beziehen sich nicht nur auf den Konsum von •psychoaktiven Substanzen, sondern finden auch A n w e n dung bei rauschmittellosen Süchten. Die

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Arbeitssucht Psychoanalyse bietet dabei keinesfalls ein einheitliches und ausschließliches Modell zur Erklärung des Suchtgeschehens an. Vielmehr lassen sich unterschiedliche theoretische Ansätze zur Suchtproblematik differenzieren, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen und damit verschiedenartige Beiträge zur Theorie der Sucht liefern. Allgemein sind zu unterscheiden: - triebpsychologische Ansätze zum Suchtgeschehen, - das ich-(struktur-)psychologische Modell der Sucht und - das objektpsychologische Konzept. Zentral für die unterschiedlichen Erklärungsansätze ist, daß sie der Funktion einer bestimmten Suchtproblematik bei einer Person besondere Aufmerksamkeit widmen. Während triebpsychologische bzw. objektpsychologische Ansätze zur Erklärung der A. bislang weitgehend unberücksichtigt blieben, ist, als Zweig der Ichpsychologie, die Selbstpsychologie ( »Narzißmus) bzgl. der A. von besonderer Bedeutung. Die Selbstpsychologie bietet eine Erklärungsmöglichkeit für die insbesondere bei Arbeitssüchtigen häufig feststellbaren Grandiositätsvorstellungen. Da es Süchtigen nach Auffassung der Selbstpsychologie generell nicht genügend gelungen ist, ihr Selbst bis hin zu einer tragfähigen Identität zu entwickeln, bleiben sie einem grandiosen Selbst verhaftet. Bei solchen narzißtischen Persönlichkeiten dient das süchtige Verhalten als vorherrschender Mechanismus, um das pathologische Größen-Selbst aufzutanken und sich dessen Omnipotenz und Schutzfunktion gegenüber einer überwiegend als frustrierend und feindlich erlebten Umwelt, die nicht mehr genügend an Befriedigung und Bewunderung zu bieten hat, zu versichern. Rohrlich (1984) weist darauf hin, daß solche narzißtischen Persönlichkeitsstörungen bei Arbeitssüchtigen häufig vorzufinden sind und zur Folge haben, daß der Arbeitssüchtige aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Arbeit und Identität durch ein ständiges

Arbeitssucht (Mehr-)Arbeiten ein Gefühl eigener Größe und persönlicher Identität zu erlangen versucht. 3. Empirische Erforschung der A. Das öffentliche Interesse und die Resonanz der Medien bzgl. der A. stehen in keinem Verhältnis zur Intensität der empirischen Erforschung der Problematik. Im deutschsprachigen Raum gab es bis zu den Publikationen von Poppelreuter (1996, 1997) keine empirischen Darstellungen zur Thematik, sieht man von Einzelfalldarstellungen (z.B. Mentzel 1979) bzw. wenigen Diplom- oder M a gisterarbeiten mit kleinsten Stichproben und sehr beschränktem wissenschaftlichen Wert (z.B. Rentrop 1989) einmal ab. In den U S A ist die A.problematik zwar schon früher und auch häufiger in empirischen Studien thematisiert worden (vgl. z . B . Machlowitz 1978; Haas 1989; Spence & Robbins 1992), allerdings wurden auch hier nie Personen untersucht, die sich selbst im negativen Sinne des Wortes als „arbeitssüchtig" bezeichnen. Vielmehr wurde eine Kategorisierung immer nur von außen anhand mehr oder weniger zweifelhafter Kriterien vorgenommen. In der Studie von Poppelreuter (1996, 1997) hingegen wurden nur solche Personen untersucht, die gemäß eigener Aussage unter ihrer A. leiden und die aufgrund dieses Leidensdrucks externe Hilfe in Form von ambulanten und/oder stationären (psycho-therapeutischen M a ß n a h m e n in Anspruch nehmen bzw. g e n o m m e n haben. Der Zugang zur Erforschung der A.problematik ist somit im Vergleich zu den US-amerikanischen Studien ein gänzlich anderer: Die „Verantwortlichkeit" für die Diagnose A. übernimmt nicht der Forscher, sondern der Betroffene selbst. Die unter 1. genannten Indikatoren der A. konnten von Poppelreuter (1996) empirisch recht gut bestätigt werden. Weiterhin zeigte sich, daß eine quantitative Festlegung im Sinne einer „Mindest-

Arbeitssucht arbeitsstundenzahl" pro Tag oder pro Woche zur Charakterisierung der A. unbrauchbar ist. Nicht jedes Vielarbeiten ist unmittelbar mit A. gleichzusetzen. Bei A. handelt es sich somit in erster Linie um ein qualitativ zu definierendes Phänomen. Quantitative Operationalisierungen sind allenfalls von nachgeordneter Bedeutung. Folgende weitere, arbeitssüchtige Personen charakterisierende Merkmale ließen sich empirisch ermitteln: Arbeitssüchtige erleben sich als „genußunfähig" im Hinblick auf ihre Freizeitgestaltung, sie erkennen an sich selbst ausgeprägte Einstellungs- und Verhaltensmuster (leicht erregbar, ständig in Hetze und vielfach angespannt). Arbeitssüchtige funktionalisieren ihre Arbeit zur Abschottung und/oder zur Verdrängung unangenehmer G e f ü h l e und Gedanken, sie sind perfektionistisch und neigen durch immens hohe Anforderungen an die eigene Person dazu, sich selbst zu überfordern. Arbeitssüchtige halten nicht viel von Teamarbeit und haben Mißtrauen in die Arbeitserledigung durch andere. Sie sind rigide in der Arbeitsplanung und Arbeitsausführung, oftmals findet sich bei ihnen eine K o m bination von ausgeprägter Kontrollmotivation und starken Versagensängsten. Z u d e m berichten Arbeitssüchtige häufig über große Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, und zwar sowohl in beruflichen wie in privaten Beziehungen. Die Ergebnisse der Studie von Poppelreuter (1996) machen ebenfalls deutlich, daß sich von A. betroffene Personen j e nach Erscheinungsform typologisieren lassen. Bislang lassen sich empirisch begründet folgende Typen von Arbeitssüchtigen unterscheiden: - Die entscheidungsunsicheren Arbeitssüchtigen, - die überfordert-unflexiblen Arbeitssüchtigen, - die verbissenen Arbeitssüchtigen und - die überfordert-zwanghaften Arbeitssüchtigen.

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Arbeitssucht 4. Der Stellenwert der A. innerhalb der »Suchtforschung und Suchtpraxis. Zahlreiche in jüngerer Zeit feststellbare Entwicklungen belegen deutlich, daß das Phänomen des süchtigen Arbeitens individuell, gesamtgesellschaftlich und auch wissenschaftlich zunehmend bedeutsam wird. Zu nennen wäre hier eine steigende Zahl von Betroffenen sowie die gehäufte Gründung von -•Selbsthilfegruppen für Arbeitssüchtige nach dem Vorbild der -»Anonymen Alkoholiker insbesondere in den U S A und Deutschland. Zahlreiche psychosomatische und Rehabilitationskliniken in der Bundesrepublik Deutschland öffnen sich zudem mehr und mehr für den Problembereich des süchtigen Arbeitens, obschon die A. bislang nicht als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung anerkannt ist. Auffällig ist zudem eine starke Präsenz des Themas in den Massenmedien, aber auch zunehmend in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, was auf ein wachsendes Interesse an der A.problematik schließen läßt. Über die -»Prävalenz der A. kann angesichts der defizitären Forschungslage bislang nur spekuliert werden. Angaben aus US-amerikanischen Studien, wonach 1 0 % der berufs- bzw. erwerbstätigen Bevölkerung von A. betroffen sind, müssen nach gegenwärtigem Forschungsstand allerdings als übertrieben betrachtet werden. Es fällt auf, daß über die A. im Rahmen der Diskussion um die „neuen", -»stoffungebundenen Süchte besonders kontrovers debattiert wird. Der Begriff der A. stößt nicht überall auf Zustimmung. Einerseits wird kritisiert, daß ein den Menschen existentiell kennzeichnendes Merkmal, das Arbeiten, in die Nähe eines als krankhaft betrachteten Zustandes, der Sucht, gerückt wird. Andererseits wehren sich aber auch zahlreiche in Forschung und Praxis tätige Personen gegen eine Inflationierung des Suchtbegriffs. Zentraler Einwand ist, daß durch eine Anwendung des Begriffs Sucht auf „harmlose" Verhaltensmuster wie z . B .

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Arbeitssucht Spielen, Arbeiten oder Sexualität die „wirklich gefährlichen" Süchte wie beispielsweise Alkohol und Drogen bagatellisiert werden. Solche Kritik verfängt jedoch allenfalls auf ideologischer Ebene. Zum einen bemüht man sich schon seit langem, den Begriff der -»Abhängigkeit für Störungen durch die Einnahme von Substanzen, wie z . B . -»Alkohol, - » A m phetamine, -»Kokain und -»Opiate zu reservieren, so daß der Suchtbegriff durchaus in Abgrenzung vom Terminus der Abhängigkeit auf stoffungebundene Störungsbilder bezogen werden kann (vgl. D S M - I V 1996). Zum anderen vernachlässigt die Kritik an der Verwendung des Wortes - » „ S u c h t " die psychologische Erkenntnis, daß jedes Verhalten in eine süchtige Entwicklung einmünden kann, wenn es emotional aufgeladen und verwandelt wird in ein Handlungsmuster, das schwer oder gar nicht mehr zu steuern ist. Man kann sogar davon ausgehen, daß die mit Süchtigen oder Abhängigen in Zusammenhang gebrachten Phänomene sich besser studieren lassen, wenn keine Substanzen eingenommen werden. Durch den Wegfall der giftigen Wirkung eines eingenommenen Stoffes tritt das reine Wesen des süchtigen Verhaltens deutlicher hervor. Insgesamt ist zu erwarten, daß die A. sowohl innerhalb der Suchtforschung als auch der Suchtpraxis zunehmende Bedeutung erlangen wird. 5. Als Ausblick werden vier notwendige Schwerpunkte zukünftiger theoretischer und empirischer Auseinandersetzung mit der A.problematik skizziert: Schwerpunkt 1: Theorie der A. Notwendig ist sowohl eine stärkere theoretische Fundierung der A.problematik als auch eine weiterführende Ausarbeitung von Diagnosekriterien zur Erkennung und Abgrenzung von A. Eine Einarbeitung der A.symptomatik in die einschlägigen klinischen Diagnosemanuale ist wünschenswert. Schwerpunkt

2:

Empirische

Erfor-

Arbeitssucht schung der A. Angestrebt werden sollten Untersuchungen mit erheblich größerem Stichprobenumfang als in den bisher vorliegenden Studien, wobei zusätzlich die A.diagnose nicht nur auf Selbstbeschreibungen basieren, sondern ergänzend durch Fremdbeurteilungen, anamnestische Daten, situative Verfahren u.a. gestützt werden sollte. Über Einzelfallund Längsschnittstudien sollten die Ursachen, die Auslöse- und die Bedingungsfaktoren arbeitssüchtigen Verhaltens ermittelt werden. Schwerpunkt 3: -»Prävention ( »Gesundheitsförderung) und Intervention bei A. Es fehlt im primärpräventiven Bereich bzgl. der Verhinderung, Vermeidung und/oder Eindämmung süchtigen Arbeitens an Hilfsangeboten und unterstützenden Maßnahmen. Hier wäre wünschenswert: - eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit, die auch die möglichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten eines arbeitssüchtigen Verhaltensstils berücksichtigt, - eine Verbesserung des Angebots entsprechender Präventions- und Interventionsmaßnahmen, - eine stärkere Berücksichtigung des Problems des süchtigen Arbeitens sowohl in der medizinischen als auch in der psychologischen Therapie und - die Entwicklung und Etablierung geeigneter, zum süchtigen Arbeiten alternativer, auch langfristig stabiler Verhaltensmuster unter besonderer Berücksichtigung der für den Suchtbereich immer wesentlichen Rückfallproblematik. Schwerpunkt 4: Gesamtgesellschaftliche Diskussion über Arbeit und A. Eine solche Diskussion sollte zum einen dazu beitragen, daß interdisziplinäre Forschungsaktivitäten zur A.problematik angeregt werden. Zum anderen erscheint - nicht zuletzt unter Berücksichtigung einer immer größer werdenden Zahl von Arbeitslosen und einem stetig wachsenden Mißverhältnis von zur Verfügung stehenden Arbeitskräften einerseits und

Arbeitssucht von zu erledigender Arbeit andererseits eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über den Stellenwert der Arbeit für den Einzelnen wie für die Sozialgemeinschaft notwendig und sinnvoll. Die aktuelle Diskussion um Arbeitsformen und Arbeitsverteilung der Zukunft inklusive der individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit bietet die Chance, das süchtige Arbeiten in seiner bislang weithin kaum hinterfragten sozialen Erwünschtheit zu relativieren und eine offenere Problematisierung der A. und ihrer im Einzelfall verheerenden Auswirkungen zu erreichen. Lit.: Cherrington, D. J., The Work Ethic, Working Values that Work, New York 1980; Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen D S M IV, Übersetzt nach der vierten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. Deutsche Bearbeitung und Einführung von H. Saß, H.-U. Wittchen & M. Zaudig, Göttingen 1996; Haas, R. C., Workaholism, A conceptual view and development of a measurement instrument, Unveröffentl. Dissertation, United States International University, San Diego 1989; Machlowitz, M., Determining the effects of workaholism, Unveröffentl. Dissertation, Yale University, New Haven 1978; Mentzel, G., Über die Arbeitssucht, in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse (1979) 25: 115-127; Orford, J., Excessive Appetites: A Psychological View of Addictions, Chichester 1986; Poppelreuter, S., Arbeitssucht Integrative Analyse bisheriger Forschungsansätze und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Symptomatik, Bonn/Witterschlick 1996; Poppelreuter, S., Arbeitssucht, Weinheim 1997; Rentrop, S., Arbeitssucht, H a m burg 1989; Rohrlich, J„ Arbeit und Liebe, Frankfurt 2 1984; Schumacher, W., Untersuchungen zur Psychodynamik des abhängigen Spielverhaltens, in: Feuerlein, W. (Hrsg.), Theorie der

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Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur (ARCHIDO) e.V. Sucht. Berlin 1986: 165-179; Spence, J. und Robbins, Α., Workaholism: Definition, Measurement, and Preliminary Results, in: Journal of Personality Assessment (1992) 58: 160-178. Stefan Poppelreuter, Bonn Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur (ARCHIDO) e.V. Das Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur (Archido) sammelt und archiviert seit 1987 Drogenliteratur (legale wie illegale Drogen). Dazu zählen: Belletristik, wissenschaftliche Arbeiten, Zeitungsartikel, Tagungs-, Jahres- und Tätigkeitsberichte, Rechtsurteile sowie Betroffenenliteratur. Das Material wird per EDV aufgen o m m e n . Über die klassischen bibliographischen Daten hinaus werden f ü r einen Teil der Titel auch kurze Inhaltsangaben erstellt. Der a u f g e n o m m e n e Bestand beträgt ca. 13000 Titel und wird kontinuierlich erweitert. Nach Titelaufnahme wird das Material in der Präsenzbibliothek bereitgestellt und kann dort eingesehen oder kopiert werden. Schwerpunkt der Archiv-Arbeit ist das Erstellen von alphabetischen Literaturlisten zu bestimmten Themenbereichen, die zu erwerben sind. Anschrift: Universität Bremen, Fb 8, Postfach 3 3 0 4 4 0 , 28334 Bremen, Tel.: 0 4 2 1 / 2 1 8 - 3 1 7 3 , Fax: 0 4 2 1 / 2 1 8 - 3 6 8 4 , e-mail:[email protected] Armut 1. Begriff. Die mit der A. verbundenen ökonomischen, politischen, rechtlichen und sozialen Probleme erschweren eine allgemeingültige Definition. Je nach dem zugrundeliegenden A.verständnis dominieren sozialphilosophische Positionen, gesellschaftliche Konventionen, wissenschaftlich orientierte Aussagen oder Entscheidungen des Gesetzgebers in den verwendeten A.begriffen. Ein gemeinsames Merkmal sieht Hanesch (1995) in der erschwerten Lebenslage der Betroffenen, die in bezug auf das Einkommen, die Wohnqualität, die so-

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zialen Teilhabechancen etc. erheblich von den durchschnittlichen Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung abweicht. In der A.literatur wird üblicherweise zwischen absolutiver, relativer und politischer A. unterschieden: Absolute A. liegt vor, wenn elementare Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Obdach und Gesundheitsfürsorge nicht befriedigt werden können und dadurch die längerfristige Sicherung der physischen Selbsterhaltung gefährdet ist. Auch in Deutschland ist diese extreme Form der Unterversorgung anzutreffen, wie die Frequentierung der expandierenden Mahlzeitennothilfen zeigt. Relative A. meint die mangelnde Ausstattung mit Gütern, die dem historisch, sozial und kulturell geprägten Lebensstandard einer Gesellschaft entsprechen. Einkommensgrenzen von 40, 50 oder 60 Prozent des jeweiligen Durchschnittseinkommens werden zugrundegelegt, um das Ausmaß von relativer A. zu erfassen. Diese gesetzten A.grenzen bilden nicht den tatsächlichen Bedarf der Menschen ab, denn individuelle Verhaltensweisen werden ebensowenig wie subjektive Bedürfnisse erfaßt. Die politische A.grenze bezieht sich auf die Bedarfsbemessung nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Mit dem Regelsatz nach dem B S H G als quasi offizieller A.grenze in Deutschland legt der Gesetzgeber das soziokulturelle Existenzminimum fest, mit dem die Befriedigung erweiterter Grundbedürfnisse garantiert wird. Ausschlaggebend für die Entstehung von A. sind neben der strukturell bedingten Erwerbslosigkeit vor allem Lükken im Netz der sozialen Sicherung. Insbesondere bei länger anhaltender Erwerbslosigkeit k o m m t es in vielen Fällen zu einer Untersicherung, die in die A. führt. Die Erwerbschancen von Menschen werden u. a. durch eine defizitäre soziale Infrastruktur wie fehlende Kinderbetreuungsplätze oder mangelnde Ausbildungsangebote beschnitten. Eine weitere A.ursache liegt in den Betroffenen selbst. Hübinger (1996) zählt

Armut

hierzu bestimmte Lebensstile, Krankheit oder Sucht, die auf unterschiedliche Weise Verarmungsprozesse auslösen können. A. ist aus sozialer Sicht mehr als die mangelnde Verfügung über Güter und Rechte. Die soziale Lage der Betroffenen verringert die Chancen, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und soziale Rollenerwartungen zu erfüllen. Soziale Kontakte nehmen im unteren Einkommensbereich ab oder werden seltener geknüpft. Gründe dafür liegen nach Andreß u. a. (1995) in der Scham, mit den anderen „nicht mithalten zu können" und stigmatisiert zu werden. Die dadurch hervorgerufene Isolation führt zu personalen und sozialen Beeinträchtigungen und gefährdet die Selbsthilfemöglichkeiten. Die Erlebnisweisen und Deutungsmuster der in A. geratenen Menschen sind oft überlagert von resignativen Stimmungen. Dieses Phänomen ist häufig bei längeren Armutsverläufen zu beobachten, die durch kritische Lebensereignisse wie Arbeitsplatzverlust, Trennung oder eine schwere Krankheit mitbedingt sind. Auch Alkohol· bzw. Drogenabhängigkeit verringern die Möglichkeiten, A.lagen aus eigener Kraft zu überwinden. Der Verlust von Kompetenzen erschwert den aktiven Zugang zu vorhandenen sozialen Gütern und Positionen. Auf diesem Weg dehnt sich nach Kreckel (1992) die soziale Ungleichheit weiter aus. Chronisch Alkohol- und Drogenabhängige unterliegen sehr häufig diesen Prozessen und landen in extremen A.situationen. 2. Zusammenhänge zwischen Armut und Sucht. 2.1 Armut als Ursache von Sucht. Suchtkrankheit ist in Deutschland ein zentrales medizinisches und soziales Problem, wie die Zahl der Betroffenen belegt. Nach Angaben der DHS (1997) sind etwa 2,5 Mio. Alkoholabhängige, 1,4 Mio. Medikamentenabhängige und 1 5 0 0 0 0 Abhängige von „harten Drogen" behandlungsbedürftig krank. Über die Hälfte der Pa-

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tienten in stationären Einrichtungen der -»•Suchtkrankenhilfe sind erwerbslos, im ambulanten Sektor sind rund 3 5 % der Klienten ohne Anstellung. Ein großer Teil von ihnen bezieht Arbeitslosengeld bzw. -hilfe. Diese Angaben weisen auf ein erhöhtes A.risiko für die Betroffenen hin, über die Ursachen geben die Zahlen aber keine Auskunft. Aus sozialhistorischer Sicht sind hier die Befunde über den Arbeiteralkoholismus (-•Elendsalkoholismus) aufschlußreich. Um den 12- bis 16stündigen Arbeitstag zu erleichtern, verteilten viele Fabrikherren bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts „Freischnaps" an ihre Arbeiter. Alkohol wurde als Sorgenbrecher eingesetzt, vor allem Branntwein diente dazu, das Elend im frühindustriellen Pauperismus zu betäuben. Zwar dominierten unter den Konsumenten die Männer, aber auch Frauen und selbst Kinder, die Schnaps als Schlafmittel erhielten, damit die Mütter arbeiten konnten, nahmen regelmäßig Branntwein zu sich. Durch die Unsicherheit der eigenen Existenz und fehlende Aussichten, die Lebensumstände verbessern zu können, wurde nach Spode (1993) das „narkotische" Trinken gefördert. Diese Form des Alkoholismus hatte nichts mehr mit dem geselligen Rausch gemeinsam, die Trunkenheit zementierte vielmehr den sozialen Ausschluß. Für den Arbeiteralkoholismus waren demnach a.bedingte Belastungen verantwortlich. Dieser Aspekt wird in den aktuellen Theorien über die Ursachen der Sucht weiter ausdifferenziert. Übereinstimmend wird in den Theorien über die Suchtentstehung (-»-Genese) festgehalten, daß ihre Ursachen im Zusammenwirken von individuellen Eigenschaften, der aktuellen Lebenssituation und der Wirkung des Suchtmittels liegen. Um die Zusammenhänge zwischen A. und Sucht zu verdeutlichen, werden hier die sozialen Faktoren einseitig hervorgehoben. Die Ebene der Umwelt bzw. des sozialen Milieus in der Trias der Suchtursachen umfaßt so verzweigte Aspekte wie gefährdete

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Armut Familienverhältnisse, schulische und berufliche Belastungen, fehlende Ressourcen, mangelnde Zukunftsperspektiven und die soziale Gruppenzugehörigkeit. In der Suchtforschung geht man davon aus, daß die süchtige Fehlhaltung auch durch die Flucht aus desolaten sozialen Lebensumständen motiviert ist. Diese Überlegung knüpft an die historischen Befunde über den Elendsalkoholismus an. Soziodemographische Ansätze in der Suchtforschung fragen nach den Zusammenhängen zwischen dem Alter, d e m Geschlecht, der sozialen Lage und der Suchtentstehung. Diese Ansätze sind allerdings nach Scheerer (1995) noch wenig entwickelt. Unter den komplexen Einflüssen der Umwelt spielt A. eine wichtige Rolle. Sie ist in vielen Fällen verantwortlich für persönliche und familiäre Krisen und den Rückzug aus sozialen und kulturellen Kontexten. A. ist als ein zentraler sozialer Faktor in der Suchtentstehung anzusehen. Beantwortet werden muß die Frage, wie es durch soziale Notlagen zur Suchtkarriere kommt. Auf der Basis des bereits in den fünfziger und sechziger Jahren von Becker entwickelten Stufenmodells läßt sich die Suchtentstehung verdeutlichen. Nach Becker (1981) m u ß auf der ersten Stufe die Droge für den potentiellen Konsumenten verfügbar sein. Auf der zweiten Stufe braucht die Person einen Grund, u m mit Drogen zu experimentieren. Die Aufrechterhaltung des Drogenkonsums führt zur dritten Stufe der Suchtmittelabhängigkeit. A. mit ihren psychosozialen Folgen ist nicht nur ein Grund, um zu Suchtmitteln zu greifen, in ihr liegen auch Anhaltspunkte dafür, daß der Konsum fortgesetzt wird. Ausschlaggebend dürfte u. a. sein, daß mit den Drogen die teilweise extremen Folgen der A. wie Wohnungslosigkeit oder zerrüttete Familienverhältnisse kompensiert werden. Hinzu kommt die mangelnde soziale Einbindung, die dazu führt, daß soziale Korrektive weitgehend ausfallen und die Angst vor dem

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Armut Verstoß gegen gesellschaftliche Konventionen vor allem bei chronischer Sucht abnimmt. 2.2 Armut als Folge von Sucht. In der -+ICD-10 wird der Terminus Drogenmißbrauch durch den schädlichen Gebrauch psychoaktiver Substanzen ersetzt. Die negativen sozialen Folgen der Sucht begründen aber nach diesem Verständnis keinen schädlichen Gebrauch, sondern nur die nachgewiesene Beeinträchtigung der psychischen und physischen Gesundheit des Konsumenten. Angesichts der teilweise extremen Verelendung von Suchtkranken überrascht die Ausblendung der sozialen Konsequenzen. Im -»-DSM IV werden allerdings auch psychosoziale Kriterien mit einbezogen. Sucht impliziert immer die Gefahr, daß neben körperlichen und zwischenmenschlichen Katastrophen auch die soziale Existenz zerstört wird. Der Verlust des Arbeitsplatzes, mangelnde soziale Sicherung und die verbreitete Ver- und Überschuldung von Abhängigkeitskranken belegen, daß Armut als ständige Gefahr bei Sucht zu berücksichtigen ist. Bei anhaltendem Alkohol· und Drogenkonsum werden nach Edwards (1997) die sozialen Reaktionen immer gravierender. Dies gilt besonders, wenn am Ende die Wohnung verloren geht und der soziale Abstieg besiegelt wird. Durch Verarmungsprozesse wird der Suchtverlauf komplikationsreicher, wie auch das Beispiel der Erwerbslosigkeit zeigt. Unter Arbeitslosen nimmt nach Henkel (1996) der gesellige Alkoholkonsum ab, während bei einem Teil der „drogenhafte" Gebrauch steigt. Damit versuchen die Betroffenen der Monotonie und Öde ihres Alltags zu entkommen und auch Nervosität und Schlafstörungen zu bewältigen. Im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen weist die Gruppe der Erwerbslosen die höchste Alkoholismusquote auf. 3. Armut und Suchtbehandlung. A. erschwert die angemessene Behandlung

Armut (-»Suchtkrankenhilfe) von Suchtkranken. K o m m t es zum Wohnungsverlust und anderen extrem instabilen sozialen Situationen, stehen die Beratungsstellen, die stationären Angebote und die Selbsthilfegruppen vor der schwierigen Aufgabe, trotz der widrigen Lebensumstände eine Behandlungsmotivation herzustellen, und vor allem aufrechtzuerhalten. In der Behandlung müssen die körperlichen, psychischen und sozialen Fragen der Sucht und die Schädigung von Dritten immer gemeinsam bearbeitet werden. In präventiven Ansätzen (-»Prävention) geht es u m Information, Aufklärung, Erziehung, den A u f b a u von sozialen Kompetenzen und die Förderung des Gesundheitsbewußtseins. Mit entsprechenden Programmen werden nicht die Drogen bekämpft, sondern die Ursachen süchtigen Verhaltens. Ihr Ziel besteht nach Loviscach (1996) darin, das Selbstwertgefühl, die Erlebnisfähigkeit, die Eigenaktivität, die Konflikt- und Entscheidungsfähigkeit und das Körpergefühl zu verbessern. Entsprechende Maßnahmen richten sich an Einzelpersonen und Gruppen, während soziale Lebensumstände, an denen Präventionsmaßnahmen immer wieder scheitern, vernachlässigt werden. Die Auswirkungen der A. auf den Alltag lassen bestenfalls ein geringes Interesse an den genannten Zielen präventiver Maßnahmen zu. Betroffene müssen viel Energie aufwenden, um sich mit ihren prekären materiellen und psychosozialen Verhältnissen zu arrangieren. A. und Erwerbslosigkeit erschweren die Überwindung von Abhängigkeitserkrankungen. Menschen in A.lagen sind seltener motiviert, sich auf eine •Entwöhnungsbehandlung einzulassen. Wer nach einer Behandlung in aussichtslose Verhältnisse zurückkehren muß, trägt zudem ein deutlich erhöhtes •Rückfallrisiko. Die Folgen von A. und sozialer Desintegration müssen in den Therapieund Beratungskonzepten für Suchtkranke deshalb systematisch erfaßt und

Armut bearbeitet werden. Ohne eine angemessene soziale Sicherung der Klienten greifen nach Henkel (1996) die Behandlungsansätze regelmäßig zu kurz. Die Verbesserung von Lebenslagen auch im Rahmen der Suchtkrankenhilfe trägt dazu bei, Therapieerfolge zu stabilisieren. Dies gelingt dann am besten, wenn die soziale und berufliche Wiedereingliederung erfolgreich angebahnt wird. Im einzelnen geht es z.B. um die Klärung der Wohnsituation, die Anbahnung sozialer Kontakte und emotionaler Bindungen, die Schuldenregulierung und die Freizeitgestaltung. -•Chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke, die sehr häufig in A. geraten, stellen das Hilfesystem vor besondere Anforderungen. Für diese relevante Teilgruppe müssen die vorhandenen Angebote der Suchtkrankenhilfe abgewandelt werden. Primär geht es bei ihnen zunächst darum, das Überleben zu sichern und die Lebensqualität so zu verbessern, daß ein Gesundungsprozeß begonnen werden kann. Das Ziel der Suchtmittelfreiheit darf in diesen sehr schwierigen Fällen nicht am Beginn des Hilfeprozesses stehen, da bei den hier angesprochenen Lebensverläufen das Abstinenzziel häufig nicht kurzfristig zu erreichen ist. In A.verhältnissen lebende Suchtkranke bringen in der Regel nicht die optimalen Voraussetzungen für eine Therapie mit. Sie werden auch in der Bewilligungspraxis von Rehabilitationsleistungen benachteiligt. Die Rentenversicherungsträger machen ihre Zustimmung zu einer stationären Behandlung von hinreichenden Erfolgsaussichten vor dem Beginn einer Maßnahme wie z . B . der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit abhängig. Ältere Betroffene, langjährig Abhängige und Menschen in instabilen sozialen Verhältnissen drohen bei den hohen Zugangsbarrieren durch die Maschen des Hilfesystems zu fallen. Damit dehnt sich ihre soziale Benachteiligung in das Gesundheits- und Behandlungssystem für Suchtkranke aus.

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Arznei

4. Perspektiven der Suchtkrankenhilfe. Die Rehabilitationsangebote der -•Suchtkrankenhilfe müssen zukünftig auch jenen Betroffenen offenstehen, die besondere Problemlagen durch ihre armutsbedingte Verelendung mitbringen. Die Abstinenzbereitschaft kann bei ihnen ebensowenig zwingend vorausgesetzt werden wie die schon zu Beginn eines Behandlungsprozesses üblicherweise geforderte kontinuierliche Beratungs- und Therapiemotivation. Die Folgen der Abhängigkeit und der sozialen Deprivation haben die Selbsthilfepotentiale vieler Betroffener verschüttet oder zerstört. Das Hilfesystem verfehlt weiterhin diese Adressatengruppe, wenn es die Kriterien für eine Behandlungsaufnahme nicht situations- und fallbezogen modifiziert. Die Suchtkrankenhilfe muß sich verstärkt dem Thema A. stellen und ihre Behandlungskonzepte entsprechend ergänzen. Sie wird sich angesichts der in den Großstädten nicht mehr zu übersehenden Verelendung von immer jüngeren Suchtkranken daran messen lassen müssen, inwieweit es ihr gelingt, eine Antwort auf dieses Problem zu entwikkeln. Die Perspektiven der Suchtkrankenhilfe werden auch durch die Entwicklung des Sozialstaats tangiert. Die Finanzierung gesundheitlicher und sozialer Leistungen stößt heute auf immer größere Probleme. Einsparungen im kommunalen Bereich und in den Landeshaushalten treffen u. a. die ambulanten Beratungsund Behandlungsstellen, die Beschneidung von Rehabilitationsleistungen in der Sozialversicherung wirkt sich auf das stationäre Versorgungsangebot aus. Vorgesehen ist bereits eine Verkürzung von Therapiezeiten bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit auf bis zu 16 Wochen und bei Drogenabhängigkeit auf bis zu 10 Monaten sowie die Begrenzung von Wiederholungsbehandlungen. Diese Rationierung von Behandlungsangeboten widerspricht nach einer Analyse der DHS (1997) dem Konzept der individuellen Behand52

Arznei

lungszeit und der Idee ggf. nicht begrenzter lebensbegleitender Hilfe. Die Suchtkrankenhilfe steht heute wie andere Therapieangebote unter einem Finanzierungsvorbehalt. Die zunehmende A. in Deutschland wirkt sich durch die Einnahmeausfälle des Sozialstaats und die erhöhten Ausgaben zur Finanzierung der A. auf die institutionelle und konzeptionelle Seite der Suchtkrankenhilfe aus. Lit.: Andreß, H.-J., Lipsmeier, G„ Salentin, K., Soziale Isolation und mangelnde soziale Unterstützung im unteren Einkommensbereich?, in: Zeitschrift für Soziologie 4/1995; Becker, H. S„ Außenseiter, Frankfurt 1981; DHS (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 98, Geesthacht 1997; Edwards, G., Alkoholkonsum und Gemeinwohl, Stuttgart 1997; Hanesch, W., Sozialpolitik und das Armutsproblem, in: Hanesch, W. (Hrsg.), Sozialpolitische Strategien gegen Armut, Opladen, 1995; Henkel, D„ Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Armut unter Berücksichtigung der Lage in den neuen Bundesländern, in: DHS (Hrsg.), Alkohol Konsum und Mißbrauch, Alkoholismus - Therapie und Hilfe, Freiburg 1996; Hübinger, W., Prekärer Wohlstand, Freiburg 1996; Kreckel, R. Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt 1992; Loviscach, P., Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Sucht, Freiburg 1996; Scheerer, S„ Sucht, Hamburg 1995; Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, Opladen 1993. Harald Ansen, Stuttgart Arznei Als Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes (AMG) § 2 gelten: „Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper 1. Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen,

Ausbildung

Arzneimittelabhängigkeit 2. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelischer Zustände erkennen lassen, 3. vom menschlichen oder tierischen Körper erzeugte Wirkstoffe oder Flüssigkeiten zu ersetzen, 4. Krankheitserreger, Parasiten oder körperliche Stoffe abzuwehren, zu beseitigen oder unschädlich zu machen oder 5. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen." Solange ein Mittel als Arzneimittel zugelassen oder registriert oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung oder Registrierung freigestellt ist, gilt es als Arzneimittel. Das Bundesgesundheitsamt überprüft die vom Hersteller überbrachten Angaben zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit und erteilt dem Arzneimittel die Zulassung. -»•Arzneimittelgesetz; »-Medikamentenabhängigkeit Arzneimittelabhängigkeit -•Medikamentenabhängigkeit Arzneimittelgesetz (AMG) Das A M G trat 1978 in Kraft und regelt die Herstellung und Prüfung, die Zulassung und Kontrolle, Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln, sowie die Verbraucheraufklärung und die verschuldensunabhängige Produkthaftung. So wird z.B. in § 2 definiert, was eine Arznei im Sinne des Gesetzes ist. Der § 28 ist wichtig im Zusammenhang mit den Warnhinweisen bei bestimmten Gefahren einer Einnahme, die bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol zu Beeinträchtigungen führen, z.B. im Straßenverkehr oder beim Bedienen von Maschinen. -»Drogenpolitik Askese (griech. Askesis: Übung) Der Verzicht auf „weltliche Genüsse" aus religiösen Gründen, um eine höhere Erkenntnis- oder Bewußtseinsebene zu erreichen. Die A. ist in fast allen Reli-

gionen zu finden und findet ihren Ausdruck z.B. in sexueller - • Abstinenz oder dem Verzicht auf Nahrung durch Fasten. Ziele der Askese waren im antiken Griechenland die Selbstgenügsamkeit, die Beherrschung der Leidenschaften, die Übungen der Tugend und der Kampf gegen das Laster. Atemalkoholkonzentration (AAK) Im Hinblick auf die erheblichen Umstände einer Blutentnahme und die erheblichen Kosten der Messung ist es häufig ausreichend, die -•Blutalkoholkonzentration über den Alkoholgehalt der Atemluft zu messen, der innerhalb gewisser Schwankungsbreiten Rückschlüsse auf die vorliegende Blutalkoholkonzentration erlaubt. Die Messung des AAK erfolgt über ein Glasröhrchen, in das gepustet wird, und in dem sich bei Anwesenheit von Alkohol in der Ausatemluft eine Chemikalie innerhalb einer Skala verfärbt. Der häufigste Anwendungsbereich ist die Überprüfung der Fahrtüchtigkeit von Verkehrsteilnehmern. -•Blutalkoholkonzentration; -•Suchtstoffanalysen Aufklärung -•Prävention Aufputschmittel A. regen das zentrale Nervensystem an und beseitigen Ermüdungserscheinungen. Eines der bekanntesten und verbreitetsten ist -»Koffein, das das Atem- und Kreislaufsystem anregt. -»Kokain und -•Amphetamine gehören ebenfalls zu den A. Sie steigern die Leistungsfähigkeit und können zur Abhängigkeit führen. Zu den neueren und unter Jugendlichen sehr verbreiteten A. gehört -»Ecstasy. »Designerdrogen Aufsuchende soziale Arbeit -•Streetwork Ausbildung -•Fort- und Weiterbildung

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Barbiturate

Behinderung Β

Barbiturate Β . sind Derivate der Barbitursäure mit sedierender, hypnotischer und narkotischer Wirkung. Wegen der hohen Risiken, wie Abhängigkeit und Toxizität werden B. nicht mehr als Schlafmittel, sondern nur noch als Injektionsnarkotika und als Antiepileptika eingesetzt. Die Barbitursäure ist die schwer wasserlösliche Grundsubstanz vieler Schlafmittel und wirkt schlaferzwingend. In höheren Dosen können B. erregend und euphorisierend wirken. Zusammen mit Alkohol kann es zu bizarren Halluzinationen und/oder starker Apathie kommen. Die meisten Drogenkonsumenten, die B. nehmen, nehmen auch gegenwirkend -•Amphetamine. B. gehören zu den am meisten mißbrauchten Substanzen. -•Drogenabhängigkeit; -»Iatrogene Sucht; -•Medikamentenabhängigkeit Behandlung -•Ambulante Einrichtungen; -•Empfehlungsvereinbarung; •Entwöhnung; -•Suchtkrankenhilfe Behinderung 1. Definition. B. ist ein Sammelbegriff, der trotz vielfältiger Versuche nur schwer präzisierbar ist, da B . sich nur im Vergleich und Abgrenzung zu Nichtbehinderung darstellen läßt. Heute üblich ist eine umschreibende Darstellung: „Behindert... sind alle, die von Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung betroffen sind, die auf einem von dem für das jeweilige Lebensalter typischen Zustand abweichenden körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht" (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1998). Damit korrespondiert der dreistufige Behindertenbegriff der Weltgesundheitsorganisation: Impairment (Schädigung), Disability (Fähigkeitsstörung) und Handicap (Beeinträchtigung) (vgl. I M B A , 1996). Bei B . wird vielfach eine angeborene geistige

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und/oder körperliche B. assoziiert. Dabei ist der Behinderungsbegriff auf jeden Fall umfassender, indem auch psychisch Kranke unter diese Kategorie fallen. Viele B. entstehen auch erst im Laufe eines Lebens durch Unfälle oder Krankheiten. Dem großen Spektrum von B. entsprechend gibt es auch unterschiedliche Formen der individuellen Förderung und Hilfeleistung. Die gesetzliche Grundlage für die Behindertenhilfe ist das Bundessozialhilfegesetz ( B S H G ) (-•Sozialrecht). In Fortsetzung des Normalisierungsprinzips (Thimm 1990) hat das Konzept des „Selbstbestimmten Lebens" (vgl. Speck 1998) heute große Bedeutung erlangt. 2. Drogen und Behinderung. Der länger andauernde und stetige Konsum von Drogen führt direkt (Wirkung bei den Konsumenten, z . B . -•Alkoholfolgekrankheiten) oder indirekt (z. B.Unfälle aufgrund vorherigen Drogenkonsums) zu Gesundheitsbeeinträchtigungen. Deshalb können in Folge von Drogenkonsum auch B. auftreten. Aber auch aus falschen Dosierungen bzw. Drogenexzessen und -•Low-Dose-Indizierung können schwerwiegende Erkrankungen mit bleibenden gesundheitlichen Schäden resultieren. Mögliche bleibende Schäden in Form von B . sind ζ. B.: Cerebralschädigungen, Störungen der Motorik, (manifeste) Psychosen, Organschäden, genetische Schäden, Lähmungserscheinungen (Paresen bzw. Paralysen) etc. B. haben aber nicht nur Auswirkungen auf den Konsumenten, sondern durch den andauernden Drogenkonsum und dessen Folgeschäden ergeben sich auch Auswirkungen auf sein Lebensumfeld. So kann beispielsweise eine Schwangerschaft, verbunden mit stetigem Alkoholkonsum, zu -»Embryopathien bei den Kindern führen. Das Auftreten einer B. stellt immer eine Belastung für den Einzelnen dar, da er sein Lebensumfeld auf-

Behinderung

Behinderung

grand der eingeschränkten Möglichkeiten neu gestalten muß, hat aber darüber hinaus auch Auswirkungen auf nichtkonsumierende Partner, denn die veränderten Lebensumstände können auch zu schweren seelischen Belastungen in einer Partnerschaft führen, deren Folgen u. a. psychosomatische oder psychische Erkrankungen des nicht-konsumierenden Partners sein können. Durch das Eintreten einer B. ist nicht nur eine individuelle Schädigung zu konstatieren, sondern es hat für den Einzelnen umfangreiche Folgen und Konsequenzen. Daraus resultieren 4 Themenbereiche: 1. B. ist an sich eine wesentliche Beeinträchtigung in der Lebensführung und Handlungskompetenz. Je nach Beeinträchtigung kann es erforderlich sein, partiell (z.B. bei Körperbehinderungen, Paresen/Paralysen) oder auch umfassend (Rollstuhl etc.) Hilfestellungen durch andere Personen (einschließlich der Hilfsmittel) annehmen zu müssen. 2. Diese individuellen Beeinträchtigungen haben auch Auswirkungen auf die Partizipationschancen, deren Beeinträchtigungen so groß sein können, daß ein selbständiges Leben nicht mehr möglich ist. In Folge der Beeinträchtigungen kann es nicht nur bedeuten, daß eine partielle Unterstützung bei bestimmten Aktivitäten erforderlich ist, sondern daß in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens Hilfestellung geleistet werden muß bzw. bestimmte Versorgungsleistungen (ζ. B. Waschen, Essen kochen etc.) von anderen Personen wahrgenommen werden müssen, weil die eigenen Fähigkeiten aufgrund der B. verloren gegangen sind. Dieses kann so weit gehen, daß es u. U. zur dauerhaften Unterbringung in Heimen und beruflichen Tätigkeiten in spezifischen Einrichtungen der Behindertenhilfe kommt, weil andernfalls eine Versorgung und Hilfestellung nicht gewährleistet werden kann. 3. B. stellt eine volkswirtschaftliche

Problematik dar, da die Solidargemeinschaft für die Kosten aufkommen muß. Da nach wie vor die Hauptdefinition als partizipierendes Mitglied der Gesellschaft durch den Begriff der Arbeit, der Arbeitsleistung und der damit verbundenen Entlohnung erfolgt, hat eine B. oft eine Stigmatisierung und Zuordnung zu einer Randgruppe zur Folge. 4. Neben den individuellen Beeinträchtigungen resultieren daraus auch verschiedene sozialrechtliche Folgen. Die Möglichkeit zur Arbeit kann durch die B. stark eingeschränkt und verlorengegangen sein, so daß eine Unterstützung aus öffentlichen Kassen geleistet werden muß ( •Sozialrecht), was dann u. U. lebenslang erfolgt. Damit sind die individuellen Gestaltungs- und Planungsmöglichkeiten des eigenen Lebens stark begrenzt. Schließlich kann dies auch mit -•Armut verbunden sein, da an die Erlangung öffentlicher Leistungen bestimmte Kriterien gebunden sind, die bei dem einzelnen Hilfesuchenden vorliegen müssen. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Zahl und Arten der B., wobei über die Ursache der B. keine Aussage getroffen werden kann: absolut

%

Art der Behinderung (Auswahl) Lembehinderungen Psychosen Neurosen geistige Behinderungen Herzkrankheiten Kreislauf Hautkrankheiten Krankheiten des Skeletts Schädelfraktur

Veränderung in % 19921996

40421 9214 13667

14,57 3,2 4,92

12 39 43,6

8575

3,09

6888 2385 9750

2,48 0,86 3,51

1,8 -20,1

132902 3505

47,89 1,26

22,7 -22,9

-30,0 32,3

(Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1998)

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Behinderung

Auffallend an diesen Zahlen ist die große Zunahme der psychischen B., die oft in Wechselwirkung mit Drogenkonsum auftreten (-»Chronisch mehrfachabhängige Alkoholiker, »Kormorbidität, -»Psychose). 3. Behinderung und Beruf. Die Einschränkungen der individuellen Handlungskompetenz aufgrund von B. erfordert für die hauptberufliche Tätigkeit spezifische Angebote. Heute gibt es folgende Möglichkeiten zum Erwerb eines Berufes: Betriebliche Arbeitsorte, Berufsbildungswerke, Berufsförderungswerke, Einrichtungen der medizinischberuflichen -»Rehabilitation und Werkstätten für Behinderte. Mit dem Erwerb einer Ausbildung ist auch bei behinderten Menschen nicht automatisch der zukünftige Arbeitsplatz gesichert, im Gegenteil: Von den etwa 1,1 Millionen Schwerbehinderten Personen, die dem Arbeitsmarkt 1996 zur Verfügung standen, waren im Oktober 1996 fast 200000 Personen arbeitslos gemeldet. Weiterhin gibt es vielfältige Bemühungen, für behinderte Personen Arbeitsplätze außerhalb der traditionellen Institutionen wie Werkstätten für Behinderte zu finden. Dazu wurden Integrationsfachdienste, Arbeitsassistenzen sowie verschiedene lokale Projekte eingerichtet. Damit soll den differenzierten Bedürfnissen behinderter Menschen Rechnung getragen werden. Für behinderte Personen, die zwar im arbeitsfähigen Alter sind, aber aufgrund ihrer B. nicht in berufliche Institutionen eingebunden werden können, werden tagesstrukturierende Maßnahmen angeboten. 4. Behinderung und Wohnen. Analog zu den Bemühungen um die berufliche Integration behinderter Menschen gibt es inzwischen differenzierte Angebote an Wohnformen. Diese reichen vom betreuten Wohnen im eigenen Wohnraum über Wohngemeinschaften, hin zu Wohnheimen und schließlich auch Pflegeheimen. Diese Angebote korrespondieren mit dem Konzept „Selbstbe56

Behinderung

stimmt Leben", wonach Menschen mit B. möglichst selbständig über ihr Leben entscheiden sollen. 5. Behinderung und gesellschaftliche Partizipation. Abgesehen vom Arbeitsbereich und den Wohnformen vollzieht sich die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und damit die Integration im wesentlichen über den Freizeitbereich. Diese ist vielfach mit Kosten (Eintrittsgelder, Reisekosten, Verzehrkosten etc.) verbunden, die die behinderten Menschen selber aufbringen müssen. Da ihr Einkommen häufig niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt ist (aufgrund der geringen Entlohnung in den Institutionen der beruflichen Behindertenhilfe), erweist sich dieses als eine Barriere. Zusätzlich ist die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen nach wie vor reserviert und bietet nur wenige Möglichkeiten zur Partizipation und damit zur Integration. Lit.: Beck, M., Handbuch Sozialmanagement, Stuttgart u. a. 1995; Beilmann, M., Sozialmarketing und Kommunikation, Neuwied u. a. 1995; Bundesarbeitsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, Bonn 1998; Hauser, Α., Neubarth, R., Obermair, W. (Hg.), Handbuch Soziale Dienstleistungen, Neuwied u.a. 1997; IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt), hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Essen, Siegen 1996; Meinhold, M., Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Sozialen Arbeit, Freiburg/B. 1996; Mühlum, Α., Oppl, H. (Hg.), Handbuch der Rehabilitation, Neuwied 1992; Ristok, B., Leistungsgerechte Entgelte. Betriebswirtschaftliche Aspekte eines neuen Vergütungsprinzips im BSHG und SGB XI, Freiburg/B. 1995; Speck, O., System Heilpädagogik: eine ökologische Grundlegung, München, Basel, 4. Auflage; Thimm, W., Das Normalisierungsprinzip; Marburg 1990; Zwierlein, E.

Benchmarking (Hg.), Handbuch Integration und Ausgrenzung, Neuwied u. a. 1996. Stefan Müller-Teusler, Hitzacker Benchmarking Β. (engl.) bedeutet frei übersetzt „Lernen von besten Ideen und Lösungen" im Rahmen eines systematischen Vergleichs und ist eine spezielle Methode des Qualitätsmanagements bzw. der Organisationsentwicklung. Dieser Vergleich dient dazu, Stärken und Schwächen einer Organisation zu identifizieren, Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten und deren Umsetzung selbst zu evaluieren. Das B. zielt auf die ständige Verbesserung von Arbeitsprozessen und Arbeitsergebnissen, dazu zählt auch die Innovationskraft und der Kundennutzen bzw. die Kundenzufriedenheit. Die erzielten und umfassend dokumentierten Verbesserungen werden anderen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Beispiel für Benchmarking im Suchtbereich ist das Projekt „Benchmarking in Suchtberatungsstellen", das von der Niedersächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren für die Suchtberatungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege seit 1997 in Niedersachsen koordiniert wird. Ab 1998 will die Niedersächsische Landesstelle alle Suchtberatungsstellen mit den Instrumenten des Benchmarkings vertraut machen. Der Prozessverlauf des niedersächsischen Benchmarking umfaßt folgende Handlungsschritte: 1. Planung und Umsetzung von Verbesserungsideen bzw. Einleitung erster Schritte zu ihrer Umsetzung. 2. Durchführung von „Prozessanalysen" besonders aufwendiger Tätigkeiten zum Auffinden von Verbesserungspotentialen. 3. Einführung einer Methode der Selbstbewertung/Selbstevaluation zur systematischen und kontinuierlichen Beschreibung der Stärken und Verbesserungsbereiche der eigenen Suchtberatungsstelle. Die dafür eingesetzten „Selbstbewertungsbögen" begründen das eigentliche Benchmarking. Sie ermöglichen mittels des Vergleichs mit an-

Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke deren Einrichtungen die Identifikation eigener Stärken und Verbesserungsbereiche und dienen damit dem Austausch „bester Lösungen" zwischen den Beratungsstellen. -»Evaluation; •Qualitätssicherung Benzodiazepine B. gehören zu den -»Tranquilizern, sie wirken angstlösend, dämpfend und ermüdend, muskelentspannend und krampflösend. Bei hoher Dosierung kann es zu paradoxen Wirkungen kommen: Euphorie, Erregung, Schlaflosigkeit. B. haben ein hohes Abhängigkeitspotential. -"Epidemiologie; -»latrogene Abhängigkeit; •Medikamentenabhängigkeit Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke Die B. entwickelten sich zunächst eher urwüchsig als Teil der -»Sozialen Arbeit. Erst in den letzten 15 Jahren wurden durch die Länder und Träger Mindestkriterien für die B. erstellt, sie umfassen u. a. die Besetzung mit Mitarbeitern verschiedener Berufsgruppen (Sozialpädagogen, Psychologen, Arzte), Mindestanforderungen an die therapeutische Qualifikation der Mitarbeiter ( »Fortund Weiterbildung), ein Konzept mit einem theoretischen Bezugsrahmen in Hinblick auf das Menschenbild und das methodische Vorgehen. B. haben die Aufgabe, Abhängige stoffgebundener und stoffungebundener Süchte, aber auch Angehörige zu beraten und zu behandeln ( •Empfehlungsvereinbarung). Sie sind auch die zentrale Koordinierungsstelle in einer Region für die Suchtkrankenhilfe (im Sinne eines Case-Managements) vor Ort. Die meisten B. sind in der Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden, und die Finanzierung erfolgt als Mischfinanzierung aus Landes-, Eigen- und kommunalen Mitteln. Nach einer Erhebung der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) 1997 gibt es bundesweit insgesamt 1219 anerkannte Beratungsstellen 57

Berufsspezifische Aspekte mit hauptamtlichen Mitarbeitern. Je nach Bundesland gibt es unterschiedliche Kriterien für die Anerkennung als Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke und -gefährdete, die in eigenen Förderrichtlinien formuliert sind. Die D H S hat bereits 1979 einen ersten Rahmenplan verabschiedet, der die Aufgaben und Ausstattung von B. beschreibt. Dieser wurde mehrfach überarbeitet und enthält heute folgende Leistungssegmente: - Kontaktaufnahme/Information - Versorgung/niedrigschwellige Angebote - Akuthilfe und Krisenintervention - Beratung - Betreuung - Behandlung - Ambulante Rehabilitation - Nachsorge - Unterstützung von Selbsthilfe - Prävention - Vernetzung/Kooperationspartner - Öffentlichkeitsarbeit - Dokumentation/Statistik - Qualitätssicherung - Personal - Praxisberatung und Supervision - Räumliche Ausstattung Abgesehen von den formalen Aspekten der Ausstattung (Personal und Räumlichkeiten) lassen sich an der Aufzählung die sehr umfangreichen und komplexen Aufgaben ablesen. 1997 hat die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren eine Handreichung zum Erstellen einer Leistungsbeschreibung für B. vorgelegt. Mit dieser Handreichung, die Kriterien zur Struktur· und Prozessqualität enthält, könne die B. ihre Leistung so präzise wie möglich in eigener Verantwortung beschreiben. Damit leisten die B. einen Beitrag zur -•Qualitätssicherung. - • A m b u l a n t e Einrichtungen; -•Integrierte Sucht- und Beratungsstellen; »Suchtkrankenhilfe Berufsspezifische Aspekte 1. Einleitung. Seit 1984 werden in den Oberbergkliniken unter anderem die be-

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Berufsspezifische Aspekte sonderen beruflichen Betroffenheiten spezifischer Berufsgruppen (Ärzte, Zahn- und Tierärzte, Apotheker, Juristen, Priester, öffentlich Bedienstete (besonders Lehrer, Polizisten), Leitende Angestellte und Selbständige untersucht. Dabei wird unterschieden, welche berufliche Besonderheiten als Ursachen einer Suchtentstehung mitwirken, welche Besonderheiten im Therapieablauf für die Angehörigen dieser Berufsgruppen ggf. zu beachten sind und welche besonderen beruflichen Folgen eine solche Erkrankung ggf. für sie hat. Soweit erhältlich, wurden in diese Betrachtungen entsprechende Daten von Organisationen, die sich vorwiegend mit Gruppen von Sozialversicherten beschäftigen (Berufsgenossenschaften, Gewerkschaften), sowie einschlägige Literatur miteinbezogen. Diese Daten ergaben jedoch wenig Hinweise darauf, inwieweit berufsspezifische Belastungen zur Entstehung beitragen. Uber berufsbedingte Besonderheiten beim Therapieablauf wurden keine spezifischen Hinweise gefunden. Hinsichtlich der beruflichen Folgen gibt es arbeitsrechtliche Regelungen. Unter Nutzung vorhandener, z . B . psychoanalytischer, tiefenpsychologischer, verhaltenstherapeutischer Konzeptionen wurden drei sucht-, patienten- und krankheitsorientierte Grundannahmen formuliert: - - • S u c h t ist ein emotionales Problem. Damit folgt sie den Eigenschaften aller emotionalen Phänomene, die mit dem rationalen Instrument „Sprache" nicht genau beschreibbar sind, rationalen, vernünftigen Überlegungen und Maßnahmen nicht zugänglich sind. - Bei j e d e m Menschen entsteht nach und nach, durch einschlägig wirksame Außeneinflüsse im Laufe seines Lebens eine nur ihm eigene, also hochindividuelle psychisch-emotionale Struktur. Sie beinhaltet, jeweils in verschiedener Ausprägung, alle möglichen emotionalen Items (z.B.

Berufsspezifische Aspekte Fähigkeit zu Nähe, zu Liebe, Vertrauen, aber auch zu Aggression, Haß, Neid, Wut usw.). Die Gesamtheit aller Phänomene und ihrer Ausprägungen ergibt dann die individuelle, persönliche Struktur. - Es kann vorkommen, daß einige (an und für sich nicht immer schlechte) dieser Prägungen in Kombination zueinander die Determination zur Entstehung von emotional bedingten Krankheiten, unter anderem (insgesamt selten!) zu einer Sucht, bilden. Danach genügen Anlässe, um die Krankheit klinisch manifest werden zu lassen. Diese Anlässe werden von Patienten (und Bezugspersonen) gerne mit den Ursachen verwechselt. Da nach dieser Sicht eine Sucht also primär ein emotionales Problem darstellt, ist es im Einzelfall zur Erforschung der Krankheitsentstehung (-"-Genese) beim Einzelnen notwendig, daß der Patient, zusammen mit dem Therapeuten, seine individuelle emotionale Struktur und ihre Entstehung erkundet, um die jeweils ihn krankmachenden Besonderheiten seines „emotionalen Reliefs" zu finden. Dazu m u ß er weit in seiner emotionalen Anamnese zurückgehen. Weil die emotionalen Strukturen individuell sehr verschieden sind und weil die Fähigkeiten der Patienten, sich damit zu befassen, also sich auf diese emotionale Ebene einzulassen, ebenfalls sehr differieren, ergeben sich individuell unterschiedliche Arbeitspensen, wodurch auch die individuellen Therapiezeiten sehr differieren. Nicht die Behandlung der Sucht selbst bestimmt also die individuelle Therapiezeit, sondern die Erforschung der die Krankheit erst möglich machenden Besonderheiten in der emotionalen Struktur. Ohne deren Diagnostik und „Sanierung" bleibt dem •Rückfall der Boden bereitet. Nach dieser Auffassung verbietet sich jede Schematisierung der Therapie nach Zeit oder Inhalt und auch eine Zweiteilung ( - • E n t z u g und - • E n t w ö h n u n g ) ist nicht

Berufsspezifische Aspekte sachgerecht, obwohl sie gerade so von den Kostenträgern vorgeschrieben werden. 2. Untersuchungsmaterial und -ergebnisse. 2.1 Insgesamt. In 14 Jahren wurden ca. 12000 Patienten behandelt, von denen 2 /3 eine Substanzabhängigkeit hatten. Etwa die Hälfte von diesen wurden auch in der Klinik entgiftet. Bei allen wurden die physikalischen (somatischen) und psychischen B e f u n d e samt ausführlicher Anamnese und die Verläufe, auch unter Zuhilfenahme von •Qualitätssicherungsprogrammen (früher S E D O S , seit einem Jahr ein eigenes, besseres Prog r a m m ) erfaßt. Psychodiagnostisch wurde, entsprechend den beschriebenen Grundannahmen, besonders auf die zur Sucht disponierenden Konstellationen von emotionalen Besonderheiten innerhalb der gesamten emotionalen Struktur focussiert. Dabei wurden (sofem das bei den selbstverständlichen Interferenzen möglich war) persönlich-private und berufsbedingte Ursachen der Suchtentstehung getrennt erfaßt. Bei 78% aller Patienten standen dabei (subjektiv e m p f u n d e n ) emotionale Schwierigkeiten im außerberuflichen Bereich (Partnerschaft, soziales Verhalten) weit im Vordergrund. Den ζ. T. erheblichen, berufsbedingt entstandenen emotionalen Defiziten wurden vor allem deswegen so wenig Bedeutung f ü r die Suchtentstehung zugeschrieben, weil der berufliche Bereich zur rationalen Ebene gerechnet wird, deren Interaktion mit der emotionalen Ebene ganz ungenügend akzeptiert wird. Den wenigsten ist bewußt, daß die emotionale Grundstruktur auch die rationale Handlungsebene beeinflußt. Auf dieser, so meinen viele Betroffene, sei alles durch erlernte, antrainierte Verfahrensweisen (Selbst- und Arbeitsdisziplin, Strukturierung von Abläufen usw.) beherrschbar. Dies führt auch außerhalb der Suchtkrankheiten zu erheblichen psychischen Störungen. In mannigfa-

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Berufsspezifische Aspekte

eher Weise finden sie sich beispielsweise auch bei ungewünschten Versetzungen, Funktionsänderungen im Beruf und bei einem Mißverhältnis zwischen (Eigen-)anspruch und Leistungsvermögen. 2.2 „Curriculum". Dieses Curriculum wurde zunächst für abhängige Ärzte entwickelt, deren Approbation gefährdet war, es wird aber gleichermaßen bei den anderen Berufsgruppen angewendet. Es beinhaltet: - Eine ausreichende und erfolgreiche stationäre Therapie der Abhängigkeit, die Erkundung und, soweit möglich, Sanierung der individuellen emotionalen „Wurzeln" dieser Krankheit. - Eine (bundesweit mögliche) klinikverbundene Nachbehandlung, bestehend aus ambulanter Psychotherapie und Selbsthilfegruppen. - Eine anfangs vierwöchige, später sechswöchige ambulante Vorstellung der Patienten in der Klinik mit psychologischer, klinischer und laborchemischer Kontrolluntersuchung des bisherigen Verlaufes. Über jede Untersuchung wird dem Rekonvaleszenten ein Zertifikat ausgestellt, das die Betroffenen der für sie zuständigen Disziplinarperson persönlich überbringen, wodurch diese einen eigenen Eindruck erhält und psychologisch in das Rehabilitationsverfahren eingebunden bleibt. - Nach Ablauf eines Jahres erfolgt eine epikritische Abschlußbeurteilung. Bei positivem Verlauf schließen die Disziplinarbehörden die Akten. Eben für dieses Ziel ist es erforderlich, daß diese Behörden von Anfang an einbezogen werden und dem Verfahren zustimmen. Sonst könnte es vorkommen, daß auch bei positivem Verlauf die Akten eben nicht geschlossen, sondern das Kontrollverfahren ad infinitum verlängert wird. 3. Einzelne Berufsgruppen 3.1 Ärzte, Zahn- und Tierärzte. Die zahlenmäßig zweitgrößte Gruppe der unter60

Berufsspezifische Aspekte

suchten, abhängigen Patienten sind die Mediziner. Insgesamt wurden bis Ende 1997 mehr als 1120 abhängige Ärzte behandelt. Das liegt unter anderem daran, daß seit 1992 mit den Ärztekammern ein Programm „Hilfe für abhängige Ärzte" inauguriert wurde, das neben einer emotional fundierten, focussierenden Therapie ein strukturiertes Programm („Curriculum") zur beruflichen Rehabilitation (als Teil der Nachsorge) beinhaltet. Es hilft nicht nur den Rekonvaleszenten, sondern auch denjenigen Disziplinarstellen (Approbationsbehörden, Ärztekammern usw.), in deren Verantwortung die Beurteilung beruflicher Wiederverwendbarkeit nach einer Suchtbehandlung liegt. Berufliche Ursachen der Suchtentstehung bei Ärzten: Überlastungen, Kollegen-Mobbing, Karriereschwierigkeiten, existentielle Sorgen (bes. in den letzten 4 Jahren im Bereich der freiberuflich tätigen Ärzte), ethische Probleme, zunehmender Verlust des berufsbedingten Sozialprestiges, mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten, Einschränkungen freien ärztlichen Handelns (z.B. durch Budgetierungen) mit moralischen Bedenken und Frustration gegenüber dem eigenen Anspruch. Zunehmende Juristifizierung ärztlichen Handelns, Zwang, kaufmännisches Denken über ärztliches zu stellen. Besonderheiten im Therapieverlauf: Schwierigkeiten, die Patientenrolle zu akzeptieren, Eigenanspruch, wegen der beruflichen Vorbildung kürzer, besser oder erfolgreicher die Sucht in den Griff zu bekommen, besonders großes Schampotential, Fehleinschätzung der Therapiezeiten und deswegen falsche Terminierung in übrigen Lebensbereichen, Terminschwierigkeiten durch berufliche Belange (z.B. Vertretungen, Quartaisabrechungen), daher gelegentliche Notwendigkeit der TherapiezeitTeilung. Berufsständische Folgen der Suchterkrankung: Bedrohung der Kassenzulassung (bes. seit 1994), der Approba-

Berufsspezifische Aspekte

tion, der Klinikposition (bes. bei leitenden Ärzten) sowie Verlust der Reputation bei Kollegen, in der Gesellschaft und bei Patienten. 3.2 Juristen. Insgesamt wurden 132 Juristen, davon 87 mit gesicherter Medikamenten- und/oder Alkoholabhängigkeit behandelt. Ein Drittel von ihnen waren freiberuflich tätig (Rechtsanwälte), zwei Drittel beamtet oder angestellt (Richter, Staatsanwälte, Industriepositionen). Berufsständische Ursachen der Suchterkrankung: Bei Richtern, seltener bei Staatsanwälten, wurde angegeben, daß sie gezwungen wären Urteile, die sie selbst nicht für gerecht oder für sachlich nicht dienlich halten, zu fällen bzw. zu beantragen, um dem Gesetz Genüge zu tun. Hinzu kommen Sinnprobleme bzgl. ihrer Tätigkeit, kränkende Behandlung durch Vorgesetzte und Dienstherrn. Aus diesen Diskrepanzen (zwischen emotionaler und rationaler Ebene) sind aber nur in zwei Fällen solche Spannungen entstanden, daß sie partieller Grund für die Entstehung einer emotionalen Drucksituation darstellen könnten. Bei Juristen in Handel und Industrie, im Kreditgewerbe usw., fanden sich dieselben beruflichen Schwierigkeiten wie bei leitenden Angestellten: Mangelnde Anerkennung, Karriereschwierigkeiten, emotional nicht akzeptierte Versetzungen, Arbeitsüberlastung (zu exzessiv und zu lange). Bezüglich der Besonderheit des Therapieablaufes fanden sich (wie bei den anderen Berufsgruppen auch) mehr Unterschiede zwischen freiberuflichen und angestellten Juristen als zwischen den hier vorgestellten Berufsgruppen. Freiberufler hatten viel mehr Zeitdruck, kamen mit einem fortgeschritteneren Stand der Suchtkrankheit in die Therapie, konnten sich wegen dieser Umstände dann schlechter emotional einlassen. Juristen neigten öfter als alle anderen Berufsgruppen dazu, die Therapie (Setting, Strukturierung, Inhalt, Erfolgschancen, Kosten-Nutzen-Relation usw.)

Berufsspezifische Aspekte

zu untersuchen, anstatt sich auf sie einzulassen. Das behinderte die Behandlung. Insgesamt fand sich, daß bei Juristen (ebenso wie bei technischen Berufen) eine strikt rationale Ausbildung und Grundeinstellung eine entsprechende „Denkungsart" erzeugt, die den Zugang zur jeweiligen emotionalen Befindlichkeit erschwert. Hinsichtlich der Folgen bestehen weniger Bedrohungen als bei Ärzten. Neben generell drohenden beamtenrechtlichen Konsequenzen (bei Juristen im öffentlichen Dienst) oder arbeitsrechtlichen (bei solchen z.B. in der Industrie) wurden nur wenige Einzelfälle von standesrechtlichen oder juristischen Maßnahmen bekannt. 3.3 Öffentlich Bedienstete (Beamte und andere Staatsdiener). Besondere berufliche emotionale Betroffenheit entstand durch mangelnde Akzeptanz seitens der öffentlichen Meinung, zunehmende Beund Überlastung durch notwendige Rationalisierung, teilweise fehlend empfundene Sinnhaftigkeit des eigenen Arbeitsbereiches. Mobbing in der Kollegenschaft, oft verursacht durch die Konkurrenzsituation bei verminderten Aufstiegschancen, Versetzung gegenwärtig mit ganzen Ministerien, z.B. nach Berlin. Unter den Staatsbediensteten waren die größte Gruppe die Lehrer. Da sie sich generell nicht von anderen Staatsdienern unterscheiden, diese also mit repräsentieren, durch ihre Berufsspezifitäten aber besondere Akzente bezüglich der Suchterkrankungen haben, werden sie einerseits als pars pro toto der Staatsdiener, andererseits als gesonderte Gruppe hier dargestellt. Ähnliches gilt für die Gruppe der Polizisten, die anschließend Erwähnung findet. 3.3.1 Lehrer. Sie stellen die größte Gruppe dar. Insgesamt wurden in diese Untersuchung mehr als 1400 Lehrer einbezogen. Davon bestand bei etwa der Hälfte eine stoffliche Abhängigkeit, zumeist von Alkohol, Medikamenten oder beidem. In weniger als 2% bestanden 61

Berufsspezifische Aspekte (z.T. zusätzliche) Probleme mit illegalen Drogen. Als berufliche Ursachen für eine Sucht wurden genannt: Die Unmöglichkeit, ursprüngliche Ideale (Umgang mit Kindern, Erziehungsaufgaben) umzusetzen, Differenzen zwischen beruflicher Aufgabe und elterlichen Vorstellungen (z.B. in pädagogischen, ethnischen und religiösen Fragen), Mobbing, Einengung in Dienst- und Lehrvorschriften, Überlastung, zu gering e m p f u n d e n e Honorierung, Hilflosigkeit gegenüber zunehmender Gewaltbereitschaft der Schüler (besonders in den letzten sechs Jahren genannt). Gleiche Ursachen wurden auch von der großen Zahl derjenigen Lehrer angegeben, bei denen diese Gründe nicht zu einer Sucht, aber zu psychovegetativen Erschöpfungen (Burn out) geführt hatten. Hinsichtlich des Behandlungsbeginns und der Therapiedurchführung finden sich keine anderen Besonderheiten als die arbeits- oder beamtenrechtlichen. Die Furcht vor den beruflichen Folgen ist größer als tatsächlich begründet. Wie alle Alkoholkranken glauben auch die Lehrer und andere Beamte, daß ihre Sucht bis zur Therapie weitgehend unentdeckt geblieben wäre (es sei denn, Abmahnungen durch einen Vorgesetzten haben stattgefunden). Das kann zu Schwierigkeiten bei der Kostenregelung führen: Wie alle anderen Betroffenen im öffentlichen Dienst werden die Kosten zum Teil von der Krankheitskosten-Beihilfe des Dienstherren getragen. Bezüglich der gesetzlich vorgeschriebenen Verschwiegenheit der Beihilfestellen bestehen häufig Bedenken. Sehr oft k o m m e n Patienten in die Behandlung, bevor der Dienstherr (jedenfalls offiziell) dazu aufgefordert hat. Dann wird befürchtet, daß die Beihilfestelle, um Kostenbeteiligung gebeten, den Dienstherrn benachrichtigt und die Suchterkrankung so erst Eingang in die Personalakten fände. Es wurde kein Fall bekannt, in dem sich diese Befürchtungen bestätigt hätten. Solche Befürch-

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Berufsspezifische Aspekte tungen fanden sich zwar auch bei anderen Staatsdienern, sind aber bei Lehrern besonders häufig vorgekommen und werden deswegen hier erwähnt. Tatsächlich berufliche Folgen sind, eine ausreichende Therapie vorausgesetzt, kaum zu gegenwärtigen. Da jeder Patient letztendlich zu seiner Erkrankung stehen sollte, kann er auch den zu erwartenden Diskussionen um seine Wiedereinsetzbarkeit gelassen entgegen sehen. Ggf. wird das „Curriculum" (s. o.) hier als Hilfe angeboten. 3.3.2 Polizisten. Insgesamt wurden 58 Polizisten aus verschiedenen Bereichen (Polizei, Kripo, Grenzschutz) behandelt. Von ihnen hatten 46 ein Abhängigkeitsproblem. Als berufstypische, emotional wirksame Ursachen wurden der Verlust an Sozialprestige im Laufe der Jahre („Bullen"), mangelnde Akzeptanz seitens der öffentlichen Meinung, die Nichterfüllbarkeit ursprünglicher Ideale, zunehmende Juristifizierung mit Einengung eigenen Handelns einerseits und zunehmenden Ansprüchen der Gesellschaft andererseits, teilweise fehlend e m p f u n d e n e Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit (z.B. wenn kriminalpolizeiliche Arbeit mit Fallklärung geringe oder gar keine juristischen Konsequenzen zeitigte (Rauschgiftdezernate)) genannt, des weiteren Angst (z.B. bei Gewaltanwendungen, Konfrontation mit größeren Gruppen), finanzielle Probleme, Karriereschwierigkeiten, Versetzungen, berufliches Mobbing. A m häufigsten aber lagen die subjektiv am gravierendsten e m p f u n d e n e n Probleme im außerdienstlichen Bereich (Partnerschaften, soziales Umfeld), wobei diese Schwierigkeiten durch schichtwechselnden Dienst, Versetzungen usw. akzentuiert wurden. Hinsichtlich des Therapiebeginns wirkte sich die Furcht, dienstlich, besonders aber bei privaten Bezugspersonen an Prestige zu verlieren (Scham), verzögernd aus. Wie bei anderen Berufsgruppen (z.B. Ärzten) wird offenbar von Polizisten eine ihnen entgegengebrachte Erwartungshaltung der Gesellschaft

Berufsspezifische Aspekte e m p f u n d e n . Es gehört damit (auch) zu ihrem Berufsbild, Vorbild zu sein. Damit läßt sich eine behandlungsbedürftige Sucht schlecht vereinbaren. Der Therapieverlauf verlangt, nachdem dann einmal der A n f a n g gemacht ist, keine Besonderheiten und hinsichtlich der Folgen gelten beamtenrechtliche Verfahrensweisen. Auch hier bewährte sich das o. a. Curriculum. O b es bei diesen Patienten langfristig zu Konsequenzen hinsichtlich der Karriere gekommen ist, ist nicht bekannt. 3.4 Freiberufler, Selbständige. Hier wurden als Ursachen die außerberuflich bedingten emotionalen Probleme (92%) noch größer als im Durchschnitt aller Berufsgruppen angegeben. Zum Selbstbildnis dieser Gruppe gehört es, mehr als bei anderen, a u f k o m m e n d e Probleme jeder Art selbst lösen zu können. Darauf beruht auch ein gewisser Stolz. Die Akzeptanz, von einer Sucht als einem Problem, das man nicht mehr selbst in den Griff bekommen kann, betroffen zu sein, fällt deswegen schwerer und dauert länger. Die Zahl entsprechender Selbstversuche ist höher, die Krankheit bis z u m Therapieeintritt weiter fortgeschritten, die Schwierigkeiten, sich emotional einzulassen, ist größer. Dazu k o m m e n Zeitdruck sowie Sorgen u m parallel laufende Probleme, die tatsächliches oder vermeintliches Handeln erfordern. Zeitliche Therapieteilungen sind häufiger nötig. Die Möglichkeit, unabhängig arbeiten zu können wurde teilweise ausgeglichen durch die Angst vor dem wirtschaftlichen Risiko, insbesondere bei schwieriger werdender Konjunkturlage in vielen Branchen. Dadurch entstehende Sorgen wurden durch Mehrarbeit ausgeglichen. Die Mehrarbeit verursachte sekundär dann wieder eine Überlastung mit dem Gefühl, selten das Ziel erreichen zu können; weitere Mehrarbeit (bei sinkender Effizienz) bis zu völliger Okkupation aller persönlicher Ressourcen führte zusätzlich zu Schwierigkeiten im partnerschaftlichen und im Bereich sozialer Be-

Berufsspezifische Aspekte Ziehungen. Wir finden hier einen höheren Anteil an Burn-out-Patienten, als in anderen Berufsgruppen. D a f ü r sind die negativen beruflichen Folgen der Suchterkrankung - erfolgreiche Behandlung vorausgesetzt - am geringsten von allen Gruppen. Trotzdem wird häufig befürchtet, die an sich eingesehene Notwendigkeit der absoluten Abstinenz aus beruflichen Gründen nicht einhalten zu können, wenigstens nicht ohne (vermeintlich) rufschädigende Offenbarung der Krankheit gegenüber Geschäftsfreunden. Hier wurden Verfahren entwickelt, um diesen Bedenken zu begegnen. Das Problem ist außerdem bei weitem nicht so groß wie von vielen befürchtet. 3. 5 Priester. Insgesamt wurden 28 Priester beider Konfessionen, davon 21 mit Abhängigkeit behandelt. Berufliche Schwierigkeiten, die emotional prägend und abhängigkeitsfördernd wirkten, bestanden als Mitursachen bei fünf Priestern in Schwierigkeiten mit ihrem Glauben, bei 15 Priestern in Differenzen mit der kirchlichen Organisation und deren hierarchischen Strukturen, bei zehn Priestern (Mehrfachgründe möglich) in Schwierigkeiten mit den Gemeinden und bei zwölf Priestern im Gefühl, ursprüngliche seelsorgerische Ideale in der täglichen Arbeit nicht ausreichend umsetzen zu können. Fast alle Priester waren in ihren Gemeinden aufgefallen und/ oder kamen auf Veranlassung bzw. mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Kirchen. Mit einigen Kirchenverwaltungen konnte eine gute Zusammenarbeit aufgebaut werden, um so früh wie möglich eine Therapie beginnen zu können und eine Reintegration zu erreichen. Besonderheiten in der Therapiedurchführung gibt es wegen dieser Umstände kaum. Die Betreuung der Priester während der Behandlung durch einen Beauftragten der Kirche ist relativ eng. Die Kirchenverwaltungen sind sich ihrer Monopolstellung bewußt. Besonderer Druck ist niemals ausgeübt worden. Folgen der Betroffenheit durch eine Sucht haben wir 63

Beruhigungsmittel nur insofern gesehen, als daß Versetzungen, z . B . in eine andere Gemeinde, mehr zum Schutz von Patient und/oder Gemeinde erfolgten. Immer geschah das im Konsens mit den Betroffenen.

Betäubungsmittel bei Ärzten, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Medikamentenabhängigkeit, Lambertus, Freiburg, 1992; 2 0 8 - 2 1 ; Gottschaidt, M „ Alkohol und Medikamente, TRIAS, Stuttgart, 1997; Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F., Psychotherapie im Wandel, Hogrefe, Göttingen, 1994; Körkel, J., Kruse, G., Mit d e m Rückfall leben, Psychiatrie-Verlag, Bonn, 2 1993; Mann, K., Buchkremer, G. (Hrsg.), Sucht: Grundlagen, Diagnostik, Therapie, G. Fischer, Stuttgart, 1996; Schlöter-Dupont, L., Alkoholismus-Therapie, Schattauer, 1990; Seitz, H „ Lieber, C. S„ Simanowski, U. A. (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, Barth, Leipzig, 1995; Soyka, M., Die Alkoholkrankheit - Diagnose und Therapie, Chapman & Hall G m b H , Weinheim, 1995.

4. Zusammenfassung. Es wurden hier die berufsbedingten Anteile der emotionalen Ursachen einer Suchtentstehung untersucht. Bei allen Berufsgruppen sozial gehobener Kreise kann festgestellt werden, daß ein weit überwiegender Teil der Schwierigkeiten außerberuflich begründet wird. Das gilt in der subjektiven Beurteilung und für die daraus resultierende Betrachtungsweise der Suchtkranken. Dabei wird oft nicht realisiert, daß die bei einer Sucht ursächlich betroffene emotionale Ebene wesentlichen Einfluß auf die Leistungen und Kreativität der rationalen Ebene ausübt. Bezüglich der beruflichen Folgen einer Suchterkrankung und der Besonderheiten beim Therapieablauf unterscheiden sich verschiedene Berufsgruppen erheblich. Darauf m u ß vor, während und nach der Therapie Rücksicht genommen werden, teilweise sind individuelle Therapieabläufe nötig. Neben vielen anderen, grundlegenden Entwicklungen zum Therapieinhalt und z u m Krankheitsverständnis wurden variable, den jeweiligen Gegebenheiten anpaßbare Organisationsformen zur Optimierung der Behandlung entwickelt. Oftmals wird ganzen Berufsgruppen eine Therapie dadurch erst rechtzeitig möglich. -*Betriebliche Suchtprävention

Beschaffungskriminalität -•Drogenrecht; •Sucht und Kriminalität

Lit.: Bilitza, K. W. (Hrsg.), Suchttherapie und Sozialtherapie, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1993; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren: Jahrbuch Sucht 1998, Neuland, Geesthacht, 1997; Fengler, J., Sucht und Helfer/in - Abhängigkeiten, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Sucht und Familie, Lambertus, Freiburg, 1993, 36^4-6; Feuerlein, W., Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit, Thieme, Stuttgart, 4 1989; Gottschaidt, M., Mäulen, B., Abhängigkeit

Betäubungsmittel B. ist der Sammelbegriff für die in den regelmäßig aktualisierten Anlagen I, II und III des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) aufgenommenen Wirksubstanzen mit psychotropen, bewußtseinsund stimmungsverändernden Wirkungen, die zu einer psychischen und körperlichen Abhängigkeit führen können und daher Anwendungseinschränkungen und -verboten unterliegen. Die Anlage I führt alle nicht verkehrsfähigen Betäubungsmittel auf, dazu gehö-

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Matthias Gottschaidt t , Hornberg Beruhigungsmittel (Sedativa) B. dämpfen das Nervensystem, ohne einschläfernd zu wirken. Zu den leichteren Beruhigungsmitteln gehören Hopfen- und Baldrianpräparate, zu den schwereren Barbiturate. Die Grenze zwischen Beruhigungs- und Schlafmitteln ist fließend und von der Dosierung abhängig. Medikamentenabhängigkeit

Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ren Cannabis, Heroin, LSD, Mescalin, Ecstasy usw. Die Anlage II enthält die Betäubungsmittel, die zwar verkehrsfähig, aber nicht verschreibungsfähig sind (z.B. Cocablätter) und die Anlage III legt die Betäubungsmittel fest, die verkehrsfähig und verschreibungsfähig sind (Sonderrezeptpflichtigkeit, z . B . Polamidon, Kokain, Opium, Diazepam). •Drogenabhängigkeit; ->Drogenpolitik; - • D r o g e n recht; -•Medikamentenabhängigkeit Betäubungsmittelgesetz (BtMG) Das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln wurde 1994 neu gefaßt und 1996 zuletzt geändert. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit der Unterzeichnung internationaler SuchtstoffUbereinkommen (wie der Single-Convention, dem Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe von 1991) Verpflichtungen eingegangen, die die Schaffung eines eigenen Betäubungsmittelrechts notwendig machten. In den §§ 1 und 2 wird bestimmt, welche Stoffe ( - • B e täubungsmittel) unter das Gesetz fallen bei gleichzeitiger Ermächtigung, durch Rechtsverordnungen neue Stoffe den gesetzlichen Bestimmungen hinzuzufügen. In den §§ 3 - 2 8 wird der legale Verkehr mit Betäubungsmitteln geregelt. Die §§ 29, 29a, 30a und 30b legen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten bei illegalem Handel und unerlaubtem U m g a n g mit Betäubungsmitteln fest. In § 31 wird Strafmilderung oder Absehen von der Strafverfolgung bei freiwilliger Offenbarung des Wissens zur Tataufdeckung, in § 31a das Absehen von der Strafverfolgung bei geringer Schuld des Täters (geringe Mengen zum Eigenverbrauch) ermöglicht, und schließlich mit den § § 3 5 bis 37 wird betäubungsmittelabhängigen Straftätern die notwendige therapeutische Behandlung ermöglicht. -•Betäubungsmittel; -•Drogenpolitik; -•Drogenrecht Betäubungsmittelrezept Die Verschreibung und die Abgabe von Betäubungsmitteln sind in der Betäu-

Betriebliche Suchtprävention bungsmittel-Verschreibeverordnung geregelt. Betäubungsmittel dürfen nur auf einem eigenen Formblatt (dem Betäubungsmittelrezept) verschrieben werden. Jedes Rezept besteht aus einem dreiteiligen Belegsatz, alle Belegsätze sind fortlaufend numeriert, so daß jedes BtM-Rezept eine ihm eigene N u m m e r besitzt. Während ein Teil in der Arztpraxis verbleibt, sind zwei Teile zur Vorlage in der Apotheke bestimmt. Von diesen zwei Teilen verbleibt eines als Nachweis für die korrekte Abgabe in der Apotheke, der andere Teil dient der Apotheke zur Abrechnung mit der Krankenkasse. Betel Die N u ß der Betelpalme (Areca catechu) und Blätter des Betelpfeffers (Piper betle) werden in Indien seit mehr als 1500 Jahren und in Melanesien unter dem Zusatz von Kalk, Tabak und anderen Substanzen als Genußmittel gekaut. Betel ist beruhigend und stimulierend zugleich und ähnelt damit in dem psychischen Effekt dem Tabak (-•Nikotin). -•Drogenpflanzen Betreuung "•Suchtkrankenhilfe Betriebliche Suchtprävention Die Alkoholproblematik am Arbeitsplatz stellt einen wichtigen Teilaspekt der allgemeinen Suchtproblematik dar. Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen der Suchtmittelabhängigkeit sind enorm. Auf den Arbeitsplatz bezogen sind vermehrte Arbeitsunfälle, erhöhte Fehlzeiten, Abnahme der Qualität der Arbeit, der Leistung, Verschlechterung des Betriebsklimas zu nennen. Schätzungen gehen davon aus, daß bei 30% aller Betriebsunfälle Alkohol im Spiel war. Gesamtgesellschaftlich ist Alkohol das bedeutendste Suchtmittel. Deshalb konzentrierte sich betriebliche Suchtprävention in der Vergangenheit hauptsächlich auf das Alkoholproblem. -•Medikamentenabhängigkeit, die Abhängigkeit von sogenannten illegalen

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Betriebliche Suchtprävention Drogen und nicht stoffgebundene Süchte ( ^Arbeitssucht, -»Spielsucht, etc.) gewinnen erst allmählich an Bedeutung. 1. Konsum fördernde und h e m m e n d e Arbeitsbedingungen. Spezifische Arbeitsstrukturen und -bedingungen können den Alkoholkonsum fördern, aber auch hemmen. Wenn Menschen am Arbeitsplatz über längere Zeit Belastungen ausgesetzt sind, wird die physische, psychische und soziale Befindlichkeit beeinträchtigt und Alkohol als „Problemlöser" attraktiv. Als potentiell alkoholkonsumfördernde Arbeitsbedingungen gelten: - Hohe psychische Belastung bei gleichzeitig hohem Handlungsspielraum für die Betroffenen (Leitende Angestellte, Freiberufler, Wissenschaftler etc.); - psychische Unterforderung bei gleichzeitig geringem Handlungsspielraum und geringen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung; - monotone Arbeitsabläufe mit gleichzeitig hohen Anforderungen an die Aufmerksamkeit; - häufig wechselnde Einsatzorte; - wechselnde Arbeitszeiten wie Schichtarbeit. Als Alkoholkonsum h e m m e n d e Arbeitsbedingungen werden genannt: - Arbeitsplatz mit angemessenen Anforderungen; Nähe des Vorgesetzten; - Zusammenarbeit (auch räumlich) mit mehr als vier Kollegen; - Publikumsverkehr und regelmäßige Arbeitsbesprechungen. 2. Programme betrieblicher Suchtprävention. Der Arbeitsplatz ist nicht nur ein Ort der Entstehung und Entwicklung von Alkoholismus, sondern er bietet auch die Möglichkeit, die Alkoholabhängigkeit zu begrenzen, zu verringern und im Optimalfall zu beseitigen. Da sich Arbeitnehmer etwa acht Stunden am Arbeitsplatz aufhalten, ist der zeitliche Rahmen für präventive Maßnahmen gegeben. In der Bundesrepublik be-

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Betriebliche Suchtprävention schäftigen sich über 1000 Betriebe und Verwaltungen mit Suchtproblemen ihrer Mitarbeiter und wie sich diese beheben lassen. Um Unfälle zu verhüten, aber vor allem, um das ökonomische Leistungspotential zu erhalten, versuchen diese Betriebe den Alkoholkonsum ihrer Mitarbeiter zumindest am Arbeitsplatz zu vermindern und Hilfe für Betroffene zu ermöglichen. Die Durchführung eines Alkoholpräventionsprogramms galt besonders in den 80er Jahren für viele Unternehmen als Ausdruck eines guten Führungsstils. Das Modell der betrieblichen Suchtprävention wird in A u f b a u und Ablauforganisation differenziert. -^Prävention 2.1 Historische Entwicklung. In den U S A existieren betriebliche Alkoholprobleme seit den fünfziger Jahren. Die Initiative zur betrieblichen Suchtprävention ging von der starken Abstinenzbewegung und den Anonymen Alkoholikern aus. In der Bundesrepublik Deutschland geht die Entwicklung auf die betriebliche Sozialarbeit zurück, die in einigen deutschen Großunternehmen Tradition hat. Mitarbeiter erhalten im Sinne der Einzelfallhilfe Unterstützung in schwierigen Lebensfragen. Ein wichtiger Teil der Tätigkeit von innerbetrieblichen Sozialarbeitern ist die Unterstützung von Mitarbeitern mit Suchtproblemen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich viel praktisches Wissen darüber, wie derartige Fälle gehandhabt und im Idealfall bewältigt werden können. Als einzeln Handelnde wurden die Sozialarbeiter in das süchtige System involviert und nicht selten zwischen den unterschiedlichen Erwartungen aufgerieben. Durch die Einführung eines Programms löste man sich vom Einzelfallhandeln. Das entsprach einer systematischen Sichtweise der Suchtproblematik und wertete das professionelle Handeln der im Rahmen des Programms tätigen Sozialarbeiter auf. 2.2 Aufbau eines Suchtpräventionsprogramms. Die Aufbauorganisation umfaßt strukturbestimmte Elemente, die für

Betriebliche Suchtprävention das ganze Modell Richtliniencharakter besitzen. Von zentraler Bedeutung sind dabei der Arbeitskreis, der für die Organisation und Koordination des betrieblichen Alkoholpräventionsprogramms verantwortlich ist, und die betriebliche Suchtkrankenhilfe. 2.2.1 Arbeitskreis. Die Bildung eines Arbeitskreises wird als grundlegender Schritt angesehen. Er ist eine Hauptvoraussetzung für die Umsetzung eines integrativen Konzeptes zur betrieblichen Alkoholprävention. Im Arbeitskreis müssen die betrieblichen Entscheidungsinstanzen an einen Tisch k o m m e n und eine Konzeption für ein betriebliches Hilfsprogramm entwickeln, das auf der einen Seite dem Kranken bzw. den alkoholkonsumierenden Belegschaftsmitgliedern und auf der anderen Seite den spezifischen Bedürfnissen und Gegebenheiten des Betriebes gerecht wird. Der Arbeitskreis formuliert die wichtigsten Leitlinien betrieblicher Alkoholprävention und achtet auf ihre Einhaltung. Über Inhalt und Durchführung der Konzeption ist unbedingt Einigung zu erzielen, da der Erfolg von der reibungslosen Zusammenarbeit aller Betriebsbereiche abhängt. Der Arbeitskreis ist Initiator, Organisator und Koordinator aller betrieblichen Aktivitäten. Nach übereinstimmender Meinung aller Fachleute müssen dem Arbeitskreis einflußreiche Personen des Betriebes angehören, um die Mitarbeit der Vorgesetzten und Betriebsräte für das Präventionsprogramm zu sichern. Ihre kooperative Beteiligung ist zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Alkoholprävention. 2.2.2 Suchtkrankenhilfe. Die Funktion des Arbeitskreises ist abzugrenzen von den Aufgaben der Helfer im Betrieb. Die Aufgaben der praktischen Suchtkrankenhilfe werden meist an eine betriebliche Selbsthilfegruppe, an einen Helferkreis, an trockene Alkoholiker oder die betriebliche Sozialberatung delegiert. Für die Arbeit mit den Alkoholabhängigen im Betrieb bestehen verschiedene Konzepte und Formen be-

Betriebiiche Suchtprävention trieblicher Suchtkrankenhilfe. A m häufigsten verbreitet ist die ehrenamtliche bzw. nebenamtliche Hilfe durch ehemalige Alkoholabhängige, aber auch durch sozial engagierte und an der Thematik interessierte Mitarbeiter. Sie können sich zu freiwilligen Suchtkrankenhelfern ausbilden lassen und leisten neben oder während (je nach Vereinbarung) ihrer Arbeitszeit Hilfe im Einzelfall. In größeren Betrieben wird ein Suchtkrankenhelfer für seine Beratungstätigkeiten freigestellt. Eine andere Möglichkeit ist die professionelle Hilfe externer Beratungsstellen. Besonders große Unternehmen und Verwaltungen mit mehreren tausend Mitarbeitern haben Sozialarbeiter oder Psychologen als Suchtberater eingestellt. 2.2.3 Verfügbarkeit von Alkohol. Die Frage der Einschränkung bzw. des Verbotes von Alkohol im Betrieb ist wohl der am meisten umstrittene Punkt bei der Entwicklung eines betrieblichen Alkoholpräventionsprogramms. Eindeutige gesetzliche Regelungen, die das Alkoholtrinken am Arbeitsplatz verbieten, gibt es nicht. Auch die Unfallverhütungsvorschriften ( U V V ) sprechen nicht explizit von einem Verbot. Ein Alkoholverbot ist auf jeden Fall für sich allein nicht geeignet, Alkoholkonsum bzw. -mißbrauch zu verhindern oder einzuschränken. Wer glaubt, Alkoholkonsum und Alkoholismus allein mit Verboten regeln zu können, kapituliert in Wahrheit vor dem Problem. Eine Krankheit hier die Sucht - läßt sich nicht einfach verbieten. Das Ziel einer Prävention ist nicht die Ausgrenzung der Alkoholabhängigen, sondern die Veränderung des Trinkverhaltens und die Minimierung des Alkoholismus. 2.2.4 Betriebs- und Dienstvereinbarung. Die im Arbeitskreis erarbeiteten Konzepte und Hilfsprogramme sollten Verbindlichkeit für alle Organe und Personen eines Betriebes haben. In der Regel geschieht dies durch den Abschluß einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung, dessen Ziel eine gewisse Rechtsverbind-

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Betriebliche Suchtprävention lichkeit für alle im Rahmen des Hilfsprogramms behandelnden und betroffenen Mitarbeiter ist. Personalräte und Vorgesetzte aller Hierarchien werden gleichermaßen zum gemeinsamen einheitlichen Handeln im Sinne der Suchtkrankheit verpflichtet. Bei aller Verbindlichkeit sollte jedoch genug Spielraum sein, um optimal auf jeden Einzelfall eingehen zu können, weil gerade Alkoholproblemfälle meist ihre eigene Charakteristik haben. Eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung sollte nie am Anfang des Implementierungsprozesses stehen. Sie kann immer erst das Ergebnis ausführlicher Diskussionen, Informationen, Schulungen und Aufklärungen sein, denn sie nutzt wenig oder schadet sogar, wenn sie nicht mit Leben ausgefüllt ist, wenn sie nicht von einer breiten innerbetrieblichen Diskussion getragen wird und wenn die durch die Dienstvereinbarung zum Handeln verpflichteten Vorgesetzten und Betriebsratsmitglieder, nicht willens oder in der Lage dazu sind. Mit Dienstvereinbarungen läßt sich kein innerbetrieblicher Widerstand gegen ein Suchtpräventionsprog r a m m umgehen oder brechen. 2.3 Ablauf eines Suchtpräventionsprogramms. Die Ablauforganisation gliedert sich in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Die Suchtpräventionsprogramme der letzten 15 Jahre weisen fast ausnahmslos diese drei Ebenen auf. Dabei ist von Bedeutung, daß ein Prog r a m m auf allen Ebenen gleichzeitig wirkt und die Veränderung von Verhalten und Verhältnissen zum Ziel hat. 2.3.1 Primärprävention. Die Primärprävention hat die Aufgabe, im gesamten Betrieb alkoholbedingte Schäden prophylaktisch zu vermeiden und Mißbrauch und Abhängigkeit zu verhindern. Wenn Alkohol am Arbeitsplatz kontraproduktiv und daher unerwünscht ist, dann m u ß Prävention zur Alkoholprophylaxe eine Verhaltensveränderung bewirken. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung sind Information und Aufklärung über Alkoholprobleme und

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Betriebliche Suchtprävention -mißbrauch, die Förderung des Gesundheitsbewußtseins und die Schulung bzw. Weiterbildung bestimmter betrieblicher Gruppen wie Vorgesetzte, Personalräte, betriebsärztlicher Dienst. Das langfristige Ziel besteht darin, mit Hilfe von Informationsvermittlung Lernprozesse zu initiieren, um ein Klima der Aufgeschlossenheit gegenüber alkoholbedingten Problemen zu schaffen und deren Entstehung zu verhindern. Das beste Präventionsprogramm bleibt wirkungslos, wenn Vorgesetzte nicht befähigt werden, es umzusetzen. Eine erfolgreiche Durchführung des Programms setzt eine ausführliche Schulung der Vorgesetzten voraus, da eine effektive Zusammenarbeit dieser Personen mit einer gemeinsamen Informationsbasis besser erreicht werden kann. Der Schulungsinhalt muß auf das betriebliche Präventionskonzept abgestellt sein. Die mit Schulungsmaßnahmen angestrebte Erhöhung der individuellen, sozialen und organisatorischen Kompetenz im Umgang mit Alkohol erfordert ein langfristig angelegtes Gesamtprogramm betrieblicher Alkoholprävention. 2.3.2 Sekundärprävention. Ziel der Sekundärprävention ist, die Krankheitsentwicklung frühzeitig zu erkennen und eine rechtzeitige Behandlung zu fördern. Der Arbeitsplatz ist ein bevorzugter Ort der Früherkennung und Frühintervention bei Alkoholproblemen, da hier relativ klar formulierbare Leistungsanforderungen vorliegen. Diese werden bei fortgesetztem Alkoholkonsum früher oder später deutlich gestört, so daß im Betrieb nicht nur die Gelegenheit, sondern auch die Verpflichtung erwächst, zu intervenieren. Insbesondere die Vorgesetzten haben im Rahmen der betrieblichen Suchtprävention die Aufgabe, Arbeits- und Leistungsstörungen auf einen möglichen Zusammenhang mit Alkoholmißbrauch zu überprüfen und gegebenenfalls frühzeitig anzusprechen. Das Ziel der betrieblichen Maßnahmen besteht darin, den Alkoholiker zur Behandlung seiner Krankheit zu be-

Betriebliche Suchtprävention

Betriebliche Suchtprävention

wegen. Das gelingt jedoch nur, wenn der Leidensdruck im Betrieb für den Betroffenen höher ist als der subjektive Gewinn aus dem Alkoholkonsum. Dabei darf unter konstruktivem Leidensdruck nicht einseitig repressives Handeln verstanden werden. Vielmehr geht es darum, dem Abhängigen seine Lage deutlich vor Augen zu führen, klare realistische Forderungen zu stellen, Fehlverhalten sachlich aufzuzeigen und eigenverantwortliches Handeln einzufordern. Über eine ständige Rückkopplung soll ihm die Diskrepanz zwischen seiner Selbstwahrnehmung und der Tatsache, wie Kollegen und Vorgesetzte ihn erleben, deutlich werden („Damit Sie sehen, was wir sehen."). Ein bewährtes Konzept, um sowohl die therapeutischen Anforderungen als auch die betrieblichen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen beim Umgang mit Alkoholikern zu gewährleisten, sind abgestufte Vorgehensweisen, die in der Praxis als ,Stufenplan' oder ,Interventionskette' bezeichnet werden. Das Globalziel aller betrieblichen Interventionen ist die Beendigung des problematischen Trinkverhaltens, damit der Betroffene seiner Ar-

beitsverpflichtung wieder nachkommen kann und seine Gesundheit im Betrieb nicht weiter gefährdet. Dazu ist die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, Voraussetzung. Dies wird durch eine Reihe abgestuft wirkender Maßnahmen gefördert, die dem Betroffenen die Unangemessenheit seines Verhaltens einsichtig machen sollen. Mit jedem einzelnen Schritt wird der konstruktive Leidensdruck verstärkt. Dabei wird die betriebliche Kritik mit Sanktionen untermauert. Gleichzeitig werden die Hilfsangebote aufgezeigt und mit den Sanktionen gekoppelt. Durch die nachgewiesenermaßen erfolgreich in Anspruch genommene Hilfe kann der Betroffene die angedrohte Sanktion vermeiden. Im Mittelpunkt aller Interventionen steht das Gespräch. Da dieses Gespräch zweck- und zielgebunden ist, wird es vielfach als Konfrontationsgespräch bezeichnet: Der betroffene Mitarbeiter soll mit den Arbeits- und Leistungsstörungen und dem vermuteten Zusammenhang zu seinem Alkoholmißbrauch konfrontiert werden. Konfrontationsgespräche werden in jeder einzelnen Stufe geführt. Von besonderer Bedeutung für das Einleiten

Beispiel für einen Stufenplan

1. Schritt

Gesprächsteilnehmer

Inhalt/Konsequenz

Hilfe/Auflage

Mitarbeiter, Vorgesetzter, evtl. Betriebsrat.

Zusammenhang zwischen Arbeitsstörungen und Alkoholkonsum herstellen.

Hinweis auf Suchtkrankenhilfe.

Wie oben. Vermerk in der Personalakte. Androhung einer Abmahnung.

Verpflichtung, eine Beratungsstelle aufzusuchen.

Auf Nichtannahme der Hilfe hinweisen. 1. Abmahnung.

Sofortige Behandlung.

2. Abmahnung und Kündigungsandrohung.

Stationärer Entzug und Entwöhnungsbehandlung.

Kündigung mit Wiedereinstellungsangebot nach erfolgreicher Behandlung.

Stationäre Entwöhnungsbehandlung.

Bei erneuter Auffälligkeit 2. Schritt

MA, VG, BR, höherer Vorgesetzter

Bei erneuter Auffälligkeit 3. Schritt

Wie oben und Personalleitung.

Bei erneuter Auffälligkeit 4. Schritt

Wie oben.

Bei erneuter Auffälligkeit 5. Schritt

Wie oben.

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Betriebliche Suchtprävention und Gelingen der Hilfsmaßnahmen ist das Erstgespräch. Es ist in der Regel von dem unmittelbaren Vorgesetzten des auffälligen Mitarbeiters zu führen. 2.3.3 Tertiärprävention. Die Nachsorgephase zielt darauf ab, die in der Therapie entwickelten Ansätze zu vertiefen bzw. zu erweitern und damit die möglichen Folgeschäden für den Betroffenen und sein Umfeld zu vermeiden sowie das Rückfallrisiko zu minimieren (siehe Rehabilitation). Die betrieblichen Stellen (Personalabteilung, Vorgesetzte, Personalrat, Suchtkrankenhelfer etc.) streben die Wiedereingliederung des Mitarbeiters an und bereiten diese vor. Wichtig für eine erfolgreiche Reintegration am Arbeitsplatz ist der Kontakt mit der Behandlungseinrichtung und dem Betroffenen noch während der Therapie. Das Umfeld, in das der Betroffene integriert werden soll, spielt für den Behandlungserfolg eine wichtige Rolle. Besondere Beachtung ist der Vorbeugung und dem Auftreten von Rückfällen zu schenken. Aufgrund der Rückfallgefährdung gibt es in größeren Unternehmen Selbsthilfegruppen (siehe Selbsthilfegruppen). 3. Schlußbemerkung. Ein betriebliches Suchtpräventionsprogramm eröffnet nicht nur Chancen, sondern hat auch eindeutige Grenzen. Im Hinblick auf die Verschiedenheit der Betriebe und der individuellen Problemstellungen m u ß festgehalten werden, daß es das für alle Betriebe gültige Präventionsprogramm nicht gibt. Vielmehr ist es aufgrund der Bedingungen notwendig, ein auf den jeweiligen Betrieb abgestimmtes Konzept struktureller, kommunikativer und individueller Maßnahmen einzuführen, das in Bezug auf seine Wirksamkeit beobachtet und schrittweise verbessert wird. Wer Alkoholmißbrauch am Arbeitsplatz beseitigen und Alkoholkranken helfen will, m u ß überlegt, systematisch und angemessen handeln. Gutgemeinte Einzelaktionen sind nicht hilfreich, sondern nur aufeinander abgestimmte Maßnahmen, die das besondere Krankheitsbild be-

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Betriebliche Suchtprävention rücksichtigen. Nach allgemeiner Erfahrung dauert es nicht selten mehrere Jahre, bis die Widerstände im Betrieb soweit abgebaut sind, daß über Alkoholprobleme offen gesprochen und Hilfsmaßnahmen auch ohne Druck angenommen werden. Der Erfolg eines betrieblichen Alkoholpräventionsprogramms zeigt sich in einer allgemeinen Sensibilisierung gegenüber der Problematik, einer Veränderung im U m g a n g mit Alkoholauffälligen, einem frühzeitigen und kompetenteren Eingreifen der Vorgesetzten bei Alkoholauffälligkeiten, einer Veränderung der Trinkkultur und der A b n a h m e co-alkoholischer Verhaltensweisen. In den letzten Jahren wird die betriebliche Suchtprävention vermehrt als ein Modul globaler Konzepte, wie der Gesundheitsförderung oder Mitarbeiter Unterstützungsprogrammen (EAP), umgesetzt. Die Frage nach der Übertragbarkeit des Alkoholpräventionsprogramms auf andere Süchte ist nicht eindeutig zu beantworten. In einem globalen Suchtpräventionsprogramm können und sollten sogar andere stoffgebundene und auch nicht stoffgebundene Süchte bei den primär- und teritärpräventiven M a ß n a h m e n berücksichtigt werden. Die sekundärpräventiven Hilfsmaßnahmen müßten der speziellen Problematik angepaßt werden. So ist die „heimliche Sucht" Medikamentenabhängigkeit für einen Vorgesetzten kaum zu erkennen. Der Konstruktive Leidensdruck ist bei jeder Sucht hilfreich. Bezogen auf die nicht stoffgebundenen Süchte ist allerdings zu fragen, ob dieses Handeln im Arbeitskontext angemessen ist. Ein schrittweises Vorgehen ist sicher sinnvoll, ob dies jedoch in einem Stufenplan festgeschrieben werden sollte, ist eher kritisch zu bewerten. Lit.: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS): Alkoholprobleme am Arbeitsplatz. Informationen & Hilfen. Kassel (3) 1990; Dietze, K „ Alkohol und Arbeit. Zürich 1992; Feser, H., U m g a n g mit suchtgefährdeten Mit-

Bewußtseinserweiterung arbeitem. Heidelberg 1997; Landesverband Westfalen-Lippe: Alkohol und andere Suchtmittel am Arbeitsplatz. Münster 1993; Mühlbauer, H„ Kollege Alkohol. München 1986; Rußland, R„ S. Plogstedt: Sucht - Alkohol und Medikamente in der Arbeitswelt. Frankfurt am Main 1986; Ziegler, H., Alkoholismus in der Arbeitswelt. Hamburg 1984; Ziegler, H., Alkoholprobleme am Arbeitsplatz. In: Personalführung. 1990, Nr. 7, S. 460-463. Henno Wiesner, Lüneburg Bewußtseinserweiterung Die B. zeichnet sich z.B. durch visuelle oder akustische Imaginationen aus, u. U. auch durch die Verstärkung von unterdrückten Erlebniswelten. Sie kann durch Fasten, Meditation, rituellen Tanz u. a. erreicht werden, wird von LSD- und Halluzinogenkonsumenten aber auch immer wieder als Folge des Drogenkonsums bezeichnet. Der Gebrauch mit dem Ziel der B. setzt allerdings Faktoren voraus, die von Konsumenten häufig nicht beachtet werden, dazu gehört auch ein zeitlicher Abstand von mehreren Wochen zwischen dem Konsum; die Auswahl geeigneter Räumlichkeiten und Begleiter, die Einbettung des Gebrauchs in einen Ritus und die Möglichkeit, die Erfahrungen zu verarbeiten und sich wieder auf einen normalen Wachzustand einzustellen. Man kann davon ausgehen, daß Mißbraucher und Abhängige diese Faktoren nicht berücksichtigen. •Magische Pflanzen Bilsenkraut Das B. aus der Familie der -•Nachtschattengewächse, enthält in den stark giftigen Samen und Blättern mehrere •Alkoaloide, u. a. Hyoscymin und Atropin, die in starken Dosen Rauschzustände bewirken. -»Drogenpflanzen; -•Magische Pflanzen Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche Deutschland e.V. - Bundesverband Das Blaue Kreuz in der Evangelischen Kirche (BKE) versteht sich als eine

Blaues Kreuz in Deutschland e.V. Selbsthilfeorganisation der Suchtkrankenhilfe. Ihm angeschlossen sind Selbsthilfe- und Abstinenzgruppen, die überwiegend eng mit den Kirchengemeinden vor Ort zusammenarbeiten. Der Verband arbeitet in Gruppengemeinschaften an der Lösung und Linderung von Problemen, die sich aus dem Mißbrauch von Alkohol und anderen Suchtmitteln, auch nichtstoffgebunden (z.B. Spielsucht), für die Betroffenen und die Angehörigen ergeben, mit dem Ziel, eine zufriedene Abstinenz zu erreichen. Mitglied im BKE kann jede Person werden, die bereit ist, vom eigenen Suchtmittel abstinent zu leben. Das BKE bietet vertrauliche Gespräche mit Suchtkranken und Angehörigen im Rahmen von Gruppen- und Einzelberatung. Kern der Arbeit des Blauen Kreuzes in der Evangelischen Kirche ist die Gruppe, die sich als Lern- und Arbeitsgemeinschaft versteht und nach einem bestimmten Stufenprogramm arbeitet, das in der Regel mit der ersten Kontaktaufnahme bis zur Motivation für eine Therapie beginnt und mit der Nachsorge fortgesetzt wird. Suchterkrankung wird als „Familienkrankheit" verstanden. Daraus folgt, daß möglichst alle Familienmitglieder in die Gruppenarbeit einbezogen werden. Die Gruppen vor Ort sind in Landesverbänden und Regionen zusammengeschlossen, die mit dem Bundesverband die notwendige Praxisbegleitung und die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter garantieren. -»Abstinenzbewegungen Anschrift: An der Marienkirche 19, 24768 Rendsburg, Tel.: 0 43 31/5 90-3 81, Fax: 04331/590-387, e-mail: [email protected] - http://www. blaues-kreuz.org Blaues Kreuz in Deutschland e.V. Das Blaue Kreuz wurde 1877 in Genf gegründet. Darauf folgend bildeten sich in anderen Ländern Europas, Afrikas und Asiens Blaukreuz-Verbände. In Deutschland wurde 1885 der erste Blaukreuz-Verein durch Pfarrer Arnold Bo71

Blutalkoholkonzentration (BÄK) vet in Westfalen gegründet. Das Blaue Kreuz in Deutschland e. V. sieht seine A u f g a b e darin, Suchtgefährdeten und ihren Angehörigen umfassend zu helfen. Grundlage der Arbeit ist der christliche Glaube. Information, Therapie und Rehabilitation findet im Sinne biblischer Seelsorge statt. Aus der Zusammenarbeit der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter mit Beratungsstellen, Fachkrankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen des Blauen Kreuzes und anderer Träger entsteht ein Behandlungsverbund bestehend aus Erstkontakt, Beratung, Begleitung, Fachbehandlung, Nachsorge und Freizeitangeboten. Die entscheidende Arbeit gestaltet sich in den Vereinen und Gruppen, die in Landesverbänden zusammengeschlossen sind. Weitere Schwerpunkte der Arbeit sind Kinder- und Jugendgruppen sowie Öffentlichkeitsarbeit, die vor allem prophylaktische Ziele verfolgen. Der verbandseigene Verlag verlegt Literatur zur Glaubens- und Lebenshilfe. ->• Abstinenzbewegungen Anschrift: Freiliggrathstr. 27, 43389 Wuppertal, Tel.: 0 2 0 2 / 6 2 0 0 3 0 , Fax: 0202/6200381, email:[email protected] - http://www.blaues-kreuz.de Blutalkoholkonzentration (BÄK) 1. Akute Vergiftungen durch Alkohol (Ethanol). Zunächst gilt es zwei wichtige Hinweise zu beachten: Erstens zeigen die Erfahrungen zahlreicher Intensivmediziner deutlich, daß bei vielen Patienten kein Alkoholgeruch bei der Aufnahme feststellbar war, obwohl dann eine hohe B. nachgewiesen wurde. Das Fehlen einer sog. „Alkoholfahne" spricht vor allem bei bewußtlosen Patienten keinesfalls gegen eine schwere Alkoholintoxikation. Ursachen für das Fehlen einer Alkoholfahne können beispielsweise sein: der geringe Eigengeruch reinen Alkohols, der Mangel an typischen Aromastoffen oder die oberflächliche Atmung des Patienten. Auch die Beeinträchtigung des Riechvermögens des Beobachters durch Erkältungs72

Blutalkoholkonzentration (BÄK) krankheiten oder andere Einschränkungen können zu Verzerrungen führen. Andererseits kann bereits durch den G e n u ß geringer Alkoholmengen (z.B. eines Schluckes Bier) unter Umständen eine starke Alkoholfahne verursacht werden. Es ist zweitens schwierig und problematisch, eine bestimmte Symptomatik einer bestimmten B. zuzuordnen. Zuordnungstabellen (s. Tabelle 1) sind sicher zur Orientierung hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen einer bestimmten B. (bzw. Serumalkoholkonzentration) und den häufig zu erwartenden Ausfallerscheinungen (Leistungseinbußen) geeignet. Andererseits werden ständig auch Ausnahmen von diesen mehr oder weniger groben Zuordnungsregeln beobachtet. Die Ausprägung der Symptome wird von zahlreichen individuellen, physischen und psychischen Faktoren beeinflußt, wie z.B. Alter, Geschlecht, Konstitution, Ermüdung, Alkoholentwöhnung, insbesondere genetisch bedingte Alkoholüberempfindlichkeit, Anflutungs- oder Eliminationsphase. Ähnliche Symptome können auch durch andere, nicht alkoholbedingte Ursachen wie z.B. Medikamenten· und Drogeneinwirkung, Stoffwechselentgleisungen oder SchädelHirn-Traumata (SHT) hervorgerufen werden. 2. Näherungsweise Berechnung der B. aus Angaben zu Getränkearten, Trinkmengen und Trinkzeiten. Es besteht die Möglichkeit, eine B. rein rechnerisch abzuschätzen. Dies ist beispielsweise dann erforderlich, wenn keine Blutprobe entnommen werden konnte oder der zeitliche Abstand zwischen Vorfall und möglicher Blutentnahme so groß ist, daß die Alkoholbestimmung der Blutprobe kein verwertbares Ergebnis mehr liefert. Allerdings ist man bei derartigen Berechnungen darauf angewiesen, den Trinkablauf möglichst genau zu rekonstruieren, was in vielen Fällen nachträglich kaum mehr möglich ist, da diesbezügliche Aussagen (etwa von Angehöri-

Blutalkoholkonzentration (BÄK)

Blutalkoholkonzentration (BÄK)

Tabelle 1: Häufig beobachtete Stadien der Alkoholeinwirkung (nach Schwerd 1979) Alkoholkonzentration Blut [g/kg] = Promille

Stadium der Alkoholisierung

Symptome

meist klinisch keine auffälligen Veränderungen (außer bei Intoleranz)

0-0,5 0,5-1,5

leichte Trunkenheit

Euphorie, Kritikschwäche, Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, Antriebsvermehrung, Rededrang, leichte Gleichgewichtsstörung, Pupillenreaktion verlangsamt, Nystagmus, Spinalreflex abgeschwächt

1,5-2,5

mittlere Trunkenheit

Symptome von Stadium 2 verstärkt, dazu Sehstörungen, Gehstörungen, Distanzlosigkeit, Uneinsichtigkeit

2,5-3,5

schwere Trunkenheit

starke Geh- und Sprechstörungen (Torkeln, Lallen), zunehmende psychische Verwirrtheit, Orientierungsstörungen, Erinnerungslosigkeit

über 3,5

schwerste Trunkenheit

unmittelbare Lebensgefahr, Bewußtsein meist stark getrübt bis aufgehoben, „alkoholische Narkose", Reflexlosigkeit, Gefahr von Aspiration von Erbrochenem und des Erstickens in hilfloser Lage, häufig Tod durch Unterkühlung oder Atemlähmung

gen) oft sehr lückenhaft und divergent sind. Grundlage für die Berechnung ist die Widmark-Formel: A = c χ ρ χ r, wobei A die im Organismus befindliche Alkoholmenge in Gramm (mit Ausnahme der evtl. noch nicht resorbierten Menge), c die B. (in Gramm Alkohol pro kg Blut = Promille [%c]), ρ das Körpergewicht in kg und r den Reduktionsfaktor oder Verteilungsfaktor bedeuten, r hängt hauptsächlich von der Konstitution ab. Personen mit relativ hohem Fettgewebsanteil (Pykniker, konstitutionsmäßig auch die meisten Frauen) haben einen relativ niedrigen r-Wert (0,55 bis 0,60) und damit bei sonst gleichen Parametern in der Widmark-Formel eine höhere B., während hagere Personen (Leptosome) u. U. einen r-Wert von 0,8 aufweisen können. Für eine männliche Person „normaler Konstitution" bringt eine Rechnung mit r = 0,7 meist experimentell gut zu bestätigende Werte. Die Widmark-Formel in der obigen Form kann (näherungsweise) zur Berechnung der resorbierten Alkoholmenge dienen, wenn c, ρ und r bekannt sind. Nach Umformung zu c = Α : ρ χ r kann man umgekehrt die B. berechnen, wenn

die aufgenommene Alkoholmenge A, das Körpergewicht ρ und der Verteilungsfaktor r bekannt sind. Hierzu ist es erforderlich, den Alkoholgehalt der Getränke zu kennen. Einige Werte sind in Tabelle 2 enthalten. Tabelle 2: Alkoholgehalt von Getränken (Auswahl). Die Werte sind gemittelt und gerundet (aus Schütz (1983)) Getränkeart und Menge

Alkoholgehalt

1 L Export- oder Pilsbier dementsprechend: 1 Flasche zu 0,5 L 1 Flasche zu 0,33 L 1 Glas Bier zu 0,4 L 1 Glas Bier zu 0,2 L 1 L Wein (leicht) 1 L Wein (mittel) 1 L Wein (schwer)

ca. 4 0 g ca. ca. ca. ca. ca. ca. ca. ca. ca.

20 g 13 g 16 g 8 g 55-75 g 75-90 g 90-110 g 250 g 5 g

1 L Korn (32 Vol.-% 2 cL = 0,02 L = 20 mL 1 L Doppel korn oder Weinbrand (38 Vol.-%) ca. 300 g 2 cL = 0,02 L = 20 mL ca. 6 g 1 L Whisky (43 Vol.-%) ca. 340 g Obstbrände und Liköre (in der Regel zwischen 20 und 50 Vol.-%) Umrechung: Vol.-% χ 0,79 Gramm Alkohol pro 100 m L Beispiel: 38 Vol.-% χ 0,79 = 30 Gramm Alkohol pro 100 mL

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Blutalkoholkonzentration (BÄK) Ein Rechenbeispiel soll die Anwendung der Widmark-Formel verdeutlichen: Trinkt ein Kind (10 kg Körpergewicht; r = 0 , 7 ) 2 große Eßlöffel (Trinkvolumen 30 m L ) einer alkoholhaltigen Tinktur mit 62 Vol.-% (entsprechend 500 g Alkohol pro Liter), so läßt sich nach der Widmark-Formel folgende maximale B. berechnen: 15 g Alkohol: 10 kg Körpergewicht χ 0,7 = 2,l%o (g Alkohol pro kg Blut). Bei einer erwachsenen männlichen Person mit einem Körpergewicht von 70 kg würden dagegen nur etwa 0,3%c (g Alkohol pro kg Blut) erreicht. Das Beispiel zeigt deutlich, daß auch kleinere Alkoholmengen für Kinder höchst gefährlich sein können ( •Kindheit). Weitere Einzelheiten, Rechenbeispiele und umfangreiche Tabellen enthält eine Monographie (Schütz 1983). 3. Die Rückrechnung. Die in der Blutprobe gemessene Alkoholkonzentration bezieht sich auf den Zeitpunkt der Blutentnahme. Liegt zwischen der zu einem späteren Zeitpunkt erfolgten Blutentnahme und einer zu beurteilenden Situation (z.B. Unfall oder Klinikaufnahme) ein längerer Zeitraum, so m u ß zu der in der Blutprobe festgestellten Alkoholkonzentration ein Wert hinzugerechnet werden, der der linearen Elimination des Alkohols bis zu dieser Zeit entspricht. Voraussetzung ist allerdings, daß der Zeitpunkt, auf den zurückgerechnet wird, nicht mehr in der Resorptionsphase lag. Der gesicherte MindestRückrechnungswert beträgt pro Stunde 0,1 Promille (%o), der mögliche Höchstwert 0,2 bis 0,3%c pro Stunde. Der wahrscheinliche Wert ist mit etwa 0,15%o pro Stunde Rückrechenzeit anzusetzen; er liegt beim Alkoholiker jedoch mit Sicherheit etwas darüber (etwa 0,17 bis 0,18%e pro Stunde). Die im forensischen Bereich häufig geforderten Extremwerte der Rückrechnung spielen für klinischtoxikologische Betrachtungen allerdings kaum eine Rolle. Man erhält einen sehr realitätsbezogenen Wert für die B., wenn man einen stündlichen Abbauwert

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Blutalkoholkonzentration (BÄK) (Rückrechnungswert) von etwa 0,15%c zugrunde legt. 4. Die Blutalkoholbestimmung für forensische (gerichtliche) Zwecke (->Forensik). 4.1 Bedeutung und Umrechnung. Forensische Fragestellungen betreffen vor allem die Beurteilung von Verkehrsteilnehmern sowie von alkoholisierten Straftätern (andere Delikte) in Bezug auf die Schuldfähigkeit. Oft ist auch bei Verkehrsdelikten neben der Fahrtüchtigkeit die Schuldfähigkeit (z.B. bei Unfallflucht) zu beurteilen. Wichtig ist die Umrechnung von der Serumalkoholkonzentration auf die B., da letztere der Rechtsprechung zugrundeliegt. Wird der Alkoholgehalt im Serum gemessen, so ist der Wert durch 1,2 zu dividieren, um die B. zu erhalten. Gegenwärtig existieren folgende rechtserhebliche Grenzwerte für die Blutalkoholkonzentration: - ab 0,39k B Ä K : Verurteilung wegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit grundsätzlich möglich, falls Ausfallerscheinungen vorliegen. - ab 0,5%o B Ä K oder 0,25 m g / L A A K (= Atemalkoholkonzentration): Ordnungswidrigkeit, die mit Geldbuße und Punktebewertung (z. Zt. 2 Punkte im Verkehrszentralregister) geahndet wird. Beim Vorliegen von Ausfallserscheinungen auch Verurteilung wegen relativer Fahruntüchtigkeit mit Entzug der Fahrerlaubnis und Geldstrafe, u. U. auch Freiheitsstrafe. - ab 0,8%c B Ä K oder 0,40 mg/L A A K : Sog. Allgemeiner Gefahrengrenzwert; in j e d e m Fall Ordnungswidrigkeit, die mit Geldbuße und Fahrverbot geahndet wird, beim Vorliegen von Ausfallerscheinungen auch Verurteilung wegen relativer Fahruntüchtigkeit mit Entzug der Fahrerlaubnis und Geldstrafe, u. U. auch Freiheitsstrafe. - ab l , l % c B A K : Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit, Ausfälle müssen nicht mehr nachgewiesen werden, Entzug der Fahrerlaubnis und erheb-

Blutalkoholkonzentration (BÄK)

liehe Geldstrafe, u. U. auch Freiheitsstrafe. - ab l,6%c BÄK: In vielen Bundesländern Wiedererteilung der Fahrerlaubnis erst nach Medizinisch-Psychologischer-Untersuchung (MPU). 4.2 Qualitätssicherung. Die dargelegten Grenzwerte machen deutlich, daß beispielsweise bei folgenloser Trunkenheitsfahrt eine B. von 1 , 0 9 % o „lediglich" zu einem Fahrverbot von etwa 4 Wochen führt, während ein Wert von 1,10%o unweigerlich einen mehrmonatigen Entzug der Fahrerlaubnis und eine wesentlich höhere Geldstrafe zur Folge hat. Bedenkt man diese und andere Konsequenzen, die eine fehlerhafte Blutalkoholbestimmung nach sich ziehen kann, so ergibt sich zwangsläufig die Forderung nach einer bestmöglichen Sicherung der Analysenresultate. So müssen im Bereich der forensischen Alkoholbestimmung stets 2 Verfahren eingesetzt werden, denen ein unterschiedliches Meßprinzip zugrundeliegt. Meist wird die Gaschromatographie mit einer enzymatischen Methode (Alkoholdehydrogenase = ADH) kombiniert; daneben findet auch die Mikrodestillation (Verfahren nach WIDMARK und VIDIC) vereinzelt noch Anwendung. Bei der Verwertung der Analysenergebnisse für das Sachverständigengutachten ist von dem arithmetischen Mittel aller erhaltenen Einzelergebnisse (Mittelwert) auszugehen. Es ist nicht vertretbar, nur einen der 4 oder 5 Einzelwerte (ζ. B. den niedrigsten) der Beurteilung zugrunde zu legen. Um Analysenergebnisse mit zu großer Streuung der Einzelwerte aus der Verwertung für die Gutachten auszuschließen, ist es notwendig, die Variationsbreite (Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Einzelergebnis) zu begrenzen. Die Richtlinien des Bundesgesundheitsamtes (BGA, jetzt Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) gestatten bei B. über 1,0%c eine maximale Variationsbreite von 10% des Probenmittelwertes, bei B.

Blutalkoholkonzentration (BÄK)

unter \%c jedoch einheitlich eine maximale Variationsbreite von 0,10%o, um den größeren Schwierigkeiten bei der Bestimmung geringer Konzentrationen Rechnung zu tragen. Beispiel: Die 5 Einzelwerte l,24%c, l,56%o, 1,86%'c, 2,34%o und 2,56%o ergeben den Probenmittelwert l,91%c, die Variationsbreite beträgt jedoch l,32%c und ist somit viel zu hoch, denn sie hätte (bei einem Probenmittelwert über 1,0) höchstens 0,19%c (das sind 10% des Probenmittelwertes) betragen dürfen. Den Richtlinien des BGA würde dagegen beispielsweise die Serie 1,84%c, l,87%o, l,90%o, 1,95%c und l,99%o genügen, da hier bei einem Probenmittelwert von ebenfalls l,91%cdie Variationsbreite nur 0,15%c beträgt. Für ein mit modernen Geräten ausgestattetes „Blutalkohollabor" sollte aber bereits diese relativ hohe (wenngleich noch zulässige) Variationsbreite Anlaß sein, die Ergebnisse zu verbessern. Zur Kontrolle der an einem Tag anfallenden Analysenergebnisse sind täglich mehrere Testalkohollösungen mitzuführen, darunter auch alkoholfreie (interne Qualitätskontrolle). Über alle Meßwerte, die bei den Analysen gewonnen werden, sind fortlaufende Protokolle zu führen, die mindestens 10 Jahre aufzubewahren sind. Nach der Probennahme sind die Venülen sofort wieder zu verschließen und bei Kühlschranktemperatur mindestens 2 (neuerdings 3) Jahre aufzubewahren. Weitere Einzelheiten (insbesondere das umfangreiche statistische Zahlenmaterial) können den Gutachten des BGA entnommen werden. 4.3 Externe Qualitätskontrolle (Ringversuche). Seit längerer Zeit wird die Blutalkoholbestimmung in zahlreichen Laboratorien zusätzlich noch nach den Methoden der externen Qualitätskontrolle abgesichert. In ausgewählten Referenzlaboratorien wird zunächst eine Blutoder Serumprobe untersucht, um den Sollwert zu ermitteln. Erst wenn dieser Sollwert, der dem stets unbekannten 75

Blutalkoholkonzentration (BÄK) „wahren Wert" aufgrund statistischer Überlegungen sehr nahe kommt, festliegt, wird das gleiche Untersuchungsmaterial an die einzelnen Teilnehmer des „Ringversuchs" versandt, wobei den Untersuchungsstellen der vorher von den Referenzlaboratorien ermittelte Wert der B. unbekannt ist. Die Ringversuchsteilnehmer werden aufgefordert, das Material zu analysieren und die ermittelte Alkoholkonzentration bis zu einem bestimmten Termin schriftlich mitzuteilen. Hierbei ist völlige Anonymität der Laboratorien untereinander gewährleistet. Die Ergebnisse aus den einzelnen Laboratorien werden sodann statistisch ausgewertet, und jeder Versuchsteilnehmer erhält eine Mitteilung, die wiederum in voller Anonymität die Ergebnisse aller Laboratorien (getrennt nach den einzelnen Methoden) in einem Übersichtsdiagramm zeigt, wobei der einzelne Teilnehmer des Ringversuchs genau erkennen kann, wie „seine Werte" im Gesamtfeld liegen, und vor allem, ob er die Ringversuchsbedingungen erfüllt hat. Im Erfolgsfall erhält er ein Zertifikat, das allerdings nur eine begrenzte Zeit gültig ist. Danach muß er wieder die Anforderungen eines neuen Ringversuchs erfüllen. Auf diese Weise wird der hohe Qualitätsstandard der mit der Bestimmung von B. für forensische Zwecke betrauten Laboratorien ständig überprüft und gewährleistet. 5. Bestimmung der Alkoholkonzentration in der Atemluft (Atemalkoholkonzentration (AAK)). Im Hinblick auf den invasiven Charakter einer Blutentnahme und die nicht unerheblichen Kosten der Messung der B. ist es zweckmäßig, zunächst den Alkoholgehalt der Atemluft zu messen, der innerhalb gewisser Schwankungsbreiten Rückschlüsse auf die vorliegende B. gestattet. Seit Jahrzehnten hat sich diesbezüglich der ALCOTEST® bewährt, der aus einem Glasröhrchen besteht, in d e m sich bei Anwesenheit von Alkohol in der Ausatemluft gelbes 6-wertiges in grünes 3-wertiges

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Blutalkoholkonzentration (BÄK) Chrom innerhalb einer Skala verfärbt. Als »Screeningverfahren für Alkohol eignen sich auch die inzwischen hochentwickelten elektronischen Geräte (z.B. ALCOMAT®, ALCOMETER®, ALCOTEST® 7010/7310/7410, neuerdings insbesondere ALCOTEST® 7110 Evidential), die eine präzise Messung der Atemalkoholkonzentration gestatten. Nicht unproblematisch ist j e d o c h die Umrechnung von der Atemalkoholkonzentration auf die B., da kein konstanter Faktor existiert und vor allem in der Resorptionsphase häufig stärkere Abweichungen auftreten. In der Neufassung des § 24a StVG vom 27. 4. 1998 wird in Anlehnung an gängige Praktiken in der E U nicht mehr allein die B., sondern auch die Atemalkoholkonzentration bei gewissen Grenzwerten (0,5%c und 0,8%c) als Grundlage für Sanktionen herangezogen. 6. Bestimmung der Alkoholkonzentration im Urin. Urin kann grundsätzlich wie Serum oder Blut als Untersuchungsmaterial dienen. Zwischen Urinalkohol und Blutalkohol besteht statistisch eine direkte Beziehung, die im Einzelfall jedoch so stark streuen kann, daß eine zuverlässige Umrechnung des Alkoholgehaltes des Urins auf den Alkoholgehalt des Blutes nicht möglich ist. Die Alkoholbestimmung im Morgenurin von Patienten während der Entzugsbehandlung erlaubt jedoch die diskrete Überwachung hinsichtlich eines Alkoholkonsums am Vorabend, den der Patient möglicherweise außerhalb der Klinik verbrachte. Grundsätzlich gilt der Erfahrungssatz, daß die Urinalkoholkonzentration nach Abschluß der Resorption der Blutalkoholkonzentration „nachhinkt". Dies bedeutet, daß man im Urin noch Alkohol feststellen kann, wenn der Abbau im Blut schon abgeschlossen ist. Umgekehrt kann aber kurz nach der Einnahme von Alkohol in der Resorptionsphase die Blutalkoholkonzentration erheblich über der Urinalkoholkonzentration liegen.

Bulemia nervosa 7. Bestimmung der Alkoholkonzentration im Speichel. Auch Speichel ist grundsätzlich als Untersuchungsmaterial geeignet, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen. Es ergab sich eine hohe Korrelation der B. ( B Ä K ) und der Speichelalkoholkonzentration (SAK), unabhängig von der Art der Alkoholzufuhr (Trinkversuche, Infusion) und auch kurz nach Trinkende, wenn der M u n d vorher gespült wurde. 8. Begleitstoffanalysen. Viele Getränke enthalten neben Ethanol, dem Alkohol im Sinn der Umgangssprache, noch andere Alkohole (Begleitstoffe). Diese Substanzen, es handelt sich hauptsächlich um Methanol, 1-Propanol, 1-Butanol, 2-Butanol, iso-Butanol und Amylalkohole, entstehen beispielsweise im Rahmen der alkoholischen Gärung und sind ebenfalls im Blut nachweisbar. Während die B. als M a ß für die aufgen o m m e n e Menge an alkoholischen Getränken dient, kann die analytische Erfassung der Begleitstoffe die Frage „Was wurde getrunken?" beantworten. Dies ist beispielsweise bei der Begutachtung des sog. Nachtrunkes erforderlich, falls beispielsweise nach einem Unfall angeblich noch größere Mengen an Weinbrand, Whisky, Obstschnäpsen oder ähnlichen begleitstoffreichen Getränken konsumiert wurden. Analytische Meßmethode ist die Gaschromatographie in der Head-Space-Variante, bei der die D a m p f p h a s e über der Blutprobe untersucht wird. •Haaranalyse; -•Suchtstoffanalysen Lit.: Bonte, W., Begleitstoffe alkoholischer Getränke, Lübeck 1987; Gerchow, J„ Heberle, B „ Alkohol - Alkoholismus, Hamburg 1980; Gibitz, H. J„ Schütz, H., Durchführung und Interpretation der Bestimmung von Ethanol im Serum im klinisch-chemischen Laboratorium, Weinheim 1992; Grüner, O., Der gerichtsmedizinische Alkoholnachweis, Köln 2 1967; Grüner, O., Die Atemalkoholprobe, Köln 1985; Mallach, H. J„ Hartmann, H., Schmidt, V., Alkoholein-

Bund für drogenfreie Erziehung (BdE) e.V. Wirkung beim Menschen, Stuttgart 1987; Schütz, H „ Alkohol im Blut. Nachweis und Bestimmung, U m w a n d lung, Berechnung, Weinheim 1983; Schwerd, W., Kurz gefaßtes Lehrbuch der Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen, Köln 1979. Harald Schütz, Gießen Bulemia nervosa Als B. wird eine psychogene Eßstörung bezeichnet, bei der große Nahrungsmittelmengen in kürzester Zeit zugeführt und anschließend durch Erbrechen oder den Mißbrauch von -»Laxantien wieder ausgeschieden werden. Das Körpergewicht der an B. Erkrankten ist in der Regel normal. An B. erkranken überwiegend Frauen zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr. Einer B. gehen häufig eine Anorexia nervosa oder extremes Übergewicht voraus. •Eßstörungen Bulimie (griech.) Eß-/Brechsucht - • B u l e m i a nervosa; •Eßstörungen Bund für drogenfreie Erziehung (BdE) e.V. Der Bund für drogenfreie Erziehung (BdE) ist hervorgegangen aus d e m 1896 in Flensburg gegründeten Deutschen Verein enthaltsamer Lehrer, einem Berufsverband der Abstinenzbewegung, der später Deutscher Bund für alkoholfreie Kultur hieß. Seit 1980 arbeitet er unter dem gegenwärtigen Namen. Der Bund für drogenfreie Erziehung e. V. ist eine Arbeitsgemeinschaft, in der Pädagogenlnnen, Eltern, Jugendgruppenleiterinnen und andere zusammenfinden, die an einer aktiven Suchtvorbeugung interessiert sind. Der BdE widmet seinen Arbeitsschwerpunkt den substanzbezogenen Suchtformen. Besonderes Augenmerk richtet er hierbei auf die legalen Drogen Nikotin und Alkohol. Der B d E möchte mit seiner suchtvorbeugenden Arbeit dem Gebrauch dieser „Alltagsdrogen" ebenso entgegenwirken wie dem Konsum illegaler Drogen. 77

Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. Dabei will der BdE erreichen, daß die Suchtproblematik in allen pädagogischen Arbeitsfeldern umfassend berücksichtigt wird und alle Maßnahmen fördern, die zu einer bewußten Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik führen. Bekanntestes Projekt wurde das 1992 aus Norwegen eingeführte Schüler-Multiplikatoren-Programm „Echter Rausch kommt von innen", das in Zusammenarbeit mit der Zentralstelle für Suchtvorbeugung in Schleswig-Holstein entwickelt wurde. Anschrift: Postfach 1422, 21496 Geesthacht, Tel.: 0 4 1 5 1 / 8 9 1 8 1 0 , Fax: 04151/891811 e-mail:bde@neuland. com - http://www.neuland.com/bde/ Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. In der 1950 gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege haben sich die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege: Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Caritasverband (DCV), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) zusammengeschlossen. Zu den wesentlichen Aufgaben des Vereins gehören die Abstimmung und Beratung in allen Aufgabenbereichen der Freien Wohlfahrtspflege, insbesondere bei neu auftretenden Fragen auf dem Gebiet der Sozial- und Jugendhilfe, die Mitwirkung an der Gesetzgebung, Zusammenarbeit in zentralen Angelegenheiten mit Bund, Ländern und Kommunen und sonstigen Organen der öffentlichen Selbstverwaltung, Pflege und Stärkung der sozialen Verantwortung in der Bevölkerung sowie die Wahrung der Stellung der Freien Wohlfahrtspflege in der Öffentlichkeit. Anschrift: Franz-Lohe-Straße 17, 53129 Bonn, Tel.: 0228/226-1, Fax: 0228/ 226-266

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Bundesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe in Deutschland e.V. - Selbsthilfeorganisationen Die Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe sind eine Gemeinschaft ehemaliger Suchtkranker und deren Angehöriger, die sich zum Ziel gesetzt hat, betroffenen Suchtkranken in ihrem sozialen Umfeld zu helfen und dadurch eine dauerhafte Abstinenz der Mitglieder dieser Gemeinschaft zu erreichen. Ihre Entstehung im Jahre 1956 ist zurückzuführen auf die Initiative einzelner, ehemals alkoholabhängiger Patienten aus Fachkliniken. Den Alkoholkranken wurde bewußt, daß es gemeinsam leichter ist, abstinent zu bleiben. Sie wollten sich gegenseitig helfen, mit den Schwierigkeiten, die nach einer Entwöhnungsbehandlung entstehen, fertig zu werden. Die Freundeskreise als Selbsthilfegruppen arbeiten ehrenamtlich und sind eine notwendige Ergänzung zu den professionellen Angeboten zeitgemäßer Suchtkrankenhilfe. Bundesweit gibt es ca. 400 Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe. Die Freundeskreise arbeiten mit Beratungsstellen, Fachkrankenhäusern und Fachverbänden für Suchtkranke partnerschaftlich zusammen und verstehen sich als Mittler zwischen den Ratsuchenden und den Helfenden. Anschrift: Kurt-Schumacher-Str. 2, 34117 Kassel, Tel.: 0561/780413, Fax: 0561/71 1282, e-mail:[email protected] Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. (BAJ) Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz (BAJ) wurde 1951 gegründet und ist ein Zusammenschluß von freien Trägern der Jugendhilfe, Fachorganisationen und Landesarbeitsgemeinschaften/Landstellen für Kinderund Jugendschutz sowie interessierten Einzelpersönlichkeiten. Satzungsgemäßer Zweck der BAJ ist die Förderung des Kinder- und Jugendschutzes mit dem Ziel, entsprechende Maßnahmen anzuregen, zu fördern, zu

Bundeskriminalamt (BKA) koordinieren und durchzuführen sowie die Anliegen des Kinder- und Jugendschutzes gegenüber Gesellschaft und staatlichen Institutionen zu vertreten. Zu den wichtigsten Arbeitsbereichen der B A J gehören u. a.: Suchtprävention, Jugendmedienschutz, Gewalt an Kindern und Jugendlichen, sexueller Mißbrauch, Kinder- und Jugenddelinquenz, Sexualerziehung, gesetzlicher Kinder- und Jugendschutz. Für die praktische Umsetzung ihrer Ziele unterhält die BAJ eine Geschäftsstelle in Bonn. Hier werden Initiativen, Projekte, Kampagnen und die Öffentlichkeitsarbeit koordiniert. Im Luchterhand Verlag gibt die BAJ die Fachzeitschrift Kind Jugend Gesellschaft heraus. Auf Landesebene sind die Landesarbeitsgemeinschaften/Landesstellen für Kinder- und Jugendschutz im Bereich der Multiplikatorenarbeit, der Durchführung von Fortbildungsangeboten, der Beratung politischer Entscheidungsträger und der Herausgabe von Broschüren und Zeitschriften tätig. Anschrift: Haager Weg 44, 53127 Bonn, Tel.: 0 2 2 8 / 2 9 9 4 2 1 , Fax: 0 2 2 8 / 2 8 2 7 7 3 , e-mail: [email protected] - http:// www.jugendschutz.de Bundeskriminalamt (BKA) Das Bundeskriminalamt (BKA) wurde 1951 als Bundesbehörde eingerichtet, die dem Bundesminister des Inneren direkt untersteht. Aufgaben und Tätigkeiten sind im BKA-Gesetz geregelt. Danach soll das B K A als zentrale Nachrichten- und Informationsstelle der Kriminalpolizei fungieren, Straftäter bekämpfen, die über Landesgrenzen hinweg oder im internationalen Bereich tätig sind und nationales Zentralbüro der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) sein. Zur Bek ä m p f u n g der organisierten Kriminalität zum Schutz der deutschen Verfassungsorgane ist das B K A in folgenden Fällen zuständig: International organisierter ungesetzlicher Handel mit Betäubungsmitteln, Waffen, Munition und Spreng-

Bundesministerium für Gesundheit Stoffen; international organisierte Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld, die eine Aufklärung im Ausland notwendig machen; Angriffe gegen das Leben oder die Freiheit des Bundespräsidenten, der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundesverfassungsgerichts sowie von Staatsgästen und Angehöriger diplomatischer Vertretungen in der Bundesrepublik, sofern die Täter aus politischen Motiven handeln und die Tat bundes- oder außenpolitische Belange berührt. Die A u f g a b e des B K A als Nationales Zentralbüro von Interpol stellt unter anderem sicher, daß die internationale Kriminalität wirksam bekämpft wird. Diesem Zweck dient auch die Einrichtung eines Europäischen Polizeiamtes (EUR O P O L ) in Den Haag sowie die E U R O POL-Drogeneinheit (EDE). Anschrift: Thaerstr. 11, 65173 Wiesbaden, Tel.: 0 6 1 1 / 5 5 1 , Fax: 0 6 1 1 / 5 5 2 1 4 1 , e-mail:[email protected] - http:// www.bka.de Bundesministerium für Gesundheit Das Bundesministerium für Gesundheit ( B M G ) führt im Rahmen des Grundgesetzes die gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Aufgaben auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik durch. Durch Organisationserlaß des Bundeskanzlers wurde das Bundesministerium für Gesundheit im Januar 1991 eingerichtet. Damit sind alle wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens in einem Ministerium gebündelt - von der Ausbildung in den Gesundheitsberufen über das Arzneimittel- und Apothekenwesen, Gentechnik, Gesundheitsvorsorge, Bek ä m p f u n g von übertragbaren Krankheiten, AIDS und Sucht, Lebensmittelrecht und Veterinärmedizin bis zur Finanzierung und Steuerung des Gesundheitswesens über die Krankenversicherung und deren Vertragspartner. Das Ministerium besteht aus fünf Abteilungen: 1. Zentrale Verwaltung, internationale Beziehungen, 2. Arzneimittel, Sozialrecht,

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Bundessozialhilfegesetz (BSHG)

Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. „buss"

3. Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, 4. Gesundheitsvorsorge, Krankheitsbekämpfung, 5. Verbraucherschutz, Veterinärmedizin. Mit suchtspezifischen Thematiken beschäftigt sich im BMG besonders das Referat 326 „Drogen- und Suchtmittelgebrauch" sowie die •Bundcszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Ministeriums. Anschrift: Am Propsthof 78a, 53121 Bonn, Tel.: 0228/941-0, Fax: 0228/ 9 41 -49 00, http://www.bmgesundheit.de Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz sind nachrangig zu den Leistungen der Krankenversicherung, der Unfallversicherung, der Rentenversicherung, der Pflegeversicherung, der Arbeitsförderung und der Kinder- und Jugendhilfe, in der Praxis der Suchtkrankenhilfe jedoch von herausragender Bedeutung, weil in vielen Fällen die erstgenannten Hilfen nach den jeweiligen Leistungskriterien nicht zum Zuge kommen oder in ihrem Leistungsumfang nicht ausreichen, um der auftretenden Hilfesituation adäquat begegnen zu können. Leistungen nach dem BSHG unterscheiden sich in Hilfen zum Lebensunterhalt und Hilfen in besonderen Lebenslagen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt soll den Grundbedarf des täglichen Lebens abdecken und ist als einklagbarer Rechtsanspruch formuliert. Die Hilfen in besonderen Lebenslagen sollen spezielle Notsituationen auffangen, ohne daß diese Hilfen im Gesetz abschließend geregelt sind. Die Arten der Hilfe in besonderen Lebenslagen umfaßt u. a. die Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (§ 30 BSHG), die vorbeugende Gesundheitshilfe (§ 36 BSHG), ambulante oder stationäre Therapien als Krankenhilfe (§ 37 BSHG), die Eingliederung für Behinderte (§ 39-47 BSHG) und die Übernahme des Pflegesatzes für eine stationäre Therapie durch den überörtlichen

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Sozialhilfeträger (§ 100 BSHG). Für die ambulante Betreuung chronisch mehrfachgeschädigter Abhängiger kommen die §§ 39 und 40 BSHG in Verbindung mit § 3, Absatz 1 in Betracht. Eingliederungshilfen werden so lange gewährt, wie Aussicht besteht, daß ihre Aufgabe erfüllt werden kann. -»Finanzierung; 'Sozialrecht Bundesverband der Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher e. V. (BVEK) Der BVEK ist ein überkonfessioneller, überparteilicher, bundesweiter Zusammenschluß von Elternkreisen drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher und ihrer Landesverbände. Der Verein besteht seit 1973 und arbeitet ehrenamtlich. Dem BVEK gehören über 150 Elternkreise und vier Landesverbände an. Das Selbsthilfeprinzip ist Grundlage und Maßstab der Vereinsarbeit. Nach Satzung des BVEK ist der Zweck des Vereins insbesondere die Förderung der Selbsthilfe von Eltern sowie Angehörigen und Partnern suchtgefährdeter und suchtkranker Menschen in Elternkreisen. Der BVEK fördert diese Elternselbsthilfe zum einen durch Hilfen bei der Gründung von Elternkreisen, zum anderen durch Erstellung von Arbeits- und Orientierungshilfen, durch Übersendung von Infomaterial und Herausgabe der vierteljährlich erscheinenden EK-INFORMATIONEN als Kommunikationsorgan der Elternkreise untereinander. Zudem werden Arbeitstagungen und Seminare für Elternkreisverantwortliche organisiert. Anschrift: Köthener Str. 38, 10963 Berlin, Tel.: 0 3 0 / 5 5 6 7 0 2 - 0 Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. „buss" Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. („buss"), ehemals Verband der Fachkrankenhäuser für Suchtkranke e. V., wurde im Jahre 1903 als Verband der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes gegründet und ist seinerseits Gründungsmitglied

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) der -»„Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS)". D e m Verband gehören bundesweit 91 (teil-)stationäre Einrichtungen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen an: Fachkliniken, Fachabteilungen, Psychiatrische Krankenhäuser, Therapeutische Gemeinschaften und Nachsorge-Einrichtungen. Das Behandlungsspektrum reicht von akutmedizinischer Intensiv-Behandlung (Entgiftung), ggf. mit Motivierung und „AnschubTherapie" (qualifizierte Entzug) über Entwöhnung (med. Rehabilitation) bis zur sozio-therapeutischen Integrationshilfe im komplementären Bereich. Hauptindikationen sind Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Abhängigkeit von illegalen Drogen, Ess-Störungen und pathologisches Spielverhalten. Seine weiteren Aufgaben sieht der Verband in der Mitwirkung und Beratung bei Abschluß von Rahmenvereinbarungen zur (teil-)stationären Suchtkrankenhilfe auf Europa-, Bundes- und Landesebene; in der Entwicklung und Erprobung von Modellen und Konzeptionen stationärer und teilstationärer Hilfe sowie von integrierten Behandlungs- und Verbundmodellen für Suchtkranke; in Anregung, Begleitung und Durchführung von suchtspezifischen Forschungsprojekten; in der Sicherstellung und Entwicklung von Qualitätssicherung und qualifizierter Dokumentation (SEDOS); in der Vermittlung von Therapieplätzen über die verbandsinterne „Info-Bank"; in der Durchführung von Erfahrungsaustausch und Fortbildung; in der Vermittlung von Angebot und Nachfrage auf dem suchtspezifischen Stellenmarkt über Internet sowie Information der Öffentlichkeit über die Aufgaben des Vereins und Belange der Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Anschrift: Kurt-Schumacher-Str. 2, 34117 Kassel, Tel.: 0 5 6 1 / 7 7 9 3 5 1 , Fax:

05 6 1 / 1 0 2 8 83, e-mail:[email protected] - http://www.suchthilfe.de Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wurde 1967 gegründet und gehört zum Geschäftsbereich des jeweiligen Gesundheitsministeriums. Zu ihren Hauptaufgaben gehören die Information und Motivation der Bevölkerung zu gesundheitsförderndem Verhalten, zur Krankheitsverhütung und die Aus- und Fortbildung auf den -»Gebieten der Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung sowie die Koordinierung der gesundheitlichen Aufklärung im Bundesgebiet. Weitere Arbeitsfelder sind die Gesundheitsförderung in der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Kleinkindalter sowie im Vörschul-, Schul- und Jugendalter, Familienplanung, gesundheitliche Selbsthilfe, Suchtprävention usw. Zu aktuellen Schwerpunkten wie Aids, Förderung des Nichtrauchens und Drogenprävention werden Informations-, Aufklärungs- und Werbekampagnen durchgeführt, die in Broschüren, Plakaten, Anzeigen TV- und Kinospots, Filmen, Ausstellungen und Kursangeboten zu finden sind. Die B Z g A ist seit 1983 Kooperationszentrum für Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) , Regionalbüro für Europa. In dieser Funktion veranstaltet sie internationale Fachtagungen und Seminare zu aktuellen Themen und Fragestellungen der Gesundheitserziehung und -förderung. Die Arbeit in Gremien und die Beteiligung an Projekten im Rahmen der Europäischen Union bilden einen weiteren, zunehmend wichtigen Schwerpunkt der internationalen Zusammenarbeit. Anschrift: Ostmerkstr. 220, 51109 Köln, Tel.: 0221/8992-0, Fax: 0221/ 8 9 9 2 3 0 0 , http://www.bzga.de

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Cannabis

Cannabis

c Cannabis Neben Tabak, Kaffee und Alkohol ist Cannabis die weltweit am häufigsten gebrauchte Droge.

bende Applikationsfrequenz einzuhalten. Er kann daher die a u f g e n o m m e n e M e n g e weder kontrollieren noch regulieren.

1. Inhaltsstoffe. Die weibliche Pflanze des indischen Hanfs (cannabis sativa variatio indica) sondert ein harziges Sekret („Haschisch") ab, in dem verschiedene Cannabinoide enthalten sind. „Marihuana" wird aus getrockneten Blättern und Blüten gewonnen. Die Hauptinhaltsstoffe des Harzes sind das Cannabidiol, Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabinol. Diese Reihenfolge gibt auch den mutmaßlichen Syntheseweg der Pflanze wieder. Die für die psychotropen Wirkungen verantwortliche Verbindung ist das T H C sowie die besonders in nepalesischen Hanfarten auftretenden Methyl- und Propylanaloge des T H C . Daneben sind über 30 weitere Inhaltsstoffe identifiziert, deren Eigenwirkungen bisher wenig untersucht sind. Cannabidiol besitzt keine psychischen Wirkungen, ist jedoch ein Hemmstoff der arzneimittelabbauenden Enzyme und kann dadurch nicht nur T H C - E f fekte, sondern auch die Wirkung anderer Pharmaka verlängern. Außerdem hat es k r a m p f h e m m e n d e Eigenschaften. Da der Gehalt der Cannabispflanze bzw. der Haschischextrakte an den verschiedenen Inhaltsstoffen vom Klima, von der Bodenbeschaffenheit, Aufarbeitung, Lagerung etc. abhängt und daher erheblich variiert, ergibt sich bei der Beurteilung der Wirkungen eine besondere Problematik. Untersuchungen der Haschischinhaltsstoffe und ihre Resultate, so notwendig sie sind, geben nämlich die Verhältnisse des tatsächlich geübten Haschischgebrauchs nur unvollkommen und verzerrt wieder. Der Konsument raucht oder nimmt die Droge auf andere Weise zu sich, ohne etwas über deren Z u s a m m e n setzung zu wissen oder die angewandte Dosis zu kennen oder eine gleichblei-

2. Die Konsumenten. 7 5 % der Haschisch- und Marihuanaraucher in unserer Gesellschaft sind j u n g e Menschen. Häufig haben sie den ersten Kontakt mit d e m Stoff schon mit 12-15 Jahren. In der Regel wird er durch Freunde oder Bekannte vermittelt. Nach der Persönlichkeitsstruktur sind es meist schüchterne, reservierte j u n g e Menschen von geringer Dominanz, die zu Haschisch greifen. Neugier, Nachahmungstrieb, Gruppendynamik etc. lassen bestehende H e m m u n g e n überwinden. Eine genetische Anlage ( »Genetik) zur Neigung, Cannabis zu verwenden, ist nicht bekannt. Den meisten Probierern bringt der erste „Joint" - außer Husten und manchmal Übelkeit - nicht viel. Lernt er beim nächsten oder übernächsten Mal die „richtige" Technik des Inhalierens, dann erlebt er mehr oder weniger deutlich, daß die Droge Unangenehmes eine Zeitlang vergessen läßt, z.B. Schwierigkeiten mit den Eltern, Ärger in der Schule, Streit mit dem Freund oder der Freundin. Wer diese Erfahrungen macht und dabei auch noch eine leichte Euphorie empfindet, b e k o m m t Lust, dieses „Feeling" zu wiederholen. Wird der Gebrauch weitergeführt, gehen im Laufe der Zeit Einsicht und Bereitschaft verloren, Probleme oder Mißhelligkeiten auf andere Weise oder durch andere Aktivitäten zu beseitigen. Die positiv e m p f u n denen Erlebnisse sind aber offenbar nicht so nachhaltig wirksam, um die Fortsetzung der Drogeneinnahme zwingend erscheinen zu lassen bzw. sie nicht beenden zu können. Das Haschischoder Marihuanarauchen hört nämlich trotz der unstrittig vorhandenen Reinforcereigenschaften des T H C meist mit der Übernahme von Erwachsenenfunktionen auf (-•Maturing out). Ist den jungen

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Cannabis Menschen diese Rolle verwehrt (Arbeitslosigkeit, fehlende feste Partnerbeziehung etc.) verlieren sie ihre bisherigen Gewohnheiten deutlich seltener. Die Annahme, daß der Gebrauch von Cannabis außer pharmakodynamisehen auch „Socialreinforcement"-Eigenschaften entfaltet, ist daher nicht ganz abwegig. Auch diese Form von psychischer Abhängigkeit enthält Elemente des Zwanghaften, ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Ihr fehlt aber der Charakter des Absoluten, Starren, schwer Korrigierbaren. Andererseits kann unter bestimmten Bedingungen der Cannabisgebrauch bei Jugendlichen das gelernte Verhalten, Drogen zu verwenden, bahnen und festigen (Übergang zu „harten" Drogen). In Abhängigkeit von der Häufigkeit des Gebrauchs und der Dosierung kann sich gegen T H C eine -»Toleranz entwickeln. In der Regel ist die verwendete M e n g e und die A u f n a h mefrequenz aber zu gering, um eine Toleranz entstehen zu lassen. Daher müssen selbst chronische Haschischraucher nur ganz selten die Dosis erhöhen. Auch das Wirkungsspektrum ändert sich kaum. Beim Absetzen der Droge treten wegen der fehlenden Toleranz nur selten geringe Abstinenzerscheinungen auf. 3. Wirkungen. Geringe Dosen (unter 50 μg/kg) T H C lösen vegetative Reaktionen wie Pulsbeschleunigung, Mundtrokkenheit, Hungergefühl, bei Drogennaiven anfangs Husten, Schwindel und Übelkeit aus. Die Fahrtüchtigkeit kann leicht eingeschränkt sein. Die Effekte dauern maximal 2 - 4 Stunden an und sind voll reversibel. Hohe Dosen führen zusätzlich zu Schläfrigkeit, Rötung der Bindehaut, manchmal zu Blutdruckabfall, zu kalten Händen und Füßen. Die Fahrtüchtigkeit ist beeinträchtigt. Auch diese Symptome bilden sich nach einigen Stunden folgenlos zurück. Todesfälle als direkte Folge von Cannabisintoxikationen sind selbst bei Verwendung sehr hoher Dosen bisher nicht bekannt geworden.

Cannabis A b etwa 0,1 μg/kg ( 5 - 7 μg/kg) T H C werden psychische Effekte deutlich. Sie sind keineswegs uniform. Meist kommt es zu einem Gefühl der Entspannung, des Abrückens von Alltagsproblemen, zu angenehm e m p f u n d e n e r Apathie und Euphorie. Manchmal tritt aber auch eine ängstliche Unruhe oder aggressive Gereiztheit auf. Die Denkabläufe werden als assoziationsreich, phantasiebegünstigend und beglückend erlebt. Im Rausch werden akustische und optische Sinneswahrnehmungen intensiver. Das Zeiterleben wird im Sinne einer Verlangsamung der subjektiv registrierten Zeitabläufe verändert. Unerfahrene Probierer erleben das „high"-Sein nur selten. Umgekehrt haben erfahrene Haschischbzw. Marihuanaraucher gelegentlich ein typisches „high"-Sein, obwohl in den verwendeten Proben nachweislich kein Wirkstoff enthalten war. Dabei handelt es sich um ein gelerntes Verhalten, bei dem die Erwartung bestimmter Drogeneffekte mit einer emotionalen Reaktionsbereitschaft verknüpft wird, die sich gegenseitig verstärken. Unabhängig von der individuellen und situationsbedingten Ausprägung der Wirkung ist nach kleinen Dosen die sedative Komponente vorherrschend. Nach höherer Dosierung (15 μg und mehr) überwiegen erregende Phänomene, die sich bis zu psychotischen Zuständen steigern können. Geringe wie hohe Dosen - über längere Zeit g e n o m m e n - äußern sich vorwiegend am Atemwegssystem (chronische Bronchitis). Änderungen des Hormonhaushaltes sind immer wieder vermutet worden, aber nicht gesichert. Alle kritischen Nachprüfungen haben auch keine relevanten Folgen auf das Immunsystem festgestellt. Untersuchungen zur Mutagenität von Cannabinoiden sind nach wie vor widersprüchlich. Für den Menschen haben diese umstrittenen Effekte keine bisher erkannten negativen Auswirkungen. Ein erhöhtes Risiko, durch Cannabis vorzeitig zu sterben, besteht offenbar auch nicht. Insgesamt ist die Gefahr, schwerwiegende und bleibende

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Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA) Organschädigungen durch den üblicherweise zeitweiligen Haschischgebrauch zu erleiden, gering. Mit negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit müssen Jugendliche und heranwachsende Menschen, die sich täglich größere Mengen Cannabis zuführen, psychisch Kranke sowie psychisch auffällige oder starkem Stress ausgesetzte Personen rechnen. Insbesondere sind psychomotorische und kognitive Leistungen beeinträchtigt. Auch aus Tests für Kurzzeitgedächtnis, Reaktionszeit und visomotorische Fähigkeiten geht eine Verschlechterung von Auffassung, Konzentration und Denkvermögen hervor. Ungeklärt ist allerdings, - ob Gedächtnis- und andere kognitive Schwächen eine unvermeidliche Konsequenz des Cannabisgebrauchs sind; - wieviel geraucht werden muß, um Gedächtnisstörungen auszulösen; - ob es besondere Risikogruppen gibt, die mit Gedächtnisstörungen reagieren; - ob die Beeinträchtigung voll reversibel ist, und wenn ja, wie lange sie unter welchen Bedingungen anhält. Nach den bisherigen Erkenntnissen müssen Personen, die häufig hochkonzentrierte Cannabisprodukte rauchen, mit Gedächtnisminderung bis zu sechs Wochen nach dem letzten Gebrauch rechnen. Darüber hinaus sind Individuen mit Lernschwierigkeiten, mit niedrigem Intelligenzquotienten (IQ) und Grenzfälle zu psychischer Auffälligkeit offenbar empfindlicher als völlig gesunde. Für Jugendliche und Heranwachsende ist das Hauptrisiko das „Amotivationssyndrom". Dabei handelt es sich um Antriebsschwäche, mangelnde Zielstrebigkeit oder Unwilligkeit, Herausforderungen anzunehmen und nicht wie vielfach verbreitet - um meßbare Leistungseinbußen der Konsumenten. Die Leistungsfähigkeit ist häufig und speziell bei Anforderungen nur gering eingeschränkt. Die nachlassende Bereitschaft, freiwillig Aufgaben und Verant-

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wortung zu übernehmen, der insgesamt geringe Antrieb, die fehlende Lebensplanung etc. sind etwas anderes als Tätigkeiten ausführen zu können. Mit anderen Worten: Die Kreativität und Dynamik der Jugend wird durch Cannabis mehr oder weniger unterdrückt. Diese Schlußfolgerung wird durch Umfragen in Drogenberatungsstellen und Fachkliniken gestützt. In beiden Institutionen wurde von den Befragten als Reaktion auf Haschischkonsum am häufigsten Schwunglosigkeit (96%) und Demotivierung (94%) angegeben. Diesen Sachverhalt mit dem Argument zu verharmlosen, es gäbe immer Personen, die auch ohne Cannabis keinen Drang verspüren, ihr Leben nach eigenen Ideen und mit eigener Triebkraft zu gestalten, ist intellektuell unredlich. Nach Verwendung höherer Dosen kann Cannabis psychotische Zustände hervorrufen, bestehende Psychosen und andere psychische Störungen können sich verschlimmern, d. h., daß bei bestehender Vulnerabilität des Gehirns Cannabiskonsum ein Risikofaktor ist. Nicht erwiesen und unwahrscheinlich ist, daß durch die Droge Schizophrenie entsteht. -»·Drogenabhängigkeit; -•Drogenfreigabe; -»Suchtstoffananalysen Helmut Coper, Berlin Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA) 1. Begriffsbestimmung. Der Begriff „chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker" (CMA) wurde in der Versorgungsdiskussion der Psychiatrie der 80er Jahre geprägt. Gemeint sind damit Alkoholiker, die vom therapeutischen Angebot sowohl der psychiatrischen Krankenhäuser als auch der Fachberatungsstellen, Suchtfachkliniken und Selbsthilfegruppen nicht im erwünschten Ausmaß profitieren, sondern wiederholt rückfällig werden. Ihre soziale Situation ist meist gekennzeichnet durch Langzeitarbeitslosigkeit oder Frühberentung sowie Partnerverlust bzw. Partnerlosigkeit. Der jahrelange Alkohol-

Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA) mißbrauch hat bei ihnen ζ. T. zu schweren körperlichen Schäden geführt. Gravierende Persönlichkeitsveränderungen korrespondieren häufig mit starken hirnorganischen Beeinträchtigungen. Manche dieser Alkoholiker sind entmündigt, einige sind ohne festen Wohnsitz. Zwangseinweisungen (-»Unterbringung) k o m m e n bei ihnen häufig vor. Das bestehende therapeutische Angebot ist für diese Gruppe von Alkoholikern nicht konzipiert, von der Behandlung in Suchtfachkliniken ( - • F a c h klinik) werden sie in der Regel ausgeschlossen. Während man früher von „depravierten", „behandlungsunfähigen" oder „therapieresistenten" Alkoholikern sprach, wird für diese Gruppe von Alkoholikern heute der wertneutrale und nicht diskriminierende Begriff „ C M A " verwendet (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1988). Unter C M A versteht man eine Gruppe von Alkoholikern, die an einem schweren Abhängigkeitssyndrom und zugleich an gravierenden alkoholbedingten Folgeschäden im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich leiden. Diese Definition macht deutlich, daß für die Bestimmung von C M A nicht nur das Vorhandensein eines Abhängigkeitssyndroms und mehrfacher Folgeschäden notwendig ist, darüber hinaus wird auch die Schwere der Erkrankung berücksichtigt. Die C M A bilden demnach eine Untergruppe der Alkoholabhängigen mit Abhängigkeitssyndrom und alkoholbedingten Folgeschäden (-'•Alkoholfolgeschäden). Nach dieser Definition gehören Alkoholabhängige mit Abhängigkeitssyndrom, aber ohne alkoholbedingte Folgeschäden ebenso nicht zu den C M A wie Alkoholmißbraucher, auch wenn sie alkoholbedingte Folgeschäden aufweisen. Für eine genaue Erfassung von C M A ist es erforderlich, die beiden Definitionsmerkmale „Schwere der Erkrankung" und „Vielzahl von Folgeschäden" zu bestimmen. Da mit Ausnahme der operationalen Definitionen

von Schulz (1992) und Hilge/Schulz (1999) solche präzisen Aussagen fehlen, bleiben Angaben über den U m f a n g von C M A in der Regel äußerst vage. Obwohl der Begriff „ C M A " aus der Vorsorgediskussion stammt, wird er in erster Linie deskriptiv und klinisch definiert. Von diesem Begriff ist die Bezeichnung „prognostisch ungünstige Alkoholiker" zu unterscheiden, die stärker versorgungs- bzw. behandlungsorientiert ist. Gemeint sind damit Alkoholiker, die im System der derzeitigen Suchtkrankenhilfe nur geringe oder gar keine Erfolgsaussichten haben. „Prognostisch ungünstig" bezieht sich somit nicht nur auf Merkmale der Alkoholiker, sondern auch auf das gegenwärtige Behandlungs- bzw. Versorgungsangebot für diese Alkoholiker. Bei einer anders strukturierten und konzipierten »Suchtkrankenversorgung könnte zumindest ein Teil dieser Alkoholiker durchaus erfolgreich behandelt werden. D a nicht alle prognostisch ungünstigen Alkoholiker mehrfache Folgeschäden aufweisen, umgekehrt aber doch die allermeisten C M A eine ungünstige Prognose haben, jedenfalls vor dem Hintergrund der derzeitigen Suchtkrankenhilfe, stellen die C M A weitestgehend eine Untergruppe der prognostisch ungünstigen Alkoholiker dar. Dieser Z u s a m m e n h a n g weist darauf hin, daß viele alkoholbedingten Schäden der C M A auch Folge bzw. Ausdruck unserer Behandlungs- und Versorgungsrealität sind. Insofern k o m m t d e m Begriff „ C M A " auch eine große versorgungspolitische Bedeutung zu (Schulz 1992). 2. -»Epidemiologie. Der Anteil C M A wird auf 0,4% der Bevölkerung geschätzt. Das sind etwa 400 C M A auf 1 0 0 0 0 0 Einwohner oder 3 2 0 0 0 0 C M A in der heutigen Bundesrepublik. Etwa jeder achte Alkoholabhängige ist ein C M A . In den psychiatrischen Krankenhäusern ist der Anteil C M A deutlich höher. In Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten und der Definition sind

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Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA) dort bis zu über 30% der Alkoholiker C M A . Unbekannt ist, wie hoch der Anteil C M A in anderen Einrichtungen der medizinischen und psychosozialenpsychiatrischen Basisversorgung ist, z . B . bei niedergelassenen Ärzten, in Allgemeinkrankenhäusern, bei den Sozialpsychiatrischen Diensten, in Pflegeheimen oder in der Nichtseßhaftenhilfe. In den Suchtfachkliniken, Fachberatungsstellen und Selbsthilfegruppen ist der Anteil C M A demgegenüber äußerst gering. Von den Mitarbeitern der Suchtkrankenhilfe wird der Anteil C M A in der Regel höher eingeschätzt. Dies liegt vermutlich daran, daß gerade diese Alkoholiker besondere Schwierigkeiten bereiten und die Mitarbeiter besonders belasten, denn diese Einrichtungen sind weder konzeptionell noch personell auf die Arbeit mit C M A eingestellt. Die spärlich vorhandenen Untersuchungen in psychiatrischen Krankenhäusern und Spezialeinrichtungen für C M A deuten darauf hin, daß C M A im Durchschnitt vor allem dann deutlich älter sind, wenn sie in Spezialeinrichtungen untergebracht sind. In den psychiatrischen Krankenhäusern sind die Unterschiede hingegen eher gering. Dieser Befund spricht zum einen dafür, daß die C M A im Abhängigkeitsprozeß weiter fortgeschritten sind, zum anderen m u ß aber auch davon ausgegangen werden, daß ältere C M A schneller in Spezialeinrichtungen verlegt werden. Weiterhin scheint auch der Anteil an Frauen bei den C M A etwas geringer zu sein. Auch hier ist der Unterschied bei den Spezialeinrichtungen größer als bei den psychiatrischen Krankenhäusern. 3. Ätiologie (-^Genese). Will man sich den spezifischen Ursachen und Bedingungen für eine chronische Mehrfachschädigung nähern, so ist es zunächst einmal wichtig, zwischen dem Abhängigkeitssyndrom und den Folgeschäden zu unterscheiden. C M A und NichtC M A unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Anzahl und dem Schwere86

grad der Folgeschäden. Neben einer allgemeinen -»Vulnerabilität, an Alkoholismus zu erkranken, gibt es spezifische Vulnerabilitäten zur Ausbildung einzelner körperlicher und psychiatrischer Folgeerkrankungen wie z.B. -•Leberzirrhose, -»Pankreatitis, •KorsakowSyndrom oder depressive Erkrankung. Jeder Mensch und auch jeder Alkoholiker reagiert anders auf Alkohol. Genetische Faktoren (-»Genetik), beeinflussen die A u f n a h m e und den Stoffwechsel des Alkohols, die spezifischen Wirkungen des Alkohols auf die verschiedenen Zellmembranen, Transmitter- und Enzymsysteme, damit auch die Wirkung des Alkohols auf die Erfolgsorgane sowie die Ausscheidung des Alkohols. So entwickelt z.B. nicht jeder Alkoholiker ein Korsakow-Syndrom, auch nicht nach langem Alkoholmißbrauch. Für die Entstehung des Korsakow-Syndroms wie auch anderer Schäden am zentralen und peripheren Nervensystem wird neben der direkten toxischen Wirkung des Alkohols ein Thiaminmangel verantwortlich gemacht. Dabei spielen vor allem thiaminabhängige Enzymreaktionen eine Rolle, wobei eine große genetische Variabilität dieser Enzyme nachgewiesen werden konnte (Schmidt 1997). Die Entwicklung der sozialen Folgeschäden wird von sehr unterschiedlichen Faktoren beeinflußt. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob j e m a n d in der Lage ist, auftretende Probleme, Konflikte oder sogenannte kritische Lebensereignisse zu bewältigen oder nicht. Dies hängt sowohl von der aktuellen Lebenssituation und dem vorhandenen sozialen Unterstützungssystem des Betroffenen ab, als auch davon, ob er in seinem bisherigen Leben genügend Kompetenzen, Stabilität und Selbstbewußtsein erworben hat. Weiterhin sind die Reaktionen der Umwelt, insbesondere die Reaktionen des Hilfe- und Behandlungssystems von Bedeutung. Häufig führen erst professionelle Interventionen zu einer „Dramatisierung des Übels" und tra-

Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA) gen damit zur Entwicklung einer chronischen Mehrfachschädigung bei. Es ist bisher kaum untersucht worden, welchen Einfluß beispielsweise die Etikettierung als Alkoholiker, eine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus per richterlichem Entschluß oder eine falsche Behandlungsindikation auf die weitere Entwicklung der Erkrankung haben. Sicher spielen bei der Entwicklung sozialer Folgeschäden auch zufällige Gegebenheiten eine nicht unwesentliche Rolle. Wie bei der Ätiologie des Alkoholismus im Allgemeinen haben wir es auch bei der Ätiologie der chronischen Mehrfachschädigung mit einem komplexen Zusammenwirken sehr vieler Faktoren zu tun. Kein Ansatz für sich alleine kann C M A erklären, denn die verschiedenen Faktoren - genetisch bedingte Risikofaktoren ebenso wie Umweltvariablen beeinflussen die unterschiedlichen Entwicklungsstadien in unterschiedlicher Weise. Vermutlich gibt es unterschiedliche Entwicklungen und Bedingungskonstellationen für unterschiedliche Gruppen von C M A , möglicherweise sogar für jeden einzelnen. 4. »Klassifikation. C M A stellt keine h o m o g e n e Gruppe von Alkoholikern dar. Hinter dem Begriff „ C M A " verbergen sich sehr unterschiedliche Ausprägungen der Alkoholabhängigkeit. Neben den leicht zu erfassenden soziodemographischen Gemeinsamkeiten weisen C M A wegen ihrer schweren und mehrfachen Schädigung individuell bedeutsame Unterschiede auf, deren Beachtung für eine erfolgversprechende Behandlung von großer Wichtigkeit sind. Vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Behandlung von Alkoholikern in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus unterscheidet Bartmann (1982) nach dem Grad der Erkrankung, der Dauer der notwendigen Behandlung und der Behandlungsmotivation die folgenden Gruppen von Alkoholikern: 1. Alkoholabhängige ohne Kontrollver-

lust, 2. abstinenz-unwillige Alkoholabhängige, 3. entwöhnungswillige, nicht depravierte Alkoholabhängige, 4. entwöhnungswillige, rückfällige Alkoholabhängige, 5. „behandlungsunfähige" Alkoholiker und 6. Psychotiker mit einer sekundären Abhängigkeit. Die Alkoholiker der 2., 4., 5. und 6. Gruppe haben eine gewisse Affinität zu den C M A . Rienas, Sohns-Pflüger & Schulz (1992) unterscheiden aufgrund einer Verlaufsstudie die folgenden Gruppen C M A : 1. C M A mit erheblichen hirnorganischen Veränderungen, die ζ. T. zu einem Korsakow-Syndrom, zumindest jedoch zu einer starken Wesensveränderung und einer großen Hirnleistungsschwäche geführt haben. Krankheitseinsicht und Abstinenzmotivation sind bei diesen Patienten nicht mehr vorhanden. 2. C M A mit ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen. Überhöhte Forderungen an die Umwelt sind verknüpft mit einer sehr geringen Frustrationstoleranz und mangelhaftem Kontakt zur Realität. Es handelt sich um ζ. T. noch recht j u n g e Patienten mit recht dramatischen Lebensläufen. 3. Aggressionsgehemmte, nicht durchsetzungsfähige, äußerst unselbständige C M A mit einem relativ intakten sozialen Umfeld, aber mit vielfältigen pathologischen Bindungen. Der Lebenslauf dieser Patienten ist durch Kontinuität geprägt. 4. Auffällig ist bei den Patienten dieser Gruppe ihr Streben nach Autonomie und ihre soziale Desintegration. Alle Patienten sind wohnungslos, und es besteht kaum ein Kontakt zu anderen Menschen. Der körperliche und psychische Status ist vergleichsweise gut. 5. C M A mit einer psychiatrischen Erkrankung (z.B. Depression oder Schizophrenie), wobei unklar bleibt, ob es sich um einen primären oder sekundären Alkoholismus handelt. Sowohl Bartmann (1982) als auch Rienas, Sohns-Pflüger & Schulz (1992) ziehen abschließend einige Schlußfolgerungen für die Behandlung dieser speziellen Gruppen von Alkoholikern. Im Z u s a m m e n h a n g mit C M A wird man 87

Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA)

immer wieder auf das gemeinsame Auftreten von Alkoholismus und anderen psychiatrischen Erkrankungen hingewiesen. In diesem Fall spricht man von -•Komorbidität. In vielen repräsentativen und klinischen Studien konnte nachgewiesen werden, daß Alkoholabhängigkeit überzufällig häufig gemeinsam mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auftritt, vor allem gemeinsam mit Angststörungen, affektiven Störungen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Entwickeln sich die anderen psychiatrischen Erkrankungen in der Folge langjährigen Alkoholmißbrauchs, so spricht man von primärem Alkoholismus, ist - genau umgekehrt - der übermäßige Alkoholkonsum Folge einer anderen Erkrankung, so verwendet man den Begriff „sekundärer Alkoholismus". Eine zusätzliche psychiatrische Erkrankung beschleunigt und verschlimmert den Krankheitsprozeß in Richtung auf eine chronische Mehrfachschädigung. CMA mit einer zusätzlichen psychiatrischen Erkrankung stellen eine spezielle Gruppe der CMA dar, die spezifisch behandelt werden müssen. Nicht nur psychiatrische Erkrankungen sind überzufällig häufig mit Alkoholismus assoziiert und können den Krankheitsprozeß nachhaltig im Sinne einer chronischen Mehrfachschädigung beeinflussen, dasselbe gilt auch für Nichtseßhaftigkeit, körperliche Behinderung oder Kriminalität. 5. Diagnostik. Voraussetzung für eine individuelle, differenzierte und qualifizierte Behandlung ist eine umfassende -»•Diagnostik. Zur Diagnostik von CMA bieten sich Verfahren zur Erfassung von Folgeschäden an, die von der Anamnese über die körperliche Untersuchung, apparativ-technische Diagnostik und Verhaltensbeobachtung bis hin zur neuropsychologischen und testpsychologischen Untersuchung reichen. Bekannte Fragebogen zur Erfassung von Folgeschäden sind der „Alkohol Problem Questionnaire" (APQ) von Drummond 88

(1990), der „Fragebogen zu Sekundärmerkmalen des Abhängigkeitssyndroms" von John u.a. (1992) und der „Addiction Severty Index" von McLellan u. a. (1980), letzterer basiert auf einem Interview. Ein spezielles Verfahren zur Identifizierung von CMA wurde von Hilge/Schulz (1999) entwickelt. In der „Braunschweiger Merkmalsliste" (BML) werden in Form eines Fremdratings die folgenden 11 Suchtfolgeschäden beurteilt: alleinstehend, Sicherung des Lebensunterhaltes durch Sozialhilfe, langzeitarbeitslos, wohnungslos, mindestens sechs Entgiftungbehandlungen, mindestens eine Einweisung mit richterlichem Beschluß, gesetzliche Betreuung, Heimunterbringung, Delir, Korsakowpsychose und -•Polyneuropathie. Ein Alkoholiker wird dann als CMA bezeichnet, wenn für ihn mindestens vier dieser Charakteristika zutreffen. Gleichzeitig wurde mit dieser Festlegung ein Beitrag zur operationalen Definition von CMA geleistet. 6. Versorgung. CMA werden im Rahmen der „klassischen" 'Suchtkrankenhilfe, bestehend aus Fachberatungsstellen, Suchtfachkliniken und Selbsthilfegruppen nur in Ausnahmefällen behandelt, da sie weder bereit noch in der Lage sind, solche Einrichtungen aufzusuchen und das Hilfsangebot anzunehmen. Sie verfügen nicht über das erforderliche Maß an Eigeninitiative und Veränderungsmotivation. Die Einrichtungen der „klassischen" Suchtkrankenhilfe sind ihrerseits nicht auf die Arbeit mit CMA eingestellt, da sie Freiwilligkeit sowie ein Mindestmaß an Mitwirkungsfähigkeit und Krankheitseinsicht voraussetzen. Die CMA sind demgegenüber hauptsächlich in den weniger spezialisierten psychiatrischen Krankenhäusern zu finden, bei den Sozialpsychiatrischen Diensten, in der Familienfürsorge, in Alten- und Pflegeheimen, in den ambulanten und stationären Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe, in den Justizvollzugsanstalten usf. Nur ein

Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker (CMA)

kleiner Teil der CMA ist in speziellen Übergangs- und Dauerwohnheimen untergebracht (Wienberg 1992). Die CMA werden nicht nur fachlich unzureichend betreut und behandelt. Da CMA eine Vielzahl schwerer körperlicher, psychiatrischer und sozialer Probleme haben, werden sie aufgrund der Spezialisierung des Sozial- und Gesundheitssystems in der Regel auch von sehr vielen Einrichtungen mit sehr verschiedenen Problemperspektiven beraten und versorgt. Für Suizidgedanken ist die Krisenberatung zuständig, für Alkoholprobleme die Suchtberatung und für die nichtbezahlte Miete das Sozialamt oder die Schuldnerberatung. Die unzureichende Koordinierung der Hilfen der verschiedenen Einrichtungen hat zur Folge, daß die für gezielte Hilfen erforderliche ganzheitliche Betrachtung der Probleme nicht erfolgt, das Hilfesystem ist überfordert, das Nachsehen hat der Betroffene. Vor diesem Hintergrund verwundert die schlechte Prognose CMA nicht. 7. Behandlung. In der Vergangenheit wurden immer wieder Versuche unternommen, Behandlungsangebote speziell für CMA zu entwickeln. Die Angebote reichen von spezifischen Hilfen zur sozialen und beruflichen Rehabilitation über neuropsychologische Hirnleistungstrainings bis hin zur psychotherapeutischen Behandlung psychotisch Erkrankter. Gemeinsam ist diesen Versuchen, die Behandlung individueller, differenzierter und qualifizierter zu gestalten. Da es sich bei CMA um eine sehr heterogene Gruppe von Alkoholikern handelt, sollte die Behandlung den unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden. Für einen großen Teil dieser Alkoholiker stellt das in der Suchtbehandlung geltende Ziel der Abstinenz eine Überforderung dar. Bei vielen CMA geht es primär darum, die Abbauprozesse zu verlangsamen und eine einigermaßen menschenwürdige Pflege zu gewährleisten. Bei den meisten Behand-

lungen stehen soziotherapeutische Verfahren im Vordergrund. Sehr viele CMA werden wie andere chronisch Erkrankte auch auf Dauer auf Hilfe angewiesen sein. Bei einigen psychisch schwer erkrankten CMA sind wiederum langjährige psychotherapeutische Maßnahmen erforderlich. Für eine adäquate Behandlung ist eine umfassende und gezielte Diagnostik ebenso erforderlich wie besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Behandlungseinrichtung und der therapeutischen Maßnahmen. Unumgänglich ist auch eine gründliche psychologische und neuropsychologische Diagnostik. Vor dem Hintergrund realistisch formulierter Ziele können solche spezifischen Angebote durchaus zu Erfolgen führen, wie Erfahrungsberichte und empirische Studien belegen. Für CMA gibt es immer noch zu wenig geeignete Behandlungsangebote, auch wenn hier seit Beginn der 90er Jahre eine positive Entwicklung zu verzeichnen ist. Es fehlen insbesondere 1. teilstationäre Einrichtungen wie z.B. Tages- und Nachtkliniken, 2. Übergangs- und Dauerwohnheime, therapeutische Wohngemeinschaften und Einzelwohnbetreuungen, 3. Arbeitsmöglichkeiten für unterschiedlich belastbare CMA, 4. Himleistungstrainings für hirnorganisch beeinträchtigte CMA und 5. Spezialkliniken für psychiatrisch erkrankte Alkoholiker mit einem differenzierten psychotherapeutischen Angebot. 8. Ausblick. Wie bei allen Krankheiten sind es die Schwerkranken, die unsere besondere Hilfe und Unterstützung brauchen. Mit zunehmender Chronifizierung der Alkoholkrankheit nehmen nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen und sozialen Folgeschäden zu. Es ist daher unerläßlich, dieser Erkenntnis bei der Gestaltung der Behandlungsangebote Rechnung zu tragen. Die Behandlung sollte mit zunehmender Krankheitsentwicklung individueller, differenzierter und qualifizierter werden. Das Gegenteil scheint immer noch 89

clean der Fall zu sein. Je gravierender eine Alkoholkrankheit ist, desto schwerer zugänglich, allgemeiner und oberflächlicher scheint die Behandlung zu werden. Vermutlich gibt es bei Alkoholikern nicht mehr „hoffnungslose Fälle" als bei anderen chronischen Erkrankungen auch, doch scheinen wir bei diesen Patienten weniger Toleranz aufzubringen. Vielleicht ist diese mangelnde Toleranz ein wesentlicher Faktor, der verhindert, vermehrt neue Wege in die Suchtkrankenhilfe zu erproben. ( •Armut) Lit.: Bartmann, U., Überlegungen zur alternativen Alkoholismusbehandlung in einem Landeskrankenhaus, in: Psychiatrische Praxis 9 (1982) 9 9 - 1 0 5 ; Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), E m p fehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprog r a m m s Psychiatrie der Bundesregierung. Bonn 1988; D r u m m o n d , C., T h e relationship between alcohol dependence and alcohol-related problems in a clinical population, in: British Journal of Addiction 85 (1990) 3 5 7 - 3 6 6 ; Hilge, T. und Schulz, W., Entwicklung eines Meßinstruments zur Erfassung chronisch mehrfach geschädigter Alkoholkranker: Die Braunschweiger Merkmalsliste (BML), in: Sucht 45 (1999) 5 5 - 6 8 ; John U., Schnofl, Α., Veltrup, C., Bunge, S„ Wetterling, T. & Dilling, H., Sekundärmerkmale des Alkoholabhängigkeitssyndroms: Entwicklung eines diagnostischen Fragebogens, in: Sucht 38 (1992) 3 6 2 - 3 7 0 ; McLellan, Α. T., Luborsky, L., Woody, G. E. & O ' B r i e n , C. P., An improved diagnostic evaluation instrument for substance abuse patients, in: The Journal of Nervous and Mental Disease 168 (1980) 2 6 - 3 3 ; Rienas, S., Sohns-Pflüger, Β. & Schulz, W„ Zur Situation und Betreuung chronisch mehrfachgeschädigter Alkoholkranker nach einer Entgiftungsbehandlung im

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Co-Abhängigkeit Niedersächsischen Landeskrankenhaus Königslutter. Schriftenreihe der Suchtforschungsstelle Ostniedersachsen, Hefte 20. Königslutter 1992. Schmidt, L., Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch. Stuttgartt 4 1997; Schulz, W„ Empirische Studie zur Häufigkeit, Charakteristik und Behandlung prognostisch ungünstiger Alkoholiker in einem psychiatrischen Krankenhaus, in: Sucht 38 (1992) 3 8 6 - 3 9 7 ; Wienberg, G., Struktur und Dynamik der Suchtkrankenversorgung in der Bundesrepublik ein Versuch, die Realität vollständig wahrzunehmen, in: Wienberg, G. (Hrsg.), Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen. Bonn 1992: 12-60. Wolfgang Schulz, Braunschweig clean (engl, sauber) 1. zumindest zur Zeit drogenfrei sein 2. sauberer Stoff einer psychotrop wirkenden Substanz Co-Abhängigkeit 1. Wandel im Suchtverständnis. In den letzten 100 Jahren haben verschiedene Auffassungen von •Sucht einander abgelöst: Sucht als Erbkrankheit („Es liegt in der Familie"), Sucht als moralisches Versagen („Ein willensschwacher Mensch"), Sucht als Krankheit i. S. der RVO - seit 1968 („Krankheitswert"), Sucht als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse („Folge der Ausbeutung der Arbeiterklasse"), Sucht als Familienkrankheit („Eine Kommunikationsstörung des Familiensystems") und Sucht als Lösungsversuch („Sucht und Nichtsucht als Optionen"). Erst als die familiäre Interaktion genauer untersucht wurde, konnte der Gedanke der Co-Abhängigkeit, also der gemeinsamen Abhängigkeit mehrerer Beteiligter formuliert werden. Heute ge-

Co-Abhängigkeit hört diese Auffassung zum Grundwissen der Helferinnen und Helfer, die im Suchtbereich arbeiten. 2. Definition. Co-Abhängigkeit bezeichnet Haltungen und Verhaltensweisen von Personen, Gruppen und Institutionen, die durch Tun und Unterlassen dazu beitragen, daß der süchtige oder suchtgefährdete Mensch süchtig oder suchtgefährdet bleiben kann (Fengler 1994). „Wird Abhängigkeit eines Menschen offenbar, finden sich in seiner U m g e b u n g (fast) immer Menschen, die ihm helfen möchten und dabei entmutigende Erfahrungen machen. Mit freundlichen Bitten, Versprechungen und Enttäuschungen fängt es an. Ängste, Appelle, Drohungen, Streitereien folgen. Schließlich sind die Angehörigen kaum weniger hilflos als die Abhängigen selbst: ihre Gedanken kreisen um sein Verhalten, und ihr Leben ist massiv eingeschränkt - sie sind co-abhängig" (DHS, 1993). „So wurde CoAbhängigkeit zunächst als zwanghafte Reaktion auf dauernde Anspannung, die das Leben mit einem süchtigen Familienmitglied mit sich bringt (angesehen). „Diagnostiziert" wurde sie, wenn emotionale Taubheit oder emotionaler Schmerz vorlagen, wenn die Betroffenen in ihrer familiären Rolle extrem rigide und „festgefahren" waren, und wenn die Beziehung zu einem suchtkranken Menschen einen wichtigen Platz in ihrem Leben e i n n a h m " (Rennert 1990 S. 187). Dies festzustellen ist weder Vorwurf noch Schuldzuweisung. Mancher Angehörige verhält sich aus Angst co-abhängig, mancher, um der Familie ein Minim u m an Lebensstandard und sozialem Ansehen zu erhalten. Scham und Stolz verhindern oft eine sachliche und notwendigenfalls auch öffentliche Auseinandersetzung mit der Sucht im eigenen Lebenskreis. Co-Abhängigkeit ist also Irrtum, Versäumnis und Verstrickung. Sie ist in ähnlicher Weise behandlungsbedürftig wie die Abhängigkeit des Süchtigen. Sie hat in vielen Fällen Krankheitscharakter.

Co-Abhängigkeit 3. Ebenen und Beispiele. Das Phänomen Co-Abhängigkeit wurde zunächst in Kreisen der A n o n y m e n Alkoholiker erwähnt. Heute wissen wir: Co-Abhängigkeit kann in allen Lebensbereichen auftreten, in denen sich ein süchtiger Mensch bewegt. - Gesellschaftliche Co-Abhängigkeit: Die Besteuerung von Tabak- und Alkoholkonsum ist eine sichere Einnahmequelle der Regierung. Werbeagenturen stellen in Verbindung mit Suchtstoffen Erfolg, Attraktivität, Sex, gute Laune, Urlaub, Zärtlichkeit, Gesundheit u. a. in Aussicht. Dealer stellen Rauschmittel zur Verfügung. Große Unternehmen werben mit ihren Produkten auf Rave-Partys und stellen auf diesem Wege Kontexte her, in denen sog. Designerdrogen konsumiert werden können. Freier nutzen den Suchtdruck abhängiger Prostituierter und Stricher zur preisgünstigen sexuellen Ausbeutung und finanzieren so deren Sucht. - Co-Abhängigkeit im Arbeitsleben: A m Arbeitsplatz werden Aufgaben, die der Süchtige schlecht oder nicht löst, auf seine Kollegen verteilt. Kollegen akzeptieren dies aus einer falsch verstandenen Kameradschaft heraus. Der Vorgesetzte äußert z.B.: „Ich weiß, daß er trinkt. Aber man muß das verstehen. Er hat familiäre und finanzielle Probleme. Wenn ich ihm jetzt auch noch Vorwürfe mache, bricht er bestimmt endgültig zusammen. Ich will nicht die Verantwortung d a f ü r übernehmen, daß der sich vielleicht das Leben nimmt." Oder: „Ich weiß, daß er trinkt. Aber betrunken leistet er immer noch mehr als andere Mitarbeiter in nüchternem Zustand." Im Betrieb wird zur Suchtproblematik geschwiegen; oder Mitarbeiter mit einem Suchtproblem werden immer wieder in andere Abteilungen versetzt, etwa noch in Verbindung mit einer Beförderung. (-»-Betriebliche Suchtprävention) - Co-Abhängigkeit im Freundeskreis: 91

Co-Abhängigkeit

Der Süchtige renommiert mit Trinkexzeß und „Filmriß" und wird in der Umgebung damit bewundert. Thekenkumpane rühmen seine Trinkfestigkeit. Man spricht über ihn und seine Sucht, nicht aber mit ihm. Nach einer Entwöhnungsbehandlung wird das Thema Abhängigkeit peinlich vermieden. Oder man drängt den Betreffenden „in froher Runde", doch ein „Schlückchen" mitzutrinken, weil er sonst ein Spielverderber sei. - Co-Abhängigkeit in der Familie: Substanzmißbrauch eines Familiengehörigen wird geflissentlich übersehen oder nach außen verharmlost. Die Partnerin trinkt mit, damit ihr Mann nicht allein, im Lokal oder mit anderen Frauen trinkt. Die unter Suchtmitteleinfluß mißhandelte Partnerin äußert, wenn sie auf die sichtbaren Spuren der Gewalt angesprochen wird, sie habe sich an der Tür gestoßen oder sei die Kellertreppe hinuntergefallen. Wenn der Betreffende suchtbedingt nicht zur Arbeit geht, rufen Angehörige dort an und nennen einen falschen Grund. Kinder übernehmen in übermäßigem Pflichtbewußtsein häusliche Aufgaben, u. a. bei Haushaltsführung und Versorgung jüngerer Geschwister, um den ausgefallenen Elternteil zu ersetzen, und verfallen dabei in starre Rollen, die nicht kindgemäß sind und ihnen später zu schaffen machen. Familienangehörige geben dem süchtigen Familienmitglied Geld, obwohl sie wissen, daß er es zur Finanzierung der Sucht verwenden wird. Eltern dulden, daß ihr Kind gegen die Vereinbarung, in der gemeinsamen Wohnung nicht zu kiffen, zu schnüffeln und zu spritzen, immer wieder verstößt. Kinder schweigen zur Sucht der Eltern, statt sich an Personen ihres Vertrauen zu wenden (Ein Fragebogen gibt für diesen Bereich Gelegenheit zur Selbstdiagnose; Rußland 1985). ( »Familie; 'Familientherapie; -»-Kinder suchtkranker Eltern) 92

Co-Abhängigkeit

- Co-Abhängigkeit in der Behandlung. Ärzte verschreiben Medikamente immer weiter, obwohl sie deren Suchtpotential kennen und die Gefährdung des Patienten wahrnehmen ( »-iatrogene Abhängigkeit). Krankenkassen genehmigen nur noch Behandlungen, die unterhalb dessen liegen, was von der Suchtproblematik her angezeigt ist (kurz statt lang, ambulant statt stationär, Selbsthilfe statt professioneller Beratung). Im Kampf um die Belegung stimmen Institutionen der Suchthilfe in Konzept und Therapie Kompromissen zu, die fachlich nicht vertretbar sind. Psychotherapeuten lassen Patienten in der Suchtbehandlung Verstöße gegen den therapeutischen Kontrakt durchgehen wie in einer Art geheimer Kumpanei. Co-Abhängigkeit ist immer eine gemeinsame Abhängigkeit mit verteilten Rollen. Sie ist durch einen stillen Konsens gekennzeichnet, sich wechselseitig nicht ins Gehege zu kommen. Der eine Partner ist von Suchtmittel oder Suchtverhalten abhängig, der andere von Liebe, Harmonie oder Bewunderung. Der letztere profitiert u. U. in kranker Weise vom Süchtigsein des anderen; er zieht nicht hinreichend Grenzen zwischen sich und dem süchtigen Partner; er kann es vielleicht auch nicht. Oft fehlt es ihm an Eigenständigkeit. Jedenfalls leistet er einen Beitrag dazu, daß alles so bleibt wie es ist. So wird er zum Komplizen der Sucht. 4. Co-Abhängigkeit und Leidensdruck. Co-Abhängigkeit verlängert auf beiden Seiten Abhängigkeit und Leidenszeit. Aus psychologischer Sicht wird die Neurose unter anderem als die Haltung eines Menschen charakterisiert, der die Folgen seines Handelns nicht zu tragen bereit ist. Dies ist an vielen süchtigen Menschen zu beobachten. Der co-abhängige Partner verstärkt nun ausgerechnet diese Neigung des Süchtigen. Er übernimmt immer wieder Vertuschungsdienste für ihn, die es diesem ermögli-

Co-Abhängigkeit chen, die Illusion aufrechtzuerhalten, er sei nicht süchtig, bis zum Scheitern. Dabei werden vier Phasen durchlaufen: B e schützerphase, Kontrollphase, Anklagephase und vollständige Hilflosigkeit ( D H S 1993). Eine andere Einteilung unterscheidet Lernphase, Suchphase, schädliche Phase und Fluchtphase der Familie in der Co-Abhängigkeit (Rennert, 1990). Hier wird auch gezeigt wie die Belastung durch den süchtigen Angehörigen beginnt, wie Bewältigungsversuche einsetzen und scheitern, bis die Familie letztendlich resigniert. Das coabhängige Verhalten wird dabei zunächst sporadisch, später gewohnheitsmäßig, zwanghaft und zuletzt süchtig ausgeführt. Eine Faustregel aus der Suchtbehandlung lautet: Der Betroffene ist erst dann zur Therapie bereit, wenn der Leidensdruck größer ist als der Suchtdruck. Der therapeutische Leidensdruck ist also eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß der süchtige Mensch sich zur Therapie entschließt. Durch die Co-Abhängigkeit seiner Umgebung wird er gleichsam ständig darum betrogen, diesen therapeutischen Leidensdruck zu entwikkeln. Indem man ihm immer wieder die Wege ebnet, trägt man immer wieder dazu bei, daß er nicht zu einer Neuentscheidung über sein Leben findet. Auch das Umgekehrte gilt: Manchem Menschen gelingt es, sich aus einer Suchtabhängigkeit zu lösen und abstinent zu werden. Wenn dann sein Partner es versäumt, an der eigenen Co-Abhängigkeit zu arbeiten, so wird er vielleicht dazu neigen, den Partner verdeckt immer wieder zum Trinken zu animieren. Der alte, unangenehme, aber vertraute Zustand der Beziehung erscheint ihm gleichsam immer noch erträglicher als der neue ungewisse, der auch ihm selbst ein Stück seelischer Arbeit abverlangen würde. Bleibt der süchtige Partner derartigen Versuchungen gegenüber standhaft, so gehen solche Partnerschaften oft auseinander: Das alte Beziehungsgefüge zwischen dem abhängigen und dem co-

Co-Abhängigkeit abhängigen Partner ist aufgekündigt, und eine Neukalibrierung, in der beide eine angemessen veränderte Position finden müßten, gelingt nicht. 5. Validität des Konzepts. Die Schlüssigkeit des Co-Abhängigkeits-Konzepts hat sich auf vielfältige Weise erwiesen; vor allem im Nahbereich der süchtigen Person wird dies deutlich: Angehörige, Freunde und Kollegen fühlen sich, ähnlich wie der Süchtige, in einer Zwangslage oder in einem Teufelskreis, aus denen sie mit eigenen Kräften nicht mehr herausfinden. S o wie der Süchtige auf das Suchtmittel fixiert ist, so sind sie auf ihn, seine Launen, Drohungen und B e dürftigkeiten fixiert. Ihr ganzes Leben wird von diesem Thema in Anspruch genommen; andere Interessen und Kontakte, Gesundheit und B e r u f werden dem geopfert. Ähnlich wie der Süchtige selbst kommen sie dabei auf die Dauer zu kurz in ihrem Leben. Angebotene Hilfen können oft nicht angenommen werden. Der co-abhängige Mensch erscheint wie gelähmt, seine Wahrnehmung für Lösungsperspektiven und seine Entscheidungsfähigkeit sind oft eingeschränkt. Trotz bestehender Einsicht macht er die gleichen Fehler immer wieder. S o ermahnte eine Frau immer wieder erfolglos ihren Mann, weniger zu trinken, und bezog immer wieder Prügel von ihm. Ein Mann lernte am Tag der Scheidung von einer heroinabhängigen Frau eine andere heroinabhängige Frau kennen und beschloß spontan, sie als Partnerin bei sich aufzunehmen. In beiden Fällen ist das Muster unübersehbar, dem der co-abhängige Mensch unterliegt. Das Konzept Co-Abhängigkeit bietet allen Beteiligten einen Perspektivenwechsel an. Für den Süchtigen macht das Konzept sichtbar, daß Menschen seiner Umgebung in ähnlicher Weise wie er selbst verstrickt sind. Er wird seine Hilfeerwartungen an sie - oft sind es Riesenansprüche - zu relativieren haben. E r erkennt, daß er Täter und Opfer

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Co-Abhängigkeit des Geschehens ist. - Der co-abhängige Mensch erkennt, daß auch er gefährdet ist, daß weniger Hilfe oft mehr Hilfe ist und daß er d e m Süchtigen nur helfen kann, indem er für sich selbst sorgt und an Eigenständigkeit gewinnt. - Für Suchthelferinnen und Suchthelfer stellt das Co-Abhängigkeits-Konzept eine Möglichkeit dar, den süchtigen Menschen und dessen Bezugspersonen in ihren Lebenskontexten zu verstehen und eine Hilfestellung ganzheitlicher zu akzeptieren. Es schützt sie u. U. davor, selbst in eine co-abhängige Position zu geraten und - gut gemeint - gerade das Falsche tun. 6. Theoretische Erklärungsansätze. Im - • D S M IV (Saß et al. 1996) wird eine Persönlichkeitsstörung als überdauerndes Muster in Erleben und Verhalten definiert, das merklich von den Erwartungen der Umwelt abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, in der Adoleszenz oder dem frühem Erwachsenenalter beginnt, im zeitlichen Verlauf stabil ist und zu Leiden oder Beeinträchtigungen führt. Unseren bisherigen Ausführungen g e m ä ß liegt es nahe, Co-Abhängigkeit als Persönlichkeitsstörung zu betrachten oder jedenfalls mit Persönlichkeitsstörungen in Verbindung zu bringen. Denkbar ist, daß Co-Abhängigkeit gehäuft bei abhängig - selbstunsicheren (Saß et al. 1976) oder depressiven Persönlichkeiten (Riemann 1975) auftritt. Es liegt nahe, an die sog. „Helfer-Persönlichkeit" und das sog. „Helfer-Syndrom" (Schmidbauer 1975) zu denken, also an die Neigung, aus eigener ungestillter Liebesbedürftigkeit in einen Z w a n g zum Helfen hineinzugeraten. Co-Abhängigkeit mag auf „Falscher Fürsorge" (Hambrecht 1987) beruhen oder auf übermäßiges Lieben zurückgehen (Norwood 1986). Man hat früher Co-Abhängigkeit für ein typisch weibliches Reaktionsmuster gehalten; dies gilt wohl für die Mehrzahl aller Fälle, nicht aber generell. Gesicherte Aussagen sind zu dieser Frage noch nicht zu machen; die verfüg-

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Co-Abhängigkeit bare Literatur stammt vor allem aus dem Selbsterfahrungs- und Beratungsbereich. Unter Helferinnen und Helfern, die sich in eine Position der Co-Abhängigkeit begeben, sind Burnout-Phänomene verbreitet (Fengler 1998). Die Psychoanalyse hilft uns, Co-Abhängigkeit als Wiederholungszwang zu verstehen: Ein Verhalten, das in der Kindheit unter Umständen einmal aus schwerer Not gerettet hat, wird später beibehalten, obwohl die Verhältnisse sich mittlerweile geändert haben und ein anderes erwachsenes Verhalten angemessen wäre. Die Transaktionsanalyse weist uns auf den Spielcharakter der Beziehung hin: Der abhängige Mensch und sein Partner nehmen fein abgestimmte Spieltransaktionen vor, mit deren Hilfe sie sich wechselseitig kontrollieren und manipulieren. A m Ende sind beide die Verlierer. Einen weiteren theoretischen Aufschluß entnehmen wir der Kommunikationstheorie und der Rollentheorie. Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit stellen sich als symmetrische oder komplementäre Rollenübernahmen dar, die zu einer stabilen Kooperation führen, allerdings innerhalb eines Systems, das alle Beteiligten krank macht. Wenn die K o m m u nikation sich ändert und ein Rollenwechsel stattfindet, kann das gemeinsame Abhängigkeitsmuster gelockert werden. 7. Maßnahmen. Was läßt sich gegen CoAbhängigkeit tun? Hilfreich bei den Überlegungen zu dieser Frage ist das Bild vom Mobile: Der süchtige Mensch und seine co-abhängigen Mitmenschen hängen als Figuren in einem Mobile, das sie in einem zerbrechlichen und labilen Gleichgewicht halten. Wenn eine der Bezugspersonen vom Mobile absteigt, m u ß er selbst, wie auch alle anderen und vor allem der Süchtige ein neues Gleichgewicht miteinander finden. Der erste Schritt ist gewiß immer, dem co-abhängigen Menschen in der Beratung erkennbar zu machen, wie sehr er,

Co-Abhängigkeit während er oder sie noch denkt, Gestalter des Geschehens zu sein, in die Dinge verstrickt ist. Oft wird die Ermutigung hilfreich sein, das eigene Leben zwar nicht gegen den süchtigen Partner, aber eigenständiger als bisher und teilweise ohne ihn zu planen und zu gestalten. Es gilt, Hilfe durch Nicht-Hilfe zu lernen und Nicht-Hilfe von Nicht-Tun zu unterscheiden. Bei den -»Anonymen Alkoholikern gibt es Angehörigengruppen (Al-Anon) und Jugendgruppen (Alateen), die die Neigung zur Co-Abhängigkeit aufzeigen sowie den angemessenen U m g a n g mit dem süchtigen Angehörigen diskutieren und einüben. Soweit Frauen sich als coabhängig erkennen, erhalten sie oft in Frauengruppen Hilfe und Beratung. In einigen Fällen wird sich der co-abhängige Partner für eine Einzeltherapie entscheiden, in der die Fixierung an den Süchtigen, aber auch andere Aspekte von Selbstblockierung und Selbstentfaltung zur Sprache kommen. Im Laufe stationärer Behandlungen erwachsener Süchtiger besteht Gelegenheit, in Wochenendseminaren mit d e m Partner eine neue Form des Zusammenlebens einzuüben. Familientherapien helfen oft, aus einer symbiotischen Verstrickung herauszufinden. Der Prozeß der Gesundung von Suchtund Co-Abhängigkeit läßt sich in das Bild von einem Netz kleiden. Betrieb, Arzt, psychotherapeutischer Suchthelfer und Familie bilden die vier Ecken eines Netzes, in dessen Mittelpunkt der süchtige Mensch sich befindet. Wenn sie frei von Co-Abhängigkeit konsequent handeln, so vermag der Süchtige den Entschluß zur Behandlung zu fassen und diese Zeit durchzustehen, unterstützt vom Netz seiner wichtigen Bezugspersonen. Präventionsarbeit kann in allen Phasen der -»Erziehung geleistet werden. Elternhaus, ^Kindergarten, -»Schule, Jugendarbeit haben die Möglichkeit, zur Aufmerksamkeit für eigene Gefühle und Wünsche anzuhalten und zur Einübung

Co-Abhängigkeit von Nähe sowie zur Abgrenzung anzuleiten. Menschen mit gutem Selbstbewußtsein, mit der Fähigkeit, über Gefühle und Beziehungen zu kommunizieren und mit Festigkeit in eigenen Haltungen können in der Regel mit Situationen, die eine Co-Abhängigkeit nahelegen, erfolgreich umgehen. 8. Ausblick Co-Abhängigkeit ist bisher hauptsächlich im Bereich Alkoholabhängigkeit untersucht worden. A u f g a b e der weiteren Forschung wird es sein, Spezifika der Co-Abhängigkeit in den unterschiedlichen Suchtkontexten zu benennen und differentielle Formen von Beratung, Behandlung und Selbsthilfe zu entwickeln. Lit.: Black, C. (1988), Mir kann das nicht passieren. Kinder von Alkoholikern als Jugendliche und Erwachsene. Bögner-Kaufmann, Wildberg; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (1991), Ein Angebot an alle, die einem nahestehenden Menschen helfen wollen. Selbstverlag H a m m ; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (1993), Frau sucht Liebe. „Co-Abhängigkeit" und „Beziehungssucht". Selbstverlag H a m m ; Doll, A. (1990), Endlich reden. Frauen von alkoholabhängigen Männern berichten. Galgenberg, Hamburg; Fengler, J. (1994), Süchtige und Tüchtige. Begegnung und Arbeit mit Abhängigen. Pfeiffer-Verlag München; Fengler, J. (1996), Konkurrenz und Kooperation in Gruppe, Team und Partnerschaft. Pfeiffer, München; Fengler, J. (1998), Helfen macht müde. Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation, Pfeiffer-Verlag München 5. erweiterte Auflage; Hambrecht, M. (1987), Wenn Helfer zu Komplizen werden, in: Psychologie Heute 3, 2 8 - 3 3 ; Körkel, J. (1991), Rückfall m u ß keine Katastrophe sein. Ein Leitfaden für Abhängige und Angehörige. Blaukreuz, Wuppertal, Lask, K. (1988), Der Kuß der Selene. Frauen von Alkoholabhängigen machen Mut. Blaukreuz, Wuppertal; 95

Coca

Craving

Melody, P. (1991), Verstrickt in die Probleme anderer. Über die Entstehung und Auswirkung von Co-Abhängigkeit. Kösel, München; Melody, P., Wells Miller, A. (1992), Wege aus der Co-Abhängigkeit. Kösel, München; Norwood, R. (1986), Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden. Rowohlt, Reinbek; Rennert, M. (1990), Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Lambertus, Freiburg; Riemann, F. (1975), Grundformen der Angst, Reinhardt-Verlag München; Rußland, R. (1985), Das Suchtbuch für die Arbeitswelt. IGM-Verlag, Frankfurt; Saß, H„ Wittchen, H. U., Zaudig, M. (1996), Das DSM IV, Hogrefe, Göttingen; Schaef, A. W. (1986), Co-Abhängigkeit. Bögner-Kaufmann, Wildberg; Schmidbauer, W. (1975), Die hilflosen Helfer. Rowohlt Reinbek; Wegscheider, Sh. (1988), Es gibt noch eine Chance. Hoffnung und Heilung für die Alkoholiker-Familie. Bögner-Kaufmann, Wildberg; Woititz, J. G. (1990), Um die Kindheit betrogen. Hoffnung und Heilung für erwachsene Kinder von Suchtkranken. Kösel, München; Woititz, J. G. (1992), Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Wie erwachsene Kinder von Suchtkranken Nähe zulassen können. Kösel, München Jörg Fengler, Köln Coca -•Kokain Cocain •Kokain Codein (griech.: Kodeia, die Mohnkapsel) C. ist ein Alkaloid der Schlafmohnkapsel und häufig in Schmerzmitteln enthalten. C. wirkt euphorisierend. Zunächst wurde C. als Hustendämpfer eingesetzt, da es das Hustenzentrum im zentralen Nervensystem hemmt. Durch das erhebliche Abhängigkeitspotential wird C.

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heute kritisch betrachtet und von Kombinationspräparaten, die C. enthalten, wird abgeraten. Im Rahmen der -•Substitution hat C. als Ersatzstoff eine hohe Bedeutung, weil es lange nicht den Bestimmungen des BtmG unterlag. Insbesondere Remedacen wird von Drogenabhängigen genutzt. C. unterliegt seit dem 1.2. 1998 dem -•Betäubungsmittelgesetz. -•Drogenrecht; •Geschichte der Opiate Cola Drogenpflanzen; -•Kola-Nuß Cold turkey C.t. ist ein jargonhafter Ausdruck für den •kalten Entzug. Computer -•Mediensucht Crack Die Grundsubstanz von C. ist Kokain, das mit Backpulver und Wasser aufgebacken wird, durch diesen Vorgang wird die kokaintypische Wirkung verstärkt (-•Kokainbase). C. wird üblicherweise geraucht. Der Crack-Rausch dauert nur wenige Minuten. C. erzeugt eine starke psychische Abhängigkeit, das physische Abhängigkeitspotential ist noch umstritten. Die Nebenwirkungen sind erheblich: Depressionen, Halluzinationen, Gefäß- und Hirnschädigungen u. a. Crack hat sich Ende der 80er Jahre in den USA epidemisch ausgebreitet, während es in Deutschland in sehr viel geringerem Maße konsumiert wird. -•Drogenabhängigkeit; -•Kokain Craving (engl.: Sehnsucht) In den angelsächsischen Ländern wird C. vielfach als Begriff für das sehr starke, übermächtige Verlangen nach Alkohol im frühen Entzug oder nach längerer Abstinenz genutzt. Mit Craving wird ein subjektives Gefühl bzw. Einstellung bezeichnet, nicht ein Verhalten. -•Acamprosat®

Designer-Drogen

Datenbank

D Datenbank Sammlung von Daten, die in einem Computerspeicher vorgehalten wird und Anwendern, z.B. über das Internet, zugänglich ist. -•Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur; -•Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information; -•Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (SOMED) Dealer (engl.: Händler) Zunächst in der Szene und inzwischen allgemein üblicher Begriff für den Drogenhändler. Delirium tremens (sog. Alkoholdelir) Das D. ist eine Komplikation des alkoholbedingten Entzugssyndroms (selten ein Exzessdelir). Es beginnt meist nach Absetzen des Alkohols bei stark körperlich abhängigen Alkoholikern mit einer langen Vorgeschichte. Symptome sind Bewußtseinstrübung und Verwirrtheit, Suggestibilität, optische und akustische Halluzinationen und ausgeprägter Tremor. Das D. kann chronifizieren und in ein -•Korsakow-Syndrom, eine alkoholische Demenz oder eine Encephalopathie Wernicke übergehen. Als alkoholische Demenz wird eine irreversible Hirnschädigung bezeichnet, die aufgrund der langandauernden toxischen Einwirkung des Alkohols auf das Gehirn entsteht. Zu den Kernsymptomen gehören Denkverarmung, Erinnerungsstörungen, Störungen in der Wahrnehmung und im Ausdrücken von Gefühlen, zeitweilige Unruhe. Die alkoholische Demenz ist heute sehr selten und kommt in höherem Lebensalter vor. Als Encephalopathie Wernicke wird eine schwere hirnorganische Schädigung benannt, die sich u. a. durch Augenmuskellähmungen, Bewußtseinstrübungen, Störungen der Bewegungskoordination auszeichnet. Bei einem Delir ist eine

stat. Akutbehandlung dringend angezeigt, da ein unbehandeltes D. tödlich verlaufen kann. Lit. ICD-10, F10.4 -^Entzug; -•Prädelir; -•Psychosen Der Beauftragte/Die Beauftragte der Bundesregierung für Drogenfragen Bundesministerium des Inneren Die Einrichtung der Funktion eines Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen geht zurück auf den Beschluß des Bundeskabinetts vom August 1992. Mit dieser Institution soll auf der Grundlage des im Jahre 1990 beschlossenen Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplans ein verbesserter Informationsaustausch und eine stärkere Abstimmung der Maßnahmen der mit der Drogenproblematik befaßten Bundesressorts erreicht werden, um die Rauschgiftbekämpfung und die Hilfe für die Süchtigen weiterhin zu verbessern. Die Funktion des Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen ist im Bundesministerium des Inneren angesiedelt, die des ständigen Vertreters/Vertreterin im Bundesministerium für Gesundheit. Zu den einzelnen Themenbereichen zählen: Präventionsarbeit, Beratung, Behandlung und Therapie von Abhängigen sowie Belange der Strafverfolgung nebst einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit. Um diesem umfassenden Anspruch sowohl auf Leitungs- als auch auf Arbeitsebene gerecht zu werden, wurde parallel zur Bestellung des Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen eine diesem unmittelbar zugeordnete Geschäftsstelle eingerichtet. Anschrift: Graurheindorfer Straße 198, 53117 Bonn, Tel.: 0 2 2 8 / 6 8 1 3 5 7 0 , Fax: 0228/6814399 Designer-Drogen 1. Einleitung. Designer-Drogen haben das Spektrum geläufiger Rauschmittel nachhaltig erweitert. Bereits sind Synonyme wie „Modedroge", „Partydroge", 97

Designer-Drogen „synthetische Droge" und „dance d r u g " in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Die Hauptkonsumentengruppe setzt sich aus Jugendlichen und Jungerwachsenen zusammen. A u f k o m men und Verbreitung der Designer-Drogen stehen in Deutschland in einem engen Z u s a m m e n h a n g mit einem relativ jungen Musikstil - Techno und House. Auf großen Parties, sogenannten „Raves", wird neben anderen Drogen in erster Linie „Ecstasy" konsumiert. Mit Z u n a h m e und Vergrößerung solcher Veranstaltungen mehren sich auch die Hinweise, daß der Gebrauch von synthetischen Amphetaminderivaten drastisch steigt und diese Drogen heute zu den meistgebrauchten illegalen Rauschmitteln gehören (Keup 1997, Bundeskriminalamt 1996, Schuster und Wittchen 1996). Gleichzeitig vollzieht sich, was die Konsummuster illegaler Drogen betrifft, im gesamteuropäischen Raum ein Veränderungsprozeß: Während die Einnahme von betäubenden Drogen rückläufig ist, werden aktivierende Rauschmittel immer häufiger eingenommen (Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht 1997). Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika spielt das breite Spektrum an Designer-Drogen mit Ausnahme der Arylalkanamine, zu denen Ecstasy und andere Amphetaminabkömmlinge gerechnet werden, in der Bundesrepublik Deutschland bisher allerdings eine untergeordnete Rolle. 2. Spektrum der Designer-Drogen. Sahihi (1991, 9) schreibt in seinem Buch über „Designer-Drogen", daß es in relativ naher Zukunft „preisgünstige, vom menschlichen Organismus leicht zu verdauende Drogen geben (werde), mit denen die Menschen ihre Lüste und Unlüste, Produktivitäts- und Ruhephasen kontrollieren können, wann immer sie es wünschen, ohne sich und der Gesellschaft irgendwelchen Schaden zuzufügen". Diese Ansicht teilt auch Saunders (1994, 38f.). Er sagt, daß es „neue Me98

Designer-Drogen thoden, wie zum Beispiel die Einpflanzung von Elektroden in die Hirne lebender Tiere erlauben, die Wirkungen neuer Drogen sicher und schnell zu prüfen (...). Neue, psychoaktive Drogen könnten nach der M o d e maßgeschneidert werden. Sind die Leute der alten M o d e überdrüssig und suchen nach neuen Verhaltensweisen (...), werden Drogen mit der gewünschten Wirkung geschaffen". Im Gegensatz zu solchen Einschätzungen hat sich jedoch in der bisherigen Geschichte das M a ß an Kreativität und Innovation bei den Herstellern synthetischer Drogen als sehr gering erwiesen. Ganz offensichtlich wird in den illegalen Drogenlaboratorien im In- und Ausland mehr kopiert als kreiert und zweifellos geht es den Herstellern von DesignerDrogen mehr um ihren finanziellen Profit als um das pharmakologisch induzierte Wohlbefinden ihrer Kunden. Beginnend gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wurden durch manche Pharmakologen, die nach wirksamen Medikamenten suchten, chemische Stoffe synthetisiert und entdeckt, welche aufgrund gravierender Nebenwirkungen nie vermarktet oder aber nach kurzem Einsatz in der Medizin wieder vom Markt zurückgenommen wurden. Jahrzehnte später wurden diese Substanzen von den Betreibern der Untergrundlaboratorien erneut aus der Versenkung hervorgeholt und nun zum Zwecke ihrer illegalen Vermarktung synthetisiert. M D M A (der Hauptinhaltsstoff von „Ecstasy"), Phencyclidin (PCP) und Methylaminorex („Euphoria", „U4Euh") beispielsweise haben eine solche Vergangenheit. Andere Designer-Drogen, etwa FentanylAbkömmlinge und einige Amphetaminderivate, werden heute als wirksame Arzneimittel eingesetzt und aufgrund ihrer psychotropen Nebeneffekte für den illegalen Markt illegal erzeugt. Mittlerweile befindet sich der Rauschgiftmarkt international in einer Umbruchsituation. Die Erzeuger und Vertreiber botanischer illegaler Drogen (-•Cannabis, - • K o k a i n , -^Heroin) ste-

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hen den Betreibern illegaler Laboratorien gegenüber, in denen Designer-Drogen im profitablen Stil synthetisiert werden. O b sich die Designer-Drogen längerfristig behaupten werden und ob diese möglicherweise den Absatz botanischer, illegaler Drogen zurückdrängen, läßt sich zur Zeit nicht sicher prognostizieren.

3. Substanzen. Zu den Designer-Drogen rechnet man Opioide (Fentanyle und Prodine), Arylalkanamine (Amphetamine und Methamphetamine), Tryptamine, Phencyclidine sowie eine Fülle anderer Substanzen, die aber aus epidemiologischer Sicht kaum von Bedeutung sind (siehe folgende Abbildung). 3.1 Opioide.

Unter einer pharmakologisch-forensischen Perspektive versteht man unter Designer-Drogen Substanzen, welche die rauscherzeugende Eigenschaft einer psychotrop wirksamen Substanz enthalten, die der strafrechtlichen Verfolgung unterstellt ist und deren Molekularstruktur infolgedessen geringfügig abgeändert wurde, um eben diese justitielle Konsequenz zu umgehen. Im „Idealfall" führen Designer-Drogen also die Rauschwirkungen der Herkunftssubstanzen herbei, ihr chemischer Aufbau wird aber von Drogengesetzen nicht erfaßt. Konsequenterweise spricht Kovar (1990, 99) von „synthetischen Suchtstoffen der ersten Generation" und den Varianten dieser Klassiker als „synthetische Suchtstoffe der zweiten Generation". Wo der Zweck der ersten Generation noch darin bestand, die aus Pflanzen isolierten Wirkstoffe synthetisch zu verbessern und auf diese Weise den psychotropen Effekt zu optimieren, ist es Zweck der zweiten Generation, gesetzliche Bestimmungen durch eine synthetische Manipulation zu umgehen. Inzwischen sind aber auch die gebräuchlichen Designer-Drogen der „zweiten Generation" in das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) a u f g e n o m m e n worden. Heute ist das Spektrum der DesignerDrogen selbst für den Chemiker nur noch schwer zu überschauen. Allein vom Phencyclidin (PCP) sind weit mehr als 100 Derivate bekannt, und aus der Gruppe der Fentanyle, die in der Medizin vor allem zur Narkosevorbereitung Verwendung finden, werden heute in illegalen Laboratorien etwa 200 von 1000 theoretisch denkbaren Variationen hergestellt (Grausam 1992).

3.1.1 Fentanyle. Die Gruppe der Fetanyle und ihrer Derivate umfaßt Medikamente wie auch illegal synthetisierte und vertriebene Stoffe. Es handelt sich um Opiatabkömmlinge mit einem außerordentlich hohen substanzeigenen Suchtpotential und den opiat-typischen psychotropen Effekten (Euphorisierung, Hebung des Selbstwertgefühls, Unbeschwertheit etc.). Fentanyl wird in der Medizin als Arzneimittel eingesetzt. D a die analgetische Wirkung im Vergleich zur Morphinwirkung etwa 300 fach stärker ist, setzt man es vornehmlich bei der Narkosevorbereitung ein. Die erste Designerdroge der 2. Generation, das Alphamethyl-fentanyl (AMF), wurde Ende der 70er Jahre in Kalifornien unter dem N a m e n „China W h i t e " illegal gehandelt. Bis Mitte der 80er Jahre traten drei weitere Abkömmlinge auf: Alphamethylacetyl-fentanyl,3-Methyl-fentanyl (TMF; „Persian White") und Parafluorfentanyl. Ein drastisches Ansteigen der konsumbedingten Todesfälle führte Mitte der achtziger Jahre zu einem allmählichen Rückgang des Gebrauchs dieser Stoffe in den Weststaaten der U S A - ungeachtet dessen wurde noch in den frühen 90er Jahren ein endemischer Gebrauch von T M F an der Ostküste beobachtet. Die potentielle Gefahr der Fentanylabkömmlinge ist in ihrer hohen pharmakologischen Potenz begründet. Beispielsweise entfaltet das T M F das 1000- bis 6 0 0 0 fache der Morphinwirkung. Atemdepressionen und HerzKreislauf-Versagen sind die häufigsten Todesursachen. Substanzverunreinigungen, Toleranzphänomene und die Kombination mit anderen Stoffen sind weitere Risikofaktoren.

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• Kreuztoleranz; •Medikamentenabhängigkeit Diuretika Arzneimittel, das die Harnproduktion der Nieren steigert und damit zu einer verstärkten Natrium- und Wasserabgabe mit dem Harn führt. Koffein ist beispielsweise ein schwaches Diuretikum. Harntreibende Medikamente werden dann verschrieben, wenn die im Körper vorhandene Wassermenge reduziert werden muß. Am häufigsten ist dies bei Bluthochdruck und Herzversagen der

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Dokumentationssysteme Fall. Diuretika werden auch bei Störungen des Wasser-Elektrolyt-Haushalts eingesetzt, die vor allem bei Herzkrankheiten auftreten. Mißbräuchlich verwendet werden Diuretika, ebenso wie •Laxantien von Patienten mit Bulemie oder Anorexia nervosa (-•Eßstörungen) und im -»Doping zum sog. Gewichtsdoping im Boxsport (durch massive Wasserausscheidung können Sportler in eine niedrigere Gewichtsklasse eingruppiert werden) und zum Kaschieren der Einnahme anderer Dopingmittel (der Urin wird mittels der Diuretika so verdünnt, daß z.B. der Nachweis von Anabolika nicht mehr möglich ist). Daher führt der Nachweis von Diuretika im Urin bei Leistungssportlern zur Disqualifizierung. -»Doping; 'Medikamcntenabhängigkeit Dokumentationssysteme Im Rahmen der -"-Qualitätssicherung haben Dokumentationssysteme an Bedeutung gewonnen. Zu den verbreiteten innerhalb der Suchthilfe gehören ->EBIS (für die ambulanten Einrichtungen) und >SEDOS (für die stationären Einrichtungen). Sie dienen sowohl der Dokumentation, wie auch der •Evaluation, wenn Katamnesen durchgeführt werden. Doping Als doping (engl, to dope, hinters Licht führen) wird der Gebrauch verbotener körperfremder oder -eigener Substanzen bezeichnet, die aufgrund ihrer Dosis oder Zusammensetzung zur Leistungssteigerung von Sportlern führen. Die medizinische Kommission des Internationalen Komitees definierte pragmatisch: „Doping ist die Anwendung dessen, was durch spezielle Listen verboten ist. Der Nachweis des Dopingfalls wird durch positive Analyse einer verbotenen Substanz erbracht." Die medizinische Kommission des IOC erstellt entsprechende Listen, aktualisiert sie regelmäßig und führt offizielle Kontrollen durch. Die Dopingliste des IOC enthält verbotene Wirkstoffgruppen, wobei fünf 112

Doping Gruppen von Substanzen unterschieden werden: 1. Psychomotorische Stimulanzien (-•Amphetamine, -•Kokain), 2. sympathomimetische Amine (-»Ephedrin), 3. Stimulanzien des Zentralnervensystems (z.B. Amiphenazol, Substanz mit direkt erregender Wirkung auf das Atemzentrum), 4. Narkotika und Analgetika ( •Heroin, -•Morphin) und 5. anabole Steroide (Anabolika, von den Androgenen abgeleitete Hormone, die zum Muskelaufbau verwendet werden). Zu den Dopingmitteln zählen auch Wirkstoffgruppen mit eingeschränkter Anwendbarkeit wie Alkohol. Sedativa sind im Schießsport und im modernen Fünfkampf verboten und Koffein (Nachweis über Urinkontrollen, Anteil, der über den normalen Kaffee- oder Teekonsum nicht erreicht werden kann) steht seit 1984 auf der Dopingliste. Auch der Gebrauch von -»Diuretika als sog. Gewichtsdoping ist verboten. Durch die massive Wasserausscheidung könnten z.B. Boxer in eine niedrigere Gewichtsklasse eingruppiert werden. Darüber hinaus gibt es verbotene Methoden, dazu gehören Blutdoping bzw. Eigenbluttransfusion, physikalische, chemische und pharmakologische Manipulationen. Gefahren sind u. a. das Überwinden der eigentlichen Leistungsgrenzen mit anschließenden Zusammenbrüchen und den bei allen Substanzen erheblichen Nebenwirkungen. Doping verstößt gegen die Chancengleichheit im sportlichen Wettkampf, ist aber bereits seit der Antike gebräuchlich. Dopingkontrollen, die seit 1966 bei internationalen Sportveranstaltungen durchgeführt werden, lassen die Verbreitung immer wieder publik werden. Bekannte Dopingfälle sind der kanadische Sprinter Ben Johnson, die deutsche Sprinterin Katrin Krabbe sowie 1998 die italienische Festina-Mannschaft wäh-

Dosissteigerung rend der Tour de France. Sportlern, die des Dopings überführt werden, werden die Medaillen aberkannt, bei Olympischen Spielen werden sie von weiteren Wettbewerben ausgeschlossen. -•Medikamentenabhängigkeit Dosissteigerung D. bezeichnet die Tendenz, durch die pharmakologische Gewöhnung an Substanzen die Dosen zu steigern, um den gewünschten Effekt (Sedierung, -•Euphorie etc.) zu erzielen. Während beim Mißbrauch/schädlichen Gebrauch einer Substanz die Neigung gering ist oder fehlt, ist die D. Bestandteil der körperlichen Abhängigkeit. -•Abhängigkeit; -•low dose dependence; - • Toleranz Drogen 1. Ursprüngliche Bezeichnung für getrocknete Pflanzen oder deren Teile, die direkt als Heilmittel verwendet oder aus denen Wirkstoffe isoliert wurden (-»Arznei). 2. Grundsätzlich werden unter dem Begriff D. alle pflanzlichen und chemischen Substanzen zusammengefaßt, die über das zentrale Nervensystem die subjektive Befindlichkeit eines Konsumenten beeinflussen. In diesem Zusammenhang gehören auch Genußmittel wie Kaffee, Tabak und Alkohol, aber auch sedierende und schmerzlindernde Medikamente, Schlaf- und Beruhigungsmittel und Schnüffelstoffe zu den Drogen. 3. Als D. werden heute im alltäglichen Sprachgebrauch meist diejenigen Substanzen bezeichnet, deren Herstellung, Verkauf, Erwerb und Konsum „illegal" sind. Die rechtliche Grundlage dafür bildet das -•Betäubungsmittelgesetz (BtMG). 4. Darüber hinaus wird zwischen „legalen" D., wie Tabak und Alkohol und „illegalen" D. unterschieden. Bei den illegalen D. wird wiederum zwischen „weichen" D., wie Haschisch, -»Cannabis, »Ecstasy und „harten" D., wie z.B. -•Heroin und -•Kokain unterschieden.

Drogen in der Literatur Drogen im Krieg Drogen wurden in vielen Kriegen gezielt eingesetzt: als Teil des Soldes, als Stimulanzien, zur Reduzierung von Angst usw. In Teilen Indiens war im 13. Jahrhundert Opium ein Teil des Soldes, den ein Fürst seinen Kriegern zu zahlen hatte. Jeder Soldat erhielt etwa viereinhalb Kilogramm, was einer Tagesdosis von vierzehn Gramm entspricht. Um 1520 erhielt jeder Offizier pro Jahr 263 Kilogramm Opium, die für eine Bezahlung von sechzig Mann ausreichten. Im amerikanischen Sezessionskrieg (1861-1865) und im DeutschFranzösischen Krieg (1870/71) wurden Morphium und Amphetamine als stimulierende Substanz gezielt eingesetzt, ebenso von der deutschen Wehrmacht und der britischen Armee im 2. Weltkrieg. Schätzungsweise 10-15% der US-Soldaten haben während des Vietnamkrieges Heroin konsumiert, bei sozialer Integration in die Vereinigten Staaten gaben die meisten den Heroinkonsum wieder auf. Drogen in der Literatur Versteht man unter dem Begriff der Literatur vorwiegend künstlerische Produktionen, lassen sich in historischer Perspektive drei Aspekte unterscheiden, unter denen der Zusammenhang von Drogen und Literatur betrachtet werden kann: 1. die Rolle des Drogenkonsums in einer ästhetischen Theorie des Rausches, der Imaginationskraft und der Kreativität; 2. die Darstellung des Drogenkonsums und seiner Folgen innerhalb poetischer Texte; 3. die individuellen Drogenkarrieren von Autorinnen und Autoren. Wie auch Kupfer in seinen thematisch grundlegenden Arbeiten (1996a; 1996b) hervorhebt, stellt die Ausprägung romantischer Poetiken und Lebensgefühle im 18. Jahrhundert einen für die Moderne folgenreichen Umschlagpunkt in der Bewertung des Zusammenhangs von Rausch und Kunst dar. Zwar machte 1994 ein Quellenfund Schlagzeilen, wo113

Drogen in der Literatur

nach Goethe und Schiller 1797 in Jena an einem Haschisch-Experiment beteiligt waren. Selbst wenn sich die Authentizität der Dokumente bestätigte, stellte dies jedoch nicht in Zweifel, daß es erst ein Autor wie der sich Novalis nennende Friedrich von Hardenberg (1772-1801) war, dessen gegen Goethe gerichtete Prosa und Lyrik den Rausch zum Movens poetischer Produktion werden ließ. Selbstbezeugungen zufolge setzte Novalis Opiate aus dem privaten Motiv ein, die Schmerzen über den Verlust seiner früh verstorbenen Verlobten zu mildern. Daß der Katholik Novalis den durch Laudanum ermöglichten Rauschzustand indes auch in seiner Rolle als Dichter schätzte, wird deutlich, sobald man sich die visionäre Funktion verdeutlicht, die der sprichwörtlich gewordene Traum von der blauen Blume und die synästhetischen Wahrnehmungen in Novalis' berühmtestem Fragment, dem der „Vernünftigkeit" des „Wilhelm Meister" Goethes programmatisch entgegengesetzten Roman „Heinrich von Ofterdingen", einnehmen. Eine Sensibilisierung der Wahrnehmung, erleichtert durch den braunen Saft des Mohns, von dem seine „Hymnen an die Nacht" sprechen und die Sehnsucht - der Durst - nach dem Zerfließen verhelfen Novalis dazu, Zeichen zu erkennen, die dem nüchternen Blick verborgen bleiben und die die Wiederkehr eines goldenen und paradiesischen Zeitalters anzeigen. Eine Fortführung der dunklen Motive des auch wegen seines frühen Todes legendären Novalis zeigt sich in dem vor allem im Ausland beachteten Werk Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns (1776-1822). Obschon Hoffmann in seinem für die Rauschthematik aufschlußreichen „Märchen aus der neuen Zeit" „Der goldne T o p f mit dem trunkenen Ausblick auf ein wunderbares Atlantis Novalis' Ofterdingen-Roman grüßt, spiegelt seine Prosa die zeitgenössischen Interessen an „romantischen Wissenschaften", so dem Magnetisieren und den Lehren vom Somnambulismus. Deren 114

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psychologische Visionen gründeten auf der Vorstellung einer dem Unterbewußten korrespondierenden Kraft, die das oberflächlich reale Ich außer Kraft setze und somit der konventionellen und eingeschliffenen Wahrnehmung eine zweite Realität unterschiebe, die in Wahnbildern und märchenhaften Phantasien durchscheine. Wie bereits Novalis über einen Zusammenhang von Rauschmitteldosierung und Charaktertypus spekulierte, so verläuft auch der Drogeneinsatz in Hoffmanns exemplarischer Märchenfiktion nach methodischen Gesichtspunkten. Um zum Erfolg, nämlich in den Besitz des Imaginationsund Handlungsvermögens zu kommen, muß zu Punsch, zu Likören oder anderen berauschenden Essenzen gegriffen werden - selbst Hoffmanns Erzähler bedarf solcher Berauschung. Gleichwohl gilt es, Überdosierungen zu vermeiden, um den Verwüstungen und Lähmungen des Stoffes zu entgehen. Diese hier nicht im einzelnen nachzuzeichnende Methodik spricht dafür, daß das Spiel mit der Droge nicht als beliebige Episode, sondern als schwer verzichtbarer Faktor in der Produktion einer alternativen Wirklichkeit anzusehen ist. Zwar scheint die Vielzahl märchenhafter Motive und die Befriedigung zeitgenössischer Lesebedürfnisse nach Wundersamen das verbreitete Urteil zu stützen, daß man es mit einer lediglich eskapistischen Literatur zu tun habe, jedoch zeigen sich in der Vision des imginären und die Wahrnehmungskonventionen sprengenden Poeten auch Motive der ästhetischen Moderne. Hoffmanns Biographie liefert selbst einen Beitrag zu jenem das Identitätspostulat zersetzenden Motiv der Doppelexistenz, das im „Schlemihl" des Zeitgenossen Chamisso in eine wirkungsvolle Fabel gebracht wird. Gescheitert im Versuch, sich als professioneller Künstler, nämlich als Musiker, zu etablieren, gedachte er seiner juristischen Ausbildung und wirkte, obschon Berliner Modeschriftsteller geworden, tagsüber als preußischer Gerichtsrat -

Drogen in der Literatur ein gelegentlich widerständiges, aber tadellos arbeitendes Rad im Getriebe der preußischen Gesellschaft. Die Nachtseite gehörte dem abgründig fabulierenden und trinkenden Künstler im Weinhaus. Die schlecht honorierten Texte von „le Grand Hoffmann" übten erheblichen Einfluß auf zwei internationale Wegbegleiter der Moderne aus: Edgar Allen Poe (1809—49) und Charles Pierre Baudelaire (1821-67). Abgesehen von seiner besonders mit dem Gedicht „The Raven" bekannt gewordenen Lyrikproduktion, gründet Poes literarischer Ruhm auf zahlreichen Erzählungen, die der Entwicklung der amerikanischen Kurzgeschichte und der Genres der Kriminalliteratur sowie der Gothic Novel (Schauerroman) wesentliche Impulse gaben. Während der exzessive Alkoholkonsum Poes durch die literarischen Konkurrenten wirksam skandalisiert wurde und mithin Thema jeder Poe-Biographie ist, bleibt umstritten, welche Bedeutung der Rausch für seine poetischen Konzepte besitzt und ob Poe privatim regelmäßig Opiate konsumierte. Kupfer unternimmt den Versuch, für beide Aspekte positive Antworten zu liefern (Kupfer 1996b: 341 ff. u. 517 ff.). Während die von ihm präsentierten Indizien zur Rolle des Opiumkonsums in Ermangelung zwingender Quellen nur in Spekulationen münden, führt die Rekonstruktion der Idee einer „ratiocination" bzw. einer Methode der „Rauscherkenntnis" als Mischform aus poetischintuitiven rationalen Geistestätigkeiten in Denkmuster ein, die nicht nur Poes Produktion kennzeichnen: Distanz wird gegenüber der modischen Vorstellung von einem intuitionsgesteuerten Genie eingenommen, jedoch am übersprachlichen Wert poetischer Imaginationen festgehalten. Die Rauschaffinität dieser Bestimmung zeigt sich darin, daß sie die im Rausch realisierten Allmachtsphantasien durch die Kater-Erfahrung relativiert, daß sich das Imaginierte im intensiven Rauscherlebnis poetisch nicht ad-

Drogen in der Literatur äquat artikulieren läßt. Daß der Doppelcharakter des poetischen Prozesses von Rausch und Nüchternheit den Dichter in eine Doppelexistenz versetzt, kann als Essenz der berühmten Geschichte „Der Untergang des Hauses Usher" (1839) entnommen werden: Der explizit mit einem Opiumesser verglichene Melancholiker Roderich Usher verkörpert hier in seinem kreativen Vermögen den Rauschkünstler, der Ich-Erzähler in seiner zunehmend lädierten Normalität hingegen den rationalen Charakter. Die Pointe der psychologisch konstruierten Fiktion besteht darin, daß es der vermeintliche Phantast ist, der die Geschehnisse im Hause durchschaut, während der Erzähler, von Usher als wahnsinnig tituliert, den Ereignissen blind ausgeliefert ist. Allerdings: die Kräfte des Rausches behalten nicht das letzte Wort. Es ist der angeschlagene Erzähler, der überlebt und das Vermögen besitzt, die Geschichte des Untergangs zu gestalten. Ob es sich beim „Imp of the Perverse", als den man Poe mit dem Titel einer seiner Stories bezeichnete, um einen Opiumkonsumenten handelte, kann weder aus diesen noch aus anderen Erzählungen geschlossen werden. Zu bedenken ist nämlich, daß der Opiumrausch für das zeitgenössische Literaturpublikum ein modisches Thema darstellte, an das ein um Erfolg bemühter Autor anschließen konnte. Für das modische Interesse sorgten englische Enthüllungen - die „Confessions of An English OpiumEater", 1822 in England erschienen, 1823 in den USA verlegt - von Poe rezensiert. Ihr Autor war Thomas De Quincey (1785-1859); zum einen nährte er Spekulationen über das geheime Leben der Literaten, zum anderen lieferte sein Plädoyer für die Drogenkraft Impulse für einen Diskurs über die Gefahren und Potentiale künstlicher Imaginationen. In diesen Diskurs griff insbesondere mit Baudelaire ein Autor ein, durch dessen Essays und Übersetzungen der in den USA angefeindete Poe, ähnlich wie Hoffmann, in Frank115

Drogen in der Literatur reich zum gefeierten Poeten avancierte. 1857 erschien, behindert durch die Zensur, Baudelaires Lyriksammlung „Fleurs du mal", die der Literaturgeschichte als Meilenstein moderner Lyrik gilt. Charakteristisch für die Poetik der „bösen B l u m e n " ist die Haltung des allegorisierenden Flaneurs, einer großstädtischen Existenz, die Teil der Menge ist und deren Wahrnehmungen sich doch dem allgemeinen Rhythmus entziehen. Der vermeintlich satanisch-blasphemische Ton seiner Verse will der Kunst die Suche nach Harmonie austreiben und an deren Stelle die Dissonanzen der modernen Welt, die Präsenz des Erhabenen im Banalen ausspielen. Die allegorische Aufladung des passantisch Wahrgenommenen verlangt besondere Inspirationen, da es gilt, ordinäre Objekte zu visuellen Chiffren werden zu lassen. Solche Inspiration scheint einer berauscht verzerrten Betrachtung der Alltagswelt anverwandt zu sein; und auch im Lebensstil des Dandy-Flaneurs Baudelaire manifestiert sich eine methodisch plausible Exzentrik, die der Stimulanz durch die Droge, namentlich den Wein, nicht entsagte. Im folgenden größeren Werk Baudelaires, „Les paradis artificiels" (1860), wird dies thematisch: Auf der Basis eigener Rauscherfahrungen setzt sich der mehrfach überarbeitete - essayistische Text mit D e Quincey und den Drogen auseinander. Die Bilanz fällt skeptisch aus: Obgleich das Glück des Berauschten und die Imaginationen des Haschischnutzers geschildert werden, setzt Baudelaires Urteil auf den Katzenjammer, der dem gottähnlichen Höhenflug des Berauschten folgt. Nicht die Künstlichkeit des paradiesischen Rausches wird beklagt, sondern daß die Künstlichkeit und die Allmacht bloße Illusion blieben: Wo die Willenskräfte demontiert würden, die den Ausstieg aus den Niederungen der Natur und des Jetzt erst ermöglichten, könne Kunst keine eigenen Welten erschaffen. Dieser nachhaltigen Skepsis stehen allerdings Beschreibungen der „Künstlichen Paradiese" 116

Drogen in der Literatur entgegen, aus denen die Faszination der dämonischen Droge spricht. Die Rezipienten Baudelaires folgten dem Rat, der Droge zu entsagen, nur bedingt: Mit der Ästhetik des „L'part pour l'art" bleiben künstliche Inspiration und der Flirt mit den Kräften des Bösen Themen moderner Poetik, sei es im Symbolismus, im Surrealismus (u. a. Andre Breton, 1896-1966), im Imagismus ( u . a . Ezra L. Pound, 1885-1972), im Hermetismus (u. a. Salvatore Quasimodo, 1901-68) oder im weitgezogenen Kontext des Expressionismus. Innovativ wirkten hier zunächst die Dichtungen Arthur R i m b a u d s (1854-91), dessen Lebensstil an der Seite des exzentrischen Poeten Paul Verlaine ( 1 8 4 4 - 9 6 ) den Dandyismus Baudelaires noch überbot. Rimbauds Autorkarriere begann im Alter von zehn Jahren und endete - nach dem zweiten Tötungsversuch durch den Gefährten Verlaine - für den Zwanzigjährigen mit dem Ausstieg aus der Kunst und dem Einstieg in nordafrikanische Handelsgeschäfte. Die aus der aktiven Zeit überlieferten Briefdokumente und die sperrigen Prosagedichte „Illuminations" folgten vornehmlich einer symbolistischen Poetik, die der an Baudelaire anknüpfende Begriff des „Voyant", des Sehenden, motiviert. Über die Destruktion etablierter Wahrnehmungsmuster sollte auf künstlichem Wege eine Welt anorganischer Schönheit als sinnliche Irrealität visioniert werden. Für die göttlichen Visionen einer abstrakt geratenen Phantasie sei, so Rimbaud, der Preis des Persönlichkeitsverlusts zu zahlen. Nicht der O l y m p sei der Platz des Voyant, sondern die Hölle, der Untergang - eine Perspektive, die bei allen Unterschieden der Ausdrucksmittel, deutliche Parallelen zur Todessehnsucht Novalis' aufweist. Rimbauds Gedicht „Trunkener M o r g e n " beschließt der Ausruf: „Und jetzt kommt die Zeit der Haschischjünger!" Die poetische Methode Rimbauds verbietet es zwar, solche und andere Verweise auf die Kräfte der Droge autobiographisch zu lesen und als Suchtbe-

Drogen in der Literatur lege zu werten. Folgenlos indes blieb die ästhetizistische Rezeptur eines dichterischen Höllenwegs in die Welt der Halluzinationen für die Akteure des künstlerischen Feldes kaum. Für die deutschsprachige Lyrik liegt unter diesem Aspekt der Hinweis auf Georg Trakl (18871925) nahe, dessen Drogenkarriere (u. a. Chloroform, Kokain und Opium) ebenso gut dokumentiert ist wie seine Wertschätzung Baudelaires und Rimbauds. Im Naheliegenden des Verweises liegt aber zugleich die bekannte Gefahr: Allzu leicht neigt man dazu, so auch Kupfer (1996a: 165 f.; 1996b: 58), sprachliche Merkmale wie Trakls Farbmetaphorik - insbesondere die meßbare Affinität zum Farbadjektiv ,blau' - als Indizien für ein Drogenkünstlertum zu nehmen. Vor solchen Zuschreibungen ist mit Recht gewarnt worden (Rusch/ Schmidt 1983: 303): im zeitgenössischexpressionistischen Erwartungshorizont ist das Spiel mit Synästhesien bereits derart ausgeformt, daß Rückschlüsse von Bildsprachen auf individuelle Rauscherfahrungen kaum mehr überzeugen. Andere Nuancen zeigen die Arbeiten Gottfried Benns (1886-1956), dessen 1917 im Band „Fleisch" erschienene Gedichte „O, Nacht - : " und „Cocain" den als Erlösung begriffenen IchZerfall direkt thematisieren. Erneut muß vor der Falle biographischer Zuschreibungen gewarnt werden: trotz Kokainerfahrung handelt es sich bei Benn nur um einen moderaten Biertrinker. Jedoch kann an Benn studiert werden, wie das romantische Thema des aufgelösten Ichs über die Rezeption psychologischer Theorien in das Experiment mit der Droge mündet. Benns lyrische Idee vom Kokain suchte die Provokation; in den Kunstfeldern der europäischen Metropolen stellte die Praxis und die Beschwörung des künstlerischen Rausches aber keineswegs ein Tabu dar. Die Pariser Surrealisten um Breton und ihr leicht verspäteter - deutscher Rezipient, der Kunsttheoretiker Walter Benjamin (1892-1940), erklärten den Rausch of-

Drogen in der Literatur fen zum subversiven Medium; Benjamin selbst führte Mitte der zwanziger Jahre mit Ernst Bloch Selbstversuche an Haschisch durch und veröffentlichte die um den Haschischrausch kreisenden Prosatexte „Myslowitz-BraunschweigMarseille" (1930) und „Haschisch in Marseille" (1932) (vgl. Rühmkorf 1995: 403). Hermann Hesses (1877-1962) berühmter Roman „Der Steppenwolf' (1927) schickte seinen Protagonisten Harry Haller mit der Hilfe von Kokain in die Unterwelt eines magischen Theaters. Ob diese und weitere Referenzen es rechtfertigen, vom Kokain als einer „Gesellschaftsdroge" zu sprechen (Kupfer 1996a: 160), ist trotz der unzweifelhaften Rauschaffinität der zeitgenössischen Literatenboheme fraglich. Nicht vergessen werden darf nämlich, daß sich die Rezeption symbolistischer Poetiken durch den „schwarzen Expressionismus" auf eine Strategie des Schocks und der Untergangsmetaphorik verlegt hatte, die eine Fixierung auf das sozial Verdrängte, auf entfesselte Triebe und halbseidene Milieus zu einer Pflichtaufgabe werden ließ (Hamann/Hermand 1977). So ist Benns und anderer Kokain-Referenz wahrscheinlich weniger authentischer Ausdruck eines Konsumstils als poetisches Kalkül. Dennoch dürfte die mit melancholieträchtigen „Ennui"-Reminiszenzen aufgeladene Vision, in einem modernen Babel zu hausen, und der von Sloterdijk als „Modernisierung des unglücklichen Bewußtseins" beschriebene Zynismus (Sloterdijk 1983: 703) exzessiven Flirts mit der Droge zugespielt haben. Dieses Klima eröffnet auch den Diskurs der Opfer. Literarische Dokumente hierfür liefern Hans Fallada (1893-1947) und Klaus Mann (19061949). Als Fallada (eigentl. Rudolf Ditzen) seinen großen Welterfolg, den Roman „Kleiner Mann - was nun" (1932) feierte, hatte der morphium- und alkoholsüchtige Autor bereits Aufenthalte in Entziehungsanstalten und Gefängnissen hinter sich. Eine Phase der Abstinenz zwischen 1928 bis 1933, in der er seine 117

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literarische Produktivität wie ein Besessener steigerte, blieb Episode. Familiäre Probleme und ab 1944 das Zusammenleben mit einer Morphinistin werden für die entscheidenden Rückschläge verantwortlich gemacht, die Fallada in dem 1944 in einer Trinkerheilanstalt verfaßten Roman „Der Trinker" und in dem 1946 vollendeten Buch „Der Alpdruck" verarbeitete. In der Ich-Perspektive des Kaufmanns Erwin Sommer verfaßt, ist „Der Trinker", ähnlich wie der bereits 1913 publizierte Roman „König Alkohol" des angloamerikanischen Realisten und Alkoholikers Jack London (1876— 1916), wie die 1939 postum erschienene „Legende vom Heiligen Trinker" des am Alkohol gestorbenen Journalisten und Erzählers Joseph Roth (1894-1939) und wie der 1947 erschienene Roman „Unter dem Vulkan" des englischen Romanciers und Trinkers Malcolm C. Lowry (1909-57), kein autobiographisches Buch im engen Sinne der Memoirenliteratur. Doch zeigen sich vor allem in der Akzentuierung der Eheprobleme und der Behandlung durch Justiz- und Medizinalmaschinerie deutliche Parallelen zu den Erfahrungen des Autors. Seinen Protagonisten gibt Fallada am Ende auf: Die letzte Sehnsucht Sommers gilt einem Glas Schnaps, das ihn endgültig zu seiner „reine d'alcool" bringen soll. „Der Alpdruck" schildert, nun in der ErPerspektive des Schriftstellers Dr. Doli, die weiteren biographischen Stationen durchsichtiger, zeigt aber in der Schilderung der Rauscherlebnisse eine auffällige Zurückhaltung. Statt dessen politisiert Fallada die Sucht seines Helden, kennzeichnet ihn als Opfer des Krieges und des Verhaltens der Landsleute. Eine pathetische Würdigung erfährt - unter dem Namen Granzow - der Dichter und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (1891-1958), der sich als Repräsentant des sozialistischen Kulturbundes intensiv um den gestrauchelten Fallada kümmerte. Anders als im Trinker-Roman endet „Der Alpdruck" dann auch in einem schwach motivierten Op118

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timismus, der die Zukunft des Protagonisten in die Vision des Weltfriedens einrückt. Einen abweichenden Weg in die Sucht beschritt Klaus Mann, der, anders als Fallada, in jenen Künstlerkreisen verkehrte, die im Studium Baudelaires und anderer die theoretische und praktische Bekanntschaft mit den unterschiedlichsten Drogen suchten. Ihren literarischen Ausdruck finden die Suchterfahrungen Manns in seiner im Exil verfaßten Erzählprosa. Die Affinität zu Rauschvisionen zeigt sich eindringlich in der Konstellation des homosexuellen Figurenpaars Martin und Kikjou aus dem 1939 erschienenen Roman „Der Vulkan": Während der junge Dichter Martin, in romantischer Tradition als begabt und schwach gezeichnet, im Heroin schließlich seine „Sehnsucht zum Tode" befriedigt, überlebt Kikjou in einer surreal gestalteten Wendung: Die tödliche Droge ersetzt ihm ein neues Rauschmittel, das visionäre Kräfte verleiht, denen sich der Roman perspektivisch anschließt. Aus Kikjou wird ein fiebernder Katholik, der aus einer Mönchszelle heraus von seinem Engel auf eine Imaginationstour geschickt wird, auf der ihm sogar „unfaßbar milde und unfaßbar streng" die Offenbarung des Heilands zuteil wird. Expressionistisch gerät der an die Menschheit gerichtete Schlußappell des Engels: „Seid fromm! Bewahrt euch die Hoffnung! Steht auf eigenen Füßen!" Vom Einschluß in die Abhängigkeiten der Drogenwelt berichten ebenfalls die Tagebücher, bis ihr Autor sich 1947 wenige Tage nach einer erneuten Entziehungskur mit Tabletten vergiftet. Weitere autobiographische Spuren finden sich in den im amerikanischen Exil geschriebenen Stories „Speed" und „Afrikanische Romanze". Abhängigkeit und die Kunst, mit der Droge umzugehen, sind auch Themen eines Tagebuchs, das der von Klaus Mann bewunderte Universalkünstler Jean Cocteau (18891963) während eines Klinikaufenthalts verfaßte und 1930 unter dem Titel „Opium" publizierte. Für den literari-

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sehen Drogendiskurs sind sie interessant, da sie zwar den erfolgreichen Entzug protokollieren, gleichsam aber die Inspirationen durch das Opium und die Vereinsamung des Rauchers in ein positives Licht rücken. Das Opfer, das der Opiumsüchtige mit seinem Leben zu erbringen hat, wird in den kunstvoll gebrochenen Schlußbemerkungen Cocteaus als Opfer für die Kunst aufgefaßt. Die in solchen Wendungen anklingende Affinität des Künstlers zur Droge fundiert auch den von Gottfried Benn 1943 verfaßten Essay „Provoziertes Leben", in dem er notiert: „Potente Gehirne aber stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide." Provokative Elitarismen wie diese sind zwar, anders als in Ernst Jüngers (1895-1987) „Annäherungen. Drogen und Rausch" (1970), bei Benn durch eine ironische Tonlage geschützt, nachhaltig bleibt dennoch die Vision des Dichters, der - mit und ohne Hilfe von Drogen - ekstatischer Rauscherfahrungen bedarf. Benns Plädoyer für einen ethisch und ästhetisch motivierten Einstieg in den Rausch finden gewisse Entsprechungen in der psychedelischen Literatur, die einen theoretischen Bezugspunkt in zwei bis heute beachteten Essays findet, die der bekannte Autor der „Brave New Word" Aldous Huxleys (1894-1963) in den Jahren 1954 und 1956 vorlegte: „Die Pforten der Wahrnehmung" und „Himmel und Hölle". Was Huxley auf der Basis von Selbstversuchen an Spekulation zur Alltagstranszendenz bewußtseinserweitender Drogen vorträgt, entspricht den poetisch allerdings andere Wege gehenden Texten der Beatniks um William S. Burroughs (* 1914) mit „Junkie" (1953) oder „Naked Lunch" (1962), Jack Kerouac (192269) mit „Unterwegs" von 1957 oder Allen Ginsberg (1926-1997) mit „HowlGeheul" (1956). Von den genannten Werken und den öffentlichen Auftritten der Beatnik-Literaten gehen erhebliche Einflüsse auf die populäre Musik und Literatur (v. a. Ken Kesey, * 1935) der

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Hippie-Ära aus; eine Verbindung zeigt sich ebenfalls zu den Konzepten der französischen Surrealisten um Breton: Viele der Texte der Beat-Generation wurden „on the dope" in einem Verfahren der „Ecriture automatique" verfaßt, jenem spontanen Schreiben, das Bretons Manifest des Surrealismus von 1924 als Umsetzung der Erkenntnisse Sigmund Freuds propagierte und das Vorläufer bereits in der Romantik hat. In Deutschland zeigen sich die Reaktionen auf die Beat- und Hippie-Literatur erst im Untergang der Gruppe 47 mit Autoren wie Rolf-Dieter Brinkmann (1940-75), Nicolas Born (1937-79), Hubert Fichte (1935-86). Explizite LSD-Referenzen enthält das 1977 postum veröffentlichte Romanfragment „Die Reise" von Bernward Vesper (1938-71). An die Verbindung zur Pop-Musik knüpfen in jüngster Zeit auch in Deutschland „Poetry Slam"-Präsentationen an, die zum Teil auf klassische Drogenerlebnisse rekurrieren oder musikalische Rauscherfahrungen als „Pop Technik Poesie" verarbeiten. Betrachtet man abschließend den skizzierten literarhistorischen Zusammenhang, zeigt sich deutlich, daß die in der romantischen Literatur geweckte Option, das Imaginationsvermögen künstlich zu steigern, in nachfolgenden Poetiken fortgeschrieben wurde. Mit solcher Fortschreibung verbunden sind zum einen Verfahren, die lediglich intertextuell auf im Rausch gewonnene Bilder verweisen, zum anderen aber auch die Ausbildung eines - autoreflexiven thematischen Motivs, das den zumeist männlichen Autor (Crowley 1994) in eine Disposition zu Melancholie und Sucht rückt. Lit.: Crowley, John W., The White Logic: Alcoholism and Gender in American Modernist Fiction. Amherst: 1994; Hamann, R.; Hermand, J., Expressionismus. Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart Bd. 5. Frankfurt/M. 1977; Kirsch, Hans-Christian, On the Road. Die Beat-Poeten William 119

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S. Burroughs, Allen Ginsberg, Jack Kerouac. Reinbek 1995; Kupfer, Α., Göttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden. Stuttgart/Weimar 1996a; Kupfer, Α., Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar 1996b; Rühmkorf, P., Tabu I. Tagebücher 1989-1991. Reinbek 1995; Rusch, G., Schmidt, S. J„ Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig 1983; Scheiblich, W. (Hrsg.), Rausch - Ekstase - Kreativität. Dimensionen der Sucht. Freiburg 1987; Sloterdijk, P., Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/M. 1983. Michael Kämper-van den Boogaart, Berlin Drogenabhängigkeit Es ist fast ein Paradoxon: Die Mißbrauchsgewohnheiten gegenüber Alkohol, Medikamenten und Nikotin sind im Nachkriegsdeutschland trotz des zahlenmäßigen Ausuferns dieser Probleme kaum ein Thema gewesen. Erst das spektakuläre Auftreten der bis heute zahlenmäßig kleinsten Gruppe von Drogenkonsumenten Ende der 60er Jahre führte dazu, daß der Mißbrauch von Stoffen in den letzten Jahren zunehmend mehr zu einem öffentlich diskutierten Problem, gelegentlich sogar Wahl-Issue geworden ist: Die Konsumenten illegaler Drogen halten der Gesellschaft einen ( Z e r r s p i e gel über ihren Zustand der Vergiftung vor. Die Zahl der Drogentoten einer Stadt, eines Landes ist zum Index für die Bewertung von Sozial-, Gesundheitsund Sicherheitspolitik geworden. Polizei- und Justiz-Sprecher hantieren mit Aufgriffs- und Täterzahlen wie Frontberichterstatter und die hohe Politik hat dem Rauschgift gar den Krieg erklärt. Kein Zweifel: Die Gegenwartsgesellschaft ist durch Drogen aller Art verseucht, nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung lebt nüchtern (nach Schätzungen der Abstinenten-Verbände sind es nur etwa drei bis vier Pro120

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zent der Erwachsenen, die weder illegale Drogen noch Medikamente noch Alkohol oder Nikotin mißbrauchen). Unter Drogen, Drogenabhängigkeit oder Stoffmißbrauch versteht allerdings jeder Mensch etwas anderes. Diese „persönlichen Definitionen" hängen zu einem Teil vom Stand der Information, zu einem weiteren Teil von der jeweiligen beruflichen Sicht ab (z.B. wird ein Arzt etwas anderes unter dem Begriff „Droge" verstehen als ein Gastwirt oder ein Richter oder ein Suchtkrankenhelfer), zum größten Teil jedoch vom eigenen Verhältnis zu Drogen und zum Drogenkonsum. Deshalb ist nach wie vor die Auffassung, Bier sei „kein Alkohol", nahezu gesellschaftlich durchschnittlich, und von „Drogen" sprechen die meisten Menschen nur, wenn sie die illegalen Drogen, die nach dem Betäubungsmittelgesetz inkriminiert sind, meinen. Zusätzlich verwirrt wird das Begriffsinventar zum Thema Stoffmißbrauch durch die unterschiedliche Verwendung von Kategorien wie „Vergiftung", „Gewöhnung" und „Rausch" oder durch klägliche Versuche der Abstufung zwischen Gebrauch, exzessivem Konsum und Mißbrauch, die doch bei genauerem Zusehen nur eines verraten: nämlich den Grad der Verleugnung des eigenen Suchtverhaltens vor der Definitionsinstanz bzw. der jeweiligen sozialen Gruppe. 1. Systematisierungsversuche. Es hat zahlreiche Versuche gegeben, die verschiedenen Drogen zu systematisieren, die jedoch mangelhaft oder historisch überholt sind: - über die Einteilung in Rauschgifte und Genußgifte hat es immer wieder den ideologischen Streit zwischen Hedonisten und Moralisten gegeben; zudem ist inzwischen naturwissenschaftlich ohne jeden Zweifel belegt, daß jedes Gift bei entsprechend hoher oder kombinierter Dosierung oder bei besonderer Applikationsform zum Rausch führen kann; - über die Einteilung in landwirtschaftliche und chemische Drogen, die be-

Drogenabhängigkeit sonders unter polit-ökonomischen Aspekten eine historisch bedeutende Rolle spielte (vgl. Amendt/Stiehler 1972), ist die Geschichte hinweggegangen, seit ein großer Teil der landwirtschaftlichen Drogen entweder synthetisiert werden konnte (z.B. LSD als chemisch hergestellter Wirkstoff, der natürlicherweise im Mutterkorn auftritt) oder durch chemische Prozesse in ihrer Wirkung verstärkt (Haschischöl als Cannabisprodukt) oder für den Transport aufbereitet (Heroin als Endprodukt des Opiums) werden; - über die Einteilung in .weiche' und .harte' Drogen ist ein ideologischer Streit in den vergangenen drei Jahrzehnten entbrannt, in dem es immer wieder scheinbar letzte wissenschaftliche Argumente dafür gibt, eine Droge als , weich', d. h. ohne großes, insbesondere ohne körperliches Abhängigkeitspotential, zu charakterisieren - im Gegensatz zu den .stärkeren', in bezug auf die körperliche Selbstzerstörung ,harten' Drogen; dieser Streit könnte geschlichtet werden durch die alltägliche Erfahrung aus der Drogenberatung und -therapie, daß es nicht weiche und harte Drogen, sondern bei jeder Droge Konsumenten mit (vielleicht) noch geringer und Konsumenten mit hoher persönlicher Gefährdung, also gewissermaßen ,weiche' und ,harte' Konsummuster gibt; - über die Einteilung in legale und illegale oder über die Einteilung in gesellschaftlich tolerierte und gesellschaftlich nicht tolerierte (was nur selten voll identisch ist mit juristischen Normen); darüber kann man praktisch nicht streiten, da es kein Land der Welt gibt, in dem diese Einteilung wissenschaftslogischen Regeln folgt, sondern eher den Gesetzen der Ökonomie, nach denen z.B. die weitgehend landwirtschaftlich produzierten Drogen aus der Dritten Welt kaum Chancen gegenüber der Kon-

Drogenabhängigkeit kurrenz aus den Pharma-Konzernen der Industriestaaten haben, so daß trotz internationaler Abkommen ζ. T. immer noch starke nationale Unterschiede bestehen. Weitere Einteilungsversuche, die weniger systematischen als darstellungslogischen Charakter tragen, wie z.B. Alkohol, Medikamente, Rauschmittel, Nikotin (vgl. z.B. Dörner/Plog 1978), zeigen im Grunde, daß für die praktische Arbeit die ganzen Bemühungen um Systematisierung wenig fruchtbar sind. In der Praxis ist viel entscheidender die bei Patienten, Klienten, Betroffenen oder Hilfesuchenden vorhandene und wirksame süchtige Haltung, die sich lebensgeschichtlich eher zufällig diesem oder jenem Stoff zugewandt hat. Praktikabel insbesondere für die internationale Diskussion und für die wissenschaftliche Dokumentation erscheint trotz verschiedener Mängel die 1964 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingeführte Klassifikation von empirisch vorfindlichen Konsumententypen. Wie für andere Krankheiten auch gilt aber für die Stoff-Abhängigkeit und deren Definitions-Merkmale die von der Weltgesundheitsorganisation verwaltete und auf Einigungsprozessen internationaler Expert/innen-Gruppe basierende Klassifikation (vgl. ICD-10). Die Mängel dieser für die Bedürfnisse einer internationalen Verständigung zweifelsfrei bisher ergiebigen Einteilung bestehen vor allem darin, daß sie die der Struktur der meisten illegalen Märkte folgende Tendenz zur Polytoxikomanie (die „Allesfresser" sind relativ selten dazu psychisch prädisponiert, sondern werden erst auf Grund von Mangelsituationen, Sonderangeboten und Unregelmäßigkeiten des illegalen Marktes gezwungen, den gewohnten Stoff zeitweilig durch einen anderen zu ersetzen) ebensowenig berücksichtigt wie regionale Besonderheiten (Asthmazigaretten, Inhalationsgifte wie Chloroform, Trichloräthylen, Benzin usw.). Augenscheinlichster und vielfach kriti121

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sierter Mangel der geltenden WHO-Systematik ist jedoch die Ausklammerung von Nikotin - die bisher noch im wissenschaftlichen Streit befangene Frage, ob Nikotin das zentrale oder das vegetative Nervensystem beeinträchtigt, hätte diesen bedeutenden Entscheidungsprozeß nicht beeinflussen dürfen. 2. Einzelne Drogen. Im folgenden wird eine Darstellung der einzelnen Drogen, ihrer Anwendung, Wirkung und Folgen gegeben, die sich abgesehen von den notwendigen Zusätzen an der WHOKlassifikation orientiert: 1. Nikotin. Gewöhnlich wird Tabak als Zigarette, Zigarre oder in der Pfeife geraucht, seltener sind heute die Formen des Schnupfens oder Kauens von Tabak. Der Genußraucher konsumiert nur gelegentlich, meist Zigarre oder Pfeife. Folgen des Konsums können psychische Abhängigkeit, die beim Gewohnheitsraucher - insbesondere situationsbedingt (Stress, Nervosität) ist, oder auch physische Abhängigkeit sein. Körperliche Folgen des Rauchens sind vor allem Herzerkrankungen und Belastungen der oberen Luftwege. Soziale Folgen ergeben sich vorwiegend für den süchtigen Raucher, der nicht mehr in der Lage ist, auf seine Umgebung Rücksicht zu nehmen. Negative Auswirkungen auf die Zeugungsfähigkeit und auf die embryonale Entwicklung sind nachgewiesen. Zugleich ist Nikotin die einzige Droge, bei der der gern benutzte Hinweis, daß sie in geringen Dosen nicht schädlich oder sogar der Gesundheit zuträglich sei, nicht zutrifft. (-»-Geschichte des Tabaks). 2. -*Alkohol. Der Alkoholkonsum ist in unserer Gesellschaft überwiegend positiv bewertet. Das macht die Erkennung des Krankheitswertes eines Konsummusters so schwierig und reproduziert zugleich stets aufs neue die nachrückenden Alkoholiker-Generationen. Die eigentliche körperliche Abhängigkeit mit ihren zerstörerischen Folgen tritt relativ spät ein, in der Regel beim Jugendlichen 122

Drogenabhängigkeit

nach vier bis sechs Jahren regelmäßigen Konsums, beim Erwachsenen nach sechs bis acht Jahren regelmäßigen Konsums. Bei der Alkoholkrankheit werden, nach immer noch der brauchbarsten Typen-Einteilung von Jellinek, unterschieden - der Alpha-Typ, d. h. der Problem- und Erleichterungstrinker mit zeitweiliger seelischer Abhängigkeit, - der Beta-Typ, d. h. der Gewohnheitsoder Situationstrinker mit bereits auftretenden Körperschäden, - der Gamma-Typ, d. h. der AlkoholKranke mit erst seelischer, dann körperlicher Abhängigkeit, Toleranzsteigerung, Kontrollverlust und gelegentlichen Abstinenzphasen, - der Delta-Typ, d. h. der AlkoholKranke mit langer, unauffälliger Gewöhnungsphase, Abstinenzunfähigkeit und Abstinenzerscheinungen, der sog. ,Spiegel'-Trinker und - der Epsilon-Typ, d. h. der sog. „Quartalssäufer", der in Abständen nach eher unauffälligen Phasen als „Ausbruch" tagelang mit Kontrollverlust trinkt. Die Typen sind nicht als Steigerung konstruiert, vielmehr hat jeder Typ seine speziellen sozialen und therapeutischen Probleme. Neben der Schädigung des eigenen Körpers - Funktionsstörungen und Veränderungen von Magen, Darm, Leber und Gehirn - sind bei Mißbrauch während der Schwangerschaft Mißbildungen und geistige Behinderungen nachgewiesene Folgen. ( •Alkoholabhängigkeit, - »Geschichte des Alkohols). 3. -Drogenpolitik und eine nüchternere, auf interdisziplinäre Forschungszugänge aufbauende D. wechselseitig hervorbrächten. ->-Evaluation; --»-Qualitätssicherung Lit.: Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin (Hrsg.), Sucht und veränderte Bewußtseinszustände im Kulturvergleich, Berlin 1995; Engels, F., Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Institut für Marxismus-Leninismus (Hrsg.), MarxEngels-Werke, Bd. 2, B e r l i n 1 1 : 2 2 5 - 5 0 6 ; Gelpke, R., Vom Rausch im Orient und Okzident, Stuttgart 2 1995; Lettieri, D. J. und Welz, R. (Hrsg.), Drogenabhängigkeit. Ursachen und Verlaufsformen. Ein Handbuch, Weinheim und Basel 1983; Mann, K. und Buchkremer, G. (Hrsg.), Suchtforschung und Suchttherapie in Deutschland, Geesthacht 1995; Mann, K., Suchtforschung in Deutschland, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 1997, Geesthacht 1996: 113-127; Peele, S„ Redefining addiction. Making addiction a scientifically and socially useful concept, in: International Journal of Health Services 7 (1977) 1: 103-124; Science: T h e Science of Substance Abuse (Themenschwerpunkt), 278 (1997) 3; Seefelder, Μ., Opium. Eine Kulturgeschichte, München 1990; T h a m m , B. G., Andenschnee. Die lange Linie des Kokain, Basel 1986; Völger, G. und Welck, K. von (Hrsg.), Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich, Bd. 1 - 3 , Reinbeck 1982; Zimmer, L. und Morgan, J. P., Marijuana myths and marijuana facts. A review of the scientific evidence, N e w York und San Francisco 1997. U w e Ε. Kemmesies, Frankfurt am Main Drogenfreigabe 1. Begriff und Probleme. Seit den 80er Jahren wird mit teilweise großer Vehe137

Drogenfreigabe menz eine Liberalisierung der •Drogenpolitik diskutiert. (Freiheit von Sucht oder Freiheit zur Sucht). Die Begriffe •Entkriminalisierung und -'•Legalisierung spielen dabei eine wesentliche Rolle. Die auf die Konsumenten bezogene Entkriminalisierung soll diese aus der Strafverfolgung (-•Drogenrecht) entlassen, während die auf die Substanzen bezogene Legalisierung deren Verbote aufheben soll. Letzteres ist mit dem Begriff der D. umschrieben. Dieser Pauschalbegriff ist allerdings zu differenzieren, da mehrere Überlegungen und Modelle unter ihm subsumiert werden. Zumindest die folgenden drei sind zu unterscheiden: - Vergabe von Drogen als Arzneimittel zu therapeutischen Zwecken, also auch ärztliche Verschreibungen von Heroin an Schwerstabhängige (Modellprojekte in Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz), - staatlich kontrollierter Drogenverkauf unter Einschluß von Beratung und Hilfeangeboten einschließlich der Abstinenzforderung mit dem Ziel der Austrocknung des illegalen Drogenmarktes und - eine Gleichstellung des Konsums von illegalen Drogen mit dem Alkoholkonsum (D. i.e.S.), zumindest von sog. weichen Drogen (-•Drogenabhängigkeit) wie --•Cannabis, etwa durch den Verkauf in Apotheken. Solche Forderungen nach Drogenfreigabe und Drogenliberalisierung richten sich gegen international gültige Antidrogengesetze, die grundsätzlich zu Repression des Handelns und zur Restriktion des Konsums verpflichten ( - • E u ropa, s. auch -•United Nations Drug Control Programme). Wenn die Liberalisierungsdiskussion nicht nur strategisch-ideologisch geführt werden soll, müssen auch zentrale Fragen der -•Ethik erwogen werden. M u ß im gesellschaftlichen Rahmen einer individualistischen Ethik (-^soziologische Konzepte) mit ihrer Wertevielfalt die „Freiheit zur Sucht" folgerichtig befür138

Drogenfreigabe wortet werden oder ist eine solche Zustimmung nur eine verantwortungslose Verbeugung vor einem permissiven Zeitgeist? Kann auf die Forderung „Freiheit von Sucht" aus subjektiv-humanen und aus gesellschaftlich-kulturellen Gründen überhaupt verzichtet werden? Oder sind dies keine Fragen des „entweder-oder" sondern des „sowohlals-auch"? Verzweifelte Eltern drogenabhängiger Kinder werden diese Fragen anders beurteilen als bemühte, aber hoffnungslose Therapeuten von schwerstabhängigen Heroinsüchtigen oder als Politiker, die durch die eine oder andere Stellungnahme auf Wahlerfolge hoffen oder gar als die durch den Drogenhandel steinreich gewordenen Großdealer. 2. Hintergründe der Liberalisierungsdiskussion. Die unterschiedlichen Aspekte und Argumente der Diskussion um die D. werden aus vielen Quellen genährt. Dazu gehören die folgenden: - Suchtheilungen sind aufwendig, langdauernd und gelingen, wenn überhaupt, meist nur nach mehreren -•Rückfällen. - Die Ausbreitung der Drogensucht in den U S A , in Europa und in Deutschland-West seit den 1960er Jahren überforderte rasch die vorhandenen suchttherapeutischen und polizeilichen Kapazitäten. - Das anschwellende Drogenelend durch HIV- und Hepatitis-Infektionen (-•Aids, -•Hepatitis) sowie die Beschaffungskriminalität ( 'Sucht und Kriminalität) wurden zu äußerst medienwirksamen Ärgernissen. - Die zunehmende Gemeinschaftsgefährdung durch die international organisierte Drogenkriminalität ( - • M a fia), die ungeheuere Gewinne aus der Ausbeutung Süchtiger zieht (ca. 4 0 0 Mrd. Dollar weltweit pro Jahr) und die sich über Geldwäsche und Korruption zur legalisierten wirtschaftlichen Macht entwickelt und auch politische Macht zu werden droht. Dieser

Drogenfreigabe vielleicht größten Bedrohung der westlichen Demokratien, die die Öffentlichkeit kaum bewegt, wurde, wenn auch nur langsam und unzureichend begegnet. So wurde Europol (-••Europa) initiiert, die Polizeien verstärkten die Rauschgiftdezernate und beginnen zunehmend, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, deren Existenz lange bestritten wurde. - Die politische Führung wurde durch schrille Medienresonanz z u m Handeln gedrängt. Die Bundesregierung blieb bisher vertragstreu auf dem internationalen Antidrogenkurs und bei den Konzepten der Suchttherapie (-•Entzug, -»-Entwöhnung), »Rehabilitation und -•Prävention, deren Umsetzung weitgehend Ländersache blieb. Die Länder konnten mangels Finanzen (-»Finanzierung) den angemessenen Ausbau professioneller Suchthilfeeinrichtungen (-»Suchtkrankenhilfe) nicht leisten. Weitgehend erfolglos gegenüber dem Drogenelend blieben sie unter öffentlichem Erwartungsdruck. Z u m Teil werden auf Bundesebene heute entlastende Liberalisierungen diskutiert. - Auf der Suche nach Schuldigen für die relativ geringen Erfolge der Suchtkrankenhilfe wurde kurzschlußartig u. a. gefolgert: a.) die Suchtkrankheiten nehmen zu, also haben die Antidrogengesetze versagt und b.) das Drogenelend wird nicht durch die Drogen, sondern durch die Verfolgung der Süchtigen erzeugt. Diese und weitere Aspekte haben die Diskussion um die D. gefördert. 3. Vorgebrachte Argumente für eine D. Die Argumente für eine Freigabe von illegalen Drogen beziehen sich vor allem auf Hilfen für Erleichterungen des süchtigen Lebens von Konsumenten, auf Begrenzungen des illegalen Drogenmarktes, auf den (angeblich) geringen Gefährdungsgrad von sog. weichen Drogen und auf ethische Fragen des Rechts der freien Entfaltung der Persönlichkeit:

Drogenfreigabe - Eine D. bzw. Drogenliberalisierung ermöglicht Süchtigen zwar süchtig, aber gesünder und legal zu leben. Durch eine kontrollierte Drogenabgabe an schwerstabhängige Suchtkranke, die zu keiner Therapie zu motivieren sind, wird, soweit man sie erreicht, der sozialen und gesundheitlichen Verelendung vorgebeugt. Die Dosierungssicherheit nimmt durch die pharmakologische Eindeutigkeit des konsumierten Stoffes zu, die Gesundheitsschäden durch Verunreinigungen und Beimischungen ab. Das Setting des Drogenkonsums vermindert zusätzliche Schädigungen (-•Needlesharing). Therapieleitend wird die Hilfe zum Überleben und die Leidensminderung (harm reduction), zumeist verbunden mit der Hoffnung, dadurch die A n n a h m e weiterer Behandlungsformen zu erreichen, von der -»Substitution bis hin zur Drogenabstinenz. Durch den Austritt aus der illegalen Drogenszene soll die Beschaffungskriminalität beseitigt oder doch reduziert werden. - Die organisierte Kriminalität wird durch den legalen Drogenverkauf auf Dauer ausgehungert. Sinkende Marktpreise sollen die Gewinnchancen für die Drogenmafia unattraktiv machen. - Durch die D. von -»Haschisch und -•Marihuana als einer (angeblich) ungefährlichen Droge, die weniger schädlich als -•Alkohol und -•Nikotin sei, kommt es zu einer -•Entkriminalisierung der Konsumenten. Durch den Verkauf in Kaffeeshops wie in den Niederlanden oder in Apotheken wird zudem eine Trennung der Märkte der harten Drogen und der Märkte der weichen Drogen erreicht. - Freie Bürger haben ein „Recht auf Rausch". Verbote sind deshalb Verstöße gegen die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Suche nach dem Rauscherleben gehört neben Essen, Trinken und Sexualität zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Eine Ab139

Drogenfreigabe erkennung oder Beschränkung dieses Rechts ist nur dort angebracht, wo andere, ohne deren Zustimmung, geschädigt oder gefährdet werden. 4. Argumente gegen eine D. und Drogenliberalisierung. Bei der nötigen differenzierteren Betrachtung der Thematik D. werden viele Gegenargumente sichtbar. - Historische Erfahrungen mit der D. sprechen, auch bei vorsichtiger Interpretation komplexer Zusammenhänge, gegen diese: -

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England hat seit A n f a n g des vorigen Jahrhunderts am Opiumhandel außerordentlich viel verdient. Die Opiumeinfuhren nach China führten zu einem Massenelend durch Opiumsucht. Als die chinesische Regierung das Elend bekämpfen wollte und 2 0 0 0 0 Kisten Opium im Wert von 4 Millionen Pfund verbrannt hatte, erzwang England durch den Opiumkrieg 1839-1842 den Schutz seiner Interessen mit Gewalt.

Drogenfreigabeversuche in den USA, beginnend 1914, wurden auf Betreiben der American Medical Association 1923 beendet, weil der Drogenkonsum enorm zugenommen hatte, neue Sozialgruppen erreichte und völlig der Kontrolle entglitt. - Ein Versuch der D. in England von 1959-1964 wurde eingestellt, nachdem sich besonders der Gebrauch harter Drogen, allen voran Heroin, stark verbreitet hatte. Ein Versuch in Liverpool, durch Legalisierung auch harter Drogen die Folgeprobleme zu bewältigen, hat zu einer schnellen Ausbreitung des Heroinkonsums unter den Jugendlichen beigetragen. - In Schweden wurde 1965 versucht, Drogen über ärztliche Verschreibung freizugeben. Dieser Versuch mußte 1967 abgebrochen werden, als sich die Zahl der Heroinabhän-

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Drogenfreigabe gigen allein in Stockholm mehr als verdoppelt hatte. Schweden hat diese Erfahrungen umgesetzt. Es zeigte sich eindeutig, daß repressive und restriktive Maßnahmen gegenüber permissivem Entgegenkommen, insbesondere zum Schutz der suchtgefährdeten Jugendlichen, weitaus den Vorzug verdient (Cederquist 1991). - Eine Liberalisierung des Drogenkonsums durch weitgehenden Verzicht auf Kontrolle, Restriktion und Repression k o m m t einer tatsächlichen D. nahe. Die einschlägigen Erfahrungen in Dänemark, Holland, insbesondere aber auch in der Schweiz als zeitweise rechtsfreie „Drogenparadiese" wurden von liberalistischen Befürwortern als Schritte in die richtige Richtung gewürdigt, von Insidern als gefährliche Rückschläge gesehen. - Das Argument, daß der Konsum von -•Haschisch und -»Marihuana keine psychischen Schädigungen nach sich zieht, ist sachlich falsch. Wie der chronische Opiatgebrauch nicht nur willenlos gegenüber dem Stoff macht, sondern darüber hinaus passiv und unfähig zur selbständigen freien Lebensgestaltung, so läßt sich auch bei chronischen Haschisch-MarihuanaKonsumenten dieses amotivationale Syndrom nachweisen (-»-Cannabis). Bezüglich der Verkehrstüchtigkeit zeigte sich durch entsprechende Untersuchungen eindeutig, daß unter Cannabiseinfluß die Diskriminanzleistung für Mehrfachreize herabgesetzt ist und durch eine Störung des räumlichen Sehvermögens die Unfallgefahren erheblich zunehmen. Da die Bindung des T H C (Tetrahydrocannabinol, eine Verbindung, die für die psychotrope Wirkung verantwortlich ist; -»Cannabis) an das Fettgewebe unregelmäßige verspätete Ausschüttungen bedingt, wird eine Abstinenzforderung für Verkehrsteilnehmer praktisch illusorisch, da nach einem

Drogenfreigabe Joint 1 - 2 Wochen Abstinenz vor der nächsten Autofahrt notwendig wären. (-•Flashback) Das Argument einer geringeren Schädlichkeit von Cannabis gegenüber Alkohol oder Nikotin ist ein Scheinargument, da j e d e Droge ihre ganz spezifischen Gefährdungen hat. Darüber hinaus wird dadurch das hohe Gefährdungspotential durch die Droge Alkohol und Nikotin verharmlost. Deren Tolerierung in Grenzen als Genußmittel ist in historischen Zusammenhängen zu sehen ( - • G e schichte des Alkohols, -•Geschichte des Tabaks), ihre Reduzierung als Suchtmittel ( »Alkoholabhängigkeit, -•Nikotin, --•Prävention) eine vorrangige Aufgabe der Gesundheitspolitik. Das Argument, daß eine Haschischfreigabe wegen der freien Verfügbarkeit von Alkohol- und Tabakprodukten notwendig sei, wird so zur Farce: Wer wünscht sich schon Wanzen, nur weil er Läuse und Flöhe hat? - Die kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstsüchtige geht von der Illusion aus, daß der Kreis der Patienten rational zu begrenzen ist. Er ist aber nur willkürlich zu beschränken. Der Zugang ist von Süchtigen manipulativ, z . B . durch Abbruch von Entziehungskuren auch bewußt erreichbar. D a die Antidrogengesetze wissenschaftliche Forschung mit Drogen erlauben, wurden Forschungsvorhaben geplant und in der Schweiz in größerem U m f a n g durchgeführt, bei denen auch Heroin und Kokain an Schwerstabhängige auf ärztliche Verordnung frei abgegeben werden durften. Richtig ist sicher, daß eine kostenlose Heroinabgabe Süchtigen ein weiterhin süchtiges, aber gesünderes und legaleres Leben erleichtert durch die Entlastung vom Beschaffungszwang und durch die täglichen Arztkontakte, die, unabhängig vom Heroin, die Behandlung von Begleitkrankheiten und von Verelendungsfolgen ermöglichen. Dies ist gewiß positiv einzuschätzen

Drogenfreigabe und es wird auch als Hauptmotiv für die ärztlich kontrollierte Freigabe von Rauschgift in Anspruch genommen. Wer allerdings als Suchtkenner mit den Schweizer Erfahrungen mit Heroinabgaben (Uchthagen u. a. 1997) konfrontiert wird, kann die optimistischen öffentlichen Schlußfolgerungen nicht nachvollziehen (vgl. Aeschbach 1997). Schwerstabhängige wurden kaum zur Hälfte erreicht, Patienten aus Methadonprogrammen wurden auf Heroin umgestellt, das zwei bis drei Mal täglich gespritzt werden m u ß und der Beigebrauch von Kokain und anderen Substanzen wurde ziemlich konsequenzlos geduldet und die Inanspruchnahme drogenfreier Behandlungsangebote ging zurück. - Daß die D. d e m internationalen Drogenhandel den Markt entziehen kann, entstammt realitätsfernem Wunschdenken. Wenn nur für bestimmte Drogen eine D. bewirkt wird, reagiert die Drogen-Mafia sofort. So wurde etwa mit den beginnenden Methadonprogrammen durch den internationalen Dogenhandel über ein erhöhtes Angebot an Kokain eine Umverlagerung angestrebt und erreicht. Sollte eine D. alle heutigen illegalen Drogen betreffen, bekämen Drogenkartelle einen legalen Markt. Ihre Kostenbelastung durch Kriminalität würde entfallen und die gesunkenen Preise könnten durch Umsatzausdehnung leicht wieder eingeholt werden. - D. steigert im Endeffekt durch die Erhöhung, Differenzierung und Verbilligung des Angebots an mehr und immer neuen Drogen (-•Designerdrogen) die Zahl der Drogenkonsumenten. Geringe Marktpreise ziehen zud e m eine Steigerung der Dosis und der Konsumhäufigkeit nach sich. Heute gibt es noch 20-mal mehr Alkoholabhängige als Abhängige von illegalen Drogen. Dieses Verhältnis könnte sich drastisch ändern. - Die Würde des Menschen ist mit dem Verlust der Freiheitsfähigkeit durch 141

Drogenhandel die Sucht unvereinbar. Vor diesem Hintergrund und in Übereinstimmung mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt") ist der Ruf nach einem „Recht auf Rausch" (erhoben im Z u s a m m e n hang mit der Diskussion um die Freigabe von Cannabis) mehr als zweifelhaft. (-•Ethik). Aus ethischen Gründen verbietet sich im übrigen auch eine staatliche Heroinbehandlung oder eine alleinige Methadonbehandlung (ohne weiterführende Behandlungsziele) dann, wenn Chancen für eine Suchtheilung bestehen. 5. Fazit. Die Idee einer suchtfreien Gesellschaft ist eine böse Utopie, da Freiheit - auch zum K o n s u m - nur existiert, wenn man sie mißbrauchen kann und da Mißbrauch nur durch Freiheitsverlust (superpolizeistaatlich), den wir mehrheitlich nicht wünschen, zu vermeiden ist. Restriktion und Repression des Drogenkonsums und -handels sind aber nötig, um möglichst wenige der Suchtgefährdeten süchtig werden zu lassen und um die organisierte Kriminalität einzudämmen, die unser Gemeinwesen ernstlich bedroht. D. und Drogenliberalisierung fördern unvermeidlich die Drogensucht als Massenphänomen. Die Zahlen zum Mißbrauch und zur Abhängigkeit von Alkohol, Nikotin und Medikamenten ( •Epidemiologie) zeigen mehr als deutlich wohin der Weg führen würde. -•Akzeptierende Drogenarbeit; - • D r o genpolitik; •Drogenrecht Lit.: Aeschbach, E., Heroinabgabe in der Schweiz. Z u m Abschlußbericht über die „Versuche für eine ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln", Schweizer Ärzte gegen Drogen (Hrsg.), Zürich 1997; Bochnik, H. J., Sucht und Zeitgeist, in: Trabert, W. und Ziegler, B. (Hrsg.), Psychiatrie und Zeitgeist, M ü n chen-Wien, 1996, S. 14-32; Cederquist, Th., Erfahrungen und Möglichkeiten der Swedish Narcotic-Offizers-Association 142

Drogenhilfe und zwischenstaatliche Auswirkungen von Änderungen in der Drogenpolitik, 1. Internationales Symposium gegen Drogen in der Schweiz, 1991, S. 2 5 - 3 5 (Verlag Menschenkenntnis); Koch, M. G., Drogensucht als Massenphänomen. Fehlen Lösungen oder Lösungswille? In: Texte zur Drogenprävention, Heft 3, 1991 (Verlag Menschenkenntnis); Liebig, H., Argumentationskatalog zu in der Öffentlichkeit vertretenen Thesen zur Suchtproblematik, Bremen 1995; Täschner, K.-L., Es gibt keine weichen Drogen - Gesundheitliche Gefahren des Drogenkonsums, Politische Studien 1995, S. 8 4 - 9 4 ; Uchtenhaben, A. u. a„ Versuche für eine ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln. Synthesebericht. Institut für Suchtforschung, Zürich 1997; Ziegenaus, H., Internationalität der Rauschgiftkriminalität - Lagebild und Bekämpfungsansätze, in: Politische Studien 1995, S. 6 - 2 8 . Hans J. Bochnik, Frankfurt am Main Drogenhandel Als D. wird der illegale Handel mit Substanzen bezeichnet, die international oder national mit Einschränkungen und/ oder Strafen belegt sind. Der D. stellt insbesondere für die Zollbehörden (Einund Ausfuhr), wie auch für die Polizei (Herstellung und Vertrieb im Inland) eine große Herausforderung dar. Das weltweite Volumen wird auf 3 0 0 - 5 0 0 Mrd. $ geschätzt und bildet einen nicht unerheblichen illegalen Wirtschaftsfaktor. Länder wie Bolivien oder Kolumbien erzielen einen Großteil ihrer Exporterlöse aus dem Drogenhandel und sind davon völlig abhängig. - • B e t ä u bungsmittelgesetz; -•Drogenpolitik; -•Drogenrecht; -»Europa; - • G r u n d s t o f f überwachungsgesetz; - • M a f i a Drogenhilfe Sammelbegriff für die Angebote der -•Suchtkrankenhilfe, die Konsumenten, Mißbrauchern und Abhängigen von illegalen Drogen zur Verfügung stehen, dazu gehören niedrigschwellige Ein-

Drogenkarriere richtungen wie Kontaktläden und --»Streetwork, spezielle Beratungsstellen, therapeutische Wohngemeinschaften als stationäre Einrichtungen und die -•Substitution. - • A m b u l a n t e Einrichtungen; -•Therapiekette Drogenkarriere Als D. wird im allgemeinen die Entwicklung eines Drogenkonsumenten vom ersten Konsum einer illegalen Droge bis zur Abhängigkeit bezeichnet, wobei häufig die Bedeutung der sozialen und persönlichen Vorgeschichte nicht mit einbezogen wird. -•Drogenabhängigkeit; -»Einstieg in den Drogenkonsum; »Genese Drogenkonsum -•Konsum Drogenkunde -•Prävention Drogenmafia -•Mafia Drogenmißbrauch -•Drogenabhängigkeit; -•Mißbrauch Drogenpflanzen Psychotrop wirkende Substanzen - legale wie illegale, gebräuchliche und heute nicht mehr gebräuchliche - werden entweder aus Pflanzen(-teilen) gewonnen oder synthetisch hergestellt. Zu den bekanntesten und als Genußmittel konsumierten D. gehören Kaffee und Tee (-»Geschichte des Tee/Kaffee), deren anregende Wirkung auf den Wirkstoff Koffein zurückzuführen ist. Tabak mit dem hochwirksamen Alkaloid Nikotin (-•Geschichte des Tabaks) wirkt abhängig von der Stimmungslage - anregend oder beruhigend. Auch bei Alkohol ( •Geschichte des Alkohols) ist einer der Rohstoffe pflanzlich: so wird z . B . Bier aus Hopfen, Wein aus Weintrauben, Wodka aus Weizen-Maische oder Kartoffeln, Whisky aus vergorenem Weizen, Roggen oder Gerste, Gin aus Wacholderbeeren hergestellt. D. sind vielfach auch der Grundstoff für heute illegale Drogen, wie -»Cannabis,

Drogenpflanzen -»Opiate und -»Kokain. Nicht nur der Rohstoff, sondern Teile der Pflanzen können, abhängig von der Dosierung, als Droge konsumiert werden. Dazu gehören z . B . -»Bilsenkraut, -»Stechapfel und -»Tollkirsche oder auch die N u ß der Betelnußpalme (-»Betel), während der K o n s u m der drei erstgenannten heute nicht mehr gebräuchlich ist, ist das Kauen von Betel in Indien und Pakistan in der Bevölkerung weit verbreitet. Die Wirkungsweise des Betel ist ähnlich der des Nikotins; es regt an und entspannt zugleich. Das Kauen der Blätter des Kokastrauches ist vor allem bei den Indianern Südamerikas verbreitet und die älteste Form des Kokaingebrauchs. Coca wirkt leistungssteigernd und betäubt das Hungergefühl, eine höhere Dosis führt zu Halluzinationen, die nach einigen Stunden mit Müdigkeit und Depressionen ausklingen (-»Kokain). Von dem Kola-Baum, der im tropischen Afrika wächst, werden die Samen (fälschlicherweise oft Kola-Nüsse genannt) gekaut. Sie wirken durch das in ihnen enthaltene Koffein stimulierend auf Gehirn und Kreislauf und lassen Empfindungen wie Hunger, Durst und Müdigkeit verblassen. Berühmt wurde der Kola-Baum durch ein Getränk: CocaCola. Coca-Cola verdankt seinen Namen zum einen dem Kokain (das es tatsächlich bis 1903 enthielt) und zum anderen dem Kola(samen), dessen Koffein bis heute die stimulierende Wirkung erzeugt. Der »Khatstrauch gehört zu den Spindelbaumgewächsen und besitzt im Arabischen Raum eine große Bedeutung. K. wird besonders im Jemen großflächig angebaut. Das Kauen der Blätter - überwiegend von der männlichen Bevölkerung - verursacht einen Rausch, ähnlich dem der -»Amphetamine: Verschärfung der Wahrnehmung und Verdrängung von Müdigkeit und Hunger. Nach dessen Ende (ca. zwei Stunden) k o m m t es zu einer Form abgeklärter Gelassenheit und eventuell zu Depressionen. Das Kauen von Khat ist im Jemen ähnlich 143

Drogenpilze verbreitet wie in Europa das Rauchen von Zigaretten. Peyote ist ein Kaktus und vor allem bei Indianern Mittelamerikas Bestandteil kultischer Rituale. Der Wirkstoff des Peyote ist »Meskalin. Peyote wird gegessen und der Konsum führt zu Halluzinationen. Teonanacatl (-»Drogenpilze) ist ein Pilz, dessen Konsum Rauschzustände, verbunden mit starken Halluzinationen hervorruft. Er wurde hauptsächlich in Mexiko konsumiert und hatte eine große religiöse Bedeutung. Der Konsum von -»Fliegenpilzen verändert vor allem die Wahrnehmung: das Gefühl von Schwerelosigkeit, farbigen Visionen, dem sich ein tiefer, traumhaltiger Schlaf anschließt. Meerträubchen enthalten -»-Ephedrin, wirken anregend, ähnlich wie -»Amphetamin, das aber eine stärkere Wirkung hat. •Muskatnüsse sollen ersatzweise - in Ermangelung von - -»Marihuana - pulverisiert mit einer Flüssigkeit konsumiert worden sein und eine ähnliche Wirkung haben. Allerdings sind mit d e m Konsum im nachhinein oft starke Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel und Herzrasen verbunden. Der -»Mutterkornpilz birgt verschiedene -»Alkaloide und ist ein Schmarotzerpilz, der auf Getreide (vor allem Roggen) und Wirlgräsern zu finden ist. Auf den Mutterkornpilz geht eine damals rätselhafte Erkrankung des Mittelalters zurück: das St.-Antonius-Feuer, das durch den Verzehr pilzbefallenen Roggens bewirkt wurde. Die Erkrankten waren verwirrt und zeigten krampfartige und ekstatische Zustände. Anschließend wurden ihre Finger, Hände und Füße schwarz und starben schließlich ab. Epidemieartige Vergiftungen waren nicht selten, die erste 1039 in Frankreich, letztmalig 1926/27 in Südrußland. Von kundigen H e b a m m e n wurde das Mutterkorn als Verstärkung der Wehen eingesetzt. Mit den Alkaloiden des Mutterkornpilzes ist das »LSD chemisch verwandt. 144

Drogenpolitik Die -»Alraune erzeugt durch ihre -»Alkaloide eine betäubende Wirkung. Sie war Bestandteil von Liebestränken und Hexensalben im Mittelalter, wurde aber auch als Narkosemittel genutzt. Lit.: Wolfgang Schmidbauer; Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, Frankfurt/M. 1989. Drogenpilze Pilze, die roh oder verarbeitet auf das zentrale Nervensystem wirken. Zu den bekanntesten D. aus Amerika zählen die Psilocybe, die Psilocybin enthalten, das wie ein typisches -»Halluzinogen wirkt. In Mittelamerika nutzten die Azteken einen Pilz, den sie teonanacatl (Fleisch Gottes) nannten und bei kultischen Handlungen verwendeten. Halluzinogene Pilze spielten außer in Amerika in schamanischen Glaubensvorstellungen auch in anderen Kulturen, z . B . im Mittelalter in Europa und lange Zeit in Sibirien (- »Fliegenpilz) eine große Rolle als religiöses Rauschmittel. Drogenpolitik 1. Definition. D. bezeichnet das zielgerichtete Handeln staatlicher und gesellschaftlicher Akteure hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Umganges mit Drogen. Aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit des Drogenbegriffes ( »Drogenabhängigkeit) existieren unterschiedliche, heute im wesentlichen zwei Ansichten über den Gegenstandsbereich der D.: im engeren Sinne bezieht sich D. ausschließlich auf (illegale) „Betäubungsmittel", im weiteren Sinne umfaßt ihr Gegenstandsbereich auch „Genuß-" und „Arzneimittel". In der Wissenschaft hat sich die weite Definition durchgesetzt. 2. Allgemeine Aspekte. Grundannahme aller D. ist, daß von den für steuerungsbedürftig gehaltenen Substanzen potentielle oder manifeste Gefahren für Individuum oder Gesellschaft ausgehen (können). Diese Gefahren können gesundheitlicher, sozialer, ökonomischer, herrschaftslogischer, religiöser o. ä. Art

Drogenpolitik sein. Die Geschichte der D. kennt daher eine Vielzahl unterschiedlicher drogenpolitischer Zielsetzungen: Sie reichen von der protektionistischen Propagierung bestimmter (z.B. einheimischer oder traditioneller) Drogen bis hin zur Durchsetzung einer „drogenfreien Gesellschaft"; von der Verminderung erkannter oder vermuteter, psychischer, physischer oder sozialer Gefahren durch Drogenkonsum bis hin zur augenscheinlichen Diskriminierung bestimmter ethnischer, religiöser, sozialer oder politischer Bevölkerungsgruppen. Dabei ist stets zu berücksichtigen, daß auch staatsfiskalische und Herrschaftsinteressen eine herausragende Rolle spielen können. Dementsprechend ist D. immer im Schnittpunkt verschiedener anderer Politikbereiche (etwa Wirtschafts-, Kriminal-, Innen-, Außen-, Sozial- und Gesundheitspolitik) angesiedelt und steht unter dem Einfluß sehr verschiedener Akteure (Juristen, Unternehmer, Parteien, Therapeuten, Geistliche, Mediziner, Polizei, Sozialarbeiter u.v.a.) mit höchst unterschiedlichen Interessen, Normen und Weiten. Die damit verbundenen konflikthaften Entscheidungsprozesse haben stets zu bestimmten politischen Bewertungen bzw. Konzeptionalisierungen des Drogenkonsums geführt. Aus der bisherigen Geschichte der D. lassen sich idealtypisch vier solcher Konzeptionalisierungen ableiten: Drogenkonsum als a) kulturell reguliertes Phänomen, das allgemein akzeptiert und in bestimmten Situationen sogar erwünscht ist (Kultivierung), b) unerwünschtes Verhalten, das aber gleichwohl in der Verantwortung des Individuums steht (Akzeptanz), c) Krankheit (-•Krankheitsdefinitionen), die behandelt werden kann oder m u ß (Pathologisierung), und d) Verbrechen, das es mit Freiheits- (Gefängnis) oder Körperstrafen (etwa bei Tabakkonsum im 18. Jhd.: Abschneiden der Zunge oder der Nase, Todes-

Drogenpolitik strafe) zu bestrafen gilt ( •Kriminalisierung). Diese politischen Bewertungen können sowohl substanzspezifisch sein, d. h. sich an der konsumierten Substanz orientieren, als auch auf die Situation oder die Frequenz oder die Menge des Konsums bezogen werden. Die D. eines Landes kennt für verschiedene Drogen i.d.R. unterschiedliche Bewertungskonfigurationen. Abhängig von den Zielen einer D., ihren Konzeptionalisierungen des Konsums und entsprechend dem politischen Kräfteverhältnis ihrer Akteure können verschiedene Steuerungs- und Kontrollinstrumente zur Anwendung k o m m e n . Dabei kann zwischen aktiven und reaktiven Drogenkontrollen unterschieden werden. Unter aktiver Drogenkontrolle versteht man alle Maßnahmen, unerwünschten Drogenkonsum präventiv zu verhindern: Sie zielen einerseits auf die Verfügbarkeit (etwa durch Lizenzbeschränkungen, Rationierung, Monopolisierung, Verbot) und/oder die Qualität der Substanzen (z.B. mittels Normierung und Überwachung unbedenklicher Zusammensetzung, hygienischer Herstellung und richtiger Auszeichnung), andererseits auf die Beeinflussung der Motivation (potentieller) Kunden (z.B. durch familiäre, schulische und politische Sozialisation, Information und Aufklärung oder mittels Besteuerung, Werbebeschränkungen, Androhung von negativen Sanktionen u. ä.). Unter reaktiver Drogenkontrolle versteht man solche Maßnahmen, mit denen auf bereits erfolgten, unerwünschten Drogenkonsum reagiert wird, d. h. ihr Ausgangspunkt ist ein manifest gewordener Normbruch. Man unterscheidet zwischen informellen und formellen Reaktionen. Informelle Reaktionen haben ihren Ort innerhalb des sozialen Nahfelds, also in Familie, Nachbarschaft, Clique, Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch in Schule, Partei oder Kirche; ihre Mittel sind etwa Spott, Mißbilligung, Meidung, gelegentlich auch der Verlust 145

Drogenpolitik von Status, Ansehen oder Arbeitsplatz. Formell dagegen nennt man Reaktionen auf Normbrüche, wenn sie von dafür bereitgehaltenen (staatlichen) Stäben durchgeführt werden, also etwa von Polizei, Justiz, Jugendamt etc. (vgl. Vogt/Scheerer 1989: 30 ff.). Das grundsätzlichste Problem von D. liegt darin, daß Formen aktiver Kontrolle nie vollständig effektiv sein können, da der Mensch trotz aller Sozialisation „ein im Prinzip freies und das ihm Vorgegebene durch eigene Sinngebung interpretierendes und damit überschreitendes Wesen" (Hess 1983) bleibt. Er kann formelle und informelle Normen, Werte, Traditionen und Regeln mißachten oder übertreten, wodurch er potentiell immer in substanzinduzierte (z.B. Krankheiten), soziale (etwa Stigmatisierungen) oder gesellschaftliche (z.B. Bestrafung) Problemlagen geraten kann, die sich dann auch auf andere oder alle Lebens- und Persönlichkeitsbereiche des Individuums auswirken können. Weiterhin kann eine wie auch immer geartete Einschränkung der Verfügbarkeit von Drogen ebenfalls nie vollständig effektiv gestaltet werden. Vielmehr lehrt die Geschichte der D., daß sich mit der gesteuerten Verknappung der Güter durch staatliche Eingriffe (z.B. Verbote oder Besteuerung) zugleich die Attraktivität erhöht, staatliche Kontroll- und Steuerungsmechanismen zu umgehen, da weiterhin eine Nachfrage besteht, die nun mit erhöhten Profiten befriedigt werden kann. Die Umgehung staatlicher Kontrollen bedeutet gleichzeitig aber auch die Umgehung staatlicher Qualitätskontrollen, und dies umso konsequenter, je gravierender die staatliche Verknappung betrieben wird. D. h. j e intensiver und für die Handelnden bedrohlicher sich die Formen staatlicher Distributionskontrollen darstellen, desto eher wird sich ein System klandestiner, unkontrollierter Distribution etablieren, das sich staatlichen Kontrollen aller Art gänzlich zu entziehen sucht. Die Folgen einer solchen Entwicklung können sein: 146

Drogenpolitik a) die Entstehung neuer, die Bedingungen der Kontrolle bzw. Illegalität reflektierender Subkulturen, b) Entstehung neuer Konsummuster, c) Veränderung der Konsumentenstruktur (aufgrund der empfundenen Un- oder Attraktivität des Verbotenen), d) erhebliche Verteuerungen der Substanzen bei e) Verschlechterung ihrer Qualität und damit verbundenen gesundheitlichen Risiken, f) Entwicklung und Verfestigung abweichender Karrieren (durch Stigmatisierung und ggf. damit verbundenen Neutralisierungstechniken), g) Entstehung einer verzweigten Untergrundökonomie, die sich allerdings in ihrem wirtschaftlichen Handeln h) nicht auf rechtsverbindliche Garantien stützen kann und daher Äquivalente zum Recht entwickeln muß (etwa Bestechung, Mißtrauen oder Gewalt). Einen exemplarischen Fall einer solchen Entwicklung bildet die Alkoholprohibition in den USA von 1919-1933 (vgl. Levine 1996). з. Die deutsche D. Das unumstrittene (manifeste) Ziel heutiger bundesrepublikanischer D. ist der Schutz der Gesundheit, das in den drei zentralen Drogengesetzen ( »Drogenrecht) festgeschrieben ist ( § § 8 u. 17 Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz (LMBG), §§ 1 и. 6 Arzneimittelgesetz (AMG), § 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG)). Uneinheitlich sind dagegen die Maßnahmen und Konzepte, die zur Erlangung dieses Ziels angewendet werden: Im Bereich der „Genußmittel" (Alkohol, Tabak, Kaffee, koffein- und chininhaltige Erfrischungsgetränke etc.) beziehen sich die Maßnahmen auf die unbedenkliche Herstellung und Behandlung der Substanzen sowie ihre richtige Auszeichnung („Schutz vor Täuschung"). Der Konsum dieser Substanzen ist allgemein akzeptiert und liegt in der individuellen Verantwortung der Konsumenten. Die Substanzen sind frei ( v e r k ä u f lich; Einschränkungen der Freiverkäuflichkeit werden lediglich im Rahmen des Jugendschutzes gemacht; Beschrän-

Drogenpolitik kungen des Rechts auf Konsum bestehen für Alkohol etwa im Straßenverkehr (Promillegesetz) und a m Arbeitsplatz; der Konsum von Tabak kann in bestimmten Räumlichkeiten verboten oder auf bestimmte Räumlichkeiten beschränkt sein. Für Jugendliche unter 16 Jahren ist der Konsum von Alkohol und Tabak (in der Öffentlichkeit) verboten. Der Staat vertraut im Bereich des Konsums der Genußmittel somit weitgehend dem Verbraucherschutz und den Selbstregulationsmechanismen der Gesellschaft. Allerdings sind die gesundheitlichen Schäden insbesondere aus d e m Konsum von Alkohol und Tabak erheblich (akute und chronische Erkrankungen, Abhängigkeit, verminderte Lebenserwartung; vgl. ausführlicher Hess 1989; Teschke 1989), so daß zum einen über Erweiterungen von (bestehenden) Werbeverboten (-»Werbung) nachgedacht wird, zum anderen aber auch über künstliche Verteuerungen des Konsums durch höhere Besteuerung der Substanzen oder Risikozuschläge bei den Krankenkassenbeiträgen. Die Maßnahmen des -•Arzneimittelgesetzes (AMG) orientieren sich an der ausreichenden, sachgerechten, professionell verantworteten und in ihren Risiken minimierten Anwendung von und Versorgung mit Arzneimitteln; in diesem Sinne ist die Verfügbarkeit der Substanzen an bestimmte Verkaufsstätten (Apothekenpflichtigkeit) oder an die durch einen Arzt verantwortete Verordnung (Rezeptpflichtigkeit) gebunden. Weitere Einschränkungen betreffen vor allem die Werbung für Arzneimittel sowie ihr Feilbieten (etwa § 52 A M G „Verbot der Selbstbedienung"). Diese Einschränkungen zum Zweck des sachgerechten, risikominimierten Gebrauchs sind allerdings nur begrenzt effektiv. Als Probleme werden (aus medizinischen, aber auch finanziellen Gründen) die zu sorglose Verschreibungspraxis mancher Ärzte thematisiert (zumal die verordneten Substanzen später in den individuellen Hausapotheken unkontrolliert ge-

Drogenpolitik braucht werden können), aber auch die unkontrollierte Abgabe (lediglich) apothekenpflichtiger Medikamente (etwa diverser, ζ. T. kombinierter Schmerzmittel). Die Probleme dieser Selbstmedikation reichen von unwirksamen oder kontraindizierten Anwendungen bis hin zu -»•Medikamentenabhängigkeit. (Ein spezifisches Problem ist das ->Doping im Sport.) Das B t M G zielt mit seinen Maßnahmen auf weitestgehende Verhinderung des Konsums der von ihm geregelten Substanzen, die es in drei Anlagen gruppiert: I. nicht Verkehrs- und nicht verschreibungsfähige (etwa -•Heroin, -•Cannabis oder -»Ecstasy), II. Verkehrs·, aber nicht verschreibungspflichtige (z.B. Cocablätter), III. verkehrsund verschreibungspflichtige Substanzen (Sonderrezeptpflichtigkeit, etwa -•Polamidon oder -»Kocain). Das B t M G verbietet aus rechtssystematischen Gründen nicht den Konsum der Substanz, sondern lediglich ihren Erwerb, Besitz und Handel. Da dies aber die Voraussetzungen des Konsums sind, ist er damit indirekt verboten und insoweit kriminalisiert. Das B t M G hält in diesem Zusammenhang Strafen von bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe vor. Auch dieses System des Totalverbots ist nicht effektiv. Vielmehr deutet die von unterschiedlichen Fachleuten geschätzte Zahl der Konsumenten darauf hin, daß eine erhebliche Nachfrage nach illegalen Drogen besteht, die - mit den unter Punkt 2 bereits angesprochenen Fragen - von einem illegalen Markt bedient wird. Als Hauptproblem gilt dabei vor allem die Abhängigkeit von illegalen Drogen ( - • Sucht), zu deren Behandlung ein umfangreiches und inzwischen differenziertes Netz an staatlichen, semistaatlichen und privaten Hilfe-, -•Selbsthilfe- und Therapieeinrichtungen besteht (-»Ambulante Einrichtungen, Aufsuchende Soziale Arbeit (-•Streetwork/Aufsuchende Arbeit), -•Suchtberatung, •Suchtkrankenhilfe). Die deutsche D. hat - trotz einheitli-

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chem Ziel - keine einheitliche Konzeption und steht daher in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Politikbereiche und Interessen. Ein grundsätzlicher Konflikt besteht dabei zwischen dem eher gesundheitspolitisch orientierten Krankheitsparadigma und kriminalpolitischen bzw. strafrechtlichen Konzeptionen, wobei die Konsequenzen der Entscheidung für Krankheit oder Kriminalität erheblich sind: „Der Kriminelle wird für ein gewolltes Handeln zur Rechenschaft gezogen, dem Kranken aus einem ungewollten Zustand, an dem er selbst leidet und aufgrund dessen ihm sein abweichendes Verhalten für eine gewisse Zeit nachgesehen wird, herausgeholfen, der Kriminelle wird bestraft, der Kranke behandelt." (Hess 1983: 15) Das Totalverbot will Abstinenz erzwingen, während aus gesundheitspolitischer Sicht ein differenziertes Behandlungssystem angemessen erscheint. Innerhalb der Gesundheitspolitik wiederum gibt es heftige Auseinandersetzungen, ob Abstinenz als primäres (->• Abstinenzparadigma) oder nachgeordnetes Ziel (->• Akzeptanzparadigma) medizinischer Interventionen und Angebote zu gelten habe. Dieser Bruch zwischen Abstinenz- und Akzeptanzparadigma, der sich seit Mitte der 80er Jahre auch in parlamentarischen und parteipolitischen, aber auch in den Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern manifestiert, durchzog für lange Zeit auch die Drogentherapiediskussion: Gegen die dominierenden Langzeittherapien, die Abstinenz sowohl als Voraussetzung als auch als Ziel ihrer Intervention ansahen (vgl. Schmidt-Semisch 1990: 46 ff.), argumentierte die -•Akzeptierende Drogenarbeit zunehmend für konsumakzeptierende, differenziertere, niedrigschwellige Versorgungs-, Beratungs- und Behandlungsangebote. Exemplarische Auseinandersetzungen betrafen einerseits die Einführung der -•Substitution, andererseits etwa die in § 36 des BtMG enthaltene (mittlerweile geänderte) Vorschrift, daß Langzeittherapieeinrichtun148

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gen, um ihre staatliche Anerkennung sicherzustellen, die freie Gestaltung der Lebensführung ihrer Klienten erheblichen Beschränkungen zu unterwerfen hätten. In diesem Zusammenhang wurden auch die totalitären Verhältnisse in vielen dieser Einrichtungen thematisiert: erniedrigende Aufnahmerituale, Ausgangs- und allgemeine Kommunikationsbeschränkungen in den ersten Monaten des Aufenthalts, ausgeprägte Hierarchiestrukturen sowie Privilegienund Disziplinierungssysteme (vgl. Dammann/Scheerer 1985). Die schärfste Kritik der Langzeittherapien betraf allerdings ihre Effizienz, die Quensel (1985: 157) dahingehend zusammenfaßte, daß alle intramuralen Behandlungsprogramme - gleich welcher Art - so gründlich gescheitert seien, daß die Hoffnung, sie schrittweise verbessern zu können, aufgegeben werden müsse. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich daher auch unter dem Eindruck von -»Aids die akzeptierende Drogenarbeit durchgesetzt. Der Konflikt zwischen gesundheits- und kriminalpolitischem Ansatz setzt sich allerdings fort, thematisiert aber zunehmend auch rechtliche Probleme, etwa die Verhältnismäßigkeit der unterschiedlichen Interventionen: Aufgrund der Ergebnisse hinsichtlich der Gefahren aus Tabak- und Alkoholkonsum, die sowohl qualitativ als auch quantitativ denen der illegalisierten Substanzen gleichkämen und diese ζ. T. überträfen, würde durch das heute praktizierte selektive Verbot der rechtlich garantierte Gleichheitsanspruch verletzt. Zudem sei gerade in einer Zeit, in der sich eine - auch politisch gewünschte - Pluralisierung der Lebensstile und eine zunehmende Selbstverantwortung der Individuen durchsetze, eine solche Ungleichbehandlung verfassungswidrig (vgl. Böllinger 1991). Da es darüber hinaus offensichtlich ebenso oder besser funktionierende, weniger repressive drogenpolitische Steuerungsinstrumente (jenseits des Strafrechts) gebe, bliebe das rechtsstaat-

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Drogenproph>la\e lieh gebotene Subsidiaritätsprinzip unbeachtet. Schließlich sei Drogenkonsum grundsätzlich als Selbstschädigung zu werten und schon von daher - als opferloses Delikt - straflos zu stellen. Infolge solcher Überlegungen und Auseinandersetzungen hat sich die Diskussion über Formen einer weniger repressiven Politik hinsichtlich der Betäubungsmittel ( ^Drogenfreigabe) seit Beginn der 90er Jahre erheblich erweitert. Die Vorschläge reichen von der partiellen (faktischen oder wirklichen) Entkriminalisierung sog. weicher Drogen nach niederländischem Vorbild und erweiterten Möglichkeiten der Verschreibung bzw. staatlichen Abgabe von Opiaten in Anlehnung an das Britische System (vgl. Noller 1990) über gesellschaftliche Modelle der Distribution bis hin zu einer Eingliederung der heute illegalen Drogen in das Lebensmittelrecht (vgl. Schmidt-Semisch 1994: 180ff.). Bei der Betrachtung solcher weitgehender Vorschläge ist allerdings zu beachten, daß die Grundzüge der deutschen D. auf internationalen Verträgen und Konventionen (etwa die Single Convention von 1961) beruhen, die globale Verbotsnormen (als Besonderheit der D. des 20. Jahrhunderts, vgl. Nadelman (1990)) begründen und damit den allgemeinen Rahmen nationaler D. weitgehend bestimmen. Lit.: Hess, H.: Probleme der sozialen Kontrolle, in: Kerner, H. J.; Göppinger, H.; Streng, F. (Hrsg.), Kriminologie Psychiatrie - Strafrecht, Festschrift für Hein Leferenz zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1983; Hess, H.: Tabak, in: Scheerer, S.; Vogt, I. 1989: a.a.O.: 125155; Levine, H. G.: Mäßigkeitsbewegung und Prohibition in den USA, in: Groß, H. (Hrsg.), Rausch und Realität. Eine Kulturgeschichte der Drogen, Bd. 1, Stuttgart, München, Düsseldorf, Leizpig 1996: 119-125; Nadelmann, E.: Global Prohibition Regimes. The evolution of norms in international society, in: International Organization Vol. 44,4,

Autumn, 1990: 479-526; Noller, P.: Chancen und Risiken der kontrollierten Vergabe von Heroin/Morphin, Frankfurt a. M. 1990; Quensel, S.: Mit Drogen Leben. Erlaubtes und Verbotenes, Frankfurt a. M. und New York 1985; Scheerer, S.; Vogt, I. (Hrsg.): Drogen und Drogenpolitik. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. und New York 1989; Schmidt-Semisch, H.: Die prekäre Grenze der Legalität. DrogenKulturGenuß, München 1994; Schmidt-Semisch, H.: Drogenpolitik. Zur Entkriminalisierung und Legalisierung von Heroin, München 1990; Teschke, R.: Alkohol Wirkung im menschlichen Organismus, in: Scheerer, S.; Vogt, I. 1989: a.a.O.: 107-120; Vogt, I.; Scheerer, S.: Drogen und Drogenpolitik, in: dies. 1989, a.a.O.: 5 - 5 0 Henning Schmidt-Semisch, Bremen Drogenprophylaxe -»•Prävention Drogenrecht 1. Grundlagen rechtlicher Regelung des Drogenproblems 1.1 Verfassungsrechtliche Maßgaben. Das deutsche Rechtssystem beruht auf der Verfassungsordnung, insbesondere den Grund- und Freiheitsrechten sowie den Demokratie-, Rechts- und Sozialstaatsprinzipien. Nach den Kernprinzipien der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 1 und 2 Grundgesetz), der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (Art. 20 GG) darf der Staat nur nach Maßgabe gesetzlicher Ermächtigung in Bürgerrechte eingreifen. Andererseits muß der Staat die Daseinsvorsorge für die Bürger gewährleisten. Solche Eingriffs- und Leistungsverwaltung bedarf nach dem obersten und übergreifenden Verfassungsprinzip, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Legitimation. Diese ist erst dann gegeben, wenn als höherwertig definierte Rechtsgüter geschützt werden müssen und wenn die Abwägung zwischen Rechtsgut und Eingriff ergibt, daß die staatlichen Mittel erfor149

Drogenrecht derlich, geeignet und im Hinblick auf den Anlaß proportional sind. Hinsichtlich des Umgangs mit und Gebrauchs von Betäubungsmittlen (BtM) und psychotropen Substanzen wird in unserer Rechtsordnung - wie in den meisten Rechtsstaaten - ein solcher Regelungs- und Eingriffsbedarf gesehen, wie übrigens auch in Bezug auf Medikamente, Lebensmittel und Bedarfsgegenstände des täglichen Gebrauchs, Chemikalien etc. Überhaupt besteht eine Tendenz in der hochtechnisierten und durch diverse soziale und globale Entwicklungsprozesse auch in psychosozialer Hinsicht immer komplexer gewordenen „Risikogesellschaft", die allenthalben wahrgenommenen unvermeidlichen Gefährdungen und Restrisiken durch rechtliche Vorkehrungen zu bewältigen. Allerdings sind Intensität der Regelung und Dichte rechtlicher Kontrolle und Verarbeitung solcher Risiken unterschiedlich j e nach dem von dem definierten Risiko ausgehenden Potential von Rechtsgutgefährdungen. Als ein solcher Risikobereich wird bereits seit der Jahrhundertwende der U m gang mit bestimmten B t M und psychotropen Substanzen angesehen. Erste gesetzliche M a ß n a h m e war 1901 die Regelung der Apothekenpflichtigkeit von Morphin. Mit dem Betäubungsmittelgesetz von 1920 und d e m - gem. völkerrechtlicher Verpflichtungen erlassenen Opiumgesetz von 1929 wurden zunächst Opium, Morphium, Kokain sowie Cannabis geächtet. Aufgrund der sog. „Drogenwelle" der späten sechziger Jahre wurde 1971 das Opiumgesetz grundlegend novelliert und durch das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ersetzt. Die Liste der scharf kontrollierten oder verbotenen Substanzen wurde drastisch erweitert und mit 1 Abs. 2 und später auch Abs. 3 B t M G wurden flexible Instrumente zur parlamentsunabhängigen Ergänzung der D.-listen j e nach wahrgenommener Gefährdungslage eingeführt. Mittlerweile ist das B t M G zweimal novelliert und teilweise massiv verschärft

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Drogenrecht worden (1981 und 1992). Ergänzt wird das B t M G durch Regierungsverordnungen, denen der Bundesrat zustimmen muß. Z u m einen die BtM-Außenhandels-VO, die BtM-Binnenhandels-VO und die BtM-Verschreibungs-VO, zum anderen kontinuierliche, die Anlagen ergänzende BtM-Veränderungs-VO, zuletzt die 10. B t M - Ä n d V O von 1998. Das Spektrum rechtlichen Umgangs mit den von B t M und psychotropen Substanzen ausgehenden Risiken reicht von Nichtintervention bei derzeit nicht als rechtsgutgefährdend definierten psychotropen Substanzen - wie natürlichen Kräutern und Pilzen, Muskatnuß, Kakao, Tee, K a f f e e - über verwaltungsbzw. lebensmittel- und jugendrechtliche Regulierungen - wie bei Alkohol, Nikotin, Schnüffelstoffen - bis zu in höchstem Maße verwaltungsrechtlich kontrollierten und strafrechtlich sanktionierten sowie teilweise absolut verbotenen, weil als besonders gefährlich eingeschätzten Betäubungsmitteln wie Cannabis, Kokain, Opiaten und einer Vielzahl von weiteren natürlichen und synthetischen D. Kern der für die rechtliche Regelung maßgeblichen gesetzgeberischen Entscheidung ist die Abwägung zwischen den die Selbstschädigung und den Konsum von Genußmitteln und D. grundsätzlich umfassenden Freiheitsrechten des Bürgers einerseits und der Einschätzung der Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts und der ihm drohenden Gefahren andererseits. Klassischerweise wird hier zur Legitimation angeführt, daß der Konsum bestimmter D. die Gesundheit des einzelnen und der Allgemeinheit gefährde. D e m Gesetzgeber stellt sich bei der Abwägung zwischen den verschiedenen Interventionsstrategien ganz allgemein ein doppeltes Problem: Er muß einerseits empirisch feststellen, ob und unter welchen Umständen und in welchem A u s m a ß ein auf psychotrope Substanzen bezogenes Verhalten wirklich gesundheitsschädlich ist. Da potentiell fast jegliche Substanz bei

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falschem oder übermäßigem Gebrauch gesundheitsschädlich sein kann (Paracelsus: „Die Dosis macht das Gift!"), muß er zum anderen zweierlei normativ bestimmen: 1. in welchem Grade die an sich ja auf freier Willensentscheidung beruhende und staatlich nicht zu unterbindende Selbstgefährdung zugleich als zum Eingreifen legitimierende Fremdgefährdung gewertet wird; und 2. ab welcher Schwelle auf den gleitenden Gefährlichkeitsskalen der verschiedenen Substanzen und ihrer Dosierungen unterschiedliche Kontrollstufen eingreifen sollen. Dieses idealtypische Prozedieren entlang der empirischen und normativen Kategorien von Erforderlichkeit, Geeignetheit und Proportionalität wird zwar in der wissenschaftlichen Gesetzgebungstheorie normativ zugrundegelegt. Jedoch ist die rechtssoziologisch erhellte Faktizität zu berücksichtigen, daß sowohl die scheinbar rein empirische Wahrnehmung von Risiken als auch deren normative Einordnung von machtund politikbestimmten gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen wesentlich beeinflußt sind. Die gesellschaftliche Realität, hier also das D.-problem, ist allemal ein Konstrukt im doppelten und zirkulären Sinne: Sie wird in komplexer Wechselwirkung gesellschaftlich erzeugt und wird aufgrund aktueller gesellschaftlicher Selektionsstrukturen so oder so spezifisch und selektiv wahrgenommen. Bei Risiko und Rechtsgut im hier verwendeten Sinne handelt es sich also um komplementäre Konstruktionen, Definitionen, Normierungen. Bei der Kategorisierung der Stoffe hat der Gesetzgeber mit dem 1971 in Kraft getretenen BtMG sowie bei den Verschärfungen 1981 und 1992 ohne weitere empirische Recherchen (z.B. in Form von Expertenanhörungen) und ohne normative Reflexion die vor allem durch internationale Abkommen vorgegebenen Schadensbehauptungen übernommen. Die bereits frühzeitig bekannte Tatsache, daß die legalen D. Al-

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kohol und Nikotin sowohl vom Standpunkt der individuellen wie der öffentlichen Gesundheit (-•Epidemiologie) faktisch schädlicher sind als die illegalisierten Drogen, wurde mit ihrer traditionellen Eingebettetheit in unserer Kultur legitimiert. Hingegen wird einer Droge wie Cannabis, obwohl seit Jahrtausenden auch in der mitteleuropäischen Kultur verwurzelt, dieser Status nicht zuerkannt. Obwohl der Gesetzgeber zur kontinuierlichen Überprüfung seiner Grundannahmen hinsichtlich Erforderlichkeit, Geeignetheit und Proportionalität verpflichtet wäre (BVerfGE 90, S. 193 ff.), und obwohl mittlerweile eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen vorliegt, welche diese Grundannahmen widerlegen oder zumindest relativieren, wurde eine entsprechende Veränderung des Betäubungsmittelrechts bisher nicht ins Auge gefaßt. 1.2 Relativierte Schadensbehauptungen. Widerlegungen und Relativierungen der gesetzgeberischen Schadensannahmen, also der Erforderlichkeit strafrechtlicher Intervention, ergeben sich zum einen aus den Fortschritten der D.-forschung im engeren Sinne. So sind die kausalen Gefährlichkeitsannahmen hinsichtlich der Droge -•Cannabis - insbesondere Hypothesen betr. Einstieg in den Heroinkonsum, immanente Dosissteigerungstendenz und regelmäßige psychische Abhängigkeit, Folge „amotivationalen Syndroms", „flashback"-Risiko, kriminelle Devianz - durchgängig widerlegt. Bei D. wie ^Heroin und -•Cocain gibt es keine der Toxizität von Alkohol und Tabak entsprechenden, unmittelbar zellschädigenden Wirkungen. Solche konnten bei gängigen illegalen synthetischen D. bisher nur unter extremen Tierversuchsbedingungen, welche den realen Konsumformen von illegalen D.-konsumenten in keiner Weise entsprechen, festgestellt werden (vgl. Akzept 1996). Während sich einerseits hinsichtlich der unmittelbaren biochemischen Prozesse 151

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keine grundsätzlichen Unterschiede zu legalen D. (einschließlich Medikamente) feststellen lassen, muß andererseits gesehen werden, daß unter den durch die Prohibition gesetzlich erzeugten Schwarzmarktbedingungen illegale D. unvorhersehbare Konzentrationsgrade und Beimengungen potentiell hochgefährlicher Substanzen enthalten. Diese Risiken als d.-bedingt zu charakterisieren, führt also in die Irre. Hinzu kommt, daß nicht nur die biochemischen Prozesse, sondern erst die Wechselwirkungen von Substanz und Dosierung, von individueller Persönlichkeit und subjektiver Erwartung sowie von gesellschaftlichen und situativen Bedingungen im Einzelfall die D.-Wirkung und damit den Grad der Gefährdung - oder eben auch Nichtgefährdung - ausmachen („Drug, Set und Setting"). Zum Setting zählen dabei in höchst maßgeblicher Weise auch die belastenden Bedingungen der Illegalität: Es macht einen entscheidenden Unterschied für das subjektive Erleben ebenso wie für das objektive Ausmaß des Risikos, ob man unbekannte Stoffe und in unbekanntem Prozentsatz gestrecktes Heroin in einer Bahnhofstoilette mit aus der Kloschüssel geschöpftem Wasser mangelhaft aufkocht und mit unsterilem Spritzbesteck konsumiert oder ob man in einer gepflegte Weinstube bei geselligem Zusammensein einen 1991er Trollinger kredenzt bekommt. Die strafrechtliche D.-prohibition wird auch damit legitimiert, daß die D. zu körperlicher „Sucht" oder zumindest zu „psychischer Abhängigkeit" und damit zu einem Verlust der individuellen Freiheit und der Voraussetzungen von eigenverantwortlicher Selbstbestimmung führen (Köhler 1995, Haffke 1995). Zwar ist der Suchtbegriff umstritten, zunehmend deutlich wird aber die Erkenntnis, daß D.-abhängigkeit wie alle Abhängigkeitszustände nur als ein in allen Abstufungen vorkommendes und je nach Einzelpersönlichkeit variierendes psychosoziales Geschehen adäquat zu verste152

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hen ist, bei welchem die Definition „Suchtkrankheit" und die Abgrenzung zu nicht-krankhaften Abhängigkeiten und Verhaltenszwängen wiederum auf medizinisch-psychiatrischer und damit gesellschaftlicher Konstruktion beruht (Scheerer 1995). So gibt es in weit größerem Ausmaß als früher bekannt „kontrollierende Konsumenten", die entweder trotz körperlicher Abhängigkeit im psychologischen Sinne normal funktionieren (z.B. Methadon-Substitutionspatienten) oder intermittierend Entzugserscheinungen hinnehmen (Weber/Schneider 1992). Problematischer Konsum und über mehr als 10 Jahre anhaltende Sucht betreffen offenbar nur einen relativ geringen Anteil von 5 bis maximal 10% der Konsumenten illegaler D. Auch die Annahme schädlicher Folgewirkungen im Straßenverkehr, welche zunehmend als Legitimation der Totalprohibition bestimmter D. angeführt wird, ist zu relativieren, wie auch eine Expertenanhörung im Bundestag gezeigt hat (Akzept e.V. 1996, S. 127 ff.). 1.3 Ungeeignetheit strafrechtlicher Intervention. Auch die zweite Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das Erfordernis der Geeignetheit einer gesetzlichen Regelung zur Zielerreichung, ist nicht erfüllt. Der Gesetzgeber hat bisher keine Anstalten gemacht, gemäß seiner Überprüfungspflicht zu evaluieren, ob das Mittel der strafrechtlichen Totalprohibition den Zweck - D.-freiheit überhaupt erfüllen kann. Umfangreiche Studien belegen mittlerweile das zwangsläufige Scheitern des Konzepts einer auch nur annähernd d.-freien Gesellschaft und die Entfaltung unabsehbarer unerwünschter Neben- und Folgewirkungen des Abstinenzparadigmas. Angebot und Nachfrage hinsichtlich illegaler D. haben sich trotz stetiger Verschärfung des Straf- und Verwaltungsrechts sowie massiver rechtlicher, instrumenteller und persönlicher Aufrüstung der Strafverfolgungs- und Kontrollapparate nicht nur nicht einschränken lassen, sondern sich exponentiell

Drogenrecht ausgedehnt. Ausmaß und Muster des Konsums folgen soziologisch zu erhellenden Moden und Zeitströmungen, kaum der strafrechtlichen Abschrekkung. Die im Strafverfolgungssystem vielfältig implementierte Prohibitionspolitik bewirkt, zumindest in erheblichem Anteil, das was sie zu bekämpfen vorgibt. So erweitert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Legitimationsbasis für das D.-verbot zwar mit der Annahme, daß auch das „ungestörte soziale Zusammenleben" und die „internationalen Beziehungen" vor den negativen Einflüssen des D.-konsums und der organisierten Kriminalität geschützt werden müssen. Es übersieht dabei, wie auch der Gesetzgeber, daß erst die Prohibition den Schwarzmarkt und die damit einhergehenden Risiken herstellt und daß durch spezifische und differenziert auf einzelne D. bezogene verwaltungsrechtliche Regulierungen diese Risiken bei weitem effizienter gesteuert werden könnten. (-•Drogenpolitik) 1.4 UnVerhältnismäßigkeit der Drogenprohibition. Schließlich bedarf es einer zeitgemäßen Abwägung hinsichtlich der dritten zentralen Komponente des Verhältnismäßigkeitsprinzips, der sog. Proportionalität zwischen Eingriffsmitteln und -folgen einerseits und Eingriffszielen bzw. zu schützenden Rechtsgütern andererseits. Zuvorderst muß der Gesetzgeber sich hier eine Doppelbödigkeit staatlicher Kontrollpolitik entgegenhalten lassen, weil D.-abhängigkeit einerseits im Sozial- und Arbeitsrecht als Krankheit angesehen werden, andererseits im Strafrecht allenfalls als Schuldminderungsgrund gewertet werden kann. Vor allem sind die unerwünschten Nebenfolgen der D.-politik, die individuellen und gesellschaftlichen Kosten des Kriminalisierungsprozesses, in die Abwägung einzubeziehen. Bei den konsumierenden Individuen sind schwarzmarktbedingt und mangels jeglichen Verbraucherschutzes schwere Gesundheits- und Dissozialisierungsschä-

Drogenrecht den zu verbuchen, welche in einem nach Maßstäben der öffentlichen Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik organisierten Systems der Risikominderung bei Hinnahme des D.-konsums (Akzeptanzparadigma) weitgehend zu vermeiden wären. Hinzu kommen immense Kostenbelastungen durch direkte und indirekte D.kriminalität, welche in einem am „Public-Health"-Gedanken orientierten System (z.B. der Heroinvergabe) noch über das jetzt mit der Methadonbehandlung erreichte Maß hinaus gemindert würden. Fundierte Schätzungen besagen, daß ca. 50% der heutigen Strafvollzugspopulation in irgendeiner Form auf direkter D.-kriminalität und begleitender Beschaffungskriminalität beruht. Unkalkulierbar sind die gesellschaftlichen Folgewirkungen hinsichtlich der durch Kriminalisierung und erzwungene subkulturelle Anpassungsprozesse gestörten persönlichen, beruflichen und familiären Biographien. Schließlich sind auch immaterielle soziale Kosten zu verrechnen, z.B. die Einbußen an Bürgerfreiheiten durch die Sachzwänge der Verfolgung der „Organisierten Kriminalität", welcher durch verwaltungsrechtliche Regulierung der D. viel Boden entzogen werden könnte. Schließlich sind unter dem Aspekt der Proportionalität und des gesellschaftlichen Gleichbehandlungspostulats (Art. 3 GG) auch die Belastung durch Alkohol, Nikotin und Medikamente sowie deren indirekte Kosten (z.B. alkoholbedingte Verkehrsunfälle etc.) gegenzurechnen. (Umfassend zu dieser Thematik: Nestler in Kreuzer 1988.) 2. Das deutsche Drogenkontrollsystem 2.1 Legale Drogen. Der Umgang mit als Lebens- und Genußmittel definierten D. Alkohol und Tabak bzw. Nikotin unterliegt der vergleichsweise geringen Kontrollintensität des verbraucherschützenden Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes (LMBG). Nach §§ 8 u. 17 LMBG sowie darauf beruhenden 153

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Verordnungen und Verwaltungsvorschriften werden die Gesundheit und die Willensfreiheit der Verbraucher durch maximale Qualitätskontrollen sowie Täuschungs- und Irreführungsverbote geschützt. Der Bundesgesundheitsminister bzw. die Gesundheitsbehörden sind ermächtigt, Herstellung, Zusammensetzung, Vertrieb von Genußmitteln zu regulieren und zu kontrollieren. Tabakerzeugnisse werden in §§ 20ff. LMBG besonderer Regulierung unterworfen (z.B. Werbeverbote, Verpflichtung zu Warnhinweisen). § 4 Jugendschutz verbietet den öffentlichen Verkauf von Branntweinprodukten an Jugendliche unter 18 Jahren bzw. niedrigprozentiger Alkoholika an Jugendliche unter 16, wenn sie nicht in Begleitung von Erziehungsberechtigten sind. Das Weingesetz regelt Aspekte der Alkoholproduktion. Das •Arzneimittelgesetz (AMG) reguliert den Umgang mit psychotropen Medikamenten, die nicht als BtM definiert sind. Schnüffel-D. sind häufig in Bedarfsgegenständen oder Chemikalien enthalten und entsprechend dort geregelt (LMBG und Chemikaliengesetz, ChemikalienVerbotsverordnung). Verstöße gegen diese verwaltungsrechtlichen Vorschriften können nach § 5 2 ff. LMBG, § 9 5 Arzneimittelgesetz, § 27 Chemikaliengesetz mit Bußen oder Strafen belegt werden. Der tatsächliche Umfang dieser Sanktionsweisen ist gering. 2.2 Illegale Drogen. Der Umfang mit bestimmten als gefährlich eingestuften D. ist teilweise ebenfalls verwaltungsrechtlich geregelt, teilweise absolut verboten. Verstöße können sowohl verwaltungsrechtlich, als auch strafrechtlich sanktioniert werden. 2.2.1 Verwaltungsrechtliche Kontrolle. Das BtMG erklärt durch § 1 und die darauf beruhenden Anlagen bestimmte dort aufgelistete Substanzen zu BtM und unterwirft sie dadurch einem in der Kontrollintensität abgestuften System. Durch Regierungsverordnungen - zuletzt die 10. BtM-Änderungsverordnung von 1998 - werden diese Listen jeweils 154

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aktualisiert. Anlage I enthält „nicht verkehrsfähige" BtM (z.B. Cannabis, Heroin, LSD, MDMA, Psilocybin). Anlage II enthält verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Grundstoffe (z.B. Delta-9-THC). Anlage III umfaßt Verkehrs- und verschreibungsfähige Substanzen (z.B. Cocain, Codein, Methadon, Opium, Diazepam). Für den Umgang mit Verkehrs- und verschreibungspflichtigen BtM, insbesondere für Herstellung und Vertrieb, muß aufgrund der in §§ 5-10 geregelten Bedingungen und eines Antragsverfahrens vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM, Berlin) eine Erlaubnis erteilt werden. Eine solche Erlaubnis kann ausnahmsweise „zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken" gegeben werden (§ 3 Abs. 2), z.B. für Heroinvergabemodelle. Professionelle, die beruflich bzw. gewerbsmäßig mit BtM umgehen (z.B. Apotheker, Arzte) bedürfen keiner solchen Erlaubnis, müssen ihre Teilnahme am BtM-Verkehr aber dem BfArM anzeigen (§4). Bei fehlender Sachkenntnis oder Zuverlässigkeit muß die Erlaubnis versagt oder widerrufen werden (§§ 5, 10). Für die Einfuhr- und Ausfuhr von BtM benötigt der Erlaubnisinhaber zusätzlich eine Einzelfallgenehmigung des BfArM (§ 11). Jede Abgabe von BtM an Erlaubnisinhaber ist zu quittieren und dem BfArM zu melden (§ 12). Erlaubnisinhaber sind zu bestimmten Kennzeichnungs- und Sicherungsmaßnahmen, Aufzeichnungen und Meldungen verpflichtet (§§ 14-18). §§ 19-28 regeln die Überwachung des BtM-Verkehrs durch die Behörden. In dem gesonderten Grundstoffüberwachungsgesetz von 1994 (GÜG) sind ferner ähnliche Kontrollvorschriften für solche Grundstoffe enthalten, welche zur Herstellung von BtM verwendet werden. Die Verschreibung, Verabreichung oder Überlassung zum unmittelbaren Verbrauch von BtM ist Ärzten vorbehalten, die insofern keine Erlaubnis nach § 3

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BtMG benötigen, und an die Bedingung der Begründetheit ihrer Anwendung und des Fehlens anderer Behandlungsmöglichkeiten geknüpft (§ 13 Abs. 1). Diese Klausel bezieht sich insbesondere auf die Methadonsubstitution, wofür auch eine soziale Indikation ausreichend ist. Das genaue Verfahren der Verschreibung etc. ist in der auf § 13 Abs. 3 beruhenden BtM-Verschreibungsordnung (BtMVV) geregelt. Hier sind einerseits Höchstmengen und Verschreibungsfristen sowie genauere Bedingungen der Substitutionsbehandlung geregelt. Andererseits ergeben sich daraus die genauen Formvorschriften der BtMVerschreibung (spezielle durch das BfArM ausgegebene BtM-Rezeptformulare etc.). Verstöße gegen diese Verwaltungsvorschriften, welche als nicht strafwürdiges Verwaltungsunrecht eingestuft sind, können nach § 32 BtMG, § 11 BtMVV und § 30 GÜG als Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeld bis zu 50000 geahndet werden. 2.2.2 Strafrechtliche Kontrolle. Für Verstöße, welche als strafwürdige Rechtsgutverletzungen eingestuft sind, drohen §§ 29-3la BtMG Strafsanktionen in Form von Geld oder Freiheitsstrafen an. Diese sind insbesondere für Konsumenten und Dealer von BtM relevant, aber auch für einige andere Tätergruppen. Speziell für Ärzte verweist § 10 BtMVV auf § 29 BtMG. § 29 GÜG bedroht den vorschriftswidrigen Umgang mit Grundstoffen mit Strafe. § 29 Abs. 1 BtMG erfaßt mit teilweise sich überschneidenden Tatbestandsmerkmalen außer dem aus verfassungsrechtlichen Gründen straflosen Konsum von BtM (Allgemeine Handlungsfreiheit und Straflosigkeit der Selbstschädigung) nahezu jegliche denkbare Umgangsform mit BtM, sofern keine Erlaubnis i.S. § 3 vorliegt: - Anbau, Herstellung, Handeltreiben, Ein-, Durch- und Ausfuhr, Veräußerung, Abgabe sonst in den Verkehr bringen, erwerben oder sich in sonsti-

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ger Weise verschaffen, Besitz, Herstellung von Zubereitungen (Nr. 1-5); - unbegründet verschreiben, verabreichen, zum Verbrauch überlassen oder abgeben durch Ärzte und Apotheker (Nr. 6, 7) oder Erlangung einer Verschreibung durch Täuschung (Nr. 9); - Werben für BtM, Mitteilen, Verschaffen, Gewähren einer Gelegenheit, Verleiten oder öffentlich Auffordern zum Konsum (Nr. 8, 10, 11); - Geldmittel für den Erwerb bereitstellen (Nr. 12). Beim Handeltreiben, Abgeben und Veräußern gelten auch Pseudo-BtM als BtM (Abs. 6). Ausdrücklich ausgenommen von der Strafbarkeit ist die Abgabe von sterilen Einmalspritzen an BtM-Abhängige (Abs. 1 S. 2). Daß mit solch extensiver Strafbewehrung praktisch der straflose Konsum von BtM unmöglich gemacht wird, entspricht der ausdrücklichen Intention des Gesetzgebers. Die Strafandrohung für diese „Vergehen" beträgt sechs Monate bis zu fünf Jahren. Die Gerichte können in sog. „schweren Fällen" auf eine Freiheitsstrafe von 1-15 Jahren erkennen, z.B. wenn „gewerbsmäßig" gehandelt oder die „Gesundheit mehrerer Menschen gefährdet" wird (Abs. 3). Sie können aber auch von Strafe absehen, wenn es sich um zum Eigenverbrauch bestimmte BtM in geringer Menge handelt (Abs. 5). Diese Vorschrift wird ergänzt durch die in § 31 a vorgesehene Möglichkeit des Absehens von Strafe durch die Staatsanwaltschaft. Voraussetzung ist gleichfalls, daß es sich um eine zum Eigenverbrauch bestimmte geringe Menge handelt, daß die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und daß kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Die Einstellungsvorschrift wird ferner ergänzt durch die CannabisEntscheidung des BVerfG, welche die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft in solchen Fällen verpflichtend vorschreibt, wenn es sich um Gelegenheitskonsumenten handelt und eine Fremdgefährdung nicht vorliegt. Eine 155

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Fremdgefährdung wird dann gesehen, wenn der Konsumakt beispielsweise von Jugendlichen oder Soldaten beobachtet werden kann. Im übrigen kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts das BtM-Verfahren bei geringem Verschulden und fehlendem öffentlichem Interesse auch nach § 153 StPO einstellen, bei gegebenem öffentlichen Interesse nach § 153a auch gegen eine Geldbuße oder gemeinnützige Leistung. Als „Verbrechen" mit einer Strafe von 1-15 Jahren bedroht sind nach § 29a die Abgabe an Jugendliche oder das Bestimmen von Jugendlichen zum Dealen sowie der Umgang mit BtM in „nicht geringer Menge". Mit 2-15 Jahren Freiheitsstrafe wird bedroht, wer gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande anbaut, herstellt oder dealt, wer durch Verabreichen oder Verbrauchsüberlassung „leichtfertig" den Tod eines anderen verursacht oder wer BtM in „nicht geringer Menge" einführt. § 30a soll schließlich die „Organisierte Kriminalität" abschrecken: Mit 5-15 Jahren wird der bandenmäßige Umgang mit „nicht geringen Mengen" bestraft. Die hohen Strafandrohungen der §§ 29a-30a kann das Gericht wiederum durch Annahme eines „minder schweren Falles" auf 3 Monate bis 5 Jahre zurückschrauben. Besonders problematisch sind in der Entscheidungsphase der Staatsanwaltschaften und Gerichte die verschiedenen Mengenbegriffe des BtMG. Diese sind vom Gesetz nicht festgelegt, sondern müssen durch Rechtsauslegung ermittelt werden. So streuen die in Richtlinien festgelegten Grenzwerte - und damit die Einstellungsquoten - beispielsweise für Cannabis zwischen 6 g in Bayern und 30 g in Schleswig-Holstein. Daraus resultieren extreme Rechtsunsicherheiten und Ungleichheiten, die das BVerfG für auf die Dauer intolerabel erklärt hat. Hier ist eine gesetzliche Regelung unumgänglich. Die „nicht geringe Menge" der §§ 29a-30a ist vom Bundesgerichtshof (BGH) auf der Basis der Wirkstoffgehalte schrittweise für die wesentlichen 156

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illegalen D. festgelegt worden (vgl. Körner 1994 § 29a Anm. 45 ff.). Die Grenze beträgt z.B. für: Cannabis: 7,5 g THC; Heroin: 1,5 g Diamorphin; Cocain: 5 g; Ecstasy: 30 g MDMA-Base; LSD: 6 mg. Bei § 29 gehen die Gerichte schließlich von einer „normalen Menge" aus, welche sich aus den beiden vorgenannten Grenzwerten ergibt. Es gelten im übrigen die allgemeinen Vorschriften des Strafgesetzbuches. Danach ist auch „versuchte" Tatbegehung strafbar, d. h. ein „vorsätzliches Ansetzen zur Tatbestands verwirklichung". Neben der gemeinsamen Tatbegehung (§25 Abs. 2 StGB) sind auch Anstiftung und Beihilfe zu BtM-Delikten strafbar (§§ 26, 27 StGB). BtM-Delikte können auch fahrlässig (§ 29 Abs. 4 BtMG) oder im Falle einer Handlungspflicht durch Unterlassen begangen werden (§ 13 StGB). Bei Verurteilung wegen Dealens und ähnlicher Handlungsweisen können Gegenstände, auf die sich die Straftat bezieht, oder dadurch erlangte Vermögensgegenstände und deren Wertersatz für verfallen erklärt und eingezogen werden (§ 33 BtMG, § 73 ff. StGB). Nach § 46 StGB kann als Strafe auch die Einziehung des Vermögens ausgesprochen werden. Als Nebenstrafe kann ein befristetes Fahrverbot verhängt werden (§44 StGB). Verhängte Freiheitsstrafen können zur Bewährung ausgesetzt werden, wobei meistens für längere Zeit ein Bewährungshelfer beigeordnet wird. Durch den Bezug auf die allgemeinen Strafrechtsvorschriften ist im übrigen auch die sog. Zweite Spur strafrechtlicher Sanktionen eröffnet: Maßregeln der Besserung und Sicherung gem. §§ 63, 64, welche ihrerseits zur Bewährung ausgesetzt werden können. Die Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kommt in Betracht, wenn die D.-abhängigkeit bzw. das zugrundeliegende Delikt kausal auf eine im psychiatrischen Sinne relevante psychische Störung zurückzuführen ist. Dies ist in D.-strafsa-

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chen eher selten der Fall. Häufiger waren bis vor einiger Zeit Fälle der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wegen D.-abhängigkeit. Dem hat das BVerfG 1995 einen Riegel vorgeschoben, indem es die Unterbringung bei „Aussichtslosigkeit der Behandlung" untersagte. Als Maßregel ist nach § 69 StGB bei D.straftaten schließlich auch die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht selten. Wenn das nicht im Strafverfahren geschieht kann im übrigen die Straßenverkehrsbehörde die Fahrerlaubnis nach § 4 StVG entziehen, wenn sie aufgrund der D.-abhängigkeit die „Geeignetheit" verneint. Mit der BtMG-Reform von 1981 hat der Gesetzgeber außerdem eine Dritte Spur im Strafrecht eröffnet: §§ 35-38 regeln das Prinzip „Therapie statt Strafe". Unter dem „sekundären Leidensdruck" einer drohenden Bestrafung sollen D.-täter motiviert werden, sich einer Therapie ihrer D.-abhängigkeit zu unterziehen. Die Strafvollstreckung kann nach § 35 BtMG vom Gericht nach einer Verurteilung zu nicht mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe zurückgestellt werden, wenn der Verurteilte sich in einer solchen Therapie befindet. Dafür kommen entweder eine stationäre Langzeittherapie, eine Substitutionsbehandlung oder auch eine ambulante Psychotherapie in Betracht. Auch die Staatsanwaltschaft kann unter diesen Voraussetzungen bereits im Ermittlungsverfahren auf die Strafverfolgung verzichten (§ 37 BtMG). 3. Ausblick Ein großer Teil der gemessenen und verfolgten Kriminalität beruht auf dem Umgang mit illegalen Drogen, 1998 waren es ca. 210000 „Fälle", davon allein je ca. 110000 betreffend Cannabis, 50000 Heroin, ca. 23000 Cocain und 13000 Amphetamin (BKA: Polizeiliche Kriminalstatistik 1998). Die jährlichen Steigerungsraten der amtlichen Statistik - zuletzt 5,7% - belegen allerdings neben

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gestiegener Inzidenz vor allem die gestiegene Verfolgungsintensität. Aber auch Alkohol trägt einen wesentlichen Anteil insbesondere zur Gewalt- und Straßenverkehrskriminalität bei. Nach dem bisher gezeigten fragt es sich, ob das Strafrecht die beste Lösung der in diesen Statistiken zum Ausdruck kommenden Sozialprobleme darstellt. Zwar ist das Recht ein wesentliches gesellschaftliches Instrument der Gestaltung und Konfliktregulierung. Es ist nicht statisch, sondern dynamisch: Durch das Erfordernis der Anwendung auf den Einzelfall und die damit einhergehende Auslegung reflektiert das Recht die aktuelle gesellschaftliche Realität ebenso wie es sie beeinflußt. In erheblichem Maße ist es lediglich symbolisch in dem Sinne, daß staatliche Lösungsversuche suggeriert werden und damit öffentliche Meinung beeindruckt werden soll (Prittwitz 1993). Im scheinbar rigiden Rahmen des zunehmend dysfunktionalen Abstinenzparadigmas, welches in den geltenden Rechtsmaterien operationalisiert ist, haben sich in Form von Gesetzesänderungen und -auslegungen funktionale moderierende und modulierende Elemente mit der Tendenz zu Akzeptanz des D.-gebrauchs und Risikominderung für die Konsumenten entwickelt. Trotz des gesetzgeberischen Zögerns, der Aufforderung des BVerfG hinsichtlich weiterer Erforschung des D.-problems und entsprechender Gesetzesreformen nachzukommen, sind vielerlei faktische Entwicklungen geeignet, diese Rechtsevolution voranzutreiben - wenn auch um den Preis phasenweiser Ungleichbehandlung, die dem Betroffenen als Willkür erscheint. Die Grenze von „legal" und „illegal", die kollektive Wahrnehmung und Kausalattribution von D.risiken wird z.B. durch eine extensive Einstellungspraxis zugunsten von Konsumenten oder durch die Gesundheitspolitik von Städten und Ländern relativiert, die im Rahmen des geltenden Rechts Gesundheitsräume eingerichtet haben oder Modellversuche der Heroin- und 157

Drogenrecht (internationales und europäisches)

Drogenrecht (internationales und europäisches)

Cannabis-Vergabe starten wollen. Zugleich wird die vom Gesetz unabhängige Rolle veränderter sozialer Risikowahrnehmung und entsprechender Verhaltensbeeinflussung im Bereich von Tabak- und Alkoholkonsum deutlich. Kaum ein Bereich der Politik und des Rechts verändert sich jedenfalls derzeit so schnell wie der Bereich der illegalen D.

Drogenrecht (internationales und europäisches) 1. Das internationale und das europäische Drogenrecht sind neben dem deutschen •Drogenrecht die für den Drögen- und Suchtbereich entscheidenden Rechtsmaterien, auf die in unterschiedlichen Zusammenhängen zwar häufig verwiesen wird, deren Inhalt, Bedeutung, Funktion und Wirkungsweise jedoch wenig bekannt und geklärt sind. Unklar erscheint auch das Verhältnis zwischen nationalem, europäischem und deutschem Drogenrecht und deren Zusammenspiel. In ordnungsrechtlichen, sozialpolitischen und gesundheitspolitischen Diskursen wird dagegen versucht, strategisch-politische Verhältnisbestimmungen zu setzen. Derartige Versuche zielen darauf ab, ein restriktives Drogenrecht zu legitimieren und ein liberales Drogenregime unter Verweis auf internationale Rechtsvorgaben abzuwehren. Debatten über eine -»-Liberalisierung des Drogenrechts werden in den meisten europäischen Ländern geführt, auch wenn die jeweilige -•Drogenpolitik unterschiedlichen Strategien folgt. Während die skandinavischen Länder mehrheitlich drogenpolitisch restriktiv verfahren, praktizieren insbesondere die Niederlande und einige Kantone der Schweiz eine liberale Praxis mit Hilfe eines extensiv ausgelegten Drogenrechts. Diese Staaten versuchen eine ->Entkriminalisierung der Konsumverhaltensweisen nach dem Betäubungsmittelstrafrecht. Auch in der Bundesrepublik Deutschland scheint mit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 eine Liberalisierung des Drogenrechts bevorzustehen. (-•Drogenfreigabe)

Lit.: Akzepte. V. (Hrsg.), Wider besseres Wissen. Bremen 1996; Böllinger, L., Stöver, H., Fietzek, L., Drogenpraxis Drogenrecht - Drogenpolitik. Frankfurt 4 1995; Böllinger, L., Grenzenloses symbolisches Strafrecht. Zum Cannabis-Beschluß des BVerfG. In: Kritische Justiz 1994, S. 405; Bremer Institut für Drogenforschung (Hrsg.), Zur Cannabis-Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Bremen 1995; Bundeskriminalamt (BKA), Polizeiliche Kriminalstatistik und Rauschgift-Jahresbericht. Wiesbaden (erscheinen jährlich); Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht. Geesthacht (erscheint jährlich); Haffke, B., Drogenstrafrecht. In: Zeitschrift für die Gesamten Strafrechtswissenschaften 107,1995, S. 761-792; Köhler, M„ Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht. In: Zeitschrift für die Gesamten Strafrechtswissenschaften 103,1992, S. 3-64; Körner, Hans Harald, Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz. München 4 1994; Kreuzer, Α., Römer-Klees, R., Schneider, H., Beschaffungskriminalität Drogenabhängiger. BKA-Schriftenreihe Bd. 24, Wiesbaden 1991; Kreuzer, A. (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, München 1998; Prittwitz, C., Strafrecht und Risiko. Frankfurt 1993; Scheerer, S., Vogt, I. (Hrsg.), Drogen und Drogenpolitik. Frankfurt/New York 1989; Scheerer, Sebastian, Special: Sucht. Reinbek 1995; Weber, Georg, Schneider, Wolfgang, Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen. Münster 1992. Lorenz Böllinger, Bremen 158

2. Grundlagen des internationalen Drogenrechts. Im wesentlichen handelt es sich um drei bzw. vier völkerrechtliche Verträge, die auch das deutsche Drogenrecht dominieren. Sie haben das Ziel, die Verwendung von Narkotika und psychoaktiven Drogen auf medizinische und

Drogenrecht (internationales und europäisches) wissenschaftliche Zwecke zu beschränken und den illegalen Drogenhandel zu verhindern. Die „Single Convention" aus d e m Jahr 1961 reguliert die jeweiligen nationalen Drogenpolitiken. Sie wurde im Jahre 1972 durch ein Ergänzungsprotokoll erweitert und beinhaltet die Kodifizierung aller bis dahin existierender Vertragstexte, die Bildung des Internationalen Suchtstoff-Kontrollamts, die Ausweitung des Kontrollsystems und das Verbot des Konsums von Koka- und Cannabisprodukten zu anderen als medizinischen Zwecken. Das Übereinkommen über psychotrope Stoffe als zweites bedeutsames Vertragswerk wurde im Jahre 1971 abgeschlossen. Es erweitert die Drogenkontrolle von bisher narkotischen Drogen auf Amphetamine, Barbiturate und Halluzinogene, die synthetisch hergestellt werden können (Tausch 1995, 128). Es beinhaltet Kontrollmaßnahmen gegenüber Herstellern, Im- und Exporteuren und legalen Verwendern. Den illegalen Drogenhandel erfaßt das Übereinkommen zur B e k ä m p f u n g des illegalen Handelns mit Suchtstoffen und psychotropen Substanzen vom 20. 12. 1988. Das Übereinkommen konzentriert sich auf Ergänzungen der bestehenden Konventionen und will durch Maßnahmen der Gewinnabschöpfung, d. h. der Einziehung des mit dem illegalen Drogenhandelns erzielten Gewinns und durch Kontrolle spezifischer Chemikalien für die illegale Drogenherstellung den illegalen Handel verhindern. Daß das internationale Drogenrecht den Eigengebrauch von Cannabisprodukten nicht generell verbietet, begründet Sommer wie folgt: „Teilweise läßt sich ihnen schon eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland nicht oder nicht hinreichend deutlich entnehmen, den U m g a n g mit geringen Mengen von Cannabisprodukten zum Eigengebrauch unter Strafe zu stellen" (Sommer (Neue Juristische Wochenschrift) 1994, 1589). Die Straf-

Drogenrecht (internationales und europäisches) bestimmungen des „Einheitsübereink o m m e n s vom 30. 3. 1961 über Suchtstoffe" ( B G B L (Bundesgesetzblatt) II 1973, 1353) verpflichten die Vertragsstrafen lediglich zu den erforderlichen Maßnahmen, um den vorsätzlichen, verbotenen U m g a n g mit Suchtstoffen unter Strafe zu stellen. Daran hat auch das Protokoll v o m 25. 3. 1972 zur Änderung des Einheits-Abkommens von 1961 über Suchtstoffe ( B G B L II 1975, 2) nichts geändert. Auch das „Schengener Übereinkommen vom 19. 6. 1990, betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen" ( B G B L II 1993, 1010), verpflichtet die Vertragsstrafen nach Art. 71, I, II darauf, den Umgang mit Cannabisprodukten auf der Angebotsseite („Abgabe") auch mit strafrechtlichen Mitteln zu unterbinden. Hinsichtlich der Eindämmung der unerlaubten Nachfrage werden die erforderlichen Maßnahmen nach Art. 71 V jedoch der Verantwortung der Vertragsparteien überlassen. Demgegenüber ist nach d e m „Übereink o m m e n vom 2 1 . 2 . 1971 über psychotrope Stoffe" ( B G B L II 1976, 1477) j e d e Verwendung von Cannabisprodukten außer zu medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken gemäß Art. 5 I und Art. 7 und jeder vorsätzliche Verstoß gegen das Verbot als strafbar zu behandeln (Art. 22 Ia). Eine ausdrückliche Forderung nach Poenalisierung von Konsumentenverhalten findet sich erstmals in Art. 3 II des „Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 20. 12. 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen", dem Suchtstoffübereinkommen ( B G B L II 1993, 1137). Die Verpflichtung zur Poenalisierung des Besitzes und des Erwerbs von Suchtstoffen steht jedoch unter dem Vorbehalt der Verfassungsgrundsätze der Vertragsstaaten (Art. 22 des Übereinkommens über psychotrope Stoffe; Art. 3 II des Suchtstoffübereinkommens). Das heißt, immer ist für die je159

Drogenrecht (internationales und europäisches)

weilige völkerrechtliche Verpflichtung die Voraussetzung zu erfüllen, daß sie nicht gegen die nationale Verfassung verstößt. Die Konventionen sind demnach immer verfassungskonform im Lichte des Grundgesetzes auszulegen (Albrecht 1998, 673). Das Suchtstoffübereinkommen enthält außerdem den Vorbehalt der Grundzüge der Rechtsordnung der Vertragsstaaten. 3. Die Umsetzung des internationalen Drogenrechts. Die Implementation der Konventionen und die Weiterentwicklung geschieht durch Internationale Kontrollorgane unter dem Dach der Vereinten Nationen. Die rechtlichen Grundlagen der Errichtung, Gründung und des Betriebes dieser Institutionen beruhen auf den Konventionen. Die Generalversammlung nimmt die Berichte der UN-Gremien zur Drogenproblematik entgegen und trifft die zentralen Entscheidungen zur Bekämpfung des Drogenhandels und -mißbrauchs. Der Wirtschafts- und Sozialrat legt die allgemeinen Grundsätze der Drogenbekämpfung fest und richtete die Suchtstoffkommission der UN (CND) als Fachkommission ein, die die Richtlinienkompetenz in allen Fragen der Drogenbekämpfung besitzt. Die Aufgabe der CND besteht in der Überprüfung der globalen Drogensituation und der Unterstützung des Wirtschafts- und Sozialrates bei der Kontrolle der Einhaltung internationaler Abkommen und der Ausarbeitung neuer Verträge und der Durchführung internationaler Aktionen gegen den Drogenmißbrauch. Das Internationale Suchtstoffkontrollamt hat die Aufgabe, den Anbau drogenhaltiger Pflanzen zu überwachen, die Gewinnung und Herstellung von Drogen zu beschränken und den medizinischen Bedarf und das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage von Drogen für medizinische Zwecke sicherzustellen. Die statistische Erfassung der umlaufenden Drogen und die Einschätzung des legalen wissenschaftlichen und 160

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medizinischen Bedarfs zur Verhinderung des Verkehrs von illegalen Drogen zählt ebenso zu den Aufgaben. Das Kontrollamt überwacht auch die Einhaltung der Vertragspflichten der Unterzeichnerstaaten und gilt hier als Verfechter einer harten prohibitiven und repressiven Politik, indem es strenge Kontrollmechanismen fordert. Das Amt wendet sich gegen eine Lockerung der Drogenpolitik in der Frage einer Liberalisierung der Drogenpolitik durch eine Legalisierung von Drogen (Rausch 1995,136; Albrecht 1998,659 f., 681 f.). Alle Drogenkontrollaktivitäten der UN werden durch das im Jahre 1990 gegründete Internationale DrogenkontrollProgramm der Vereinten Nationen (UNDCP) koordiniert. Das UNDCP (-•United Nations' International Drug Control Programmme) hat die Leitung der internationalen Drogenkontrolle inne, untersucht Trends der Drogenproduktion, des Konsums und des Handels und fördert die Anwendung der Verträge zur Drogenkontrolle. Es dient als ein weltweites Zentrum für Fachwissen und Information zur internationalen Drogenkontrolle. Seit dem 1.1. 1998 ist das Programm in zwei Abteilungen aufgeteilt: die Abtei-

Direct connection (Administrative or constitutional) Reporting, cooperation and advising reiationsshlp In accordance with General Assembly resolution 457179 of 21 December 1990, the secretariat of I N C B h a s been fully integrated into U N D C P

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Suchtstoftkommissicn der Vereinten Nationen (CND)

Aulgabe: Allgemeine Drogenpolitiken, Kontrolle der internationalen Verträge. EU-Status: Beobachter

Wettzollorganisation (WZO)

Interpol (1KPO)

Aufgabe: Internationale Zusammenarbeit in Zollsachen. EU-Status. Beobachter EBDD-WZO: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht Aufgabe: Internationale Zusammenarbeit der Polizeidienste. EU-Status: Beobachter EBDD-IKPO: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht Aufgabe: Informelle Einrichtung für konzeptionelle Entwicklung. EU-Status: Mitglied

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Kommission der Vereinten Nationen für Verbrechens! und Strafrechts3®

Aufgabe: UNOPolitik zur Verbrechensverhütung. EU-Status: Beobachter

..;ggSttggg^ Internationales Drogenkontrollprogramm der Vereinten Nationen (UNDCP)

Aufgabe: Koordinierung aller Drogenkontrollaktivitäten der UNO. EU-Status: Beobachter. EBDD-UNDCP: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht

Europäische Union

Aufgabe: Informelle Zusammenarbeit auf dem amerikanischen Kontinent. EU-Status: Teilnahme zu gegenseitigem Nutzen

Duttin-Gruppe

Internationales Suchtkontrollamt der Vereinten Nationen (INCB) Aufgabe: Evaluation des gesetzlich zulässigen Drogenbedarfs. Internationale Zusammenarbeit EBDD-INCB: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht

Aufgabe: Förderung des Gesundheitswesens. EU-Status: Beobachter EBDD-WHO: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht

Aufgabe: Internationale Zusammenarbeit auf gesamteuropäischer Ebene. EU-Status: Ständiger Korrespondent EBDD-Pompidou-Gruppe: Datenaustausch, Beitrag zum Jahresbericht

Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Aufgabe: Geldwäscheprävention EU-Status: Mitglied Financial Action Task Force (FATF)

Pompidou-Gruppe des Europarats

Aus: Jahresbericht EBDD 1999, 2 3

lung für Vertragsangelegenheiten, Planung und Berichtswesen und der Sektion für Programm- und Analysedurchführung ( U N D C P JS No. 1, 1998). 4. Internationale und europäische Akteure. Aus europäischer Perspektive wird der Kreis der mit dem Drogenproblem befaßten Akteure um ein Vielfaches erweitert, wie die obige Übersicht zeigt: Internationale Akteure können insgesamt in 4 Kategorien eingeteilt werden: a) Die Vereinten Nationen mit den oben genannten Behörden, die sich mit dem Drogenproblem in unterschiedlicher Art und Weise befassen. Des weiteren ist die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen ( W H O ) zu benennen, die das öffentliche Gesundheitswesen und bessere Lebensbedingungen fördern soll. b) Die Europäische Union mit ihren Organen, insbesondere der Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament sowie den verschiedenen Einrichtungen und Programmen.

c)Internationale Behörden wie z . B . Interpol fördern die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung, um Erzeugung und Herstellung illegaler Drogen sowie den Drogenhandel einzuschränken. Die Weltzollorganisation hat die Aufgabe, die internationale Z u s a m m e n arbeit in Zollsachen zu fördern und bemüht sich um eine Harmonisierung der Zollverfahren und einer verbesserten Kontrolle von Drogensendungen. d) Regionale Organisationen bemühen sich um fachübergreifende und koordinierende Maßnahmen gegen den Handel und den Konsum von und mit Drogen. Die Pompidou-Gruppe des Europarates versucht auf paneuropäischer Ebene einen übergreifenden Ansatz der Drogenbekämpfung, während die DublinGruppe sich als internationale Einrichtung f ü r die Koordination der internationalen Politik zur Drogenproblematik einsetzt. 161

Drogenrecht (internationales und europäisches) Die Arbeitsgruppe finanzielle Maßnahmen gegen die Geldwäsche (FATF) erarbeitet Maßnahmen gegen das Problem der Geldwäsche im europäischen Finanzsystem. Die Europäische Union arbeitet schließlich auch mit Organisationen anderer Staaten wie z . B . der interamerikanischen Kommission für die Bek ä m p f u n g des Drogenmißbrauchs (CIC A D ) zusammen, um den Drogenhandel, die -erzeugung und den -konsum zu unterbinden. Die Übersicht macht deutlich, wie nahezu unübersichtlich die Anzahl beteiligter Organisationen mit zum Teil überschneidenden Aufgaben und Aktivitäten im Bereich der D r o g e n b e k ä m p f u n g ist, so daß eine effiziente und effektive Koordination der Gesamttätigkeiten schwer möglich erscheint. Unübersichtlich wirken in diesem Zusammenhang ebenfalls die europarechtlichen Handlungsgrundlagen der Akteure. 5. Europäisches Drogenrecht. Während die völkerrechtlichen Konventionen und Resolutionen den Vereinten Nationen Kompetenzen auf d e m Gebiet des Betäubungsmittelrechts und insbesondere dem Strafrecht verleihen, besitzt die Europäische Union keine vergleichbare unionsweite supranationale Gesetzgebung für den Drogenbereich. Auch besteht kein einheitliches europäisches Betäubungsmittelstrafrecht. Bei Analyse der verschiedenen europäischen Politiken zum Umgang mit Drogen ist festzustellen, daß der wesentliche Schwerpunkt im repressiven Bereich liegt. Dabei geht es um die B e k ä m p f u n g des illegalen Drogenhandels durch polizeiliche (Europol) und justitielle Zusammenarbeit. Da die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft ist, die durch Recht geschaffen worden ist und durch Recht existiert und funktioniert, k o m m t dem Europarecht eine große Bedeutung zu. Die Mitgliedstaaten haben eine Reihe von Hoheitsrechten an die Gemeinschaft 162

Drogenrecht (internationales und europäisches) abgetreten, ihre Handlungen, Maßnahmen und Aktionen bedürfen immer einer Rechtsgrundlage aus den Gemeinschaftsverträgen mit ihren Änderungen und Ergänzungen (primäres Recht) sowie dem daraus abgeleiteten Recht, wie Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen (sekundäres Recht, Leitfaden des Europaparlaments 1998). Durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997 ist in den Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen in Artikel Kl. 1 des VI. Titels der illegale Drogenhandel als Tätigkeitsfeld der Europäischen Union benannt. Es heißt dort, daß die Union ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwikkelt. „Dieses Ziel wird erreicht durch die Verhütung und B e k ä m p f u n g der - organisierten oder nichtorganisierten - Kriminalität, insbesondere . . . des illegalen Drogenhandels . . . im Wege einer - engeren Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und anderer zuständiger Behörden in den Mitgliedstaaten, sowohl unmittelbar als auch unter Einschaltung des europäischen Polizeiamtes ( E u r o p o l ) . . . ; - engeren Zusammenhang der Justizbehörden . . . ; - Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten . . . " Art. Κ. 1 Abs. 2). 5.1 Europol. Europol ist nach seiner Grundkonzeption als Zentralstelle für den polizeilichen Informationsaustausch und für die Verbrechensanalyse bestimmt. Ausgangspunkt und die erste Stufe von Europol war die Europol-Drogenstelle (EDS) mit dem Mandat zur B e k ä m p f u n g des internationalen illegalen Drogenhandels und der damit verbundenen Strafdelikte wie z . B . der Geldwäsche. Das Mandat von Europol ist um weitere Straftaten und Kriminalitätsformen erweitert worden (Anhang zu Art. 2, BT-Drs. 13/7391,40).

Drogenrecht (internationales und europäisches) „Europol hat zur Aufgabe, die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Leistungsfähigkeit ihrer Behörden zu verbessern. Wesentliche Elemente dieser Zusammenarbeit sind die Erleichterung des Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Z u s a m m e n f ü h r u n g polizeilicher Informationen und Erkenntnisse aus den Mitgliedstaaten zu einem einheitlichen Datenbestand zwecks gemeinschaftlicher Analyse, die sich sowohl auf allgemeine Verbrechensphänomene als auch auf konkrete Straftaten erstreckt" (Europol-Gesetz, BT-Drs. 13/7391,7). 5.2 Dritter Europäischer Aktionsplan zur Drogenbekämpfung. Der allgemeine Rahmen für europäische M a ß n a h m e n im Drogenbereich wird nach dem gegenwärtigen Stand durch den Dritten Europäischen Aktionsplan zur Drogenb e k ä m p f u n g vorgegeben. Es sind drei Schwerpunktbereiche vorgesehen: Reduzierung der Nachfrage, Reduzierung des Angebots und internationale Zusammenarbeit, einschließlich einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Unter d e m Begriff der Reduzierung der Drogennachfrage faßt die Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht E B D D alle Tätigkeiten in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Unterrichtswesen und Strafgerichtsbarkeit zusammen. Die M a ß n a h m e n sollen darauf abzielen, Drogenkonsum zu verhindern, Drogenkonsumenten zu helfen und ihnen eine Therapie zu ermöglichen, schädliche Auswirkungen des Drogenkonsums zu begrenzen und die gesellschaftliche (Re-)Integration ehemaliger Drogenkonsumenten zu fördern. Im Jahre 1997 bestand gemäß Jahresbericht der E B D D die wichtigste M a ß n a h m e auf dem Gebiet der Reduzierung der Nachfrage in der Umsetzung des Aktionsprogrammes der Gemeinschaft zur Prävention der Drogenabhängigkeit. Mit diesem Prog r a m m wurden 1997 europaweit 22 Projekte gefördert und darüber hinaus im

Drogenrecht (internationales und europäisches) Rahmen der Beschäftigungsinitiative Integra Projekte für die Wiedereingliederung von Drogenabhängigen durchgeführt. Die wichtigsten Initiativen zur Reduzierung des Angebots befaßten sich mit der Überwachung des Handels von Chemikalien, die für die Herstellung illegaler Drogen eingesetzt werden und der Verstärkung von Anti-GeldwäscheStrategien. In der internationalen Zusammenarbeit werden im PHARE-Mehrländerprogramm die Maßnahmen und Initiativen der zehn mittel- und osteuropäischen Länder, die sich gegenwärtig auf den Beitritt zur EU vorbereiten, begleitet. Die E U verabschiedete auch eine V O über Grundsätze, Ziele und Modalitäten der Nord-Süd-Zusammenarbeit im Umgang mit Drogen und Drogenabhängigkeit ( V O Nr. 2046/97 v. 13. 10. 97). 5.3 Strafrechtliche Regelungen der Mitgliedstaaten. Ein Vergleich der strafrechtlichen Bestimmungen z u m Drogenmißbrauch und deren Handhabung in der Praxis in den 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union war Gegenstand der Conference on Drugs Policy in Europe im Dezember 1995 und März 1996 in Brüssel (Ballotta 1997). Auf der Grundlage einer Studie von de Ruyver wurden 5 Fragestellungen miteinander verglichen. Es handelt sich um die Klassifizierung der Suchtstoffe (I) sowie um die strafrechtlichen Bestimmungen zum Drogenkonsum (II), Drogenbesitz (III) und Handel mit unerlaubten Drogen einschließlich der jeweiligen Rechtsprechungspraxis (IV). Untersucht wurden auch die bestehenden Alternativen - wie etwa therapeutische Behandlungsverfahren - zur Bestrafung (V). Generell ist festzustellen, daß sich die strafrechtlichen Bestimmungen zum Drogenmißbrauch in allen Mitgliedstaaten relativ ähnlich sind. Dieser Umstand beruht auf dem internationalen rechtlichen Rahmen, wie er durch Übereink o m m e n der Vereinten Nationen geprägt ist und auf Tätigkeiten der Europäischen Union im internationalen Z u s a m m e n hang (Konferenz 1995). 163

Drogenrecht (internationales und europäisches)

5.4 Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Suchtprävention. Zwar liegt der Schwerpunkt im Bereich der polizeilichjustitiellen Zusammenarbeit (Europol) und damit im repressiven Bereich, doch bedient sich die EU auch präventiver Maßnahmen. So ist durch Beschluß 102/ 97 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12. 96 (ABL L19 v. 22.1. 97, S. 25-31) das Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Suchtprävention (1996-2000) verabschiedet worden, das durch 16 konkrete Aktionen zwei Ziele erreichen will: „die Verbesserung der Kenntnisse über Drogen und Drogenabhängigkeit und ihre Folgen sowie über die Mittel und Methoden zur Suchtprävention zur Verhütung suchtbedingter Risiken; die Verbesserung der Information, der Aufklärung und der Ausbildung im Hinblick auf die Suchtprävention und die Prävention der damit verbundenen Risiken mit besonderer Ausrichtung auf Jugendliche in prägenden Umfeldern (z.B. Familie, Schule, Universität, Freizeit) und besonders gefährdete Gruppen, einschließlich ehemaliger Drogenabhängiger". Eine Analyse bisheriger Programmberichte ergibt, daß der europäischen Drogenpolitik im Gesundheitsbereich ein Verständnis zugrunde liegt, das Drogenabhängigkeit tendenziell als pathologisches Problem ansieht, dem generell am besten mit medizinisch-psychiatrischem Sachverstand zu begegnen sei. So ist auf der Basis eines Forschungsprojekts (COST-Aktion AG) über die vorhandenen Behandlungsmethoden und ihre Anwendungsmöglichkeiten zur Behandlung der Drogensucht ein Arbeitsinstrument für Ärzte entwickelt worden. Der Abhängigkeitsgrad-Index (EuroASI) soll als modulares Instrument eine detaillierte Beschreibung der Patienten und ihrer Probleme zu Beginn, im Verlauf und nach der Behandlung ermöglichen (Europäische Kommission 1998). Über die Zunahme europäisch geförderter medizinisch-psychiatrischer Forschung, klinischer Untersuchungen und 164

Drogenrecht (internationales und europäisches)

Diagnostik wird ausführlich in der Zeitschrift „European Addiction Research" berichtet. 5.5 Beobachtungsstellen für Drogen und Drogensucht (EBDD). Ein großes Gewicht erhält auf europäischer Ebene die Erforschung der Drogensituation und die Evaluation von Drogenprogrammen in Europa. Durch die Errichtung von Beobachtungsstellen für Drogen und Drogensucht (EBDD) sollen nach Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 302/93 die Daten qualifiziert und deren Zuverlässigkeit, Vergleichbarkeit und Objektivität verbessert werden (Jahresbericht 1998, 3). Da die statistische Erfassung des Drogengebrauchs derzeit unterschiedlichen kulturellen und methodischen Mustern und Verfahren folgt und somit zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen führt, bemüht sich die EBDD um die Entwicklung standardisierter Indikatoren und Kriterien (Art. 2 Nr. 6 VO Nr. 302/93). Zuverlässige und wissenschaftlich fundierte Informationen werden als unerläßliche Voraussetzung für wirksame Strategien gegen Drogengebrauch angesehen und sollen dazu beitragen, der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Maßnahmen und Aktionen eine Gesamtschau der Drogen und Drogensuchtproblematik zu ermöglichen (vgl. Art. 1 Abs. 3 VO Nr. 302/93). Die EBDD hat die Aufgabe, Daten zu sammeln, zu speichern und zu analysieren. Dabei führt sie Umfragen, Voruntersuchungen, Durchführbarkeitsstudien, Pilotaktionen, Sachverständigensitzungen, Ad-hoc-Arbeitsgruppen etc. durch (Art. 2 Nr. 2 VO Nr. 302/93). Die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und Stellen ist allgemein und unspezifiziert vorgesehen. Zu der Arbeitsmethode heißt es in Art. 3 Abs. 2 VO Nr. 302/93: „Zur Vermeidung von Doppelarbeit trägt die Beobachtungsstelle bei der Wahrnehmung ihrer Tätigkeiten der Arbeit Rechnung, die von anderen bestehenden oder noch zu schaffenden Einrichtungen und Stellen,

Drogenrecht (internationales und europäisches) insbesondere d e m Europäischen Polizeiamt (Europol) bereits geleistet wurde, und sorgt für Wertzugewinn." Für die Beschaffung der erforderlichen Daten für die Arbeit der E B D D wurde das europäische Informationsnetz für Drogen und Drogensucht (REITOX) in den Mitgliedstaaten gegründet. 6. Ergebnis. Die Analyse des europäischen und internationalen Drogenrechts hat gezeigt, wie vielfältig und unterschiedlich die rechtliche Einflußnahme und die optionalen Möglichkeiten der europäischen und internationalen Institutionen sind, auf das deutsche Drogenrecht und umso mehr auf die deutsche Drogenpolitik einzuwirken. Gleichzeitig ist aber auch deutlich geworden, daß es den Mitgliedstaaten trotz der tendenziellen Ausrichtung dieser Rechtsmaterien zu einem restriktiven und repressiven Drogenrecht u n b e n o m m e n bleibt, eine liberale Drogenpolitik mit einem entsprechend liberalen Drogenrecht zu betreiben, wie es die Beispiele der Niederlande oder der Schweiz zeigen und wie es sich nunmehr in Deutschland anzudeuten scheint. Gleichwohl ist auch deutlich geworden, daß es keinen allgemeinen internationalen und keinen nationalen Konsens über eine einheitliche Drogenpolitik und ein angemessenes und adäquates Drogenrecht gibt. So ist und bleibt die Legalisierung von weichen Drogen umstritten. Allerdings werden die forcierten Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern einer drogenfreien Gesellschaft und den Vertretern einer liberalen Drogenpolitik nicht rechtlich begründet, sondern auf der Ebene einer angsterzeugenden Mythen- und Legendenbildung geführt. Ein rationaler Diskurs und die Entwicklung eines rechtlich angemessenen Hilfeprogramms wird auf diese Weise erschwert. Eine umfassende Analyse des internationalen und europäischen Drogenrechts eröffnet jedoch größere Handlungsoptionen und Interpretationsmöglichkeiten im Verhältnis

Drogenrecht (internationales und europäisches) zum deutschen Drogenrecht. -»Drogenpolitik; + Drogenrecht; -»Europa Lit.: Albrecht, H.-J. (1998), Internationales Betäubungsmittelrecht und internationale Betäubungsmittelkontrolle, in: Kreuzer, A. (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, München, S. 6 5 3 - 7 0 1 ; Ballotta, D. (1997), Der strafrechtliche U m g a n g mit Drogenmißbrauch im europäischen Vergleich, in: http://www.jura.uni-muenchen.de/Student/ELSA/drugs 13.htm; B M G (1999), Drogen- und Suchtbericht 1998, Bonn, in: http://www.bmg gesundheit.de/ krankhei/ubersi2.htm; Böllinger, L. (1991), Strafrecht, Drogenpolitik und Verfassung, in: Kritische Justiz, Heft 4, Jg. 24, S. 393^109; Bölter, H. (1998), Ist der Betrieb von Fixerstuben wirklich straflos?, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 5, 18. Jg., S. 2 2 4 - 2 2 6 ; E B D D (1999), Jahresbericht über den Stand der Drogenproblematik in der Europäischen Union 1998, Lissabon; Europäische Kommission (1998), FIE-Info, in: http://europa.eu-int; European Addiction Research (1998), in: http:// www.online.karger.com/library/...; Gebhardt, Ch. (1998), Drogenpolitik, in: Kreuzer, A. (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, München, S. 5 8 7 - 6 4 6 ; Hoffmann-Riem, W. (1998), Gutachten - Ist der Betrieb von Gesundheitsräumen strafbar, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 1, S. 7 ff.; Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. 10. 98, Bonn; Konferenz über Drogenpolitiken in Europa (1995) in: http:// europa.eu.int/comm/sg/drogue/de/drog. htm; Kreuzer, A. (1998), Drogenkontrolle zwischen Repression und Therapie, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 5, 18. Jg., S. 2 1 7 - 2 2 2 ; Nelles, W„ Velten, P. (1994), Einstellungsvorschriften als Korrektur für unverhältnismäßige Strafgesetze?, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 8, S. 3 6 6 370; Rausch, Chr. (1995), Drogenarbeit 165

Drogenszenen

Drogentote

und Drogenpolitik in Europa, Rheinfelden, Berlin, 2. Aufl.; Schneider, H. (1992), Entkriminalisierung der Konsumverhaltensweisen des Betäubungsmittel strafrechts im Lichte internationaler Verpflichtungen, in: Der Strafverteidiger, Heft 10, S. 489^192; U N D C P (1998) in: http://www.un.org/ga/20spezial/presskit/themes/judcoo-1 .htm Peter Schäfer, Lüneburg Drogenszenen -•Lebenswelt Drogentherapie Häufig wird unter diesem Begriff die stationäre Therapie in einer therapeutischen Gemeinschaft (als stationäre Einrichtung der Drogenhilfe) verstanden. Die therapeutischen Konzepte der Einrichtungen sind höchst unterschiedlich. Die Behandlungsdauer ist mit durchschnittlich 10 Monaten i.d.R. länger als in den stationären Einrichtungen für Abhängige von Alkohol oder Medikamenten. -"-Psychotherapie; -'Rehabilitation; -•Suchtkrankenhilfe; •Therapiekettc Drogentod Der durch Drogenkonsum verursachte Tod infolge Atemstillstand oder Herzlähmung, sehr häufig durch Heroin, unbeabsichtigt aufgrund falscher Dosierung oder Unterschätzung der Reinheit des Stoffes, durch den Mischkonsum mit anderen Drogen wie Alkohol und Medikamenten zur Überbrückung von Entzugserscheinungen oder beabsichtigt als Suizid. Drogentote Während die Zahl der D. bis 1991 auf 2125 anstieg, geht die Anzahl der D. seitdem diskontinuierlich zurück. Das Erkennen des direkten Zusammenhangs zwischen Drogenkonsum und Tod ist nicht immer möglich, eine genaue Feststellung der Todesursache kann nur durch eine chemisch-toxikologische Untersuchung erfolgen, diese werden allerdings nicht regelmäßig durchgeführt. Einen gewissen Hinweis geben die Um166

stände des Todes: Anwesenheit von Spritzbesteck, öffentlicher Raum. In Deutschland werden bei der Erfassung von Rauschgifttodesfällen die folgenden Gruppen berücksichtigt: Todesfälle infolge beabsichtigter oder unbeabsichtigter Überdosierung, Todesfälle infolge langzeitigen Mißbrauchs, Selbsttötungen aus Verzweiflung über die Lebensumstände oder unter Einwirkungen von Entzugserscheinungen und tödliche Unfälle unter Drogeneinfluß stehender Personen. Da andere Länder für die Erfassung der Drogentoten andere Zählverfahren verwenden, sind die Zahlen international kaum vergleichbar. Während die Zahl der D. akribisch gezählt und regelmäßig in den Medien veröffentlicht wird, stellt die Zahl der Todesfälle durch Nikotin und Alkohol ein deutlich größeres Problem für die Volksgesundheit dar. So wurden in einer groß angelegten Untersuchung 1990 in den Mitgliedsländern der Europäischen Union insgesamt für die Bundesrepublik 110000 tabakbedingte Todesfälle genannt, davon 4 3 0 0 0 an Krebs, 37000 an Kreislauferkrankungen und 2 0 0 0 0 an Erkrankungen der Atemwege. An der Todesursache „Alkohol" starben 1995 in der Bundesrepublik mindestens

Todesfälle Im Z u s a m m e n h a n g mit Drogen: Männer u n d Frauen R J B '95 Langzeitschäden

• Heroin +

Droge/·»

18%

!

64%

Medikame Ausweichn

Ecstasy/*

Kokain/+ Quelle: Suchtbericht Deutschland 1997

Drogentote

Drogentote D r o g e n t o t e in D e u t s c h l a n d

1988-1998

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

670

991

1491

2125

2099

1738

1642

1565

1712

1501

1674

Todesfälle im Zusammenhang mit Drogen Altersgruppen

RJB '95

2500-1

2000 •

über 30 Jahre



25-• Akzeptanzparadigma) angeboten. In allen Staaten bewegen sich die Konzepte der Drogenarbeit zwischen diesen Polen und variieren bei unterschiedlichen Maßnahmen in ihrem Abstinenz- oder Akzeptanzgehalt. Je nachdem, wo die jeweiligen Präferenzen liegen, lassen sich „harte" und „weiche" Strategien im U m g a n g mit dem Drogenproblem feststellen. Befriedigende Erklärungen dafür, w a r u m eine Strategie gewählt wird, liegen bisher nicht vor. Insgesamt kann in E. eine Dominanz der strafrechtlichen Kontrolle beobachtet werden, die sich in erheblichen Investitionen in die Rauschgiftbekämpfung zeigt und das Ziel verfolgt, den Zugang zu Drogen zu verhindern. Drogenprävention als Teil der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitserziehung dagegen war schon immer unzureichend ausgestattet und hat nur marginale Bedeutung (-•Erziehung, -»Gesundheitsförde224

Europa rung, -»-Prävention). Gegen repressive Drogenpolitik steuert in allen europäischen Staaten eine oppositionelle antiprohibitive Drogenpolitik. Sie plädiert für ein Abrücken von der vom Strafrecht bestimmten Strategie und sieht die Alternativen in einer pragmatisch orientierten Drogenarbeit, die in einer schadensbegrenzenden (harm-reduction) Drogenpolitik eingebettet ist. Dazu gehören unter anderem sogenannte niederschwellige Hilfen wie Kontaktcafes, Notschlafstellen, Spritzenversorgung und Konsumräume, Substitutionsprog r a m m e mit »-Methadon und >Codein, kontrollierte Heroinabgabe, -•Entkriminalisierung der Süchtigen und die Freigabe „weicher" Drogen. 3. Bemühungen auf europäischer Ebene. Europäische Organe koordinieren seit Mitte der achtziger Jahre verstärkt Bemühungen zu einer effizienteren Suchtpolitik. 3.1 Tabak- und Alkoholprävention. Hinsichtlich der Werbung für Suchtmittel bestehen in E. unterschiedliche Reglementierungen, die von generellen Werbeverboten bis zu freiwilligen Selbstbeschränkungen reichen. Auf Vorschlag der EU-Kommission und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments ist bezüglich der Tabakwerbung eine Vereinheitlichung geplant, die ein generelles Werbeverbot, das Verbot der Gratisverteilung von Tabakwaren und das Verbot der Nutzung von Tabak-Handelsmarken zur Werbung in anderen Marktbereichen e.weit vorsieht. A n f a n g und Mitte der neunziger Jahre legte die E U Programme zur Gesundheitsaufklärung und -erziehung, zur Krebsbekämpfung und ein Aktionsprog r a m m zur Reduktion des Alkoholkonsums um 25% bis zur Jahrtausendwende unter Einbeziehung staatlicher sowie nichtstaatlicher Organisationen, der Alkoholindustrie und der Medien auf. 3.2 Drogenprävention. In E. ist seit Mitte der achtziger Jahre das Problem durch illegale Drogen zum Gegenstand

Europa

Europa g e m e i n s a m e r Anstrengungen geworden. Vor allem die Europäische Einigung, in deren K o n s e q u e n z e n die Binnengrenzen der E U abgeschafft werden und ein Europäischer Sozialraum mit der A b s t i m m u n g aller Lebensbedingungen und einer A n g l e i c h u n g der Gesellschafts- und Rechtspolitik entstehen soll, macht die

g e m e i n s a m e Beantwortung der Drogenfrage erforderlich (siehe Tabelle unten). D i e internationale Zusammenarbeit der Polizei betraf seit jeher besonders Drogendelikte. Wichtigstes Ziel der Z u s a m menarbeit bei INKO-Interpol ist es, die Konzepte der D r o g e n b e k ä m p f u n g der europäischen Polizeien zu koordinieren

Überblick über europäische Gremien zur Drogenbekämpfung Multinationale Rauschmittelbekämpfungsgremien INKO-Interpol - Generalversammlung - Exekutivkommitee - Regionalkonferenzen - Europa - Afrika - Amerika - Asien

Brüsseler Zollrat (CCC) Enforcement Committee

- Tagungen der Leiter der nationalen Rauschgift-Bekämpfungsdienststellen - Europa - Amerika - Golfregion

Wirtschaftsgipfel (G 7-Staaten) AG finanzielle Maßnahmen

Schengener Abkommen - Minister- und Staatsräte - Zentrale Verhandlungsgruppe - Arbeitsgruppe I „Polizei und Sicherheit" - Untergruppe „Betäubungsmittel" - Zusammenarbeitsgruppe Polizei - Zoll

- Regionalkonferenzen Polizei/Zoll - Europa - Mittelmeer

Europäische Rauschgiftbekämpfungs-Gremien Europäische Gemeinschaft CELAD (Europäischer Ausschuß zur Drogenbekämpfung) - EPZ-Arbeitsgruppe Drogen - Expertengruppe „Precoursors" im Rahmen des Ausschusses für Zollrecht - AG Bankaufsichtsfragen

- Expertengruppe „Nord-SüdZusammenarbeit im Drogenbereich"

- GAM (Gruppe gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen) - AG Flughäfen

- AG Justizielle Zusammenarbeit

- GAM 92

- ad-hoc-Gruppe Drogenabhängigkeit

Europarat

TREVI

Pompidou-Gruppe

(Kooperation der EU-Staaten zur Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität und der Rauschgiftkriminalität)

Ministerkonferenz - Arbeitsgruppe der ständigen Korrespondenten

- Ministertreffen

- Konferenz der Justizminister

- Ausschuß der hohen Beamten

- Unterausschuß PC-R-SC des Strafrechtlenkungsausschusses

- AG III (Organisierte Kriminalität, Rauschgiftkriminalität

225

Europa

und langfristig eine europäische Drogenfahndungsbehörde zu schaffen. Am 1. September 1992 nahm die Polizei-Koordination EUROPOL mit Sitz in Den Haag ihre Arbeit auf. Anfang 1993 begann zunächst die Verwirklichung einer Europäischen Rauschgiftzentrale, der Europol Drug Unit (EDU), über die später eine effiziente europäische Fahndungspolizei mit eigenen Kompetenzen entstehen soll. Bei dieser Behörde ist auch die Europäische Drogendatenbank (European Drugs Intelligence Unit) angesiedelt. Daneben wurde 1993 das „Schengen Informationssystem (SIS)" mit seinem Teilsystem zur Drogenfahndung eingerichtet. Seit Mitte der neunziger Jahre wird die Europäisierung der Fahndungs- und Überwachungscomputer mit großem finanziellen und personellen Aufwand vorangetrieben. 3.2.1 Anstrengungen der EU. Das Europäische Parlament setzte 1986 einen Ausschuß zur Untersuchung des Drogenproblems in der Gemeinschaft ein. Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom Oktober 1986 läßt zwei Schwerpunkte der Drogenbekämpfung erkennen: einerseits das Angebot an Drogen zu minimieren durch Maßnahmen der Erntesubstitution in den Anbauländern und andererseits die Zusammenarbeit von Polizei und Zollfahndung und den Informationsaustausch über illegale Gelder zu verstärken. Die Kommission setzte eine „Kokaingruppe" beim Kommissar für Außenbeziehungen ein, die seither mit den Staaten Lateinamerikas Verhandlungen führt. Auf der Ebene des Rates wurden die Arbeitsgruppen TREVI eingesetzt. Sie sind der Rahmen für die Zusammenarbeit der Justiz- und Innenminister der Mitgliedsstaaten. Die Arbeitsgruppe TREVI 3 beschäftigt sich mit Fragen des Organisierten Verbrechens und des Drogenhandels. Angesichts des Abbaus der Binnengrenzen Anfang der neunziger Jahre veröffentlichte die Kommission im Januar 1989 eine Vorlage zum Grenzabbau, in der sie dem Drogenproblem einen be226

Europa

sonderen Stellenwert einräumte. Außer einer Harmonisierung der Drogenpolitik benannte sie als weitere wichtige Aktionsfelder die Bekämpfung des Drogenhandels durch verstärkte Kontrolle der Außengrenzen, die Abstimmung von Strafbemessungsgrenzen und eine gemeinsame politische Haltung gegenüber Abhängigen bei Therapie und Strafe. Gleichzeitig vertrat sie die Auffassung, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften seien durch die UN-Konventionen bereits weitgehend angeglichen worden, so daß eine weitere Harmonisierung nicht erforderlich sei. Am 14. Dezember 1990 beschloß der Europäische Rat in Rom die Annahme eines vom Europäischen Ausschuß zur Drogenbekämpfung (CELAD) verfaßten ersten Programms für Drogenbekämpfungsmaßnahmen, den Europäischen Drogenbekämpfungsplan: er lehnt die Freigabe „weicher" Drogen als eine nicht angemessene Lösung ab und enthält folgende Kernpunkte: - Analyse der tatsächlichen DrogenNachfrage, um damit die quantitative Breite eines Problems zu definieren; - e.weite Bekämpfung des Handels; - koordinierte nationalstaatliche Maßnahmen zur Sicherung der Kohärenz zwischen den Mitgliedsstaaten. Unterschiedliche Praktiken der Mitgliedsstaaten bei der Strafbarkeit von Drogenkonsum und Drogenbesitz zum eigenen Gebrauch werden von dem Plan zunächst nicht berührt. Das gleiche gilt für die Verabreichung von Methadon oder anderen Ersatzmitteln. Insgesamt schreiten die Bemühungen zur Bearbeitung des Drogenproblems jedoch nur langsam voran. 3.2.2 Das Schengener Abkommen. Im Jahr 1985 vereinbarten Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten, ihre Grenzen für den Personenverkehr zu öffnen. Diesem Schengener Abkommen sind danach weitere Mitgliedsstaaten beigetreten. Das Schengener Abkommen sieht vor, im Drogenrecht Ausgleichsmaßnahmen zu schaffen, damit

Europa der Wegfall der sichtbaren Binnengrenzen sich nicht nachteilig auf die Bekämpfung des Drogenmißbrauchs auswirkt. Im Jahr 1990 wurde im Hinblick auf die vereinbarten Ausgleichsmaßnahmen ein Zusatzübereinkommen zum Schengen-Vertrag geschlossen, das auch Verschärfungen in der Drogenpolitik vorsieht. In der Folge wurden an allen Außengrenzen verstärkte Kontrollen durchgeführt. Gleichzeitig wurde beim Zollkriminalamt in Köln ein Zentrales Informationsbüro des Brüsseler Zollrats für rauschgiftbezogene Erkenntnisse eingerichtet. 3.2.3 Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD). Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) wurde als dezentrale Einrichtung der EU-Kommission mit Sitz in Lissabon im Herbst 1993 eingerichtet. Ihre Aufgaben sind: - Sammlung und Analyse der vorhandenen Daten; - Methodische Verbesserungen des Datenvergleichs; - Verbreitung der gesammelten Daten; - Zusammenarbeit mit europäischen und internationalen Einrichtungen und Organisationen sowie mit Drittländern. 3.3 Zusammenfassung. Drogenpolitik und Drogenarbeit sind in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich ausgestaltet. In den achtziger Jahren hat die Europäische Gemeinschaft die Drogenfrage in der Theorie als gemeinsames Problem erkannt, das kein Land alleine lösen kann. Seit Ende der achtziger Jahre wurden e.weite Strukturen zur Kooperation und Vereinheitlichung der Drogenpolitik geschaffen. Auf Basis des Maastrichter Vertrags wird vorrangig repressiven statt sozialen Maßnahmen Vorrang eingeräumt. Die Analyse zeigt, daß sich Mitte der neunziger Jahre die gegensätzlichen Positionen verfestigten. Die nationalstaatlichen Regierungen, die Europäische Kommission und die europäischen

Europa Hauptstädte tendieren zu einer restriktiveren Haltung und bauen repressive Maßnahmen aus. Dagegen werden auf lokaler Ebene, vor allem in jenen Metropolen, die zu Zentren der Drogenproblematik wurden, alternative Konzepte der harm-reduction gefordert und umgesetzt. E.weit findet in diesen Städten ein Paradigmenwechsel statt: Drogenkonsum wird als fester Bestandteil der Konsumgewohnheiten gesehen; Drogenpolitik müsse sich darauf einstellen und Maßnahmen der Schadensbegrenzung umsetzen. Die e.weite Vereinheitlichung des Umgangs mit Drogen ist erforderlich, um Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen eines einheitlichen Sozialraums zu verhindern und die Migration von Konsumenten zu stoppen, um dem bedrohlichen Potential der Drogenkartelle wirkungsvoll zu begegnen, um Ungerechtigkeiten durch unterschiedliche Angebote oder Bestrafungen in einzelnen Regionen zu verhindern und um die Chance zu einer wirkungsvolleren Drogenpolitik zu nutzen. Die polizeiliche Bekämpfung des Organisierten Verbrechens ist nur mit einer einheitlichen europäischen Strategie möglich; erforderlich ist aber auch die Abstimmung präventiver, therapeutischer und sonstiger Hilfsmaßnahmen für Drogenabhängige. Eine solche Anpassung scheint kompliziert. Zwar ist eine verstärkte Zusammenarbeit im Hilfeleistungsbereich prinzipiell unproblematisch, die Harmonisierung der Drogenpolitik, vor allem im strafrechtlichen Bereich, und der hierzu nötige Souveränitätsverzicht ist dagegen formal und inhaltlich um so schwieriger. Diese Schwierigkeiten könnten durch die Tendenz gemildert werden, daß die bislang eher liberalen Staaten Italien, Spanien und Niederlande ihre Liberalität unter dem Druck der öffentlichen Meinung etwas abschwächen und sich die im Umgang mit dem Drogenproblem eher repressiven Staaten in die ge227

Evaluation

Evaluation

genläufige Richtung entwickeln. Solche Nivellierungen könnten Ausgangspunkt einer Harmonisierung im europäischen Kontext sein. 4. Lit.: Observatoire Geopolitique Des Drogues (ÖGD) (Hrsg.), Der Welt-Drogen-Bericht. Ein Jahresbericht von Observatoire geopolitique des drogues (ÖGD), München 1993; Europäisches Parlament, Untersuchungsausschuß zum Drogenproblem in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung (Berichterstattung Sir Jack StewartClark), Luxemburg 1987; Europäisches Parlament, B e k ä m p f u n g der Drogen. Entschließung zum Kampf gegen Drogen 18. 1. 1989; Fahrenkrug, H „ Gesundheitspolitische Initiative zur Alkoholproblematik in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft. M ö g lichkeiten ihrer Integration zu einer europäischen Alkoholpolitik unter Gesichtspunkten öffentlicher Gesundheit, Sicherheit und Wohlfahrt. Vorgelegt der Kommission der E G in Brüssel als Forschungsarbeit über die Europäische Integration, 1987; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über einen Aktionsplan der Europäischen Union zur Drogenbekämpfung. Brüssel 1994. Dokument C o m (94) 234 endg.; Leuthardt, B., Festung Europa, Asyl, Drogen, „Organisierte Kriminalität": Die „Innere Sicherheit" der 80er und 90er Jahre und ihre Feindbilder. Ein Handbuch, Zürich 1994; Maas, B., Drogen in Europa. Hrsg. von der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, Brüssel 1988; Meyer, J. (Hrsg.). Betäubungsmittelstrafrecht in Westeuropa. Eine rechtsvergleichende Untersuchung im Auftrag des Bundeskriminalamtes, Freiburg i. Br. 1987; Rausch, C h „ Drogenarbeit und Drogenpolitik in Europa, Rheinfelden-Berlin 1995. Christian Rausch, Mainz 228

Evaluation 1. Der Begriff „Evaluation" in U m gangssprache und Wissenschaft. Das aus dem Lateinischen k o m m e n d e Wort „Evaluation" bedeutet „Bewertung". D e m umgangssprachlichen Verständnis entsprechend hat E. eine funktionale (Sachurteil: „Funktioniert der Ansatz im Sinne der Zielvorstellungen?") und eine ethische Komponente (Werturteil: „Ist der Ansatz mit grundlegenden Wertvorstellungen vereinbar?"). Diesem Begriffsverständnis entsprechend ist die reine Beschreibung von Vorgängen (Deskription) und die Entwicklung von Hypothesen, Modellen und Theorien (Exploration) keine E. Im wissenschaftlichen Kontext hat sich allerdings ein gänzlich anderes Verständnis von E. eingebürgert. D e m Postulat der Wertfreiheit entsprechend werden Werturteile gänzlich ausgeklammert, alle Schritte des wissenschaftlichen Handelns hingegen - von Deskription (Beschreibung) über Exploration (Hypothesenformulierung) bis zu Bestätigung (Hypothesenprüfung) - eingeschlossen. Wie man aus Formulierungen wie „formative Ε." oder „Prozeß-E." deutlich erkennen kann, wird E. im wissenschaftlichen Kontext als Überbegriff über eine sehr große und sehr heterogene Klasse von Tätigkeiten verstanden. E. im wissenschaftlichen Sinn schließt alle Varianten wissenschaftlichen Handelns ein und ist damit keinesfalls auf Wirksamkeitsprüfung beschränkt. Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen und dem umgangssprachlichen Begriffsverständnis sowie der Umstand, daß der wissenschaftliche E.-Begriff ein Überbegriff über eine sehr heterogene Klasse ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Tätigkeiten ist, tragen regelmäßig zur Verwirrung aller Beteiligten bei und behindern den rationalen Diskurs über das Thema „E." recht nachhaltig. Als Konsequenz aus dieser äußerst unbefriedigenden Situation kann man nur empfehlen, soweit wie möglich auf den vagen und mehrdeutigen Über-

Evaluation begriff „E." zu verzichten und immer genau zu bezeichnen, auf welche Unterkategorie man sich im konkreten Fall bezieht. 2. Ein europäischer Versuch einer Synthese. U m einen konstruktiven Beitrag zur Präzisierung von e.-relevanten Konzepten und Definitionen zu leisten, wurde 1994 im Rahmen der COST-A6 Aktion der Europäischen Kommission eine Arbeitsgruppe konstituiert. Diese umfaßte 21 internationale Experten aus 14 Ländern. A u f g a b e der Arbeitsgruppe war es, sich kritisch und konstruktiv mit Begriffen und Konzepten auseinanderzusetzen, die in Zusammenhang mit - • P r ä vention und E. bedeutsam sind. Indem bei der Präzisierung und Vereinheitlichung auf traditionelle Konzepte aufgebaut wurde, sollte die begriffliche Kontinuität mit der wissenschaftlichen Tradition weitestgehend gewahrt bleiben. Im Z u g e dieser nach der Delphi-Methode durchgeführten Konsensusstudie wurde ein vierdimensionales Klassifikationsmodell „Daten-Zeit-Methodologie-Evaluator-Klassifikation" (DZME-Klassifikation) entwickelt und eine Reihe von E.-Kategorien nach inhaltlichen Gesichtspunkten aufgelistet und präzisiert (Uhl, 1998). 3. Wichtige traditionelle Klassifikationssysteme, auf die die DZME-Klassifikation und „inhaltliche Klassifikation" der COST-A6-Arbeitsgruppe aufbauen. 3.1 PEI-Klassifikation (Prozeß-E. vs. Ergebnis-E. vs. Impact-Ε.; Clayton & Cattarello, 1991). Die sehr gebräuchliche PEI-Klassifikation unterscheidet anhand der Art der berücksichtigten Daten nach drei Kategorien: - Prozeß-E. (Process Ε.) steht für die systematische Erfassung des gesamten Prozesses (Prozeßdaten) während der Durchführung einer Intervention, was den gesamten Interaktionsprozeß zwischen Programmausführenden und Zielpersonen umfaßt.

Evaluation - Ergebnis-E. (Outcome Ε.) steht für die Untersuchung, ob erwartete Effekte (erwartete Ergebnisdaten) nach Abschluß einer Intervention eingetreten sind. - Impact Ε. (für diesen Begriff gibt es kein brauchbares deutsches Äquivalent) steht für die Erfassung von Interventionseffekten, die über die vorgesehenen Zielgruppen und erwarteten Effekte (nicht erwartete Ergebnisdaten) hinausgehen. 3.2 SPE-Klassifikation (strukturelle Qualität vs. Prozeßqualität vs. Ergebnisqualität; Donabedian, 1980). Auch die SPE-Klassifikation nimmt Bezug auf die Art der berücksichtigten Daten. Die der „strukturellen Qualität", „Prozeßqualität" und „Ergebnisqualität" zugrundeliegenden Datenquellen lassen sich wie folgt beschreiben: - Strukturelle Daten sind Daten, die strukturelle Rahmenbedingungen beschreiben, wie „Ort der Intervention", „Qualifikation der das Programm ausführenden Personen", „Charakteristika der Zielpersonen" usw. - Prozeßdaten sind Daten, die die Ausführung der Programme erfassen (das Verhalten der Programmausführenden = Programm-Input). - Ergebnisdaten sind Daten, die die wünschenswerten Auswirkungen auf die Zielgruppe sowie Kosten, die das Programm verursacht hat, zum Inhalt haben (Programm-Output). Das SPE-Konzept unterscheidet sich inhaltlich vom PEI-Konzept durch die Einführung des Begriffes „strukturelle Daten", weiter dadurch, daß nicht zwischen erwarteten und nicht erwarteten Ergebnissen unterschieden wird, sowie dadurch, daß der Begriff „Prozeßdaten" auf das Verhalten der Programmausführenden beschränkt wird. 3.3 FS-Klassifikation (formative Ε. vs. summative Ε.; Scriven, 1967). Die ebenfalls sehr gebräuchliche FSKlassifikation nimmt Bezug auf eine zeitliche Dimension, nämlich darauf, ob das Präventionsprogramm zum Zeit-

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punkt der E. noch entwickelt (geformt) wird oder schon abgeschlossen ist (und daher zusammenfassend beurteilt werden kann). Es ist sinnvoll, beide Phasen jeweils noch einmal zu unterteilen, wodurch sich 4 abgegrenzte Phasen ergeben (Vier-Phasen-Modell): - In der präformativen Phase (Konzeptphase) wird auf rein reflexiver Basis ein Präventionskonzept entwickelt und bewertet. Präformative E. kommt ohne praktische Erprobungsschritte, d. h. ohne prospektiv orientierte empirische Schritte, aus. Die präformative Phase schließt mit einem ersten vorläufigen Programmentwurf ab. - In der formativen Phase (Entwicklungsphase) wird dann - aufbauend auf den in der präformativen Phase entwickelten vorläufigen Programmentwurf - durch wiederholte praktische Erprobung ein konkretes Präventionsprogramm geformt. Formative Ε. zielt auf die rasche und flexible Erfassung von Schwachstellen mit dem Ziel, vorläufige Programmentwürfe kontinuierlich umzuformen und so lange zu verbessern, bis sich ein Programm ohne offensichtliche Schwachstellen ergibt. - In der ersten summativen Phase (Erprobungsphase) finden Forschungsstrategien Anwendung, die erst einsetzen, nachdem die Entwicklung eines neuen Präventionsprogramms abgeschlossen worden ist. Im Zuge der formativen E. in dieser Phase soll das fertige Programm nun zusammenfassend beurteilt werden. - In der zweiten summativen Phase (Routinephase) sollte der Erfolgsnachweis bereits erbracht sein. Bei summativer E. in dieser Phase geht es darum, zu gewährleisten, daß die Qualität der Programmdurchführung erhalten bleibt, und nach unerwarteten längerfristigen Effekten bzw. nach relevanten Veränderungen der Rahmenbedingungen Ausschau zu halten. 230

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3.4 DEH-Klassifikation (deskriptive E. vs. explorative Ε. vs. hypothesenprüfende Ε.; z.B. Popper, 1976 oder Tukey, 1977). Eine weitere - und bezüglich der Aussagekraft von evaluierender Forschung ganz besonders wichtige - Klassifikation unterteilt nach den Kategorien „Deskription", „explorative Forschung" und „hypothesenprüfende Forschung". Man könnte diese Dimension als „methodologische Dimension" bezeichnen. Deskription ist die unterste Stufe wissenschaftlichen Vorgehens. Deskriptive E. ist die bloße Erfassung und Dokumentation von Phänomenen sowie deren Kategorisierung und Zusammenfassung, ohne daraus neue Hypothesen ableiten zu wollen. Explorative Forschung geht über die reine Deskription hinaus und stellt damit die zweite Stufe wissenschaftlicher Vorgangsweise dar. Diese Form der Datenanalyse - zielt auf die Entdeckung neuer Phänomene, - liefert Impulse, um neue Hypothesen und Theorien zu entwickeln, - ist grundsätzlich divergent orientiert, - ist keinen strengen methodologischen Regeln unterworfen, - und alle Ergebnisse haben grundsätzlich nur vorläufigen Charakter. Hypothesenprüfende Forschung versucht mit den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der schließenden Statistik Zufallseffekte von substanziellen Effekten abzugrenzen. Diese Form der Datenanalyse stellt die höchste Stufe wissenschaftlicher Vorgangsweise dar. Diese - zielt auf die Prüfung von Hypothesen und Theorien, - ist grundsätzlich konvergent orientiert, - ist strengen methodologischen Regeln unterworfen, - und die Ergebnisse können in einem gewissen Sinn als wissenschaftlich gesichert gelten. Da man Entscheidungen für bestimmte

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Theorien und Modelle sowie für die Anwendung bestimmter Techniken auf hypothesenprüfende Ansätze aufbauen sollte, werden hypothesenprüfende Forschungsansätze häufig „Entscheidungsstudien" genannt. Hypothesenprüfende Ansätze, die die Wirksamkeit von Interventionen zum Ziel haben, werden auch als „Wirksamkeitsstudien" bezeichnet. 3.5 ΙΕ-Klassifikation (interne E. vs. externe E.). Die ΙΕ-Klassifikation unterscheidet nach der Position jener Person, die die Hauptverantwortung für eine E. trägt. Man könnte diesen Aspekt als „Evaluatordimension" bezeichnen: Als interne E. wird eine E. bezeichnet, bei der die für die E. hauptverantwortliche Person zum engeren Kreis der Programmentwickler und/oder Anwender gehört. Als externe E. wird eine E. bezeichnet, die primär in den Händen eines unabhängigen Evaluators liegt. 4. Synthese und Präzisierung klassischer Konzepte durch COST-A6 Arbeitsgruppe (Uhl, 1998). 4.1 DZME-Klassifikation. Als Synthese und Weiterführung der im letzten Abschnitt angeführten traditionellen Klassifikationssysteme ergab sich in der erwähnten COST-A6 Konsensstudie die DZME-Klassifikation („DatenZeit-Methodologie-Evaluator-Klassifikation"). Diese baut auf folgende vier Dimensionen auf: - Datendimension (D): Strukturdaten, Prozeßdaten, erwartete Ergebnisdaten, unerwartete Ergebnisdaten und Kontextdaten; - Zeitdimension (Z): Konzeptphase = präformative Phase, Entwicklungsphase = formative Phase, Überprüfungsphase = erste summative Phase und Routinephase = zweite summative Phase; - methodologische Dimension (M): deskriptiv, explorativ und hypothesenprüfend; - Evaluatordimension (E): interne E. und externe E.

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Der DZME-Ansatz zur Klassifikation von E.-Projekten kann, sofem die Begriffe korrekt verwendet werden, einen wesentlichen Beitrag zur Präzisierung des Dialogs leisten. Er reicht alleine aber nicht aus, um die Komplexität der Aufgabenstellung vollständig abzubilden. Es erschien der COST-A6 Arbeitsgruppe daher zweckmäßig, diesen eher abstrakten Ansatz durch ein stärker inhaltlich orientiertes System zu ergänzen. Letzteres nimmt teilweise auch auf Begriffe Bezug, die in ersterem System eine Rolle spielen. 4.2 Inhaltliche Klassifikation von E. 4.2.1 Ethische E. In der wissenschaftlichen E. wird, dem Postulat der Wertfreiheit entsprechend, der wertorientierte, ethische Aspekt häufig ignoriert, unterbetont bzw. über logisch/sachliche Argumentationen verschleiert. Da die ethische Beurteilung von Präventionsansätzen aber auch dann, wenn sie nicht explizit erwähnt wird, implizit in die Forschungsstrategien einfließt, ist es zweckmäßig zu fordern, daß „ethische E." ausdrücklich zum Thema gemacht wird. Werturteile sollten nicht bloß indirekt - und damit unreflektiert - in Forschungsdesigns und Schlußfolgerungen einfließen. Besonders wichtig ist die ethische E. natürlich in der Konzeptphase, aber selbstverständlich sollten ethische Überlegungen auch in allen späteren Phasen eine Rolle spielen. 4.2.2 Historische E. Als historische E. kann man Expertisen auf der Basis von eigener Erfahrung und/oder der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur bezeichnen. Das in Zusammenhang mit E. eher ungewöhnliche Attribut „historisch" (historische Daten, historische Referenzwerte, historische Kontrollgruppe, usw.) ist in der Methodik für klinische Studien (Clinical Trials Methodology) etabliert, und es erscheint zweckmäßig, dieses sprachliche Konzept auch in der E.-Forschung zu etablieren. 231

Evaluation 4.2.3 Methodologische E. In engem Zusammenhang mit der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden historischen E. steht die Frage, ob und wie weit die Schlußfolgerungen, die die jeweiligen Autoren der Forschungsgebiete aus ihren empirischen Studien gezogen haben, aus statistischmethodologischer Sicht korrekt sind (interne Validität) und ob die Ergebnisse sinnvollerweise auf die für das Präventionsprogramm vorgesehene Anwendungssituation übertragbar sind (externe Validität). 4.2.4 Formative Ε. Der Begriff „formative Ε." bezieht sich einerseits auf eine bestimmte Phase der Programmentwicklung - „das Formen des Programms in der Entwicklungsphase" - und andererseits auf eine, dieser Phase angemessene ganz bestimmte explorative Vorgangsweise. Während ersterer Aspekt in der Zeitdimension des DZME-Ansatzes berücksichtigt ist, wird letzterer Aspekt hier nach inhaltlichen Gesichtspunkten gesondert angeführt und erörtert. In der Programmentwicklungsphase steht der Programmentwickler vor der Aufgabe, Strukturelemente eines vorläufigen Programmentwurfes rasch und flexibel zu überprüfen und Schwachstellen zu beseitigen. Die Technik, u m das Mögliche ökonomisch zu erreichen, besteht in der wiederholten Abfolge von Überprüfung und Anpassung, wobei das im Idealfall so lange weitergeht, bis sich das Konzept als praktisch durchführbar und im Sinne der Zielvorgaben erfolgversprechend erweist. Da sich viele Schwachstellen vorläufiger Programmentwürfe in der Anwendung recht unmittelbar manifestieren, sind hypothesenprüfende Forschungsstrategien (komplexe Forschungsdesigns, große Stichproben und/oder strenge methodische Regeln) in diesem Zusammenhang kaum zweckmäßig. Primär sollte eine Serie von kleinen Erprobungen und Pilotstudien zum Einsatz kommen. Die Blickrichtung sollte möglichst offen in 232

Evaluation alle Richtungen gehen, um auch unerwartete Problemfelder zu erfassen (divergent, explorativ). Auch sollte die Datenerfassung überwiegend prozeßorientiert erfolgen, da man nur durch die unmittelbare Beobachtung des Geschehens Zugang zu Phänomenen erhält, die sich einer ergebnisorientierten Betrachtung verschließen. In manchen Fällen ist auch in der Programmentwicklungsphase eine ergebnisorientierte Vorgangsweise angemessen, wobei allerdings in dieser Phase die Einhaltung strenger methodologischer Prinzipien verzichtbar ist. 4.2.5 E. der Durchführbarkeit (Feasibility Ε.) Die Frage, ob ein bestimmtes Programm praktisch durchführbar ist, spielt vor allem in der Entwicklungsphase und in der Überprüfungsphase eine wichtige Rolle. Während man in der Entwicklungsphase allerdings divergent sowie explorativ vorgeht und vorläufige Programmentwürfe anhand von kleinen Erprobungen und Pilotstudien kontinuierlich anpaßt (formative Ε.), ist in der Überprüfungsphase eine hypothesengeleitete systematische Überprüfung des fertigen Programms an größeren Stichproben unter Alltagsbedingungen zu planen („Durchführbarkeitsstudie" bzw. „Feasibility Study"). 4.2.6 Monitoring unerwünschter Nebeneffekte. Da die Anzahl der möglichen Problemfelder fast unbegrenzt ist und sich in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen neue Probleme ergeben können, spielt auch die Erfassung von unerwünschten Nebeneffekten in allen Phasen eine wesentliche Rolle. Meist wird die Forschungsstrategie divergent und explorativ sein. 4.2.7 E. der Wirksamkeit (Wirksamkeitsnachweis). Die zentrale Frage, nachdem ein Prog r a m m entwickelt worden ist, ist zweifelsohne: „Funktioniert es im Sinne der Zielvorstellungen?" Die E. der Wirksamkeit kann grundsätz-

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lieh auf drei Arten erfolgen: global, partiell und historisch. - Globaler empirischer Wirksamkeitsnachweis. Als „globalen empirischen Wirksamkeitsnachweis" kann man den experimentellen oder quasiexperimentellen Nachweis bezeichnen, daß ein Programm tatsächlich in der Lage ist, die gewünschten Effekte („primäre Zielvariablen") in der Zielgruppe zu bewirken. Dieser Ansatz kommt forschungslogisch am nächsten an einen Beweis der Wirksamkeit heran und könnte als „empirischer Wirksamkeitsnachweis im engeren Sinne" bezeichnet werden. Ein globaler empirischer Wirksamkeitsnachweis sollte, wenn immer das möglich ist, geführt werden. Es ist aber trotzdem keinesfalls zweckmäßig, diesen induktiven (statistischen) Ansatz als unbedingten Standard festzuschreiben, da dieser Zugang in der Praxis oft an ökonomischen und praktischen Erkenntnisgrenzen scheitert. - Partieller empirischer Wirksamkeitsnachweis. Als „partiellen empirischen Wirksamkeitsnachweis" kann man den experimentellen oder quasiexperimentellen Nachweis bezeichnen, daß wesentliche Teile des dem Programm zugrundeliegenden Wirkungsmodells zutreffen. - Historischer Wirksamkeitsnachweis. Als „historischen Wirksamkeitsnachweis" kann man die Ableitung der Programmwirksamkeit aus vorhandenen (historischen) Daten bezeichnen, d. h. wenn die Wirksamkeit bereits deduktiv aus einer empirisch gut fundierten Theorie abgeleitet werden kann. Grundlage für einen historischen Wirksamkeitsnachweis ist eine umfassende historische und methodologische E., die auf empirisch gut belegte Zusammenhänge zurückgreifen kann. 4.2.8 Qualitätssicherung (QS). Es steht außer Frage, daß jede Form der E. irgendeinen Aspekt der Qualität eines Programmes oder einer Intervention

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zum Inhalt hat, und es ist daher semantisch möglich, -»-Qualitätssicherung (QS) als Synonym für „E." zu verstehen. Dieser inflationäre Gebrauch des Begriffes QS ist weit verbreitet aber nicht zweckmäßig. Nützlich wird der Begriff „QS" allerdings, wenn man ihn auf die Qualität der Programmdurchführung bezieht. Zentrale Fragestellung der QS ist dann, ob ein Programm korrekt, d. h. den Instruktionen entsprechend angewendet wird, und nicht, ob es wirkt. QS, im Sinne dieses Begriffsverständnisses, findet ausschließlich in der Routinephase statt. Programmwirksamkeit sollte man in dieser Phase bereits voraussetzen können. Wird QS intern organisiert, so ist es zweckmäßig, von Qualitätsmanagement (QM) zu sprechen, und wird QS von externen Evaluatoren durchgeführt, so ist der Begriff Qualitätskontrolle (QK) angemessener. 4.2.9 Strukturelle E. Auch strukturelle E. findet grundsätzlich in der Routinephase statt. Dieser Ansatz ist primär deskriptiv und zielt auf strukturelle Aspekte der Programmanwendung. Das ist z.B.: In wie vielen Schulen, in wie vielen Klassen und von wie vielen Lehrern wird ein bestimmtes Präventionsprogramm verwendet? 4.2.10 Kontext-E. Präventionsprogramme werden unter bestimmten Rahmenbedingungen (Kontext) für gewisse Situationen entwickelt. Auch wenn zunächst eindeutig nachgewiesen werden konnte, daß Programme unter bestimmten Rahmenbedingungen erfolgreich sind, so darf man das natürlich nicht einfach auf gänzlich andere Situationen oder geänderte Rahmenbedingungen übertragen. In diesem Sinne ist es nötig, in der Routinephase laufend zu erheben, ob sich der Kontext seit der Programmimplementierung entscheidend geändert hat und ob sich daraus Veränderungen der erwarteten Effekte ableiten lassen. 4.2.11 Impact E. Diese auf ursprünglich nicht erwartete Effekte abzielende E.-Form ist ebenfalls 233

EVARS primär in der Routinephase anzusiedeln und ist grundsätzlich explorativ angelegt. Monitoring unerwünschter Nebeneffekte - ein Aspekt der bereits angesprochen wurde - findet in der Routinephase als Teil der Impact Ε. statt. 4.2.12 Ε. der Wirtschaftlichkeit. Die E. der Wirtschaftlichkeit beinhaltet nach Yates (1994) -•Kosten-Nutzenanalysen (Cost-Benefit Analyses - CBA) und Kosten-Effektivitätsanalysen (CostEffectiveness Analyses - CEA). Ziel der CBA ist es, Programmkosten zu rechtfertigen, und Ziel der CEA ist es, Grundlagen für die Entscheidung zwischen konkurrierenden Programmen zu liefern. CBA vergleicht die Kosten eines Programms mit den positiven Auswirkungen (Nutzen). Dabei ist es nötig, sowohl Kosten als auch Nutzen über eine gemeinsame Einheit - üblicherweise Geld - zu quantifizieren. Die zentrale Frage ist: „Zahlt sich das Programm aus?" CEA dient dazu, gleichwertige Programme zu vergleichen. Die zentrale Frage ist: „Welches Programm ist überlegen?" Mit CEA ist es möglich, Programme zu vergleichen, bei denen Kosten und Nutzen nicht auf eine gemeinsame Dimension reduzierbar sind. Der Kunstgriff ist, daß man alle Dimensionen außer einer konstant hält. So kann man ζ. B. auf die Einbeziehung der monetären Kosten verzichten, wenn man zwei gleich teure Programme hinsichtlich nicht-monetärer Effekte vergleicht oder umgekehrt sich auf die monetären Kosten konzentriert, so die Annahme gerechtfertigt ist, daß beide Programme identische nicht-monetäre Effekte erzielen. -»Benchmarking; -'•Forschung;

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EVARS -•Kosten-Nutzen-Analyse; sicherung

•Qualitäts-

Lit.: Clayton, R. R„ Cattarello, Α., Prevention Intervention Research: Challenges and Opportunities, in: Leukefeld, C. G., Bukovsky, W. J. (ed.), Drug Abuse Prevention Intervention Research: Methodological Issues. NIDA Research Monograph 107, Rockville, 1991; Donabedian, Α., Explorations in Quality Assessment and Monitoring, Vol. 1. The Definition of Quality and Approaches to its Assessment. Health Administration Press. Ann Arbor, 1980; Popper, K. R.: Logik der Forschung, sechste verbesserte Auflage. J. C. B. Mohr, Tübingen, 1976; Scriven, M., The Methodology of Evaluation, in: Tyler, R. W., Gagne, R. M., Scriven, M. (ed.): Perspectives of Curriculum Evaluation. Chicago, RandMc.Nally, 1967; Tukey, J. W., Exploratory Data Analysis. Addison-Wesley, Reading, 1977; Uhl, Α., Evaluation of Primary Prevention in the Field of Illicit Drugs - Definitions - Concepts - Problems. Results of an International Consensus Study within the COST-A6 Action of the European Union, in: Springer. A. & Uhl, A. (Ed.), Evaluation Research in Regard to Primary Prevention of Drug Abuse. COST-A6 publication. Commission of the European Communities, Brussels, 1998; Yates, Β. T., Toward the Incorporation of Costs, Cost-Effectiveness Analysis and CostBenefit Analysis Into Clinical Research. J-Consult-Clin-Psychol., 62, 4, 729736, 1994. Alfred Uhl, Wien EVARS -•Empfehlungsvereinbarung

Fachverband Sucht e.V.

Fachklinik

F Fachklinik Einrichtung zur stationären Entwöhnungsbehandlung von Abhängigen im Rahmen des klassischen Suchtkrankenversorgungssystems. In der Bundesrepublik gibt es über 250 Fachkliniken mit 13000 Behandlungsplätzen (davon über 160 für Alkohol- und Medikamentenabhängige mit rund 10500 Plätzen und 80 für Abhängige von illegalen Drogen mit rund 2500 Plätzen). -»Entwöhnung Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. (FDR) Der Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V., gegründet 1979, ist ein Zusammenschluß von gemeinnützigen Trägern von ambulanten und stationären Hilfen für Suchtgefährdete und -abhängige. Dazu gehören Präventionsstellen, Akuthilfeeinrichtungen, Beratungsstellen, Entzugskliniken, Therapieeinrichtungen, Frauen-Sucht-Einrichtungen, Nachsorgestellen, Elternkreise, Schulen und Werkstätten. Der FDR fördert die fachliche Arbeit für suchtgefährdete und abhängige Menschen u. a. durch Maßnahmen wie Beratung und Unterstützung der Arbeit in ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen, Angebote der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften, Vertretung der Sozialund gesundheitspolitischen Interessen seiner Mitglieder, Mitwirkung an einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit psychosozialen Hilfen und durch wissenschaftliche Begleitung der praktischen Arbeit. Der FDR bietet Fortbildungsseminare zu aktuellen Themen in der Suchtkrankenhilfe, eine jährliche Fachkonferenz sowie berufsbegleitende Weiterbildung an. Anschrift: Odeonstr. 14, 30159 Hannover, Tel.: 0511/18333, Fax: 0511/ 18326, e-mail:[email protected] http://www.neuland.com/fdr/

Fachverband Glücksspielsucht Der Fachverband Glücksspielsucht wurde 1990 gegründet. Mitglieder dieses Arbeitskreises sind Suchttherapeuten, Ärzte und Wissenschaftler aus dem gesamten Bundesgebiet, die zu einem großen Teil auch vor Ort in regionalen Arbeitskreisen tätig sind. Der Fachverband versteht sich als Interessenvertretung der Betroffenen auf professioneller Ebene und als Kontakt- und Gesprächsforum für Praktiker, Wissenschaftler, Politiker und interessierte Institutionen. Der Fachverband hat sich folgende Aufgaben und Ziele gestellt: Kontaktforum für Praktiker und Wissenschaftler, Fortund Weiterbildungsangebote für Berufsgruppen, die mit diesem Problem konfrontiert sind, Anregung von Forschungsvorhaben, Veranstaltung und Unterstützung von Fachtagungen, Information der Öffentlichkeit, Archiv und Informationsstelle, Informations- und Beratungsangebot für betroffene Spieler, Interessenvertretung der Klientel und Informationsaustausch mit Selbsthilfegruppen. Anschrift: Auf der Freiheit 25, 32052 Herford, Tel.: 05221/599850, Fax: 05221/599875, email:[email protected] - http://www.glueckspielsucht.de Fachverband Sucht e.V. Der Fachverband Sucht e.V. (FVS) ist ein bundesweit tätiger Dachverband in der medizinischen Rehabilitation für den Indikationsbereich „Abhängigkeitserkrankungen". Er wurde 1976 gegründet, seine Mitgliedseinrichtungen repräsentieren einen maßgeblichen Teil der medizinischen Rehabilitationsangebote für suchtkranke Menschen in Deutschland. Der FVS ist bundesweit tätig und vertritt über 5500 Behandlungsplätze in ca. 70 stationären Rehabilitationseinrichtungen (Fachkliniken für Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige, Adaptionseinrichtungen, Soziotherapeutische Heime und Tageskliniken) so235

Familie wie eine Reihe ambulanter Beratungsund Behandlungsstellen. Zu den satzungsgemäßen Aufgaben gehören u. a. die Förderung geeigneter Maßnahmen, die ein suchtmittelfreies Leben ermöglichen und sich gegen die Entstehung, die Aufrechterhaltung und die Folgen von Sucht richten; die Unterstützung der Weiterentwicklung von Behandlungs- und Versorgungsangeboten, welche die verschiedenen Aspekte der Sucht berücksichtigen und den Betroffenen eine individuelle und angemessene Betreuung gewährleisten; die Förderung präventiver Maßnahmen, die geeignet sind, Suchtentwicklung zu verhindern; Qualitätssicherung bestehender und zukünftiger Behandlungsangebote sowie von präventiven M a ß n a h m e n ; die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse hinsichtlich der Wirksamkeit bestehender Behandlungs- und Versorgungsangebote und verschiedener Behandlungsmethoden sowie die Kooperation von Politik, Leistungs- und Kostenträgerschaft, Wissenschaft, therapeutischer Praxis und Selbsthilfesystemen. Es werden vom F V S Fortbildungsveranstaltungen angeboten und jährlich ein Kongreß zu aktuellen Suchtfragen durchgeführt. Die Medienangebote des F V S umfassen: Schriftenreihe des FVS, Zeitschrift „Suchtaktuell", „Intern" (für Mitglieder) sowie die Broschüre „Hilfe f ü r Suchtkranke" mit einem Überblick über die Angebote der Mitgliedseinrichtungen. Anschrift: Adenauerallee 58, 53113 Bonn, Tel.: 0 2 2 8 / 2 6 1 5 5 5 , Fax: 0 2 2 8 / 2 1 5 8 8 5 , email:[email protected] http:// www.sucht.de Familie 1. Begriff. Familie stellt sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedlich dar. Die heutige Form der Kernfamilie geht zurück auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die vor allem in der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begründet sind und insbesondere durch die

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Familie in dieser Zeit entwickelten Formen der Arbeitsteilung geprägt sind. Die bis dahin, vor allem im bäuerlichen Bereich, bestehende Form der Großfamilie als soziales und emotionales Sicherungssystem ging über in die Kleinfamilie, die besser in die städtischen Bedingungen paßte. Transkulturell ist der konstante Kern aller Familienformen die MutterKind-Dynastie. Zu konstatieren ist indes, daß sich im Rahmen allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen ( - • S o ziologische Konzepte) die Struktur der Kernfamilie in den letzten Jahren sehr gewandelt hat und von verschiedener Seite gar die „Auflösung der Familie" beklagt wird. Systemtheoretisch gesehen geht es im wesentlichen darum, daß sich ein soziales G e f ü g e an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen kreativ anpaßt und damit in einer variierten Form Überlebensfähigkeit beweist. Die Familie ist nach wie vor die zentrale Instanz der •Sozialisation und Enkulturation . In ihr sind die Muster begründet, die schließlich in „ g e s u n d e m " oder „pathologischem" Verhalten der Kinder münden (-•Familientherapie und Systemische Therapie, -•Kindheit). 2. Entwicklungsphasen der Familie. Jedes soziale System evoliert und somit auch die Familie. Die Entwicklungsphasen sind in erster Linie geprägt durch Veränderungen in der Beziehungsdynamik zwischen den einzelnen Personen. Neben der Bewältigung krisenhafter Lebensereignissen (-»Krise) wie Trennung, Scheidung oder Tod eines Familienmitglieds, sind die folgenden familialen Standard-Phasen zu unterscheiden: - Dyadische Beziehung der Partner mit der A u f g a b e der Ablösung vom Elternhaus; - Kindererziehung, die Paarbeziehung tritt in den Hintergrund; -

Schulbeginn;

- Kinder gehen aus dem Haus, die Paarbeziehung muß sich neu formieren;

Familie

- Die Altersbeziehung und/oder die Großelternrolle; - Tod eines Partners im Alter. „Gesunde" Familien bewältigen diese Phasen recht gut und entwickeln sich daran Schritt für Schritt zu einer höheren Ordnung. Sie sind in der Lage, die Kohärenz ihres Systems zu lockern und eine neue Kohärenz in Bezug auf Änderungen der Familie und der Umgebung zu reorganisieren. Im Sinne von Bateson (1972) verfügen sie somit über ein „nicht gebundenes Potential zur Änderung". „Gestörte" Familien reagieren auf solche Herausforderungen unangemessen durch Rigidität. Im Sinne von Watzlawick versuchen sie aufkommende Probleme mit „mehr desselben" Problemverhaltens zu lösen, verstärken somit das Problem, verstricken sich immer mehr, um dann noch rigider nach alten Lösungsmustern zu suchen. 3. Das Prinzip der Homöostase. Um Veränderungsprozesse in der Familie treffend zu beschreiben, läßt sich auf ein Organisationsprinzip aus der Kybernetik zurückgreifen, das die Tendenz geschlossener Systeme zum Gleichgewicht treffend beschreibt. Prigogine (1978, in Dell 1990, S. 15) beschreibt das Wesen lebender Systeme als gekennzeichnet von dauernden Instabilitäten. Dies gilt auch für soziale Systeme wie Gruppen und Familien. Nach seinen Erkenntnissen evolieren Systeme via diskontinuierlicher, selbst-transzendenter Sprünge. Diese Systeme beziehen ihre Energie zur Veränderung von außerhalb ihrer Struktur, aber sie entwickeln die ausreichenden und notwendigen Bedingungen für diskontinuierliche Quantensprünge zu ihrer neuen Organisation aus Fluktuationen innerhalb des Systems (Dell 1990, S. 15). Jackson (1957, in Simon/Stierlin, 1995, S. 147) bezog den ursprünglich aus der Physiologie stammenden Begriff der Homöostase erstmals auf Familiensysteme. Sie beschreibt einen Gleichgewichtszustand, bei dem durch Rückkoppelungsprozesse

Familie

bestimmte Größen in einem System konstant gehalten werden. Die beschriebenen Entwicklungsphasen der Familie bringen das innere Gleichgewicht eines Familiensystems immer wieder in Unordnung. Man kann sogar davon ausgehen, daß alle Teile des Systems in periodischen Abständen aus dem Gleichgewicht geraten, und zwar zwangsläufig, da sich durch das Älterwerden der Kinder die Machtpositionen zwischen den Generationen verändern. Um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, müssen also innerhalb der Familie immer wieder Regulationen und Ausgleichshandlungen vorgenommen werden, die die Stabilität wieder herstellen. Jedes einzelne Familienmitglied richtet seine Verhaltensbeiträge auf die Gleichgewichtserhaltung aus. In sog. pathologischen Systemen ist dieser Ausgleich nicht sofort erkennbar, geht man in die Tiefe, merkt man jedoch, daß symptomatisches Verhalten eines Familienmitglieds in der Regel einen Verhaltensbeitrag darstellt, der auf die Aufrechterhaltung eines - dem Betrachter zunächst verborgenen - Gleichgewichtes hinzielt. Familiensysteme regeln sich durch selbststeuernde Prozesse. Die entscheidende Funktion der Steuerung und Regelung ist dabei der Existenzerhalt des Systems. 4. Morphostase und Morphogenese. Das Überleben jeglicher lebender Systeme hängt vom Funktionieren zweier Vorgänge ab, die sich gegenseitig bedingen und aufeinander bezogen sind: Morphostase und Morphogenese. Morphostase beschreibt die Fähigkeit eines Systems angesichts des Wandels in der Umwelt seine Konstanz zu behalten. In dieser Konstanz liegt die Sicherheit, die erst kontinuierliche Entwicklung ermöglicht. So brauchen Kinder ein ausreichendes Maß an Konstanz, um Urvertrauen zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten kreativ nutzen zu können. Familien, die allein auf Morphostase ausgerichtet sind, entwickeln sehr starre 237

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Regeln und Rollen und zerbrechen angesichts der intern notwendigen Veränderungsprozesse als auch der externen Anforderungen, die an die Familie herangetragen werden. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, braucht ein System einen anderen Aspekt, die Morphogenese. Um langfristig funktionieren zu können, braucht ein System die Fähigkeit, sich an neue Anforderungen anpassen zu können und innerhalb des Systems Regelprozesse zu entwickeln, die für einen energetischen Ausgleich sorgen und somit durch laufende Anpassung die Homöostase aufrechterhalten. Die Familie bewegt sich im Sinne eines Fließgleichgewichts. Um bestehen zu können, muß sie sich laufend verändern und dennoch Konstanz und Kohäsion bewahren. Gravierende Abweichungen in die eine (Morphostase) wie in die andere (Morphogenese) Richtung führen, wenn sie nicht ausgeglichen werden können, zwangsläufig zur Krise und zum möglichen Auseinanderfall des Systems. Betrachtet man die Veränderungsanlässe eines Systems, lassen sich drei Arten bemerken: von außen, von innen und Transformation (das plötzliche Auftreten starker funktional organisierter Muster, die es vorher nicht gab). Interessant sind in diesem Zusammenhang Veränderungen in Analogie zur Wirkweise eines Kaleidoskops (L. Hoffmann, S. 166) zu sehen, dessen interessanteste Eigenschaft darin liegt, daß man niemals zu einem früheren Muster zurückkehren kann. Ashby (ebd., S. 166) nennt diesen Mechanismus bezogen auf lebende Systeme „bimodales Feedback". 5. Veränderungen 1. und 2. Ordnung. Ein System kann sich auf zweierlei Arten verändern: Zum einen kontinuierlich, in dem sich einzelne Parameter des Systems in der Qualität, nicht aber dessen Strukturen wandeln (Veränderung 1. Ordnung) oder indem Strukturen bzw. Muster qualitativ verändert werden (Veränderung 2. Ordnung). Nach der 238

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Auffassung von Watzlawick (1974) entstehen Probleme bei Einzelnen oder in einem System, in dem bei gravierenden Krisen auf Lösungen 1. Ordnung zurückgegriffen wird. Das System verstärkt seine Anstrengungen und produziert zur Lösung des Problems mehr desselben Verhaltens, verfestigt aber damit die Art des Problemverhaltens und konstruiert es auf diese Weise wieder neu. Veränderungen, die qualitativ neues Verhalten ausmachen, verlangen dagegen eine Veränderung der Muster oder der Einstellungen und Bewertungen. -•Krisen bei Individuen oder den Systemen können nur strukturell auf der sog. Musterebene - also durch qualitative Veränderungen - bewältigt werden. Da jede Familie mehrfach in strukturelle Krisen gerät, braucht sie prinzipiell die Fähigkeit, Lösungen 2. Ordnung zu erzeugen. Diese Lösungen sind jedoch aus dem System heraus nicht zu realisieren. Das System braucht eine Außenperspektive, die „Neuinformationen" einführt und damit neue Bewertungs- und Handlungsmuster anregt. Im Falle symptomatischen Verhaltens eines oder mehrerer Familienmitglieder braucht es in der Regel familientherapeutische Hilfe (-•Familientherapie und Systemische Therapie), um neue Muster anzuregen, zu entwickeln und zu stabilisieren. 6. Schismogenese. Die Homöostase des Familiensystems befindet sich - wie gesehen - im Spannungsfeld zwischen Veränderung und Bewahrung des Status quo. Dabei sind die Interaktionen innerhalb des Systems und mit den es umgebenden anderen Systemen ausgelegt auf die Aufrechterhaltung des Bestandes. Um diese Aufrechterhaltung zu gewährleisten, entwickeln sich im System sogenannte Ausgleichshandlungen, die entweder komplementär (sich ergänzendes Verhalten) oder symmetrisch (gleiches Verhalten) wirken. In Suchtfamilien finden wir in der Regel stark komplementäre Beziehungsmuster vor, die vielfach auch als Form der

Familie -•Co-Abhängigkeit bezeichnet werden. Das heißt: der „Kranke" braucht den „Gesunden" und umgekehrt. Dieses Kollusionsmuster geht als Wechselspiel häufig über Jahre hinweg gut. Wobei es offensichtlich zu sein scheint, wer für „das Problem" in der Familie verantwortlich ist. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch immer deutlicher, daß beide Muster einander bedingen. Eine Spaltung des Systems (Schismogenese) erfolgt erst dann, wenn ein „Schwellenmuster" überschritten wird, also ein Mitglied im System f ü r sich an einer Grenze angekommen ist, es daraufhin sein Verhaltensmuster qualitativ verändert, dementsprechend anders kommuniziert und infolgedessen das gesamte System labilisiert wird. Dieser neue Verhaltensbeitrag wirkt im systemischen Sinne als eine Perturbation (Beunruhigung), die auf alle Teile des Systems enorm irritierend wirkt und innerhalb des Systems Konfusion erzeugt. Das System befindet sich hier in einer labilen Phase und geht in einen inneren Suchprozeß, indem zunächst einmal versucht wird, das „alte Verhalten" zu intensivieren (im Sinne von Verhaltensrückfällen). Führt dies aber nicht zu der gewünschten und bekannten Wirkung, entsteht zunächst einmal eine Dissonanz, die durch neue, für das System bislang unbekannte Verhaltensweisen aufgelöst werden kann. Die Schismogenese ist somit Ausdruck einer Beziehungssackgasse und Anlaß zu einer Neuformierung des Systems. Entweder k o m m t es zum Bruch und damit zum Auseinanderfallen der Familie oder aber es werden qualitativ neue Muster eingeführt, die der Familie zu neuen Erfahrungen und einer neuen (höheren) Stabilität verhelfen. Jede der beschriebenen familialen Entwicklungsphasen birgt die Gefahr des „Zerbrechens" in sich und ist gleichzeitig eine Entwicklungschance. Dieser Prozeß wird in der Regel als sehr schmerzhaft erlebt, da er eine existentielle Krise für alle darstellt. Ohne diese Krise, in der alles in Frage gestellt werden kann, gibt es indes aber

Familie keine Weiterentwicklung und somit keine neue Stabilität. Ein System kann sich - so zeigen es Suchtfamilien - über Jahre hinweg auf einem komplementären Muster bewegen, das Veränderung verhindert, und zwar von allen Seiten. An irgendeiner Stelle entsteht j e d o c h der Bruch, sei es in der Konsequenz darin, daß der Abhängige frühzeitig verstirbt, und damit die zwangsläufige Neuformation vonstatten geht. Zur Stabilisierung des eigenen individuellen Musters werden nach dem Bruch von Beziehungen häufig wieder Partner gesucht, die das gleiche komplementäre Muster aufweisen, wie es in der alten Beziehung vorlag. Dies bringt zunächst Stabilität, verhindert aber die Veränderung des Musters und damit die persönliche Weiterentwicklung. So kommt es zu den meisten Trennungen nach der SuchtTherapie und nicht davor oder gar in der Therapie. Solange der Betroffene Suchtverhalten zeigt, stabilisiert das die Beziehungen. Tritt er dagegen für die eigenen Wünsche ein, die bislang im Suchtverhalten verborgen waren, erlebt dies sein Umfeld als Abgrenzung, die nicht zu den bisherigen Regeln des Familiensystems gehörte. Das Verhalten des Abhängigen, das zur Schismogenese führen könnte, wird in der Familie lange Zeit dadurch entschärft, daß er als krank angesehen wird und somit für sein Verhalten nicht im eigentlichen Sinne verantwortlich gemacht werden kann. Übernimmt er dagegen die Verantwortung, gerät das System in eine Schieflage. Kein einzelnes Familienmitglied hat die Hauptverantwortung für die Vorgänge im System, wohl aber für seine Beiträge, die es in das System einbringt. In der Interaktion zwischen den Familienmitgliedern lassen sich deutliche Regeln erkennen, nach denen kommuniziert wird. Ein großer Teil dieser Regeln stammt aus den Herkunftsfamilien der Eltern, denen sie - schlimmstenfalls - in extremer Loyalität verbunden sind bzw. die sie bestenfalls - als Ausgangspunkt für die 239

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Entwicklung gemeinsamer Partnerschafts- und Familienregeln nutzen. Diese Regelentwicklung geschieht in der alltäglichen Kommunikation als eine Form des Abgleichs der Standpunkte und Ansichten und führt nach und nach zu einer Angleichung der „inneren Landkarten" der Partner (Konversation). Funktionierende Systeme sind in der Lage, ihre Regeln immer wieder neu anzupassen, indem sie auf eine Metaebene gehen und reflektieren, inwieweit die bestehenden Regeln noch angemessen sind und in bezug auf die neuen Aufgaben hilfreich sein können. Die Entwicklungsaufgabe des Familiensystems verlangt somit eindeutige Regeln und Grenzen, aber auch die Fähigkeit, diese den Veränderungen anzupassen. In Suchtfamilien findet man ein sehr rigides Regelsystem vor. Hier ist deutlich die Schuldfrage (der Abhängige) und die Verantwortungsfrage (der Mitbetroffene) bestimmt. Neue Erfahrungen werden solange vermieden, bis das Auseinanderbrechen des Systems droht. Das zentrale Phänomen in Suchtfamilien ist die Entwicklung und wechselseitige Aufrechterhaltung massiver Muster von Außenorientierung und Abhängigkeit. Die Außenorientierung und Abhängigkeit sind dabei Ausdruck der Gebundenheit der Eltern an ihre jeweiligen Herkunftsfamilien. Diese Loyalität geht soweit, daß Kommunikationsmuster übernommen werden und keine Binnengrenze besteht, so daß mit den Eltern jeweils gegen den Partner koaliert wird. In diesem Sinne hat sich keine stabile Partnerschaft etabliert, sondern jeder ist noch mehr Kind der eigenen Eltern als selbst Partner oder Elternteil. Typisch für Suchtfamilien ist die nicht abgeschlossene Individuation beider Partner. Sie sind nicht genügend aus ihren Elternhäuser abgelöst und haben hier das Muster der Abhängigkeit übernommen. Individuation gilt in der Regel als beziehungsgefährdend. Die eigenen Wünsche werden zurückgestellt und nicht kom-

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muniziert aus der Angst heraus, sie könnten die Beziehung sprengen. Es herrscht ein Muster der unausgesprochenen wechselseitigen Abhängigkeit vor. Laing (1969, zit. nach Simon/Stierlin, 1995, S. 184) führt für diese Formen wechselseitiger Abhängigkeit in Paarbeziehungen den Begriff „Kollusion" ein, der später insbesondere von Willi (1975) erweitert wurde. Bei der Kollusion handelt es sich um ein unbewußtes Zusammenspiel von Partnern, das der Konfliktund Angstbewältigung dient. Dabei trägt jeweils der andere Partner die abgewehrte Seite des einen Partners aus (z.B. Hilflosigkeit und Überfürsorglichkeit) und stabilisiert sein eigenes rigides Muster. Beide sind auf diese Weise aneinander gebunden und können sich kaum weiterentwickeln. Hierbei kommt es zu einer Blockade der sog. Individuation, dem persönlichen Wachstumsprozeß des einzelnen, zugunsten einer Stagnation, die Entwicklung verhindern soll. Neben diesen komplementären Beziehungsmustern findet man in anderen Familien, in denen sich Suchtsymptome zeigen, auch sog. symmetrische Muster vor, die geprägt sind von einem dauernden Kampf der Partner um Autonomie als Ausdruck einer tiefen Angst vor Abhängigkeit. In diesen Beziehungen gibt es immer wieder dramatische Eskalationen, die für Außenstehende das Zerbrechen der Beziehungen anzudeuten scheinen, für die Paardynamik jedoch eine Stabilisierung der Beziehungen ausmachen, da über den Kampf Nähe erlebt wird, die nur im Kampf zugelassen werden kann. Stierlin (1989) führt in seine Betrachtung familialer Prozesse die Polarität „Individuation und Bezogenheit" ein. Das Leben beider Pole ist Voraussetzung für eine stabile Partnerschaft. In der Individuation wird jedem einzelnen der Raum für die persönliche Entwicklung gelassen, die sich im Rahmen einer Bezogenheit auf die Partnerschaft vollzieht.

Familie Ist einer dieser beiden Pole stark ausgeprägt, kommt es zu Störungen in der Partnerschaft bzw. - als Ausgleichshandlung - zu Symptomen (wie etwa -•Anorexie, ->Bulimie oder •stoffgebundenen Süchte) bei den Kindern, die über diesen Weg eine Gegenregulation in der Familiendynamik erzeugen. 7. Familientypologien. Für das Suchtproblem sind zwei Familientypologien interessant: die entkoppelte und die verwobene Familie. Die entkoppelte Familie äußert sich in einem relativen Mangel an festeren Beziehungen. Die Familienbindung scheint schwach oder überhaupt nicht vorhanden, jeder lebt für sich allein. Diesen Typus findet man häufiger in Familien von Drogenabhängigen, die eine sog. primär-narzißstische Persönlichkeitsstruktur (-»-Narzißmus) zeigen. Sie sind meist komplett aus der Familie abgekoppelt und an die Drogenszene gebunden, wobei sich die Kontaktqualität der Beziehungen dort zwischen Solidarität und Betrug bewegt. Im Mittelpunkt steht die Droge, Beziehungen werden in erster Linie danach beurteilt, ob sie den Suchtmittelkonsum ermöglichen oder erschweren. Die verwobene Familie zeigt sich in einem engen Zusammenhalt, wobei die Familie als „ingroup" funktioniert, die sich ihre Stabilität aus der Abgrenzung gegenüber anderen Systemen holt. Ein innerer Wandel wird in der verwobenen Familie vermieden. Jede Form von Veränderung wird von der Systemdynamik mittels komplementärer Interaktion aufgefangen und ausgeglichen. Dieses System kann man als eine Art „Überhomöostase" beschreiben. Alles darf geschehen, nur der Erhalt der Familie soll gesichert sein. Selbst bei Symptomentwicklung eines Familienmitglieds wird dies verleugnet, wenn es die Stabilität gefährdet, stattdessen wird ein Auffangsystem um den Betroffenen herum errichtet, das die Funktion haben soll, sämtliche Probleme zu negieren

Familie und nicht nach außen dringen zu lassen. Eine Wirkung der Verwobenheit besteht in der A u f h e b u n g der Grenzen, die das Funktionieren von Subsystemen in der Familie ermöglichen: Kernfamilie - Ursprungsfamilie und Eltern - Kinder und Partnerschafts-Elternrolle. In Suchtfamilien ist dieser Typus am häufigsten vorzufinden. Insbesondere das Aufheben der Generationsgrenzen durch verschiedene Formen der Triangulierung (ein Elternteil mit einem Kind oder ein Elternteil mit einem Großelternteil bzw. der Herkunftsfamilie). In der sog. funktionalen Familie gibt es dagegen deutliche Statustrennungen zwischen den Generationen, altersgemäße Differenzierungen zwischen den Kindern, Trennlinien zwischen den Untersystemen, zu denen dieselben Personen gehören, und eine klare Grenze um die Kernfamilie herum. Das Einhalten der Generationsgrenzen zwischen Großeltern, Eltern und Kindern ist das wesentliche Element einer funktionierenden Familie. Gestörte Familien sind nicht in der Lage, dyadische Transaktionen aufrechtzuerhalten, sie tendieren zur Einbeziehung dritter (Triangulierungen). Suchtprobleme generieren aus Dreieckskoalitionen bzw. Triangulierungen. In den meisten Fällen besteht eine intensive Abhängigkeit der Betroffenen von einem Elternteil. Dabei werden Kinder schon sehr früh zu einer regressiven Bindung zu einem Elternteil veranlaßt. Selbst im Erwachsenenalter kann sich das Kind hieraus nicht lösen und kreiert immer wieder neue Probleme, die den entsprechenden Elternteil zur Intervention oder Hilfeleistung einladen bei gleichzeitigen Vorwürfen über die vermeintliche Unselbständigkeit oder Hilflosigkeit. Diesem Muster entsprechend werden dann komplementär agierende Partner gesucht, die die Rolle des Elternteils übernehmen könnten, aber nie so „gut" sein werden, daß sich der Betroffene aus der Bindung zu den Eltern 241

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löst. Über die Entwicklung eines Symptoms wird eine Form individuellen Freiraums (Distanz) geschaffen. Ein anderes Muster, die Parentifizierung, besteht darin, daß sich die Eltern selbst als so schwach und hilflos definieren, daß das Kind schon frühzeitig Verantwortung übernimmt, dabei aber Affiliationsbedürfnisse abwehrt und ausklammert und auf diese Weise sein Kindsein nicht lebt, Gefühle unterdrückt, Urmißtrauen entwickelt und eine Partnerschaft eingeht, die ihrerseits geprägt ist von einem Versorgungsmuster. Die Folge ist ein permanentes Mangelerleben, das durch den Konsum eines Suchtmittels kompensiert werden soll. 8. Transgenerationale Phänomene. Jedes System hat eine Tradition und somit eine Geschichte. Über die Geschichte werden Geschichten erzählt bzw. Wichtiges wird, weil es als moralisch verwerflich, traurig, belastend erlebt wurde, einfach verschwiegen. S o sind die Interaktionen der Familienmitglieder im Hier und Jetzt immer auch geprägt von diesen offenen und verdeckten Geschichten des Familiensystems. Zu unterscheiden sind: - Mythen. Über Ereignisse oder Personen werden Geschichten erzählt, die über das Ereignis heraus für das System eine Bedeutung haben, auf die man sich bezieht und durch die man sich als anders definiert. - Geheimnisse. Familiengeheimnisse spielen als Tabus eine große Rolle in der Interaktion. Kinder finden schon sehr früh heraus, was man im Beisein der Erwachsenen ansprechen darf und über was man besser nicht spricht. Viele dieser Familiengeheimnisse beinhalten Regel- und Normverletzungen, die mit Scham belegt sind. Das System als Ganzes fühlt sich dafür schuldig und ist innerlich gebunden. Hellinger ( 1 9 9 4 ) beschreibt wie einzelne Familienmitglieder die Dynamik der Familiengeheimnisse übernehmen, die mitunter schon seit ein

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bis zwei Generationen die Familie beschäftigen. Die Systemdynamik wird somit bei einzelnen zur individuellen Dynamik und führt zu Symptomentwicklungen, ohne daß dafür in der aktuellen Situation ein Anlaß erkennbar war. - Systemische Verstrickungen. Suchtprobleme sind beinahe immer die Folge aufgeweichter Generationsgrenzen bzw. der Grenzen zwischen den Subsystemen „Herkunftsfamilie und Kernfamilie". Die Betroffenen wie auch ihre Partner sind loyal an die Herkunftsfamilie gebunden und haben einen Partner gewählt, bei dem das Gleiche der Fall ist. Diese Bindung schafft bereits eine Form von Verstrickung. Hinzu kommt ein Phänomen, das man als „Halten der Treue" (vgl. Hellinger) bezeichnen könnte, wonach es keinem Kind besser gehen darf als es den eigenen Eltern ging. Das Muster der Abhängigkeit wird somit weitergegeben wie eine heiße Kartoffel. 9. Funktionen der Sucht im Familiensystem. Die Sucht ist Nähe-Distanz Regulator in einem System, das sowohl intime Nähe als auch Distanz vermeidet. Beide Pole sind bedrohlich sowohl für den Indexpatienten als auch für die Angehörigen. Das Suchtmittel ist in diesem Zusammenhang das Medium, über das Beziehungen laufen können. Es ermöglicht allen Beteiligten den Ausdruck von Gefühlen wie Aggression, Angst, Lust, Hoffnung und Depression. In der Therapie zeigt sich hierbei immer wieder, daß bei allen Familienmitgliedern das gleiche Muster des Gefühlsausdrucks vorliegt. Das Wahrnehmen der eigenen Gefühle ist so blockiert, daß erst nach und nach ein Zugang über die Introspektion entsteht. Erst dann kann das Aussprechen der Gefühle und Gedanken gelernt werden. Bei allen Familienmitgliedern findet man in der Regel eine große Angst vor dem Zerbrechen des Familiensystems,

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das anscheinend - so sehen es Außenstehende - j a schon lange nicht mehr f u n k tioniert oder noch nie im Sinne einer „gesunden Interaktion" bestanden hat. Gerade die Angst vor dem Zerbrechen der Familie und die fehlende Information über alternative Kommunikationsmuster erzeugt eine hohe „pathologische" Bindung, die in der Regel nur sehr schwer aufgelöst werden kann. Die einzelnen Familienmitglieder isolieren sich innerhalb der Familie, das gesamte Familiensystem isoliert sich gegenüber der Umwelt. Das Symptom schafft so eine Beziehungsdichte, die für alle Beteiligten wichtige bekannte Elemente enthält und somit vertraut und angstbindend wirkt. Veränderungen werden zwar erhofft - sollen in der Regel von außen kommen, da es intern keine Repräsentation gibt, wie und wohin man sich überhaupt verändern könnte - gleichzeitig aber vermieden oder aktiv verhindert. Beispiel: In der Suchtklinik wird eine Patientin zur Therapie aufgenommen. Der Ehemann kommt mit zur A u f n a h m e und formuliert seine Erleichterung, daß es nun endlich mit der Therapie beginnt und damit die Schwierigkeiten zu Hause ein Ende haben. Der Patientin fällt es schwer zu bleiben, sie entwickelt „Heimweh", obgleich die letzte Zeit in der Familie, verbunden mit Vorwürfen und mitunter Gewalthandlungen von Seiten des Mannes, für sie eher die Hölle war. Sie erhält Post, in der der Mann ebenfalls seine Schwierigkeiten mit dem Alleinsein andeutet. Nach 2 Wochen bricht die Patientin die Therapie ab, der Mann holt sie erleichtert und zugleich erbost aus der Klinik ab. Die Frage der Sucht tritt schnell in den Hintergrund. M a n tut - entgegen aller eigenen Erfahrung - so als ob alles aus eigener Kraft bewältigt werden kann und im übrigen auch gar nicht so schlimm war. Die Realitätsverzerrung der Angehörigen und der Patientin ähneln sich („share my illusion"). Suchtverhalten ist ein wichtiger Interaktionsbeitrag des Indexpatienten in sein

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Beziehungsumfeld. Symptome sind kommunikative Botschaften (Schmidt, in Körkel, 1988) und wirken sich immer beziehungsgestaltend aus. Dabei ist nicht die Absicht des Symptomträgers entscheidend, sondern die Auswirkungen, die das Symptom auf die Beziehungen in der Familie hat. Die Krankheit hat in diesem Beziehungssystem in Konfliktsituationen zu Beginn sogar deeskalierende Effekte. Nach jedem Konflikt sind die Rollen klar verteilt: Der Betroffene ist an der Misere schuld, die Familienmitglieder sind die Opfer. Wobei der Betroffene allerdings innerlich davon ausgeht, daß er in diesem System gar nicht anders kann, als sich süchtig zu verhalten. Das Symptom wird zu einem Beziehungsmitglied, Partner, Koalitionspartner und Gegner und ist aus dem Interaktionsgeschehen nicht mehr wegzudenken. Verschwindet das Symptom durch Abstinenz, entsteht nicht nur beim Suchtkranken ein „inneres Loch", auch die Familie weiß nicht genau, nach welchen Regeln nun kommuniziert werden soll. Häufig kommt es dazu, daß sich alle Beteiligten wieder insgeheim wünschen, daß der Abhängige wieder trinkt, damit die Spannungen aufhören, die durch die nun deutlich gewordenen Interessensgegensätze entstanden sind. 10. Co-Abhängigkeit. In der traditionellen Theorie über Suchtkranke und ihre Beziehungspartner findet man häufig den Begriff der •Co-Abhängigkeit, der beschreibt, wie die Partner d e m Abhängigen durch ihr Verhalten immer wieder die Konsequenzen seines Handelns ertragbar gestalten, indem sie Verantwortung übernehmen, ihn schützen und dekken. Die sog. Co-Abhängigen haben im Sinne einer Komplementarität einen Gewinn bei ihrem Verhalten, sie bekommen Anerkennung von der Außenwelt, werden als Retter und gute Helfer gesehen und schließlich als Opfer bemitleidet. Systemisch gesehen kann das Prinzip der Co-Abhängigkeit nicht linear gesehen werden, indem es jeweils

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die wechselnden Rollen von Opfern und Tätern gibt. Vielmehr kann man sehen, daß es ein Wechselspiel zwischen beiden Positionen gibt im Sinne einer Reziprozität oder Zirkularität: der eine braucht den anderen für seine Rolle. Diese Verstrickung ist in der Regel so stabil, daß sie über Jahre hält und auch gegenüber therapeutischen Interventionen lange Zeit stabil bleibt. Wird allerdings in dieses System an einer Stelle eine „Neuinformation" eingeführt, die als so bedeutsam codiert wird, daß sie zu einer Musterveränderung beiträgt, kommt dieses System ins Ungleichgewicht und muß sich neu formieren. In der Regel gibt es zunächst einen Rückfall bei dem Betroffenen im Sinne einer Gegenregulation gegen Veränderungen. Bleibt der andere jedoch bei seinem neuen Verhaltensmuster, wird sich nach und nach eine qualitative Veränderung in der Beziehungsdynamik zeigen, in der das Suchtthema keine wesentliche Bedeutung mehr spielt. Gerade in der Beratung ( •Suchtberatung) und Therapie (-»-Psychotherapie) Suchtkranker ist zu berücksichtigen, daß es sich bei der Abhängigkeit um eine sog. „Beziehungsstörung" handelt, die also nie allein über eine Intervention bei dem „Kranken" gelöst werden kann, sondern nur über die Einbeziehung des gesamten familiären Interaktionsgefüges. Dabei ist es nicht immer nötig, daß alle Personen in vivo an der Beratung und Therapie teilnehmen, entscheidend ist aber, ob sich die Betroffenen mit den „inneren Bildern" über die wichtigsten Bezugspersonen auseinandersetzen, diese innerlich verändern und ein qualitativ anderes Beziehungsmuster entwikkeln. 11. Abschließend soll noch einmal deutlich hervorgehoben werden, daß es sich bei der Suchterkrankung um eine „Lösung" handelt, die eine Person in einem definierten Kontext für sich gefunden hat, um die dort entstandenen Probleme zu kompensieren. Insofern unterliegt der 244

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Entwicklung der Abhängigkeit wie auch der Co-Abhängigkeit einer positiven Absicht. Das System hat sich um eine Lösung bemüht, die die Homöostase lange Zeit gewährleisten und die Schismogenese verhindern sollte. Die destruktive und autodestruktive Dynamik der Sucht konnte indes durch alle Anstrengungen, die von Seiten des Systems geleistet wurden, nicht verhindert werden. Günstigenfalls ist irgendwann der Verlust (Leidensdruck) größer als der (Krankheits-)Gewinn und es ergeben sich Veränderungsansätze oder aber das System (der Einzelne und/oder die Familie) zerbricht daran. Nur gezielte, auf das System bezogene, Interventionen von außen können die Veränderungsdynamik beschleunigen, von sich aus bleibt das System in seiner wechselseitigen Abhängigkeit lange Zeit stabil, selbst wenn das Leiden perpetuiert wird und fast unerträglich erscheint. Aus sich heraus ist die Suchtfamilie nicht in der Lage, die für eine gesündere Interaktion notwendigen Veränderungen zu generieren. Das System der Suchtfamilie braucht immer und in jedem Fall „Neuinformationen" von außen über andere, mögliche Kommunikations- und Interaktionsformen. •Familientherapie und Systemische Therapie; -»Kindheit Lit.: Bateson, G., Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M„ Suhrkamp, 1988; Dell, P. F., Klinische Erkenntnis. Dortmund, Verlag Modernes Lernen, 1990; Hellinger, B., Ordnungen der Liebe, Heidelberg, Carl-Auer, 1994; Hoffman, L„ Grundlagen der Familientherapie, Hamburg, Isko-Press, 1987; Schmidt, G., Rückfälle von als suchtkrank diagnostizierten Patienten aus systemischer Sicht, in: Körkel, Der Rückfall des Suchtkranken, Berlin, Heidelberg, New York, Springer-Verlag, 1988; Simon, F. B„ Stierlin, H., Die Sprache der Familientherapie, Stuttgart, Klett-Cotta, 1995; Watzklawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R., Lösungen, Bern, Stuttgart, Toronto, Huber, 1988; Weber, G„ Stierlin, H„ In

Familientherapie und Systemische Therapie Liebe entzweit, Reinbeck bei Hamburg, Rowohlt, 1989; Willi, J „ Die Zweierbeziehung, Reinbek bei Hamburg: R o wohlt Verlag, 1986. Peter Herrmann, Bonn Familientherapie und Systemische Therapie 1. Begriffsdefinition. Die F. und die S. sind psycho- bzw. systemtherapeutische Methoden zur Behandlung von Gruppen, Familien, Paaren und Einzelnen. Wichtige Wegbereiter waren die (teilweise voneinander unabhängigen) Entwicklungen innerhalb unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen in der ersten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts, insbesondere in Psychoanalyse und Neopsychoanalyse, Gestaltwahrnehmungspsychologie und Gruppentheorie, Kommunikationswissenschaften und Schizophrenieforschung sowie in Kybernetik und Familientheorie. Zu den Pionieren der F. werden Bell, Ackermann, Jackson und Bowen gezählt. Sie begannen in den 5 0 e r Jahren, anstelle einzelner Patienten Paare und ganze Familien zu behandeln. Heute steht man einer Vielgestalt familientherapeutischer Schulen und Ausrichtungen gegenüber, die sich fünf Hauptströmungen zuordnen lassen: psychodynamisch (psychoanalytisch, familiendynamisch) orientierte F., strukturelle F., kommunikationstherapeutische Verfahren, wachstumsorientierte (entwicklungsorientierte, erlebnisbezogene) F. und Verhaltens- (lerntheoretisch, psychoedukativ-) orientierte F. Die meisten Modelle der psychodynamischen Familientherapie haben ihren theoretischen Schwerpunkt in der IchPsychologie, der Psychologie des Selbst und in unterschiedlichen Narzißmustheorien (~>Narzißmus). Außerdem ist die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie von besonderer Relevanz. In den vergleichsweise längerfristigen Behandlungen analytisch orientierter Therapeuten werden die lebensgeschichtlichen Entwicklungen der gesamten Familie und eines jeden Mit-

Familientherapie und Systemische Therapie glieds untersucht. Unbewußte Prozesse, die zu Konflikten führen, werden durch den Therapeuten mittels Deutung und Bewußtmachung aufgedeckt. In den meisten Fällen dient eine Mehrgenerationenperspektive als Behandlungsgrundlage. Zu den wichtigsten Vertretern der psychodynamischen Familientherapie zählen Ackerman, Boszormenyi-Nagy, Richter, Stierlin, Willi und Wynne. Der strukturelle Ansatz verfolgt die Erfassung und Veränderung familiärer Strukturen - ihrer Subsysteme, Grenzen, Hierarchien und Koalitionen. Den Strukturen wird eine direkte Auswirkung auf das körperliche und psychische Wohlbefinden zugeschrieben. Leitlinien therapeutischer Interventionen sind durch klare Vorstellungen über funktionale Familienstrukturen vorgegeben. Entwickelt wurde die strukturelle Familientherapie durch Minuchin und Mitarbeiter, zunächst in der Arbeit mit Unterschichtjugendlichen in New York und später an der Philadelphia Child Guidance Clinic. Zu den wichtigsten Mitarbeitern von Minuchin gehörten Haley, Rosman und Todd. Gemeinsam mit Stanton entwickelte Todd den strukturellen Ansatz in der Arbeit mit Drogenabhängigen fort und kombinierte ihn schließlich mit strategischen Elementen. Als wichtige Vertreter sind außerdem Kaufman und Kaufmann zu nennen, die für ihre Arbeit mit Drogenabhängigen den strukturellen und psychodynamischen Ansatz verbunden haben. Aus Systemtheorie und Kybernetik haben sich in den 7 0 e r und 80er Jahren drei familientherapeutische Richtungen entwickelt, die unter dem Begriff „Kommunikationstherapie" subsumiert werden. Es handelt sich dabei um die kurztherapeutischen-, strategischen- und systemischen Familientherapieschulen. Die kurztherapeutischen Schulen setzen bei der Behandlung von Familien einen Schwerpunkt darauf, mit wenigen Interventionen Struktur und Entwicklungsbarrieren diskontinuierlich zu verän245

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dem. Ziel dieser Kurztherapie ist es, in etwa 10 Sitzungen eine Lösung solcher Probleme herbeizuführen, die die Klienten definieren. Der Veränderungsprozeß geschieht vornehmlich im Intervall der einzelnen Therapiesitzungen. Sie liegen bis zu sechs Wochen und mehr auseinander. Als Vertreter dieser Schule gelten die Mitarbeiter um de Shazer im „Brief Family Therapy Center", Milwaukee, um Goolishian im „Family Therapy Institute", Galveson und um Watzlawik im „MRI", Weakland. Auch bei der strategischen F., die grundlegend von Haley entwickelt wurde, stehen Probleme, die die Familienmitglieder benennen im Mittelpunkt. Therapeut und Klienten erarbeiten gemeinsam eine Therapiezieldefinition. Die Interventionen zielen vorrangig auf die symptomerhaltenden Interaktionsmuster und auf Organisationen in der Familie. Zu den wichtigsten Vertretern gehören Haley, Madanes und Stanton. Stanton entwickelte einen eigenen Ansatz, welcher strategische und strukturelle Konzepte vereint. Die systemischen Therapien orientieren sich von allen familien- und systemtherapeutischen Schulen am konsequentesten an Systemtheorie und Kybernetik. Ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen gehen zurück auf die Neurobiologen, Kommunikations- und Sozialwissenschaftler Maturana und Varela, von Bertalanffy, von Foerster, Luhmann und Piaget. Eine eigene Interviewtechnik, das „zirkuläre Fragen", und paradoxe Interventionen bilden die Hauptpfeiler der therapeutischen Sitzung, in der sich der Therapeut in besonderer Weise um Neutralität und das Beibehalten einer Metaposition bemüht. Hauptvertreter dieser Gruppe sind Selvini-Palazzoli, Duss-von Werdt, Guntern, Ludewig und Welter-Enderlin. 2. Theoretische Konzepte, Schulen und Forschungsansätze im Suchtbereich. Die ersten, vorwiegend kasuistisch abgefaßten Berichte über familienthera246

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peutische Behandlungen von Patienten mit Suchtproblemen stammen aus den frühen 60er Jahren. In den darauf folgenden zwei Dekaden beschäftigten sich die Publikationen mit charakteristischen Merkmalszuschreibungen in Familien mit einem suchtmittelabhängigen Symptomträger. Diese Gemeinsamkeiten basieren ganz überwiegend auf Beobachtungen und therapeutischen Erfahrungen. Obwohl die Relevanz derartiger störungsspezifischer Familientypologien auf der Grundlage empirischer Überprüfungen in den vergangenen Jahren zusehends in Zweifel gezogen wurde, werden im folgenden die grundlegenden Modelle der verschiedenen Schulen im Hinblick auf ihre ungebrochen hohe Praxisrelevanz erwähnt. Psychodynamische Familientherapeuten haben vornehmlich auf die ungenügende interpersonale Abgrenzung in Familien mit einem süchtigen Mitglied hingewiesen. Sie beruhe auf der unausgesprochenen Verpflichtung, der Herkunftsfamilie treu zu bleiben. Starke Loyalitätsverbindungen seien in diesen Familien über Generationen hinweg zurückzuverfolgen. Stellvertretend für andere müsse das suchtmittelabhängige Mitglied negative Zuschreibungen übernehmen, zum Beispiel in Gestalt der Sündenbockrolle. Insbesondere das jüngste Kind, das als letztes bei den Eltern bleibe, sei häufig betroffen und sorge mit seiner Rolle für den Zusammenhalt der Restfamilie. Auf diese Weise bewahre das suchtmittelabhängige Kind die Eltern vor unangenehmen Gefühlen, die mit seiner Ablösung mobilisiert werden würden, nämlich Angst vor dem Verlassenwerden und Einsamkeit. Strukturelle Familientherapeuten beobachteten in den frühen 80er Jahren stereotype Interaktionsmuster in Familien mit süchtigen Kindern. Sie wiesen darauf hin, daß sich „normale" von „süchtigen" Familien nicht etwa durch das Ausmaß an Schwierigkeiten unterscheiden, sondern durch die Art der Problembewältigung. Wo klinisch auffäl-

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lige Familien sich in permanenter Entwicklung befänden und ihre Struktur den vorgegebenen Erfordernissen anpassen würden, dort würden Familien mit suchtmittelabhängigen Symptomträgern auf Veränderungen mit rigidem Verhalten, redundanten Interaktionsmustern und Stereotypen reagieren. Ihre Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen seien erschöpft. Charakteristisch sei die Verstrickung zwischen dem suchtmittelabhängigen Kind und einem Mitglied der Elterngeneration, das unter Mißachtung der Generationsschranke gegen den anderen Eltemteil koaliere. Der verstrickte Elternteil unterstütze das Symptom des Kindes beispielsweise durch Finanzierung der Suchtmittel, durch gemeinsame Geheimnisse und durch Schutzangebote gegenüber Dritten. Systemtherapeuten betrachten süchtiges Verhalten als Symptom. Es wird davon ausgegangen, daß Probleme entstehen, wenn Verhaltensweisen, die sich einmal als Lösung von Konflikten angeboten haben, immer und immer wieder angewandt werden. Selbst dann noch, wenn sie nicht mehr zum gewünschten Erfolg führen, sondern im Gegenteil, die Lösung selbst zum Problem wird. Sucht wird also als ein durch soziale Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen erlerntes und aufrechterhaltenes Verhalten verstanden, das sich in Beziehungen auswirkt und Bedeutung für die Regulierung des Beziehungsgleichgewichtes gewonnen hat. Die strategischen Therapeuten unterstreichen, daß gerade die Art der Bemühungen, zu einer Lösung zu kommen, das Problem verstärkt. Sie beschäftigt nicht vorrangig die Frage nach den Ursachen der Suchtmittelabhängigkeit, sondern mehr dessen Auswirkung auf relevante Beziehungen, besonders auf solche in der Gegenwart und Zukunft. Von Interesse ist, welche Bedeutung andere Familienmitglieder dem Suchtmittelgebrauch des Indexpatienten beimessen. Nicht minder wichtig ist die be-

Familientherapie und Systemische Therapie

ziehungsgestaltende und -regulierende Funktion des Symptoms sowie die wechselseitige Aufrechterhaltung von Abhängigkeitsmustem. Beispielsweise kann sich der Suchtmittelgebrauch als paradoxe Lösung eines Ablösungskonfliktes in der Adoleszenz anbieten: Opiatkonsum erlaube nicht allein eine Wiederholung infantiler, in der frühen Symbiose erfahrenen Gefühle von Euphorie und Wärme - noch wichtiger sei, daß sich der Konsument im Rauscherleben von seiner Familie (bei realer Präsenz) distanzieren möchte. Er könne gleichzeitig nahe und infantil wie auch distanziert und getrennt sein. Heroin verschaffe das Gefühl von neuer Kraft und Omnipotenz. Außerdem fördere das Suchtmittel Aggression und Behauptung gegen die Eltern. Als Mitglied der Drogensubkultur erlebe sich der abhängige Heranwachsende von seiner Familie abgegrenzt. Insofern sei er erwachsen und unabhängig. Seine Beschaffungspraktiken würden ihm Erfolg verschaffen. Paradoxerweise werde er aber um so abhängiger, desto erfolgreicher er Heroin beschaffe. Je erfolgreicher er sich in seiner Subkultur entwickele, desto stärker etabliere sich seine hilflose Position in der Familie. Für den betroffenen Jugendlichen resultiere daraus eine Pseudoindividuation. Ein Rückfall des Abhängigen (im Anschluß an einen Abstinenzversuch) ist aus dieser Perspektive funktional: Der Abhängigkeitskreislauf ist Teil eines familiären Musters, das in ein komplexes und rückbezüglich wirkendes System eingebettet ist. Das System trägt zur Aufrechterhaltung der Sucht und die Sucht zur familiären Stabilität bei. Die Vertreter von systemischer- und strategischer F. haben sich am konsequentesten um die Umsetzung systemtheoretischer Episteme innerhalb der Suchtkrankenbehandlung bemüht. Außerdem sind sie, gemessen an der Vielzahl familientherapeutischer Schulen, die einzigen, die sich mit der Übertragung systemischer Modelle auf thera247

Familientherapie und Systemische Therapie

peutische Institutionen beschäftigt haben. Die erste Untersuchung zur Wirksamkeit der familientherapeutischen Behandlung drogenkonsumierender Jugendlicher wurde in den frühen 80er Jahren in den USA durchgeführt. Die Familientherapie führte zu einer Verbesserung der Outcome-Variablen in den Bereichen Drogenkonsum und Familienfunktion. In den folgenden Jahren wurden von verschiedenen Forschergruppen die Erfolge von Einzel-, Gruppen- und Familientherapie bei dieser Klientel gegenübergestellt und es wurden Effektivitätsvergleiche von Familientherapie, Angehörigengruppen und psychoedukativen Ansätzen durchgeführt. In ihrer jüngsten Sekundäranalyse kommen Diamond et al. (1996) zu der Schlußfolgerung, daß eine familientherapeutische Behandlung der Einzel-, Gruppen- oder anders familienorientierten Behandlung überlegen ist. Problematisch ist, daß die exakte Definition des Drogenstatus in allen bisherigen Studien unterblieb. Dieser Umstand schränkt die Aussagekraft erheblich ein. Die Vergleichbarkeit der Untersuchungen wird außerdem durch unterschiedliche familientherapeutische Verfahren eingeschränkt. Eine Therapieprozeßforschung fehlt bisher für die Familientherapie im Suchtbereich vollständig. Zusammenfassend werden bisherige Untersuchungen der Komplexität der Familiendynamik nur annäherungsweise gerecht. Anforderungen an eine moderne Familienforschung bleiben in allen Studien unerfüllt. Was die Überprüfung der Therapieerfolge bei Opiatkonsumenten angeht, erlaubt der bisherige Forschungszustand allenfalls, eine Tendenz dahingehend aufzuzeigen, daß die familientherapeutische Behandlung anderen Verfahren in mehreren Outcome-Variablen überlegen ist. 3. Stellenwert für die Praxis. In den vergangenen 20 Jahren wurde der Familie des Abhängigkeitskranken immer mehr 248

Familientherapie und Systemische Therapie

Bedeutung beigemessen. Mittlerweile bezieht die Mehrheit aller Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe Angehörige in irgendeiner Weise in den Behandlungsprozeß ein. Eltern-, Kinder- und Partnergruppen bis hin zu stationären Behandlungs-Settings für die gesamte Familie deuten auf einen weitläufigen Konsens unter Therapeuten: Systemstrukturen wirken sich auf die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung einer Suchtmittelabhängigkeit aus. Die zunehmende Familienorientierung in der Suchtkrankenhilfe darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine konsequente familientherapeutische Intervention nur im Ausnahmefall geleistet wird. Nach wie vor mangelt es an personellen, ausbildungsbezogenen und wissenschaftlichen Voraussetzungen. Obwohl ein Drittel der in der Suchtkrankenhilfe beschäftigten Mitarbeiter heute über eine familientherapeutische Zusatzqualifikation verfügt (bzw. sich in entsprechender Ausbildung befindet), erfolgt eine familientherapeutische Behandlung im engeren Sinne nur selten. Standard ist vielmehr die Einbeziehung einzelner Familienmitglieder in den überwiegend individualtherapeutisch ausgerichteten Behandlungsprozeß. Bisherige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß die Behandlungserfolge im Suchtbereich durch einen Ausbau familienbezogener Hilfestellung bis hin zur konsequenten familientherapeutischen Intervention verbessert werden können. Ein wesentlicher Vorteil der familientherapeutischen Methoden ist darin zu sehen, die Ressourcen und Kompetenzen der Familie zum Zwecke der Suchtmittelfreiheit des Indexpatienten nutzen zu können. Nach bisherigen Erkenntnissen ist der Suchtverlauf des Indexpatienten mit einem verhältnismäßig geringen und kostengünstigen Aufwand durch familientherapeutische Methoden günstig zu beeinflussen, insbesondere wenn die Intervention zu einem frühen Zeitpunkt der Suchtentwicklung erfolgt.

Familientherapie und Systemische Therapie

Grundsätzlich muß die Therapieindikation für eine Familienbehandlung positiv gestellt werden. Die mühsame Rekrutierung von Familienangehörigen macht in dem Fall keinen Sinn, wo im Laufe einer langjährigen Suchtentwicklung familiäre Bande zerbrochen sind. Außerdem müssen hohe Qualitätsstandards von seiten der Therapeuten wie auch von seiten der anbietenden Versorgungseinrichtung erfüllt werden. Wichtig ist die klare Definition von Ein- und Ausschlußkriterien für ein familientherapeutisches Behandlungsangebot. Als Minimalvoraussetzungen seitens der Hilfeeinrichtung sind in Schlagworten zu nennen: Qualifizierte systemtherapeutische Ausbildung, Selbsterfahrung, Zusatzausbildung in einem weiteren Psychotherapie-Verfahren (individualtherapeutischer Ansatz), Durchführung der Therapie mit zwei Therapeuten (Therapeut und Co-Therapeut), regelmäßige Supervision, regelmäßige Weiterbildung, Evaluation der Behandlungserfolge. 4. Grenzen und Ausblick. In einem systemtherapeutischen Verständnis ist die Kombination von familientherapeutischen Verfahren mit anderen psychotherapeutischen Methoden grundsätzlich möglich und in einigen Fällen durchaus sinnvoll. Beispielsweise kann eine ergänzende einzeltherapeutische Behandlung des Indexpatienten in einer stationären Entwöhnungstherapie angezeigt sein. Solche Ergänzungen sind vor allem dann notwendig, wenn sich im Verlauf der systemtherapeutischen Behandlung die Ressourcen der Familie als sehr gering erweisen oder wenn ein Anstoß zur Erweiterung von Systembezügen (gruppentherapeutische Behandlung, berufliche Förderung, Selbsthilfegruppen etc.) hilfreicher erscheint als die engbegrenzte Arbeit in einzelnen Subsystemen. Obwohl die Suchtkrankenhilfe in den vergangenen Jahren durch unterschiedliche Konzepte der Familienbehandlung

Familientherapie und Systemische Therapie

ergänzt und bereichert wurde, sind wir von der Stellung einer differentiellen Therapieindikation noch weit entfernt. Da sich der Suchtkrankenhilfebereich in therapeutischer Sicht auch zukünftig weiterhin diversifizieren und differenzieren wird, ist es unverzichtbar, Prädiktoren für eine erfolgreiche familientherapeutische Intervention zu identifizieren. Im Gegensatz zu den pragmatischen Orientierungen in der Suchtkrankenhilfe ist bis heute die wissenschaftliche Überprüfung eines Zusammenhangs zwischen Drogenkonsum und Familieninteraktion weitestgehend ausgeblieben. Defizite bestehen in der familientheoretischen und -diagnostischen Grundlagenforschung von Suchterkrankungen in mindestens gleichgroßem Umfang wie in der wissenschaftlichen Überprüfung einer familientherapeutischen Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen. Im europäischen Raum wird zur Zeit nur eine Untersuchung, welche sich moderner familiendiagnostischer Methoden bedient und über eine alleinige Outcome-Messung hinausgeht, durchgeführt (Thomasius 1999). Hier besteht ein erheblicher Bedarf an vergleichenden Therapiestudien. Dringend erforderlich ist darüber hinaus die Entwicklung eines Standards zur Evaluation von Familientherapien im Suchtbereich, um die positiven Ansätze, die sich in der Erfolgskontrolle der Einzelbehandlung abzeichnen, auf die Systemtherapie zu erweitern. Aufbauend auf die bisherigen Forschungsansätze ist außerdem eine multizentrische Studie zur Effektivität und Versorgungsrelevanz der Familientherapie in den stationären, teilstationären und ambulanten Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe dringend geboten. In Verbindung mit der Evaluation von kurz-, mittel- und langfristigen Therapieerfolgen sowie einer mehrdimensionalen Prädiktorenforschung wäre damit ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer differentiellen Therapieindikation im Sucht249

Fernsehsucht

Finanzierung

bereich getan. -»Familie; -»Psychotherapie Lit.: Gurman A. S., Kniskern, D. P. (1981), Handbook of family therapy, Brunner, New York; Haley, J. (1980), Leaving home, McGraw-Hill, New York; Kaufman, Ε., Kaufmann P. Ν. (1983), Familientherapie bei Alkoholund Drogenabhängigkeit, Lambertus, Freiburg; Ludewig, K. (1992), Systemische Therapie - Grundlagen klinischer Theorie und Praxis, Klett-Cotta, Stuttgart; Madanes, C. (1984), Behind the one-way mirror - advances in the practice of strategic therapy, Jossey-Bass, San Francisco; Maturana, H. R., Varela F. J. (1987), Der Baum der Erkenntnis, Scherz, Bern München Wien; Selvini Palazzoli M., Boscolo, C., Cecchin G., Prata G. (1975), Paradoxon und Gegenparadoxon, Klett, Stuttgart; Shazer, S. de (1985), Keys to solution in brief therapy, Norton, New York; Stanton, Μ. D„ Todd, Τ. C. (1982), The family therapy of drug abuse and addiction, Guilford, New York; Steinglass, P., Bennett, L„ Wolin, S„ Reiss, D. (1987), The alcoholic family, Basis Books, New York; Thomasius, R. (1996), Familiendiagnostik bei Drogenabhängigkeit eine Querschnittstudie zur Detailanalyse von Familien mit opiatabhängigen Jungerwachsenen, Springer, Berlin Heidelberg; Thomasius, R. (1999), Psychotherapie der Suchterkrankungen, Thieme, Stuttgart; Watzlawick, P , Weakland, J. H., Fisch, R. (1974), Lösungen - zur Theorie und Praxis menschlichen Wandeins, Huber, Bern Rainer Thomasius, Hamburg Fernsehsucht -•Mediensucht Finanzierung -»•Ambulante Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe werden in der Regel auf der Basis sogenannter freiwilliger Förderungen der Städte, Gemeinden, Landkreise und der Bundesländer teilfinanziert. Andere Zuwendungen fließen 250

durch Fachkräfteprogramme sowie Modellförderungen des Bundes oder der Länder. Teilfinanzierungen erfolgen auch über Zuwendungen von Krankenkassen, durch Spenden, von Gerichten zugewiesene Geldbußen und nicht zuletzt durch Eigenmittel der Träger. Die Jahresstatistik 1996 der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke in der Bundesrepublik Deutschland weist folgende Finanzierungsquellen aus (jeweils % vom Gesamtetat): West K o m m u n a l e Mittel Landesmittel Eigenmittel Träger Sonstige Mittel Sozialversicherungsmittel Bundesmittel

38,16 25,20 22,88 6,82 6,47 0,47

Ost 44,25 32,27 12,27 4,03 2,00 5,08

Bei dieser Misch- oder Kofinanzierung handelt es sich ausschließlich um freiwillige Leistungen der Zuwendungsgeber und es erfolgen lediglich jährliche Zuwendungsbescheide. Für wesentliche Einrichtungsteile des Verbundsystems der Hilfen (-•Suchtkrankenhilfe) fehlen gesetzliche F.regelungen für Einrichtungen. Nach Beantragung und individuellen Verhandlungen kann eine F. auf folgenden Grundlagen erreicht werden: In ambulanten Arbeitsfeldern (mit Ausnahme der ambulanten Therapie Suchtkranker) nur nach Feststellung eines örtlichen Bedarfs und Kostenverhandlungen auf Gemeinde- und Landesebene. Der qualifizierte Entzug (-»qualifizierte Entgiftung) kann durch besondere Versorgungsverträge nach § 111 SGB V, die Entgiftung durch die gesetzliche Krankenversicherung nach § 39 SGB V beim Fehlen von Anspruchsvoraussetzungen durch die Sozialhilfe - jeweils klientenbezogen finanziert werden. (SGB = Sozialgesetzbuch) In der medizinischen -»Rehabilitation (Therapie) ist vorrangig die Rentenversicherung Leistungsträger. Sie erbringt

Finanzierung

Leistungen nach § 13 SGB VI. Eine Leistungserbringung geht über eine Kostenerstattung hinaus und beinhaltet auch Bestimmungen zu Art, Umfang und Dauer der Maßnahmen. Dieser Rechtsanspruch entwickelte sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.6.1968 in dem es heißt: „Trunksucht ist auch dann als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne anzusehen, wenn eine organische Gesundheitsstörung nicht eingetreten ist." Mit diesem Urteil war die Behandlung Suchtkranker erstmals als Krankheit im sozialrechtlichen Sinne anerkannt (-•Sozialrecht). Daraus folgte eine „Empfehlungsvereinbarung Sucht" der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherungsträger vom 20. 11. 1978, in der festgelegt wurde, wie die Zuständigkeit und das Verfahren bei der Gewährung stationärer Maßnahmen für Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige zu gestalten ist, wenn Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung in Betracht kommen. Sie wurde ergänzt durch Empfehlungen zur Zusammenarbeit der Leistungsträger vom 22. 10. 1981, ein Gesamtkonzept zur Rehabilitation von Abhängigkeitskranken vom 15. 5. 1985, die Empfehlung über die Förderung der Nachsorge vom 18.3.1987 und die Empfehlungsvereinbarung ambulanter Rehabilitation Sucht vom 29. 1. 1991. Damit wurde die Suchttherapie fest in das Regelsystem der Finanzierung eingebunden. Mit der „Suchtvereinbarung" wurde das Verfahren der Antragstellung und Antragsweiterleitung sowie die Zuständigkeit für die -•Entzugs- und -»Entwöhnungsbehandlung geregelt. Danach ist der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich für die Gewährung von Entzugsbehandlungen und der Rentenversicherungsträger für die Gewährung von Entwöhnungsbehandlungen zuständig, wenn die versicherungsrechtlichen und medizinischen Voraussetzungen der früheren § 1236 Reichs-

Finanzierung

versicherungsordnung (RVO) bzw. § 13 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) (heute 13 SGB VI) erfüllt sind. Träger der Rentenversicherung sind die Landesversicherungsanstalten, die Bundesversicherungsanstalten für Angestellte und die Bundesknappschaft. Die Leistungen der Rentenversicherung wurden früher in der Reichsversicherungsordnung und jetzt im Sozialgesetzbuch VI geregelt. In anderen stationären Arbeitsfeldern werden Kosten nach Antrag beim überörtlichen Sozialhilfeträger nach den §§ 39, 40 (Eingliederungshilfe; Personenkreis und Aufgabe, Maßnahmen der Hilfe) 72 (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten), 100 (Sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers) BSHG und zum kleinen Teil Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) erstattet. Mit der Veränderung des § 93 BSHG wird auch hier zukünftig eine Leistungsabrechnung erfolgen. Im Bereich von Integration und -•Nachsorge können Mittel nach den §§ 18, 19, 39, 40, 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), aber auch Mittel nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) fließen. Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes kommen für Arbeits- und Beschäftigungsprojekte sowohl zur individuellen Finanzierung (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschuß) aber auch für Projektkosten (Anleiter, Ausstattung, wissenschaftliche Begleitung) in Frage. Selbsthilfe wird durch die gesetzliche Krankenversicherung (§ 20 SGB V und die Rentenversicherungsträger (§31, Abs. 1, Nr. 5 SGB VI) gefördert. Die ambulante Suchtkrankenhilfe wird von Bund, Ländern und Gemeinden mit rund 450 Mio. DM, die Rehabilitation von den Leistungsträgern mit rund 1,5 Milliarden DM finanziert. Rund 75 Millionen DM steuern die Einrichtungsträger aus Eigenmitteln bei! Die F. der ambulanten Arbeit ist in ihren Grundzügen über Jahrzehnte unverän251

Finanzierung

dert geblieben. Zuwendungen der Kommunen und der Bundesländer fließen aufgrund der Subsidiarität grundsätzlich nur, wenn auch Eigenanteile der Träger zum Betrieb der Suchtkrankenhilfeeinrichtung eingebracht werden. Diese Eigenanteile betragen zwischen 5 und 30% der Gesamtfinanzierung. In der stationären Arbeit dominieren die Rehabilitationsmaßnahmen. Sie werden vom Rentenversicherungsträger gewährt, um die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu erhalten, sie wesentlich zu verbessern oder wiederherzustellen und zwar nach dem Grundsatz: Rehabilitation vor Rente. Die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen steht im Ermessen des Rentenversicherungsträgers, wobei der Versicherte lediglich einen Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung hat, d. h., daß der Rentenversicherungsträger weder nach Belieben noch nach Willkür verfahren darf. Für die Rentenversicherungsträger ist gemäß dem Rehabilitationsangleichungsgesetz (RehaAnglG) außerdem der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Das bedeutet, daß Rentenversicherungsträger sich für eine Maßnahme entscheiden können, die sie für geeignet halten, in der also der Therapieerfolg gesichert erscheint und außerdem die Kosten in einem wirtschaftlich angemessenen Rahmen bleiben. Dabei sollen die Wünsche der Versicherten beachtet werden. Neben den Rehabilitationsmaßnahmen im engeren Sinne kommen für Suchtkranke berufsfördernde Leistungen sowie ergänzende Leistungen, z.B. Übergangsgeld in Frage. Nur wenn keine Ansprüche gegenüber einem anderen Sozialversicherungsträger entstehen, hat der Suchtkranke Anspruch auf Übernahme der Kosten der Behandlung nach dem Bundessozialhilfegesetz (Prinzip der Nachrangigkeit § 2,1 BSHG). Nach 20jähriger Erfahrung mit der Anwendung der Suchtvereinbarung der Rentenversicherungsträger ist festzu252

Finanzierung

stellen, daß das dieser Vereinbarung zugrundeliegende Verlaufsschema für die Suchtbehandlung nicht angemessen ist. Der Vereinbarung liegt das lineare Schema Beratung - Behandlungsmotivation - Antrag auf Entwöhnungsbehandlung - Bewilligung der Entgiftung/ Entwöhnung - Antritt der Entgiftungsbehandlung - nahtloser Übergang zur Entwöhnungsbehandlung - Entlassung zugrunde. Dieses widerspricht jeglicher Praxiserfahrung in der Arbeit mit Suchtkranken, speziell aber mit Drogenabhängigen. Der Behandlungsprozeß läuft hier ebensowenig wie die Entwicklung der Suchtkrankheit linear. Die Koppelung der Gewährung einer körperlichen Entzugsbehandlung stellt in der Regel eine Überforderung des Abhängigen hinsichtlich seiner Behandlungsmotivation dar. Von den Fachkräften der Drogenhilfe wird aufgrund der langjährigen Erfahrung festgestellt, daß allein die klinische Entgiftungsbehandlung für jeden Abhängigen schon einen Wert an sich darstellt. Sie sollte daher ohne besondere Auflagen und Vorbedingungen in Anspruch genommen werden können. Die Bestimmung, daß eine stationäre -•Entwöhnungsbehandlung nur dann gewährt wird, wenn der Abhängigkeitskranke motiviert ist (§ 2, Abs. 1 der Suchtvereinbarung), muß dringend revidiert werden. Die Praxis der Suchtkrankenhilfe belegt, daß oft erst die körperliche Entzugsbehandlung Suchtkranke für eine Entwöhnungsbehandlung motiviert. Es ist daher fachlich erforderlich, die bisher getrennten Zuständigkeitsregelungen aufzuheben und eine Gesamtrehabilitationsmaßnahme zu bewilligen. (Vgl. hierzu Frietsch 1987, S. 270ff. und Frietsch 1992, S. 140ff.). Ein zentrales Problem zwischen den Leistungsträgern einerseits und den Klienten und professioneller Drogenarbeit andererseits ist die Bestimmung, daß der Rentenversicherungsträger im Einzelfall Art, Ort, Umfang und Durchführung der Leistung zur Rehabilitation

Flashback

Fixen nach pflichtgemäßen Ermessen festlegt. Diese Bestimmung führt in der Praxis dazu, daß die geeignete Behandlung nicht aufgrund des Vorschlags der Fachkräfte der Suchtkrankenhilfe, sondern nach Aktenlage vom medizinischen Dienst der Rentenversicherungsträger ausgewählt wird. Fehlplazierungen und Entscheidungen lediglich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten können die Folge sein. Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe müssen in einem Verbundsystem zusammenarbeiten. Alle Angebote von -»Prävention, aufsuchender Arbeit (-»Streetwork und aufsuchende Arbeit), Krisenintervention, Beratung ( »Suchtberatung), medizinischer Hilfe, -»Substitution, ambulanter und stationärer medizinischer -»Rehabilitation, Adaption, Integration (-»Nachsorge) und -»Selbsthilfe, müssen so miteinander vernetzt werden, daß möglichst wenig Reibungsverluste an Schnittstellen entstehen, die zu -»„Rückfall-Fallen" für die Klienten werden können. Diese Vernetzung ist auch für die F. notwendig. Zukünftig sind Leistungsverträge für die bedarfsgerechte F. anzustreben. Die jährliche Beantragung und Bewilligung freiwilliger Leistungen läßt fundierte Hilfeplanung nicht zu. Über Leistungsverträge ist Planungssicherheit zu schaffen. F.-richtlinien müssen die strukturellen und fachlichen Erfordernisse des Verbundsystems der Suchtkrankenhilfe berücksichtigen, um nahtlose Übergänge ohne Zeitverzug sicherzustellen. „Freiwillige Leistungen" eignen sich nicht zur Suchthilfefinanzierung, da sie keinerlei Planungssicherheit zulassen. Die Suchtvereinbarung von 1978 muß unter Berücksichtigung der vorliegenden Erfahrungen und Schwierigkeiten den Erfordernissen der Praxis angepaßt werden, um ohne zeitliche Verzögerung die fachlich gebotenen Therapiemethoden anwenden zu können. Lit.: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Finanzierung

ambulanter Suchtkrankenhilfe - Handreichung - , Hamm 1997; Fach verband DROGEN UND RAUSCHMITTEL e. V., Hrsg., Standards im Verbundsystem der Suchtkrankenhilfe, Neuland, Geesthacht 1997; Fett, Α., Finanzierungssituation der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, (Hrsg.), Jahrbuch „Sucht '97", Neuland, Geesthacht 1996, 153-161; Frietsch, R., Die Crux mit den Kostenregelungen, in: Schaltenbrand, J., (Hrsg.), Familienorientierte Drogenarbeit, Heidelberg 1992, S. 140ff.; Frietsch, R„ Sohn, M., Drogenarbeit und Sozialrecht, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Rechtsfragen in der Suchtkrankenhilfe, Hoheneck, Hamm 1987, S. 270ff.; Grigoleit, H„ Hüllinghorst, R., Wenig, M., Handbuch Sucht, Asgard, St. Augustin 1989, 5. Lieferung 1993; Münder, J., Die öffentliche Finanzierung von Einrichtungen und Diensten der Drogen- und Suchtberatung freier Träger, hrsg. von der hamburgischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren e. V., Neuland, Geesthacht 1997. Jost Leune, Hannover Fixen Im allgemeinen Sprachgebrauch das intravenöse Zuführen einer - in der Regel illegalen - Substanz, häufig Heroin. Fixer Der Konsument intravenös zu injizierender Substanzen. Fixerstübli -»Druckraum Flash (engl. Blitz); F. ist ein jargonhafter Ausdruck für das blitzartige Einsetzen der Drogenwirkung, unmittelbar nach der Injektion. Flashback (engl.); Synonym: Nachrausch, Spätrausch oder Echophänomen. F. meint das erneute Rauscherleben ohne Dro253

Fliegenpilz genkonsum, das bei längerem Konsum von Cannabis, Amphetaminen und anderen Halluzinogenen auftreten kann. F. können von psychotischen Zuständen zum Teil durch ihr episodisches Auftreten, die häufig sehr kurze Dauer (Sekunden oder Minuten) und durch ihre (gelegentlich exakte) Wiederholung früherer Erlebnisse unter Substanzeinfluß unterschieden werden. Die Auslöser des Flashbacks sind noch weitgehend unbekannt. Diskutiert werden sensorische Reize, aber auch Assoziationen durch Gerüche oder das Hören von Musik oder ähnliche soziale Situationen wie im Drogenrausch. Fliegenpilz (Amanita muscaria) Der Fliegenpilz wächst in Europa und Asien und enthält -•Alkaloide. Regelmäßig als Rauschdroge verwendet werden Fliegenpilze heute wohl nur noch in Sibirien, am häufigsten in Kamtschatka. Die Fliegenpilze werden im Sommer gesammelt und roh gegessen, gelegentlich werden sie fünf bis sechs Tage im Wasser aufgeweicht und als Aufguß getrunken. Eine Dosis besteht aus einem großen oder zwei bis drei kleinen Pilzen und der Rausch dauert 8 - 1 0 , das Abklingen bis zu 48 Stunden. Wirkung: Veränderung der Raum- und Zeitvorstellungen, der Wahrnehmung, Sprache und Denken. Die Umwelt wird illusionär verkannt. Es kommt zu Halluzinationen, dem Gefühl innerer Zufriedenheit und Glück. Foederation der Drogenhilfe in Europa e.V. c/o Drogenhilfe Tübingen e.V. Die Foederation der Drogenhilfe in Europa e. V. wurde 1980 durch verschiedene Träger stationärer Einrichtungen für Drogenabhängige gegründet. Sie ist ein freier gemeinnütziger Verein. Ziele der Foederation sind: Internationaler Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen in der Drogenarbeit; Vertretung sozial- und gesundheitspolitischer Anliegen der Drogenarbeit europaweit; Beratung und Unterstützung von ambu-

254

Forensik lanten, teilstationären und stationären Einrichtungen der Drogenarbeit; Weiterentwicklung der konzeptionellen Ansätze und die Einbindung in die Praxisfelder; Förderung der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften; übergreifende praxisorientierte wissenschaftliche Begleitung sowie vergleichende und statistische Untersuchungen. Zweimal jährlich finden Mitgliedertreffen in den Einrichtungen der Foederation statt. Zudem organisiert die Foederation Tagungen zu aktuellen suchtspezifischen Themen und die Europäische Konferenz (euroTC). Die Zusammenkünfte und Tagungen dienen dem internationalen Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen der Drogenarbeit in Europa. Anschrift: Friedrichshof, 7 4 1 8 2 Obersulm, Tel.: 0 7 1 3 0 / 4 7 3 3 0 , Fax: 0 7 1 3 0 / 4 7 3 3 - 3 3 , e-mail: Friedrichshof@t-online. de - http://www.fdhe.ch/fhde Forensik (lat. von forum, Gerichtsort Öffentlichkeit.) Die forensische Psychiatrie und Psychologie beschäftigt sich mit der seelischen Verfassung eines Menschen zum Zeitpunkt einer Straftat. Ihre Aufgabe besteht darin, das Gericht so zu beraten, daß ein angemessener Schuldspruch möglich wird und wie ggf. positiv auf den Straftäter eingewirkt werden kann. 1. Rechtliche Vorgaben. Unser Gesetz ist ein Schuldstrafrecht. Nur ein Täter, welcher schuldig geworden ist, kann bestraft werden. Bei der Urteilsfindung hat das Gericht zusätzlich zu berücksichtigen, wie sich die Strafe auf das spätere Leben des Täters auswirken könnte: § 4 6 Abs. 1 StGB: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen." Der forensische Psychiater hat also eine doppelte Funktion. Er muß sich zur Frage der Schuld, aber auch zur Pro-

Forensik gnose äußern, sofern das vom psychiatrischen Fachgebiet her möglich ist. Ein Täter kann schuldfähig, eingeschränkt schuldfähig oder schuldunfähig sein. Festgeschrieben ist das in den folgenden Paragraphen: § 20 StGB: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinn oder einer anderen schweren seelischen Abartigkeit unfähig ist das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." § 21 StGB: „Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln aus einem der in § 20 bezeichneten Gründen bei der Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden." Neben oder anstelle einer Freiheitsstrafe kann das Gericht auch die Unterbringung eines Suchtkranken in einer Entziehungsanstalt anordnen. Für diese Entscheidung benötigt das Gericht eine fachliche Aussage zur Prognose. § 6 4 StGB Abs. 1: „Hat j e m a n d den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, daß er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird." Abs. 2: „Die Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint." Bei Abhängigen von Substanzen, die d e m Betäubungsmittelgesetz (BtMG) unterliegen, besteht eine weitere rechtliche Möglichkeit, den Straftäter einer Behandlung zuzuführen.

Forensik § 35 Abs. 1 BtMG: „Zurückstellung der Strafvollstreckung: Ist j e m a n d wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 2 Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, daß er die Tat aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens zwei Jahre, zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen und deren Beginn gewährleistet ist. Als Behandlung gilt auch der Aufenthalt in einer staatlich anerkannten Einrichtung, die dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken." In § 37 B t M G wird der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit eröffnet, von der Erhebung der öffentlichen Klage abzusehen, sofern keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe als bis zu zwei Jahren zu erwarten ist und der Täter sich bereits in einer Therapie befindet. Die unterschiedliche Behandlung von Alkohol- und Medikamentenabhängigen im Vergleich zu Betäubungsmittelabhängigen ist historisch begründet und sachlich keineswegs überzeugend. 2. Die Rauschmittelwirkung als Auslöser für eine Straftat. Die unterschiedlichen Rauschdrogen zeigen verschiedene, manchmal gegensätzliche Rauschbilder. Ein Rauschzustand ist grundsätzlich ein psychischer Ausnahmezustand, der sich beispielsweise mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges nicht verträgt. Abgesehen davon haben die unterschiedlichen Rauschdrogen jedoch eine sehr unterschiedliche kriminogene Bedeutung. 2.1 ->Alkohol. Durch die große Verfügbarkeit und durch seine Gefährlichkeit 255

Forensik ist der Alkohol zweifellos die risikoreichste Droge. 1993 spielte immerhin bei 42,4% der Totschlagsdelikte Alkohol eine mehr oder weniger starke Rolle, bei den Sexualmorden waren es sogar 52,9%. Ein Betrunkener ist in aller Regel in der Lage, das Strafbare seines Tuns zu erkennen. Er wird aber leichtfertiger und unsensibler. Persönlichkeitseigenschaften, die im nüchternen Zustand noch sicher den geltenden Normwerten entsprechen, verändern sich unter Alkohol ins Pathologische. Ethische und rechtliche Regeln verlieren ihre emotionale Bedeutung. „Das Über-Ich ertrinkt im Alkohol." Der v o m Alkohol berauschte steuert sein Handeln immer weniger über den Verstand und immer mehr durch das Gefühl. Das bedeutet eine Reduzierung der Steuerungsfähigkeit. Die Alkoholwirkung auf den Menschen ist keineswegs einheitlich. Wir unterscheiden: 1. die euphorische Auflockerung mit geringem Risiko für Straftaten, 2. die depressiv-dysphorische Verstimmung, bei der es zu reizbaren Entladungen und Aggressionen kommen kann, 3. die akzentuierend-katalysierende Reaktion, welche vorgegebene Grundstimmungen vertieft. Hier kann es etwa bei Partnerkonflikten zu schwerem aggressiven Verhalten kommen, 4. die toxische Reizoffenheit. Straftaten resultieren hier in aller Regel durch den Aufforderungscharakter der äußeren Situationen (Körperverletzung, Notzucht, Einbruchsdiebstahl etc.), 5. ungerichtetes Handlungsbedürfnis. Dabei stellt sich Umtriebigkeit ein und bestimmte Verhaltensweisen, auch strafbare, können sich einschleifen, wie Sachbeschädigung, aber auch Einbruchsdiebstähle oder Brandstiftungen. Die unterschiedlichen Rauschformen können also die vernunftgemäße Steuerung des Handelns erheblich beeinflussen, so daß eine A u f h e b u n g der Steuerungsfähigkeit oder eine erhebliche Reduzierung derselben entstehen kann. Bei der Bestimmung der alkoholischen 256

Forensik Beeinflussung spielt der exakt meßbare Blutalkoholgehalt in den Gerichtsverhandlungen eine wichtige Rolle. Der Blutalkoholgehalt wird jedoch von den Juristen in der Bedeutung weit überschätzt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat festgelegt, daß ab 2%o eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden könne. Diese Entscheidung ist sicher problematisch, berücksichtigt sie doch nicht ausreichend, daß alkoholgewöhnte Menschen bei einem solchen Promillewert keineswegs deutliche Einbußen im Verhalten zeigen müssen. Entscheidend ist das klinische Zustandsbild, und dieses sollte auch die wesentliche Bedeutung bei der Urteilsfindung haben. 2.2 »Cannabis. Straftaten, die in einem akuten Cannabisrausch begangen werden, sind außerordentlich selten. Der Cannabisrausch ist durch eine leicht gehobene Stimmung geprägt, die gelegentlich in Depressionen umschlagen kann. Der Antrieb ist aber eher reduziert, was der Begehung von Straftaten entgegenwirkt. 2.3 Halluzinogene. LSD, Psilocybin, Mescalin und vergleichbare Drogen verändern die Wahrnehmung und können zu angstbesetzten Wahnvorstellungen führen. Gelegentlich fühlt sich ein so Berauschter von Unbeteiligten verfolgt und wähnt sich angegriffen. Bei dem Versuch sich zu wehren, also das eigene Leben zu schützen, kann es in seltenen Fällen zu gefährlichen Angriffen, vielleicht sogar mit Tötung, auf Unbeteiligte k o m m e n . In solchen Fällen kann die Einsicht in das Strafbare des Tuns aufgehoben gewesen sein. 2.4 -»Heroin. Für den akuten Heroinrausch ist eine Euphorie mit A b n a h m e des Interesses, des Antriebs und der Aktivität typisch. Der Heroinrausch führt nur in extrem seltenen Fällen zu schwerwiegenden Straftaten. Selbstverständlich führt das Steuern eines Kraftfahrzeuges im Heroinrausch zu einer Gefährdung des Straßenverkehrs. Hier ist

Forensik aber die Einsicht und auch die Fähigkeit, sich der Einsicht entsprechend zu verhalten, drogenbedingt praktisch nie erheblich eingeschränkt. 2.5 -»Kokain. Der typische Kokainrausch läuft in drei Stadien ab. Zunächst k o m m t es zu einer Euphorie, dann zu einem Rauschzustand bei d e m die M ö g lichkeit besteht, daß der Rausch in paranoide Ängste umschlägt und schließlich das Stadium der Depression. Unter Kokainwirkung ist die körperliche Leistungsfähigkeit erhöht und der Antrieb gesteigert. In Verbindung mit paranoiden Ängsten und Aggressionen kann das sowohl die Einsichtsfähigkeit aufheben oder aber die Steuerung des Handelns bis zur A u f h e b u n g beeinträchtigen. Vergleichbare Situationen können auch bei den Aufputschmitteln, insbesondere den Amphetaminen und deren Derivaten (Ecstasy!) auftreten. 3. Die Sucht als Auslöser für eine Straftat. Sämtliche oben erwähnte Drogen können zu einer körperlichen oder psychischen Abhängigkeit führen. Im ICD 10 wird das Abhängigkeitssyndrom wie folgt definiert: „Es handelt sich um eine Gruppe körperlicher Verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der K o n s u m einer Substanz oder Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihm früher höher bewertet wurden. Ein entscheidendes Charakteristikum der Abhängigkeit ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu konsumieren." Kennzeichnend ist also der starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, sich Rauschmittel zu verschaffen. Dabei können körperliche Entzugserscheinungen eine Rolle spielen. Wichtiger ist aber das craving (Suchtdruck), also der direkte Drang, sich die gewünschte Droge um jeden Preis zu verschaffen. Daraus resultieren die häufigsten Straf-

Forensik taten von abhängigen Menschen. Es handelt sich um direkte oder indirekte Beschaffungsdelikte. Direkte Delikte haben das Ziel, unmittelbar an Rauschmittel zu k o m m e n (Apothekeneinbruch). Von indirekten Beschaffungsdelikten sprechen wir dann, wenn Straftaten begangen werden, die das Ziel haben, Geld für den Ankauf von Rauschmitteln zu beschaffen. Typischerweise handelt es sich hier um Kleinkriminalität wie Ladendiebstahl, Autoaufbrüche, aber auch Einbrüche und in seltenen Fällen Raub, sogar Raubmord ist möglich. Bei fast all diesen Straftaten ist der Abhängige durchaus in der Lage, das Strafbare seines Tuns zu erkennen. Der Tatbablauf gibt d a f ü r im allgemeinen sichere Hinweise (Weglaufen beim Erscheinen der Polizei, Vorsicht und Verbergen beim Warenhausdiebstahl). Zu klären ist lediglich die Frage, ob der Straftäter in der Lage war, sich seiner Einsicht entsprechend zu steuern. Hier ist eine messende, also eindeutige klare Abgrenzung nicht möglich. Hier helfen keine Blutanalysen oder Prozentberechnungen. Die Erhebung der Situation vor, während und nach der Straftat und das subjektive Erleben des Täters lassen uns einen Eindruck gewinnen, ob die Tat wohl und ruhig überlegt war und gelassen durchgeführt wurde, oder ob der innere Z w a n g so intensiv war, daß das Handeln nur noch teilweise von vernünftigen Erwägungen gesteuert wurde. In aller Regel ist die Steuerung nicht völlig aufgehoben, aber bei einem Süchtigen, der unter Entzug leidet oder massive Angst davor hat, ist die Steuerung des eigenen Verhaltens immer eingeschränkt, oft sogar, was für die Anwendung des § 21 StGB Voraussetzung ist, erheblich. Ein süchtiger Mensch leidet unter einer psychischen Erkrankung: Abhängigkeitserkrankungen wie auch akute Intoxikationen werden dem Merkmal der „krankhaft seelischen Störung" (§ 20 StGB) zugeordnet. Die Straftaten sind 257

Forensik also zumindest mitbedingt durch die Sucht. Daß auch noch Persönlichkeitsmerkmale hinzukommen müssen wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß keineswegs jeder Suchtkranke regelhaft kriminell wird. Beim Fortbestehen der Erkrankung sind normalerweise weitere vergleichbare Straftaten zu erwarten. O b diese Straftaten schwerwiegend sind, ist eine Entscheidung des Gerichtes. Der psychiatrische Sachverständige kann dem Gericht lediglich mitteilen, welche therapeutischen Maßnahmen empfohlen werden könnten, um die Abhängigkeit günstig zu beeinflussen, etwa die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Die Sondermöglichkeit bei Betäubungsmittelabhängigen läßt auch die Unterbringung in einer freien Therapieeinrichtung zu. 4. Straftaten bedingt durch Suchtfolgekrankheiten. Bestimmten Rauschdrogen wird angelastet, schizophrene Psychosen auslösen zu können. Eine eindeutige Kausalität ist allerdings bisher nicht beweisbar gewesen. Das Risiko für das Auslösen von Psychosen wird vor allem den Halluzinogenen zugeschrieben, in geringerem Maße auch Cannabis. Der längerfristige K o n s u m von Aufputschmitteln, insbesondere von Amphetaminen und Kokain, kann zu paranoiden Bildern führen. In diesen paranoiden Zuständen kann es zu schwerwiegenden Delikten k o m m e n . Tötungshandlungen sind nicht selten und typischerweise ist die Einsichtsfähigkeit aufgehoben, manchmal ist lediglich die Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Auch chronischer Alkoholkonsum kann zu psychotischen Störungen führen. Zu erwähnen ist die Alkoholhalluzinose mit vorwiegend akustischen Sinnestäuschungen, durch welche der Patient geängstigt und gequält wird. Es kann dann zu Gewalttaten gegen vermeintliche Verfolger kommen. Auch in diesen Fällen ist die Einsichtsfähigkeit aufgehoben. Eine besondere Form psychotischer Störung ist der alkoholische Eifersuchts258

Forensik wahn, in dessen Folge es zu Angriffen gegen den Partner k o m m e n kann. Auch bei diesen Fällen liegen in aller Regel die Voraussetzungen des § 20 StGB vor. 5. Zur Prognose. Bei der Aburteilung von Rauschmittelabhängigen sind die Prozeßparteien (Verteidiger, Staatsanwalt und Gericht) auf eine prognostische Beurteilung und auf Therapieempfehlungen durch den Sachverständigen angewiesen. Bedauerlicherweise gibt es bis heute kein halbwegs abgesichertes Instrumentarium, um die Prognose nach wissenschaftlichen Kriterien abzuschätzen. Mit und ohne Therapie k o m m t es in einem nicht geringen Prozentsatz zu Spontanremissionen der Abhängigkeitserkrankung. Immerhin wird die Prognose sicher durch eine kompetente Therapie verbessert. Besondere Schwierigkeiten hat der forensische Psychiater wenn er gefragt wird, ob die Anordnung einer Entziehungskur unterbleiben solle, weil diese von vornherein aussichtslos erscheine. Therapien sind Prozesse, die sich langsam entwickeln. So ist etwa die Motivation des Straftäters für eine Therapie keineswegs ein eindeutiges Kriterium. „Motivation" ist erstes Ziel der Behandlung, nicht die Voraussetzung. Allenfalls die Identifikation mit der kriminellen Rolle und die eindeutige Verweigerung, ein wie auch immer geartetes therapeutisches Bündnis einzugehen, sind Hinweis auf eine schlechte Therapieprognose. Diese Problematik hat sich durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs verschärft, nach der es einer positiven Prognosefeststellung bedarf, um eine Unterbringung gem. § 64 StGB im Maßregelvollzug anzuordnen. Damit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt der forensische Psychiater und Psychologe hoffnungslos überfordert. 6. Der Maßregelvollzug. Wird ein Mensch zu einer Behandlung im Maßregelvollzug g e m ä ß § 64 StGB verurteilt, so findet die Therapie üblicherweise in eigenen Maßregelvollzugskran-

Fort- und Weiterbildung kenhäusern statt. In aller Regel werden Abhängige von illegalen Drogen in gesonderten Einrichtungen behandelt. Die Behandlungszeit darf zwei Jahre nicht überschreiten, es sei denn, der Patient ist zu einer längeren Parallelfreiheitsstrafe verurteilt. Die Behandlungszeit im Maßregelvollzug wird auf eine Haftstrafe angerechnet. Das Behandlungsziel ist primär die Verhinderung weiterer Straftaten. „Sicherung durch Therapie." Der Beginn der Behandlung erfolgt unter geschlossenen Bedingungen, mit Fortschritten in der Therapie erhält der Patient zunehmende Freiräume. Neben den üblichen psychotherapeutischen Angeboten spielt die Arbeitstherapie eine wesentliche Rolle. Zusätzlich sollte der Patient die Möglichkeit haben, sich beruflich vor allem schulisch weiterzuqualifizieren. Die Arbeit mit Angehörigen gehört zum festen Behandlungsangebot. Jürgen Lotze, Lüneburg Fort- und Weiterbildung 1. Vorbemerkung. Fort- und Weiterbildungsprogramme in der Suchtkrankenhilfe beziehen sich in der Regel auf den postgradualen Bereich. Es geht also um Qualifizierungsprogramme, die erst nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung angestrebt werden können. Diese Qualifizierungsprogramme werden in der Regel von freien Trägern angeboten; eine staatliche Regulierung (durch berufsrechtliche Richtlinien), mit Ausnahme der Fachhochschulprogramme, gibt es nicht. 2. Definitionen 2.1 Postgraduale Fort- und Weiterbildung in der Suchtkrankenhilfe. Hierbei handelt es sich entweder um Fortbildungsprogramme (durchschnittlich 2 - 5 Tage Dauer), Weiterbildungsprogramme (von ca. 1 - 3 Jahren berufsbegleitend) oder postgraduale Studiengänge an Hochschulen oder Fachhochschulen (in der Regel bis zu 3 Jahren Dauer).

Fort- und Weiterbildung 2.2 Verknüpfung mit der grundständigen Berufsausbildung. Der Einführung von postgradualen Fort- und Weiterbildungsprogrammen in der Suchtkrankenhilfe (ca. ab 1970) lag die Erkenntnis zugrunde, daß die hier tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, Ärzte, Dipl.-Pädagogen und Dipl.-Psychologen) trotz ihrer fachspezifischen Berufsausbildung und ihres Studiums einer weiteren Qualifizierung bedurften. Mit der Verabschiedung des Grundsatzurteils des Bundessozialgerichtes vom 18.7. 1968 wurde eine Rechtslage geschaffen, die vorsah, daß nicht nur die körperlichen Folgeerscheinungen der Suchtkrankheiten, sondern auch das dazu führende süchtige Verhalten als Krankheit zu betrachten sind. Damit war neben den Kosten für eine notwendige -»-Entgiftung auch die sogenannte >Entwöhnungsbehandlung als legitime sozialrechtliche Leistung ( »Sozialrecht) in den Behandlungskontext einbezogen worden, auf die Suchtkranke einen Anspruch haben. Die Entstehungsbedingungen süchtigen Verhaltens werden nach wie vor unter der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Fachrichtungen gesehen, verstanden und interpretiert. Dazu gehört die Suchtmedizin, die Psychologie und Psychotherapie, die Soziologie und die Sozialpädagogik. Zu den psychologischen Betrachtungs- bzw. Zugangsweisen gehören u. a. verhaltenstherapeutische, systemtheoretische und psychoanalytische Ansätze. 1975 veröffentlichte die damalige Bundesregierung die sogenannte •„Psychiatrie Enquete 1975" und erhob darin die Forderung nach einer Qualifizierung von Fachkräften in der Versorgung Suchtkranker. Durch die unterschiedliche Sichtweise der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich ein bis heute noch nicht gelöstes berufsrechtliches Problem ergeben. So ist nicht entschieden, welche Berufsgruppe letztendlich die vorherrschende Entscheidung über Beratung, Behandlung und Betreuung 259

Fort- und Weiterbildung

Suchtkranker erhalten soll. Die Frage also, ob Sucht als primär medizinisches, psychologisches sozialwissenschaftliches oder sozialpädagogisches Phänomen zu verstehen ist und welche Berufsgruppe mit dem Auftrag zur Hilfe versehen werden soll, hat zu einer unklaren Gestaltung der beruflichen Kooperation der hier in Rede stehenden Gruppen und insbesondere deren Befugnisse geführt. Es ging um die Frage: - welche Berufsgruppe gemäß den klassischen Professionalisierungstheorien von Hughes (1971) im psychosozialen Feld der Suchtkrankenhilfe das gesellschaftliche Mandat hat, d. h. die gesellschaftlich zuerkannte Berufsrolle oder Aufgabe bekommt, Suchtkranke zu betreuen und zu behandeln und - wer, in diesem Zusammenhang stehend, damit über eine gesellschaftlich akzeptierte Lizenz verfügt. Mit „Lizenz" ist die wissenschaftliche Ausbildung gemeint, die auf die Vermittlung und Einhaltung wissenschaftlicher Standards abzielt und die für die Wahrnehmung dieser Aufgaben geeignet ist (in der Regel ist damit eine bestimmte Berufsausbildung gemeint). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gilt daher das sogenannte interdisziplinäre Modell, d. h. Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Dipl.-Psychologen und Mediziner arbeiten interdisziplinär zusammen. Allen Berufsgruppen ist gleich, daß die grundständige Ausbildung für diese fachbezogene Aufgabe nicht ausreicht. Sie muß im Rahmen einer postgradualen Qualifizierung nachgeholt werden. Professionelle Mitarbeiter haben also die Wahl zwischen der Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsprogrammen, um dieser Anforderung gerecht werden zu können. Im weiteren werden Fortbildungsprogramme und Weiterbildungsprogramme definitorisch vorneinander unterschieden und dargestellt. 2.3 Fortbildungsprogramme. Nach gängiger erwachsenenpädagogischer Definition handelt es sich bei Fortbildungs260

Fort- und Weiterbildung

Programmen um jene Lernkontexte, die der Auffrischung bereits vorhandenen beruflichen Wissens dienen. In Abgrenzung zur Darstellung von Weiterbildungscurricula in der Suchtkrankenhilfe geht es bei den Inhalten der kurzzeitigen Fortbildungsmaßnahmen: - um die Vermittlung fachspezifischen Wissens (z.B. Sozialrecht, Schuldnerberatung etc.); - um die Vermittlung von neuen Versorgungsstrukturen (z.B. das regionale Verbundsystem in der Suchtkrankenhilfe); - um das Kennenlernen neuer Therapieverfahren (ζ. B. Atemtherapie, konzentrative Bewegungstherapie etc.) und deren Adaptionsmöglichkeiten für die Beratung und Behandlung Suchtkranker; - oder um aktuelle Kenntnisse und Erfahrungen mit neuen Suchtmitteln (z.B. Wirkungsweisen von Ecstasy etc.). Fortbildungsmaßnahmen sind kurzzeitig, inhaltlich komprimiert und dienen der Wissensvermittlung. 2.4 Weiterbildungsprogramme. Im Rahmen einer Weiter- oder Zusatzausbildung in der Suchtkrankenhilfe hingegen soll eine neue oder zusätzliche Qualifizierung erreicht werden. Diese zielt in der Regel auf den Erwerb einer therapeutischen Kompetenz ab, deren Inhalte zwar eng mit der Berufsausbildung korrespondieren, aber dennoch inhaltlich und methodisch einen neuen beruflichen Erfahrungshintergrund aufbauen. Diejenigen Weiterbildungscurricula, die sich seit den sechziger Jahren in der BRD bewährt haben, sind berufsbegleitend strukturiert. Dem steht das bedarfsorientierte Bildungssystem, das bei grundständigen Berufsausbildungen dazu geführt hat, daß „Arbeiten" und „Lernen" voneinander abgekoppelt worden ist, gegenüber. Grundsätzlich ist zunächst einmal die Berufsausbildung zu absolvieren, ehe der Teilnehmer mit der beruflichen Tätigkeit beginnen kann. Dahinter steckt die bildungspolitische Überzeugung, daß die Aneignung neuen

Fort- und Weiterbildung Wissens, die Erfahrungsverarbeitung und Entwicklung neuer Kenntnisse und Fähigkeiten den besonders dafür zuständigen Institutionen (Schulen, Fachhochschulen oder wissenschaftliche Hochschulen) zuzuordnen ist. Der ursprüngliche naturwüchsige Zusammenhang von Arbeit und Lernen wurde damit jedoch aufgelöst, prinzipiell wurde - und wird auch heute - Lernen nicht mehr in unmittelbarer Verschränkung mit dem Arbeitsfeld organisiert. Dies hatte wiederum den Effekt, daß eine Polarisierung zwischen Lernen und Arbeiten entstanden ist, die die Umsetzung des Gelernten in die eigene Praxis zum Problem werden ließ. Da es sich im Arbeitsfeld Suchtkrankenhilfe um das Erlernen spezifischer therapeutischer Fähigkeiten handelt, die nur im eigenen Beruf umgesetzt werden können, wäre bei der Gestaltung von Weiterbildungsprogrammen eine solche Trennung zwischen Arbeiten und Lernen kontraproduktiv gewesen. Die therapeutische Befähigung, die durch die Teilnahme an einem Weiterbildungsprogramm erreicht werden soll, ist deshalb durch Spezifika gekennzeichnet. Die therapeutische Kompetenz umfaßt auch immer persönliche Kompetenz, ohne spezifische persönliche Voraussetzungen (Empathie, Fähigkeit zum Mitfühlen, Mitmenschlichkeit etc.) ist eine qualifizierte Arbeit im therapeutischen Bereich Suchtkranker nicht möglich. Diesen persönlichen Fähigkeiten ordnet sich dann das zu erwerbende Fachwissen zu. Der notwendige Lernprozeß sollte nicht in starren Sequenzen strukturiert sein, sondern vielmehr, j e nach Interessenlage und Engagement der Teilnehmer theoretische und methodische Arbeitsformen vermitteln, die ihn in die Lage versetzen, diese im eigenen Berufsfeld anzuwenden und zu überprüfen (berufsbegleitendes Curriculum). Auf einer Metaebene dienen diese Qualifizierungen insbesondere der Entwicklung und Ausdifferenzierung der: - Beziehungsfähigkeit (Empathie);

Fort- und Weiterbildung - Fähigkeit zur professionellen Einzelfallanalyse; - der Fähigkeit zur Analyse von Gruppenprozessen; - der Fähigkeit zum Engagement mit und für andere Menschen schlechthin (Helas und Reim 1988). 3. Theoretische Konzepte von Weiterbildungsprogrammen in der Suchtkrankenhilfe. Als Konsequenzen aus den inhaltlichen und berufspolitischen Vorüberlegungen mußten bei der Entwicklung von qualifizierten Weiterbildungscurricula folgende Elemente berücksichtigt werden: - Die Curricula mußten interdisziplinär ausgerichtet sein, um den einschlägigen Berufsgruppen aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Psychologie und Medizin eine gemeinsame Teilnahme zu ermöglichen. - Sie mußten ferner berufsbegleitend organisiert werden, um die Trennung zwischen Arbeiten und Lernen im Lernprozeß aufheben zu können. - Inhaltlich mußte es um die Vermittlung einer für die Behandlung Suchtkranker modifizierten Form der Psychotherapie gehen. - War es notwendig geworden, den 1975 veröffentlichten gesundheitspolitischen Forderungen des Bundes und der Länder bei der Gestaltung der Curricula Rechnung zu tragen. Zu diesen Richtlinien gehörten im Blick auf die Förderung und den Aufbau der Institutionen in der Suchtkrankenhilfe seit 1975 auch die Prüfung der Inhalte der Weiterbildungsprogramme durch den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR). Bei den theoretischen Konzepten fanden zunächst die modifizierte »Psychoanalyse (mit ihrer interaktioneilen Methode), die -•Verhaltenstherapie aber auch die Gestaltpsychologie, das Psychodrama und andere Arbeitsrichtungen Anerkennung. Der didaktische Aufbau wurde durch die Prüfkriterien des V D R bestätigt und 261

Fort- und Weiterbildung dient seither als Raster für neue Weiterbildungsprogramme in der Suchtkrankenhilfe. Danach m u ß das Curriculum mindestens 600 Stunden umfassen, anteilig mindestens V3 Selbsterfahrung (Wahrnehmungs- und Verstehenstraining), V3 Theorievermittlung und '/i fallzentrierte Arbeit oder Supervision. Selbstverständlich ist dieses Lehr- oder Lernsetting innerhalb der genannten psychotherapeutischen Fachrichtungen möglich. Es wurde ferner festgelegt, daß in einem Weiterbildungscurriculum nur jeweils eine psychotherapeutische Fachrichtung vermittelt werden soll. Dieser Vorgabe lag wiederum die Erkenntnis zugrunde, daß eine psychotherapeutische Arbeitsform nur dann sinnvoll gelernt und in die Praxis umgesetzt werden kann, wenn der/die Teilnehmerin genügend Zeit hat, das Gelernte in einer eigenen beruflichen Praxis zu erproben und auch emotional zu adaptieren. So gehören zu den psychoanalytisch orientierten Programmen folgende Inhalte: - psychoanalytische Entwicklungspsychologie und Entwicklungspathologie; - Theorien der allgemeinen und speziellen psychoanalytischen Neurosenlehre; - Theorie der Frühstörungen; - Theorie der Suchtsymptomatik sowie der psychoanalytischen Behandlungstechnik und Gesprächsführung. Ein verhaltenstherapeutisch orientiertes Weiterbildungscurriculum dagegen sollte enthalten: - Grundlagen verhaltenstherapeutischer Theorien (sozialkognitive Lerntheorie, verhaltenstherapeutische Krankheitsmodelle, Testtheorie, Theorien zu den verschiedenen Störungen der Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Theorien der kognitiven Verfahren); - Verhaltenstherapeutische Diagnostik und Intervention; - Techniken zur Bewältigung schwieriger Therapie- und Beratungssituationen; 262

Fort- und Weiterbildung - Umgang mit Rückfällen oder mit gering motivierten Patienten, Krisenintervention; - Reflektion der Klient-Therapeut-Interaktion auf der Basis verhaltenstherapeutischer Ansätze; - Bedeutung der Therapeuten variablen; - verhaltenstherapeutische Selbsterfahrung. 4. Z u s a m m e n f a s s u n g und Ausblick. Professionelle Fort- und Weiterbildungsprogramme in der Suchtkrankenhilfe, die den Prüfkriterien des V D R entsprechen, haben wesentlich zur Professionalisierung dieses Arbeitsbereiches beigetragen. Sie sind interdisziplinär angelegt und vermitteln in der Regel eine psychotherapeutisch beratende Kompetenz für die Arbeit mit abhängigen Menschen. Sie basieren auf einer bereits bestehenden Grundausbildung im Bereich Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Psychologie, Pädagogik und/ oder Medizin. Die Programme berechtigen nicht zu einer eigenen Niederlassung in eigener Praxis und beinhalten keine Zulassung zur Krankenkassenabrechnung. Sie qualifizieren lediglich für eine Tätigkeit in einer Institution (ambulante, stationäre, teilstationäre Suchtkrankenhilfe). Angesichts der aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklung wird es in der Zukunft in der Versorgung Suchtkranker zur Gründung von regionalen Verbundsystemen kommen. Dies bedeutet, daß die Mitarbeiter vor Ort stärker im Sinne der vernetzten Hilfe tätig werden müssen. Die Art und der Umgang mit solchen Versorgungssystemen wird in Zukunft stärker zum T h e m a von Fort- und Weiterbildungsprogrammen werden müssen. Dies entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit, die Kernaktivität, nämlich die therapeutisch-beraterische Kompetenz des Suchttherapeuten, auch weiterhin über qualifizierte Weiterbildungsprogramme vermitteln zu müssen. Lit.: Deutscher Bundestag, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bun-

Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen e.V. desrepublik Deutschland („Psychiatrie Enquete 1975"), Bonn 1975; Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe (Hrsg.), Weiterbildung zum Sozialtherapeuten, Kassel 1993; Helas, I. und Reim, Th., Lebensgeschichte, Weiterbildung und Professionalisierung, in: Heigl-Evers, Vollmer, Helas, Knieschewski (Hrsg.), Psychoanalyse und Verhaltenstherapie in der Behandlung Abhängigkeitskranker - Wege zur Kooperation? Wuppertal 1988, S. 253ff.; Hughes, E. C„ The Sociological eye, Aldine, Chicago u. New York, 1971; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR): Standards zur Beurteilung von Weiterbildungsprogrammen, in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 4, September 1992. Irene Helas, Kassel Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen e.V. Das Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen wurde 1986 von Beraterinnen, Therapeutinnen und Interessierten gegründet. Die Einrichtung ist eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter

Frauen Haftung und wird mit öffentlichen Geldern von der Stadt Frankfurt und dem Land Hessen unterstützt. Das Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen beschäftigt sich mit der Behandlung von Ess-Störungen und Eßsucht, ihren Ursachen und Erscheinungsformen. Die Arbeit besteht aus drei Schwerpunkten: eine Beratungsstelle bietet die Möglichkeit, daß sich Betroffene und Angehörige/Partnerinnen über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Eßstörungen informieren können; das Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen stellt Beratung und Therapie in Einzel- und Gruppenarbeit für den Raum FrankfurtRhein/Main zur Verfügung; es werden überregionale Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte und Interessierte in Form von Wochenend- und Tagesseminaren angeboten. Anschrift: Hansaallee 18, 60322 Frankfurt am Main, Tel.: 069/550176, Fax: 069/5961723 Frauen -•Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht

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Ganja

Genese

G Ganja Vorwiegend in Indien gebräuchliche Bezeichnung für -»Cannabis im traditionellen, kulturgebundenen Volksgebrauch. Generalprävention Sammelbezeichnung für eine Vielzahl unterschiedlichster pädagogischer, psychologischer, medizinischer und sozialpädagogischer Tätigkeiten und Maßnahmen, die die Verhütung ab- und ausweichenden Verhaltens zum Ziel haben: Mißbrauchs- und Suchtverhalten, Devianz, sexueller Mißbrauch usw. -»Prävention Genese 1. Je nach der Definition von Sucht ergeben sich unterschiedliche Perspektiven und Schwerpunkte im Verständnis der G. Vor allem über die Abgrenzung von Sucht und Abhängigkeit gibt es Differenzen: Teilweise gilt Sucht als Extremfall von Abhängigkeit oder umgekehrt Abhängigkeit als Extremfall von Sucht; oft wird Sucht durch Abhängigkeit ersetzt, am häufigsten findet man die synonyme Verwendung beider Begriffe, gelegentlich wird Sucht aber auch nur für die psychische oder die physische Abhängigkeit verwendet. Mit den Begriffen Sucht und Abhängigkeit werden oft verdeckt traditionelle Theorien der G. transportiert, die noch immer eine weite Verbreitung als Alltagstheorien zur Sucht haben. Mit Sucht verbindet sich häufig die aus der Wortbedeutungsgeschichte stammende moralische Dimension des Lasters, die einen schwachen Willen als Ursache annimmt und mit Abhängigkeit eine anthropologisch-philosophische Dimension, die der G. von Sucht ein menschliches Grundbedürfnis nach Abhängigkeit zugrunde legt. Beide Dimensionen vereinen sich in der äußerst allgemeinen, in der Drogenpolitik weit verbreiteten Theorie zur G., die sich auf die tri264

viale Tatsache beruft, daß niemand ohne Kontakt zu Drogen süchtig wird. Die erfolg-, aber nicht folgenlose paternalistische Konsequenz der Drogenpolitik ist, die Möglichkeiten des Kontakts prohibitionistisch einzuschränken. Aus grundsätzlicher Gegenposition läßt sich die G. entdramatisierend, die traditionellen Konnotationen der Begriffe Sucht und Abhängigkeit vermeidend als „normaler" Prozeß deuten, in dem suchtriskante Substanzen und Tätigkeiten als „riskante Chancen" (Keupp) der Freiheit persönlicher Entscheidungen und Süchtige als „Unfallopfer der Freiheit" und insofern als „Beweise für Freiheit" (Bochnik) verstanden werden können. Hier wird unter Sucht bzw. Abhängigkeit die fortgesetzte, zwanghaft bis zur Existenzgefährdung gesteigerte Begierde verstanden, etwas Bestimmtes zu tun, z.B. eine Droge (= sämtliche psychoaktiven Substanzen unabhängig von deren legalem Status) zu nehmen, an Automaten zu spielen usw., um einen bestimmten Erlebniszustand zu erreichen, der im Suchtprozeß gegenüber allen anderen Lebensinhalten und -zielen zum Lebensmittelpunkt wird. Daher gilt Sucht als psychische Störung. Sie kann durch körperliche Abhängigkeit von einer psychoaktiven Substanz (Toleranz, Entzugssymptome), durch zusätzliche, der Sucht vorangehende oder aus ihr folgende psychische Störungen (-»Komorbidität), den sozialen Kontext (soziokulturelle einschließlich juristische Wertungen, Alter und Geschlecht, soziale Lage, Familien- und Arbeitsverhältnisse) sowie durch subjektive Deutungen (Genuß, Problemlösungen) verkompliziert werden. G. von Sucht bezieht sich demnach auf einen biopsychosozialen Prozeß. 2. Auf die Frage, was die Ursachen von Sucht seien, d. h. wie sie entstehe, gibt es, ebenso wie auf die Frage, was Sucht sei, neben simplifizierenden Antworten die Aussage: „Wir wissen es nicht".

Genese

Genese Dies trifft zu. Auch wenn wir schon viele Teilkenntnisse haben, so fehlt es nach wie vor an einer umfassenden Suchttheorie, die schlüssig erklären könnte, warum von der Mehrheit der Menschen unserer Gesellschaft, die eine Droge probiert haben bzw. eine Tätigkeit intensiv ausüben, nur vergleichsweise wenige süchtig werden. Sind das Menschen mit einer zur Sucht disponierenden genetischen Anlage, mit einer allgemeinen Suchtpersönlichkeit bzw. bestimmten psychischen Störungen oder schlechten psychosozialen Bedingungen in der Biographie, mit traumatischen Erfahrungen, unbefriedigenden Sehnsüchten oder bedenkenlosem Risikoverhalten, sind sie Opfer oder/und Sündenböcke einer Suchtgesellschaft, der gesellschaftlichen Ungleichheit und Ausgrenzung, des zugespitzten Leistungswettbewerbs, einer unbefriedigenden Beziehung oder einer krankmachenden Familiendynamik, der Verführung durch andere Menschen oder durch die Werbung, der Orientierungslosigkeit im Wertepluralismus oder der modernen einseitigen Vernunftorientierung - oder sind es die sensibleren, phantasievolleren, kreativeren und daher verletzlicheren Menschen? Für diese und viele weitere Erklärungen zur G. gibt es mehr oder weniger überzeugende Argumentationen, von denen sich die meisten als Suchttheorien in etablierte theoretische Zusammenhänge einordnen, besonders genetische/ somatogenetische, psychologische/psychogenetische, sozialwissenschaftliche/ soziogenetische Ansätze. Suchttheorien, die sich auf monofaktorielle Ansätze beschränken, haben sich freilich nur bedingt bewährt und werden daher gewöhnlich zu multifaktoriellen Ansätzen verbunden. Am bekanntesten ist die „Trias der Entstehungsursachen der Drogenabhängigkeit" (Ladewig 1979: 18; siehe Abb. 1), die in der Fachliteratur in zahlreichen Varianten aufgenommen worden ist. Sie verbindet die Faktoren Mensch, Mittel und Milieu.

Abb. 1: Trias der Entstehungsursachen der Drogenabhängigkeit PERSÖNLICHKEIT

/

Familiengeschichte frühkindliches Milieu sexuelle Entwicklung \ a k t u e l l e Streßsituation

DrogenmißbrauchΝ

I

Drogenabhängigkeit DROGE

SOZIALES MILIEU

Art der Applikation Dosis Dauer Griffnähe Gewöhnung (Toleranz)

familiäre Situation Beruf Wirtschaftslage Sozialstatus, -mobilität Gesetzgebung Religion Einstellung zur Droge Werbe- und Modeeinflüsse Konsumsitten

Da dieses Modell zu statischen Aussagen tendiert, wird verstärkt versucht, dynamische Modelle zu entwickeln, die G. und Verlauf von Sucht als Prozeß aufeinander folgender Entscheidungsschritte verstehen, in dem zahlreiche Faktoren in den einzelnen Phasen unterschiedliche Wirkungen entfalten können. In diesem Zusammenhang wird immer deutlicher: (a) Die identifizierten Faktoren sind nicht als Ursachen im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu verstehen, sondern als ein Wechselwirkungsverhältnis, in dem Subjekte biographisch und situativ motivierte Entscheidungen treffen, (b) Der süchtige Gebrauch von Drogen wie analog auch sonstiges süchtiges Handeln ist eine von mehreren Phasen mit fließenden, einander überlappenden Übergängen in diesem Prozeß, der eine Vorgeschichte hat und insgesamt aus Einstieg, Fortsetzung und Gewöhnung, Sucht sowie Ausstieg besteht. 3. Ein empirisches Beispiel für den Gesamtprozeß auf epidemiologischer Ebene und für die Identifizierung der 265

Genese

Genese

Phase, in der Sucht manifestiert wird, bietet die in Abb. 2 dargestellte Erhebung. Der dort im Fallbereich illegaler Drogen (meist Cannabis) dargestellte Verlauf wird durch andere, im Prinzip gleichsinnige Ergebnisse zum (noch legalen) Zigarettenkonsum bestätigt: 1993 hatten über zwei Drittel (71%) der 21-25jährigen Jugendlichen jemals geraucht; aktuell rauchten noch die Hälfte (49%), gut ein Drittel (38%) regelmäßig; ein Fünftel (20%) rauchten 20 und mehr Zigaretten täglich (nach BZgA 1994: 31, 34). Süchtiger Umgang mit Drogen ist ein potentielles Problem jenes Teils von Drogenkonsumenten, die diese regelmäßig nehmen (hier: von allen Jugendlichen 4% bei illegalen Drogen bzw. 20% beim Rauchen), wobei die operationale Definition im Falle illegaler Drogen „mehr als 20 mal im letzten Jahr" weiten Spielraum für die Diagnose Sucht läßt, während die entsprechende Definition für den Tabakkonsum „20 und mehr Zigaretten täglich" üblicherweise den süchtigen Konsum beschreibt. 4. Der epidemiologische Verlauf verweist auf das Phasenkonzept der Suchtkarriere als Prozeß mit situativen und psychosozialen Faktoren, in dem schrittweise über das weitere Handeln entAnteil an allen Jugendlichen 100% 41 %

schieden wird und in jeder Phase unterschiedliche Erklärungen für das Handeln in Betracht zu ziehen sind. 4.1 In der Einstiegsphase stehen die Neugierde und Risikobereitschaft junger Menschen im Vordergrund, die selbst nicht als Faktor der G. zu betrachten sind. Da aber suchtriskante Substanzen und Tätigkeiten für Kinder und junge Jugendliche meist verboten sind, kann der „Verbotene-Frucht-Effekt" schon in dieser Phase in einer die G. mitbedingenden Weise wirksam werden: Durch eine zu rigorose prohibitionistische Politik und Erziehung können der Wert und die Erwartungen an die Droge bzw. Tätigkeit verstärkend überhöht und so im Dienste jugendlicher Identitätsfindung, ihrer Oppositions-, Selbstdarstellungs-, Autonomie- und Zugehörigkeitsbedürfnisse instrumentalisiert werden. Die an pathologischen Erklärungsansätzen orientierte Meinung, Drogenkonsum sei schon in seinem Beginn als Notsignal und Symptom von Persönlichkeitsstörungen zu interpretieren, auf die mit selbsttherapeutischen Maßnahmen reagiert werde, trifft in dieser ersten Phase in der Regel nicht zu, wird aber in der zweiten Phase bedeutsam. Welche Drogen bzw. Tätigkeiten in dieser Phase das Interesse der Jugendlichen reizen, hängt

Folge von Entscheidungssituationen vom Kontakt bis zum regelmäßigen Konsum

alle 12- bis 25jährigen Jugendlichen haben illegale Drogen angeboten bekommen (die übrigen sind nie in Kontakt mit illegalen Drogen g e k o m m e n )

21 %

Anteil an der vorigen Gruppe aller Jugendlichen

haben illegale Drogen beim ersten (20%) oder einem späteren (32%) Angebot probiert (die übrigen haben auch wiederholte Angebote abgelehnt)

41 % (59%) 52% (48%)

9%

konsumierten zur Zeit illegale Drogen, meistens Cannabis

43%

(die übrigen haben den Probierkonsum wieder aufgegeben)

(57%)

4%

konsumierten zur Zeit regelmäßig, d. h. mehr als 20mal im letzten Jahr, illegale Drogen (die übrigen konsumierten gelegentlich)

40% (60%)

Abb. 2: Der epidemiologische Verlauf des Umgangs 12- bis 25jähriger Jugendlicher mit illegalen Drogen in den alten Bundesländern (nach B Z g A 1994: 57)

266

Genese weitgehend von allgemeinen sozio- und spezifischen subkulturellen Gegebenheiten ab. 4.2 Die Entscheidungen zur Fortsetzung und G e w ö h n u n g ergeben sich aus der Kosten-Nutzen-Abwägung, wobei weder die Willensstärke noch die Vernunft allein ausschlaggebend sind, sondern die gesamte subjektive Einschätzung der Lust-/Unlust-Bilanz des Probierhandelns. Die schon vor d e m Einstieg vorhandenen Einstellungen und Erwartungen werden im Probierhandeln oft nicht bestätigt. Es folgt der frühe Abbruch der Karriere oder die Fortsetzung, in der versucht wird, die erwarteten Wirkungen zu erzielen bzw. an konkrete Erfahrungen anzupassen. Erst danach kommt es zur Gewöhnung, in der gelernt werden kann, suchtriskante Drogen und Tätigkeiten genußorientiert zu erleben und so die Sucht zu vermeiden - jedoch: der Genuß bleibt riskant. Besonders unter den soziokulturellen Bedingungen des Wertes von Effektivität kann durch Steigerung und Intensivierung der Konsum- bzw. Tätigkeitsmuster der Genuß ad absurdum geführt und die Sucht gefördert werden. Da für Jugendliche Probleme und Konflikte mit der Umwelt und mit sich selbst typisch sind, kann aber auch gelernt werden, Drogen und Tätigkeiten „erfolgreich" zur Lösung von Problemen unterschiedlichster Art und Schwere zu nutzen. So beginnt in der Regel die eigentliche G., indem Menschen ihren Drogenkonsum bzw. ihre Tätigkeit im Dienste der aktuellen Lebensbewältigung und als (Ersatz-)Befriedigung für fundamentale Bedürfnisse instrumentalisieren. Diese situativen Entscheidungen werden sich um so wahrscheinlicher zur Sucht verfestigen, j e mehr sich die Belastungen in ihrer subjektiven Bedeutung biographisch kumulieren und j e geringer die persönlichen und sozialen Ressourcen zur Bewältigung sind. Hierbei sind Vorbilder für suchtriskante Bewältigungsstrategien vor allem in Familie und Gleichaltrigengruppen besonders einflußreich.

Genese Zugleich werden bei Drogenkonsumenten in dieser Phase neurochemische und molekularbiologische Veränderungen des Neurotransmitterhaushalts einsetzen, die dann als eigenständiger Faktor der G. wirken. Soweit genetische Defizite oder Störungen in diesem Bereich als Faktor der G. in Frage kommen, werden sie wahrscheinlich schon hier die Lernprozesse beschleunigen. Schließlich ist damit zu rechnen, daß die Reaktionen der sozialen Kontrolle das suchtriskante Handeln als Abweichung stigmatisieren und damit eine Dynamik von Zuschreibungen, Schuldgefühlen, Verleugnung und Ausgrenzung in Gang setzen (siehe Abb. 3), die den Absichten von Hilfe und Kontrolle zuwider dieses Handeln verfestigen und den Suchtprozeß fördern. Etwas anders sehen die Prozesse im mittleren und fortgeschrittenen Erwachsenenalter aus. Hier baut die G. vermutlich meist auf einem schon erreichten Niveau kontrollierten Umgangs mit suchtriskanten Substanzen als Genußmittel oder als leistungsförderndes und stimmungsausgleichendes Hilfsmittel im täglichen Lebenskampf auf und eskaliert in diesem Sinne oder als Folge schwerer kritischer Lebensereignisse (z.B. Arbeitslosigkeit, Familientrennung) sowie anhaltender Demoralisierung. 4.3 Die eigentliche Phase der Sucht ist erreicht, wenn die in der vorhergehenden Phase erlernte suchtriskante Problemlösung alternative Bewältigungskompetenzen, die in der Vorgeschichte nicht ausreichend gelernt werden konnten, mehr oder weniger verdrängt und nun selbst zunehmend zum Problem wird. Vielfach wird diese Phase nicht mehr zur G. gerechnet, obwohl erst hier der entscheidende Teufelskreis der Sucht entsteht, der zu dem Bild der Verelendung führen kann, das mit ambivalenten Effekten als auswegloser Zustand der Abschreckung dient und wegen des damit verbundenen Leidensdrucks als Wendepunkt für den Ausstieg gilt. Für 267

Genese

Genese Η ilfen

Interaktionen Regelverletzung,

Eine Person fällt mit einem Merkmal, einer Eigenschaft,

X irinl-t ,,,νι,.1 lel

Alkohol

Negative

Auffälligkeit einer Handlung auf, die als Makel, als Regelverletzung interpretiert werden kann

Bewertung, X

ist Alkoholiker

Prävention zur V e r m e i d u n g der Auffälligkeit, Zielgruppe: potentielle Konsunientinnen u. Konsumenten Klärung der realen Situation des Klienten und ggf. Unterstützung beim Lösen des z u g u n deliegenden Problems

Stigma

Es folgt eine soziale Reaktion mit negativer Bewertung dieses Merkmals, die den ProzeB stoppen oder als Stigma den Fortgang wesentlich beeinflussen kann.

Prävention zur Aufklärung, Zielgruppe: Eltern, Lehrer, soziale Helfer, Polizisten... Unterstützung bei der A b w e h r des Stigmas und bei der L ö s u n g des ursprünglichen P r o b l e m s

Zusätzlich zu der beobachteten Auffälligkeit werden der betroffenen Person weitere, nicht beobachtete negative Merkmale zugeschrieben

Prävention zur Entdramatisier u n g , Zielgruppe: Multiplikatoren, Meinungsführer, Unterstützung bei der A b w e h r von Zuschreibungen und bei der Lösung des primären Problems

Generalisierung und auch sonst ein übler Mensch

Selbststigmatisierung, Ich bin Alkoholiker und

Randgruppe,

Identifikation

Die betroffene Person übernimmt die ihr aufgedrängte Identität, stigmatisiert sich selbst und sucht ihre Erfolgserlcbnisse auf dein Gebiet des abweichen den Handelns, das abweichende Handeln V erlestigt sich

abweichende

Lebensweise

Die soziale U m g e b u n g sieht sich in ihrer Beurteilung Gruppen ähnlich bestätigt und identifiziert die betroffene Person als Mitglied Betroffener an, einer abweichenden G r u p p e mit abweichender, eventuell bei denen ich subkultureller Lebensweise

schließe mich

akzeptiert werde.

Ausgrenzung,

totale

Akzeptieren des Klienten und Unterstützung alternativer Beziehungsangebote. Beratung, Förderung der Problemlösungskompetenz Schadensminderung, Motivation und Therapie

Institution

Als Mitglied der Randgruppe, A l k o h o l i k e r s i n d die gesellschaftlich als soziales , . Problem definiert ist, wird die Krank, betroffene Person - iin extrem sie müssen 111 eine in totalen I n s t i t u t i o n e n ausgegrenzt,

Anstalt.

Unterstützung der Identität des Klienten: Fördern einer realistischen Selbsteinschätzung und unterstutzen seiner Stärken. Beratung, Förderung der problemlösungskompetenz, Motivation, Therapie

behandelt, verwahrt.

Soziale Arbeit zur Lebenshilfe, Unterstützung zur Schadens„linderung bzw. zur U n t e r brechung des 'Teufelskreises". Niedrigschwellige B e r e i t u n g , alternative Erfolgserlermisse, Substitution, Therapie

Abb. 3: Stigmatisierung und Ausgrenzung (Loviscach 1997: 55)

den Teufelskreis am bekanntesten ist die Bekämpfung der Entzugssymptome körperlicher Abhängigkeit von Drogen als nunmehr zentrale Motivation zum weiteren und verstärkten Konsum. Entsprechende Prozesse der Selbstverstär268

kung einer Sucht finden sich auch bei anderen Suchtformen. Die nun regelmäßig und intensiv eingreifenden psychosozialen Prozesse von Stigmatisierung, Selbststigmatisierung und Ausgrenzung fördern und erweitern

Genese den Teufelskreis nachhaltig. Dies wird bei iiiegalisierten Drogen am deutlichsten, wenn die extrem starke Stigmatisierung durch Illegalität (neben vielen weiteren Folgen) Drogenszenen entstehen läßt, die wechselnde Verfügbarkeit der Droge Mehrfachabhängigkeit zur Folge hat, der hohe Preis der Droge zu gesundheitlicher Vernachlässigung sowie zu Schulden, Beschaffungskriminalität und Hafterfahrungen führt und die Konsumbedingungen schwere Infektionskrankheiten nach sich ziehen. Bei anderen Suchtformen, die nicht an illegale Substanzen oder Tätigkeiten anknüpfen, aber in der Regel als abweichend stigmatisiert sind, finden wir entsprechende, aber gewöhnlich weniger weit gehende Prozesse. Weitere wesentliche Faktoren des Teufelskreises sind die sozialen, psychischen und physischen Begleit- und Folgeerscheinungen einer Sucht, die bei allen für verschiedene Suchtformen spezifischen Unterschieden Gemeinsamkeiten der sozialen Desintegration, der Destabilisierung und Veränderung der Persönlichkeit sowie der Gefährdung der Gesundheit aufweisen. Schließlich spielen auch die Institutionen der Hilfe eine Rolle, die dazu beitragen, den Teufelskreis zu unterbrechen, ihn aber auch verstärken können, besonders wenn sie zur Selektion in motivierte und nichtmotivierte oder gar „therapieresistente" Klienten/Patienten tendieren und so bei einem Teil ihrer Klienten die Sucht mit dem Effekt verfestigen, daß der Leidensdruck in Demoralisierung mündet. 5. Die einzelnen Suchttheorien haben für die helfende Praxis eine in doppelter Hinsicht ambivalente Bedeutung: Neben ihren informativen und handlungsleitenden Aussagen verführen sie erstens leicht zur selektiven Wahrnehmung der Situation und der Bedürfnisse von Klienten und dementsprechend zu einseitigen Hilfeprogrammen nach dem Motto „schaden wird es nicht"; zweitens tendieren sie, je nach ihrer fachwissen-

Genese schaftlichen Herkunft, dazu, sich bevorzugt an den Kompetenzen der entsprechenden Berufsgruppen (Mediziner, Psychologen, Sozialarbeiter/-pädagogen u. a.) zu orientieren und so die unbedingt erforderliche gleichberechtigte Kooperation im multiprofessionellen Team zu erschweren. Als integratives Modell, in dem im Prinzip alle Theorien zur G. ihre relative Bedeutung entfalten können, hat sich für die praktischen Bedürfnisse das Karrieremodell eines in Phasen verlaufenden Prozesses von Entscheidungsschritten bewährt. Ein Problem bleibt, daß viele in sich schlüssige Suchttheorien wenig über die einzelnen Phasen des Prozesses und den frühzeitigen Ausstieg aussagen, da sie sich oft zu stark am ( E n d z u stand des Süchtigen orientieren und von dort rückblickend die als Faktoren der G. identifizierten Belastungen deterministisch interpretieren. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß dieser Eindruck oftmals nicht den ursprünglichen Aussagen entspricht, sondern das Ergebnis einer simplifizierenden Rezeption ist. Ein tragisches Beispiel ist die aus Theorien über die G. und den Verlauf von Suchtprozessen abgeleitete Auffassung, die Motivation zum Ausstieg hänge proportional von der Stärke des Leidensdrucks ab, die dazu geführt hat, daß es nach wie vor äußerst schwierig ist, für minderjährige Drogensüchtige therapeutische Hilfe zu finden, bevor der Teufelskreis der Sucht zur Verelendung geführt hat. Ein hoffnungsvolles Beispiel ist die Prävention, die seit Mitte der 80er Jahre aus der Unterscheidung verschiedener Phasen der Suchtprozesse und entsprechend unterschiedlicher Bedingungen der G. in Theorie und Praxis den Schluß gezogen hat, anstelle der traditionellen prohibitionistischen Drogenprävention auf die Möglichkeiten einer sozialpädagogischen Suchtprävention zu setzen. An dieser Stelle ist schließlich auf einen Zusammenhang aufmerksam zu machen, den die Suchttheorien aufgrund 269

Genetik

Genetik

ihrer Spezialisierung fast regelmäßig übersehen: Die jugendliche Neugier und Risikobereitschaft richtet sich auf viele weitere riskante und abweichende Handlungen, die alternativ angesteuert werden können, wenn die Suchtrisiken allzu spezifisch unterbunden werden. Die politische Praxis, die die Rahmenbedingungen der Hilfe gestaltet, hinkt allerdings noch weit hinterher. Wenn auch hier ein integriertes Phasenmodell der G. beachtet würde, müßten erstens und hauptsächlich die politischen Prog r a m m e zur Minderung von Belastungen im Kindes- und Jugendalter und zur Entwicklung von allgemeinen Lebenskompetenzen und Fähigkeiten entscheidend verbessert werden. Und zweitens müßte im Bereich der iiiegalisierten Drogen die prohibitionistische Orientierung gegenüber den Drogengebrauchern einer pragmatischen Orientierung weichen. Lit.: B Z g A Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland. Wiederholungsbefragung 1993/94, Köln (Vervielf.) 1994; Hurrelmann, K. u. Bründel, H., Drogengebrauch - Drogenmißbrauch. Eine Gratwanderung zwischen Genuß und Abhängigkeit, Darmstadt 1997; Ladewig, D. u. a., Drogen unter uns. Medizinische, psychologische und juristische Aspekte des Drogenproblems unter Berücksichtigung des Alkoholund Tabakkonsums, München 3 1979; Loviscach, P., Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Sucht. Eine Einführung, in Zusammenarbeit mit R. Lutz, Freiburg 1996; Scheerer, S., Sucht. Reinbek 1995. Peter Loviscach, Dortmund Genetik 1. Definitionen. Erst in jüngster Zeit sind substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen hinsichtlich ihrer familiären Übertragung im Rahmen von Adoptions·, Zwillings- und Familienstudien in den Blickwinkel des wissenschaft-

270

liehen Interesses gerückt. Die eher karge Literaturlandschaft bezüglich einer familiären Übertragung der Opiatabhängigkeit kontrastiert hierbei stark mit den relativ umfangreichen Befunden zu familiären und/oder genetischen Faktoren, die zur Alkoholabhängigkeit prädisponieren. Als Bedingungsfaktoren zur familiären Übertragung von substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen werden neben kausalen oder risikomodifizierenden Genen, Umgebungsfaktoren innerhalb von Familien (shared environment), individuumspezifische Umgebungsfaktoren sowie Interaktionen zwischen den vorgenannten Bedingungen (es könnten manche G e n e nur unter spezifischen Umgebungsfaktoren relevant werden) genannt. Im folgenden werden die bislang publizierten und wesentlichen B e f u n d e zur Genetik substanzgebundener Abhängigkeitserkrankungen zusammengestellt, wobei die Ergebnisse getrennt nach den einzelnen Forschungsstrategien (Zwillingsstudien, Adoptionsstudien, Familienstudien, Familienuntersuchungen mit molekulargenetischen Markern) und nach den häufigsten Störungsbildern dieser Gruppe, der Alkohol- und Drogenabhängigkeit, aufgeführt werden. 2. Familienstudien. Familienstudien untersuchen familiäre Häufungsmuster von Erkrankungen in Abhängigkeit von der Erkrankung des Indexfalles. In diesen Untersuchungen wird vorwiegend die Frage gestellt, ob eine Störung bei biologischen Angehörigen von Indexfällen häufiger auftritt als bei den Angehörigen von Personen ohne diese Störung oder bei vergleichbaren Personen aus der Allgemeinbevölkerung, wobei anhand von Familienstudien keine eindeutige Aussage getroffen werden kann, ob den familiären Häufungsmustern ausschließlich genetische Ursachen zugrunde liegen. 2.1 Ergebnisse aus Familienstudien: B e f u n d e zur Alkoholabhängigkeit. Die Lebenszeitprävalenz in der Allgemein-

Genetik bevölkerung für Alkoholabhängigkeit schwankt zwischen 9,9% und 21,8% bei Männern und zwischen 0,6% und 5,1% bei Frauen. Das Lebenszeitrisiko, an einer Alkoholabhängigkeit zu erkranken beträgt für Männer aus der Allgemeinbevölkerung (die nach 1953 geboren wurden) 22,2% und 9,5% für Frauen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich das Lebenszeitrisiko sowohl für Frauen als auch für Männer im Zeitraum zwischen 1938 und 1953 verdoppelt hat (Cloninger et al. 1989). Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung ist das relative Risiko für Angehörige von Alkoholabhängigen, selbst an einer Alkoholkrankheit zu erkranken, deutlich erhöht. Basierend auf schwedischen Familienstudien besitzen Angehörige 2. Grades von Alkoholabhängigen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung das relative Risiko von 2, Angehörige 1. Grades haben ein 3 - 4 fach erhöhtes Risiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Das relative Risiko bei monozygoten Zwillingen ist mit 10 am höchsten. Familienstudien belegen ohne Zweifel die familiäre H ä u f u n g von Alkoholabhängigkeit und Alkoholabusus, und zwar unabhängig vom Geschlecht des Indexfalles. Das Wiederholungsriskiko ist insbesondere bei Söhnen von alkoholabhängigen Vätern erhöht. 2.2 Ergebnisse aus Familienstudien: Bef u n d e zur Drogenabhängigkeit. Die Ergebnisse aus Familienstudien (Rounsaville et al. 1991) zeigen 1.) daß Angehörige opiatabhängiger Patienten häufiger eine Alkoholabhängigkeit, Drogenmißbrauch, Depressionen und antisoziale Persönlichkeitsstörungen aufweisen als die Allgemeinbevölkerung, 2.) daß Angehörige opiatabhängiger und depressiver Patienten häufiger depressiv oder ängstlich sind als Angehörige von opiatabhängigen Patienten ohne Depression und 3.) daß sich Angehörige opiatabhängiger Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung hinsichtlich der Häufigkeit psychiatrischer Störungen nicht von

Genetik Angehörigen opiatabhängiger Patienten ohne antisoziale Persönlichkeitsstörung unterscheiden. Die Häufigkeit von Drogenabusus bei Angehörigen 1. Grades Opiatabhängiger beträgt 5 - 1 4 % für Geschwister und 1 - 9 % für Eltern, wobei männliche Angehörige häufiger betroffen sind. Eine aktuellere Familienstudie von Merikangas et al. (1998) stellte fest, daß Angehörige 1. Grades von Patienten mit einer Abhängigkeit illegaler Drogen ein 8 fach erhöhtes Risiko (im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung) besitzen, ebenfalls an einer substanzgebundenen Abhängigkeitserkankung zu leiden, wobei Frauen eine stärkere familiäre Belastung als Männer besaßen. Die familiäre Häuf u n g von Drogenkonsum war unabhängig von der Komorbidität mit Alkohol oder antisozialer Persönlichkeitsstörung. Die Autoren postulierten daher voneinander unabhängige genetische Faktoren, die zur Alkohol- und Drogenabhängigkeit führen. Bezüglich der einzelnen Substanzen fanden die Autoren darüber hinaus eine Spezifität der familiären Übertragung. 3. Zwillingsstudien. Zwillingsstudien dienen der Abschätzung der genetischen Ursachen einer Erkrankung durch systematische Variation der genetischen Bedingungen: in diesen Untersuchungen werden genetisch identische monozygote Zwillinge mit dizygoten Zwillingen bezüglich des konkordanten bzw. diskordanten Auftretens einer Verhaltensvariante verglichen. Das Untersuchungsdesign setzt voraus, daß die familiären Umgebungsfaktoren (shared environment) sowohl für mono- als auch dizygote Zwillingspaare identisch sind, und daß individuelle, nichtfamiliäre Umgebungsfaktoren über die gesamte Population von Zwillingspartnern gleich verteilt sind. 3.1 Ergebnisse aus Zwillingsstudien: B e f u n d e zur Alkoholabhängigkeit. Seit 1981 wurden 5 Zwillingsstudien zur Alkoholabhängigkeit veröffentlicht, deren 271

Genetik Fallzahlen zwischen 8 und 730 variieren (Referenzen in: Maier, 1996). Die Konkordanzraten (i. e. Erkrankungsrisiko) sind bei monozygoten Zwillingen ( 2 5 - 5 9 % bei Männern und 8 - 2 6 % bei Frauen) bis um ein fünffaches höher als bei dizygoten Zwillingen ( 1 2 - 3 6 % bei Männern und 5 - 1 3 % bei Frauen). Während genetische Bedingungsfaktoren für Alkoholabhängigkeit bei Männern durch die Mehrzahl der Zwillingsstudien belegt sind, ist das A u s m a ß genetischer Einflüsse auf Alkoholismus bei Frauen weiter klärungsbedürftig. Varianzanalysen von Konkordanzraten kamen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, daß familiäre Umgebungsfaktoren (shared environment) für das Auftreten von Alkoholabhängigkeit vernachlässigbar sind, während individuumspezifische Umgebungsfaktoren (z.B. belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter) einen ähnlich starken Effekt wie genetische Faktoren ausüben. Aufgrund der bisher vorliegenden widersprüchlichen Befunde ist die Rolle familiärer Umgebungsfaktoren auf die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit (z.B. exzessives Trinkverhalten der Eltern) gegenwärtig nicht sicher entscheidbar. 3.2 Ergebnisse aus Zwillingsstudien: Befunde zur Drogenabhängigkeit. Die bisher größte Zwillingsstudie zur Drogenabhängigkeit, die systematisch nicht-klinische Stichproben untersuchte, wurde von Tsuang et al. 1996 publiziert und umfaßt 3372 männliche Zwillingspaare. Von dieser Stichprobe erfüllten 10,1% die DSM-III-R Kriterien für Drogenabusus oder -abhängigkeit (Lebenszeitdiagnosen). Ein signifikanter Unterschied der Konkordanzraten monozygoter (26,2%) und dizygoter Zwillinge (16,5%) deutet auf einen gentischen Einfluß bei der Entwicklung einer Drogenabhängigkeit hin. Bezüglich der einzelnen Substanzklassen waren lediglich die unterschiedlichen Konkordanzraten bei Marihuanaund Stimulantienmißbrauch statistisch 272

Genetik signifikant. Die Studie zeigte j e d o c h darüber hinaus, daß genetische Faktoren (34% der Varianz) nicht alleine ausschlaggebend sind, sondern daß auch individuumspezifische Umgebungsfaktoren (38% der Varianz) sowie familiäre Umgebungsfaktoren (28% der Varianz) eine ähnlich große Rolle spielen. 4. Adoptionsstudien. Adoptionsstudien untersuchen den Einfluß der systematischen Variation familiärer Umgebungsfaktoren auf Erkrankungsprävalenzen anhand verschiedener Forschungsstrategien: a) Vergleich der Prävalenzraten einer Erkrankung zwischen wegadoptierten Kindern von Merkmalsträgern und wegadoptierten Kindern von Eltern ohne dieses Merkmal. Die dadurch beobachteten Prävalenzunterschiede werden als genetisch bedingt interpretiert. b) Vergleich der Prävalenzraten zwischen biologischen Eltern von erkrankten Adoptivpersonen und biologischen Eltern von gesunden Adoptivpersonen. Sich hieraus ergebende Prävalenzunterschiede werden ebenfalls als genetisch bedingt interpretiert. c) Vergleich der Prävalenzraten zwischen wegadoptierten Kindern von erkrankten Eltern und deren nicht wegadoptierten Geschwistern. Beobachtete Prävalenzunterschiede werden hierbei als umgebungsbedingt (shared environment) interpretiert. 4.1 Ergebnisse aus Adoptionsstudien: B e f u n d e zur Alkoholabhängigkeit. Seit 1977 wurden 6 kontrollierte Adoptionsstudien zur Alkoholabhängigkeit veröffentlicht, wobei die Strichprobenumfänge zwischen 20 und 336 variieren (Referenzen in: Maier, 1996). Die Erkrankungsraten schwanken ζ. T. erheblich zwischen 19 und 61% für Männer sowie zwischen 2 und 50% für Frauen. Die Interpretation der Resultate von Adoptionsstudien bei weiblichen Indexfällen ist durch die geringe Prävalenzrate

Genetik

von Alkoholismus bei weiblichen Probanden erschwert. Aufgrund der neueren kontrollierten Adoptionsstudien kann die lange Zeit vorherrschende Meinung, der Alkoholismus sei eine ausschließlich durch Umgebungsfaktoren induzierte Verhaltensstörung, nicht weiter aufrecht erhalten werden. Neben der ätiologischen Bedeutung genetischer Faktoren für Alkoholismus sollte jedoch auf die Rolle risikosteigernder bzw. protektiver Umgebungsfaktoren hingewiesen werden. In diesem Zusammenhang postulierte Cloninger 1981 (Cloninger etal. 1989) auf der Basis einer schwedischen Stichprobe von männlichen Adoptivpersonen mit Alkoholismus zwei Subtypen, die sich durch eine verschiedenartige -»Komorbidität mit psychiatrischen Störungen auszeichnen: Der Typ-I Alkoholismus tritt häufig in Komorbidität mit Angsterkrankungen und Depressionen auf, ist vermutlich durch nur geringe genetisch vermittelte Prädisposition gekennzeichnet und offenbar vorwiegend durch Milieufaktoren induziert. Den Typ-Ii hingegen charakterisiert eine hohe familiäre Belastung mit Alkoholismus, antisozialem Verhalten und Kriminalität. Unter anderem sollen Typ-Ii Alkoholiker ausgeprägteres Novelty Seeking-Verhalten bei nur gering ausgeprägter Harm Avoidance und Reward Dependence besitzen. Zusammenfassend belegen Adoptionsstudien, daß genetische Faktoren für das Auftreten von Alkoholabhängigkeit bei Männern relevant sind, wobei anderen nicht-genetischen Faktoren eine ähnlich hohe Relevanz zukommt. 4.2 Ergebnisse aus Adoptionsstudien: Befunde zur Drogenabhängigkeit. Die bislang einzig publizierte Adoptionsstudie zur Drogenabhängigkeit (Cadoret et al. 1995) untersuchte 95 männliche Adoptierte, die unmittelbar nach der Geburt von ihren biologischen Eltern getrennt wurden, im Erwachsenenalter u. a. bezüglich Substanzgebrauch und -mißbrauch illegaler Drogen. Die ein-

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zelnen Substanzklassen wurden hierbei nicht unterschieden. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, daß es offenbar zwei genetische Übertragungswege für Drogenmißbrauch/-abhängigkeit gibt: Ein Weg führt offenbar direkt von der Alkoholabhängigkeit der biologischen Eltem zum Drogenkonsum bei den Nachkommen, während der zweite Übertragungsweg indirekt, ausgehend von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung der biologischen Eltern über intervenierende Variablen wie Aggressivität und Verhaltensstörungen während der Adoleszenz, zur Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung und Drogenabusus/abhängigkeit im Erwachsenenalter der Adoptierten führt. Der Drogenabusus oder die Drogenabhängigkeit stellt nach diesem Modell eine Spezialkonstellation der antisozialen Persönlichkeitsstörung dar. Umgebungsfaktoren wie beispielsweise psychiatrische Störungen in den Adoptivfamilien erhöhen davon unabhängig die Wahrscheinlichkeit der Adoptierten für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. 5. Familienuntersuchungen mit molekulargenetischen Markern bei substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen. Als wichtigstes Ziel genetischer Forschung gilt die Spezifizierung von Ursachen oder Risikofaktoren im menschlichen Genom. Prinzipiell sind hierbei zwei verschiedene Strategien bei der Identifikation von genetischen Polymorphismen (Varianten eines Genortes, verschiedene Allele), die das Risiko für eine Erkrankung modifizieren, möglich (einführender Überblick in: Propping et al. 1994): a) Kopplungsuntersuchungen, die prüfen, ob dieselbe Variante eines Genortes zusammen mit der Erkrankung innerhalb einer mehrfach belasteten Familie übertragen wird, b) Assoziationsstudien, die prüfen, ob in einer Stichprobe von miteinander nicht verwandten Merkmalsträgern 273

Genetik eine bestimmte Variante eines Allels als genetischer Marker häufiger als in der Allgemeinbevölkerung vorkommt. Die molekulargenetische Forschung auf dem Gebiet der substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen untersucht, welche Gene z u m Drogengebrauch prädisponieren, und welche bestimmten genetischen Polymorphismen die Vulnerabilität für eine Abhängigkeitserkrankung verändern können, in dem spezifische Allele sowohl mit anderen Genen als auch Umgebungsfaktoren interagieren (Uhl, 1999). 5.1 Ergebnisse genetischer Marker: Bef u n d e zur Alkoholabhängigkeit. Im Falle der Alkoholabhängigkeit wurden bislang überwiegend Assoziationsuntersuchungen durchgeführt. A m längsten bekannt und am besten untersucht sind genetische Polymorphismen von Enzymen, die bei der oxidativen Metabolisierung des Alkohols eine Rolle spielen: Der A D H 2 Lokus mit der ß 2 -Untereinheit der Alkoholdehydrogenase, A L D H 2 (Aldehyddehydrogenase) und die Cytochrom P450 Isoform (Cyp2 E l ) wurden als mögliche Kandidatengene untersucht (Agarwal, 1997). In asiatischen Populationen übt das A D H 2 - 2 Allel konsistent einen protektiven Effekt bezüglich der Entstehung einer Alkoholabhängigkeit aus; es erhöht allerdings das Risiko eines alkoholtoxischen Leberschadens bzw. alkoholbedingter Pankreatitis bei bereits alkoholabhängigen Patienten. Ähnlich verhalten sich Polymorphismen von A D H 3 und A L D H 2 - 2 (Whitfield, 1997), während die B e f u n d e zu Cyp2 E l weniger eindeutig sind (Maezawa et al. 1995). Als weitere Kandidatengene sind im besonderen Gene der dopaminergen Neurotransmission ( A l und A2 Allele des D R D 2 Rezeptors Gens) untersucht worden. Bisher existieren allerdings keine sicher replizierten Ergebnisse. Die inkonsistenten B e f u n d e sind offenbar Ausdruck von Stratifikationsartefakten, die bei Markersystemen mit starker po-

274

Genetik pulationsgenetischer Heterogenität besonders häufig auftreten können (Maier, 1996). In der erst kürzlich publizierten Kopplungsuntersuchung der C O G A Studie (Collaborative Study of the Genetics of Alcoholism) wurde der stärkste Hinweis auf Kopplung für Marker auf Chromosom 1 (p21-22), C h r o m o s o m 7 und einen mutmaßlichen protektiven Lokus, in enger Nachbarschaft mit den A D H Genen auf C h r o m o s o m 4 gefunden (Reich et al. 1998). Eine weitere Kopplungsuntersuchung bei einer Gruppe amerikanischer Indianer (Long et al. 1998) beschreiben positive Kopplungsb e f u n d e auf Chromosom 11p in der Nähe der D R D 4 Dopaminrezeptor und Tyrosin Hydroxylase (ΤΗ) Gene sowie, benachbart mit dem ß l G A B Α Rezeptor Gen, auf C h r o m o s o m 4p (pl 1—pl 3). Interessanterweise gibt es weitere Hinweise auf Kopplung bei der A D H auf Chromosom 4q, was jedoch zunächst noch nicht durch Multipoint-Analysen bestätigt werden konnte. 5.2 Ergebnisse genetischer Marker: Befunde zur Drogenabhängigkeit. Die Untersuchung von genetischen Varianten verschiedener an der Suchtentstehung beteiligter Transmittersysteme bei Opiatabhängigen stellt noch weitgehend ein offenes Forschungsfeld dar. Aktuell bereits publizierte Studien bedürfen zunächst einer Replikation (z.B. positiver Assoziationsbefund des Dopamin D 4 Rezeptor Exon III Allel 7 bei Heroinabhängigkeit). 6. Ausblick und Ziele genetischer Forschung. Substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen führen neben erheblichem subjektivem Leidensdruck, zu sozialen und gesundheitsökonomischen Folgekosten. Über die Ursachen von Abhängigkeitserkrankungen ist im einzelnen nur wenig bekannt. Lange wurden diese als vorwiegend sozial bedingt angesehen, was jedoch empirisch nicht belegt werden konnte. Präventive oder therapeutische Interventionen mit be-

Genußmittel

friedigender Wirksamkeit stehen derzeit noch nicht zur Verfügung. Die Erforschung der Ätiologie von Abhängigkeitserkrankungen und die darauf aufbauende Entwicklung effektiver präventiver und therapeutischer Interventionen stellt daher eine vorrangige Aufgabe dar. Die Identifikation mutmaßlicher Risikofaktoren durch systematische Suche nach Kandidatengenen und Kopplungsuntersuchungen sowohl bei Alkoholabhängigkeit als auch bei anderen Formen substanzgebundener Abhängigkeitserkrankungen, trägt langfristig zu einer besseren Prävention bei und bietet möglicherweise innovative Behandlungsansätze bei entsprechend vulnerablen Individuen. Lit.: Agarwal, D. P. (1997), Molecular genetic aspects of alcohol metabolism and alcoholism. Pharmacopsychiatry, 30,3, 79-84; Cadoret, R. J., Yates, W. R.. Troughton, E., Woodworth, G., Stewart, M. A. (1995), Adoption study demonstrating two genetic pathways to drug abuse. Archives of General Psychiatry, 52, 42-52; Cloninger, C. R„ Dinwiddie, S. H., Reich, T. (1989), Epidemiology and genetics of alcoholism. Review of Psychiatry, Vol. 8, 293-308; Long, J. C., Knowler, W. C., Hanson, R. L., Robin, R. W., Urbanek, M. Moore, E. Bennett, P. H., Goldman, D. (1998), Evidence foir genetic linkage to alcohol depndence on chromosome 4 and 11 from an autosome-wide scan in an american indian population. Am. J. Med. Genet. 81, 216-221; Maezawa, Y„ Yamauchi, M., Toda, G., Suzuki, H., Sakurai, S. (1995), Alcoholmetabolizing enzyme polymorphisms and alcoholism in Japan. Alcohol Clin Exp Res., 19, 951-954; Maier, W. (1996), Genetik von Alkoholabusus und Alkoholabhängigkeit, in: Mann, K. und Buchkremer, G. (Hrsg.), Sucht, Grundlagen, Diagnostik, Therapie, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, S. 85-97; Merikangas, K. R„ Stolar, M., Stevens, D. E., Goulet, J.,

Genußmittel

Preisig, Μ. Α., Fenton, B., Zhang, Η., O'Malley, S. S., Rounsaville, B. J. (1998), Familial transmission of substance use disorders. Arch. Gen. Psychiatry, 55, 973-979; Propping, P., Nöthen, Μ. Μ., Körner, J., Rietschel, Μ., Maier, W. (1994), Assoziationsuntersuchungen bei psychiatrischen Erkrankungen. Konzepte und Befunde, Nervenarzt, 65, 725-740; Reich, T„ Edenberg, H. J., Goate, Α., Williams, J. T., Rice, J. P., Eerdewegh, P. V., Foroud, T„ Hesselbrock, V., Schuckit, Μ. Α., Bucholz, K., Projesz, B., Li, Τ. K„ Conneally, M., Nürnberger, J. I. jr., Tischfeld, J. Α., Crowe, R. R„ Cloninger, C. R„ Wu, W„ Shears, S., Carr, K„ Crose, C„ Willig, C„ Begleiter, H. (1998), Genome-wide search for genes affecting the risk for alcohol dependence. Am. J. Med. Genet. 81, 207-215; Rounsaville, B. J., Kosten, Τ. R., Weissman, Μ. M., Prusoff, B., Pauls, D., Anton, S. F., Merikangas, K. (1991), Psychiatric Disorders in Relatives of probands with opiate addiction. Archives of General Psychiatry, 48, 33-4-2; Tsuang, Μ. T., Lyons, M. J., Eisen, S. Α., Goldberg, J., True, W., Lin, N., Meyer, J. M., Toomey, R., Faraone, S. V., Eaves, L. (1996), Genetic Influences on DSM-III-R drog abuse and dependence: a study of 3372 twin pairs. American Journal of Medical Genetics, 67, 473-477; Whitfield, J. B. (1997), Meta-analysis of the effects of alcohol dehydrogenase genotype on alcohol dependence and alcoholic liver desease. Alcohol & Alcoholism, 32, 613-619; Uhl, G. R. (1999), Molecular genetics of substance abuse vulnerability: a current approach. Neuropsychopharmacology, 20, 3-9. Wolfgang Maier und Petra Franke, Bonn Genußmittel Zu den G. zählen Kaffee und koffeinhaltige Getränke, Tee, Tabak und Alkohol, sie können bei längerer Einnahme mehr oder weniger abhängigkeitserzeugend sein. Ob eine Substanz zu den G. oder zu 275

Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe den Suchtmitteln gezählt wird, ist eine Frage der kulturellen und gesellschaftlichen Normen, die Zuordnung sagt nichts über die Gefährlichkeit einer Substanz aus und ist international sehr unterschiedlich. Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. (GVS) Der Gesamtverband der Suchtkrankenhilfe (GVS) ist der Fachverband des Diakonischen Werkes für den Bereich Sucht. Der GVS vertritt bundesweit die Interessen der diakonischen Suchtkrankenhilfe gegenüber Politik, Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit. Er koordiniert und unterstützt die Arbeit der in der Diakonie tätigen Verbände und Einrichtungen. Dem GVS sind Abstinenz- und Selbsthilfeverbände, ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachkrankenhäuser für Suchtkranke sowie Therapie- und Nachsorgeeinrichtungen für Suchtkranke angeschlossen. Der Gesamtverband gibt eine Vielzahl von Publikationen heraus, die über das Referat Öffentlichkeitsarbeit bezogen werden können. Zudem bietet der Gesamtverband ein verbandsübergreifendes Fort- und Weiterbildungsprogramm an. Anschrift: Kurt-Schumacher-Str. 2, 34117 Kassel, Tel.: 0561/109570, Fax: 0561/778351, e-mail:[email protected] http://www.sucht.org Geschichte des Alkohols Zu diesem Thema liegt eine vielfältige, aber eher unsystematische Literatur vor. So gibt es eine Fülle unterhaltsamer Bände, deren Zielgruppe vermutlich die Liebhaber jener Getränke sind. Nationalökonomen, Literaturwissenschaftler, Mediziner, Soziologen haben zu bestimmten Aspekten publiziert. Seit Tacitus' Germania 98 n. Chr. finden sich in historischen und völkerkundlichen Abhandlungen häufig Exkurse auf die Trinksitten in bestimmten Epochen und bei verschiedenen Völkern („Gegen den 276

Geschichte des Alkohols Durst zeigen sie nicht die gleiche Beherrschtheit. Wenn man ihrer Trinklust dadurch Vorschub leistet, daß man ihnen so viel zuführt, wie sie trinken wollen, wird man sie ebenso leicht durch ihre eigenen Laster wie durch Waffengewalt bezwingen können." CAP. XXIV). Die umfangreichste interdisziplinäre Sammlung von Abhandlungen liefern die drei Katalogbände zur Ausstellung „Rausch und Realität" (Völger & Welck 1982), die neben dem Alkohol auch andere Suchtmittel berücksichtigen. Aus soziologischer Sicht schildert Spode (1993) in „Die Macht der Trunkenheit" die gesellschaftliche Bedeutung und Bewertung des Alkohols und damit verbundener Probleme vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Auch von Medizinern und Psychologen stammen einige knappe Übersichten (z.B. Busch 1996; Feuerlein 1994; Petry 1983) sowie eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu Einzelaspekten. Beispielhaft können hier die Arbeit von Schwoon (1993) „Bekehren, Heilen, Ausmerzen, Begleiten" über den Umgang mit Alkoholikern, Petrys Bericht über die „Zwangssterilisation von Alkoholikern im Nationalsozialismus" (1992), der Sammelband über „Suchtkrankenhilfe in Deutschland" von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (1997) genannt werden. In unserer Übersicht werden wir auf die Entwicklung alkoholischer Getränke und des Alkoholismus im Laufe der Geschichte eingehen, Folgen und Funktionen des Trinkens in verschiedenen Epochen skizzieren und gesellschaftliche Kontroll- und Regulierungsversuche beschreiben. Auf einige wichtige Themen, wie die Verwendung von Alkohol in der Medizin oder die Entwicklung der Behandlung des Alkoholismus, kann hier nicht eingegangen werden. 1. Die Entwicklung alkoholischer Getränke und des Alkoholkonsums. Der Konsum mancher •psychoaktiver Substanzen ist auf geographisch eng umschriebene Regionen begrenzt, z.B.

Geschichte des Alkohols Khat oder •Betel. Bei anderen hat er sich zu bestimmten Zeiten aus einer Ursprungsregion weiterverbreitet, z.B. Tabak, -»-Kaffee. Wie ist dies beim Alkohol, der in unserer Zeit neben dem -•Nikotin die weltweit meist verwendete psychoaktive Substanz ist? Auf der Suche nach den Ursprüngen des Alkohols finden wir Hinweise in allen frühen Kulturen, die ausreichende Schriftzeugnisse hinterlassen haben. Dies gilt für China ebenso wie für Ägypten, wo er spätestens in den Texten der III. Dynastie u m 2 6 0 0 v. Chr. erwähnt wird, für die Keilschrift-Tontafeln AltMesopotamiens oder für die Linear-BSchrift der mykenischen Kultur des 2. Jahrtausends v. Chr. Ergänzt werden schriftliche Hinweise durch archäologische Funde, etwa G e f ä ß e für den Weingebrauch, die sich in China bis ins 2. Jahrtausend zurück datieren lassen. Noch weiter zurück verweisen zum einen die Mythen verschiedener Kulturen, in denen häufig der Alkohol und seine Folgen Erwähnung finden, etwa das Gilgamesch oder die Bibel. Z u m anderen können Schlüsse aus völkerkundlichen Untersuchungen, sog. „primitiver" Gesellschaften aus unserer Zeit, auf die Lebensweise früherer Völker gezogen werden, etwa von Indianerstämmen Süd- und Mittelamerikas, innerasiatischen Nomaden, Bewohnern der Inselwelt Ozeaniens. Zusammenfassend sprechen all diese Befunde dafür, daß Alkohol erstens schon in der frühesten Menschheitsgeschichte und zweitens wohl in allen Kontinenten getrunken wurde. Zunächst könnten Jäger- und Sammlergruppen zufällig oder durch Beobachtung von Tieren die Wirkung fermentierter Früchte, Körner, Honig oder Milch entdeckt haben (vgl. Watzl 1996). Die Entstehung von Alkohol ist ein natürlicher Vorgang bei einer Vielzahl von Pflanzen: Reis und Getreide, Weintrauben und Kirschen, Datteln, Zwetschgen, Beeren, Bananen, Kaktusfrüchte usw. (die optimale Alkoholausbeute wird bei Trauben erreicht). Gele-

Geschichte des Alkohols gentlicher Alkoholkonsum war also wohl immer und überall möglich, allerdings lange Zeit nur saisonal begrenzt (siehe auch Petry 1983). Von der Entwicklungsstufe einer Kultur hängt es dann ab, wieviel produziert werden kann, wie stark und rein das Getränk ist, wie lange es gelagert werden kann. Beim Wechsel von Sammler- auf Agrargesellschaften wurde die Versorgung mit Lebensmitteln sicherer und kalkulierbarer, aber nur in Zeiten, in denen deutlich mehr Kohlehydrate verfügbar waren als zum „nackten Überleben" benötigt wurden, konnten größere Personengruppen regelmäßiger Alkohol erhalten (Westermeyer 1989). Dies war für begrenzte Zeiten im alten China, in Alt-Ägypten und im antiken Mittelmeerraum der Fall. Ähnlich wie Kunst oder Schmuck ist Alkohol in diesem Sinne als Luxus anzusehen. Dabei war das leichter produzierbare, weniger haltbare und geringer alkoholische Bier eher das Getränk breiter Bevölkerungsschichten und nahm zeitweise die Funktion eines Nahrungsmittels ein, z.B. in Ägypten. Die erheblich aufwendigere Produktion von Wein machte diesen stets teurer und schon nach frühesten Quellen zum Getränk für besondere Anlässe und vornehme Kreise. Die weitere Entwicklung des Alkoholkonsums ist eng mit der Entwicklung der Agrarproduktion und Technik verknüpft, wobei quantitative wie qualitative Veränderungen zu verzeichnen sind. Eine bedeutsame qualitative Änderung von psychotroper Wirkung, möglichen toxischen Folgen, Abhängigkeitspotential, Haltbarkeit (und damit Verfügbarkeit) bedeutete die Destillation, mit der die Erhöhung der Alkoholkonzentration von 10% auf bis zu 80% möglich wurde. William Faulkner formulierte zynisch und prägnant: „destination is civilization". Es gibt Hinweise auf die Destillation von Traubenmaische in China noch vor unserer Zeitrechnung. Möglicherweise geriet diese Technik wieder ins Vergessen und wurde wiederentdeckt, 277

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da andere Autoren als Ursprung den arabisch-türkischen Kulturraum um 1000 n.Chr. nennen. Von dort verbreitete sich die Kenntnis rasch in den innerasiatisch-mongolischen Herrschaftsbereich, wo sich die Besonderheit destillierter Milchgetränke entwickelte, nach Süd- und Südostasien u. a. in Form destillierten Palmsaftes (Arak) und nach Europa. Den Grundstoff bildete hier Maische aus Getreide (z.B. Whiskey, Korn), Trauben (z.B. Cognac, Weinbrand), Früchten (z.B. Kirschwasser, Zwetschgenwasser) und später (vor allem nach der Kolonisierung Amerikas) Zuckerrohr (Rum) und Kartoffeln (z.B. Wodka). Bei der Destillation werden auch andere Alkohole und Begleitstoffe (z.B. Methanol, Butanole) konzentriert, welche zum Geschmack beitragen, aber auch toxisch wirken können. Andere technische Weiterentwicklungen waren eher unbedeutend. Zu nennen sind die Herstellung von Wein mit Kohlensäure (z.B. lao lai in Laos, Champagner in Frankreich), die Mischung von Wein und Opium zu Laudanum, vorwiegend zu medizinischen Zwecken, die Mischung von Säften, Wein, Destillaten mit Weingeist etwa zu Likören oder Gin. Die letzte qualitative Änderung bildete dann die synthetische Herstellung von Alkohol im 19. Jahrhundert. Wiederholt werden muß, daß unabhängig von der direkten technischen Entwicklung der Alkoholproduktion, der Alkoholkonsum wesentlich von der Nahrungsmittelproduktion bestimmt wurde. Davon hing letztlich der Preis für Wein, Bier, Spirituosen und damit die Verfügbarkeit für größere gesellschaftliche Schichten ab. Einen indirekten Einfluß übten technische Weiterentwicklungen zur Verbesserung der Haltbarkeit (z.B. Kühlung, Sterilisierung) und des Transports (z.B. Handelsschifffahrt, Eisenbahnen) aus. 2. Folgen von Alkoholismus. Aus heutiger Sicht ist die Alkoholabhängigkeit 278

Geschichte des Alkohols

der wichtigste Folgeschaden. Dabei handelt es sich aber um ein Problem, das gesellschaftlich gesehen, auf die letzten beiden Jahrhunderte beschränkt ist. Es finden sich zwar in den frühesten schriftlichen Berichten über Alkohol stets Hinweise auf Berauschung, Enthemmung, aggressive und sexuelle Handlungen unter Alkohol, Leistungsminderung, Verarmung, aber nicht auf die Symptome einer Alkoholabhängigkeit. Auf der anderen Seite wurden die positiven Folgen wie Stimmungshebung, Angstminderung, Kontaktförderung und Erlebensveränderungen bei religiösen und gesellschaftlichen Feiern geschätzt. So verwundert es nicht, daß sich in frühen chinesischen, ägyptischen, griechischen und römischen Schriften oder in der Bibel kritische Mahnungen und schroffe Ablehnung des Alkohols neben toleranten Haltungen und Lobpreisungen finden. Es entsteht auch manchmal der Eindruck, daß der Alkoholkonsum der Führungsschichten weniger bedenklich geschildert wurde, als jener breiter Bevölkerungskreise. Beispielsweise wird auf ägyptischen Tafeln ohne einen kritischen Unterton dargestellt, daß auch der König betrunken war und tanzte, daß sich beim Gastmahl vornehme Männer und Frauen erbrachen und Diener ihnen dabei behilflich waren oder sie wegtrugen. Andererseits wird offenbar zur selben Zeit über „Bierhäuser und Schänken" geklagt, wo junge Männer von ihren Studien abkommen: „Du verläßt die Bücher und Du gehst von Schänke zu Schänke; der Biergenuß allabendlich; der Biergeruch verscheucht die Menschen von Dir" (von Cranach 1982: 478). Bis in die Neuzeit wechselten in den verschiedenen Kulturen Zeiten des Wohlstandes mit Perioden des Mangels bedingt durch Mißernten und Kriege. Wie im biblischen Bild von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren zwangen Mangelperioden die Mehrzahl der Bevölkerung zu einer weitgehenden Alkoholkarrenz. Bedenkt man, daß die

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Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit einen mehrjährigen, konstant hohen Alkoholkonsum voraussetzt (im Mittel um sieben Jahre), so verhinderten solche regelhaften Mangelperioden eine Abhängigkeitsproblematik größerer Bevölkerungsgruppen. (Dies war noch in jüngerer Zeit während und nach den Weltkriegen zu beobachten. So mußte 1916 die erste oberbayerische Trinkerheilstätte geschlossen werden, nachdem Einschränkungen der Alkoholproduktion im Zuge der kriegsbedingten Lebensmittelrationierungen die Aufnahmezahlen gegen Null gehen ließen.) Vereinzelte Hinweise auf Alkoholabhängigkeit vor der Neuzeit betreffen in der Regel Personen mit ungewöhnlichem Wohlstand wie die Staatsfiihrung, Priester, Heerführer, Kaufleute. Die zahlreichen Beispiele für exzessives Trinken im mitteleuropäischen Raum dürften nach unserem Eindruck meist auf befristete Wohlstandsperioden beschränkt gewesen sein. Ein Wandel ergab sich in Folge von zwei fundamentalen wirtschaftlichen Umwälzungen in Europa. Vom 17. zum 18. Jahrhundert führte der Massenhandel mit Produkten aus den amerikanischen Kolonien u. a. zu äußerst niedrigen Preisen für Spirituosen vor allem in den Niederlanden und England. Die Folgen wurden in England als „GinEpidemie" bezeichnet und führten dort zu einer jahrzehntelangen parlamentarischen Auseinandersetzung um gesetzliche Maßnahmen zur Verringerung des Alkoholkonsums. Die entsprechenden Verordnungen und Gesetze waren letztlich erfolgreich (vgl. Coffey 1966, 669). Der zweite Wandel fand im 19. Jahrhundert im Zuge der zunehmenden Industrialisierung und des Preisverfalls für landwirtschaftliche Produkte in Europa und Nordamerika statt. Zu dieser Zeit konnte Alkohol synthetisiert werden, es entwickelte sich die medizinische Sicht des Alkoholismus und es entstanden die Mäßigkeitsbewegungen politischer, religiöser und bürgerlicher Gruppen.

Funktionen und Folgen des Alkohols (nach Feuerlein, 1994) Funktionen

Altertum/ Mittelalter

1. Nahrungsmittel 2. Genußmittel 3. Rauschmittel 4. Sakrales Mittel 5. Erleichterung soz. Kontakte 6. Verursacher soz. Probleme 7. Suchtmittel 8. Arzneimittel 9. Körperliche Schädigung

+ + + +

Aufklärung/ Industrialisierung + +

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3. Gesellschaftliche Regulierungsversuche. Es ist natürlich nicht möglich, hier die Geschichte des Alkohols in den verschiedenen Kulturkreisen chronologisch abzuhandeln. Allein die Darstellung der höchst unterschiedlichen Trinksitten, -gebräuche und Anordnungen in den verschiedenen Territorien des Heiligen Römischen Reiches vom 14. bis ins 19. Jahrhundert würde mehr als einen Band erfordern. Dennoch beschränken sich die gesellschaftlichen Versuche, eine als sinnvoll erachtete Umgangsweise mit dem Alkohol zu erreichen, auf eine recht begrenzte Zahl von Reaktionsweisen. Dabei ist es gleich, ob exotische Völkergruppen, frühzeitliche und mittelalterliche Autokratien oder parlamentarisch geführte Industriestaaten betrachtet werden. Auch sind die Reaktionsweisen auf Probleme durch Alkohol, illegale Drogen, Medikamente oder Spielautomaten prinzipiell ähnlich. Den Anstoß für die Einführung oder Änderung von Regeln bilden neuartige Suchtmittel, mit deren Wirkungen eine Gesellschaft nicht vertraut ist oder drastische Anstiege des Konsumverhaltens mit den damit verbundenen negativen Folgen. Auf welche Weise Anordnungen oder Gesetze erteilt und dann sanktioniert werden, hängt vom Organisationsgrad bzw. der Ordnungsstruktur 279

Geschichte des Alkohols

einer Gesellschaft ab; es kann etwa ein Häuptling oder Herrscher zuständig sein, eine Gruppe von Stammesältesten, Priestern oder Firmenchefs oder eine Volksvertretung. Anordnungen und Regeln können in Traditionen, unreflektierte Einstellungen und selbstverständliche Verhaltensnormen übergehen. Sie können aber auch nach einiger Zeit als nutzlos und unwirksam angesehen und wieder abgeschafft werden. Wieder andere erweisen sich zwar als effektiv zur Eindämmung der Probleme, aber mit nachlassender Erinnerung oder zeitlichem Abstand zu den Problemen wächst die Neigung späterer Generationen, als einschränkend erlebte Regelungen, Verbote, Tabus wieder aufzuheben, z.B. in Skandinavien. (In unserem Jahrhundert begannen die Alkoholproduzenten u. a. über Werbung auf die Einstellungen der Bevölkerung immer aktiver einzuwirken, während die Lobby der Mäßigkeitsbewegungen allmählich unbedeutend wurde.) Die gesellschaftlichen Regulierungsversuche sollen an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Wir stellen dabei die beiden Extrempositionen und Zwischenformen dar. Der Usprung des Weinbaus in Prag (Vinohradska) wird in einem historischen Führer folgendermaßen erklärt. Der ungarische König Ludwig machte 1358 einen Staatsbesuch beim böhmischen König Karl IV. Als Gastgeschenk an die Bewohner der Hauptstadt brachte er mehrere Wagenladungen Wein mit, den er öffentlich ausschenken ließ. Die Präger seien damals zwar mit dem Bier vertraut gewesen, nicht aber mit der Wirkung des doppelt so alkoholhaltigen Weins. Bei der folgenden Festaudienz auf der Burg seien viele Geladene daher betrunken gewesen. Im Text des Führers heißt es: „Damit so etwas niemals mehr vorkommen könne, ließ Karl IV. Wein auch in Prag anpflanzen, damit sich die Menschen an diese gefährliche Waffe gewöhnen" (Dudak 1995: 192). Diese Argumentation (konträr zum eingangs erwähnten Zitat von Tacitus) findet sich 280

Geschichte des Alkohols

immer wieder in Bezug auf verschiedene psychotrope Substanzen, etwa bei der Diskussion um die Freigabe von Cannabis oder den Halluzinogenen. Auch die Vorgehensweise, Suchtstoffe unter Kontrolle der Obrigkeit anzubauen, zu handeln und letztlich den Profit der Gesellschaft oder den Herrschenden zukommen zu lassen, ist nicht selten. Anzumerken ist, daß es nie um eine völlige Freigabe geht. Auch wenn es unser Text nicht erwähnt, wurde sicher nicht an die Gewöhnung der Kinder an den Wein gedacht und in bestimmten Situationen wird man versucht haben, den Konsum zu untersagen oder zu begrenzen, z.B. bei den Wachsoldaten. Den Gegenpol zur weitgehenden Freigabe bildet das Verbot alkoholischer Getränke. Nach Feuerlein (1994) erließ bereits im 8. Jahrhundert v. Chr. ein chinesischer Kaiser ein solches Edikt. Anlaß sind in der Regel schwerwiegende gesellschaftliche Probleme, die zu Recht oder Unrecht auf den Alkohol zurückgeführt werden. In China war dies vermutlich der zunehmende Alkoholkonsum der wohlhabenden gesellschaftlichen Elite. Das Alkoholverbot des Islam wird von Westermeyer (1989) auf die Überrumpelung einer Festung des Propheten aufgrund der Trunkenheit der Nachtwachen zurückgeführt. Die Ursachen bzw. Erklärungen für die weitgehenden Abstinenzregeln der Buddhisten und Hindus sind uns nicht bekannt. Das bekannteste Beispiel aus der modernen Zeit ist die Prohibition in den USA 1919-1933. Vorausgegangen waren Bestrebungen unterschiedlich motivierter Bürgergruppen seit etwa einem Jahrhundert, die zunächst zu lokalen Verboten von Alkohol oder Glücksspiel führten (z.B. 1911 in Kalifornien). Kriegsbedingt war die Alkoholproduktion bereits 1917 eingeschränkt worden. Die entscheidenden Kräfte, die 1919 die Verfassungsergänzung zur Prohibition und 1933 deren Aufhebung durchsetzten, waren nach Levine (1982) jeweils Wirtschaftskreise. Sie versprachen sich zunächst größere

Geschichte des Alkohols

Produktivität, weniger Unfälle, geringere Versicherungsprämien, weniger Streiks bzw. später Impulse für die Wirtschaft, höheres Steueraufkommen, weniger Mißachtung der Gesetze, niedrigere Kriminalität. Der Rückgang des Alkoholkonsums bei Einführung der Prohibition war durchaus beachtlich. Gegenüber 1917 fiel er auf 20-40%. Allerdings stieg er ab 1927 wieder langsam auf 50-70% an und erreichte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also lange nach der Aufhebung wesentlicher Verbote, wieder das Ausgangsniveau (Miron & Zwiebel 1991: 242). Diesen Schätzungen liegen drastische Verringerungen der Mortalitätsraten durch Leberzirrhosen und anderer Alkoholschäden, der Verhaftungen wegen Trunkenheit und der Klinikaufnahmen wegen Alkoholpsychosen zugrunde. Zwischen unkontrollierter Freigabe (die nie völlig unbeschränkt ist) und striktem Verbot (das stets von einem Teil der Betroffenen übertreten wird) liegen verschiedene Zwischenstufen. Dabei werden Situationen, Personen und Mengen festgelegt, bei denen der Konsum entweder erlaubt oder verboten bzw. unerwünscht ist. Ein Beispiel für solch ein komplexes Regelwerk wird im Bericht eines Völkerkundlers über die Insel Roti (vor Timor) zu Beginn unseres Jahrhunderts deutlich: „Das Trinken von Palmschnaps ist von festen Traditionen bestimmt. Eine Person kann zwar allein Palmbier trinken, aber nie Palmschnaps. Palmschnaps wird nur in Gruppen getrunken, und im allgemeinen nehmen nur ältere Männer an einem solchen Umtrunk teil. Jüngere Männer bieten gewöhnlich das Getränk im Auftrag des Gastgebers an, und gelegentlich erhalten sie selber auch einen kleinen Schluck, wenn das Getränk in der Runde herumgereicht wird. Das Alter ist also ein wichtiger Faktor, und Männer trinken gewöhnlich erst dann mit, wenn sie mindestens 35 Jahre alt sind. Frauen dürfen Palmwein konsumieren, Palmschnaps trinken sie jedoch sehr selten ... Das

Geschichte des Alkohols

Trinken ist immer mit langen Gesprächen verbunden, und häufig werden einheimische Gedichte rezitiert... Das kulturelle Ideal besteht darin, überschwenglich und gesprächig zu werden, aber nicht trübsinnig oder mürrisch. Vor allem darf man nie die Selbstkontrolle verlieren oder gewalttätig werden." (Fox 1982: 370). In durchaus ähnlicher Weise legen andere Gesellschaften auf anderen Entwicklungsstufen Situationen fest, in denen getrunken, nicht getrunken oder bis zu bestimmten Wirkungsgraden getrunken werden darf (z.B. Sabbat, Münchner Oktoberfest, chinesisches Frühlingsfest, japanisches Kirschblütenfest). Festgelegt wird auch der zugelassene oder ausgeschlossene Personenkreis (meist nach Alter, Geschlecht, sozialem Stand oder Klasse). Diese Konventionen können dann noch bezüglich des Getränks (Bier, Wein, Spirituosen) variieren. Trotz des gewählten exotischen Beispiels entsprechen unsere Regeln/Verordnungen prinzipiell ähnlichen Strukturen (Trinken von Kindern und Jugendlichen, Trinken im Straßenverkehr, Trinken während der Schwangerschaft, Trinken von Würdenträgern, Politikern, Sportlern, Trinken während der Arbeit oder bei Betriebsfesten usw.). 4. Zusammenfassung. Seit jeher haben Menschen aus verschiedenen Gründen Alkohol getrunken und sich mit seinen erwünschten und unerwünschten Wirkungen beschäftigt. Zu gesellschaftlichen Problemen scheint es vor allem unter drei Bedingungen gekommen zu sein: (1) in Zeiten allgemeinen Wohlstands, wenn Alkohol billig und stets verfügbar war; (2) bei Verbreitung neuer, vorher unbekannter Zubereitungsformen, wie Destillate; (3) bei sehr niedrigen Alkoholpreisen. Darüber hinaus wurden immer wieder gesellschaftliche Probleme wie Armut, Kriminalität, Zerrüttung familiärer Strukturen zurecht oder zu unrecht mit Alkohol in Verbindung gebracht. Regeln für den Umgang 281

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mit Alkohol müssen in einer sich ständig wandelnden Welt von jeder Generation neu entwickelt werden. -•Alkoholabhängigkeit; -»Geschichte des Tabaks; -••Geschichte des Tees und des Kaffees Lit.: Busch, H., Kultur- und medizingeschichtliche Aspekte des Alkoholtrinkens, in: Nervenheilkunde 15 (1996) 38, 487^190; Coffey, Τ. G„ Beer street, gin lane, Some views of 18th-century drinking, in: Quarterly Journal of Studies on Alcohol 27 (1966), 669-692; von Cranach, D., Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G., von Welck, K. (Hrsg.), Rausch und Realität, Band 2, Reinbek 1982, 480-487; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe in Deutschland, Freiburg 1997; Dudak, V., Der Wanderer durch Prag, Prag 1995; Feuerlein, W., Alkoholismus: Ein Problem verschiedener Kulturen und Jahrhunderte, in: Psychiatria Danubina 6 (1994) 1-2, 55-62; Fox, J. F., Palmwein und Palmschnaps in Süd- und Südostasien, in: Völger, G., von Welck, K. (Hrsg.), Rausch und Realität, Band 1, Reinbek 1982, 342-351; Levine, H. G„ Mäßigkeitsbewegung und Prohibition in den USA, in: Völger, G„ von Welck, K. (Hrsg.), Rausch und Realität, Band 1, Reinbek 1982, 241-251; Miron, J. Α., Zwiebel, J., Alcohol consumption during prohibition, in: American Economic Review 81 (1991) 2, 242-247; Petry, J., Zwangssterilisation von Alkoholikern im Nationalsozialismus, in: Suchtprobleme und Sozialarbeit ο. Jg. (1992) 2, 78-87; Petry, J., Ein schematischer Überblick über die Kulturgeschichte des Alkohols, in: Suchtgefahren 29 (1983) 3, 298-301; Schwoon, D. R„ Bekehren, Heilen, Ausmerzen, Begleiten: Wiederkehrende Interaktionsfiguren im Umgang mit Alkoholikern, in: Andresen, B„ Stark, F. M., Gross, J. (Hrsg.), Psychiatrie und Zivilisation, Köln 1993, 213-228; Spode, H„ Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, 282

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Opladen 1993; Völger, G„ von Welck, K, Rausch und Realität, Band 1-3, Reinbek 1982; Watzl, H„ Zur Geschichte des Alkohols, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Alkohol - Konsum und Mißbrauch, Freiburg 1996, 1-30; Westermeyer, J., Cross-cultural studies on alcoholism, in: Goedde, Η. W„ Agarwal, D. P. (Hrsg.), Alcoholism - biomedical and genetic aspects, New York 1989, 305-311. Hans Watzl, Konstanz Geschichte der Opiate

1. Opiuminhaltsstoffe. Das Opium, die aus dem Milchsaft des Schlafmohnes gewonnene Substanz, enthält ein Alkaloidgemisch. Die große Bedeutung, die das Opium für die allgemeine Medizin hatte, war Anlaß dafür, daß sie zu allen Zeiten das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse auf sich zog. Die chemischen Untersuchungen der Substanz reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Damals gewann man durch Zusatz von Pottasche sehr wirksame Auszüge in wäßrigen Opiumauszügen. Man nannte einen solchen Niederschlag Magisterium Opii. 1797 stellte Baume aus dem Opium das Narkotin her, das er „Sei essentiel d'opium" nannte. Der wichtigste Inhaltsstoff des Opiums ist das -»Morphin, das in verunreinigter Form 1803 von Descrosne als ein Opiumsalz und 1804 von Seguin als „une matiere vegeto-animale toute particuliere" beschrieben wurde. In seiner reinen Form wurde dann das Morphin 1805 von dem Paderborner Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner als organische Base hergestellt, aber erst 1817 beschrieben. Weitere Inhaltsstoffe des Opiums, die bereits früh analysiert und entdeckt wurden, sind das Narkotin (1803 von Derosne entdeckt und später von Robiquet benannt), das -•Codein (entdeckt 1833 von Robiquet), das Papaverin (entdeckt 1832 von Robiquet), das Pseudomorphin (entdeckt 1836 von Pelletier), das Opianin (zunächst dargestellt von dem Wiener Apotheker Kugler und dann von

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Hinterberger benannt), das Thebain oder Paramorphin (entdeckt 1834 von Pelletier), das selbst in Therapie nicht brauchbar ist, jedoch, wie sich in der Folge erweisen sollte, der Ausgangsstoff für eine Reihe wichtiger Opiate ist, das Narcein (entdeckt von Pelletier 1833), die Mekonsäure (zunächst 1814 entdeckt von Seguin, dann von Sertürner weiter studiert), das Mekonin (1833 entdeckt von Dublanc jun. und erstmals rein dargestellt von Couerbe) und das Porphyroxin (entdeckt von Merck 1837). Überdauernde medizinische Bedeutung gewann in der Folge neben dem Morphin von all diesen Inhaltsstoffen lediglich das Codein. Für kurze Zeit beinhaltete die Pharmakopoe (amtliches Arzneibuch) auch das schwefelsaure Narkotin, das vor allem gegen Wechselfieber empfohlen wurde. Weiter wurde das Narceinmekonat gegen Neuralgien, Schlaflosigkeit und als Adjuvans bei Morphinismus empfohlen. 2. Morphin und Morphinabkömmlinge. Morphin selbst wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Allheilmittel. Aschenbrenners Arzneimittellehre aus dem Jahr 1848 kennt folgende Anwendungsbereiche: Neurosen, Neuralgien, Zustände von gesteigerter Sensibilität und nervöser Reizung, Schlaflosigkeit, Migräne, Keuchhusten, hysterischer Krampfhusten, Hustenreiz bei chronischer Bronchitis, hartnäckiges Erbrechen, erethische Blutungen, namentlich der Gebärmutter, Tetanus, Trismus, Krämpfe überhaupt, namentlich hysterische, Gebärmutterkrämpfe, krampfhafte Verengung der Harnröhre, Schmerzen von Gallen- und Nierensteinen, chronische Magenschmerzen, schmerzhafte Krebsgeschwüre, Ischias, akuter und chronischer Rheumatismus, darüber hinaus in endermatischer Form bei Tetanus, Delirium tremens, Manie, Hemicranie, Cardialgie, Strangurie, Dysphagia nervosa, Zahnschmerzen, Conjunctivit i s . . . Als Folge des breiten Einsatzes

Geschichte der Opiate

des Morphiums wurde aber auch die Abhängigkeit von der Substanz beobachtbar, und es war schließlich Eduard Levinstein, der 1887 mit seinem Buch „Die Morphiumsucht" dem von dieser Abhängigkeit ausgelösten klinischen Zustandsbild den Namen gab. Dieser frühe Beobachter ordnete allerdings die Sucht und ihre Bekämpfung noch nicht der Psychiatrie zu, sondern bezeichnete sie noch als „menschliche Schwäche". Diese Interpretation wurde dadurch gefördert, daß sich beobachten ließ, daß auch außermedizinischer Gebrauch von Opium und Morphium zu Genußzwekken stattfand. Die Entwicklung der Injektionsnadel durch Pravaz und ihre Vermarktung führte dazu, daß die „Morphinomanen", wie jener Personenkreis bezeichnet wurde, der aus hedonistischen Gründen und/oder auf psychopathologischer Grundlage Morphingebrauch betrieb, sich das Morphium subkutan injizierten und durch dieses neue Gebrauchsmuster rascher und offenkundig auch schwerer abhängig wurden, als man es bislang gewohnt war. Der Morphinismus wurde zu einem medizinischen und rasch auch einem psychiatrischen Problem- und Handlungsfeld. Die Erkenntnisse über den Morphinismus dienten als Katalysator, neue Derivate aus der Morphingruppe zu entwikkeln, die eventuell vergleichbare medizinisch nützliche Wirkungen bei geringer ausgeprägten Nebeneffekten und vor allem geringerem Abhängigkeitspotential aufweisen sollten. Da an der Entwicklung solcher Stoffe große merkantile Interessen hafteten, beteiligten sich an dieser Suche viele große Pharmakonzerne. Besonders intensiv wurde die entsprechende Forschung zunächst in Deutschland betrieben. Auf diese Weise wurde zunächst das Heroin als Diacetylesther des Morphins entwickelt. Gefunden wurde das Präparat von Wright bereits 1874, unter dem Namen Heroin in die Medizin eingeführt wurde es aber erst 1898 von Dreser für die Firma 283

Geschichte der Opiate

Bayer. Im ausklingenden 19. Jahrhundert wurde die Forschungsaktivität auf diesem Bereich intensiviert, und so wurde in der Folge 1881 von Grimaux das Äthylmorphin dargestellt und dessen Chlorhydrat unter dem Namen Dionin 1898 in die Therapie eingeführt. Ebenfalls 1898 wurde das Peronin als chlorwasserstoffsaures Salz des Benzylmorphins von Merck in den Verkehr gebracht. 1911 wurde von Skita und Frank das Dihydrokodein hergestellt, das unter dem Namen Parakodin auf den Markt gebracht wurde. Skita und Meyer entwikkelten 1912 auch ein Dihydroprodukt des Heroins, das Paralaudin. 1916 stellten Freund und Speyer aus Thebain das Eukodal (Oxydihydrokodeinon) her. 1920 wurde das Dihydrokodeinon (Dicodid) erstmals aus Thebain hergestellt. Die gleiche Substanz aus Kodein zu gewinnen, gelang 1923 in den Laboratorien von Merck. 1921/1922 wurde das Dihydromorphinon (Dilaudid) in den Labors der Firma Knoll und Co. entwikkelt. 1929 wurde dann das Acetyldihydrokodeinon (Acedicon), das ebenfalls aus Thebain gewonnen wird, von Boehringer in den Handel gebracht. Während der Zeit des Nationalsozialismus verlagerte sich die entsprechende Forschung zum Teil nach Amerika. Dort wurden 1933 das Dihydrodesoxymorphin (Desomorphin, Permonid), 1936 das Methyldidydromorphinon und 1947 die beiden Verbindungen 6-methyldihydrokodein und 6-methyldihydromorphin entwickelt. 1950 wurde dann von Chabrier, Giudicelli und Thuillier das 4-beta-morpholinoäthylmorphin hergestellt und unter dem Namen Pholcodin in den Handel gebracht. Auch von dieser Substanz wurde wieder behauptet, daß sie sowohl gegenüber dem Morphin wie auch dem Kodein günstige Eigenschaften aufweise. Allerdings ging man in dieser Zeit nicht mehr davon aus, daß es gelingen werde, Morphinderivate zu entwickeln, deren analgetische Wirksamkeit nicht von suchterregenden Eigenschaften be284

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gleitet sei. Umso mehr Aufmerksamkeit schenkte man dann, nachdem weitere Forschung am bereits 1914 entdeckten aber erst 1942 in Produktion gebrachten Morphinantagonisten N-allylnormorphin (Nalorphin) betrieben worden war, der Möglichkeit, partielle Antagonisten in die Analgesie einzubringen. Am wichtigsten wurde dabei das Pentazozin (Fortrai). Auch das Buprenorphin hat gewisse Bedeutung erlangt. Es findet einerseits in der Analgesie Verwendung und ist auch als Substitutionsstubstanz (-»Substitution) für chronisch Opiatabhängige in Gebrauch. Besondere Vorzüge soll es in letzterem Indikationsbereich für die Behandlung opiatabhängiger Gravider aufweisen. Es wird berichtet, daß bei Buprenorphinsubstitution der Mütter die Neugeborenen kein Opiatentzugssyndrom entwickeln. 3. Synthetische Analgetika. In den späten 30er und den 40er Jahren wurden in Deutschland weiters synthetische Analgetika entwickelt, die, obwohl strukturell dem Morphin nicht verwandt, dennoch vergleichbare Wirkungen aufwiesen: Meperidin wurde von Eisleb und Schaumann 1939 eingeführt, Polamidon wurde 1942 von Bockmühl, Erhart und Schaumann entwickelt. Die Weltgesundheitsbehörde empfahl für die Substanz den Namen -»„Methadon". Das Meperidin ist ein Phenylpiperidin, das chemisch mit dem Morphin keine Ähnlichkeiten aufweist, aber einen vergleichbaren analgetischen Effekt besitzt. Es wurde zunächst angenommen, daß es kein Suchtpotential besitzt. Diese frühe Annahme wurde jedoch durch die klinische Erfahrung widerlegt. Den Phenylpiperidinen verwandt ist das Fentanyl, das als Analgetikum die 80fache Potenz von Morphin aufweist und aus diesem Grund in der Anästhesie eine wichtige Rolle spielt. Das Polamidon/Methadon weist zwar ebenfalls mit dem Morphin strukturell keine Gemeinsamkeit auf, sterische Faktoren zwingen aber das Molekül, die

Geschichte des Tabaks Pseudo-Piperidinring-Konfiguration zu imitieren, die eine Grundbedingung für die Opioid-Aktivität zu repräsentieren scheint. Methadon ist ein Racemat, dessen analgetische Wirkung nahezu ausschließlich auf den Gehalt an dem linksdrehenden Stereomer zurückzuführen ist. Auch von Methadon wurde zunächst angenommen, daß ihm ein geringeres Suchtpotential innewohnt als dem Morphin. Allerdings wurde bereits in den frühen 50er Jahren beschrieben, daß das Methadon das Morphin nahezu zu verdrängen scheine und daß vor allem die abhängigen Angehörigen der Gesundheitsberufe sich überwiegend dieser Substanz bedienten. Die bevorzugte Applikationsform in diesem Kontext war die subkutane Injektion. 1951 wurde in Mercks Jahresbericht festgestellt, daß die Suchtgefahr, die von der Substanz ausgehe, nicht mehr bestritten werden könne und es daher angezeigt sei, sie dem Opiumgesetz zu unterstellen. Dem amerikanischen Einfluß auf den Umgang mit den Suchtphänomenen ist es zuzuschreiben, daß das Methadon trotz dieser Erfahrungen auch in Europa seit den 80er Jahren zur medizinisch bevorzugten Substitutionssubstanz für Morphinabhängige wurde. In den Vereinigten Staaten verfügte man offenkundig über andere Beobachtungen. Die Substanz war seit den 40er Jahren in Lexington und in anderen Einrichtungen als Mittel der Wahl für den langen Opiatentzug in Verwendung. Eventuell konnte sie dadurch in den USA kein positives „Szeneimage" gewinnen und verblieb im medizinischen Anwendungsbereich. 4. Andere Opiate. Eine besondere Position nimmt das Morphinan-Derivat Dextrometorphanhydrobromid ein. Es wurde 1954/55 von Hoffmann-LaRoche unter dem Namen Romilar eingeführt. Zu dieser Zeit galt es als relativ risikofreie Substanz, der nur eine morphinartige Eigenschaft ausschließlich zukomme, nämlich eine hustenreizhem-

Geschichte des Tabaks mende Wirkung. Es wurde von verschiedenen Autoren beschrieben, daß die Einnahme des Mittels weder zu Gewöhnung noch zu Sucht führe. Deshalb wurde es als „nicht-narkotisches Hustenmittel" klassifiziert und ist aufgrund dieser Zuordnung auch in nicht verschreibungspflichtigen Kombinationspräparaten enthalten. Obwohl kein Suchtmittel, gewann die Substanz dennoch Bedeutung für den außermedizinischen Drogengebrauch. In hoher Dosis eingenommen produziert das Romilar eine toxische Psychose vom Charakter eines halluzinatorischen Dämmerzustandes. Dadurch wurde die Substanz in der Drogenszene als LSD-Ersatz bekannt. Von den Historikern der Jugendkulturen und Pop-Kulturen wird ihr der Rang einer Symbolsubstanz für die späten 60er und frühen 70er Jahre zuerkannt. Lit.: Goodman, L. S. und Gilman, Α., The Pharmacological Basis of Therapeutics. 5.Α., New York, 1975; Ε. Mercks Jahresberichte über Neuerungen auf den Gebieten der Pharmakotherapie und Pharmazie. 1893-1956/57; Wikler, Α., Opioid Dependence. Mechanisms and Treatment, New York, 1980; Zekert, O., Opiologica, Wien, 1956. Alfred Springer, Wien Geschichte des Tabaks Der Begriff Tabak leitet sich her vom spanischen „tabacco", der wahrscheinlich einer Indianersprache der Karibik entlehnt wurde. Die Tabakpflanze (Nicotiana) gehört zur Gattung der -»Nachtschattengewächse und hat etwa 40 verschiedene Arten, die vor allem im tropischen und subtropischen Amerika, im südlichen Pazifik, in Australien und in Südwestafrika wachsen. Vorherrschend sind Kräuter, seltener Sträucher mit großen, einfachen, drüsig behaarten Blättern und weißen, gelben, roten oder rosafarbenen duftenden Blüten. Wirtschaftlich am bedeutendsten sind der virginische Tabak 285

Geschichte des Tabaks (Nicotiana tabacum), ein bis zu 3 m hohes Kraut, und der 1,2 m hohe Bauerntabak (Machorka, Nicotina rustica). Alle Pflanzenteile enthalten das Alkaloid Nikotin. In Europa beginnt die Geschichte des Tabaks mit der Entdeckung Amerikas, wo der Anbau und Konsum der Pflanze schon lange Zeit verbreitet war. Tabakblätter wurden gekaut, als Puder geschnupft oder als Saft gekochter Blätter getrunken. Zusammengerollte Tabakblätter wurden ζ. T. in Pfeifen geraucht. Vorherrschend war der magische Gebrauch des Tabaks in Form von Rauchopfern, Initiationsriten, Regenzauber, Kriegs- oder Friedensritualen. Schamanen brachten sich durch Tabak in rauschartige Zustände. Daneben war der medizinische Gebrauch bekannt als Brech- und Abführmittel zur Heilung von Wunden und erkrankter Haut. Die spanischen Eroberer Amerikas brachten nicht nur Tabakpflanzen mit nach Europa, sondern auch Kenntnisse von deren Nutzung. Die Matrosen der Schiffe gewöhnten sich an den Tabakkonsum, Eroberer und Händler verbreiteten das Tabakrauchen über die ganze Welt. Die folgende Abbildung

Geschichte des Tabaks zeigt die Wege der Verbreitung des Tabaks über die verschiedenen Weltregionen. In Europa verbreitet sich der Tabakkonsum nicht nur als Genußdroge, sondern auch als Mittel gegen eine Vielzahl von Krankheiten sowie als Zierpflanze in den Gärten der Fürsten und des Adels. Ärzte freuten sich über das neue Heilmittel und versuchten verschiedenartige Anwendungen: bei Lungenbeschwerden, gegen Hautkrankheiten und Schmerzen aller Art. In Konfrontation mit ansteckenden Seuchen wie der Pest wurde auch der Tabak in Ermangelung anderer wirksamer Therapeutika angewandt und entsprechend gelobt. Die Verbreitung des Tabakrauchens im gemeinen Volk wurde wesentlich durch die umherziehenden Heerscharen im 30jährigen Krieg gefördert. Von den Soldaten wurde der Tabak in Pfeifen geraucht, u. a. um Hungergefühle zu unterdrücken. In den intellektuellen Kreisen wurde der Tabakkonsum gelobt als Mittel, um den Verstand zu schärfen, den Geist munter zu machen, die Sinne zu erfrischen und den Körper anzuregen.

MBMES Nicotiana Tabacum • • • • N i c o t i a n a Rustica Nicotiana Petunoide

Verbreitung des Tabaks in der Welt

(nach H. Hess in Weiterentwicklung einer Grafik von C. Hartwich, 1987)

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Von Anfang an gab es zahlreiche Gegner des Tabakkonsums, die diesen verteufelten und mit Rauchverboten zu bekämpfen versuchten. Die Gründe dazu waren vielfältige. Von Seiten der Kirche wurde der Genuß als schandhaft angeprangert, da er die Gläubigen von der Ausrichtung ihres Lebens an den christlichen Geboten abhalten würde. Die Herrschenden waren stärker an den ökonomischen Implikationen interessiert, auf der einen Seite beklagte man die Verschwendung von Volkseinkommen und die Zerstörung von Arbeitskraft, auf der anderen Seite sah man die Möglichkeiten, mit dem Tabak Geld zu verdienen. Moralisierende Argumentationen in den Pamphleten gegen das Rauchen wurden schnell relativiert, sobald man die ökonomischen Vorteile erkannte. Am Anfang stand der Versuch, durch die Einführung von Zöllen einerseits am Tabakkonsum mitzuverdienen, andererseits durch die damit verursachten höheren Kosten den Konsum zu reduzieren. Die Folge waren illegale Importe und die Ausbreitung des Schmuggels. Der dadurch verursachte Rückgang der staatlichen Einnahmen wurde durch die Senkung der Zölle und stärkere Kontrollen zu kompensieren versucht. Der Tabakkonsum verbreitete sich schnell über alle Stände und Bevölkerungsgruppen. Vertreter der Kirchen und Herrscher, die selber Nichtraucher waren und sich deshalb durch den Rauch anderer belästigt fühlten, versuchten im Verlauf der Geschichte immer wieder, mit Gesetzen und Strafen aller Art den Tabakkonsum zu bekämpfen. Ein Versuch war die Eingrenzung der Abgabe des Tabaks an Apotheken mit der Androhung von Strafen bei Mißbrauch. Eine Maßnahme, die letztendlich an den Kontrollmöglichkeiten scheiterte. Die im 17. Jahrhundert in Frankreich eingeführte Tabaksteuer und deren brutale Eintreibung führten dazu, daß sich Banden von Tabakschmugglern organisierten, deren Anführer zu legendenumwobenen Volkshelden wurden. Ende des

Geschichte des Tabaks

18. Jahrhunderts wurde die öffentliche Empörung so groß, daß sie mit dazu beitrug, revolutionäre Unruhen zu schüren. Schließlich wurden die letzten der verhaßten Eintreiber von Tabaksteuer 1794 unter dem Jubel des Volkes auf der Guillotine hingerichtet. Im Vorderen und Hinteren Orient waren die Maßnahmen drastischer. In der Türkei wurden Raucher besonders grausam verfolgt. Todesstrafen wurden nicht nur angedroht, sondern auch durchgeführt. Ein Hauptgrund dafür war die Anfang des 17. Jahrhunderts in der Türkei aufgekommene Gewohnheit der Opposition, sich in Tabak- und Kaffeehäusern zu versammeln und kritisch mit dem Sultanat auseinanderzusetzen. Freigeisterei und Tabakkonsum gingen lange Zeit ebenso zusammen wie deren politische Bekämpfung. Ein anderes Beispiel dafür ist das Verbot des Zigarrenrauchens auf den Straßen in Berlin Anfang des 19. Jahrhunderts, das so sehr zum Politikum wurde, daß die Revolutionäre von 1848 erfolgreich dessen Aufhebung vom König ertrotzten. Im Verlauf der Geschichte des Tabakkonsums wurde ein breites Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten und diesen zugeordnete Rituale entwickelt. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert war das Rauchen von Tabakblättern in Pfeifen die vorherrschende Konsumform breiter Bevölkerungsschichten. Im 18. Jahrhundert verbreitete sich beim Adel das Schnupfen von Tabak als Zeremoniell, dessen kunstvolle Beherrschung den Edelmann des Rokoko auszeichnete. Requisiten der Kunst des Schnupfens waren wertvolle Schnupftücher und kostbare Tabakdosen aus Perlmutt, Porzellan, Elfenbein, Email, Silber oder Gold, besetzt mit Diamanten und Edelsteinen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Zigarre zum Symbol des neuen bürgerlichen Reichtums. In den besseren Wohnungen wurden Rauchzimmer, in den neuen Eisenbahnen Rauchabteile eingerichtet. Anfang des 19. Jahrhunderts verbreitete 287

Geschichte des Tees und des Kaffees sich in der Türkei und in Rußland die Gewohnheit, Tabakkrümel in Papier zu wickeln. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich dann in Mitteleuropa ein Zigarettenkult, verbunden mit Accessoires wie Zigarrettenspitzen und kostbaren Zigarettenetuis als Statussymbolen. Die Zigarette symbolisierte Weltläufigkeit und elegante Lebenskunst. Im Zusammenhang mit dem beginnenden Kampf von Frauen um Gleichberechtigung wurde das öffentliche Rauchen von Zigaretten von Georges Sand und Lola Montez als demonstratives Zeichen der Emanzipation benutzt. Der entscheidende Durchbruch der Zigarette kam mit dem 1. Weltkrieg als leicht verfügbares Mittel, um in den entnervenden Grabenkämpfen Müdigkeit und Hunger zu unterdrücken und soziale Kontakte herzustellen. Die industrielle Massenanfertigung trug durch die Erhöhung eines Angebotes zu niedrigen Preisen wesentlich zur Verbreitung bei. Heutzutage wird Tabak weltweit vor allem in Form von Zigaretten konsumiert, deren Produktion in den Händen weniger global agierender Großkonzerne liegt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Zigarettenrauchen zu einem selbstverständlichen Verhalten des modernen Menschen. Erst die Ende der 60er Jahre in größerem Maße einsetzende medizinische Erforschung der gesundheitsschädigenden Folgen des Rauchens und deren Verbreitung in gesundheitspolitischen Stellungnahmen und Berichten der öffentlichen Medien führte zunehmend zu einer kritischeren Bewertung des Phänomens. Die Langfristigkeit und Multikausalität der gesundheitsschädigenden Wirkungen (confounding factors) konnten lange Zeit von der Zigarettenindustrie genutzt werden, um die Kausalität von Wirkungen grundsätzlich anzuzweifeln. Eine andere erfolgreiche Strategie war die Einführung von Filterzigaretten mit der drastischen Reduzierung des Teergehaltes und der Kondensatstoffe. Inzwischen sind die Belege für die wissenschaft288

Geschichte des Tees und des Kaffees liehe Evidenz der Gesundheitsrisiken des Rauchens so groß, daß niemand diese ernsthaft in Frage stellen kann. Deshalb besteht hohe Einigkeit darin, daß Kinder und Jugendliche davon abgehalten werden sollten, mit dem Rauchen anzufangen und Raucher motiviert und unterstützt werden sollten, mit dem Rauchen aufzuhören. Obwohl seit einigen Jahren in den entwickelten Industriegesellschaften die 'Inzidenz- und -»Prävalenzraten des Rauchens sinken, ist die weitere Entwicklung schwer vorherzusagen. Die Zukunftsmärkte der Tabakindustrie liegen inzwischen in den sog. DritteWelt-Ländern, in denen das wachsende Völkseinkommen immer größerer Bevölkerungsanteile den Kauf von Fertigzigaretten ermöglicht. Inwieweit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihren Bemühungen um eine globale, koordinierte Bekämpfung des Rauchens erfolgreich ist, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich ist wohl zu fordern, daß zumindest die Vertreter der Gesundheitsberufe nicht nur eindeutig vor den Gefahren des Tabakrauchens warnen, sondern durch ihr eigenes Verhalten anderen ein überzeugendes Vorbild geben. -»Geschichte des Alkohols; -•Geschichte des Tees und des Kaffees; -»Nikotin Lit.: Brodel, F., Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Der Alltag, München 1985; Corti, E. C. C., Geschichte des Rauchens, Frankfurt a. M. 1986; Hess, H., Rauchen. Geschichte, Geschäfte, Gefahren, Frankfurt 1987; Schievelbusch, W., Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft: Eine Geschichte der Genußmittel, München 1980. J. von Troschke, Freiburg Geschichte des Tees und des Kaffees 1. Die Anfänge des T.-Gebrauchs in China und Japan 1.1 China. Der Ursprung des T.-Gebrauchs liegt in China um 2700 v. Chr.

Geschichte des Tees und des Kaffees Ursprünglich wurde T. ausschließlich als Heilmittel eingesetzt. T. wurde verwendet, um das Sehvermögen zu schärfen, Kopfschmerzen zu beseitigen, Körper und Willen zu stärken, wachzuhalten sowie als Bestandteil von Salben gegen rheumatische Beschwerden u. a. Der nicht-medizinische T.-Konsum hat sich anfangs ausschließlich in privilegierten Kreisen entwickelt, wobei T. als nahrhafte Suppe mit Reis, Ingwer, Salz, Orangenschalen, Gewürzen, Milch und manchmal auch Zwiebeln zubereitet wurde. In der breiten Bevölkerung spielte die T.-Suppe lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Erst eine kaiserliche K a m p a g n e gegen den damals verbreiteten exzessiven Alkoholkonsum (Hirse- und Reiswein) 98 v. Chr. gab einen starken Impuls zur Ausbreitung des nicht-medizinischen T.-Konsums in China. Von da an weitete sich der Gebrauch von T. als Alkoholersatz, Genußund Nahrungsmittel im gesamten chinesischen Reich aus. 780 n. Chr. erfolgte hinsichtlich des T.-Gebrauchs eine neuerliche Trendwende. Lu-Jü, ein Günstling des Kaisers, verfaßte die „heilige Schrift vom T." und machte so den T.Gebrauch am Hof des Kaisers zu einem höfisch-rituellen Akt. Er verwendete grünen Pulvertee, „befreite" den T. von allen Zutaten mit Ausnahme des Salzes und baute ein komplexes Ritual auf, für das man 24 Geräte benötigte. Die psychotrope Wirkung des im T. enthaltenen Koffeins rückte nun voll ins Zentrum der Aufmerksamkeit. T. wurde als bewußtseinsverändernde Droge aufgefaßt. In der Folge wurde der T.-Gebrauch auch zum zentralen Inhalt großer höfischer Feste, bei denen bei Turnieren Gedichte zur Lobpreisung des T. vorgetragen und die besten T.-Mischungen prämiert wurden. Mit d e m A u f k o m m e n des stark mystischen Zen-Buddhismus entstand dann eine stark religiös geprägte Form des T.Gebrauchs. T. und das T.-Zeremoniell wurden in diesem Zusammenhang als

Geschichte des Tees und des Kaffees Weg zur inneren Selbstbesinnung und Selbstvervollkommnung gesehen. Der höfische T.-Kult - und damit auch die Verwendung des Pulvertees - , der in der Sung-Dynastie ( 9 6 0 - 1 2 7 9 ) auf die Spitze getrieben worden war, ging unter der Fremdherrschaft der Mongolen (Yuan-Dynastie; 1280-1368) verloren. In der Bevölkerung wurde parallel zur Entwicklung des höfischen T.-Rituals die T.-Suppe zusehends durch einen Blättert.-Infus (getrocknete T.-Blätter in heißem Wasser ziehen lassen) ersetzt, bis die ursprüngliche Zubereitungsform fast gänzlich verdrängt war. Wann der heute im Westen hauptsächlich verwendete schwarze (fermentierte) T. erfunden wurde, ist ungewiß. Laut Aleijos (1977) setzte die vermehrte Produktion des schwarzen T. in China aber erst zu einem Zeitpunkt ein, als der grüne T. in Europa bereits bekannt war, also um 1600 n. Chr. 1.2 Japan. In Japan wurde T. erstmals Anfang des 8. nachchristlichen Jahrhunderts urkundlich erwähnt. D a Kontakte zwischen Japan und China zu dieser Zeit nur auf höchster gesellschaftlicher Ebene stattfanden, blieb die in der chinesischen Bevölkerung verbreitete Zubereitung als T.-Suppe in Japan unbekannt. Wie in China wurde auch in Japan T. zunächst ausschließlich als Heilmittel eingesetzt. Der nicht-medizinische T.-Konsum wurde in Japan erst populär, als China in der Sung-Dynastie den Höhepunkt des T.-Kultes erlebte. Der T.-Gebrauch entwickelte sich einerseits als andächtiges Zelebrieren des Glaubens in Zenklöstern und andererseits als Form des geselligen Beisammenseins am Hof. Mit dem Erstarken des Militäradels wurden die T.-Gesellschaften immer prächtiger und ausgefallener, bis sie 1338 vom Shogun als „Brutstätten für Glücksspiel und A u s s c h w e i f u n g e n " verboten wurden. Daraufhin entwickelte sich ein straffes System von Verhaltensvorschriften für eine andere Form von T.-Gesellschaft, die nicht unter das Ver289

Geschichte des Tees und des Kaffees bot fiel und die als „Cha-No-Yu" bis heute in Japan gepflegt wird. Die Verbreitung des T.-Kults im „einfachen Volk" begann 1587, als der Fürst Hideyoshi anfing, auch Bauern und das einfache Volk zu seinen T.-Gesellschaften einzuladen. Die Kenntnis der T.-Zubereitung als Blättert.-Infus wurde um 1670 im einfachen Volk bekannt und breitete sich danach recht rasch aus. 2. Die Anfänge des K.-Gebrauchs in Afrika und Arabien. Die Ursprünge des K. sind bis heute nur unbefriedigend geklärt. Einigkeit herrscht bloß darüber, daß K. aus der Region K a f f a im heutigen Äthiopien stammt. Ursprünglich gab es drei Formen der Zubereitung, die sich allesamt stark von den heute gebräuchlichen unterscheiden: ein teeartiger Aufguß aus den Blättern der Pflanze, ein teeartiger A u f g u ß aus dem zuckerreichen Fruchtfleisch der K.-Kirsche und geröstete, mit Butter gebratene und mit Milch versehene K.-Kirschen, die wie Kautabak stundenlang gekaut wurden. Die Nutzung der K.-Pflanze war anfangs in Äthiopien auf exklusive Kreise beschränkt und in ein strenges Ritual gebettet. Wer K. für sich alleine zubereitete, wurde streng bestraft. Die Erwähnung eines Heilkrautes namens „ B u n c h u m " A n f a n g des 11. Jh. n. Chr. wurde von einigen Autoren als schriftlicher Hinweis auf K. interpretiert. Die erste eindeutige, urkundliche Erwähnung von K. stammt allerdings erst aus dem 16. Jh. und beschreibt die Anfänge der Kultivierung der K.Pflanze im Jemen am Ende des 14. Jh. Mit Pilgern gelangte der K. dann nach Mekka und verbreitete sich mit diesen über das gesamte arabische und das osmanische Reich. Es ist nicht bekannt, wann man bei der K.-Zubereitung zur Röstung der Samen überging. Urkundlich belegt ist nur, daß sich zum Zeitpunkt, als K. in Europa (ausschließlich als Röstk.) bekannt wurde, auch in Arabien der Röstk. durchgesetzt hatte. Par-

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Geschichte des Tees und des Kaffees allel dazu wurde aber auch das A u f g u ß getränk aus K.-Kirschen weiterhin verwendet. Die in Arabien heute noch übliche Bezeichnung „Kaahwa", auf die alle in Europa gebräuchlichen Worte für K. zurückgehen, stellte ursprünglich eine von islamischen Mystikern verwendete U m schreibung des Begriffs „Wein" dar. Die sprachliche Verwandtschaft zwischen K. und Wein ermöglichte in Phasen politisch motivierter K.-Verbote im 16. und 17. Jhd. relativ einfach religiöse Scheinbegründungen für diese Verbote. K.Verbote im arabischen und osmanischen Reich waren allerdings immer nur von relativ kurzer Dauer und religiös oder politisch motiviert. Die islamischen Sufi-Orden, die Rausch und Sinnlichkeit als Weg zu Gott predigten und zur Erreichung außergewöhnlicher Erlebniszustände neben Schlafentzug, Musik, Tanzen und Fasten auch den Konsum jeglicher Drogen propagierten, hatten ganz wesentlich zur raschen Popularisierung des K. beigetragen. Da Sufis einerseits mit K.-Gebrauch in Z u s a m m e n h a n g gebracht wurden und sie andererseits in starkem Konflikt zum politischen und religiösen Establishment standen, sind K.-Verbote immer auch als Kampfansage an die abweichenden Ideen der Sufis zu interpretieren. Ein K.-Verbot, das allerdings nicht streng kontrolliert und sanktioniert wurde, gab es unter Murad III ( 1 5 7 4 - 1 5 9 5 ) in Istanbul. K.Verbote, die streng kontrolliert wurden und bei Zuwiderhandeln strengste Strafen bis zur Todesstrafe vorsahen, gab es 1511 in Mekka, 1531 in Kairo sowie unter Murad IV ( 1 6 2 3 - 1 6 4 0 ) in Istanbul. Alle Versuche, den K.-Gebrauch durch Abschreckung zurückzudrängen, scheiterten. Ein deutlicher Rückgang des K.Gebrauchs zu Gunsten des T.-Konsums erfolgte in vielen Ländern der islamischen Welt erst im 20. Jh., als infolge der Etablierung einer eigenständigen T.Erzeugung in der Türkei und im Iran, T. relativ zum K. erheblich billiger wurde.

Geschichte des Tees und des Kaffees 3. Die Einführung von T. und K. in Europa. T. und K. wurden in Europa u m 1600 bekannt. Nicht zuletzt deswegen, weil zunächst die Anwendung als Heilmittel überwog, spielte die Ärzteschaft oft eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung und Popularisierung beider Getränke. Das erste europäische Land, in dem K. bekannt wurde, war Italien. Versuche einiger einflußreicher Familien, den K. als heidnisches Getränk verbieten zu lassen, wurden von Papst Clemens VIII abgelehnt, nachdem K. vom bekannten Arzt Prosper Alpinus als verdauungs- und menstruationsförderndes Getränk empfohlen worden war. Das erste europäische Land, in dem T. erhältlich war, waren die Niederlande, deren Ostindiengesellschaft T. aus Taiwan importierte. Gerüchten zufolge bestach die Ostindiengesellschaft den Arzt Bontekoe, der daraufhin T. als Allheilmittel anpries, was zur Folge hatte, daß bald die ganze niederländische Ärzteschaft zu vehementen Fürsprechern des T.-Gebrauchs wurde. Nachdem Bontekoe, der bei Fieber 4 0 Tassen T. empfahl und angab, selbst täglich 100 Tassen T. zu trinken, die Gichtbeschwerden des Kurfürsten von Brandenburg mit T. behandelt hatte, gewann T. auch im Norden Deutschlands rasch an Popularität. Im Binnenland Deutschlands setzte sich anfangs eher K. durch, wobei auch hier die medizinische Anwendung zunächst überwog. Unter anderem wurde K. vom Augsburger Arzt Rauwolf als nützliches Getränk bei Magenleiden angepriesen. Die Einführung des T. und K. in Europa fiel mit einer von den Protestanten im 17. Jh. vehement geführten K a m p a g n e gegen die Trunksucht zusammen. Äus diesem Grund wurden beide Getränke anfangs freudig begrüßt. In den Niederlanden, die vom T.- und K.-Handel erheblich profitierten, hielt diese Beurteilung längerfristig an. In Deutschland, w o sich mit der zunehmenden Popularität beider Getränke ein wachsender Devisenverlust abzeichnete, änderte sich

Geschichte des Tees und des Kaffees im 18. Jh. die Sichtweise. T. und K. wurden zu undeutschen Getränken erklärt und Alkohol wieder positiv definiert. M a n sah nun eine Vielzahl von Tugenden - wie Redlichkeit, Offenherzigkeit, Mut, Fleiß und Treue, die man plötzlich als Resultat der Trinkleidenschaft der Deutschen verstand - durch die neuen Drogen gefährdet. Als T. und K. um 1640 in Frankreich bekannt wurden, gab es im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern anfangs vehemente von Ärzten geführte Kampagnen gegen beide Drogen. Einige einflußreiche Ärzte hatten beschlossen, sich auf die Seite der Weinbauern zu stellen, die sich durch die neuen Getränke in ihrer Existenz bedroht sahen. Die massiven Bedenken der medizinischen Fakultät wurden vom Königshof allerdings nicht geteilt, und die negative Beurteilung der Ärzteschaft setzte sich daher in der Gesellschaft nicht durch. Die Briten, die heute den größten T.-ProKopf-Konsum der Welt haben, lernten ihr Nationalgetränk erst zwei Jahre nach dem K. kennen. 1658 brachte die englische Ostindiengesellschaft den ersten T. nach England und machte diesen der portugiesischen Frau des englischen Königs Charles II zum Geschenk. Die Königin popularisierte T. unter den Frauen des Hofs. In der Folge bekamen T. und K. eine geschlechtsspezifische, politische und religiöse Symbolbedeutung, die sie in anderen Ländern nie hatten. T. wurde von den Briten als Getränk wohlhabender Frauen und des unbeliebten, katholikenfreundlichen, zum Absolutismus tendierenden Königs erlebt, und K. galt als Getränk einfacher protestantischer Männer. Beide Seiten fanden immer auch Ärzte, die den jeweiligen Standpunkt vehement in der Öffentlichkeit unterstützten. So wurde ζ. B. von der einen Seite die Ansicht vertreten, daß K. den Körper austrockne und impotent mache, und von der anderen, daß der T.K o n s u m der Mütter für die hohe Säuglingssterblichkeit verantwortlich sei. 291

Geschichte des Tees und des Kaffees

In Österreich fanden gehobene Kreise ebenfalls rasch Geschmack am K., es dauerte allerdings vergleichsweise lange, bis T. und K. auch im einfachen Volk Anklang fanden. 4. T. und K.-Verbote in Europa. Auch wenn T. und K. in Europa seit deren Einführung um 1600 fast immer positiv beurteilt wurden, so gab es doch auch immer wieder Strömungen gegen den T.- und/oder K.-Konsum. Es kam mitunter zu Einschränkungen und vereinzelt sogar zu ausdrücklichen Verboten. Abgesehen von einem kurzen K.-Verbot in Osterreich (1810-1813) in Zusammenhang mit der Napoleonischen Kontinentalsperre gab es in Europa vor allem in Deutschland Bestimmungen zur Konsumbegrenzung und Konsumverbote. Ab 1701 hob Preußen einen hohen Importzoll auf Τ., K. und Kakao ein, und Personen, die diese Getränke konsumieren wollten, mußten einen staatlichen Permissionszettel erwerben. 1781 wurde das Rösten von K. in Preußen zum Staatsmonopol erklärt, und um Privatröster zu ertappen, wurden eigene „K.Schnüffler" angestellt. Der Bischof von Hildesheim verbot 1768 nicht nur den Besitz und Konsum von K. sondern auch den Besitz von K.-Geschirr. Der Fürstbischof von Paderborn erklärte 1777 K.-Genuß zum Vorrecht des Adels und der Geistlichkeit und bedrohte zuwiderhandelnde Bürger und Bauern mit Stockschlägen. Der Kurfürst von Hannover verbot 1780 den Verkauf von K. auf dem Lande und den Verkauf von kleinen K.-Mengen, wodurch er K.Konsum indirekt zum Privileg von Wohlhabenden machte. In Ostfriesland wurde T. vorübergehend als „Drachengift aus China" verboten. Auch in Schweden und in der Schweiz ist es im 18. Jh. zu K.-Verboten und Einschränkungen gekommen. Alle diese Maßnahmen wurden allerdings vor dem Ende des 18. Jh. wieder zurückgenommen. 5. T. und K. als Inhalt gesellschaftlicher Treffen. So, wie schon im arabischen und 292

Geschichte des Tees und des Kaffees

osmanischen Reich, entstanden in den meisten europäischen Ländern bald K.Häuser als gesellige Treffpunkte. Blumige Umschreibungen für K.-Häuser wie „Schulen der Weisheit" in Istanbul oder „Penny Universitäten" in England zeigen recht deutlich, daß K. mit der Schärfung des Verstandes assoziiert wurde. K.-Häuser galten als Zentren freien Denkens und politischer Unruhe. K. galt als „radikalstes Getränk der Welt" und als „Getränk der Demokratie". So erfolgte z.B. der Aufruf zum Sturm auf die Bastille und die Deklaration der Menschenrechte in einem Pariser K.-Haus. Angriffe gegen K. und K.-Häuser sowie K.-Verbote im Laufe der Geschichte waren daher auch immer Versuche, mit einem sachlichen Vorwand gegen politische Dissidenten vorzugehen. Etwas anders als im restlichen Europa verlief die Entwicklung in Großbritannien und in Deutschland. In Großbritannien entwickelten sich die K.-Häuser zu Vorläufern der elitären englischen Klubs mit rigiden Verhaltensvorschriften, zu denen die unteren Schichten und Frauen keinen Zutritt hatten. Es etablierten sich deswegen T.-Gärten und T.Häuser als Orte, in denen auch Mitglieder der einfachen Gesellschaft beiderlei Geschlechts willkommen waren. In Deutschland etablierte sich der K.-Konsum vor allem im privaten Kreis der Familie oder im „K.-Kränzchen" befreundeter Frauen, was der deutschen K.-Kultur ein eher spießbürgerliches Gepräge verlieh. 6. T. und K. als Wirtschaftsgut im Laufe der Geschichte. Als erstes europäisches Land profitierte Italien (die Hafenstädte Venedig und Genua) vom K.-Handel mit Arabien. Der K.-Handel war anfangs ausschließlich über die Hafenstadt Mokka (im heutigen Jemen) abgewikkelt worden, was dazu führte, daß sich für K. bald die Bezeichnung „Mokka" einbürgerte. Frankreich begann in der Folge, mittels K.-Pflanzungen in der Karibik ebenfalls am K.-Geschäft teil-

Geschichte des Tees und des Kaffees zunehmen, und erzeugte um 1800 rund 2 h der Weltk.-Produktion. Die Niederländer initiierten und kontrollierten ab 1610 den T.-Handel mit China. Die niederländische Ostindiengesellschaft hatte anfangs eine Monopolstellung im T.-Handel. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. veränderten sich dann allerdings die Gewichte im T.-Handel rasch zuungunsten der Niederlande und zugunsten von Rußland und England. Rußland begann chinesischen T. (Karawanent.) über die Mongolei nach Europa zu liefern. England verfügte, daß Überseeprodukte nur auf englischen Schiffen nach England gebracht werden dürfen. Die neu gegründete englische Ostindiengesellschaft erwirkte 1676 vom chinesischen Kaiser ein Seehandelsmonopol mit China, und außerdem begann England erfolgreich, in Indien T. und in Ceylon K. zu pflanzen. U m nicht ganz aus dem lukrativen Geschäft mit T. und K. verdrängt zu werden, begannen die Niederländer 1696 erfolgreich, auf Java K. und ab 1878 auch T. zu kultivieren. In Binnenländern wie Deutschland und Österreich, die weder über geeignete Überseekolonien noch über eine handelsstrategisch gute Lage verfügten, ergaben sich mit zunehmendem T. und K.K o n s u m der Bevölkerung Probleme für die Handelsbilanz. Während Österreich darauf eher gelassen reagierte, versuchte Preußen Bier und den Zichorienk. als K.Ersatz zu propagieren, wobei Gutachten der medizinischen Fakultät die gesundheitsfördernde Wirkung des Zichorienk. und die gesundheitsschädigende Wirkung des K. untermauerten. Für den Ersatzk. bürgerte sich das Wort „Muckefuck", eine Verballhornung für das französische Wort „Mokka faux", ein. Der Erbfeind Preußens, die österreichische Monarchie, verbot daraufhin die Einfuhr des preußischen Zichorienk. und begründete diese M a ß n a h m e ebenfalls mit einem Gutachten der medizinischen Fakultät, das dem preußischen Gutachten diametral zuwiderlief.

Geschichte des Tees und des Kaffees Die Erzeugung von T. und K. in den eigenen Überseekolonien erfolgte in der Regel rasch; ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der bodenständigen Bevölkerung und ohne Rücksicht auf die Natur. Die plötzliche Umstellung von der traditionellen Subsistenzwirtschaft auf eine exportorientierte T. und K.-Produktion machte die U m w i d m u n g großer landwirtschaftlicher Flächen notwendig, wobei die ansässigen Bauern meist einfach enteignet wurden. Ein besonders krasses Beispiel war der niederländische K.-Anbau in Java, der so stark forciert wurde, daß auf der Insel Hungersnöte ausbrachen. Das niederländische Parlament mußte nach Protesten ein Gesetz verabschieden, das Plantagenbesitzern verbot, den K.-Anbau bis zur Hungersnot der einheimischen Bevölkerung auszuweiten. Aber auch heute noch ergibt sich durch die Exportabhängigkeit der meisten Anbauländer eine fatale Abhängigkeit von den wirtschaftlich und politisch wesentlich potenteren Industrienationen, wodurch erstere den Rohstoffpreisschwankungen am Weltmarkt durchwegs recht hilflos ausgeliefert sind. Auch die Umsiedlung von Personen aus anderen Regionen, um genügend und billige Arbeitskräfte für die K.- und T.Plantagen zu haben, hatte für manche Regionen recht nachhaltige Auswirkungen. Auf den französischen Karibikinseln kamen afrikanische Sklaven zum Einsatz, weswegen nach einem Sklavenaufstand die gesamte karibische K.-Produktion schlagartig ausfiel. Daß indische Tamilen in großem U m f a n g als Arbeitskräfte nach Ceylon geholt wurden, verursacht heute noch große ethnische Spannungen in der Region, die sich nun schon seit vielen Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg entladen. Auch daß z . B . in Guatemala, einem Land, in dem K. 4 0 % des Exportvolumens ausmacht, 389 Familien 70% des bebaubaren Landes und 85% des K.-Anbaus kontrollieren, ist eine späte Folge der skrupellosen Kolonialpolitik mit 293

Geschichte des Tees und des Kaffees dramatischen sozialen und politischen Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Große Monokulturen, wie sie beim K.und T.-Anbau vorkommen, stellen für die tropischen Anbaugebiete auch ein großes ökologisches Problem dar. Bodenerosion, unkontrollierte Ausbreitung von Schädlingen, Störung des Wasserhaushalts, Vergiftung der Umwelt durch Pestizide, Verarmung der Vegetation und teilweise sogar Klimaveränderungen sind der Preis, den viele Entwicklungsländer für die K.- und T.-Versorgung der Industrienationen bezahlen. Ein besonders krasses Beispiel für eine ökologische Katastrophe war das Auftreten eines Rostpilzes in Ceylon, der 1868 einen Großteil der K.-Plantagen zerstörte, was zu einer regionalen Wirtschaftskrise und in der Folge zu einer raschen Umstellung auf T.-Anbau führte. 7. T. und K. als aktueller Wirtschaftsfaktor. 1996 wurden weltweit 6,2 Mio. t K. und 2,7 Mio. t T. produziert. Das sind ca. 1,1 kg K. und 0,5 kg T. pro Jahr und Erdbewohner. Bei einem Exportpreis u m 2,7 U S $ pro kg K. und einem Exportpreis um 1,7 U S $ pro kg T. ergibt sich ein Wert von rund 17 Mrd. US $ bei K. und von 4,6 Mrd. U S $ bei T. Rund 3/4 der K.-Produktion und rund V3 der T.-Produktion gehen in den Export. Mit einem Jahresexportvolumen von deutlich mehr als 10 Mrd. US $ stellt K. die zweitwichtigste Welthandelsware dar, während T. mit unter 2 Mrd. US $ Jahresexportvolumen bloß eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt. Seit langem gibt es Versuche, den T.- und K.-Preis durch internationale A b k o m men in einem für Erzeuger und Konsumentenländer akzeptablen Bereich zu halten. Alle Versuche, die Preise längerfristig stabil zu halten, sind bis heute allerdings gescheitert. Das erste internationale K . - A b k o m m e n kam 1992 unter Einbeziehung der Erzeuger und Verbraucherländer zustande. Die USA als bedeutendstes Verbraucherland, das 294

Geschichte des Tees und des Kaffees 30% des K.-Weltexportvolumens verbraucht, waren dabei tonangebend. D e m ersten Vertragswerk folgten vier weitere (1968, 1976, 1983 und 1994), die von der internationalen K.-Organisation (ICO) verwaltet werden, aber große Preisschwankungen nie verhindern konnten. So betrug der K.-Preis z . B . 1971 1 US $/kg, stieg 1977 auf 5,2 US $, sank 1992 auf 1,4 U S $, stieg 1995 wieder auf 3,3 US $ an und betrug 1996 2,7 US $. Nachdem die I C O offensichtlich gescheitert war, formierte sich 1993 eine Initiative der Erzeugerländer (Association of C o f f e e Producing Countries, ACPC), der nunmehr 28 Staaten mit 85% der Weltk.-Produktion angehören und die sich zur A u f g a b e gemacht hat, den K.-Preis durch Kontrolle der Abgabe einseitig zu stabilisieren. Die wichtigsten K.-Produzenten sind Brasilien (21%), Kolumbien (12%), Mexiko (6%) und Indonesien (5%). Was die U S A als Verbraucherland für K. sind, ist Großbritannien für T. Großbritannien verbraucht fast '/s des T.-Weltexportvolumens. Das erste T.-Abkommen war 1935 unter britischer Führung zustandegekommen, zumal die wichtigsten Produzentenländer Indien und Sri Lanka damals noch Teil des britischen Kolonialreiches waren und sich so die Interessen des wichtigsten Produzenten und Konsumenten in Großbritannien vereinigten. Versuche der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) nach dem Zerfall des britischen Kolonialreichs ein neues effektives T.A b k o m m e n zustandezubringen, scheiterten bis heute. Kurzfristig, in den Jahren 1983 und 1985, gelang es Indien einseitig, d. h. ohne Abstimmung mit den Konsumentenländern, den T.-Preis durch eine Kontingentierung auf ein hohes Niveau zu bringen. Diese Versuche scheiterten allerdings längerfristig, da andere Erzeugerländer ihre dadurch entstandenen Chancen am Weltmarkt nutzten. Die wichtigsten T.-Produzenten sind Indien (29%), China (23%), Sri Lanka (10%), Kenya (8%) und Indone-

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht

Geschlecht sien (6%). -»-Geschichte des Alkohols; -•Geschichte des Tabaks Lit.: Aleijos (1977), T ' U CH'UAN Grüne Wunderdroge T. - Schicksal einer Heilpflanze in 5 Jahrtausenden. Braunmüller, Wien; FAO (1998), FAOSTAT Database Results, internet, www. fao.org; Hadwiger, P., Hippler, J., Lötz, H. (1983), K. - Gewohnheit und Konsequenz. Marandü, Wuppertal; Maritsch, F., Uhl, A. (1989), K. und T„ in: Scheerer, S., Vogt, I., Drogen und Drogenpolitik, Campus, Frankfurt; Okakura, K. (1981), Das Buch vom T. Insel Taschenbuch, Baden-Baden; Rotzoll, F., Müller-Henniges, H.-G. (1998), Deutscher K.-Verband, Hamburg; Völger, G., Welck, K. (1982), Rausch und Realität Drogen im Kulturvergleich. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Alfred Uhl und Friedrich Maritsch, Wien Geschlecht -•Geschlechtsspezifische Aspekte Sucht

der

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht I. Psychotrope Substanzen, geschlechtsspezifische Konsummuster und geschlechtsspezifische Risiken. In allen Industrieländern variiert der Konsum von -»psychotropen Substanzen systematisch mit dem Geschlecht, unbeschadet erheblicher Differenzen des ProKopf-Konsums in den jeweiligen Gesellschaften. Männer liegen mit ihren Konsummengen weit über denen der Frauen beim Alkohol und bei den illegalen Drogen. Ihre Konsumgewohnheiten stehen in engem Zusammenhang mit spezifischen, sozialen und gesundheitlichen Gefährdungen, insbesondere mit der Entwicklung von Sucht. Vergleicht man die Daten über Alkoholismus (Edwards et al. 1997) und Abhängigkeit von illegalen Drogen (Vogt 1998) miteinander, dann überwiegen z.B. in Deutschland die Männer die Frauen im Verhältnis von maximal 4:1 oder miniman:!.

Für Alkohol ist mittlerweile der Zusammenhang zwischen der konsumierten Menge (in Kombination mit der Konsumhäufigkeit sowie einigen weiteren Variablen) und der damit gekoppelten Problembelastung gut belegt. Je höher der durchschnittliche Alkoholkonsum der Männer liegt, umso größer ist ihr Risiko, wegen ihrer Konsumgewohnheiten Probleme am Arbeitsplatz, mit Freunden oder mit Familienmitgliedern zu haben, im angetrunkenen Zustand am Arbeitsplatz oder im Straßenverkehr in einen Unfall verwickelt zu sein oder wegen Gewalttätigkeiten gegenüber anderen, sehr oft gegen Frauen und Kinder, aufzufallen. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit an, daß sich -•Sucht entwickelt. Das Risiko ist am höchsten für Männer der Altersgruppen zwischen 20 und 40 Jahren. Frauen weisen selbst bei hohem Alkoholkonsum in all diesen Bereichen eine insgesamt genommen geringere Problembelastung auf. Für beide Geschlechter gilt allerdings, daß mit der Dauer des exzessiven Konsums die Gefahr zunimmt, alkoholabhängig zu werden. Von den illegalen Drogen haben vorerst nur Haschisch bzw. Marihuana (mit einer Lifetime--»Prävalenz von 20%) eine relativ breite Konsumentenschicht erreicht, und da wiederum doppelt so häufig Männer als Frauen. Die Gefährdungen, die mit diesem Konsum verbunden sind, werden kontrovers diskutiert. Als neuen Trend beobachtet man einen rasanten Anstieg des Konsums von sogenannten Partydrogen, zu denen neben MDMA (Szenenname -»Ecstasy) die -•Amphetamine und -»LSD zählen (Rakete und Fülsmeier 1997). Das Gefährdungspotential dieser Drogenmischungen sollte nicht unterschätzt werden. Opiate, insbesondere -»Heroin, und Aufputschmittel wie -»Kokain und neuerdings -»Crack, werden nur von einer vergleichsweise kleinen Minderheit ausprobiert. Bleibt es nicht beim Experimentieren, und gewöhnen sich die Konsumenten an die Drogenwirkun295

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht gen, dann entwickelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Sucht. Längere Suchtkarrieren sind in der Regel mit dem sozialen Abstieg der Betroffenen verbunden. Im Durchschnitt haben süchtige Frauen eine höhere Belastung mit anderen psychischen Störungen als süchtige Männer, z . B . -•Eßstörungen, Depressionen und Ängsten ( ^ K o m o r bidität). D a f ü r haben diese im Vergleich zu den Frauen eine um vieles höhere Kriminalitätsbelastung ( "-Sucht und Kriminalität) (Kreuzer et al. 1991). Dazu kommt ein ebenfalls höheres Risiko, an einem Selbstmordversuch, einer Überdosierung bzw. an unverträglichen Drogenkombinationen zu sterben (Heckmann et al. 1993). Frauen nehmen freilich im Vergleich zu den Männern sehr viel mehr psychotrope Medikamente wie Schmerzmittel, Beruhigungs- und Schlafmittel, Antidepressiva, Neuroleptika sowie eine nahezu unüberschaubare M e n g e von Kombinationspräparaten (-•Medikamentenabhängigkeit). Es handelt sich also um ein breit gefächertes Angebot von Mitteln, von denen die meisten in Deutschland rezeptpflichtig sind. Eine Ausnahme von dieser Regel stellen die Schmerzmittel dar, die sich Frauen vor allem in den Altersklassen zwischen 20 und 50 Jahren in großen Mengen selbst kaufen. Sie bekämpfen damit ihre alltäglichen Schmerzen, die offenbar weit größer sind als die von Männern. Erst im hohen -•Alter, also ab 70 Jahren, gleichen sich die Geschlechter an, wenn es um den Schmerzmittelkonsum geht. Ärzte verordnen vor allem Frauen ab 4 0 Jahren psychotrope Medikamente. Als Grund für die Verordnung gelten Diagnosen wie Neurosen, Ängste, Depressionen usw. Insbesondere die zu den -•Benzodiazepinen gehörenden Beruhigungs- und Schlafmittel haben ein verhältnismäßig hohes Suchtpotential (Glaeske et al. 1997). Frauen haben also ein weit höheres Risiko als Männer, sich an den Konsum dieser Medikamente zu gewöhnen und süchtig zu werden. So-

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Geschlechtsspezißsche Aspekte der Sucht fern es sich dabei um ärztliche Verordnungen handelt, sind Ärzte an der Suchtentwicklung beteiligt; die Sucht wird u. U. iatrogen ausgelöst (->iatrogene Abhängigkeit). In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle verläuft die Sucht unspektakulär, d. h. die Frauen fallen weder durch Verhaltens- noch durch Wesensveränderungen auf, sie sind vielmehr sozial gut angepaßt. Allerdings wehren sie sich auch nicht gegen unzumutbare Anforderungen und Erwartungen. Ganz offenbar helfen ihnen die Medikamente, sich selbst mit widrigen Lebensumständen zu arrangieren, neben anderem mit gewalttätigen und ausbeuterischen Männern und Partnern. Sie setzen die Medikamente nicht ein, um sich den unangenehmen und selbstzerstörerischen Lebensumständen zu entziehen, sondern um mit diesen „besser" zurecht zu k o m m e n . Nicht selten bemerken sie erst, daß sie von den Medikamenten abhängig sind, wenn diese kurzfristig abgesetzt werden. Selbstverständlich haben auch diese Medikamente unerwünschte Nebenwirkungen, allerdings sind diese z . B . bei den Benzodiazepinen vergleichsweise gering. Die Gefährdung liegt hier ganz eindeutig im Abhängigkeitspotential der Medikamente und in der allgemeinen Lethargie, die mit ihrem K o n s u m verbunden ist. Das Gefährdungspotential der psychotropen Medikamente steigt an, wenn sie mit anderen psychotropen Substanzen kombiniert werden. An erster Stelle sind hier die alkoholischen Getränke zu nennen, die gewöhnlich die Wirkung der Medikamente verstärken. •Polytoxikomanie mit den damit verbundenen teils unauffälligen teils sehr komplexen Störungsbildern ist typisch für Frauen, die von all den verschiedenen Stoffen vergleichsweise kleine Mengen einnehmen, die aber in der Kombination umso größere Wirkungen haben können. Besonders auffällig sind paradoxe Reaktionen wie aggressive Ausbrüche und Wutanfälle, aber auch Angstanfälle mit Schlaf-

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht

losigkeit usw., die mit den Medikamenten eigentlich unterdrückt werden sollen, tatsächlich aber durch die Drogenmischungen ausgelöst werden. Für Frauen ist der (exzessive) Konsum aller psychotropen Substanzen während der Schwangerschaft ganz besonders gefährlich. Über den mütterlichen Organismus erreichen die Wirkstoffe den kindlichen Organismus, dessen Entwicklung sie behindern, verzögern oder beschädigen können. Das Risiko für den Fötus variiert mit den Stoffen, der Intensität und Dauer des Konsums und dem Entwicklungsstadium. Besonders riskant ist polytoxikomaner Drogenkonsum in Kombination mit einem Lebensstil, der durch -»Armut, Obdachlosigkeit oder ganz generell durch Hilflosigkeit geprägt ist. Je nach den konsumierten Drogen kann es zu Entwicklungsverzögerungen oder Mißbildungen kommen, die das Kind u. U. lebenslang beschädigen -»Embryopathie. Nach der Geburt, die oft mit Komplikationen verbunden ist, reagieren die Mütter häufig mit Schuldgefühlen auf die Not ihrer Kinder, und das belastet wiederum die Mutter-Kind-Beziehung. Die Lebensbedingungen der Kinder sind also nicht nur in der vorgeburtlichen Phase nicht optimal, sondern sehr oft auch in den nachfolgenden Jahren (Vogt 1996). Die Kinder antworten darauf mit Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Inwieweit Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit das Erbgut und die Zeugungsfähigkeit von Männern beeinträchtigt, ist weitgehend unbekannt. Es läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschätzen, wie hoch hier das geschlechtsspezifische Risiko zu veranschlagen ist. 2. Erklärungsmodelle für die geschlechtsspezifischen Differenzen. Wie kann man sich diese Unterschiede im Umgang mit psychotropen Stoffen und der Entwicklung von Sucht bei Frauen und Männern erklären? Zunächst ist hier auf die geschlechtsspezifische Sozialisa-

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht

tion zu verweisen, also auf die spezifische Art und Weise, wie Mädchen und Jungen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus die Geschlechtsrollen und die dazugehörigen Geschlechtsstereotypen lernen. Zwar sind die Geschlechtsrollen im Wandel begriffen, aber das hat bisher noch nicht zur Auflösung der klassischen Rollenmuster geführt. Wie stark der Wandel der Geschlechtsrollen in der Sozialisation berücksichtigt wird, hängt nicht zuletzt von der sozioökonomischen Lage der Familie ab: Der Konformitätsdruck ist am niedrigsten in der Ober- und Mittelschicht, er ist am stärksten in der Unterschicht. Ebenfalls in der -»Kindheit werden die Grundlagen gelegt für den geschlechtsspezifischen Umgang mit psychotropen Substanzen. Mädchen und Jungen lernen die instrumenteilen, sozialen und symbolischen Funktionen der verschiedenen Substanzen kennen. Diese haben für beide Geschlechter unterschiedliche Seiten und Bedeutungen; sie lassen sich also zu durchaus unterschiedlichen Zwecken einsetzen. Zur weiblichen Geschlechtsrolle gehört demnach der kontrollierte und „weiche" Umgang mit Drogen, zur männlichen der tendenziell unkontrollierte und „harte". Das gilt für die verschiedenen Stoffe ebenso wie für die Konsummengen und die damit verbundenen Verhaltensstile. Die symbolische Besetzung von Stoffen als „hart" z.B. hochprozentige Alkoholika, Zigaretten mit hohem Nikotingehalt, aber auch illegale Drogen wie Heroin und Kokain - oder von Verhaltensweisen ζ. B. sich betrinken bis man umfällt oder auch illegale Drogen injizieren - grenzt einen Handlungsbereich ab, der Männern vorbehalten ist (Helfferich 1994, Kolip 1997). Frauen können in diesen eindringen, ein Vorgang, der Rebellion signalisiert und meistens mit besonderen Sanktionen belegt ist. Anfangs sind die Eltern die wichtigsten Rollenmodelle, wenn es um -»Drogenkonsum geht. Kinder erfahren in der (er297

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht weiterten) Familie, mit welchen psychotropen Substanzen Frauen und Männer umgehen, und welche Verhaltensweisen in welchen Situationen von welchen Personen und Gruppen toleriert werden. In diesem komplexen Lernprozeß spielt das gesamte Beziehungsgefüge zwischen Eltern und Kindern eine erhebliche Rolle, wie auch die Formen der Kommunikation zwischen allen Familienmitgliedern. Schon frühzeitig kommen andere sozialisatorische Einflüsse dazu; zu erwähnen sind hier neben d e m Kindergarten (-»Elementarbereich), der - • S c h u l e und den Peergruppen (-»Jugend) vor allem die Medien mit ihrem Uberangebot an Worten, Musik und Bildern. Sie greifen ein in den Sozialisationsprozeß mit virtuellen Rollenmodellen, denen Kinder ebenso wie Jugendliche und Erwachsene dennoch nachzueifern suchen. Sie transportieren zugleich Botschaften über den U m g a n g mit psychotropen Substanzen und über Suchtgefahren, die, da sie sich in virtuellen Räumen abspielen, nicht ohne weiteres auf ihren Realitätsgehalt überprüft werden können. Die Zuschauer werden vielmehr mit den Botschaften allein gelassen. Geht es um psychotrope Stoffe, führt der Realitätstest oft schnell zu Problemen. Nun ist nicht jeder K o n s u m von Drogen gleichzusetzen mit d e m Beginn von Sucht. Für Frauen und Männer m u ß einiges zusammenkommen, damit sich Sucht entwickelt. Dazu gehört eine offenbar für beide Geschlechter verschiedene biologische -»Vulnerabilität. Frauen und Männer, die in Familien aufwachsen, in denen ein Elternteil oder beide süchtig sind, haben ein ungleiches Risiko, selbst süchtig zu werden: das der Männer ist erheblich höher als das der Frauen (Searles 1994). Andererseits ist der weibliche Organismus anfälliger für die Drogenwirkungen. Das heißt, daß Frauen stärker auf Drogen reagieren, diese aber nicht schneller abbauen als Männer. Man nimmt an, daß es auch daran liegt, daß Frauen statistisch ge298

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht sehen in kürzerer Zeit von Drogen körperlich abhängig werden als Männer. Psychische -»Abhängigkeit ist allerdings komplexer als körperliche; sie folgt nicht einfachen biologischen Mechanismen. Dazu k o m m e n in vielen Fällen Entwicklungsstörungen in der Kindheit und Jugend. Hier ist vor allem auf Traumatisierungen zu verweisen durch Vernachlässigung, Kindesmißhandlung und sexuellen Mißbrauch. Solche einschneidenden Erfahrungen behindern die Identitätsentwicklung oft nachhaltig. Sie bahnen zugleich auf eine bislang noch unbekannte Weise die Anfälligkeit für Sucht. Die Betroffenen beginnen dann meist schon im Jugendalter, in auffälliger Weise mit Drogen zu experimentieren. Manche werden schon in dieser Lebensphase süchtig. Aber es gibt auch ganz andere und weit weniger spektakuläre Suchtentwicklungen. Etwas plakativ überzeichnet kann man sagen, daß Frauen stärker auf Störungen in ihrem familialen Umfeld reagieren als Männer. Diejenigen von ihnen, die zur Bewältigung von Konflikten in der Familie psychotrope Substanzen nehmen, laufen Gefahr, den Konsum zu steigern bis zur Sucht. Das gilt vor allem für diejenigen Konsumentinnen, denen z.B. der Alkohol, die Medikamente oder eine Kombination von Stoffen psychische Erleichterungen bringen. Sie gewöhnen sich an die Wirkung. Allzu leicht übersehen sie Zeichen körperlicher und psychischer Abhängigkeit. Bei polytoxikomanem Niedrigkonsum bleibt die Sucht oft sehr lange verborgen. Erst wenn die Dosis nicht mehr ausreicht zur Verdrängung der Konflikte oder wenn die Mittel abgesetzt werden, wird die Sucht in verschiedenen Ausprägungen sichtbar. Im einen Fall suchen die Frauen nach Dosissteigerungen, und dazu sind ihnen alle legalen und illegalen Mittel recht. Sie nehmen auch in Kauf, daß die Drogen ihre Gesundheit zerstören. Im anderen Fall stellen sich Entzugssyndrome ein, die eine klinisch-therapeutische

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht Behandlung notwendig machen. Im Rahmen dieser Behandlung werden sie als Süchtige diagnostiziert, ein Stigma, mit dem sie leben lernen müssen. Männer reagieren dagegen stärker als Frauen auf Schwierigkeiten bei der Berufsfindung und Problemen im Berufsleben. Dazu kommt ihr vergleichsweise großes Risiko, in die Sucht zu schlittern, weil es ihnen erlaubt ist, „hart" zu konsumieren. Wer ohnehin schon viel trinkt, und wer dann noch bei Konflikten mit d e m Arbeitgeber oder den Arbeitskollegen den Konsum steigert, braucht nicht viel, um süchtig zu werden. Viele Männer agieren ihre Sucht offen aus, was sie nicht daran hindert, diese zu leugnen. Zeichen von körperlicher und psychischer Abhängigkeit gelten ihnen als Schwächen, gegen die sie immer von neuem mit den Suchtmitteln angehen. In Ländern wie Deutschland mit großer Toleranz gegenüber Konsumexzessen werden Männer erst sehr spät in ihrer Suchtkarriere mit negativen Konsequenzen konfrontiert. Diese setzen dann aber recht radikal ein. Auch süchtige Männer werden stigmatisiert. Die Ausgrenzung macht es ihnen schwer, sich in klinischtherapeutische Behandlung zu begeben. Die Mehrzahl von ihnen geht eher unfreiwillig in die Suchtkliniken, in denen sie sich dann meist fehl am Platze fühlen. Frauen wie Männer, die süchtig waren, haben ein vergleichsweise hohes Rückfallrisiko. In Lebenskrisen neigen sie dazu, in alte und „bewährte" Verhaltensweisen zurückzufallen. Sucht ist eine Möglichkeit, sich Krisen zu entziehen. Unter dem Einfluß von Drogen wird man unempfindlich gegenüber Störungen, reagiert nicht mehr auf Schmerz und wird mehr oder weniger gleichgültig gegenüber der Außenwelt. Damit ist der soziale Abstieg vorgezeichnet. In Reaktion auf das Verhalten der Süchtigen ziehen sich die anderen zurück. Drogenabhängige vereinsamen schnell. A m Ende bleiben sie unter sich, in ihrer Subkultur, in der sie, von

Geschlechtsspezifische Aspekte der Sucht den anderen verachtet, eine Randexistenz führen. 3. Geschlechtsspezifische Wege aus der Sucht. Süchtige Episoden enden nicht immer und unbedingt in Suchtkarrieren. O f t handelt es sich um Lebensphasen von verhältnismäßig kurzer Dauer, die die Betroffenen mit und ohne professionelle Hilfe überwinden. Nach neuen Vorstellungen kann man Sucht ebenso wie andere Krankheiten überwinden; man kann also gesunden. Das macht die Frage nach den Wegen aus der Sucht heute so spannend. Wie die Forschung zeigt, unterscheiden sich Frauen und Männer nicht nur in ihrem Konsummuster und in der Entwicklung von Sucht, sondern auch, wenn es um den Ausstieg geht. Der Anteil der Frauen, die vergleichsweise kurze Suchtepisoden durchlaufen, ist allem Anschein nach höher als der der Männer. In diesen Fällen gelingt es den Frauen, aus eigener Kraft oder mit vergleichsweise wenig professioneller Hilfe, ihren Drogenkonsum ganz einzustellen oder so zu verändern, daß sie ihn wieder kontrollieren können. Das ist gut belegt für Frauen, die süchtig nach illegalen Drogen waren (Weber und Schneider 1997). Diese Befunde kann man durchaus verallgemeinern auf die große Gruppe von Frauen, die in bestimmten Lebensphasen psychotrope Medikamente nimmt, von diesen auch physisch abhängig ist, die Mittel aber ohne besondere Schwierigkeiten wieder aufgibt, wenn die aktuellen Probleme überwunden sind. Nicht immer verläuft Sucht bei Frauen so glimpflich. Daneben gibt es die Gruppe von Frauen, bei denen Sucht chronifiziert. Immerhin belegt die Forschung, daß sie entgegen früheren Annahmen genau so gute Heilungschancen haben wie die Männer, wenn sie sich z . B . in stationäre Behandlung begeben. Männer haben im Vergleich mit Frauen statistisch gesehen längere Suchtepisoden. Dennoch gelingt es auch einer Gruppe von Männern, aus eigener Kraft 299

Gesellschaft aus der Sucht auszusteigen (-»Maturing out). Da aber so viel mehr Männer als Frauen überhaupt süchtig sind, und da sie ihre Sucht gewöhnlich ganz offen ausleben, konzentriert sich das Interesse der Hilfeeinrichtungen und der Forschung mehr auf diejenigen, die lange Drogenkarrieren haben. Wie die Daten von katamnestischen Studien zeigen, sind die Hilfsangebote für Süchtige nur begrenzt erfolgreich. Je nach Art der Sucht und nach der Dauer der Karriere gelingt es maximal 50% bis minimal 25%, ihr Leben zu verändern und aus der Sucht auszusteigen. Die Heilungschancen sind für diejenigen Männer besonders gut, die von (nicht-süchtigen) Frauen bei ihren Bemühungen unterstützt werden. Und hier wiederum sind die Männer im Vorteil: Frauen kümmern sich weit mehr um süchtige Männer als Männer um süchtige Frauen. Das unterstreicht einmal mehr die Verschiedenheit der Geschlechter, wenn es um Sucht geht. Lit.: Edwards, G. et al. (1997), Alkohol und das Gemeinwohl, Stuttgart; Glaeske, G., Günther, J., Keller, S. (1997), Nebenwirkungen: Sucht, München; Hellferich, C. (1995), Jugend, Körper und Geschlecht, Opladen; Heckmann, W. et al. (1994), Drogennot- und -todesfälle, Baden-Baden; Kolip, P. (1997), Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter, Opladen; Kreuzer, Α., RömerKlees, R„ Schneider, H. (1991), Beschaffungskriminalität Drogenabhängiger, Wiesbaden; Rakete, G., Fülsmeier, U. (1997), Der Konsum von Ecstasy. BzgA, Köln; Searles, J. S. (1994), Verhaltensgenetische Forschungen zum Risikofaktor Alkoholismus bei Kindern von Alkoholabhängigen, in: Appel, C. (Hrsg.), Kinder alkoholabhängiger Eltern, Freiburg; Vogt, I. (1996), Drogenabhängige Frauen, Schwangerschaft und Mutterschaft, in: Vogt, I., Winkler, K. (Hrsg.), Beratung süchtiger Frauen: Konzepte und Methoden, Freiburg (Lambertus); Vogt, I. (1998), Gender

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Gesundheitsförderung and Drug Treatment Systems, in: Klingemann, H„ Hunt, G. (Hrsg.), Drug Treatment Systems in an International Perspective - Drugs, Demons and Delinquents, London; Weber, G., Schneider, W. (1997), Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen, Berlin. Irmgard Vogt, Frankfurt Gesellschaft ^•Kultur; »Sozialisation; sche Konzepte

•Soziologi-

Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität Das OrgKG trat 1992 in Kraft und veränderte das materielle Recht sowie das Strafverfahrensrecht. Ziel der strafverfahrensrechtlichen Regelungen ist insbesondere die Schaffung eindeutiger gesetzlicher Regelungen für den Einsatz Verdeckter Ermittler, Rasterfahndungen, Datenabgleich, Telefonüberwachung, den Einsatz technischer Mittel und eine Verbesserung des Zeugenschutzes. •Drogenpolitik Gesprächspsychotherapie -•Psychotherapie; -»Humanistische Psychologie; -»Motivational Interviewing; -»Suchtberatung Gestalttherapie -•Humanistische chotherapie

Psychologie;

-»Psy-

Gesundheitsförderung 1. Hintergrund, Definition. Gesundheitsförderung ist eine sozialpolitische Handlungsphilosophie für alle Bereiche des Gesundheitswesens, die Öffentliche Gesundheitspflege, die medizinische und nicht-medizinische -»Prävention, die Gesundheitsselbsthilfe sowie weitere gesundheitsrelevante gesellschaftliche Sektoren (Krankenhäuser, Betriebe, Gemeinden, Städte u. a.). Das Konzept wurde 1986 von der Weltgesundheitsorganisation W H O mit der „OttawaCharta" vorgestellt, auf mehreren Folgekonferenzen (Adelaide 1988, Sundsvall

Gesundheitsförderung 1991, Jakarta 1997) konkretisiert und ist seitdem weltweit als Modernisierungsimpuls im Gesundheitswesen wirksam geworden. Die W H O hat vielfältige „Settings"-Programme angeregt („Gesunde Städte", „Gesundheitsfördernde Schulen", „Gesundheitsfördernde Krankenhäuser" u. a.), die das gemeinsame Ziel haben, die Prinzipien und Handlungsstrategien in lokale Praxis umzusetzen und auf gesundheitsbezogene Lebensräume anzuwenden. Das Konzept Gesundheitsförderung greift emanzipatorische Impulse aus den Verbraucher- und Frauenbewegungen der 60er bis 80er Jahre auf und entwickelt die Medizin- und Institutionenkritik der Selbsthilfe- und Gesundheitsbewegungen weiter. Einen Großteil seiner professionellen gemeindeorientierten und sozialökologischen Elemente verdankt es d e m Handlungsprinzip Gemeinwesenarbeit der Sozialen Arbeit und der Gemeindepsychologie. Die Ottawa-Charta definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres M a ß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen". Zentral ist die aktive Gestaltung von gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen. Ziel ist der Erwerb und Erhalt größtmöglicher persönlicher und kollektiver Kontrolle über die individuellen, verhaltensbezogenen Bedingungen und die sozialökologischen, verhältnisbezogenen Determinanten von Gesundheit. Dieses Ziel soll durch Stärkung und Wiederbelebung von persönlichen Lebenskompetenzen und sozialen Ressourcen erreicht werden („empowerment"). Stärkung der Gesundheit wird nicht nur als A u f g a b e des einzelnen verstanden (wie es die Vorläufer gesundheitliche Volksbelehrung und Gesundheitserziehung noch sahen), vielmehr als vernetzte Herausforderung in und zwischen allen Feldern öffentlicher und privater Politik, Wirtschaft, Versorgung, Alltagskultur und Gemeindeleben.

Gesundheitsforderung 2. Handlungsfelder und -Strategien, Praxisansätze. Die Gesundheitsförderung definiert als allgemeine Querschnittsaufgaben die Durchsetzung gesundheitlicher Chancengleichheit sowie die beständige Schaffung und Erhaltung von elementaren sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Voraussetzungen für Gesundheit. Als prioritäre Handlungsfelder (im Sinne eines vernetzten Mehr-Ebenen-Modells) werden benannt: - Entwicklung von Lebenskompetenzen bei den Adressaten von Gesundheitsarbeit; - Unterstützung von Gemeinschaftsaktivitäten und Selbsthilfe in Nachbarschaft und Gemeinde; - Neuorientierung und Ö f f n u n g der Gesundheitsdienste, bürgerorientierte Prüfung der Gesundheitsverträglichkeit und Gesundheitsberichterstattung auf allen Ebenen; - Schaffung gesunder Lebenswelten in Gemeinden, Städten und Regionen und Erhaltung der natürlichen Ressourcen auf der ökologischen Mikrowie Makroebene; - Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik durch Verankerung von Gesundheitsförderung auf der politischen Tagesordnung. Zur Umsetzung dienen drei professionelle Handlungsstrategien: - anwaltschaftliche Interessenvertretung für Gesundheit; - befähigen und ermöglichen; - vermitteln und vernetzen (vgl. die folgende Abb.). Praxisansätze der Gesundheitsförderung können vertikal und horizontal sein. Vertikale Ansätze liegen eher im Bereich der individuen- und verhaltensorientierten Prävention. Ihre Ziele und Indikatoren sind die Veränderung von riskanten Lebensweisen bzw. spezifischen Risikofaktoren unter Einbezug des Protektivfaktors soziale Unterstützung. Horizontale Ansätze orientieren auf Lebenslagen und versuchen vorrangig, Veränderungen in gesundheitsrelevan301

Gesundheitsförderung

Gesundheitsforderung

Tätigkeiten

Rollen/Funktionen

Prinzipien/Ziele/Methoden

Interessen vertreten, Partei ergreifen (advocate)

Anwalt

Beteiligung, Partizipation

Befähigen und Ermöglichen (enable)

Anbieter, Unterstützer

Aktivierung, Kompetenzen fördern, Gesundheitspotentiale ausschöpfen

Vermitteln und Vernetzen (mediate)

Mediator, Moderator

Kooperation, Koordination, Vernetzung

ten Settings, d. h. in Lebensräumen und Handlungssystemen, anzustoßen („Verhältnisprävention"). Zwischen beiden Feldern und Ansätzen bestehen durchlässige Grenzen. Präventivmedizinische und verhaltenspräventive Inhalte und Strategien werden in der Gesundheitsförderung nicht überflüssig. Die herkömmliche biomedizinische Hegemonie soll sich jedoch einem systemischen, sozialökologischen Verständnis von Gesundheit und Krankheitsverhütung unterordnen. Im Idealfall umfaßt Gesundheitsförderung das aufeinander abgestimmte Zusammenwirken von zwei Leitorientierungen auf allen Ebenen des Mikro-, Meso- und Makrosystems: Verminderung gesundheitlicher Risiken in Einheit mit der Vermehrung gesundheitlicher Ressourcen. 3. Wissenschaftliche Einordnung, politische Wirkungen. Von gesundheitswissenschaftlicher Seite wird der Gesundheitsförderung - im größeren Verständnisrahmen einer New Public Health, d. h. einer Umorientierung der Öffentlichen Gesundheitspflege auf den Lebensweisen- und Lebenslagenansatz die Richtungsbezeichnung „stromaufwärts" zugewiesen. Damit wird der ätiologische und pragmatische Unterschied zur (Präventiv-)Medizin, traditionellen Gesundheitsaufklärung und Gesundheitserziehung herausgestellt. Jene intervenieren individuell, problembezogen, krankheitsorientiert und unmittelbar. Sie sind angesichts der multifaktoriellen Entstehung und Vorbeugung der zivilisatorischen Gesundheitsrisiken und der massenhaften chronisch-dege-

302

nerativen Erkrankungen eher „stromabwärts" anzusiedeln. „Stromaufwärts" steht hingegen die Veränderung der sozialen Organisation und der Umwelten, in denen gesunde, riskierte oder kranke Menschen leben, im Blickpunkt. Daher fokussiert Gesundheitsförderung zunehmend auf die Intervention in soziale Systeme und umschriebene Settings. Dabei können und sollen Interventionen, wenn nötig, auch „gegen den Strom" wirken. Die Gesundheitsförderung fügt sich ein in einen wissenschaftlichen Perspektivenwechsel. Klassische Ansätze wie die biomedizinisch begründete Prävention und Gesundheitserziehung betrachten Gesundheit und ihre Erhaltung aus primär „pathogenetischem" Blickwinkel, als Risikovermeidung im prekären Status der Nicht- bzw. Noch-Nicht-Krankheit. Gesundheitsförderung zielt dagegen auf den Erwerb, die Erweiterung und den Erhalt von personalen Kompetenzen und sozialen Ressourcen für Gesundheit. Ihr liegt die „salutogenetische" Perspektive auf Gesundheit und Krankheit näher. In Deutschland wurde Gesundheitsförderung 1989 in das Sozialgesetzbuch (SGB V) als Pflichtaufgabe der Krankenkassen eingeführt und als kooperatives Anliegen von Kassen, Ärzteschaft und dem Öffentlichen Gesundheitswesen festgelegt (Gesundheits-ReformGesetz). 1991 hoben die deutschen Ländergesundheitsminister/innen in ihrer 64. GMK-Entschließung als gesundheitspolitisches Ziel hervor, ein Mehr an Gesundheit nicht nur durch die Vermeidung und Begrenzung von

Gesundheitsförderung Krankheiten zu erreichen. Durch Gesundheitsförderung sollen die Lebensverhältnisse von Gesunden, Kranken und unter besonderen Risiken Lebenden einbezogen werden; eine „aktive Gestaltung" der stofflichen und sozialen Lebensbedingungen sei das neue Ziel. 1996 wurde die Gesundheitsförderung wieder aus dem S G B V herausgenomm e n (Beitrags-Entlastungs-Gesetz). Die Pflichtaufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung in der Prävention sind seitdem auf medizinisch begründete und von der Ärzteschaft durchzuführende krankheitsbezogene Früherkennungsund Vorsorgeuntersuchungen zurückgeführt. 4. Perspektiven und Kritik. Das in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung vorgestellte Handlungskonzept führt neue Perspektiven in das präventiv orientierte Gesundheitswesen und dessen angrenzende Felder ein: - Orientierung an Gesundheit statt Krankheit mit dem Ziel einer praktisch umgesetzten salutogenetischen Perspektive in Alltag, Gemeinschaften, Institutionen und Strukturen der Gesundheitspolitik; - Orientierung an Kompetenzen, Schutzfaktoren und Ressourcen statt an Vermeidungsverhalten, Risikofaktoren und Defiziten; - Selbstverständnis von Gesundheitsförderung als persönliches und gemeinschaftliches Empowerment zur Kontrolle der Bedingungen der eigenen Gesundheit, als Einheit von Verhaltens- und Verhältnisprävention; - Teilhabe und Autonomie bei allen persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Entscheidungen zur Gesundheit, verbunden mit der Unterstützung von Selbsthilfepotentialen; - Kontrolle und (Um-)Gestaltung der lebensweltlich und politisch gesundheitsrelevanten Determinanten von Lebensweisen und Lebenslagen; - intersektorale Zusammenarbeit in der

Gesundheitsförderung gesundheitlichen Versorgung und mit Sektoren außerhalb des Gesundheitswesens, mit der Perspektive, die bisherige medizinische Hegemonie in Theorie und Praxis aufzuheben. Die Bezeichnung Gesundheitsförderung steht aber auch in Gefahr, zur Projektionsfläche oder zum floskelhaften Trendbegriff zu werden, der mit inflationärer Tendenz beliebig vielen Aktivitäten in der Prävention übergestülpt wird. Der Vorwurf des Etikettenschwindels, des „alten Weins in neuen Schläuchen", wurde früh erhoben und hat wenig von seiner Aktualität verloren. Es besteht ein deutliches Mißverhältnis zwischen der rhetorischen Verbreitung und Akzeptanz des Gesundheitsförderungs-Programms und den „harten" Investitionen und Infrastrukturbildungen in diesem Bereich. Trotz der klaren Ausrichtung der Ottwa-Charta auf sozialpolitische Handlungsstrategien und -felder ist seit Ende der 80er Jahre immer wieder beobachtbar gewesen, wie Gesundheitsförderung politisch und professionell auf den Bereich der individuellen Verhaltensänderung (d. h. auf Inhalte, Ziele und Strategien der klassischen biomedizinischen Prävention) zurückgestutzt wurde. Gesundheitsförderung ist keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Aus sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Sicht stellt Gesundheitsförderung ein Aktionsprogramm dar, mit dem alle politischen Bereiche und lebensweltlichen Felder darauf ausgerichtet werden sollen, die gesundheitlichen Folgen ihrer spezifischen Politiken zu erkennen und gesundheitliche Ungleichheiten zu beseitigen. Im Idealfall soll schon im Planungsstadium darauf geachtet werden, daß nur solche Politiken entwickelt und implementiert werden, die nachhaltig und „gesundheitsverträglich" (in Anlehnung an: umweltverträglich) sind. In der Ottawa-Charta wird ausdrücklich festgehalten, daß Gesundheitsförderung ein umfassendes, alle Handlungsfelder einschließendes Kon-

303

Gesundheitsförderung zept darstellt. Es darf nicht auf isolierte Risikoverhaltensweisen von Bevölkerungsgruppen oder die präventive „Compliance" von einzelnen verkürzt werden. 5. Stellenwert für die Suchtprävention. Die organisierte Suchtprävention in der Bundesrepublik Deutschland ist in einem Umbruch, bei d e m das Konzept Gesundheitsförderung als übergeordnete Leitorientierung fungieren kann. Die klassische Abschreckungsphilosophie und Substanzfixierung wurden abgelöst durch eine primäre Suchtprävention, die sich als integraler Bestandteil der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen versteht („Kinder stark machen"). Die Positionen und Praxisansätze in der Suchtprävention haben sich seit Ende der 60er Jahre prozeßhaft ausgeprägt. Überblickshaft lassen sich drei ineinanderübergehende und dabei aufeinander aufbauende Phasen ausmachen (vgl. die folgende Abb.).

Phase

Konzepte, Ziele, Methoden

Drogenprävention

Stoffkunde; Abschreckung vor illegalen Drogen und ihrem Konsum; Sanktionierung der Drogenkonsumenten

Suchtprävention/Suchtprophylaxe

Funktionales Verständnis von Risikoverhalten und Suchtgefährdung; Sanktionierung von Drogenmißbrauch (legale und illegale Drogen); Angebot und Förderung von Alternativen zum Risikoverhalten

Entwicklungsund Gesundheitsförderung

Frühzeitige Immunisierung gegen Suchthaltungen, gegen Kontakt mit allen Drogen; Förderung von Standfestigkeits- und Lebenskompetenzen (resistance/life skills); Aktivierung sozialer Unterstützung; erste Ansätze zur Förderung von „Risikokompetenz"

Erfolgreiche Suchtprävention sollte frühzeitig beginnen, langfristig angesetzt und umfassend durchgeführt wer-

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Gesundheitsförderung den. Eine personale Immunisierung und Kompetenzförderung muß einhergehen mit der Sicherung protektiver kultureller und soziostruktureller Rahmenbedingungen in den Lebens- und Medienwelten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Suchtprävention als integrales Element von Gesundheitsförderung wird daher nicht nur personal intervenieren, sondern immer auch kontextund lebenslagenorientiert handeln. Mit diesem ganzheitlichen Ansatz bindet sich die moderne Suchtprävention konzeptionell und pragmatisch in die Handlungsphilosophie der Gesundheitsförderung ein. Sie qualifiziert sich als zielgruppensensible (Kinder, Jugendliche, j u n g e Erwachsene) und settingbezogene (Kindergarten, Schule, Jugendkultur, Arbeitswelt, u. a.) Umsetzung der allgemeinen Prinzipien der Gesundheitsförderung in einem konkreten Feld. Hierzu zählt ebenfalls die intersektorale Zusammenarbeit über die verstärkte Koordination und Vernetzung suchtpräventiver Angebote und Kampagnen in der Gemeinde und im überregionalen Rahmen. "*Gesundheitswissenschaft; •Prävention Lit.: Antonovsky, Α., Salutogenese, Tübingen, 1997; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung, Schwabenheim, 1996; Franzkowiak, P , Risikokompetenz - Eine neue Leitorientierung für die primäre Suchtprävention? in: neue praxis, 1996 (5), 4 0 9 ^ 2 5 ; Franzkowiak, P., Sabo, P. (Hrsg.), Dokumente der Gesundheitsförderung, Schwabenheim, 2. Aufl., 1998; Großmann, R., Scala, K., Gesundheit durch Projekte fördern, Weinheim, 1994; Kaba-Schönstein, L., Gesundheitsförderung I-V, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung, Schwabenheim, 1996, 3 9 - 5 3 ; KünzelBöhmer, J., Bühringer, G. und Janik-Konecny, T., Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs, Baden-

Gesundheitswissenschaft

Gesundheitsrisiken Baden, 1993; Prävention - Zeitschrift für Gesundheitsförderung, 1996 (2), Schwerpunktheft „10 Jahre OttawaCharta"; Waller, H., Gesundheitswissenschaft, Stuttgart, 1995; Schwartz, F. W. u. a., Das Public Health Buch, München, 1998; Stark, W„ Empowerment, Freiburg, 1996. Peter Franzkowiak Gesundheitsrisiken -•Aids; -»Alkohol; •Gesundheitsförderung; -»Hepatitis; -»Infektionsrisiken; -•Prävention Gesundheitswissenschaft 1. Einleitung. Als „Gesundheitswissenschaften" werden diejenigen Wissenschaften bezeichnet, die sich - aus jeweils unterschiedlicher Perspektive mit Gesundheit beschäftigen, wie insbesondere Gesundheitssoziologie, Gesundheitspsychologie, Gesundheitspädagogik, Gesundheitsökonomie, aber auch Sozial- und Umweltmedizin. Damit konstituiert sich eine neue wissenschaftliche Disziplin. Hier wird der Begriff Gesundheitswissenschaft bewußt im Singular benutzt, weil nicht die einzelnen Wissenschaften dargestellt werden sollen, sondern versucht werden soll, ihre wichtigsten Elemente zu einer Wissenschaft von der Gesundheit zu integrieren (vgl. Waller 1996). Gesundheitswissenschaft läßt sich in Grundlagen und Praxis darstellen: Zu den Grundlagen gehören die Themen Gesundheitskonzepte, Gesundheitsressourcen, Gesundheitsrisiken und Gesundheitssysteme. Die gesundheitswissenschaftliche Praxis wird durch die darauf bezogenen Maßnahmen der Gesundheitssystemgestaltung (-»Suchtkrankenhilfe), •Gesundheitsförderung und -»Prävention konstituiert. G r u n d lagen und Praxis der Gesundheitswissenschaft haben in allen genannten Aspekten unmittelbare Bezüge zum Thema Sucht und zwar hinsichtlich ihrer Entstehung, Verbreitung, Vorbeugung sowie Versorgung.

2. Grundlagen der Gesundheitswissenschaft 2.1 Gesundheitskonzepte. Die vorliegenden Konzepte und Modellvorstellungen von Gesundheit lassen sich danach unterteilen, ob es sich um Laienkonzepte oder um wissenschaftliche Konzepte handelt, ob es sich - bei den wissenschaftlichen Konzepten - um Konzepte einzelner wissenschaftlicher Disziplinen (wie z.B. der Medizin, Psychologie, Soziologie) oder um integrierte (oder auch umfassend, ganzheitlich, holistisch genannte) Konzepte/Modelle handelt. Bei der Analyse der subjektiven Vorstellungen von Gesundheit (der Laiendefinition) geht es darum, die Vorstellungen in der Bevölkerung über Gesundheit, Gesunderhaltung, gesunde Lebensführung empirisch zu erfassen, und zwar differenziert nach sozialer Schichtzugehörigkeit, Geschlecht, ethnischer Herkunft und anderen wichtigen Merkmalen. Eine der ersten Arbeiten zu diesem Thema führte die französische Medizinsoziologin Claudine Herzlich (1973) durch. Sie untersuchte die subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit bei Angehörigen der Pariser Mittelschicht. Die Antworten ließen sich folgenden drei Kategorien zuordnen: 1. Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit, 2. Gesundheit als Potential, sich gesund zu erhalten (körperliche Widerstandsfähigkeit) und 3. Gesundheit als Gleichgewichtszustand (persönlich erfahrbares Wohlbefinden). Die dritte Kategorie wurde von den Befragten am häufigsten genannt. Die Vorstellungen von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit oder als „funktionale Kompetenz" waren eher typisch für die Arbeiterschicht, wie z.B. Stott und Pill (1980) in ihren Untersuchungen bei Arbeiterinnen in Wales herausfanden. Das wohl bekannteste wissenschaftliche Gesundheitskonzept stammt von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. In zwei weithin beachteten Büchern (1979, 1987) entwickelte er sein Modell

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Gesundheitswissenschaft der „Salutogenese". Im Unterschied zu der üblichen pathogenisch-orientierten Frage nach den Ursachen von Krankheiten interessierte Antonovsky sich f ü r das Phänomen, daß Menschen trotz der Konfrontation mit einer Vielzahl von Gesundheitsrisiken gesund bleiben, statt zu erkranken. In seinem Gesundheitskonzept gibt es keine eindeutige Grenzlinie zwischen gesund und krank, stattdessen postuliert Antonovsky ein Kontinuum mit den beiden Endpunkten Gesundheit und Krankheit. Die Frage, wo eine Person auf diesem Kontinuum anzusiedeln ist, stellt sich als Ergebnis eines interaktiven Prozesses zwischen belastenden Faktoren (Stressoren) und schützenden Faktoren (Widerstandsressourcen) im Kontext der Lebenserfahrungen einer Person heraus. Als zentrale Widerstandsressource entwirft Antonovsky das Konzept des „Kohärenzsinns" (sense of coherence). Darunter versteht er die persönliche Fähigkeit, die Welt zu verstehen, sie zu kontrollieren und die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns zu erleben. 2.2 Gesundheitsressourcen. Gesundheitsressourcen lassen sich in personale Ressourcen, Verhalten und Lebensweisen sowie Lebensbedingungen als Gesundheitsressourcen unterteilen. Personale Ressourcen lassen sich in physische und psychische Ressourcen differenzieren. Wichtige gesundheitsfördernde psychische Ressourcen sind nach einer Untersuchung von Beutel: Zuversicht, internale Kontrollüberzeugung, Selbstvertrauen, positives Selbstwertgefühl, stabiles Selbstsystem, unbekümmerte Selbsteinschätzung, interpersonales Vertrauen, commitment, Herausforderung, Selbstaufmerksamkeit (Beutel 1989). Für die Analyse von Verhaltensweisen, die einen Einfluß auf Gesundheit haben, werden in der Literatur im wesentlichen zwei miteinander verwandte Konzepte herangezogen: das Gesundheitsverhaltenskonzept und das Lebensweisenkonzept. Schwarzer (1992) gibt einen um-

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Gesundheitswissenschaft fassenden Überblick über die unterschiedlichen theoretischen Konzepte zum Gesundheitsverhalten: Menschen verhalten sich dann gesundheitsbewußt, wenn - eine Gesundheitsbedrohung schwerwiegend erscheint, - wenn die subjektive Verletzlichkeit oder die Auftretenswahrscheinlichkeit für die Krankheit hoch ist, - wenn j e m a n d glaubt, persönlich eine protektive Handlung zur Verfügung zu haben und - wenn diese Handlung als eine wirksame M a ß n a h m e zur Abwehr der Gefahr eingeschätzt wird (zum Lebensweisenkonzept vgl. Wenzel 1986). Empirische Untersuchungen über das Gesundheitsverhalten und seine Auswirkungen auf den Gesundheitszustand liegen inzwischen auch aus Deutschland vor (vgl. ζ. B. Hoeltz u. a. 1990 über Ergebnisse aus dem Gesundheitssurvey der Deutschen Herzkreislauf-Präventionsstudie; Angestelltenkammer Bremen 1993). Zu den Lebensbedingungen als Gesundheitsressourcen zählt Becker (1992): - günstige familiäre Bedingungen, gekennzeichnet durch Achtung, Wärme, Rücksichtnahme und wechselseitige Unterstützung der Familienmitglieder, - günstige Bedingungen am Arbeitsplatz (z.B. positives Betriebsklima, angemessener Dispositionsspielraum, Gelegenheit zur Entfaltung eigener Fähigkeiten), - intakte nachbarschaftliche Beziehungen, - günstige materielle Bedingungen (Wohnung, Familieneinkommen), - gut ausgebautes Netz von Gesundheitsdiensten und sozialen, kulturellen und pädagogischen Einrichtungen und - demokratische und rechtsstaatliche politische Rahmenbedingungen. Für das Verständnis sozialer Ressourcen für Gesundheit ist das Konzept der sozialen Unterstützung (oder oft synonym

Gesundheitswissenschaft benutzt: der sozialen Bindungen oder sozialen Netzwerke) von großer Bedeutung, ähnlich wie das Streßkonzept f ü r das Verständnis von Gesundheitsrisiken (vgl. z . B . Badura 1981). Worin liegt nun das gesundheitsfördernde Geheimnis sozialer Unterstützung? House (1981) hat folgende Differenzierung dieser positiven Effekte vorgenommen in: - emotionale Unterstützung (Wertschätzung und Akzeptanz), - instrumentelle Unterstützung (finanzielle und andere Hilfen), - informationelle Unterstützung (Informationen etc.) und - Einschätzungsunterstützung (Bewertungs- und Lösungshilfen). 2.3 Gesundheitsrisiken. Personale Risiken lassen sich in physische und psychische Risiken unterteilen. Hinsichtlich der Persönlichkeitseigenschaften als Gesundheitsrisiken geht es um die Frage, ob es „typische" psychische Merkmale gibt, die die betreffende Person eher für die eine oder andere Krankheit anfällig machen (-»•Persönlichkeit und Suchtverhalten). Wissenschaftliche (und auch weniger wissenschaftliche) Versuche, Persönlichkeitstypen zu charakterisieren und sie mit bestimmten Krankheiten in Verbindung zu bringen, haben eine lange Tradition (vgl. z . B . die „Konstitutionstypen" von Kretschmer). Ein modernes Beispiel - wenngleich ebenfalls nicht unumstritten - sind die in den Arbeiten von Eysenck und GrossarthMaticek dargestellten „Persönlichkeitstpyen", die mit der Entstehung spezifischer Krankheiten in Verbindung stehen sollen, was die Autoren in mehreren empirischen Arbeiten untersucht haben: Typ I

wird als Krebspersönlichkeit bezeichnet: sie ist durch Verlusterlebnisse, Abhängigkeit von anderen Menschen, Gefühlsunterdrückung, Hilflosigkeit und Depression charakterisiert. Typ II wird als koronare Risikopersönlichkeit bezeichnet: sie ist durch Ärger, Feindseligkeit, Aggres-

Gesundheitswissenschaft sion und ebenfalls Abhängigkeit von anderen Menschen charakterisiert. Typ III wird eher als instabile, ängstliche, aber auch abhängige Persönlichkeit beschrieben, sie ist häufig bei Medikamentenabhängigen anzutreffen. Typ IV stellt die autonome Persönlichkeit dar. (zit. nach Schwarzer 1992: 117, hier findet sich auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Eysenck und Grossarth-Maticek). Verhaltensweisen werden dann als „Risikoverhaltensweisen" eingestuft, wenn sie an der Entstehung wichtiger und häufiger Erkrankungen („Volkskrankheiten") beteiligt sind. Dies trifft insbesondere für die folgenden Verhaltensweisen zu: - Rauchen (-»Nikotin) - Alkoholmißbrauch (-»·Alkoholabhängigkeit) - Fehl- und Überernährung - Bewegungsmangel Als weitere wichtige gesundheitsriskante Verhaltensweisen werden leichtsinniges Fahrverhalten, Drogenmißbrauch (-»Drogenabhängigkeit; * Medikamentenabhängigkeit) und - unter d e m Eindruck von -»AIDS - riskantes Sexualverhalten genannt (vgl. z.B. Schwarzer 1992: 186ff.). Badura hat das Thema Risikoverhalten mit dem Konzept der „Lebensgewohnheiten" verbunden. Auch für ihn als Soziologen ist Risikoverhalten - wie alles menschliche Verhalten - kein von Sozialstruktur und unmittelbarer sozialer Umwelt ablösbares Phänomen: „Bewältigung von Entfremdungs- und Unlustgefühlen sowie Streben nach Lustbefriedigung scheinen vor allem entscheidend für den Konsum von Zigaretten und Alkohol, von Drogen und Medikamenten. Z u m Verständnis dieser gesamten Problematik müssen z u m einen die Produktionsstrukturen und das Marktverhalten der Anbieter, zum anderen die Ursachen des Nachfrageverhaltens sehr viel genauer erforscht

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Gesundheitswissenschaft werden als dies der Fall ist" (Badura 1993: 74). 2.4 Gesundheitssysteme. Die noch darzustellenden Strategien und Methoden der angewandten Gesundheitswissenschaft benötigen einen gesellschaftlichen Ort, eine politische Legitimation und eine ökonomische und professionelle Basis, um wirksam zu werden. Dabei sind informelle und formelle Gesundheitssysteme zu unterscheiden. Informelle Gesundheitssysteme umfassen die •Familie, den Freundeskreis, die Nachbarschaft, -»Selbsthilfegruppen und Initiativen, formelle Systeme die beruflichen Handlungsfelder für Gesunderhaltung und ->Gesundheitsförderung im Rahmen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystems und weiterer gesellschaftlicher Systeme. Diese Einteilung mag ungewöhnlich sein, sie ist aber für die Frage, w o Gesundheit „entsteht" und w o Gesundheit erhalten, geschützt und gefördert wird, überaus bedeutsam, sollen nicht ganze Lebensbereiche (und damit auch Chancen für Interventionen) ausgeblendet werden. Im Mittelpunkt der informellen Gesundheitssysteme steht die Gesundheitsselbsthilfe. Gesundheitsselbsthilfe läßt sich in individuelle und soziale Selbsthilfe einteilen, wobei individuelle Selbsthilfe für sich ohne Bezug auf andere geschieht und damit thematisch mit dem individuellen Gesundheitsverhalten übereinstimmt und in diesem Zusammenhang auch schon angesprochen wurde. Soziale Selbsthilfe beinhaltet dagegen die im Alltag zur Gesunderhaltung und zur Krankheitsbewältigung erbrachte gegenseitige Hilfestellung in primären und sekundären Netzwerken. Die Zahl der Selbsthilfegruppen in Deutschland im Gesundheits- und Sozialbereich beträgt ca. 6 0 0 0 0 . Sie haben zusammen ca. 2 Millionen Mitglieder. Auf der Basis einer Befragung von 3130 Selbsthilfegruppen haben Braun und Opielka (1992) folgende neun Selbsthilfebereiche nach ihrer Häufigkeit unterschieden:

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Gesundheits Wissenschaft - Chronische Erkrankungen - Psychosoziale Probleme - Behinderungen - Sucht/Abhängigkeit - Eltem-Kind-Selbsthilfe - Frauenselbsthilfe - Selbsthilfe in besonderen sozialen Situationen - Alter, Nachbarschaft - Kultur und Ökologie Die im Bereich des formellen Gesundheitssektors für die gesundheitswissenschaftliche Praxis relevanten Institutionen lassen sich grob danach einteilen, ob sie innerhalb oder außerhalb des Gesundheitswesens zu verorten sind: Einrichtungen innerhalb des Gesundheitswesens mit präventiven und gesundheitsfördernden Aufgaben sind Gesundheitsämter, Krankenkassen, Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäuser etc. Außerhalb des Gesundheitswesens sind - in staatlicher oder gemeinnütziger Trägerschaft - zu nennen: Kindergärten (-•Elementarbereich), -»Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung (wie Volkshochschulen, Familienbildungsstätten etc.), psychosoziale Beratungsstellen (wie ζ. B. Erziehungs-, Drög e n · oder Eheberatungsstellen (-»ambulante Einrichtungen), Verbraucherberatungsstellen, Vereine (insbesondere Sportvereine) sowie die Medien (lokale Sender, Tageszeitungen etc.). Hinzu k o m m e n - in staatlicher, gemeinnütziger oder privater „Hand" - die Betriebe (-»Betriebliche Suchtprävention). (-•Suchtkrankenhilfe) 3. Praxis der Gesundheitswissenschaft 3.1 Gesundheitssystemgestaltung. Der Begriff „Gesundheitssystemgestaltung" geht auf Badura und Feuerstein (1994) zurück. Er ist besonders gut geeignet, die Aktivitäten von Gesundheitspolitik, Gesundheitsmanagement, Gesundheitsberichterstattung etc. zu „überschreiben". Man könnte Gesundheitspolitik (-•Drogenpolitik) als Systemgestaltung „im G r o ß e n " und Gesundheitsmanagement als Systemgestaltung „im Klei-

Gesundheitswissenschaft n e n " - d. h. auf institutioneller Ebene bezeichnen. Z u m Gesundheitsmanagement zählen Maßnahmen der Organisationsentwicklung, Projektplanung, -•Evaluation und -»-Qualitätssicherung. Gesundheitsberichterstattung liefert die relevanten Daten für Planung, Steuerung und Evaluation. Ein ganz entscheidender Beitrag der Gesundheitswissenschaft besteht in der Erkenntnis, daß Gesundheit primär im Alltag - und nicht im Gesundheitswesen - „hergestellt" wird. Für die Systemgestaltung bedeutet dies, daß Politikfelder, die in unseren Alltag hineinreichen (wie Verkehrs-, Umwelt-, Arbeits-, Sozial-, Kommununalpolitik etc.), f ü r Fragen der Gesunderhaltung und der Gesundheitsförderung weitaus wichtigere Einflußbereiche sind als das Gesundheitswesen. 3.2 Gesundheitsförderung und Prävention. •Gesundheitsförderung und -•Prävention werden hier als die beiden grundlegenden Strategien zur Verbesserung bzw. Erhaltung der Gesundheit verstanden, wobei sich Gesundheitsförderung auf die Erhaltung und Stärkung von Gesundheitsressourcen und Prävention auf die Reduzierung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken beziehen. Gesundheitserziehung und -bildung, Gesundheitsaufklärung und -beratung sowie Gesundheitsselbsthilfe (s. o.) werden demgegenüber als unterschiedliche Methoden zur Umsetzung dieser Strategien verstanden. Als präventionsspezifische Methode k o m m e n präventivmedizinische Maßnahmen hinzu. Gesundheitsaufklärung und Gesundheitsberatung sind verwandte Methoden. In beiden Fällen handelt es sich u m Methoden der Informationsvermittlung, entweder - im Falle der Aufklärung mit Hilfe von Massenmedien („Massenkommunikation") oder - im Falle der Beratung - durch ein Gespräch („Personale Kommunikation"), wobei hier zur Information auch Entscheidungshilfen hinzukommen. Gesundheitserziehung, so läßt sich vereinfachend sagen, findet mit pädagogischen Methoden in Ein-

Gesundheitswissenschaft richtungen der Erziehung von Kindern und Jugendlichen statt (d. h. im Elternhaus, im Kindergarten, in Schulen sowie in außerschulischen und pädagogischen Einrichtungen), Gesundheitsbildung richtet sich dagegen primär an Erwachsene und findet in Einrichtungen der Erwachsenenbildung (Volkshochschulen, Familienbildungsstätten etc.) statt. Präventivmedizinische Maßnahmen bestehen in I m p f m a ß n a h m e n sowie M a ß n a h m e n der Krankheitsfrüherkennung (Früherkennungsuntersuchungen im Säuglings- und Kindesalter, Untersuchungen in der Schwangerschaft ( - • E m bryopathie), Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, Gesundheits-Check-up etc.). Die Effektivität der präventivmedizinischen Maßnahmen steht und fällt mit der Beteiligung der Bevölkerung. Die Ziele und Prinzipien der •Gesundheitsförderung - so wie sie von der - • W H O entwickelt worden sind - lauten: „Gesundheitsförderung zielt darauf ab, die Menschen zu befähigen, größeren Einfluß auf die Erhaltung und die Verbesserung ihrer Gesundheit zu nehmen. Als Maßstab für die Gesundheit wird dabei die Möglichkeit des einzelnen und von Gruppen gesehen, einerseits ihre Wünsche und Bedürfnisse befriedigen zu können und andererseits mit ihrer Umwelt übereinzustimmen oder sie bewußt zu ändern. Gesundheit wird somit als eine wesentliche Grundbedingung des alltäglichen Lebens und nicht als Lebensziel verstanden. Gesundheit wird als positive A u f g a b e gesehen, zu deren Verwirklichung gesellschaftliche und persönliche sowie physische Ressourcen beitragen" (zitiert in Franzkowiak und Sabo 1993: 79). Praxisprojekte nach der Idee der Gesundheitsförderung haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Sie beziehen sich - als Konsequenz des umfassenden Verständnisses von Gesundheitsförderung - auf komplexe Organisationen („settings"). Sie zielen auf die Erhaltung bzw. Schaffung von Gesundheitsres-

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Gesundheitswissenschaft sourcen, sie sind intersektoral (d. h. unter Berücksichtigung unterschiedlicher Organisations- und Politikebenen) und multidisziplinär (d. h. unter Beteiligung verschiedener Berufsgruppen) angelegt und betonen die besondere Bedeutung der Mitwirkung der Betroffenen (Partizipation). Die Einteilung von Präventivmaßnahmen läßt sich nach dem Zeitpunkt, nach der Zielgröße und nach der Methode (s. o.) vornehmen. Nach dem Zeitpunkt sind primäre Prävention (Krankheitsvermeidung), -»-sekundäre Prävention (Krankheitsfrüherkennung) und -•tertiäre Prävention (Verhütung des ' R ü c k falls, heute umfassender als -»Rehabilitation bezeichnet) zu unterscheiden. Damit beziehen sich primär-präventive Maßnahmen auf die Krankheitsursachen, sekundärpräventive Maßnahmen auf die Krankheitsentstehung und tertiärpräventive M a ß n a h m e n auf den Krankheitsverlauf. Nach der Zielgröße sind Verhaltensprävention (Krankheitsvermeidung durch Änderung des Verhaltens) und Verhältnisprävention (Krankheitsvermeidung durch Änderung der Verhältnisse) zu differenzieren. Maßnahmen der Verhaltensprävention zielen auf die Veränderung gesundheitsriskanten Verhaltens - wie z.B. Rauchen, Alkohol- und Drogenmißbrauch, Über- und Fehlernährung, Bewegungsmangel, Streß etc. - und werden mit unterschiedlichen Methoden wie Gesundheitsaufklärung- und beratung, Gesundheitserziehung und -bildung sowie Gesundheitsselbsthilfe zu realisieren versucht. Das Leitbild der Verhaltensprävention wird in der amerikanischen Literatur als „ K A P - M o d e l l " bezeichnet (K = Knowledge, A = Attitude, Ρ = Practice) (vgl. Young 1967). Wie inzwischen hinlänglich bekannt ist, verläuft die Abfolge von Wissensänderung über Einstellungsänderung zu Verhaltensänderung nicht annähernd so zwangsläufig, wie es dieses Modell suggeriert. Auch die Überschwemmung mit Verhaltensempfehlungen, denen man nicht

310

Gesundheitswissenschaft nachkommen kann, führt nicht nur zur Desorientierung, sondern - wie leicht nachzuvollziehen ist - zum gegenteiligen Effekt der verhaltenspräventiven Ziele: zu Hoffnungslosigkeit, Passivität und Rückzug aus allen Präventionsbemühungen. Maßnahmen der Verhältnisprävention zielen auf die Kontrolle, Reduzierung oder Beseitigung von Gesundheitsrisiken in den Umwelt- und Lebensbedingungen und werden in der Regel durch staatliche Maßnahmen auf der Basis von Gesetzen und Verordnungen etc. durchgeführt (->Drogenpolitik; •Drogenrecht). Zu den verhältnisbezogenen Maßnahmen werden auch solche Maßnahmen gerechnet, die eine Verhaltensänderung durch gesetzliche M a ß n a h m e n (wie z . B . Werbeverbot für Alkoholika oder Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen) erzwingen. Im überwiegenden M a ß e zielen Maßnahmen der Verhältnisprävention aber auf Gesundheitsrisiken, die nicht über das Verhalten, sondern im Rahmen eines direkten soziosomatischen Kausalpfades zustande k o m m e n (wie z.B. Gesundheitsgefahren durch Schadstoffe in der Luft, im Wasser, in Nahrungsmitteln). •Gesundheitsförderung Lit.: Angestelltenkammer Bremen (Hrsg.), Gesundheit und Lebensqualität, Bremen, 1993; Antonovsky, Α., Health, stress, and coping: New perspectives on mental and physical well-being. JosseyBass Publishers, San Francisco etc., 1979; Antonovsky, Α., Unraveling the mystery of health. H o w people manage stress and stay well. Jossey-Bass Publishers, San Francisco etc., 1987; Badura, B. (Hrsg.), Soziale Unterstützung und chronische Krankheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1981; Badura, B., Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, K., U. Laaser (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Weinheim und Basel 1993, 6 3 - 8 7 ; Badura, B „ Feuerstein, G., Systemgestaltung im Gesund-

Griffnähe

Gewalt und Drogen heitswesen. Juventa Verlag, Weinheim und München, 1994; Becker, P., Die Bedeutung integrativer Modelle von Gesundheit und Krankheit für die Prävention und Gesundheitsförderung, in: Paulus, P. (Hrsg.), Prävention und Gesundheitsförderung, Köln, 1992, 9 1 108; Beutel, M., Was schützt Gesundheit? Zum Forschungsstand und der Bedeutung von personalen Ressourcen in der Bewältigung von Alltagsbelastungen und Lebensereignissen. Psychothe. med. Psychol. 39 (1989) 4 5 2 462; Braun, J„ Opielka, M„ Selbsthilfeförderung durch Selbsthilfekontaktstellen. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1992; Franzkowiak, P., Sabo, P. (Hrsg.), Dokumente der Gesundheitsförderung. Verlag Peter Sabo, Mainz, 1993; Herzlich, C., Health and illness. Α social psychological analysis. Academic Press, London, 1973; Hoeltz, J. u. a., Subjektive Morbidität, Gesundheitsrisiken, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Band 1. Infratest Gesundheitsforschung, München, 1990; House, J. S., Work stress and social support. Addison-Wesley, Reading, 1981; Schwarzer, R., Psychologie des Gesundheitsverhaltens. Hogrefe, Göttingen etc., 1992; Stott, N. C. H„ Pill, R„ Health beliefs in an urban community. Department of General Practice, Welsh National School of Medicine, 1980; Waller, H., Gesundheitswissenschaft. Eine Einführung in Grundlagen und Praxis, 2. Auflage. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1996; Wenzel, E. (Hrsg.), Die Ökologie des Körpers. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1986; Young, Μ. Α., Review of research and studies of health education practice. Health Education Monographs No. 23 (1967). Heiko Waller, Lüneburg Gewalt und Drogen -•Sucht und Gewalt; minalität

»Sucht und Kri-

Gewöhnung Der Begriff der „drug

habitutation"

wurde 1957 von der W H O eingeführt und bezeichnet: 1. die pharmakologische G., die dazu führt, daß immer größere Dosen (-»Dosissteigerung) gebraucht werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen und 2. die psychische Gewöhnung. G. ist eine Vorstufe zur -»Abhängigkeit, muß aber nicht zur Abhängigkeit führen. Glückspillen -•Designerdrogen Glücksspiel -»Spielsucht Goldenes Dreieck (Golden Triangel) Ein ca. 400000 km 2 großes (Schlaf-) Mohnanbaugebiet im Hochland von Burma, Thailand und Laos, südlich der Grenze zu China, in dem der größte Teil des heutigen illegalen Angebots an Rohopium angebaut wird. Aufgrund des hohen Kalkgehaltes ist der Boden ideal für den Mohnanbau und für die Bergbauern eine ideale Einnahmequelle, zu der es für sie wenig Alternativen gibt. Die Herstellung von Rohopium ist in der Region ein wichtiger Industriezweig, Schätzungen gehen von 600-1100 t Rohopium jährlich aus. Bis 1968 war das Goldene Dreieck kein bedeutender Faktor auf dem Weltmarkt für Heroin. Ab 1968 waren im Vietnamkrieg fast 500000 US-Soldaten in Vietnam stationiert, von denen ca. 10-15% Heroin konsumierten. Für die Chin Chan Syndikate entstand dadurch ein neuer Markt. Sie gründeten Fabriken im Grenzgebiet von Burma, Thailand und Laos. Nach dem Vietnamkrieg gingen ein Großteil der Exporte nach Europa und Australien. Griffnähe G. bezeichnet die Erreichbarkeit einer Substanz. Die G./-»Verfügbarkeit spielt eine wesentliche Rolle für den Konsum einer Substanz: j e verfügbarer eine Substanz ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß sie auch konsumiert wird. Das Abhängigkeitspotential und die 311

Grundstoffüberwachungsgesetz

Möglichkeit des schädlichen Gebrauchs spielt dabei keine Rolle, sondern eher die Unterscheidung in gesellschaftlich tolerierte -»Genußmittel und frei verkäufliche Medikamente und gesellschaftlich diskriminierte Substanzen, wie illegale Drogen (-•Betäubungsmittelgesetz). Die G. als Element der Faktorengruppe „gesellschaftliche Bedingungen" wird neben den Faktorengruppen „Persönlichkeit" und „Droge" als ein wesentlicher Aspekt bei der Entstehung von schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit gesehen. -»Genese Grundstoffüberwachungsgesetz Die in dem 1995 in Kraft getretenen „Gesetz zur Überwachung des Verkehrs mit Grundstoffen, die für die unerlaubte Herstellung von Betäubungs-

312

Gruppentherapie

mittein mißbraucht werden können" (GÜG) vorgesehenen Maßnahmen verfolgen 1. den Zweck, die Abzweigung von Grundstoffen für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln zu verhindern und 2. Verstöße gegen die Vorschriften dieses Gesetzes als Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Dazu werden im 2. Abschnitt detaillierte Vorschriften für den Verkehr mit Grundstoffen erlassen, im 3. Abschnitt die Zuständigkeiten für Meldungen und Überwachungen festgelegt, im 4. Abschnitt Vorschriften für die beteiligten Behörden erlassen und im 5. Abschnitt die Straf- und Bußgeldvorschriften festgelegt. Gruppentherapie -•Psychotherapie

Haaranalyse

Haaranalyse Η

Haaranalyse 1. Grundlagen. Haare als Untersuchungsmaterial bieten zahlreiche Vorteile hinsichtlich der längerfristigen Rekonstruktion einer Fremdstoffaufnahme. Ein Beispiel soll dies erläutern: In einem Hotel wird ein sog. verdeckter Ermittler der Polizei bewußtlos im Bett aufgefunden. In den im Zusammenhang mit den Notfallmaßnahmen (Reanimation) sichergestellten Harn- und Blutproben sind Stoffwechselprodukte des Heroin nachweisbar. Der Betroffene läßt sich dahingehend ein, daß er niemals zuvor in seinem Leben Heroin appliziert habe; vielmehr sei ihm von Dealern eine letale Menge „gespritzt" worden, da man ihn als verdeckten Ermittler entlarvt habe und beseitigen wollte. Der inzwischen festgenommene Dealer sagt dagegen aus, daß der verdeckte Ermittler bereits seit Monaten heroinabhängig und sein Stammkunde sei. In einem solchen Fall lassen sich anhand einer Untersuchung von Harn und Blut lediglich über eine wenige Tage zurückliegende Heroinaufnahme Aussagen machen, während die Zeit davor unaufgeklärt bleiben muß (-•Suchtstoffanalysen). Ganz andere Interpretationsmöglichkeiten bietet jedoch die H.: Fast alle Fremdstoffe werden in der Haarwurzel eingebaut und „wachsen" dann mit dem Haar weiter. Untersucht man die Haare abschnittsweise, so lassen sich längerfristige „Einblicke in eine Drogenkarriere" gewinnen. Im oben geschilderten Beispiel konnte man sicher feststellen, ob früher schon einmal eine Opiataufnahme erfolgte oder nicht. Das Wachstum beginnt im Haarbalg, der äußeren Schicht der Haarzwiebel. Hier entstehen die „Sproßzellen", die zur Haarpapille hineinwachsen und sich dort vervielfachen. Jeweils mehrere Keratinfasern bündeln sich dort zu Haarzellen, die durch die Haarzwiebel nach oben wachsen und den Schaft eines

neuen Haares bilden. Beim Wachsen stirbt das Haar langsam ab. Im Rahmen des Wachstumsprozesses werden im Zug der Blutversorgung offensichtlich auch im Blut enthaltene Fremdstoffe in das Haar „eingebaut". Sie gelangen mit dessen Wachstumsgeschwindigkeit durch die Kopfhaut nach außen. Obwohl im Einzelfall auch andere Wachstumsraten beobachtet worden sein sollen, wird man mit einem Wert von etwa 10 mm pro Monat den Realitäten meist nahekommen. Abhängig von der jeweiligen juristischen Fragestellung können, ähnlich wie bei der Begutachtung anderer Fremdstoffeinflüsse (z.B. der minimalen und maximalen Blutalkoholkonzentration) bei Bedarf „Szenarien" mit Mindest- bzw. Maximalwerten des Haarwachstums alternativ zur Diskussion gestellt werden. 2. Probennahme. Bald nach dem Vorliegen der Ergebnisse der ersten H. wurde deutlich, daß der Art der Probengewinnung eine große Bedeutung zukommt. Um die Standardisierung der Probengewinnung bei Haaren haben sich Denk, Raff und Sachs (1991) verdient gemacht. Als häufigste Mängel hatten sich nämlich herausgestellt: - Zu geringe Probenmengen (es wurden zum Beispiel Proben eingesandt, die insgesamt nur aus 5 bis 10 Haaren bestanden; diese Probenmenge ist nicht ausreichend). - In sich verschobene oder schräg abgeschnittene Haarstränge (hierdurch wird die Zuordnungsmöglichkeit der Zeiträume der Applikation stark eingeschränkt). - Unvollständige Dokumentation (insbesondere zur Schnittstelle und Haarspitze; weiterhin zur Länge der an der Kopfhaut verbliebenen Haarstoppeln). Die richtige Probennahme ist in den folgenden Regeln zusammengefaßt: 313

Haaranalyse - Die Probennahme, das Verpacken und Versenden dürfen nicht in der Nähe von Rauschmittelasservaten stattfinden und der Probenentnehmende sollte sichergehen, daß er vor der Prob e n n a h m e nicht in Kontakt mit diesen war. - Die Entnahme erfolgt, um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, primär über d e m Hinterhauptshöcker des Probanden. Ist dies nicht möglich, m u ß die Entnahmestelle entsprechend dokumentiert werden. - Die zu asservierende Probe sollte ein mindestens bleistift- bis kleinfingerdicker Strang sein. - Die Haare werden vor d e m Abschneiden mit einem festen Bindfaden, 2 - 3 cm von der Kopfhaut entfernt, fest zusammengebunden. Sollten die Haare zu kurz sein, kann auf diese Maßnahme verzichtet werden. - Die zusammengebundenen Haare sind direkt an der Kopfhaut abzuschneiden. Sollte dies nicht möglich sein, m u ß die Länge der zurückgebliebenen Haarreste dokumentiert werden. - Bei der Entnahme ist besonders darauf zu achten, daß sich die entnommenen Haare nicht ineinander verschieben. - Die entnommene Haarprobe ist fest in Aluminiumfolie einzurollen und mit Tesafilm auf einem Briefbogen zu fixieren. Die Probenbeschriftung mit Probenkennung, Bezeichnung von kopfnahem Ende und Haarspitze, sowie Angaben über die Länge der verbliebenen Haarstoppeln ist auf dem Briefbogen zu vermerken. 3. Analytik. Bald nach Bekanntwerden der ersten Untersuchungen wurde in der Literatur über den erfolgreichen Nachweis von Amphetaminen, Barbituraten, Cannabinoiden, Kokain, Methadon, Nicotin, Opiaten, Phencyclidin und einigen weniger wichtigen Fremdstoffen berichtet. Größtenteils handelt es sich hierbei um illegale Drogen, wenn man 314

Haaranalyse einmal von Barbituraten, Nicotin, Codein und ärztlicherseits bei Schmerzpatienten verordnetem Morphin absieht. 3.1 Probenvorbereitung. Eine ganz besondere Bedeutung kommt im Fall der H. den der eigentlichen instrumenteilen Analytik vorgeschalteten Aufarbeitungsverfahren zu: Die publizierten Untersuchungen benutzen häufig intensive saure oder alkalische Hydrolysemethoden, wobei jedoch viele empfindliche Strukturen zerstört werden. Gelegentlich wird aber auch auf aggressive präanalytische Verfahren verzichtet, um hydrolyseempfindliche Verbindungen (z.B. Kokain) zu erfassen. Eine beliebte Variante ist hierbei das Pulverisieren der Haarproben (nachdem diese mit flüssig e m Stickstoff in einen Bereich erhöhter Sprödigkeit abgekühlt wurden) mit anschließender Extraktion aus neutralem Milieu. Dennoch ist dabei die Ausbeute oft so gering, daß (falls nicht gerade eine Überdosierung vorliegt) extrem empfindliche aber auch unspezifische Methoden (z.B. der Radioimmunoassay; RIA) zum Nachweis herangezogen werden müssen. 3.2 Nachweisverfahren. Die Nachweismethode der Wahl ist die Kapillar-Gaschromatographie/Massenspektrometrie (GC/MS), neuerdings auch in Verbindung mit der Tandem-MS, da sich die damit erhaltenen sog. Tochterionenchromatogramme durch ein sehr gutes Signal-Rauschverhältnis auszeichnen. Im Hinblick auf die geringen Konzentrationen der Fremdstoffe im Haarmaterial wird insbesondere nach therapeutischer Dosierung die Einzelionendetektion (Single Ion Monitoring/SIM) bevorzugt eingesetzt. 4. Schlußbemerkung und Ausblick Die Analytik von Fremdstoffen in Haaren hat inzwischen das Stadium des qualitativen Nachweises längst überschritten. Neuere Publikationen befassen sich bereits damit, Grenzwerte der Konzentration festzulegen: Ergebnis solcher Auswertungen von 892 Segmenten von

Halluzinogene Haarproben ist beispielsweise die Erkenntnis, daß man in jeder Beziehung „im Zweifel für den Angeklagten handelt", wenn man die Grenze für einen chronischen Konsum und somit den strafbedrohten Erwerb bei 1 bis 2 ng Morphin pro m g Haar festlegt, Sachs und Möller (1992). Gutachten im Z u s a m m e n h a n g mit H. werden inzwischen bei Fragen nach dem fortgesetzten Betäubungsmittelgebrauch, der Schuldfähigkeit der Angeklagten, sowie der Glaubwürdigkeit von Angeklagten und Zeugen erstellt. Von den Verwaltungsbehörden werden Gutachten beispielsweise bei Fragen der Fahreignung nach fortgesetztem Betäubungsmittelkonsum oder etwa nach Entzug der Approbation bei Angehörigen der Heilberufe in Auftrag gegeben. Weitere Fragestellungen sind abzusehen: In den U S A interessieren sich beispielsweise Versicherungsunternehmen für den Nachweis von Nicotin bzw. dessen Hauptmetabolit Cotinin in Haaren, um „Raucherkarrieren" aufzudekken und entsprechende Risikozuschläge beim Abschluß von Lebens- und Unfallversicherungen fordern zu können. Die Anwendungsmöglichkeiten der Analytik von Fremdstoffen in Haaren sind damit sicher noch nicht erschöpft: Auch unter umweltanalytischen und arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten sind neue Einsatzgebiete zu erwarten. M a n denke in diesem Z u s a m m e n h a n g nur an die zeitliche Zuordnung einer länger zurückliegenden Schadstoffbelastung durch entsprechende Emissionen von Industriebetrieben. Die weitere Entwicklung der H. bei illegalen Drogen erfordert eine enge Zusammenarbeit der damit betrauten Institute. U m zu validen Grenzwerten und Beurteilungsgrundlagen zu k o m m e n , m u ß das Erfahrungsmaterial möglichst vieler Untersuchungsstellen ausgewertet werden. Versuche am Menschen, die ansonsten bei verkehrsfähigen Arzneistoffen relativ problemlos durchzuführen sind, können bei illegalen Drogen

Halluzinogene selbstverständlich aus ethisch-rechtlichen Gründen nicht vorgenommen werden. Lit.: Denk, R„ Raff, I., Sachs, H „ Qualitätssicherung bei der Untersuchung von Kopfhaaren zum Nachweis von Betäubungsmitteln, in: Toxikol. Chem. Krimtech. (1991), 58, 7 9 - 8 3 ; Klug, E „ Zur Morphinbestimmung in Kopfhaaren, in: Z. Rechtsmed. (1980), 84, 189-193; Möller, M. R., Drug Detection in Hair by Chromatographie Procedures, in: J. Chromatogr. (Biomed. Appl.) (1992), 580, 125-134; Sachs, H „ Brunner, U „ (1986), Gaschromatographisch-massenspektrometrische Befunde von Morphin und Codein in Glaskörperflüssigkeit und Haaren, in: Beitr. Gerichtl. Med. (1986) 44, 2 8 1 - 2 8 8 ; Sachs, H „ Möller, M „ Detection of Drugs in Hair by G C / M S , in: Fresenius' Ζ. Anal. Chem. (1989), 334, 713; Sachs, H „ Möller, M „ Haaruntersuchungen auf Betäubungsmittel im Straf- und Verwaltungsgerichtsverfahren, in: Zbl Rechtsmed (1992), 38, 177; Schütz, H., Ahrens, B., Erdmann, F., Rochholz, G., Nachweis von Arzneiund anderen Fremdstoffen in Haaren, Pharmazie in unserer Zeit (1993, 22, 65-78. Harald Schütz, Gießen Halluzinogene H. sind -»psychoaktive Substanzen, die Sinnestäuschungen und Veränderungen der Sinneseindrücke hervorrufen. - • L S D und "-Meskalin zählen zu den klassischen, die •Dcsigncrdrogcn zu den modernen H. Im weiteren Sinne werden auch -»Cannabis, • Kokain und Amphetamine zu den H. gerechnet. Die meisten H. sind pflanzlicher Herkunft mit d e m bevorzugten Verbreitungsgebiet Nord-, Mittel- und Südamerika. Eine -»Klassifikation ist schwierig, da bei sehr unterschiedlicher molekularer Struktur der einzelnen Drogen ganz ähnliche psychische Wirkungen erzielt werden, so daß die Zuordnung lediglich nach den halluzinogenen Wirkungen 315

Halluzinose erfolgt. -•Drogenpflanzen; -•Drogenpilze; -»-Magische Pflanzen Halluzinose Als H. wird ein akutes Syndrom bezeichnet, in dem akustische Halluzinationen vorherrschen. Teil der Alkoholpsychose -•Delirium tremens. -•Psychose Hanf (Cannabis sativa) H. hatte und hat als 1. Nutzpflanze für die Gewinnung von Naturfasern eine nicht unerhebliche Bedeutung. Hanffasern sind wenig elastisch und deshalb besonders geeignet für die Herstellung von groben Textilien, Schnüren, Seilen und Segeltuch. In Deutschland wird zur Zeit die Freigabe zum Anbau von Hanf mit einem sehr geringen THC-Gehalt diskutiert, um Hanf als Nutzpflanze wieder zu legalisieren. Die Hanfsamen (eigentlich die Früchte) werden als Vogelfutter verwendet. 2. wird aus dem Harz, das von den weiblichen Blütenständen abgesondert wird, das -»Haschisch gewonnen. Als Marihuana wird eine Mischung aus den Blättern, den Trieben und den Blütenständen aus dem oberen Bereich der weiblichen Pflanze verstanden. Haschisch und Marihuana werden geraucht und zählen zu den -•illegalen Drogen und fallen unter das -•Betäubungsmittelgesetz. -»Cannabis Hang-over Tagesmüdigkeit mit psychomotorischer Behinderung nach der Einnahme von Schlafmitteln. »Medikamentenabhängigkeit Harte Drogen -•Drogenpolitik; -»Drogenabhängigkeit; -•Drogenrecht Haschisch Harz, das von den weiblichen Blütenständen des Hanfes abgesondert wird. -•Cannabis Heilmittel H. sind im Bereich der Sozialversicherung die Mittel zur Behandlung von 316

Hepatitis Krankheiten, die, im Gegensatz zu -•Arzneien vor allem äußerlich angewendet werden und alle ärztlich verordneten Dienstleistungen, die einem Heilzweck dienen oder einen Heilungserfolg sichern, dazu gehören u. a. Maßnahmen der physikalischen Therapie, Sprachund Ergotherapie. -»Arznei Hepatitis 1. Definition. Der Begriff H. ist eine allgemeine Bezeichnung für Leberentzündungen ohne Angabe zu Ursache oder Art der Entzündung. Am häufigsten werden Leberentzündungen durch Hepatitisviren verursacht. Heute sind 7 Formen von Hepatitis-Viren (A bis G) bekannt. Im Rahmen von Virusinfektionen mit Cytomegalic-Virus (CMV), Epstein-Barr-Virus, Varizella-ZosterVirus oder Herpes-Simplex-Virus kann es ebenfalls zu Leberentzündungen kommen. Viren wie das Gelbfiebervirus oder das Ebolavirus, die in Deutschland keine Rollen spielen, können für Touristen von Bedeutung sein und im Rahmen schwerer Allgemeinerkrankungen zu zum Teil schwersten Leberentzündungen führen. Weitere Erreger wie zum Beispiel Amöben können ebenfalls zu Leberentzündungen führen. Medikamente, chronischer Alkoholkonsum, Stoffwechselstörungen und gegen den eigenen Körper gerichtete Krankheiten (Autoimmunerkrankungen) können zu einer Entzündungsreaktion der Leber führen. Vergiftungen und der Konsum bestimmter Drogen können mit Leberentzündungen einhergehen. 2. Verlaufsformen der Virushepatitis. Bei viralen Leberentzündungen unterscheidet man generell: - Die akute Erkrankung, die zunächst mit Appetitlosigkeit, Widerwillen gegen Fett und Alkohol, einer allgemeinen Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen einhergeht. In dieser Phase besteht häufig ein mäßiges Fieber. Anschließend kann es zu einem Ikte-

Hepatitis

rus kommen. Diese Krankheitsbeschwerden klingen in der Mehrzahl der Fälle nach zwei bis sechs Wochen wieder ab. Selten kommt es zu einem akuten (raschen) Leberversagen. - Die chronische Infektion, die über Monate bis Jahre anhält und zu einer Leberzirrhose (bindegewebiger Umbau der Leber mit Verlust der Leberfunktion) oder zu einem Leberkarzinom führen kann. Hier werden die chronisch persistierende Form mit einer leichten Entzündung, Lebervergrößerung und Laborwertveränderungen und die chronisch aggressive Form mit häufig wiederkehrender Gelbsucht und starker Neigung zur Bildung einer Leberzirrhose unterschieden. Nur ein Teil der akuten Hepatitiden geht in eine chronische Infektion über, abhängig vor allem vom Virustyp, der die akute Leberentzündung verursacht. Chronische Verlaufsformen gibt es bei Infektionen mit dem Hepatitis B-, C- oder DVirus. 2.1 Hepatitis A. Die Hepatitis Α wird durch das Hepatitis A-Virus (HAV) verursacht und macht in Deutschland etwa 50% aller viral bedingten Leberentzündungen aus. Weltweit ist die Hepatitis A die häufigste Form der viralen Leberentzündungen. Sie ist in Asien, Afrika und den GUS-Staaten weit verbreitet. Für 1995 wird die Zahl der Hepatitis A-Fälle in Deutschland auf etwa 25000 geschätzt. Das Hepatitis Α-Virus wird meist fäkal-oral übertragen. Das Virus wird mit dem Stuhl ausgeschieden und die Weitergabe erfolgt von der Toilette über die Hand in den Mund. Auf Reisen ist eine Übertragung in der Regel durch verunreinigte Nahrungsmittel (vor allem rohe Meeresfrüchte, Eis, Obst, Salat) oder verschmutztes Trinkwasser möglich. Die Hepatitis Α wird daher auch als Reisehepatitis bezeichnet. Ein besonderes Infektionsrisiko haben Reisende in tropischen und subtropischen Ländern, i. v.-Drogengebraucher, Menschen in Haft, Gefängnispersonal,

Hepatitis

Angehörige von Heil- und Pflegeberufen, Heimbewohner und Betreuungspersonal. Bei Drogengebrauchem erreichen die Infektionsraten teilweise über 50%. Das Hepatitis A-Virus kann bei analoralen Sexualkontakten und durch Kontakt mit Urin übertragen werden. Eine Übertragung durch andere Sexualpraktiken oder durch Blutprodukte ist selten. Die Inkubationszeit beträgt etwa 10-40 Tage. Die Hepatitis ist eine akute Erkrankung, die zunächst mit Appetitlosigkeit, Abneigung gegen Fett und Alkohol, einer allgemeinen Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen einhergehen. In dieser Phase, etwa fünf bis neun Tage nach einer Infektion, besteht häufig ein mäßiges Fieber. Anschließend kann es zu einem Ikterus kommen. Anikterische Verläufe sind häufig. Die Beschwerden klingen in der Regel nach zwei bis sechs Wochen wieder ab. In etwa 1 von 1000 Fällen kommt es zu einem akuten Leberversagen mit hoher Sterblichkeit. Eine chronische Verlaufsform wurde bislang nicht beschrieben. Die Hepatitis Α heilt vollständig aus. Anschließend besteht eine lang anhaltende, eventuell lebenslange Immunität. Eine spezifische Behandlung gibt es nicht; empfohlen werden körperliche Schonung, ausreichende Ernährung und ein Verzicht auf Alkohol sowie die Vermeidung leberschädigender Medikamente. Gegen Hepatitis Α steht eine Schutzimpfung zur Verfügung. Der Impfstoff ist ein gentechnisch hergestellter Eiweißbestandteil, der keine Infektion hervorrufen kann. Bei Erwachsenen und Kindern mit normalem Immunsystem liegt der Impferfolg bei mehr als 90%, wobei noch nicht genau bekannt ist, wie lange der Impfschutz anhält. Bei einem eventuellen Risiko für eine Hepatitis-A-Infektion oder wenn (z.B. vor einer Fernreise) die Zeit für eine aktive Schutzimpfung nicht ausreicht, ist eine passive Immunisierung mit Immun317

Hepatitis globulinen möglich. Die Schutzwirkung der passiven Immunisierung hält circa drei Monate an. Vor allem in Ländern mit niedrigem Hygienestandard sollten ungekochte Nahrungsmittel vermieden und nur desinfiziertes oder abgekochtes Wasser getrunken werden. Der Verzehr von M u scheln oder Schalentieren ist besonders riskant, da Muscheln große Mengen von Wasser zu ihrer Ernährung filtern und Muschelbänke häufig im Abwassereinleitungsbereich liegen. Auf ungeschältes Obst, Salat, Eiswürfel und Speiseeis sollte generell verzichtet werden, wenn man in Länder reist, w o eine Trinkwasserverunreinigung möglich ist. Bei injizierendem Drogengebrauch verringern die einmalige Verwendung steriler Spritzen und Nadeln und ein Vermeiden von Needlesharing das Infektionsrisiko. Bei Vaginal- und Analverkehr verringern Safer Sex und Kondomgebrauch das Infektionsrisiko. Da Hepatitis Α auch bei anal-oralen Sexualkontakten übertragen werden kann, ist generell eine I m p f u n g zu empfehlen. 2.2 Hepatitis B. Die Hepatitis Β gehört weltweit zu den häufigsten übertragenen Krankheiten. Das Hepatitis B-Virus ( B H V ) ist in Deutschland mit einem Anteil von 30% der zweithäufigste Erreger von viralen Leberentzündungen. Jährlich gibt es etwa 2 5 0 0 0 - 5 0 0 0 0 Hepatitis B-Infektionen in Deutschland. 0,3% bis 0,7% der Bevölkerung in Deutschland haben eine chronische Hepatitis B. Weltweit sind schätzungsweise 300 Millionen Menschen chronische Hepatitis B-Träger. In einigen tropischen und subtropischen Ländern sind fast 30% der Bevölkerung chronische Hepatitis BTräger (Meier 1995). Das Hepatitis B-Virus wird durch Geschlechtsverkehr (vaginal, anal, oral), durch Blut und von der Mutter auf das Kind während der Geburt übertragen. Das Virus kann, wenn auch selten, durch Speichel übertragen werden. Ein besonderes Ansteckungsrisiko haben Personen mit häufig wechselnden 318

Hepatitis Sexualpartnern, Menschen, die mit chronisch infektiösen Personen zusammenleben, intravenöse Drogengebraucher (-•Needle-sharing), E m p f ä n g e r von Blut und Blutprodukten und Organtransplantaten, Dialysepatienten und Heil- und Pflegepersonal, Gefängnispersonal sowie Heimbewohner. Besonders gefährdet sind auch Neugeborene von Müttern, bei denen die Antigene H B s A G und H B e A g nachweisbar sind. Bei injizierenden Drogengebrauchern erreichen die Infektionsraten bis zu 50%. Die Inkubationszeit beträgt etwa 30 Tage bis ein halbes Jahr. Die akute Infektion verläuft in der Hälfte bis zwei Drittel der Fälle ohne größere Beschwerden und die Hepatitis wird nicht bemerkt. Der Krankheitsverlauf wird wesentlich von der Immunantwort des menschlichen Körpers bestimmt. Bei einer Hepatitis Β kann es im Unterschied zur Hepatitis Α in der Frühphase zu Gelenkschmerzen, Hautveränderungen und (selten) einer Nierenbeteiligung k o m m e n . Bei Hepatitis Β k o m m t es wesentlich öfter zu einem Ikterus. Ein fulminanter Verlauf mit Leberversagen tritt als Komplikation in etwa 1% auf. Zu einem Übergang in eine chronische Infektion kommt es bei Personen mit normalem Immunsystem in 5 - 1 0 % der Fälle, bei Drogengebrauchern und Dialysepatienten in 25%. Mehr als 90% der Neugeborenen, die während der Geburt mit Hepatitis B-Virus angesteckt wurden, entwickeln eine chronische Hepatitis B. Im Säuglingsalter endet die chronische Hepatitis Β in 2 5 % tödlich. Die chronische Infektion verläuft in der Mehrzahl der Fälle als chronisch-persistierende Hepatitis mit Lebervergrößerung, Laborwertveränderungen und (mikroskopisch feststellbaren) Entzündungszeichen. Viele chronisch Infizierte wissen wegen des beschwerdefreien Verlaufs der Hepatitis nichts von ihrer Infektion. In 1 0 - 3 0 % einer chronischen Hepatitis Β entwickeln sich Komplikationen. A m

Hepatitis

Ende einer chronisch-aktiven Leberentzündung kann, wenn es zu einer chronisch aggressiven Verlaufsform kommt, eine zunehmende Einschränkung der Leberfunktion stehen. Eine Ausheilung ist auch nach jahrelangem Verlauf prinzipiell möglich. Bei häufig rezidivierenden Krankheitsschüben kommt es jedoch oft zu einer Leberzirrhose. Eine weitere mögliche Spätfolge ist das Leberzellkarzinom. Prinzipiell können alle Erkrankungen, die mit einer Schwächung des Immunsystems einhergehen, den Verlauf einer Hepatitis Β negativ beeinflussen. Bei einer Immunschwäche kommt es vermehrt zu einer chronischen Verlaufsform der Hepatitis B. Nach einer Chemotherapie bei Krebserkrankungen kann eine aggressive Verlaufsform der Hepatitis Β auftreten (Rockstroh 1997). Bei Personen mit HIVInfektion und fortgeschrittener Immunschwäche entwickelt sich bei einer HBV-Infektion häufig eine chronische Hepatitis. Auch zurückliegende, scheinbar bereits ausgeheilte Infektionen können reaktiviert werden. Die Diagnose erfolgt durch den Nachweis von Antikörpern gegen das Hepatitis B-Virus im Blut. Sowohl Antikörper gegen Bestandteile der Virushülle (HBsAntigen, HBe-Antigen), als auch gegen innere Eiweißbestandteile des Virus (HBc-Antigen) werden zur Diagnostik genutzt. Ein Nachweis der viralen Erbinformation (HBV-DAN) ist ebenfalls möglich. Mit diesem Verfahren kann die aktive Virusvermehrung gemessen werden. Die Eiweißbestandteile HBs-, HBe, HBc-Antigen des Hepatitis B-Virus können direkt gemessen werden. Nach einer erfolgreichen Auseinandersetzung des Körpers mit dem Hepatitis Β-Virus sind nur noch die Antikörper (Anti-HBs und Anti-HBc) nachweisbar. Der Nachweis von Anti-HBs bedeutet, daß die Person gegen eine erneute Infektion immun ist. Bei einer Chronifizierung der Infektion bleiben die HBV-DNA sowie in der Regel das HBs-Antigen und gegebenenfalls das

Hepatitis

HBe-Antigen nachweisbar. Bei Nachweis der HBV-DNA gilt der Betroffene weiterhin als infektiös. Zur Therapie der chronischen Hepatitis Β wird Interferon alpha über ein halbes Jahr eingesetzt. Mit dieser Therapie kommt es in etwa 10-15% zu einer Ausheilung der chronischen Hepatitis (Berg, Hopf 1997). Da bei der Mehrzahl der behandelten Patienten die Therapie nicht erfolgreich ist, werden neue Medikamente erforscht. Zur Zeit werden die Substanzen 3TC (= Lamivudin), Famciclovir und Ganciclovir zur Behandlung der chronischen Hepatitis Β erprobt. 3TC ist zur antiretroviralen Therapie gegen HIV, Famciclovir zur Behandlung des Herpes Zoster und Ganciclovir zur Behandlung von Cytomegalie-Virusinfektionen (CMV) zugelassen. Bei diesen Medikamenten handelt es sich chemisch um Nukleosidanaloga, die durch den Einbau eines falschen chemischen Bausteins in die Erbsubstanz des Hepatitis B-Virus die Virusvermehrung hemmen können. Gelingt es, die Virusvermehrung zu unterdrücken, kann in der Folge die Leberentzündung abklingen. Eine Vorbeugung gegen Hepatitis Β ist durch Schutzimpfung möglich. Seit mehreren Jahren sind gentechnisch hergestellte sowie aus Blut gewonnene Impfstoffe verfügbar. Eine Hepatitis BInfektion durch den Impfstoff selbst ist zumindest bei den gentechnischen Impfstoffen - ausgeschlossen, weil lediglich Bruchstücke des Virus verwendet werden. Bei Menschen mit normalem Immunsystem ist die Impfung in fast 100% erfolgreich. Deutlich schlechtere Impfergebnisse zeigen sich bei Immunschwäche, zum Beispiel bei Patienten, die eine immunsupprimierende Therapie erhalten, oder bei HIV-Infizierten. Impfen lassen sollten sich alle Menschen, die zu den Hauptbetroffenengruppen gehören und bei denen noch keine Antikörper gegen Hepatitis B-Virus nachweisbar sind. Nach einer eventuellen Ansteckung wird empfohlen, so schnell wie möglich 319

Hepatitis Immunglobuline gegen Hepatitis Β zu geben. Die passive Immunisierung sollte in Kombination mit einer aktiven Immunisierung erfolgen. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit einer Infektion deutlich vermindert. Kondome können das Risiko einer sexuellen Übertragung erheblich vermindern. Bei intravenösem Drogengebrauch kann durch sterile Spritzen und Nadeln das Infektionsrisiko verringert werden. Spritzen und Utensilien sollten immer nur von einer Person benutzt werden. Im Krankenhaus, in der Arztpraxis oder beim Zahnarzt sind die gültigen Hygiene- und Desinfektionsregeln einzuhalten. Medizinisches und zahnärztliches Personal sollte sich impfen lassen. Die Hepatitis Β ist die häufigste Berufskrankheit bei Heilund Pflegeberufen. 2.3 Hepatitis C. Das Hepatitis C-Virus (HCV) wurde 1988 beschrieben. Heute sind drei Genotypen dieses Virus bekannt, die den Verlauf der chronischen Hepatitis C und den Erfolg einer Therapie beeinflussen. In Deutschland gehen 10% aller viralen Leberentzündungen auf das Hepatitis C-Virus zurück. 0,4% der Bevölkerung in Deutschland haben eine chronische Hepatitis C. Das Hepatitis C-Virus kommt vor allem in Asien, aber auch im Mittelmeerraum weitaus häufiger vor. Die Übertragung von Hepatitis C-Virus erfolgt vor allem durch Blut und Blutprodukte. Eine Übertragung durch Geschlechtsverkehr ist möglich; das Risiko einer sexuellen Übertragung ist jedoch geringer als beim Hepatitis B-Virus. Das Hepatitis B-Virus kann während der Geburt auf das Kind übertragen werden. D a das Hepatitis C-Virus erst seit wenigen Jahren bekannt ist, sind heute möglicherweise noch nicht alle Übertragungswege bekannt. Personen mit besonderem Ansteckungsrisiko sind Empfänger von Blut und Blutprodukten (z.B. Bluter) und von Organtransplantaten, Dialysepatienten, Angehörige von Heil- und Pflegeberufen sowie injizierende Drogengebrau-

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Hepatitis cher, von denen zwischen 5 0 - 9 0 % infiziert sind (Rockstroh 1997). Die Inkubationszeit beträgt etwa 20 Tage bis ein halbes Jahr. In etwa 9 0 % verläuft die akute Infektion ohne ausgeprägte Beschwerden. Ein Ikterus ist selten. 5 0 - 8 0 % der Hepatitis C-Infektionen verlaufen chronisch. Von diesen chronischen Infektionen geht wiederum ein Drittel in eine chronisch aggressive Form über. Bei der chronisch aggressiven Form kann sich eine Leberzirrhose mit anschließendem Leberversagen oder ein Leberkarzinom entwickeln. Zu den Komplikationen bei chronischer Hepatitis C gehören Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem das körpereigene Gewebe angreift. Folgen können eine Verödung der Speicheldrüsen mit Versiegen des Speichelflusses, Schädigung der Schilddrüse mit Schilddrüsenunterfunktion oder Entzündungen der Niere sein. Weitere Beschwerden sind stoffwechselbedingte Hautveränderungen und eine Kryoglobulinbildung, bei der es bei Kälte zu einer Z u s a m m e n klumpung von Eiweißen im Blut kommt. Folgen der Kryoglobulinbildung sind Durchblutungsstörungen in Fingern und Zehen sowie Gelenkschmerzen. Als Standardtherapie bei chronischer Hepatitis C gilt zur Zeit die Behandlung mit Interferon alpha. Unter dieser Therapie bildet sich in etwa 50% die Leberentzündung zurück. Nach Absetzen heilt bei etwa der Hälfte der Patienten, die auf die Therapie angesprochen haben, die chronische Hepatitis aus. Diese Therapie ist nur bei 1 5 - 2 5 % der Behandelten erfolgreich. Daher werden z . B . mit Ribavirin vor allem in Kombination mit Interferon alpha zur Zeit weitere Medikamente in klinischen Studien erprobt (Berg, Hopf 1997). Bei HlV-Inflzierten scheint die chronische Hepatitis C rascher zu verlaufen und häufiger zu einem Leberversagen zu führen. Bei Hepatitis C wird die Ausbildung einer Leberzirrhose durch HIVInfektion und Immunschwäche begün-

Hepatitis stigt. Es gibl zur Zeit keine Anhaltspunkte dafür, daß der Verlauf der HIVInfektion durch Hepatitis C beschleunigt wird. Die Diagnose einer Hepatitis C-Virusinfektion erfolgt durch den Nachweis von Antikörpern gegen das Hepatitis C-Virus im Blut. Antikörper treten jedoch erst ein bis fünf Monate nach der akuten Erkrankung auf. Der Nachweis von Erbinformation des Virus (HCV-RNA) ist möglich. Die Mehrzahl der Personen mit Antikörpern gegen Hepatitis C-Virus hat auch das Virus selbst im Blut, d. h. diese Menschen sind chronisch infiziert. Ist die H C V - R N A nachweisbar, so ist der Betreffende als infektiös anzusehen. Eine aktive oder passive Immunisierung gegen Hepatitis C gibt es derzeit nicht. U m Infektionen durch Blut und Blutprodukte auszuschließen, werden Blutprodukte auf Antikörper gegen Hepatitis C gescreent und - wenn möglich - einem Virusinaktivierungsverfahren unterzogen. Bei injizierendem Drogengebrauch wird das Infektionsrisiko durch Verwendung von sterilen Spritzen und Nadeln vermieden, die immer nur von einer Person verwendet werden sollten. Das Risiko einer sexuellen Übertragung kann durch Kondomgebrauch und Safer Sex verringert werden. Im Krankenhaus, in der Arztpraxis oder beim Zahnarzt sind die gültigen Hygiene- und Desinfektionsregeln einzuhalten. 2.4 Hepatitis D. Das Hepatitis D-Virus ist ein „unvollständiges" Virus, das zu seiner Vermehrung die Hülle des Hepatitis B-Virus benötigt. Eine Infektion mit Hepatitis D-Virus ist nur möglich, wenn bereits eine Infektion mit Hepatitis BVirus vorliegt. Das Hepatitis D-Virus m u ß entweder gleichzeitig mit d e m Hepatitis B-Virus übertragen werden, oder es kann eine Person anstecken, die bereits eine chronische Hepatitis B-Infektion hat. Die Hepatitis D wird daher auch als „Satellitenvirusinfektion" bezeichnet. Das Hepatitis D-Virus k o m m t häufig im Mittelmeerraum, in den Balkanländern,

Hepatitis im vorderen Orient, in einigen Ländern Afrikas und in Südamerika vor. In Deutschland wurde es vor allem bei injizierenden Drogengebrauchern nachgewiesen. Eine Übertragung ist durch Blut-Blut-Kontakt, Blutprodukte, beim Geschlechtsverkehr und von der Mutter auf das Kind während der Geburt möglich. Die Inkubationszeit beträgt etwa einen Monat bis ein halbes Jahr. Bei gleichzeitiger Infektion mit Hepatitis B- und D-Virus heilt die Infektion in etwa 90%. Etwa 10% der Infektionen werden chronisch. Bei der Infektion von Menschen, die bereits eine chronische Hepatitis B-Infektion haben, entwickelt sich in etwa 90% eine chronische Hepatitis D-Infektion, da die Hepatitis Β in diesem Stadium selten ausheilt. Bei etwa 2% k o m m t es zu einem schweren Krankheitsverlauf mit einem raschen Leberversagen. Eine Standardtherapie zur Behandlung der Hepatitis D gibt es noch nicht. D a die Hepatitis D eng mit der Hepatitis BInfektion zusammenhängt, erscheint es sinnvoll, eine Therapie mit Interferon zu versuchen. Der Verlauf der Hepatitis Β bestimmt den Verlauf der Hepatitis D. Daher kommt es bei HIV-Infizierten, vor allem bei fortgeschrittener Immunschwäche, gehäuft zu einem chronischen Verlauf der Hepatitis D. Eine Hepatitis D-Infektion kann nur erfolgen, wenn eine Hepatitis B-Infektion vorliegt oder möglich ist. Die wirksamste Vorbeugung gegen eine Hepatitis DVirusinfektion besteht daher in einem Schutz vor einer Hepatitis B-Infektion, am effektivsten durch eine aktive Immunisierung: Eine Schutzimpfung gegen Hepatitis Β schützt auch gegen Hepatitis D. 2.5 Hepatitis E. Das Hepatitis E-Virus wurde Mitte der 80er Jahre als Erreger von entzündlichen Lebererkrankungen identifiziert. Es k o m m t vor allem außerhalb Europas (Vorderasien, Nordafrika, Südamerika) und in den Balkanländern 321

Heroin vor. Nach Deutschland gelangt das Hepatitis E-Virus in der Regel durch Reisende. Die Übertragung erfolgt wie beim Hepatitis Α-Virus fäkal-oral und im wesentlichen über verunreinigte Nahrungsmittel und Trinkwasser. Die Inkubationszeit beträgt etwa zwei Wochen bis zwei M o nate. Die Hepatitis Ε verläuft meist ähnlich wie die Hepatitis Α mit relativ gering ausgeprägten Beschwerden. Allerdings treten bei Schwangeren gehäuft schwere Verlaufsformen mit Leberversagen auf. Die Hepatitis Ε geht nicht in eine chronische Form über. Die Diagnose einer Hepatitis E-Infektion erfolgt durch Antikörpernachweis. Eine spezifische Therapie oder eine Schutzimpfung gegen Hepatitis Ε gibt es nicht. Die prophylaktischen Hygienemaßnahmen entsprechen denen bei Hepatitis A, da die Übertragungswege identisch sind. 2.6 Hepatitis G. 1995 wurde mit d e m Hepatitis G-Virus ( H G V ) ein weiteres Virus beschrieben, das möglicherweise Leberentzündungen auslöst. Es k o m m t gehäuft bei intravenösen Drogengebrauchern, Dialysepatienten, Blutern und HIV-positiven schwulen Männern vor. Noch ist nicht abschließend geklärt, welche Verlaufsformen von Hepatitis G es gibt. Möglicherweise ist das Hepatitis G-Virus Ursache für ein akutes Leberversagen (Kekule, Frösner 1997). Eine abschließende Beurteilung des Hepatitis G-Virus ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Eine Therapie ist zur Zeit nicht bekannt. 3. Impfungen gegen Hepatitis Schutzimpfungen (aktive Immunisierungen) sind heute gegen Hepatitis Α und Hepatitis Β möglich. Dazu wird ein Totimpfstoff verwendet, der selbst nicht zu einer Infektion führen kann. Impferfolg und erreichter Impfschutz sind abhängig vom Immunsystem der geimpften Person und liegen bei Menschen mit normalen Immunsystem für Hepatitis Α bei 322

Heroin über 95% und bei Hepatitis Β bei nahezu 100%. Da eine Hepatitis oft zu einer erheblichen Störung des Allgemeinbefindens und, häufiger bei Hepatitis B, zu lebensbedrohlichen Komplikationen und zum Tod führen kann, hat die Ständige Impfkommission (STIKO) für Hauptbetroffenengruppen eine I m p f u n g e m p f o h len. -•Needle-sharing; -»Safer use Lit.: Berg, Τ., Hopf, U., Therapie der chronischen Virushepatitis, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 122 (1997), 51, 1593-1598; Kekule, A. S„ Frösner, G. G., Molekularbiologie und Pathogenese des Hepatitis G-Virus, in: Deutsches Ärzteblatt 94 (1997), A2 0 6 4 - 2 0 6 8 ; Maier, K.-P, Hepatitis Hepatitisfolgen. Stuttgart, New York, 4 1995; Rockstroh, J„ Koinfektionen: HIV und Hepatitis, in: Jäger, H. (Hrsg.), AIDS. Neue Perspektiven. Therapeutische Erwartungen. Die Realität 1997, Landsberg 1997, 124-128. Stephan Dressler, Berlin Heroin 1. Pharmakologie. Heroinum hydrochloricum (Diacetylmorphin) wurde erstmals 1874 in einem Bericht von Wright über dessen Studien über natürlich vorkommende Alkaloide erwähnt. D e m g e m ä ß wurde es erstmals in Großbritannien im Londoner St. Mary's Hospital produziert. Allgemein zur Kenntnis genommen wurde es allerdings erst, als 1898 Dreser für die Firma Bayer darüber berichtete, es synthetisiert zu haben. Es ist ein weißes, kristallinisches, geruchloses Pulver von bitterem Geschmack und neutraler Reaktion. Es ist in Wasser außerordentlich leicht löslich (1:2) und schmilzt bei 2 3 0 - 2 3 1 Grad Celsius. Hinsichtlich seiner Wirkungsparameter ist es dem Morphin vergleichbar. Die analgetisch wirksame Einzeldosis wird mit 3 mg bei subkutaner, als hustendämpfend wirksame Dosis mit 2 - 8 m g bei peroraler Applikation angegeben, die Wirkungsdauer der Einzeldosis beträgt 3 - 4 Stunden.

Heroin Pharmakokinetik: Die Substanz wird rasch zu Monozetylmorphin und dieses dann wieder rasch zu Morphin hydrolysiert. Beim Erwachsenen ist die BlutHirnschranke gegenüber Morphin wesentlich effizienter als gegenüber Heroin und gegenüber Monoazetylamin, da beide stärker lipidlöslich sind als Morphin. Andererseits ist das Morphin f ü r die pharmakologische Wirksamkeit des Heroin verantwortlich. Heroin wird im Harn zum Großteil als freies und gebundenes Morphin ausgeschieden. In der einschlägigen pharmakologischen Literatur wird stets darauf verwiesen, daß zwischen der Wirkung von Morphin und von Heroin keine wesentlichen Unterschiede bestehen. 2. Medizinische Verwendung. Aufgrund der Untersuchungen und Veröffentlichungen von Dreser wurde die Substanz in den Arzneimittelschatz aufgenommen. Es wurde beschrieben, daß das Heroin einen spezifischen Einfluß auf die Atmungsorgane besitze, daß es die Atemfrequenz senke, dabei jedoch das Volumen jedes einzelnen Atemzuges größer würde. Dadurch, daß mit j e d e m einzelnen Atemzug mehr Luft mit größerer Energie eingesogen werde, würde allgemein die Arbeitsleistung der Lunge erhöht. Des Weiteren fand Dreser, daß der Sauerstoffverbrauch und die Kohlensäureproduktion herabgesetzt würden, ohne daß der von M o r p h i u m bekannte Effekt einer A b n a h m e der Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber der Sauerstoffverarmung und der Kohlensäureüberladung eintrete. Die Wirkung des Heroins wurde als qualitativ gleichartig mit der des Kodeins, jedoch als dieser quantitativ überlegen, beschrieben. Eine allgemein schmerzlindernde Wirkung und eine schlaffördernde Wirkung wurden in dieser frühen Phase nicht beobachtet bzw. wurde der Standpunkt vertreten, daß die Substanz in dieser Hinsicht dem Morphium unterlegen sei. Aus all diesen Gründen wurde das Heroin als Arzneimittel vorwiegend bei

Heroin verschiedenen Indikationen in der Pulmologie empfohlen: bei akuten und chronischen Entzündungen der oberen und unteren Luftwege, bei Bronchitis, Laryngitis, Pleuritis, Phthisis, Hämatoptöe, aber auch bei Keuchhusten, Asthma und Katharrh der Emphysematösen (Skutetzky, 1908). Dieser Anwendungsbereich ist auch weiterhin den entsprechenden Darstellungen über die therapeutische Praxis zu entnehmen. (z.B. Biach, 1923). Außerdem wurde das Heroin als Mittel gegen bestimmte Formen von Herz-Kreislauferkrankungen, bei bestimmten Formen akuter und chronischer Entzündungen im Bereich der Gynäkologie und als „Anti-Aphrodisiakum" bei Pollutionen, „sexueller Neurasthenie" und gegen schmerzhafte Erektionen als Begleiterscheinung gonorrhoischer Infektionen empfohlen. 3. Heroinabhängigkeit. Den frühen Darstellungen der Substanz lassen sich merkwürdig widersprüchliche Beobachtungen entnehmen. Z u m einen wurde behauptet, daß die medizinische Anwendung der Substanz in geringerem A u s m a ß als von Morphium bekannt zu Dosissteigerung und Abhängigkeit führe und daß plötzliches Entziehen nach längerem Gebrauch lediglich leichte Morphinismussymptome nach sich ziehe, zum anderen warnten französische Autoren davor, Heroin als Ersatzmittel im Morphiumentzug anzuwenden, da es dann zu einem Heroinismus komme, der noch schwieriger zu behandeln sei (Mercks Index, 1905). Diese Publikationen sind die ersten Hinweise auf Heroinabhängigkeit, die in der wissenschaftlichen Literatur zu finden sind. Der europäischen Literatur ließen sich in der Periode, in der Heroin als verschreibbares Arzneimittel galt, nur wenige Hinweise auf eine größenmäßig relevante Ausbreitung der Heroinabhängigkeit entnehmen (Springer, 1992; 1996). Hingegen wurden in den U S A bereits in den 20er Jahren Berichte über 323

Heroin

eine spezifische Gefährdung durch die Substanz in großer Zahl veröffentlicht, und die amerikanische Produktion des Heroin wurde bereits 1924 verboten. Diese Diskrepanz läßt sich besser verstehen, wenn man bedenkt, daß an der Problematik, die in den USA zu beobachten war, eine Fülle von Einflußfaktoren beteiligt war: Aufgrund der prohibitiven Regulierung des Narkotikagebrauches, die bereits seit den 10er Jahren bestand, bemächtigten sich die Gangsterorganisationen des Drogenmarktes. Auf diese Weise entstand eine Verschränkung des Opiatgebrauches mit Kriminalität, die in Europa nicht vergleichbar dimensioniert war. Ebenso für die USA spezifisch war die Sitte, die Substanz intravenös zu applizieren, während in Europa in jener Zeit das Heroin wie auch die anderen damals geläufigen Sucht- und Rauschmittel entweder geschnupft oder subkutan injiziert wurde. Seit damals wird angenommen, daß die Gebrauchsform offenkundig entscheidenden Einfluß auf den Suchtprozeß hat: Das rasche Anfluten der Wirkung, das die intravenöse Injektion vermittelt, soll maßgeblich an jenem euphorischen Zustand beteiligt sein, der als „Flash" bekannt ist und dessen Erfahrung im allgemeinen von den Heroinabhängigen angestrebt wird. Aus den Schweizer Experimenten, die in den 90er Jahren über die Wirkung von Opiaten, die zur •Substitutionsbehandlung herangezogen werden können, durchgeführt wurden, wissen wir, daß die Umstellung auf perorale Einnahme des Heroins oder das Rauchen von heroinpräparierten Zigaretten von erfahrenen Heroingebrauchern im allgemeinen nicht akzeptiert wird. 4. Heroinkontrolle. Die Heroinprohibition entstand in den USA. Ihre ersten Vorzeichen zeichneten sich bereits während des Ersten Weltkrieges ab. Seit 1916 äußerten in den USA immer mehr medizinische Experten, daß der Nutzen der Droge weit geringer sei als das Ri324

Heroin

siko, das ihr Gebrauch mit sich bringe. Diese Einstellung wurde 1919 von einem Expertenkomittee festgeschrieben. 1920 nahm dann das Delegiertenhaus der Amerikanischen Ärztlichen Gesellschaft eine Resolution an, nach der das Heroin aus allen medizinischen Zubereitungen entfernt werden solle, das Heroin nicht verordnet und nicht abgegeben werden solle und Import, Erzeugung und Verkauf der Droge in Amerika verboten werden solle. 1923 wurde der Gebrauch des Heroins in der amerikanischen Armee untersagt. 1924 war dann das Schicksalsjahr für den medizinischen Gebrauch der Substanz, als in den USA ein Gesetz erlassen wurde, das den medizinischen Gebrauch und den legalen Handel mit Heroin untersagte und mit dem verfügt wurde, daß kein Opium eingeführt werden dürfe, um daraus Heroin zu erzeugen. Obwohl die USA mit Unterstützung durch China und Ägypten schon in der Zwischenkriegszeit gefordert hatten, daß ihr Standpunkt vom Völkerbund übernommen und mittels internationaler Abkommen für alle Mitgliedsstaaten verpflichtend werden solle, kam es zunächst nicht zur weltweiten Prohibition des Heroins, da die europäischen Länder sich vorerst diesem Ansinnen verweigerten. In vielen Ländern wurde auch weiterhin Heroin produziert und ärztlich angewendet. 1931 allerdings hatte sich die Meinung mancher europäischer Experten in die Richtung der amerikanischen Forderungen entwikkelt, wie ein Gutachten, das anläßlich der Genfer Konventionskonferenz erstellt wurde, deutlich erkennen läßt (Springer, 1992). Endgültig setzte sich der amerikanische Standpunkt aber erst in der „Einzigen Suchtgiftkonvention" aus dem Jahr 1962 durch. In ihr wurde die Ausnahmestellung, die die USA schon 1924 für die Substanz gefordert hatten, als international verpflichtende Regel festgeschrieben. Heroin wurde nicht - entsprechend der pharmakologischen Zu-

Heroin Ordnung - in eine Kategorie mit den anderen Opiaten aufgenommen, sondern in den Anhang 4 neben das - • C a n n a b i s verbannt. Damit wurde ihm wie auch den Hanfdrogen ein mythischer Sonderstatus verliehen, der nicht zuletzt auch den hohen Schwarzmarktwert der Substanzen bedingt. 5. Verbreitung des Gebrauches. 5.1 Medizinisch: In medizinischem Gebrauch ist das Heroin aufgrund seiner Zuordnung in der „Einzigen Suchtgiftkonvention" derzeit in nur wenigen Ländern. England hat sich der totalen Verbannung der Substanz aus dem Arzneimittelschatz nie angeschlossen, und auch in Belgien ist für pulmologische Indikationen die Verordnung von Heroin möglich. In den frühen 70er Jahren forderte in den U S A ein „Komittee für die Behandlung unerträglicher Schmerzen", daß die Substanz wieder zur Behandlung schwerkranker Patienten zugelassen werden sollte. 5.2 Heroinsubstitution: Die medizinische Abgabe von Heroin an Heroinabhängige war früher in Großbritannien üblich, bis dann seit den 70er Jahren zunehmend -»-Methadon als Substitutionsmittel eingesetzt wurde. Es ist jedoch speziell lizenzierten Ärzten bis heute möglich, diese Behandlungspraxis durchzuführen (Strang & Gossop, 1996). Insgesamt gibt es in Großbritannien rund 100 derart lizenzierte Ärzte, von denen etwa 300 Patienten auf diese Weise versorgt werden. Das entspricht einem Anteil von weniger als 2% der behandlungswürdigen Opiatabhängigen (Metrebian & Ma, 1996). Ein Versuch, bei entsprechender Indikation bei schwer heroinabhängigen Personen den Gebrauch der Droge unter Kontrolle zu bringen und die Folgen des illegalen Konsums zu begrenzen, wurde in den 90er Jahren in der Schweiz in Angriff genommen. Es wird über positive Resultate berichtet (Lichtenhagen u. a., 1996). (-•Drogenfreigabe)

Heroin 5.3 Außermedizinisch: Auf dem Schwarzmarkt genießt Heroin über die verschiedenen Drogenmoden hinweg stabile Wertschätzung. Es ist seit den 20er Jahren f ü r diverse Gruppen der organisierten Kriminalität ein begehrtes Handelsgut geblieben, das sich auf den Märkten des illegalen Drogenkonsums reger Nachfrage erfreut und dem illegalen Handel immer steigende Gewinne zu bringen scheint. De facto ist die Geschichte des Heroins auch die Geschichte des organisierten Verbrechens; angefangen von den frühen Tagen der Mafia bis zu den neuen Entwicklungen in den postkommunistischen Ländern der Balkanregion und Nord-Osteuropas. Man kann mit gutem Grund sagen, daß die prohibitiven Tendenzen gegenüber individuellem Drogengebrauch, die seit den 20er Jahren in zunehmendem M a ß die internationale Drogenpolitik bestimmen, ganz wesentlich zur Entwicklung und zum Wachstum der kriminellen Organisationen beigetragen haben (McCoy, A. W„ 1991). Die Bedeutung der Droge für den Schwarzmarkt resultiert daraus, daß hinter der Produktion eine Fülle von involvierten Gruppierungen steht; beginnend bei den Mohnbauern und endend bei den Kleinverteilern und den Großgewinnern. »Drogenabhängigkeit; -»-Drogenfreigabe; - • D r o genpolitik Lit.: Kohn, M., Narcomania on Heroin, faber & faber, London, 1987; McCoy, Α. W., The Politics of Heroin. Lawrence Hills Books, New York, 1991; Metrebian, N „ Shanahan, W„ Stimson, G. V., Heroin Prescribing in the United Kingdom: An Overview. Eur. Addict. Res. 2, 194-200, 1996; Springer, Α., Heroinmythologie und Heroinkontrolle. Zur Sozialgeschichte einer Beziehung, in: Böker, W., Nelles, J. (Hrsg.): Drogenpolitik wohin? Haupt, Bern 1992; Springer, Α., Heroin Control: A Historical Overview. Eur. Addict. Res. 2, 177-184, 1996; Trebach, A. S., The Heroin Solution. Univ. Press, Yale, 1982; Uchten325

Hilfe vor Strafe

Humanistische Psychologie

hagen, Α., Dobler-Mikola, Α., G u t z willer, F., Medical Prescription of Narcotics. Eur. Addict. Res. 2, 2 0 1 - 2 0 7 , 1996. Alfred Springer, Wien Hilfe vor Strafe -•Drogenrecht; -»-Therapie statt Strafe HIV-Infektion -•Aids Horrortrip (engl.) Drogenerlebnis nach der Einnahme eines -»Halluzinogens mit K o m plikationen. Der H. zeichnet sich durch Angstzustände aus, die durch die subjektive Befindlichkeit des Konsumenten, aber auch durch die reale U m gebung verursacht oder verstärkt werden. Der H. kann sowohl Auslöser einer neurotischen und/oder psychotischen Entwicklung sein, als auch die Reaktion bei Menschen mit einer neurotischen und/oder psychischen Erkrankung sein. Humanistische Psychologie 1. Begriff und Entwicklung. In den f ü n f ziger Jahren setzte sich A. Maslow dafür ein, eine andere Sicht des Menschen in der psychologischen Forschung und Praxis zu vertreten. Anders als Psychoanalyse und Behaviorismus betonte er die positive Grundausstattung der menschlichen Natur und der menschlichen Möglichkeiten. Im Grunde gen o m m e n sei der Mensch ein auf Wachstum und Selbstverwirklichung ausgerichtetes Wesen. Gute schöpferische Kräfte, wie Kreativität und Potenz für zielgerichtetes Handeln, zeichneten den Menschen aus. Damit vertrat Maslow eine pointierte Gegenposition zu triebdynamischen Theorien der Psychoanalyse und zu den über Belohnung und Bestrafung determinierenden Kräften zufälliger oder intendierter Lebensereignisse des Behaviorismus. 1961 wurde von A. Sutich das „Journal of Humanistic Psychology" herausgegeben. Ein Jahr später begann die „Ameri326

can Association of Humanistic Psychology" ihre Arbeit. Die Η. P. wird nun als eine eigene Richtung der Psychologie betrachtet mit A. Maslow als Hauptinitiator. Als Hauptvertreter gelten neben Maslow C. Bühler und C. Rogers. Maslow nannte die Η. P. eine „dritte Kraft" neben der Psychoanalyse und d e m Behaviorismus. Mittlerweile wird auch von einem dritten Paradigma gesprochen. Davison/Neale bezeichnen in Psychopathologie und Therapie die Η. P. als fünftes Paradigma nach dem physiologischen, dem psychoanalytischen, d e m lerntheoretischen und dem kognitiven Paradigma. Die Η. P. als „dritte Kraft" fand bald große Resonanz. Unterschiedliche Konzepte und Vorgehensweisen sind unter ihrem Dach zu finden. Dies erklärt sich daraus, daß die Η. P. als Gegenbewegung zu Psychoanalyse und Behaviorismus gleichzeitig eine Sammelbewegung gewesen ist für psychologische Ansätze, die sich zum Teil unabhängig voneinander entwickelt und zum Teil nach anfänglicher Gemeinsamkeit selbständig ausdifferenziert haben, aber sich in einer Art geistiger Wahlverwandtschaft verbunden fühlten. Je nach Betrachtungsweise und Selbstverständnis der jeweiligen Vertreter werden Encounterbewegung, Bioenergetik, Transaktionsanalyse, Logotherapie und Themenzentrierte Interaktion zur Humanistischen Psychologie gezählt. Die unterschiedliche theoretische Orientierung und Schwerpunktsetzung der jeweiligen Vertreter z.B. in Richtung Tiefenpsychologie oder Verhaltenstherapie macht eindeutige Zuordnungen schwierig, zumal sich die Η. P. eher als eine prozeß- und wachstumorientierte Selbsterfahrungs-, Beratungsund Behandlungspraxis versteht, als eine wissenschaftliche Schule mit eindeutig theoretischem Selbstverständnis. Im Z u s a m m e n h a n g mit der kulturkritischen Bewegung der 60er Jahre entwikkelten sich, unterstützt von den Grundgedanken der Η. P , vielfältige Angebote

Humanistische Psychologie unterschiedlicher Qualität: Sensitivity Trainings, gruppendynamische Laboratorien, Gruppendynamik, Selbsterfahrungsgruppen, Encountergruppen, Erlebnistherapie, Marathongruppen, Urschreitherapie, Konflikttraining, Teambuildingtrainings, Organisationsberatung u. ä. Es entstand ein unübersichtlicher Markt, der von Kritikern mit „ P s y c h o b o o m " und „Selbstverwirklichungstrip" etikettiert wurde. Die Qualität der Angebote war zum Teil fragwürdig, da es weder für die Angebote noch f ü r die Anbieter überprüfbare Qualitätskriterien gab. Dieses Problem ist auch gegenwärtig noch nicht zufriedenstellend gelöst. Trotz der vielfältigen Facetten der Η. P. haben deren Vertreter in der Regel ein gemeinsames Anliegen: - Auseinandersetzung mit Zielfindung und Sinnbestimmung menschlicher Existenz, - ganzheitlich konzipiertes Menschenbild, - Authentizität, - Selbstverwirklichung (Fromm, Horney) und Selbstaktualisierung (Goldstein, Maslow, Rogers) im Kontext eines Selbstverwirklichungs- und eigenverantwortlichen Wachstumsprozesses, - soziale Interaktion (Moreno; hier auch Kritik einer Selbstverwirklichung ohne soziale Einbindung), - Arbeit im Hier und Jetzt und - Selbsterfahrung durch organisiertes Feedback. 2. Hauptrichtungen der Η. P. Zu den Hauptrichtungen der Η. P. zählen F. Perls (Gestalttherapie) und C. Rogers (Gesprächspsychotherapie/klientenzentrierte Beratung). Eine Sonderstellung nimmt das Psychodrama nach J. L. M o reno ein. F. Perls, 1893-1970, verstand sich zunächst als Psychoanalytiker. Er begründete in kritischer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und nach d e m Kennenlernen des Psychodramas von

Humanistische Psychologie J. L. Moreno die Gestalttherapie. Bevor der Begriff Gestalttherapie geprägt wurde, sprach F. Perls von einer Therapie, in der „awareness" (Bewußtheit, bewußtes Wahrnehmen seiner selbst) und „concentration" (Konzentration auf die eigentlichen G e f ü h l e und Bedürfnisse) im Mittelpunkt stehen sollten. Später entnahm er der Gestalt- und Ganzheitspsychologie zentrale Elemente. Wahrnehmen und Denken, Fühlen und Handeln, Körper und Geist stehen in wechselseitigem Zusammenhang und bilden eine Ganzheit. Der Organismus steht in ständiger Wechselbeziehung zu seiner Umwelt. Fremdes und Neues werden in einem Assimilationsprozeß aufgenommen, verarbeitet und nur das dem Wachstum Dienliche wird wirklich assimiliert. Störungen sind Störungen der Wahrnehmung, des Kontaktes zu den wesentlichen Bedürfnissen und des Assimilationsprozesses. Das Individuum kann für seine Bedürfnisbefriedigung keine angemessene Gestalt bilden. Figur und Hintergrund stimmen nicht zueinander, bilden keine vollendete Gestalt. Eine angemessene Gestaltbildung findet da statt, w o der Organismus in stimmiger Weise im Kontakt mit der Umwelt seine für ihn wichtigen Bedürfnisse erkennen und befriedigen kann. Die für den Augenblick wichtigen Bedürfnisse (Figur) werden erkannt und heben sich durch diesen Wahrnehmungsprozeß vom Hintergrund, d. h. den im Moment unwichtigen Bedürfnissen ab. Stimmen Figur und Hintergrund nicht zueinander, ist keine wachstumsfördernde Gestaltbildung möglich. Ziel der Gestalttherapie ist es, eine flexible Gestaltbildung zu ermöglichen und den Kontakt sowohl zu den eigenen Bedürfnissen, als auch zur U m w e l t wieder herzustellen und einen gesunden Handlungsfluß zu ermöglichen. Für diesen Kontakt sind Begegnung zwischen ICH und DU und konkretes Arbeiten im HIER und J E T Z T konstitutiv. Der Gestalt-Dialog mit einem relevanten Interaktionspartner oder ei327

Humanistische Psychologie

nem spezifischen Anteil der eigenen Person auf dem „leeren Stuhl", das Zusammenspiel zwischen Unterstützung und Konfrontation bis hin zu einer für den Wachstumsprozeß sinnvollen Frustration, die Arbeit mit Materialien sowie Phantasieübungen sind mögliche Interventionstechniken der Gestalttherapie. Gelegentlich wird kritisch geäußert, die Gestalttherapie sei die kreative Ansammlung verschiedener Interventionstechniken und deren Integration in die eigene therapeutische Philosophie. Der Ansatz des gestalttherapeutischen Konzeptes wurde von der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik aufgegriffen. In sozialer Gruppenarbeit und in der Beratungspraxis hat die Gestaltarbeit mit ihrer Konzentration auf das Hier und Jetzt und mit der sinnlichen Vergegenständlichung einer Problemlage neue Zugänge zur jeweiligen Klientel geschaffen. Die aktuellen Konflikte konnten besser begriffen und erforderliche Klärungs- und Wachstumsprozesse schneller in Gang gesetzt werden. Die ausdifferenzierten Fort- und Weiterbildungsangebote tragen dem insofern Rechnung, als spezifische Qualifizierungen für Gestaltberatung und Gestaltpädagogik angeboten werden. In der Suchtarbeit ist der gestalttherapeutische Ansatz weit verbreitet. Der infolge der Suchterkrankung gestörte Zugang zu sinnlicher Wahrnehmung sowie die gestörte eigene Körperwahrnehmung werden durch die Gestaltarbeit in angemessener Weise Gegenstand der Behandlung. Wegen der Komplexität des Abhängigkeitssyndroms ist es notwendig, nicht nur psychodynamisch die Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern durch adäquate Konfrontation im Hier und Jetzt auch die Fähigkeit für die Auseinandersetzung mit der Realität zu trainieren. Hier bietet die Gestalttherapie gute und direkte Zugänge. Die „Gesprächspsychotherapie" nach C. Rogers, 1902-1987, ist auch bekannt als klientenzentrierte Therapie und als nichtdirektive Gesprächsführung. In der 328

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Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GWG) wird von klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie, aber auch von klientenzentrierter Beratung gesprochen. Das Konzept von Rogers ist sowohl für die Therapie als auch für Beratung von Bedeutung. In der Beratungspraxis hat die „non-direktive" Gesprächsführung einen hohen Stellenwert für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Das Hauptverdienst von C. Rogers liegt darin, daß er eine neue Qualität der Therapeut-Klient-Beziehung bzw. BeraterKlient-Beziehung gefordert hat. Grundhaltung des Therapeuten/Beraters ist Echtheit oder Kongruenz in der Begegnung sowie Nichtdirektivität. Auf der Grundlage bedingungsloser Wertschätzung und uneingeschränkter Akzeptanz soll der Therapeut/Berater eine warme und angstfreie Gesprächsatmosphäre schaffen, in der der Klient sowohl seine für ihn relevanten Themen als auch letztlich seinen eigenen Weg finden kann. Methodisch versucht der Therapeut/Berater den Wachstumsprozess des Klienten zu fördern durch seine eigene Fähigkeit, sich in den Klienten einzufühlen, d. h. durch seine empathische Kompetenz und durch seine Fähigkeit, emotionale Erlebnisinhalte des Klienten zunächst stellvertretend zu verbalisieren. Der Ratsuchende ist in diesem Prozeß weniger Patient als vielmehr Klient. Durch die Betonung des Klientenstatus wird die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Ratsuchenden hervorgehoben und gleichzeitig auch das Vertrauen in die Selbstheilungs- und Selbstverwirklichungskräfte des Individuums zum Ausdruck gebracht. Ein gelungener Gesprächsführungsprozeß soll dazu führen, daß der Klient sich selbst besser versteht und begreift. Er soll befähigt werden, seine eigenen Impulse zu verwirklichen und eigenverantwortlich zu aktualisieren. Die Selbstaktualisierungstendenz des Klienten soll gestärkt werden. (-»-Suchtberatung).

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Ein besonderes Verdienst von C. Rogers ist es, Tonbandaufnahmen in die psychotherapeutische Praxis eingeführt und dadurch vielfältiges Material für die Forschung und Weiterbildung gesammelt zu haben. Die Gesprächspsychotherapie hat sich in mehreren Phasen weiterentwickelt und ausdifferenziert. Kritisch zu prüfen wäre, ob die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, bzw. -beratung die realen gesellschaftlichen Verhältnisse als Ursprung psychischen Leidens auch in angemessener Weise würdigt. In der Arbeit mit suchtkranken Menschen kommt der nichtdirektiven Vorgehensweise insofern eine besondere Bedeutung zu, als jeweils in Abhängigkeit von der individuell vorgegebenen Krankheitsgeschichte sowohl unterwürfig sich anpassende Verhaltensweisen als Ausdruck gestörter Ich-Stärke, als auch vielfältige Formen des Widerstands zum Schutz eben dieser gestörten Ich-Stärke vorliegen und zu Sucht führen können. In beiden Fällen kann die nichtdirektive Vorgehensweise helfen, die Selbstaktualisierungstendenz eines Klienten zu unterstützen und Ich-Stärke wachsen zu lassen. Die mangelnde Explorationsfähigkeit und die fehlentwikkelte Autonomie eines süchtigen Klienten können so gefördert und gestärkt werden. Dadurch kann geholfen werden, den suchtbedingten Kontrollverlust zu überwinden. Allerdings sollte die nichtdirektive Vorgehensweise eingebunden sein in ein umfassenderes Behandlungssetting, in dem sowohl angemessen konfrontiert als auch handlungsorientiert vorgegangen werden kann. Die triadische Methode von J. L. Moreno, 1889-1974, (Psychodrama, Soziometrie, Gruppenpsychotherapie), kurz Psychodrama genannt, nimmt in Bezug auf die Η. P. eine Sonderstellung ein. Wesentliches Gedankengut der Η. P. wurde von J. L. Moreno in Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse (hier vor allem Adler) eigenständig entwickelt und konzipiert, lange bevor sich die

Humanistische Psychologie

Bewegung der Humanistischen Psychologie formierte. Wegbereiter der Η. P. wie K. Lewin, Begründer eigener Schulen innerhalb der H. P., und F. Perls sind von Moreno beeinflußt. Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, sprach vom Morenoproblem und meinte damit, daß jeder „aktive" Psychotherapeut damit konfrontiert sei, daß praktisch alle „aktiven" Techniken bereits von Moreno im Psychodrama ausprobiert wurden. Es sei in Bezug auf diese Techniken schwierig, mit etwas Eigenem aufzuwarten, (vgl. Rowan, J., 1990, S. 126) Der Paradigmenwechsel vom individuumzentrierten zum interaktioneilen Ansatz in Psychotherapie und Pädagogik wurde durch Morenos soziometrisches Konzept initiiert. Er gilt auch als der Hauptbegründer der Gruppenpsychotherapie. Ebenso ist der Paradigmenwechsel von der monokausalen Betrachtungsweise menschlichen Verhaltens hin zur systemischen Sichtweise durch Morenos Netzwerktheorie vollzogen worden. Die Bedeutung der konkreten Arbeit im Hier und Jetzt in der Humanistischen Psychologie, sowie die Bedeutung von Spontaneität und Kreativität, die Aufwertung des subjektiven und schöpferischen Handelns und die Einbindung des Menschen in seine Umwelt, in seinen Kosmos haben ihren Ursprung im Gedankengut und in der therapeutischen Philosophie von Moreno. Nach J. Kriz (1981) wird Morenos Bedeutung häufig unterschätzt. Trotz der elementaren Bedeutung von Moreno für die Entwicklung der Η. P. läßt sich das Psychodrama nur bedingt in diese Bewegung einordnen. Das Psychodrama wurde unabhängig von der Bewegung der Humanistischen Psychologie entwickelt. Es stellt ein multiaxiales Konzept dar, mit vielfältigen aus der Methode entwickelten Techniken. Die triadische Methode insgesamt bezieht sich sowohl auf den Einzelnen innerhalb seines sozialen Atoms und seines psychosozialen Netzwerkes, als auch auf 329

Humanistische Psychologie die Interaktionsprozesse in Gruppen und in sozialen Organisationen. M o r e n o selbst hat sich nicht explizit der Bewegung der Η. P. zugeordnet. Er sah im Psychodrama eine eigene Qualität, die sich von der Psychologie unterschied. Deutlich wird die Differenz zur Humanistischen Psychologie in Morenos früher Kritik der Selbstverwirklichung. In Vorahnung eines entgleisenden Selbstverwirklichungstrips wurde bei Moreno der „ICH-Seuche" durch eine entsprechende therapeutische Philosophie und durch die Handlungstechniken der Methoden sozusagen methodisch vorgebeugt. Psychodrama ist nach M o r e n o „die Methode, welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet". Über spontane szenische Produktion relevanter früherer, mitunter verdrängter Interaktionen können unter Leitung und Begleitung durch den Psychodramaleiter nach einer angemessenen A n w ä r m u n g im psychodramatischen Spiel die betreffenden Erlebnisse vom Protagonisten, d e m für die Be-Handlung im Mittelpunkt stehenden Klient/Patient, wiedererinnert, wiedererlebt und durchgearbeitet werden. Auf der psychodramatischen Bühne innerhalb einer Gruppe begleiten die Gruppenmitglieder das szenische Handeln, wirken als Hilfs-Iche/Antagonisten in gewählten Rollen bei der Handlung mit und helfen durch Rollenfeedback und persönliche Rückmeldungen aufgrund eigener Betroffenheit (sharing) dem Protagonisten dabei, die gemachten Erfahrungen in sein Rollenrepertoir und sich selbst wieder aus der Spielrealität in die Gruppenrealität zu integrieren. Im Rollentausch mit den jeweiligen Interaktionspartnern werden neue Perspektiven gewonnen. Durch die Technik des Doppeins erhält der Protagonist angemessene Unterstützung für Ausdruck und Darstellung der Prozesse seiner inneren Bühne. Die Technik des Spiegeins ermöglicht dem Protagonisten Zugang zur Wahrnehmung seiner Inter-

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Humanistische Psychologie aktionsgestaltung aus einer distanzierten Position. Soziometrie ist der Teil der triadischen Methode, der die Interaktionsprozesse erforscht und Zugang verschafft zur emotionalen Tiefenstruktur von Gruppen. J. L. Moreno hat hierzu methodische Grundlagen geliefert für Untersuchungsinstrumente. Er gilt als der erste, der Gruppenprozesse per Film aufgezeichnet hat. In der Gruppenpsychotherapie ergänzen sich Psychodrama und Soziometrie. Die Einsicht in die Dynamik der Wechselwirkung zwischen Individuum, Gruppe und dem jeweiligen psychosozialen Netzwerk hilft, die Behandlung und Beratung des Einzelnen und seine Begleitung im psychodramatischen Spiel entsprechend zu gestalten. Das psychodramatische Stegreifspiel, das M o n o d r a m a (Anwendung des Psychodramas in der Einzelarbeit), das Soziodrama (szenische Arbeit mit Beziehungen und Konflikten zwischen verschiedenen sozialen Gruppen) und das Axiodrama (szenische Darstellung von Wert- und Sinnfragen, Zugang zu transzendenten Fragestellungen) sind weitere Formen psychodramati scher Arbeit. Der handlungsorientierte und körperintegrierende ganzheitliche Ansatz der Methode und das der Methode inhärente szenische Vorgehen ist für Pädagogik, Beratung, Therapie und Rehabilitation von bleibender Aktualität. Kritisch anzumerken sind Defizite in der Psychodramaforschung und Evaluation. In der Behandlung Suchtkranker kommt dem Psychodrama ein hoher Stellenwert zu. Das multifaktorielle Bedingungsg e f ü g e von Sucht, dem ein komplexes Zusammenspiel von sozialen und politischen Umweltbedingungen, persönlichen Faktoren und den spezifischen psychopharmakologischen Wirkungsmechanismen einer Droge zugrundeliegt, erfordert für die Behandlung Suchtkranker einen Behandlungsansatz, der der Komplexität des Abhängigkeitssyn-

Humanistische Psychologie droms Rechnung trägt. Die Einbeziehung der aktuellen Lage der Klienten, die Arbeit mit den psychosozialen Netzwerken eines Klienten, die Möglichkeit vielschichtige Rollencluster darstellbar und handhabbar zu machen, die Arbeit auf einer therapeutischen Bühne, auf der sowohl vergangene, gegenwärtige als auch zukünftige Szenen dargestellt und durchlebt werden können, bieten für Psychotherapie, für das Training sozialer Kompetenzen, für Realitätstraining und für Rehabilitation insgesamt einen geeigneten und wirksamen Rahmen. Das methodische Inventar des Psychodramas entspricht den Anforderungen eines ganzheitlichen und interdisziplinären Grundverständnisses von Rehabilitation. 3. Würdigung. Gestalttherapie, Gesprächspsychotherapie und Psychodrama zählen gegenwärtig nicht zu den sogenannten Richtlinienverfahren. Sie sind vom Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger (VDR) für das Tätigkeitsfeld Sucht grundsätzlich als Verfahren anerkannt. Tätigkeitsfeldspezifische Curricula verschiedener Weiterbildungsträger für Gestalttherapie, Gesprächstherapie und Psychodrama sind vom V D R den Leistungsträgern der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker zur Anerkennung empfohlen. In den 60er und 70er Jahren gab es auch kritische Stimmen zur Η. P , die vor einer anpassungsfördernden und unpolitischen Therapeutisierung der Gesellschaft warnten. Der kritische Diskurs zwischen Politik und Psychologie ist nach wie vor aktuell. Von universitärer und gesundheitspolitischer Seite wird die Wissenschaftlichkeit der Vorgehensweisen der verschiedenen Konzepte der Η. P. infrage gestellt. Hierzu ist zu bemerken, daß die Η. P. im allgemeinen mit Ausnahme der Gesprächspsychotherapie und den soziometrischen Untersuchungen von M o r e n o lange Zeit dem T h e m a Wissen-

Humanistische Psychologie schaftlichkeit nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet hat weder durch kritische Darstellung ihrer eigenen Vorgehensweisen noch durch die notwendige Kritik vorherrschender Konzepte von Wissenschaftlichkeit. Mittlerweile wenden sich, angeregt und herausgefordert durch die Ergebnisse und Verfahrensweisen der Psychotherapieforschung, die einzelnen Ausrichtungen der Η. P. verstärkt der Evaluationsforschung zu. Grundsätzlich bleibt das Verdienst der H. P., die Engführung psychologischer, psychotherapeutischer und pädagogischer Praxis auf Psychoanalyse und Behaviorismus aufgebrochen und neue Dimensionen für psychologische, pädagogische und interaktionelle Vorgehensweisen eröffnet zu haben. Der Handlungsspielraum für eigenverantwortliches Handeln, für existentielle und spirituelle Fragestellungen sowie für ganzheitlich orientierte Beratungsund Behandlungspraxis wurde erweitert. Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung wurden durch die Η. P. bereichert und maßgeblich beeinflußt. - • P s y chotherapie; -»Psychoanalyse; -•Verhaltenstherapie Lit.: Badaines, Α., Psychodrama, in: Rowan J., Dryden W., Neue Entwicklungen der Psychotherapie, Oldenburg, 1990; Bach, G. R „ Molter, H „ Psychoboom. Wege und A b w e g e moderner Therapie, Reinbeck, 1979; Bühler, C., Allen, M., Einführung in die humanistische Psychologie, Stuttgart, 1973; Bühler, C., Humanistische Psychologie, in Lexikon der Psychologie, Freiburg/ Brsg., 1987, 9 1 5 - 9 1 6 ; Davison, G. C „ Neale, J. M., Klinische Psychologie, München-Weinheim, 3 1988; Kriz, J„ Grundkonzepte der Psychotherapie, Weinheim, 3 1991; Maslow, Α. H „ Motivation und Persönlichkeit, OltenFreiburg/Brsg., 1977; Moreno, J. L., Grundlagen der Soziometrie, Opladen, 3 1974; Moreno, J. L., Psychodrama, 331

Hypnotika

Stuttgart, 1959; Perls, F., Grundlagen der Gestalttherapie, München, 1977; Rogers, C. R., Die Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart, 1973; Rowan, J., Dryden W., Neue Entwicklungen der Psychotherapie, Oldenburg, 1990; Schwehm, H., Psychosoziale Aspekte von Sucht, in Nowak, Schifman, Brinkmann, Drogensucht, Stuttgart, 2 1996; Zucha, R. O., Humanistische Psychologie, in Grubitzsch S. u. Rexilius, G.

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Hypnotika

(Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, Hamburg, 1987, 464-467. Helmut Schwehm, Ingenheim Hypnotika Schlafmittel, zu den H. gehören vor allem die -»Barbiturate, die ζ. T. unter das »Betäubungsmittelgesetz fallen. H. haben ein hohes Abhängigkeitspotential. -»Benzodiazepine; -»Medikamentenabhängigkeit

Iatrogene Abhängigkeit

Iatrogene Abhängigkeit

I Iatrogene Abhängigkeit

1. Das Problem. Vielen im medizinischen Gebrauch stehenden Substanzen und wohl ganz besonders jenen mit psychoaktiver Wirkungskomponente wohnt ein ausgeprägtes Abhängigkeitspotential inne. Daher kommt Ärzten durch ihr Verordnungs- und Verschreibungsmonopol von alters her in der Verursachung von Substanzabhängigkeit eine Schlüsselposition zu. Ein Diskurs über die Verantwortlichkeit des Ärztestandes in der Suchtfrage läßt sich bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als die Abhängigkeitsproblematik erstmals als medizinisches Problem erkannt wurde und ins Bewußtsein der Öffentlichkeit trat. Berühmt wurde damals etwa Erlenmayers Angriff auf Sigmund Freud, daß dieser durch seine Empfehlung, Kokain als unterstützendes Agens bei der Behandlung des Morphinismus einzusetzen, eine „weitere Geißel auf die Menschheit losgelassen habe". Die iatrogene Komponente der Epidemiologie der Sucht wirkt sich, wie bereits diesem frühen Zitat zu entnehmen ist, in zwei Feldern aus: zum einen am Individuum, dem einzelnen Klienten der Medizin, zum anderen aber auch in der Gemeinschaft. Zunächst war diese iatrogene Komponente in der Ausbreitung der Opiatabhängigkeit zu beobachten. Bereits im späten 19. Jahrhundert und auch noch während der Morphinismuswellen des frühen 20. Jahrhunderts wurde problematischen Auswirkungen des Umganges des ärztlichen Standes mit den Opiaten große Bedeutung hinsichtlich der Ausbreitung dieser Form der Substanzabhängigkeit zugeordnet. Zur Symptomatologie des chronischen Morphinismus gehörte es, daß die Abhängigen „Proselyten machten" - und opiatabhängige Ärzte waren von dieser Regel nicht ausgenommen. Da bis zur Mitte des

20. Jahrhunderts Angehörige der Heilberufe einen großen Anteil der Morphinisten repräsentierten, galten süchtige Ärzte aufgrund der ihnen zugeschriebenen bzw. auch tatsächlich gegebenen Bereitschaft, das Morphium selbst bei mäßig gerechtfertigter Indikation oder auf schlichtes Verlangen - bisweilen wohl auch aufgrund von Erpressungen zu verordnen, als eine Hauptursache dafür, daß die Schar der Opiatabhängigen immer wieder neue Mitglieder aufwies. Auch noch in der jüngsten Vergangenheit war zu beobachten, daß und in welchem Ausmaß ärztliches Fehlverhalten wesentliche Auswirkungen auf eine lokale epidemieartige Ausbreitung von Opiatabhängigkeit haben kann. In Großbritannien kam es in den frühen 60er Jahren zu einem merklichen Anstieg der Zahl der Heroinabhängigen und zu einer ebenso merkbaren Zunahme der Erhältlichkeit des Heroins auf dem illegalen Markt (-»-Drogenfreigabe). Diese Situation führte letztlich dazu, daß das bis dahin gültige und gut funktionierende „britische System" der medizinischen Versorgung Heroinabhängiger mit Heroin zunächst zusammenbrach und dann auf der Basis der •Methadon-Substitution restrukturiert wurde. Es ist gut belegt, daß diese folgenschwere Entwicklung auf die exzessive und exzentrische Verschreibungspraxis von nicht mehr als 5 Ärzten rückführbar ist (Kohn, 1987). Seit den 70er Jahren wird die Verantwortlichkeit der Heilberufe, iatrogene Abhängigkeit zu vermeiden, überwiegend in das Problemfeld der Verordnung von Tranquilizern verlagert. Darüber wird bisweilen vergessen, daß die Problematik der Iatrogenie weit in die Geschichte der Medizin zurückreicht und daher bei jenen Substanzen, die von altersher in diesem Kontext als Problemstoffe gelten müssen, auch heute noch Gültigkeit besitzt. 333

Iatrogene Abhängigkeit Das wahre Ausmaß des Problems der Iatrogenie ist kaum zu erfassen; es fällt sogar schwer, seine Dimension ausreichend abzuschätzen. Verschiedene Studien, die in den letzten Jahren in den U S A und in Großbritannien durchgeführt wurden, um verläßlichere Information über die Häufigkeit und den Stellenwert des Problems in der medizinischen Versorgung zu gewinnen, kamen zur einheitlichen Aussage, daß harte Daten in diesem Feld nur recht begrenzt zu erheben sind. Die Problematik der iatrogenen Abhängigkeit spielt sich im Spannungsfeld zwischen Arzt, Patient und Arzneimittel ab. In jeder dieser drei Komponenten müssen bestimmte Bedingungen zur Verfügung stehen, um den Prozeß der Iatrogenie in Gang zu setzen. 2. Die Substanzen. Iatrogene Abhängigkeit wird zumeist durch eine problematische Verschreibung der verschiedenen Substanzen und Substanzgruppen initiiert, kann aber auch bei entsprechender -•Vulnerabilität eines Patienten durch durchaus sachgerechte Verschreibungen eingeleitet werden; am häufigsten wohl bei der Verordnung der klassischen Stoffe mit Abhängigkeitspotential einschließlich der psychoaktiven Substanzen. (-»Medikamentenabhängigkeit). Dazu zählen einerseits d ä m p f e n d e Stoffe (Opioide, Tranquilizer/Sedativa/ Hypnotika), andererseits Stimulantien und Anorektika sowie Halluzinogene, bzw. Stoffe mit halluzinogener Nebenwirkung. Wir finden darüber hinaus jedoch verschreibungspflichtige Gebrauchsmuster auch bezüglich nicht opioidhaltiger Analgetika, Antitussiva mit antihistaminerger und cholinerger Wirkungskomponente, Psychopharmaka/Antidepressiva mit anticholinerger Wirkungskomponente, Laxantien, Beta-Blocker und Antibiotika. 3. Als ärztliches Fehlverhalten, das iatrogene Abhängigkeit nach sich ziehen kann, kennen wir: - Das vorsätzliche und bewußte Ver-

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Iatrogene Abhängigkeit schreiben von Stoffen, die unter besonderen Kontrollauflagen stehen, wobei ganz offenkundig die Verschreibung dem Mißbrauch dient. Dabei wird die Verschreibung oftmals von gewinnsüchtigen Motiven gesteuert. - Die unsachgemäße Verordnung durch Ärzte, die sich dem Begehren der Patienten nach bestimmten Arzneimitteln beugen. In diesen Fällen werden zumeist die Arzneimittel in großen Mengen und für längere Zeiträume verschrieben. Diese Verschreibungspraxis kann sowohl dazu führen, daß das Mißbrauchsverhalten des Patienten eingeleitet oder aufrecht erhalten wird, wie auch dazu, daß die Substanzen zu Mißbrauchszwecken an andere Personen weitergegeben werden. - Die unsachgemäße Verschreibung durch Ärzte, die nicht ausreichend informiert sind. Chambers, White und Lindquist konnten zum Beispiel einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Qualität der ärztlichen Ausbildung und der Bereitschaft zur Verschreibung von Tranquilizern herausarbeiten. - Die Selbstverordnung und -einnähme von Ärzten, die selbst diese Stoffe mißbrauchen oder von ihnen abhängig sind. 2.1 Hinsichtlich der unsachgemäßen und übermäßigen Verordnung (overprescribing) von psychoaktiven Substanzen werden folgende Muster beschrieben: - Die Verordnung von Psychopharmaka zur B e k ä m p f u n g von Streßsymptomen, die vom Patienten eventuell auch ohne Arzneimittel ausreichend in den Griff bekommen werden könnten. - Die Verordnung von Psychopharmaka an Patienten, die somatische Leidenszustände aufweisen. - Die Verschreibung zu großer Pakkungsgrößen in einzelnen Verordnungen.

Iatrogene Abhängigkeit - Die Abgabe verschiedener psychoaktiver Stoffe an einen einzelnen Patienten, ohne daß ein gesicherter Hinweis darauf bestünde, daß die Kombination dieser Stoffe einen günstigen Effekt bewirkt. - Das Wiederholungsrezept (Balint, 1970, Fleming und Cross 1984, Dennis, 1979). Die iatrogene Komponente der >Benzodiazepinabhängigkeit gilt als beachtliches gesundheitspolitisches Problem. So schrieb z.B. Glaeske in seinem Bericht über die Situation in Deutschland im „Jahrbuch Sucht '96": „Schließlich sind die in Ost und West schätzungsweise 1 bis 1,2 Millionen allein von solchen Mitteln Abhängigen auch durch Zutun von Ärzten in diese Situation geraten." 4. Hinsichtlich der Risikofaktoren auf Seiten der Patienten können zwei verschiedene Grundtypen abgegrenzt werden: - bestimmte Patientenmerkmale, die ein erhöhtes Risiko dafür einschließen, daß vom Arzt überhaupt Stoffe mit Abhängigkeitspotential verordnet werden und - die Vulnerabilität des Patienten, das heißt die individuellen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeit, die in der Persönlichkeitsstruktur und der psychosozialen Befindlichkeit des Patienten gegeben sind. Jene Patientenmerkmale, die zu dominanten Risikofaktoren bezüglich der Verordnung von Tranquilizern werden können, sind vor allem Alter und Geschlecht. Jungen Männern werden diese Substanzen relativ selten verordnet. A m häufigsten werden die Substanzen Frauen und älteren Personen verschrieben. In diesem Kontext ist es interessant, daß die geschlechtsdiskriminierende Verordnungspraxis unabhängig vom Geschlecht des Arztes zu sein scheint (Morabia et al., 1992). Anorektika und Laxantien werden eben-

Iatrogene Abhängigkeit falls häufiger an Frauen verordnet. Das Alter stellt allerdings bei der Verschreibung dieser Stoffe kein vergleichbares Risiko dar. Als besonderes Risikoklientel für die eventuell unsachgemäße Verschreibung von Opiaten und Nicht-opioidhaltigen Analgetika müssen Schmerzpatienten aller Art gelten. Hinsichtlich der individuellen Vulnerabilität ist bekannt, daß Personen, die bereits andere Abhängigkeiten entwikkelt haben, etwa vom Alkohol- oder vom Opiattyp, einem hohen Risiko unterliegen, auch von anderen Stoffen abhängig zu werden, bzw. ein süchtiges Gebrauchsverhalten auch bezüglich dieser Stoffe zu entwickeln. Ärzte, die an derartige Personen Tranquilizer verordnen, gehen dadurch auf jeden Fall das Risiko ein, d e m abhängigen Verhalten ihrer Klienten eine iatrogene Komponente hinzuzufügen. 5. Die Typologie der iatrogenen Abhängigen. Die iatrogen abhängigen Patienten unterscheiden sich nach d e m aktuellen Wissensstand in wesentlichen Parametern von den außermedizinischen Suchtkranken. Sie sind älter (Durchschnittsalter 50 Jahre oder mehr), sozial integriert und überwiegend weiblichen Geschlechts. Die Substanzen, die hauptsächlich verwendet werden, sind Benzodiazepine und/oder Opiate. Bei den Störungen und Leiden, die die Behandlung einleiten, handelt es sich meistens um Schmerzzustände, Schlaflosigkeit, Angst und Depression. Wir können unterscheiden: - Ausschließlich iatrogen Abhängige. Dabei handelt es sich um Personen, die ausschließlich die vom Arzt verschriebene Substanz unter Beachtung der Einnahmevorschriften einnehmen. Unter diesen Patienten befindet sich auch eine Teilpopulation von chronischen Schmerzpatienten. - Iatrogene Schmerzvermeider. Diese Personen gebrauchen zwar auch ausschließlich die vom Arzt verschriebe-

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Iatrogene Abhängigkeit nen Substanzen, halten sich aber nicht an die Einnahmevorschriften. Zumeist steigern sie die Dosis nach Bedarf und versuchen bei anderen Ärzten an zusätzliche Verschreibungen heranzukommen. - Iatrogen erkrankte Professionelle. Dabei handelt es sich um Personen aus d e m Kreis der Heilberufe, die die leichte Zugänglichkeit der Substanzen benutzen und auf diesem Wege dazu kommen, die Stoffe ohne medizinische Notwendigkeit einzunehmen und eine Abhängigkeit entwickeln. - Iatrogene Unterstützung der Suche nach Euphorie. Ein bestimmter Anteil der substanzabhängigen medizinischen Klientel nimmt die verordneten Stoffe nicht nur als Arzneimittel, sondern versucht darüber hinaus, sich durch die Einnahme in einen angenehm erlebten Rauschzustand zu versetzen. - Eine weitere Patientengruppe wird im englischen Sprachraum als „Street Drug Manipulators" bezeichnet. Dabei handelt es sich um Personen, die bereits substanzabhängig sind, wenn sie sich psychoaktive Arzneimittel und/oder Opiate verordnen lassen. Sie sind d e m g e m ä ß nicht im engeren Sinn als iatrogen abhängig einzustufen, sondern benutzen lediglich die Möglichkeit, über die ärztliche Verschreibung an Suchtmittel heranzukommen, und bauen diese Möglichkeiten in ihre süchtige Lebensweise ein. 6. Iatrogene Abhängigkeit und süchtiger Gebrauch. Im Problembereich der iatrogenen Substanzabhängigkeit m u ß zwischen Abhängigkeit und süchtigem Gebrauch unterschieden werden (Miller, Dackis und Gold, 1987; Miller und Gold, 1989; Miller und Mahler, 1991). Nicht alle Patienten, die im Verlauf einer ärztlichen Behandlung von der verordneten Substanz physisch abhängig werden, entwickeln ein „süchtiges" Verhalten im Sinne eines ausgeprägten und 336

Iatrogene Abhängigkeit pathologischen Drogensuchtverhaltens. Obwohl die pharmakologische Abhängigkeit oftmals die Entwicklung des süchtigen Gebrauches der Benzodiazepine und der Opioide begleitet, ist dennoch dieser psychopharmakologische Effekt nur eine unspezifische Parallelerscheinung der Entwicklung der süchtigen Einnahme, die davon unabhängig sein kann. Als Charakteristika der süchtigen Einnahme gelten in diesem Sinne: - die Unfähigkeit des Patienten auf Rat des Arztes die Einnahme des Arzneimittels zu beenden oder zumindest die Dosis zu reduzieren, - eine starke Einengung des Patienten auf die Beschaffung der speziellen Arzneimittel und zwanghafter Gebrauch derselben, auch wenn unerwünschte Nebeneffekte spürbar werden und - das Rückfallsverhalten. 7. Die Kontrolle der Iatrogenic. Bemühungen, den Risikofaktor „Iatrogenie" möglichst einzuschränken, schlagen sinnvollerweise zwei Wege ein: zum einen die Kontrolle der Verschreibbarkeit der Stoffe und die direkte Regulierung der Verschreibungspraxis durch definierte restriktive Verschreibungsnormen, zum anderen die Förderung der professionellen Kompetenz. Offenkundig k o m m t in dieser Fragestellung drei Bereichen der professionellen Fähigkeiten besondere Bedeutung zu: - dem Informationsniveau der Ärzte über die Symptomatologie der Abhängigkeitskrankheiten, - den diagnostisch-prognostischen Fähigkeiten, wobei eine gewisse grundlegende Ausbildung in Persönlichkeitsdiagnostik und in der Diagnostik von Angstsyndromen und affektiven Erkrankungen ein unbedingtes Erfordernis d a f ü r ist, daß Ärzte imstande sind, ihre Patienten nach individuellen Risikofaktoren zu klassifizieren und darauf aufbauend adäquate, auf den Fall abgestimmte Behandlungs-

ICD-10 konzepte zu entwickeln (Kahn, 1995; Tyrer, 1989), und - der kommunikativen und interaktiven Kompetenz, die benötigt wird, um sich abgrenzen zu können und dem Drängen bestimmter Patienten, ihre potentiellen Mißbrauchsmittel verschrieben zu erhalten, besser Widerstand leisten zu können. Grundsätzlich stellt auch die Kompetenz in ärztlicher Gesprächsführung eine wesentliche Voraussetzung dar. -»Ethik; -•Medikamentenabhängigkeit Lit.: Balint, M„ Hunt, J., Joyce, D„ Marinker, M., Woodcock, J., Treatment or Diagnosis. A Study of Repeat Prescriptions in General Practice. Tavistock Publ., London, 1970; Chambers, C. D„ White, Ο. Z., Lindquist, J. H., Physician Attitudes and Prescribing Practices: A Focus on Minor Tranquilizers. J. of Psychoactive Drugs 15(1/2), 55-60, 1983; Dennis, P. J., Monitoring of Psychotropic Drug Prescriptions in General Practice. Brit. Med. J., 2, 1115-1116, 1979; Ettorre, E., Women and Substance Use. London, MacMillan 1992; Fleming, D. M., Cross, K. W., Psychotropic Drug Prescribing. J. of the Royal College of General Practitioneers, 34, 216-220, 1984; Glaeske, G„ Arzneimittel 1994. DHS Jahrbuch Sucht 96, 103-124, Neuland, Geesthacht, 1995; Greenfield, D. P. (Ed.), Prescription Drug Abuse and Dependence. Thomas, Springfield, 1995; Kahn, J. S., Prescription Drug Abuse and Dependence, Anxiety and Mood Disorders, Interactions and Implications, in: Greenfield, D. P. (Hrsg.), 1995. op. Cit.; Kohn, M „ Narcomania. On Heroin, faber & faber, London, 1987; Mendelsohn, R. S„ Male Practice. How Doctors Manipulate Women. Contemporary Books, Chicago, 1982; Miller, N. S„ Dackis, C. Α., Gold, M. S., The Relationship of Addiction, Tolerance and Dependence, A Neurochemical Approach. J. of Subst. Abuse Treatment 4, 197-207, 1987; Miller, N. S., Gold, M. S., Benzodiaze-

ICD-10 pines, A Major Problem. J. of Subst. Abuse Treatment 8, 1/2, 3 - 7 , 1991; Miller, N. S„ Mahler, J. C„ Addiction to and Dependence on Benzodiazepines. J. of. Subst. Abuse Treatment 8, 1/2, 6 1 67, 1991; Morabia, Α., The Influence of Patient and Physician Gender on Prescription of Psychotropic Drugs. J. Clin. Epidemiol. 45, 111-116, 1990; Tyrer, P. J., Risk of Dependence of Benzodiazepine Drugs. The Importance of Patient Selection. Brit. Med. J. 298, 102-105, 1989. Alfred Springer, Wien ICD-10 International Classifikation of Deseases 10. Revision, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, von der W H O (Weltgesundheitsorganisation) erarbeitetes Diagnosenklassifikationssystem. Klassifikationssysteme sind nützlich für eine vergleichende Diagnostik und Prognostik, der internationalen Verständigung über Begrifflichkeiten und eine einheitliche Ausbildung. In den angelsächsischen Ländern ist das DSM IV verbreitet und konkurriert mit dem ICD-10. In diesem Zusammenhang ist das Kapitel V (F), Psychische und Verhaltensstörungen, Klinische Beschreibungen und diagnostische Leitlinien wichtig, da hier die Abhängigkeitserkrankungen in ihren Symptomatiken beschrieben werden. (F 10.0 - F 19.9) Neben einer Beschreibung der wesentlichen klinischen Charakteristika werden für jede Störung auch weitere wichtige, aber weniger spezifische Merkmale angegeben. Die „diagnostischen Leitlinien" geben dann die Anzahl und die Gewichtung der Symptome an, die zur Stellung einer sicheren Diagnose erforderlich sind. Für die Anwendung im Kontext ärztlicher und phsychotherapeutischer Leistungen hat das -»Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums eine spezielle SGB-V-Fassung erarbeitet, in der 337

Illegale Drogen u. a. die Kennziffern Z 5 5 - Z 6 5 (Personen mit speziellen Gesundheitsrisiken aufgrund sozioökonomischer oder psychosozialer Umstände) enthalten sind. Lit.: W H O : Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10, Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien, Huber, Bern, Göttingen 1993 3 ; Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMSI) (Hrsg.): I C D 10, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, München, Wien, Baltimore 1994. -•Diagnostik Illegale Drogen Das -•Betäubungsmittelgesetz (BtMG) stellt den nichtärztlich verordneten Umgang mit einer durch Gleichstellungsverordnung laufend ergänzten Vielzahl von Substanzen unter Strafe. Nach der Art der Drogen wird nicht unterschieden, eine Abstufung ist jedoch im Rahmen der flexiblen Rechtsfolgen möglich. Handelt es sich um den Besitz oder den Erwerb einer geringen Menge zum Eigengebrauch, kann von Strafe abgesehen werden. Die Anlage I des B t M G führt alle nicht verkehrsfähigen Betäubungsmittel auf, dazu gehören Cannabis, Heroin, LSD, Mescalin, Ecstasy usw. Die Anlage II enthält die Betäubungsmittel, die zwar verkehrsfähig, aber nicht verschreibungsfähig sind (z.B. Cocablätter) und die Anlage III legt die Betäubungsmittel fest, die verkehrsfähig und verschreibungspflichtig sind (Sonderrezeptpflichtigkeit, z.B. Polamidon, Kokain, Opium, Diazepam. -•Betäubungsmittelrezept). -•Drogenabhängigkeit; ->Drogenpolitik; - • D r o genrecht Infektionsrisiken Durch den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen durch i. v. Drogenkonsumenten steigt das Infektionsrisiko, insbesondere in Bezug auf >AIDS und die -»Hepatitis-B und -C-Viren. Um das I. zu minimieren, verteilen niedrigschwellige Ein-

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Institut für Therapieforschung (IFT) richtungen der -•Drogenhilfe Einwegspritzen im Spritzentausch kostenlos. Die Einrichtung von - • D r u c k r ä u m e n dient ebenfalls der Reduzierung von I. Zu den I. gehört auch der ungeschützte Geschlechtsverkehr, vor allem auch innerhalb der Beschaffungsprostitution. Die •„safer-use" und •„safer-sex" Kampagnen der -•Deutschen Aids-Hilfen sollen i. v. Drogenkonsumenten zu einer Veränderung ihres Verhaltens motivieren. •Aids; •Hepatitis Inhalative -•Schnüffelstoffe Institut für Therapieforschung (IFT) Das Institut für Therapieforschung wurde 1973 von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie als ein unabhängiges Forschungsinstitut gegründet. Träger des IFT ist eine gemeinnützige G m b H ; die Finanzierung erfolgt überwiegend aus öffentlichen Mitteln (z.B. Ministerien, EU-Organisationen). Der Schwerpunkt der Forschung lag in den ersten Jahren in der angewandten psychologischen Forschung zu verschiedenen Themen aus dem Gesundheitsund Sozialbereich. Seit 1988 konzentriert sich die Forschung auf Untersuchungen zum Substanzmißbrauch im Bereich der Epidemiologie, Gesundheitsförderung, Prävention und Therapie, wobei alle psychoaktiven Substanzen einbezogen werden. Neben der anwendungsorientierten Forschung ist eine exemplarische Umsetzung von Forschungserkenntnissen in die Praxis ein weiterer satzungsgemäßer Aufgabenbereich des Instituts. Die verschiedenen Dienstleistungen lassen sich in drei übergeordnete Bereiche zuordnen: Serviceaufgaben für Dokumentationssysteme; Ausbildung, Fort- und Weiterbildung sowie Beratung. G e m ä ß der Satzung des IFT werden Forschungsergebnisse sowohl innerhalb der „scientific c o m m u n i t y " verbreitet, als auch auf einer breiteren Grundlage als Service für öffentliche Einrichtungen und andere Organisationen, die im Be-

Inzidenz

Integrative gemeindenahe Hilfe für Suchtkranke reich substanzinduzierter Störungen tätig sind. Anschrift: Parzivalstr. 25, 80804 München, Tel.: 089/360804-10, Fax: 089/ 360804-19, e-mail:[email protected] - http:// www.ift.de Integrative gemeindenahe Hilfe für Suchtkranke -•gemeindenahe Versorgung Integrierte Suchtberatungs- und Behandlungsstellen Die I. zeichnet sich durch eine regionale Zuordnung (Landkreis, kreisfreie Stadt, Stadtteil) sowie durch die Übernahme der Versorgungsverpflichtung aus. Sie ermöglicht den Erstkontakt unabhängig von der Art der konsumierten Droge oder des süchtigen Verhaltens. Die Trennung zwischen Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle einerseits und Drogenberatungsstelle andererseits wird zugunsten einer -»-gemeindenahen Versorgung aufgehoben. I. sollten über ein multidisziplinäres Team verfügen und mit anderen Hilfe-

einrichtungen in der Region vernetzt sein. Zu den Leistungsangeboten einer I. gehören u. a.: Geregelte Sprech- und Öffnungszeiten, aufsuchende Arbeit zur Kontaktaufnahme, Beratung, Betreuung, psychosoziale wie lebenspraktische Hilfen, Kriseninterventionen, Ambulante Behandlung, Vermittlung in stat. Einrichtungen u. a. -•Ambulante Einrichtungen; -•Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke Internationale Zusammenarbeit -•Drogenpolitik; -•Europa Intoxikation (lat.) Vergiftung -•Rausch; -•Entzug; -*Körperliche Entgiftung Inzidenz Das Maß für die Häufigkeit des Auftretens einer Krankheit (oder eines bestimmten Merkmals) in einer bestimmten Population. -»Epidemiologie

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Jugend

J Joint (engl) Selbstgedrehte Zigarette mit einer Mischung aus Tabak und Haschisch oder Marihuana pur. Jugend 1. Trends in der Verbreitung von Drogen. Analysen aus dem In- und Ausland über die Muster des Drogenkonsums zeigen deutliche Veränderungen über die letzten Jahre und Jahrzehnte. Ein Trend scheint besonders wichtig zu sein: Drogenkonsum - wie übrigens andere selbstzerstörerische Verhaltensweisen und verschiedene Formen des Risikoverhaltens auch - treten zunehmend schon bei Kindern in der Altersgruppe zwischen 10 und 13 Jahren auf. Zu beobachten ist diese Vorverlagerung von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen schon seit mehreren Jahren. Hierdurch gefährden die jungen Leute ihre aktuelle und spätere Gesundheit oder - bei manchen Formen der Selbstaggression, z.B. dem Selbstmordversuch - sogar das eigene Leben. Wie die am Sonderforschungsbereich in Bielefeld seit 1986 regelmäßig im Jahresabstand durchgeführten repräsentativen Befragungen von 1700 Jungen und Mädchen ergaben, setzt der Drogenkonsum immer deutlicher schon zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts ein. So sind 6% der Jungen und 7% der Mädchen in den 7. Schuljahrgängen regelmäßige Zigarettenraucher, 6% der Jungen und 2% der Mädchen dieser Altersgruppe, also der im Durchschnitt Dreizehnjährigen, trinken regelmäßig Alkohol. Bis zum 10. Jahrgang, also zur Altersgruppe der 16- bis 17jährigen, steigen diese Werte auf 25% regelmäßigen Zigarettenkonsum und 40% Alkoholkonsum bei den Jungen und jeweils 28% bei den Mädchen an. Auch die unkontrollierte Nutzung von Arzneimitteln und der Konsum der illegalen Drogen Kokain und Heroin beginnt in 340

ersten Schritten schon in dieser Altersgruppe. Diese Trends haben eindeutig etwas mit der familialen Situation, der schulischen Leistungssituation und der Freizeitsituation der Jugendlichen zu tun. Eine genauere Betrachtung dieser drei wichtigen Lebensfelder für Kinder und Jugendliche gibt zugleich auch die Gelegenheit, noch weitere interessante Trends in der Verbreitung von legalen und illegalen Drogen sowie in der Verbreitung von Arzneimitteln vorzustellen. 2. Famiiiale Ausgangsbedingungen für das Suchtverhalten. Aus den vorliegenden Studien ist bekannt, daß überbehütende Eltern, die ihr Kind gefühlsmäßig erdrücken und die Schritte zur Selbständigkeit erschweren, indirekt ihre Kinder für Drogen anfällig machen. Aber auch überforderte Eltern, die im Leistungsbereich hohe Erwartungen formulieren, sich aber ansonsten zu wenig um die Bedürfnisse und Interessen des Kindes kümmern, steigern nachweislich die spätere Suchtgefahr. Schließlich ist eine dritte Gruppe von Eltern zu identifizieren, die unbewußt falsches Erziehungsverhalten ausübt und damit die Suchtgefährdung der eigenen Kinder steigert: Eltern nämlich, die es nicht verstehen, das familiale Zusammenleben nach klaren sozialen Regeln aufzubauen und bei der Verletzung von Regeln dem Kind gegenüber ein konsequentes erzieherisches Verhalten zu zeigen. Verunsichertes Erziehungsverhalten, das die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern stark irritiert, ist demnach also ein Einfallstor für die -»Sucht. Die Rolle des verhätschelten Mutterkindchens und des ausgestoßenen Randkindes führt zu einer Anfälligkeit gegenüber Zigaretten, Alkohol und später auch illegalen Drogen, weil sie mit Hilflosigkeit bei Konflikten im Alltag einhergeht. Kinder aus Elternbeziehungen, die sie nicht zu emo-

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tionaler und sozialer Stärke und zur Selbständigkeit stimulieren, sind immer wieder geneigt, ihre Defizitempfindungen durch den ausgleichenden Griff zur Droge zu verdrängen. Und Kinder, die in ihrer Familie ein Beziehungschaos und einen ständig wechselnden Erziehungs- und Umgangsstil erfahren, sind ebenso schlecht dran, weil sie durch diese „Anomie" der sozialen Beziehungen nicht wissen, wo sie stehen und wer sie sind. Es ist heute wohl sehr viel schwieriger als jemals zuvor, die Elternrolle kompetent auszufüllen. Mütter und Väter sehen sich vielfachen Ansprüchen im Berufsbereich gegenüber und verfolgen zugleich die Vorstellung eines freien und individuellen Lebens mit einem hohen Grad von persönlicher Entfaltung. In dieser Situation dauerhaft und mit Aufmerksamkeit für Kinder zur Verfügung zu stehen, ist keinesfalls selbstverständlich. Kindererziehung ist immer eine prekäre psychische und soziale Balance: Ein Kind sollte in der Familie gefühlsmäßige Wärme spüren und sich angenommen und geliebt fühlen. Es sollte zugleich seinem Alter und seinen Fähigkeiten entsprechend in seiner Selbständigkeit gefördert und in seinem Leistungswillen gestärkt werden. Es sollte schließlich zu Hause auch die sozialen Spielregeln für das Umgehen miteinander lernen, Konsequenzen erfahren und Grenzen erleben können. Kindern Grenzen setzen, das fällt den Eltern heute offenbar besonders schwer. Ohne das Einhalten von Regeln und konsequentes Handeln beim Verletzen von Regeln ist aber ein Miteinanderleben im Familienbereich ebenso wie in anderen sozialen Bereichen nicht möglich. Wenn Kindern jeder Wunsch erfüllt wird, werden sie unersättlich. Sie wollen dann immer mehr stets sofort Befriedigung und verletzen die Spielregeln für den Umgang mit den Eltern. Kinder, die nie eine Konsequenz von übertretenen Regeln erfahren, sind später anfälliger für Drogen. Ein klares, begründetes

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Nein dort, wo es gefährlich wird und gegen vereinbarte Regeln des Umgangs verstoßen wird, gibt den Kindern Orientierung und Schutz, auch Schutz vor der Verführung durch Drogen. Der eingangs angesprochene Trend einer Vorverlagerung des Einsteigens in den Drogenkonsum im Lebensalter geht - vermutlich - mit der heute tpyischen Verunsicherung der Eltern-Kind-Beziehungen einher. Als wichtige Ursache für den Drogenkonsum müssen wir lang andauernde Spannungen und Konflikte mit den Eltern verantwortlich machen, die nicht offen ausgetragen werden. Auch die hohen Anforderungen von Eltern an den Leistungserfolg der Kinder in der Schule und ungeklärte emotionale Beziehungsstrukturen bei der Ablösung der Kinder von den Eltern sind zu nennen. Alle diese Anforderungen und Entwicklungsaufgaben setzen heute früher ein als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. Die Jugendlichen reagieren hierauf teilweise mit der Aufnahme des Drogenkonsums. Nicht zu vergessen ist natürlich das unmittelbare Vorbildverhalten der Eltern. Der Umgang mit Drogen gehört heute zu den entscheidenden Aufgaben, denen sich jeder junge Mensch in unserer Gesellschaft stellen muß. Die Genußmittel stellen eine gesellschaftlich breit akzeptierte Verhaltensmöglichkeit dar. Ihr Gebrauch muß deswegen wohl oder übel in der Familie trainiert werden. Eltern, die selbst unkontrollierte Drogenkonsumenten oder sogar Drogenabhängige sind, haben hierbei natürlich schlechte Karten. Aber auch sie können ihre Kinder positiv beeinflussen, wenn sie ehrlich und offen über ihre eigenen Suchtprobleme sprechen. Wir wissen, wie wenigen Eltern das gelingt. Immer mehr steigt die Zahl der Familien an, in denen Suchtprobleme existieren, aber unter den Teppich gekehrt werden. Die Voraussetzungen, unter diesen Umständen selbst in die Suchtgefährdung hineinzuschlittern, sind für die Kinder leider in vollem Risiko gegeben. 341

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Eine solche Bestandsaufnahme im Hinblick auf die Familie darf nicht mit einer Beschuldigung von Familien verwechselt werden. Wenn immer mehr Eltern heute durch die Erziehung von Kindern überfordert sind, dann liegt es natürlich nicht an ihrem schlechten Willen, sondern an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen heute die Elternschaft ausgeübt werden muß. Bekanntlich hat sich die wirtschaftliche Situation der Familien in den letzten Jahren spürbar verschlechtert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sehr viele Verhaltensweisen über finanzielle Anreize gesteuert werden. Die Elternrolle, die verantwortliche Erziehungsaufgabe, wird eindeutig nicht über diesen Anreiz gesteuert. Im Gegenteil verhalten sich alle die, die heute Kinder großziehen, finanziell unvernünftig. Wie die neuesten Zahlen zeigen, lebt ein Drittel der Familien mit mehr als 3 Kindern an der Armutsgrenze, gemessen am Sozialhilfesatz. Und 40% der Kinder aus Familien mit nur einem Elternteil teilen dieses wirtschaftliche Schicksal. Weiterhin ist auf die schwierige Vereinbarkeit von Beruf der Eltern und Aufgaben der Kindererziehung hinzuweisen. Hier ist die Bundesrepublik Deutschland in einer besonders ungünstigen Situation, weil zumindest im Westen unseres Landes keine ernstzunehmende Infrastruktur für die Entlastung und Unterstützung von Familienerziehung zur Verfügung steht. Zu einer ernstzunehmenden Suchtprävention gehört deswegen das ganze Feld der Erleichterung der Lebensbedingungen von Familien, inklusive der finanziellen Seite, aber eben auch der Entlastung der Mütter und Väter bei der Erziehung der Kinder, der Abbau der starren Rollenteilung zwischen Mann und Frau und die Verbesserung der Verbindung von Beruf und Privatleben für Männer und Frauen. „Drogengefährdendes Erziehungsverhalten", wenn dieser Begriff einmal verwendet werden darf, ist oft eine Antwort der Eltern auf ihre schwierige Lebenssi342

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tuation, in der sie sich mit ihrer Familie heute befinden. Eltern benötigen also viel mehr öffentliche Anerkennung für ihr Engagement und öffentliche Unterstützung bei den einzelnen Schritten der Kindererziehung. Der Druck auf das Elternverhalten ist heute sehr groß, viele von ihnen fühlen sich ohnehin an den Rand des gesellschaftlichen Mainstreams einer Single-Gesellschaft gedrängt. Man muß sich manchmal fragen, warum sich junge Männer und Frauen unter diesen Umständen überhaupt für Kinder entscheiden. Die Gefahr, an der Kindererziehung zu scheitern, ist jedenfalls objektiv sehr hoch. (-»Familie, -»Elementarbereich, -»-Kindheit, -»Soziologische Konzepte). 3. Schulische Bedingungen für das Suchtverhalten Kinder und Jugendliche leben heute in einer Wettbewerbsgesellschaft, die gesellschaftliche Positionen überwiegend nach dem Leistungsstatus vergibt - jedenfalls ist das die offizielle Philosophie. Die -»Schule ist der Arbeitsplatz der Kinder und Jugendlichen, und hier erleben sie gesellschaftlichen Wettbewerb auch in einer besonders intensiven Form. Man könnte sogar sagen, daß die Schule heute die Verkörperung der Leistungsgesellschaft in einer solchen Schärfe und Konsequenz ist, wie sie sich im Berufsleben nur selten abzeichnet. Denn in der Schule wird ja in der Tat die Position jedes einzelnen Jungen und jedes einzelnen Mädchens ausschließlich nach individuell erbrachter Leistungen definiert. Die Untersuchungen am Sonderforschungsbereich in Bielefeld zeigen sehr eindeutig: Der Konsum der legalen Drogen geht eindeutig in die Höhe, wenn es zu Schwierigkeiten mit den schulischen Leistungsanforderungen kommt. Besonders die Aufnahme des Zigarettenkonsums bei den 10- bis 17jährigen Schülerinnen und Schülern und die Häufigkeit des Konsums hängt eng mit Versagenserlebnissen im Schulbereich zusammen.

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Beim Alkoholkonsum sind die Zusammenhänge etwas schwächer, aber sie weisen in genau die gleiche Richtung. Nach diesen Untersuchungen hat der Konsum von Tabakprodukten bei Jugendlichen in den letzten Jahren leicht abgenommen. Die Zahl der Nichtraucher in den 9. Jahrgängen z.B., also bei den 15- bis 16jährigen, ist von 1986 65% auf heute etwa 75% gestiegen. Unter den bleibenden regelmäßigen Rauchern ist aber zugleich der Anteil von Jugendlichen mit schulischen Leistungsschwierigkeiten deutlich angewachsen. Die Aufnahme des Zigarettenrauchens ist in den meisten Fällen heute ein Hinweis auf quälende schulische Leistungs- und Anerkennungsprobleme: 80% der täglichen Raucherinnen und Raucher haben Schulprobleme. Offenbar greifen die Jugendlichen zur Zigarette, um Enttäuschungserlebnisse aus dem schulischen Raum auszugleichen und Aufmerksamkeit in anderen Feldern des sozialen Vergleiches, vor allem bei Gleichaltrigen, zu finden. Fazit: In einer stark wettbewerbsorientierten Gesellschaft kann die Schule ungewollt frühes Suchtverhalten bei Jugendlichen mit auslösen. Die starke Abhängigkeit von Zigarettenrauchen und schulischem Leistungsstand spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Raucher- und Nichtrauchergruppen nach Schulformen wider: Weitaus die meisten Raucherinnen und Raucher finden sich an den Hauptschulen: Hier sind 38% der Schülerinnen und Schüler starke, mindestens wöchentliche Raucher, während es an Realschulen und Gesamtschulen nur etwa 20% und an den Gymnasien 9% sind. Diese unterschiedlichen Werte haben eindeutig etwas mit der Prestigeeinstufung der Schulformen in der Öffentlichkeit zu tun, und sie spiegeln natürlich erneut Wettbewerbs- und Chancenstrukturen der ganzen Gesellschaft wider. Ganz ähnlichen Verbreitungsmustern wie das Zigarettenrauchen folgt der Alkoholkonsum. Auch hier ist die Zahl der

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Abstinenten in den letzten Jahren etwas gestiegen, zugleich hat sich aber bei den verbleibenden Alkoholkonsumenten die Nutzung der legalen Droge Alkohol eher verdichtet. Der Zusammenhang der Aufnahme und der Aufrechterhaltung des Alkoholkonsums mit Leistungsproblemen ist eindeutig. Der Alkoholkonsum klettert mit dem Alter kräftig in die Höhe. Während von den 12jährigen noch 88% angeben, abstinent zu sein, sind es bei den 16jährigen nur noch 65%. Die Zahl der täglichen Konsumenten wächst von 2% bei den 12jährigen auf 17% bei den 16jährigen. In der gymnasialen Oberstufe gehören 53% der Jugendlichen zu den regelmäßigen Konsumenten der weichen Alkoholika und 17% zu den regelmäßigen Konsumenten der harten Alkoholika. Bei Auszubildenden liegen die entsprechenden Werte höher, nämlich bei 60% und bei 23%. Der Tabak- und Alkoholkonsum ist also nach diesen Befunden nicht nur mit lang andauernden Spannungen und Konflikten im Elternhaus verbunden, sondern er dient auch zum Ausgleich von Streß und Spannung, zur Regulierung eines angeschlagenen Selbstwertgefühls, das sich aus schlechten schulischen Leistungen ergibt. Die jungen Männer sind dabei erheblich stärker durch Alkoholkonsum gefährdet als die jungen Frauen. Alkoholkonsum bei Frauen hat zwar in den letzten 5 Jahren etwas zugenommen, doch die Geschlechtsunterschiede sind weiterhin recht eindeutig. Beim Tabakskonsum sieht das anders aus. Hier haben die jungen Frauen in den letzten Jahren die Männer nicht nur eingeholt, sondern in den meisten Altersgruppen inzwischen sogar leicht überholt. (-• Alkoholabhängigkeit; ~>Nikotin). Mit in das Kapitel „Leistungswettbewerb und Drogen" gehört inzwischen der Medikamentenkonsum. Schulische Leistungsschwierigkeiten und die Sorge, an den selbst gesetzten Erwartungen und Zielen für die Schullaufbahn zu scheitern, führen nach unseren Untersuchungen zu psychosomatischen Be343

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schwerden und Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, auf die viele Jugendliche durch den Konsum von psychoaktiven Arzneimitteln reagieren. Fast ein Drittel der Jugendlichen greift wöchentlich in den häuslichen Medikamentenschrank. Nach Häufigkeit der Nutzung liegen Erkältungs- und Grippemittel an der Spitze, gefolgt von Kopfschmerzmitteln, Mitteln gegen Allergien und Mitteln für Lunge und Bronchien. Es geben 40% der 12jährigen an, regelmäßig Kopfschmerzmittel einzunehmen. Dieser Wert steigt bei den 17jährigen auf 53%. Mittel gegen Erkältungen und Grippekrankheiten erreichen bei den 17jährigen eine Wert von 50% regelmäßiger Nutzung. Die regelmäßige Nutzung von Beruhigungs- und Schlafmitteln wird von 8% der 12jährigen und 12% der 17jährigen angegeben, während die regelmäßige Nutzung von Anregungs- und Aufputschmitteln von 6% der 12jährigen und 11% der 17jährigen genannt wird. In diesem Bereich greifen die Mädchen häufiger als die Jungen zu. Wie unsere Untersuchungen zeigen, prägt sich dieses geschlechtsspezifische Verhalten mit wachsendem Alter dann immer stärker aus. Offenbar neigen die jungen Frauen stärker als die jungen Männer dazu, Befindlichkeitsstörungen direkt mit Arzneimitteln zu bekämpfen. Für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist der folgende Befund: Bei allen betroffenen Jugendlichen hängt der Arzneimittelkonsum mit schulischen Belastungen und Schulstreß zusammen. Treten Schwierigkeiten in der Schule auf, die sich in Versetzungsgefährdung, tatsächlicher Klasssenwiederholung, Verfehlen eines Schulabschlusses oder Verletzung der eigenen, teils sehr anspruchsvollen Leistungserwartungen ausdrücken, dann zeigen sich bei den Jugendlichen deutliche Beeinträchtigungen ihres Gesundheitszustandes und verstärkte psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Schwindelgefühle, Störun344

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gen und Übelkeit. Mit dieser Gesundheitsbeeinträchtigung geht meist das Gefühl einher, durch die schulischen Anforderungen überbeansprucht zu sein. Genau hierin liegt die Ausgangskonstellation für verstärkten Arzneimittelgebrauch. Die Intensität der Nutzung aller Medikamentengruppen steigt an, wenn Jugendliche verstärkt über gesundheitliche Beschwerden und über einen unbefriedigenden Gesundheitszustand berichten. Auch hier sind die Reaktionen der Mädchen wiederum stärker als die der Jungen. Arzneimittel werden von vielen Jugendlichen heute in den Mustern ihrer Nutzung wie eine Droge konsumiert. Schon im Jugendalter wird mit einer mechanischen, pharmakologischen Reaktion auf Anspannungen und damit einhergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen geantwortet. Mit Hilfe von chemischen Substanzen manipulieren Jugendliche ihre Befindlichkeit, ohne die eigentlichen Ursachen für das mangelnde Wohlbefinden zu bearbeiten. Sie kopieren damit sehr früh Verhaltensweisen, die sie bei Erwachsenen allzu oft direkt beobachten können. Sie verlernen auf diese Weise, sich produktiv mit Anforderungen und Spannungszuständen auseinanderzusetzen und eignen sich ein völlig falsches Verständnis von aktiver Gesundheit an. Im Unterschied zu den Drogen Nikotin und Alkohol setzen die Jugendlichen hier nicht allein auf die betäubende und spannungsabbauende Wirkung, sondern in zunehmendem Maße auf eine leistungssteigernde. Das geschieht meist auf dem Wege, daß Überforderung und Belastung durch schulische Aufgaben durch Schmerzmittel, darunter auch Erkältungs- und Grippemittel, bekämpft werden. Einige Jugendliche versuchen auch direkt, Leistungssteigerungen durch die Nutzung von psychoaktiven Arzneimitteln zu erreichen. Fazit: Mit Hilfe der verschiedenen Arzneimittel findet so etwas wie ein -••Doping in Eigenregie statt, um den Anforderungen der Schule in einer lei-

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stungsorientierten Wettbewerbsgesellschaft gerecht zu werden. (-»-Medikamentenabhängigkeit). Auch im schulischen Bereich zeigt deshalb die Bestandsaufnahme, wie eng das suchtgefährdende Verhalten mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbunden ist. 4. Bedingungen in Freizeit- und Freundeskreis. Die Aufnahme des Drogenkonsums (-»Einstieg in den Drogenkonsum) findet nach den Bielefelder Studien sehr stark in der Gleichaltrigengruppe und der Freundesclique statt. Die Dynamik dieser Gruppen hat es im Blick auf die Suchtgefährdung in sich. 15jährige Jugendliche, die sich in ihrer Freizeit nicht an einem Verein, sondern lieber an einer festen Clique von Bekannten und Freunden orientieren, haben z.B. in unserer Bielefelder Studie mehr als doppelt so hohe Häufigkeitswerte für den Alkoholkonsum wie die Vergleichsgruppen. Bei 25% dieser Jugendlichen mit einer dichten und festen Cliquenorientierung wurde ein regelmäßiger, wöchentlicher oder täglicher Konsum von Wein, Sekt oder Bier festgestellt; die entsprechenden Werte für die Jugendlichen mit einem aktiven Vereinsleben lagen nur bei 10%. Wer sich früh von den Eltern löst und sich stark zur Gruppe hinorientiert, benutzt den Alkohol offensichtlich als ein Mittel für den Zusammenhalt der Clique und zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt. Viele versuchen auch, durch übermäßiges Trinken Stärke und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Diese Muster treten ganz besonders stark bei jungen Männern auf. Hierzu gehören gelegentliche und häufige Rauschzustände mit starker Betrunkenheit. Sie werden von 32% der 18jährigen männlichen Jugendlichen angegeben, während es bei den gleichaltrigen Frauen 19% sind. Die jungen Männer sind auf den Alkohol als Gefühls- und Spannungsregulierer und auch als Enthemmer viel stärker angewiesen als die jungen Frauen, die mit

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solchen Anspannungsgefühlen eher auf psychische Weise umgehen. Häufige Rauschzustände deuten darauf hin, daß Alkohol unkontrolliert und unmäßig vor allem von Männern konsumiert wird. So kann es auch nicht verwundern, daß gerade in dieser Gruppe schon von bis zu 5% ernsthaft Alkoholgefährdeten ausgegangen werden muß, bis hin zur lebensgefährlichen Vergiftung. Unkontrollierter Alkoholkonsum tritt meist mit anderen gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen zusammen auf. Zu den immer früher im Lebenslauf sich verbreitenden Risikoverhaltensweisen der Jugendlichen gehört heute auch ein hohes Ausmaß an aggressivem und kriminellem Verhalten. Prügeleien, Sachzerstörungen und Diebstähle werden von bis zu 40% der Jungen und 24% der Mädchen bei der Altersgruppe der 14- bis 15jährigen in unserer Studie angegeben. Spektakuläre „Mutproben" sind schon von 12- und 13jährigen bekannt, die Autos mit erhöhter Geschwindigkeit in Unfälle verwickeln. Auch das „U-Bahn-Surfen" oder das Mitreisen auf Fahrstühlen in den Schächten gehört zu den lebensgefährlichen Verhaltensweisen schon der 10- bis 13jährigen. Das Überqueren von Autobahnen im Jogging-Tempo, das Fahren mit Mofa ohne Licht gegen die Fahrtrichtung, das Fahren mit dem Fahrrad auf der Autobahn und andere lebensgefährliche Verhaltensweisen sind bekannt und treten bei immer mehr jüngeren Jugendlichen auf. Wieder sind es vor allem die Jungen, die auf diese Verhaltensweisen zurückgreifen. Viele dieser aggressiven und kriminellen Verhaltensweisen treten zusammen mit dem Drogenkonsum auf. Das gilt im übrigen auch für selbstaggressive Verhaltensweisen wie Selbstmordversuche und vollzogene Selbsttötungen und auch für die riskanten Verkehrsverhaltensweisen bei den älteren Jugendlichen. Bekanntlich sind fast 50% aller Todesfälle in der Altersgruppe der 10- bis 20jährigen heute auf Unfälle zurückzuführen, 345

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an 2. Stelle mit 15% steht der Selbstmord. Wie dicht der Zusammenhang mit dem Drogenkonsum, insbesondere dem Alkoholkonsum ist, ist bisher noch nicht endgültig abgesichert. Immer mehr verdichten sich aber die Annahmen, daß erheblich mehr Fälle als bisher angenommen mit intensivem Alkoholkonsum zusammenhängen. Welches sind die Motive der jungen Männer und - in Grenzen - auch der jungen Frauen, sich derartig in Gefahr zu bringen? Nach den Bielefelder Untersuchungen sehen die Jugendlichen ja durchaus die Gefahren ihres Handelns, sie sind sich der objektiven Risiken oft durchaus bewußt. Viele versprechen sich Vorteile für Anerkennung und Selbstwertgefühl, die ihnen an anderer Stelle verlorengehen. Ein Hunger nach Zuwendung und nach Aufmerksamkeit in einer nüchternen Wettbewerbsgesellschaft ist bei vielen die Antriebsfeder. Sie suchen sich den scheinbar „leistungsfreien" Freizeitbereich aus, um diesen Hunger zu stillen. Das gilt auch für die verzweifelte Suche nach dem Ich - den Versuch, sich selbst zu finden. Vielen und immer mehr Jugendlichen noch ist es eine Minderheit, aber wie lange noch? - fehlt es ganz offensichtlich an Möglichkeiten, in ihrem normalen Alltag diese Gefühle von Bestätigung und Selbstwert (-»-Narzißmus) zu erleben. Sie greifen auf den Drogenkonsum, die Manipulation durch Arzneimittel, auf die Selbst- und Fremdaggression und auf andere Risikoverhaltensweisen zurück und gehen dabei die gefährlichen Konsequenzen für ihre eigene Gesundheit und ihr eigenes Leben ein. Bei vielen Jugendlichen spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle, daß sie überspannte Erwartungen an die eigene Lebensgestaltung haben. Dieser Prozeß kann in immer jüngeren Lebensjahren beobachtet werden - auch hier wieder haben wir es mit einer biographischen Vorverlagerung zu tun. Jugendliche erleben Sinndefizite und reagieren darauf mit der Flucht in den Rausch, in 346

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die Ekstase oder eben auch - je nach Naturell und Situation - in die zerstörerische Depression und Selbstaggression. Vielen Jugendlichen fehlt es heute an realistischen Perspektiven und Visionen für die Gestaltung ihres Lebens und an echten, überzeugenden Vorbildern. Vielen fehlt es aber auch schlicht an sozialen Räumen und an Gelegenheiten für Abenteuer und Spannung. Sie wissen oft einfach nicht, wohin sie mit ihrem Aktions- und Erlebnishunger gehen können. Sie erleben sozial und leistungsmäßig nicht die Anerkennung, die sie benötigen. Ihr hochgesteigertes Verlangen nach Individualität und Aufmerksamkeit, durch den heutigen Lebensstil und nicht zuletzt durch eine immer penetranter auf diesen Aspekt abstellende Werbung in den Massenmedien unterstützt, wird nicht gestillt. Die Medien spielen ohnehin eine Schlüsselrolle in diesem Zusammenhang. Sie vermitteln vielfach den Eindruck, daß die Welt unermeßliche Erlebnisbereiche zur Verfügung hat, die jeder von uns sich nur zu erschließen brauche. Im nüchternen und farblosen Alltag aber läßt sich dieses Gefühl überhaupt nicht umsetzen. Gerade für die sozial schlechter gestellten Jugendlichen liegen hier abgrundtiefe Enttäuschungen, die ihre Selbstregulationskraft enorm herausfordern. Durch die Medien stimuliert, wirkt der Alltag tot und leer: keine Abenteuer, keine Anregungen, keine Aufmerksamkeit, die man auf sich ziehen kann. Jungen mit einem sehr oft an Kraft und Körperstärke orientierten Bild von Männlichkeit scheinen mit dieser Situation noch erheblich schlechter zurechtzukommen als Mädchen. Auch im Freizeit- und Freundesbereich müssen wir also zum Schluß dieser Analyse feststellen: Die Suchtgefährdung hängt unmittelbar mit den Lebensbedingungen zusammen, die Kinder und Jugendliche heute vorfinden. Ebenso wie im Bereich Familie und im Bereich Schule ist der Freizeitbereich ein Lebenssektor, in dem untaugliche Versu-

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Jugendhilfe che der Lebenserfüllung ablaufen und in dem versucht wird, Defiziterlebnisse durch Drogen zu betäuben. •Elementarbereich; -»Erziehung; -»-Familie; -»•Kindheit; -»Prävention; -»Schule; -•Soziologische Konzepte Klaus Hurrelmann, Bielefeld Jugendhilfe Unter den Begriff J. fallen primär alle Leistungen und Aufgaben, die im Kinder· und Jugendhilfegesetz (KJHG) festgelegt sind. -•Jugend; -•Prävention Jugendschutzgesetz Das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JöSchG) in der Fas-

sung vom 1.4. 1985 beinhaltet in § 3 Regelungen über den Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen in Gaststätten, in § 4 die Abgabe von Alkohol an Kinder und Jugendliche, in § 8 den Aufenthalt in Spielhallen und in § 9 das Rauchen von Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit. Aus Sicht der Jugendschutzbeauftragten sind die Wirkungsmöglichkeiten des Gesetzes insgesamt gesehen nicht als zufriedenstellend zu bezeichnen. Junkie (amerik.) -•Fixer

i. V.

Drogenkonsument

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Kaffee

Khatstrauch Κ

Kaffee Κ. ist ein Genußmittel und eine „Alltagsdroge" und, nach dem Erdöl, die zweitwichtigste Welthandelsware. Der wesentlichste Inhaltsstoff ist das zentral stimulierende -»Koffein (neben Gerbstoffen und Vitaminen). -»Geschichte des Tees und des Kaffees Kalter Entzug Kalter E. (oft auch „harter" Entzug oder jargonhaft „cold turkey") meint das sofortige ersatzlose Absetzen aller eingenommenen Drogen oder Medikamente und ist eng mit dem klassischen -»•Abstinenzparadigma verknüpft und galt mit diesem deshalb lange Zeit als die einzig angemessene Methode. Entzug wurde inhaltlich gleichgesetzt mit kaltem oder hartem E. Die Idee dahinter ist die Annahme, daß das Erleben, diese Form des Entzugs durchgehalten zu haben, sich positiv auf das meist geringe Selbstwerterleben abhängiger Menschen auswirkt und damit auch die Therapiemotivation und das Standhalten während der Therapie gefördert wird. Die Angst vor einer Wiederholung der Leiden während des Entzugs sollen zudem das Rückfallrisiko mindern. Sinnvollerweise sollte neben dem kalten E. der -»warme E. bedacht werden und die Entscheidung für die eine oder die andere Form klientenbezogen je nach Alter und körperlichen Zustand, nach Art der Droge, nach spezieller Lebenssituation, nach der Phase in der Drogenkarriere u. a. und auch nach den Vorstellungen der Klienten selbst getroffen werden. -»Entzug; -»Körperliche Entgiftung; -»Qualifizierte Entgiftung Katholische Sozialethische Arbeitsstelle e.V. Die Katholische Sozialethische Arbeitsstelle e.V. (KSA) wurde 1976 durch Zusammenlegung ehemals selbständiger Katholischer Institutionen gegründet. Sie verortet sich in der Verbindung 348

von Theorie und Praxis und sieht ihre Zielsetzung darin, die Bemühungen katholischer Institutionen und Verbände auf Bundes- und Diözesanebene in den Bereichen Wertevermittlung und Konsumpädagogik, Suchtprävention und Suchtkrankenpastoral, Kinder- und Jugendschutz sowie Sekten und Weltanschauungsfragen subsidiär zu unterstützen. Maßstäbe der Arbeit sind das christliche Menschenbild und die Botschaft des Evangeliums. Formen der Unterstützung bestehen in der Kooperation bei der Vorbereitung und Durchführung von Tagungen, Seminaren und Projekten, in der Bereitstellung von Hintergrundinformationen (Daten, Fachaufsätze etc.) und in der Übernahme von Arbeitsaufträgen wie z.B. Referate, schriftliche Beiträge, Gutachten. Schwerpunkte der Arbeit im Referat Suchtgefahren sind u. a. die sozialethische Aufarbeitung der Suchtproblematik, die seelsorgerliche Begleitung Suchtkranker sowie Methodik und Didaktik der Suchtprävention. Über dem am KSA angeschlossenen Fachverlag sind als Orientierungs- und Arbeitshilfen Aufsätze und Arbeitsergebnisse, wissenschaftlich fundierte Beiträge sowie Broschüren und Faltblätter erhältlich. Anschrift: Ostenallee 80, 59071 Hamm, Tel.: 02381/98020-0, Fax: 02381/ 9 8 0 2 0 9 9 , e-mail:ksa-hamm@t-online. de Khatstrauch K. ist ein kleiner Strauch, dessen frische Blätter gekaut werden. In Äthiopien und Somalia und von dort in den Jemen importiert, ist der Khat, neben seiner Verwendung als Rauschdroge (-»Drogenpflanzen), entsprechend seiner stimulierenden Wirkung, auch als pflanzliches Geriatrikum, das den -»Amphetaminen nahesteht, gebräuchlich.

Kick/Thrill Kick/Thrill Κ. oder Th. sind jargonhafte Bezeichnungen (zunächst für illegale Drogen, dann aber auch allgemeiner) für die euphorisierende Wirkung von Drogen, für die drogeninduzierte Hochstimmung und die körperlichen und psychischen Erregungen und Sensationen nach Einnahme von Drogen. Dieser rauschhafte Zustand wird je nach Droge und je nach Applikation unterschiedlich schnell erreicht, bei intravenöser Zufuhr von Heroin z.B. fast schlagartig (-»Flash) oder beim -»Crack-Konsum (-»Koka/Kokain) in Sekundenschnelle, beim niedrigprozentigem Alkoholkonsum sehr viel langsamer. Das Fehlen der euphorisierenden Wirkung bringt viele -»Methadon-Konsumenten (-»Substitution) zu einem Beigebrauch etwa von Alkohol oder -»Psychostimulanzien. Die immer wieder neue Suche nach dem K. ist auch bei -»stoffungebundenen Süchten ausgeprägt, besonders deutlich bei den Aktivitäten in Extremsituationen wie dem S-Bahnsurfen, dem BungeeSpringen u.v.a. mit Suchtcharakter (-•Endorphine; -»Neue Süchte). Kiffen K. ist eine jargonhafte Bezeichnung für das Rauchen von Marihuana und Haschisch. Das Rauchen erfolgt entweder mittels einer Pfeife oder einer selbstgedrehten Zigarette. -»Cannabis Kinder von suchtkranken Eltern 1. Suchterkrankung als Familienerkrankung. Abhängigkeitserkrankung wird als Familienproblem erkannt, das Eltern und Kinder gemeinsam betrifft. Es hat seine Wurzeln in der Geschichte der Eltern und wirkt weiter, wenn die Kinder erwachsen geworden sind. Die Probleme und Entwicklungsaufgaben der Kinder und ihrer Familien sind bei unterschiedlichen Formen der Sucht (sogenannte ,harte' Drogen, Alkoholismus, Medikamentenabängigkeit) grundsätzlich die gleichen, trotz möglichen und bisweilen notwendigen Differenzierungen.

Kinder von suchtkranken Eltern Wenn man die Lebenswelt der Kinder suchtkranker Eltern betrachten möchte, muß man einigen Schwierigkeiten die Stirn bieten. Je nach Einstellung nennt man die Kinder von Abhängigen (Suchtkranken) die „vergessenen" Kinder oder die „unschuldigen" Kinder. Die einen meinen: Kinder sind Randfiguren, um die man sich nicht sonderlich kümmern muß. Andere sagen: Die Kinder sind unschuldige Opfer. Das führt zu einer moralischen Entrüstung. In diesem Fall orientiert man sich an dem Täter-OpferModell, das besagt, daß der Täter bestraft werden muß, während das Opfer zu schützen ist. Erst seit wenigen Jahren hat man erkannt, daß man sich auch um die Kinder der Abhängigen kümmern muß. Sie sind extrem Betroffene, die man in der Therapie nicht vergessen darf und denen auch geholfen werden muß. Gleichzeitig muß das Täter-Opfer-Modell überwunden werden (Bärsch, 1995: 5). Neben dieser Sichtweise komplizieren es verschiedene Schwierigkeiten, die Lebenswelt und -Wirklichkeit von Familien mit einem suchtkranken Mitglied zu beschreiben. Das Bild der verelendeten Abhängigen, der Alkoholiker als verwahrloster Obdachloser und der Heroinabhängige als verelendeter Süchtiger auf der Straße muß überwunden werden. Die Abhängigen entsprechen diesem Bild nicht: Es gibt viele arbeitende Heroinabhängige (Soer & Wolny-Follath, 990), und die meisten Alkoholiker trinken jahrelang eingebettet in einen nach außen unauffälligen Kontext (Black, 1988). Die verschiedenen Lebensgeschichten, die unterschiedlichen biographischen Stationen sowohl der Eltern als auch der Kinder bleiben unberücksichtigt in groß angelegten Studien. Geglückte Ausstiege oder erfolgreiche' Elternschaft gehen in empirischen Studien unter, da sie ,nur' eine kleine Gruppe ausmachen und die Resultate weniger sensationell wären. Amerika ist das Ursprungsland der Forschung über das Thema Kinder sucht349

Kinder von suchtkranken Eltern kranker Eltern. Die Studien sind aber oft nicht übertragbar auf die europäische Situation, da die soziokulturellen Verhältnisse nicht mit den unsrigen übereinstimmen, in verschiedenen Ländern eine unterschiedliche Toleranz gegenüber den Problemen von abhängigen Menschen herrscht, die Verfügbarkeit von Drogen und Suchtmitteln, Methadonprogramme und andere Möglichkeiten für die Begleitung von Abhängigen unterschiedlich sind (van Baar & Graff, 1994: 1064). Auch die unterschiedliche Art und Weise wie in den einzelnen Ländern Sucht- und Drogenpolitik betrieben wird, hat einen großen Einfluß auf die Übertragbarkeit der Studien. Es ist sehr schwierig, die „normale" Lebenswirklichkeit von Kindern in unserer Gesellschaft und die „besondere" Situation der Kinder von Abhängigen voneinander abzugrenzen. Viele Probleme, die Kinder von suchtkranken Eltern haben, sind auch die Probleme der „normalen" Kinder und keineswegs suchtspezifisch wie z.B. Arbeitslosigkeit, Armut, Scheidung der Eltern usw. Die größte Gemeinsamkeit der Kinder von suchtkranken Eltern besteht in dem erhöhten Risiko, selbst - wie ihre Eltern - abhängig zu werden. Das Weitergeben der Abhängigkeitserkrankung findet oft schon über Generationen statt. 2. Zahlen, Daten, Fakten. Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren leben in Deutschland auch im Jahr 1998 ca. 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholabhängige, ca. 1,2 Millionen Medikamentenabhängige und ca. 120000 Abhängige von illegalen Drogen. Dazu kommen ca. sechs bis acht Millionen Kinder, Partner, Eltern und Geschwister, die ebenfalls von der Suchterkrankung eines Familienmitgliedes betroffen sind. Das bedeutet umgerechnet, daß etwa in jeder 7. bis 8. Familie ein suchtkranker Mensch lebt. Auffallend ist zudem - wie eine Umfrage ergab - , daß ζ. B. mehr als 50% der Alkoholabhängigen selbst Kinder 350

Kinder von suchtkranken Eltern aus Familien mit einem suchtkranken Elternteil waren und ca. 60% der Partnerinnen von Alkoholikern einen suchtkranken Vater hatten (Suchtgefahren Nr. 31, Seite 271/1985). 2.1 Suchtgefährdung der Kinder. Erst in jüngster Zeit wurde durch eine repräsentative epidemiologische Studie (Lachner/ Wittchen, 1997) bestätigt, daß die familiäre Belastung durch elterliche Suchterkrankung enorm hoch ist. Bei einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von 3021 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren stellte sich eine Quote elterlicher Alkoholabhängigkeit bzw. elterlichen Alkoholmißbrauchs von 15,1% heraus. Auch andere Untersuchungen belegen, daß Kinder von suchtkranken Eltern in einem weitaus höheren Maße gefährdet sind, später selbst suchtkrank zu werden oder sich einen Partner mit Suchtproblemen zu suchen, so daß sie das ihnen bekannte Muster aus der Kindheitsfamilie (unbewußt) fortsetzen. Dabei scheinen vor allem zwei Prozesse vor sich zu gehen: - Es wird ein Partner ausgewählt, der dem eigenen Vater/der eigenen Mutter gleicht, und - es wird die Partnerwahl des gleichgeschlechtlichen Elternteils imitiert, indem unter möglichen Partnern u. a. auf solche Signale besonders intensiv reagiert wird, auf welche die eigene Mutter bzw. der Vater auch schon besonders sensibel angesprochen haben (Burr, 1985). Die Kinder von Alkoholikern entwikkeln häufig ein ähnliches Trinkmuster wie ihre Eltern oder eine andere Sucht (Stark, 1987). Etwa 50% der Kinder von Alkoholikern werden wiederum alkoholkrank; dabei korreliert die Trinkhäufigkeit der Jungen hoch mit jener der Väter, die Trinkhäufigkeit der Mädchen mit jener der Mütter (Köppl u. Reiners, 1987). Nach Black et al. (1986) bezeichnen sich selbst 36,8% der erwachsenen Kinder (Kontrollgruppe 9,5%) als alkoholabhängig. In einer Studie von Fox

Kinder von suchtkranken Eltern

(1968) beträgt die Zahl der abhängigen erwachsenen Kinder 52% und bei Schuckit u.a. (1971) sogar 72% (vgl. Krämer, 1978). In mehreren Studien wurde nachgewiesen, daß Alkoholabhängige oft aus Familien stammen, in denen bereits ein Elternteil oder beide abhängig waren. Eine Langzeitstudie über einen Zeitraum von 33 Jahren brachte für Erwachsene, die suchtkranke Eltern (oder ein Elternteil) hatten, in 28% der Fälle eine Diagnose für Alkoholabhängigkeit (Drake/Vaillant, 1988). Männer mit einem abhängigen Vater hatten mehr als doppelt so häufig eine Alkoholabhängigkeit als Männer ohne abhängigen Vater. All diese Studien belegen, daß Kinder von Alkoholikern - insbesondere Söhne - als Risikogruppe für die Entwicklung von Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit angesehen werden müssen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, daß diese Kinder ein bis zu sechsfach höheres Risiko haben, selber abhängig zu werden oder Mißbrauch zu betreiben. Offensichtlich ist auch, daß für Kinder suchtkranker Eltern das Risiko der Erkrankung an anderen psychischen Störungen (insbesondere Angst- und Persönlichkeitsstörungen, Depressionen) deutlich erhöht ist - wenn auch nicht so stark wie für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung (Vellemann 1992, wiedergegeben nach Klein 1998). 2.2 Die (Er-)Lebenswelt der Kinder suchtkranker Eltern. Kinder von suchtkranken Eltern sind meist besonders von der Abhängigkeit des Vaters/der Mutter betroffen, denn durch die Suchterkrankung wird der Erziehungsstil der Eltern entscheidend beeinflußt. Dieser ist oft sehr unbeständig und inkonsequent, ein Wechselbad zwischen Härte und Verwöhnung. Manche Verhaltensweisen werden manchmal bestraft und dann wieder gelobt - je nach der Befindlichkeit der Erwachsenen. Die Kinder sind in ihren Gefühlen hin und her gerissen

Kinder von suchtkranken Eltern

und sie können sich nicht wirklich auf die Eltern verlassen. Die Atmosphäre in diesen Familien ist durch eine ängstlich-gespannte Erwartungshaltung, Unruhe und Ungeborgenheit gekennzeichnet. Die Kinder versuchen, jede Situation genau zu erfassen und unter Mißachtung ihrer eigenen Gefühle ihr Verhalten auf die Stimmungsschwankungen des Abhängigen abzustimmen. Sie leben in einer ängstlichen Dauerspannung, denn sie wissen nie, was sie zu Hause erwartet. Das einzig Zuverlässige ist die Unzuverlässigkeit! Das zentrale Problem für diese Kinder ist wohl die permanente Überforderung. Sie können und dürfen ihre kindgemäßen Bedürfnisse oft nicht leben. Sie werden früh gefordert und überfordert, wenn sie Aufgaben der Eltern übernehmen müssen. 2.3 Gewalt. In Familien mit einem suchtkranken Elternteil kommt es zu einer ständigen Überforderung und damit auch zu unterschiedlichen Gewaltformen. Man kann davon ausgehen, daß in ca. 30% dieser Familien Kinder mißhandelt werden. Das ist im Durchschnitt doppelt bis dreifach so viel wie in anderen Familien. Grenzüberschreitungen sind in einer Suchtfamilie sozusagen „an der Tagesordnung". Der soziale Status und die Einkommenssituation in Suchtfamilien kann die ganze Bandbreite der Möglichkeiten einnehmen. In verstrickten Familien kommt es oft zu emotionalen, körperlichen und sexuellen Grenzüberschreitungen, also massiven Verletzungen der Ich-Grenze des Kindes. Durch die Wirkung des Alkohols wie Abbau von Ängsten und Hemmungen, Black-out, herabgesetzte Schamgrenze, Bagatellisierung des eigenen Verhaltens, ist die Gefahr der sexuellen Gewalt in Suchtfamilien erhöht. Mehr noch als bei körperlicher Gewalt sehen die Kinder oft keine Chance, sich gegen diese Form der Übergriffe und Grenzverletzungen zu wehren. Sie spalten ihre Gefühle ab, tun so, als merkten sie es nicht und mit der Zeit empfinden 351

Kinder von suchtkranken Eltern sie Mißhandlungen als „normal" oder „verdient". Die Kinder fühlen sich fatalerweise mitschuldig und diese Ausbeutung ist manchmal die einzige Form an Zuwendung, die sie in der Familie erhalten. 2.4 Die systemische Sichtweise. Die systemische Theorie bezog erstmals alle Familienmitglieder in ein ganzes System ein: der Abhängige, der Partner und die Kinder. Auch Familien mit einem suchtkranken Mitglied entwikkeln bestimmte Verhaltensweisen und Mechanismen, um eine gewisse Stabilität der Familie zu erreichen. Sie etablieren verschiedene Strategien, die als Abwehrmechanismen dienen, um mit den spezifischen und meist langandauernden Belastungen fertig zu werden. Zu diesen Strategien gehören rigide einzuhaltende Regeln und bestimmte Rollen, die übernommen werden und oft als einzige Überlebensstrategie dienen - also nicht mehr flexibel handhabbar sind. Diese Regeln prägen die Beziehungsmuster der Familienmitglieder. Das Leben der Kinder ist geprägt von starren Glaubens- und Beziehungsmustern, die nur schwer überwunden werden können, weil die Selbstverleugnung und -Unterdrückung oft über Jahre anhält. „Ein alkoholisches System - beziehungsweise jedes Suchtsystem - ist ansteckend, und wer darin lebt, infiziert sich früher oder später. Bei der infizierten Person laufen dieselben Muster und Entwicklungen ab wie beim Alkoholiker" (Schaef, 1991: 27). 3. Stellenwert für die Praxis der Suchtprävention. Das Thema erfordert, nicht nur über die Belastungen zu sprechen, denen die Kinder und Angehörigen in diesen Familien begegnen, sondern auch über präventive, beraterische und therapeutische Maßnahmen nachzudenken, die es in diesem Feld gibt oder geben muß (vgl. auch Arenz-Greiving, 1998). Wichtigstes Ziel eines Angebotes für Kinder von suchtkranken Eltern ist, den Teufelskreis der Abhängigkeit zu unter352

Kinder von suchtkranken Eltern brechen. Darüber hinaus ist es wichtig, daß sie (Lebens-)Regeln erlernen, die ihre Entwicklung ermöglichen und fördern. Angebote für diese Kinder und deren Eltern sollten darauf abzielen, daß die persönlichen Ressourcen wie z.B. Flexibilität, soziale Intelligenz, Temperament und Sensitivität gefördert und ihnen soziale Ressourcen wie Bindungsfähigkeit, stabile emotionale Beziehungen, offen unterstützendes Erziehungsklima, Modelle positiver Bewältigung und Wertorientierung angeboten werden. Es darf nicht darum gehen, diese Kinder als das „neue Klientel" der Suchtkrankenhilfe anzusehen, sondern es geht darum, gerade dieses zu verhindern! Deshalb haben verschiedene Ansätze und Maßnahmen der Suchtprävention eine besondere Bedeutung für Kinder suchtkranker Eltern. Unter präventiven Aspekten erscheint es ratsam, Kindern von suchtkranken Eltern möglichst früh Hilfen bereitzustellen, um eine optimale Entwicklung wahrscheinlicher zu machen bzw. erste auftretende Störungen schnell zu behandeln. Daher bewegen sich Frühinterventionen für diese Kinder meist an der Grenzlinie zwischen Primär- und Sekundärprävention. Dabei müssen auf der einen Seite das vorhandene Risiko zur Entwicklung einer Abhängigkeit und auf der anderen Seite die bereits vorhandenen Ressourcen genau erfaßt werden, um beide Bereiche in die Planung von Präventionsmaßnahmen und effektive Frühförderung einfließen zu lassen. -•Familie; -•Familientherapie und Systemische Therapie Lit.: Arenz-Greiving, I., Die vergessenen Kinder - Kinder von Suchtkranken, Hamm/Wuppertal, 1998; Baar, A. van, Cognitive Developement at PreschoolAge of Infants of Drugs-Dependent Motherd. Developmental Medicine and Child Neurology, 1994/36, S. 10631975; Bärsch, W., Drogenabhängigkeit und Elternschaft - eine vertretbare

Kindergarten Kombination? in: Landschaftsverband Westfalen Lippe (Hrsg.), Tagungsbericht ,Kinder haften für ihre Eltern', Münster, 1990; Black, C., Mir kann das nicht passieren!, Wildberg, 1988; Burr, Α., Alkohol in der Familie, München, 1985; Klein, M., Kinder suchtkranker Eltern: Fakten, Daten, Zusammenhänge, in: DiCv Köln e . V . (Hrsg.), Wenn Mamma und Papa high sind - bin ich down. Schriftenreihe des DiCV Köln, Köln, 1998; Krämer, H„ Helft mir meine Eltern trinken, Hamburg, 1980; Köppl, B./Reiners, W„ Hilfen für Kinder von alkoholkranken Vätern, Freiburg, 1987; Lachner, G./Wittchen, H. U., Familiär übertragene Vulnerabilitätsmerkmale für Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit, in: Watzl, H, Rockstroh, B . (Hrsg.), Abhängigkeit und Mißbrauch von Drogen und Alkohol, 4 3 - 8 9 , Göttingen, 1997; Schaef, A. W„ Im Zeitalter der Sucht. Wege aus der Abhängigkeit, München, 1991; Soer, J. von, Wolny-Follath, Μ., Η wie Heroin, Betroffene erzählen ihr Leben, Hamburg, 1990. Ingrid Arenz-Greiving, Dülmen Kindergarten Nach den heutigen Annahmen zur -»Genese von Sucht ist der Kindergarten als erster „öffentlicher Ort" neben der -•Familie von besonderer Bedeutung für die primäre -»Prävention. Aufbauend auf die familiale -»Erziehung, manchmal dazu auch ausgleichend, kann über diese frühe außerfamiliale Förderung emotionaler, kognitiver und sozialer Kompetenzen die Entwicklung der Kinder gesundheitsfördernd unterstützt und dadurch auch eine protektive Basis bezüglich möglicher späterer Suchtentwicklungen geschaffen werden. • Elementarbereich Kindheit Beim Thema Kindheit und Sucht ist bezüglich der Gefährdungen im Kleinkind- und Kindergartenalter (bzw. dann auch bei den Präventionsbemühungen)

Kindheit zu unterscheiden zwischen suchtmittelspezifischen Gefährdungen durch den direkten oder indirekten Einfluß von Sucht- und Ersatzmitteln im Leben der Kinder und den allgemeinen Gefährdungen durch die psycho-soziale Lebenssituation von Kindern, die u. U. die Basis für eine spätere Suchtentwicklung bildet. Beide Bereiche überschneiden sich natürlich vielfach und verstärken sich wechselseitig. 1. Suchtmittelspezifische Gefährdungen. Zu den Gefährdungen durch Suchtmittel im Kindesalter, die den weiteren Lebensweg in das Jugend- und Erwachsenenalter hin oft erheblich belasten, zählen: - die körperliche und geistige Gefährdung der Kinder durch einen Suchtmittelmißbrauch der Mutter während der Schwangerschaft (-»Embryopathie), - die psychosoziale und körperliche Gefährdung der Kinder durch einen Suchtmittelmißbrauch der Eltern (-»Genetik; -»Kinder von suchtkranken Eltern); - die körperliche, geistige und psychosoziale Gefährdung der Kinder durch einen direkten Suchtmittelkonsum und - die psychosoziale Gefährdung der Kinder durch Alltagsdrogen und Ersatzmittel. 1.1 Pränatale Gefährdungen. Jährlich werden in Deutschland etwa 3 0 0 0 Kinder mit mehr oder weniger ausgeprägten körperlichen und geistigen Schädigungen geboren, die eindeutig auf den Alkoholkonsum der Mütter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Diese sog. Alkohol-Embryopathien äußern sich in wahrnehmbaren Symptomen wie Minderwuchs, geistiger Retardierung, Gesichtveränderungen, Skelettfehlbildungen, Herzfehlern und sonstigen Organveränderungen. Eine Alkoholabhängigkeit der Mutter wirkt sich hier natürlich besonders gefährdend aus, aber schon relativ geringe Mengen von Alkoholika, viel-

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leicht noch in Verbindung mit Nikotin und dem einen oder anderen Medikament führen zu unkontrollierbaren und unheilbaren schädigenden Auswirkungen, denen das winzige Wesen im Mutterbauch schutzlos ausgeliefert ist. Werbeträchtig mit Schlagworten wie „Heilkraft der Natur" oder „Vitalität für's Leben" angebotene Alkoholpräparate zur Kräftigung und Nervenberuhigung von schwangeren Frauen können dann nur noch als blanker Hohn erscheinen. Die schädigenden Wirkungen diverser weiterer Suchtmittel sind inzwischen gut bekannt (-»-Embryopathie). Häufig sind es Ängste der Mütter bezüglich der neuen Rolle (Schwangerschaft), aber auch in Hinblick auf Partnerschaft und Beruf oder ganz allgemein diffuse Zukunftsängste, die sie zu diversen „Entlastungen" greifen lassen; dies manchmal sogar angeregt durch einen ärztlichen „Rat" (-»Iatrogene Abhängigkeit). Wobei diese „Lösungsversuche" in Wechselwirkung mit den streßerzeugenden zugrundeliegenden Ängsten für das Kind ein Lebensumfeld bzw. ein Klima schaffen, in dem es sich nicht oder nur begrenzt entwickeln kann. Neben informativen öffentlichen Kampagnen müßte die Bedeutung des Suchtmittelkonsums während der Schwangerschaft bei den medizinischen Vorsorgeuntersuchungen und bei den psychosozialen Schwangerschaftsberatungen einen sehr viel größeren und nachdrücklicheren Stellenwert einnehmen, als dies noch heute der Fall ist. 1.2 -»Kinder suchtkranker Eltern. Viele Suchtkranke haben Kinder. Nimmt man alleine nur die Zahlen von Abhängigkeitserkrankungen als Grundlage, dann sind in Deutschland mindestens 5 Millionen Kinder tagtäglich unmittelbar mit dem von Suchtmitteln bestimmten Verhalten von Eltem oder einem Elternteil konfrontiert. Suchtmittelabhängige Eltern können ihren Kindern krankheitsbedingt aber nur einen Zerrspiegel familialer Wirklichkeit bieten. An lügenden, vertuschenden, lallenden, phantasieren354

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den, unberechenbaren, ständig flüchtenden und an sich und der Umwelt leidenden Eltern können Kinder keine Orientierung finden. Suchtkranke Eltern können die kindlichen Wünsche nach Liebe, Wärme, Nähe und Zuneigung, nach Anerkennung und Anregung, nach spontanen und kreativen Spielen nicht oder nur unzuverlässig erfüllen. Fortgeschrittene Stadien der Abhängigkeit sind u. a. gekennzeichnet durch zunehmende soziale Belastungen, einem aggressiven Verhalten, Feindseligkeiten gegenüber der Umwelt, auffallendem Selbstmitleid, grundlosem Unwillen, Vernachlässigung der Ernährung, Eifersucht, tagelangen Rauschzuständen, Beeinträchtigungen des Denkens, undefinierbaren Ängsten, körperlichen Zusammenbrüchen und psychotischen Episoden. Wenn diese Symptome auch nicht immer alle zusammen auftreten, so zeigt diese mögliche Auswahl doch, daß in suchtkranken Familien eine extrem spannungsvolle Atmosphäre vorherrscht, die die Lebenssituation der Kinder schwer beeinträchtigt. Die zentrale Aufgabe moderner Familien, die Sozialisationsfunktion, die flexible und realitätsgerechte Vorbereitung der Kinder auf die außerfamiliale Welt, kann so nicht oder nur sehr unzureichend erfüllt werden. Eine angemessene Ausbildung hinreichender emotionaler, geistiger und sozialer Kompetenzen ist in diesem Klima nur schwer vorstellbar. Genau diese Unzulänglichkeiten sind es aber, die es Jugendlichen und Erwachsenen dann später so schwer machen, soziale Beziehungen aufzunehmen und ihr Leben im privaten und beruflichen Bereich (-•Berufsspezifische Aspekte) sinnvoll zu gestalten, Konflikte angemessen zu bewältigen und eben nicht ständig auszuweichen und u. U. in Suchtmitteln einen Lebensersatz zu suchen. In einem suchtkranken Familiensystem (-•Familie; ->Familientherapie und Systemische Therapie) ist der Abhängige meist das zentrale Familienmitglied, um

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den sich alles dreht. Neben ihm, dem „Symptomträger", agieren unbewußt vielfach die „Symptompfleger", meist die Ehepartner, aber auch die Kinder, die durch eine relativ starke Abschottung der Familiengrenzen nach außen, durch einen „Pakt des Schweigens" das Familiengeheimnis zu hüten versuchen. Kinder werden so eingebunden in dieses System, sie sind zunächst Opfer und werden dann aktive Mitgestalter und Aufrechterhalter dieser familialen Scheinwelt (-•Co-Abhängigkeit). Da dies alles unbewußt verläuft und getragen wird von Zuneigung und Liebe zum süchtigen Elternteil und dem Wunsch und der Hoffnung, eine „richtige" Familie zu sein, entwickelt sich so langsam eine schleichende seelische Vergiftung der Kinder. Das Elend bleibt so in der Familie und wird oft sehr lange Zeit nach außen hin nicht sichtbar. Dies bedeutet aber, daß Kinder ihre eigene Wahrnehmung der familialen Wirklichkeit ständig verleugnen müssen. Diese Kinder sind so einem psychosozialen Zerstörungsprozeß ausgesetzt, der sich auch organisch bemerkbar macht. „Wo der Mund schweigt, da sprechen die Organe!" verdeutlicht dies ein Grundsatz der Psychosomatischen Medizin. Solche verschlüsselten Hilferufe gibt es bei Kindern aus suchtkranken Familien - natürlich nicht nur bei ihnen! - häufig und ausgeprägt. Sie fallen auf durch Symptome wie Bettnässen, Einkoten, Schlafstörungen, Magenund Darmkrämpfe, Stottern, Zappeligkeit, unangemessen aggressives Verhalten oder aber auch durch starke Isolierungstendenzen, durch Konzentrationsstörungen, Angebereien. Hier sind viele deutliche Ansatzpunkte für Kinderärzte, Erzieherinnen, Verwandte und Nachbarn, frühzeitig zum Wohle des Kindes präventiv tätig zu werden, um den vernichtenden Teufelskreis so bald wie möglich zu durchbrechen. Daraus ließen sich dann auch zusätzlich Chancen für die suchtkranke Familie insgesamt ableiten.

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Die Auflösung der zerstörerischen familialen Mechanismen ist auch in der Hinsicht wichtig, daß sich immer wieder zeigt, daß viele Jugendliche, deren Väter alkoholabhängig waren, später selbst wieder von der gleichen Droge abhängig wurden, obwohl sie sich vielfach schon als Kind geschworen haben, daß dies auf keinen Fall eintreten darf. Dies ist allerdings kein eindeutiger Beleg für eine Vererbungstheorie (-•Genetik), sondern verweist darauf, daß diese Kinder keine anderen Problemlösungsstrategien erlernen konnten und so kurzschlußartig auf die gelernten Programme zurückgreifen müssen, daß also, wenn man so möchte, suchtzentrierte Konfliktlösungsstrategien „vererbt" wurden. 1.3 Direkter Suchtmittelkontakt. Daß bereits Kleinkinder vielfältigen direkten Suchtmittelkontakt haben ist ein trostloses Faktum unserer Zeit. Die „Pillen für den Störenfried" sind alltäglich geworden, selbst für Kinder im Kindergartenalter. Die Leichtfertigkeit mit der dies häufig geschieht, grenzt von Seiten der verschreibenden Ärzte als auch von Seiten der Eltern an Kindesmißhandlung. Das Verschreiben von Psychopharmaka muß auf wenige, wohl begründete und verantwortete Ausnahmen beschränkt bleiben. Viele der sog. Verhaltensstörungen mögen von den Eltern und Erziehern als lästig und eben störend empfunden werden, sie sind aber häufig ein Zeichen einer kreativen und absolut phasengerechten kindlichen Entwicklung, die gefördert und nicht behandelt werden sollte. Der Einsatz von Medikamenten jedenfalls vernichtet dieses zart keimende Pflänzchen der Selbstbehauptung, als ob es „Unkraut" wäre. Diese Erscheinungen gilt es aber sehr wohl zu unterscheiden von Verhaltensstörungen wie sie im vorherigen Abschnitt beschrieben wurden. Sie müssen als Warnzeichen von Erzieherinnen, Ärzten und Eltern unbedingt ernst genommen werden. Sie zeigen an, daß in der Umwelt des Kindes etwas nicht stimmt, daß dort angesetzt werden muß, 355

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und die Probleme sicher nicht über das medikamentöse Mundtotmachen der Kinder zu lösen sind. Aber auch gutwillige, verantwortungsbewußte und bemühte Eltern handeln oft grob fahrlässig, wenn sie ihren Kindern etwa scheinbar so gesunde naturheilkundliche Präparate oder „harmlose" Hustensäfte geben, oft in dem Glauben, daß sie damit den Kindern nur Gutes tun. Da diese Präparate teilweise mit hochprozentigem Alkohol versetzt sind, führt ihr längerdauernder Konsum - um beispielsweise die Abwehrkraft des Kindes zu stärken - zu einer frühzeitigen Gewöhnung an Rauschmittel, was zu körperlichen Schädigungen führen und auch eine spätere Abhängigkeit fördern kann. Neben dieser mißbräuchlichen Verwendung von Medikamenten, unter der die Kinder zu leiden haben, spielen gedankenlos-dümmliche, teilweise aber auch nur noch als kriminell zu bezeichnende Handlungen Erwachsener bezüglich des direkten Kontaktes von Kleinkindern mit Alkohol eine erhebliche Rolle. Wenn Dreijährige bei Bierfesten oder zu Geburtstagsfeiern aus dem Glas des Vaters trinken dürfen oder müssen, findet dies meist die lächelnd-wohlwollende Zustimmung der erwachsenen Zuschauer. In früheren Zeiten war es sehr üblich, daß Bauern ihre Kinder etwa mit einem alkoholgetränkten Stoffetzen als Schnuller ruhig stellten, um ungestört ihrer Feldarbeit nachgehen zu können. Leider ist dieses Verhalten auch heute noch nicht ausgestorben, wenn die Anlässe auch andere sind. Werden Kinder durch ein Glas Schnaps dazu gebracht, die Nacht durchzuschlafen, damit die Eltern ihre Party nicht versäumen, dann wird dies von den anderen Partygästen kaum als versuchter Totschlag gewertet, obwohl es die sehr schnell werden könnte. Bereits eine Dosis von 2 Gramm Alkohol pro Kilogramm Körpergewicht kann für ein Kleinkind tödlich sein. Beim Schulkind liegt diese Grenze etwa bei 3 Gramm, beim Erwachsenen 5 bis 6 356

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Gramm. Wie schnell eine tödliche Vergiftung bei Kleinkindern ausgelöst werden kann, sei es nun durch ein geplantes Verhalten oder durch Unachtsamkeit der Eltern, ist den meisten Erwachsenen überhaupt nicht bewußt. Ein Glas Wein (etwa 0,121) enthält zwischen 8 g (leichter Weißwein) und 12 g (Sekt) Alkohol, Südwein bis zu 20 g. Eine besondere Gefahr ist bei Kindern dadurch gegeben, daß die Wirkungsphasen der Droge Alkohol nicht in der für Erwachsenen typischen Form verlaufen. Der Entspannung folgt also nicht nach weiterem Trinken langsam die Enthemmung bis es schließlich nach weiterem Konsum zur Narkotisierung kommt, da bereits 0,5 Promille Alkohol im Blut bei Kindern Bewußtlosigkeit hervorrufen kann. Kleinkinder versinken dann oft schlagartig vom wachen Zustand in eine tiefe Bewußlosigkeit. Dies ist dann ein Fall für den Notarzt. Eine sofortige klinische Behandlung kann wenigstens tödliche Verläufe und schwerste körperliche und geistige Schädigungen mindern. Weniger dramatisch, durch die frühzeitige Gewöhnung an Suchtmittel aber äußerst bedenklich, ist die ständige, die alltägliche Zufuhr von Alkohol in kleinen Dosierungen über viele Lebensmittel, bei denen Alkohol zur Geschmacksverbesserung verwendet wird (Süßwaren, Suppen in Konservendosen, Pralinen, Speiseeis usw.) oder auch durch das sog. Kinderbier (Malzbier), das ebenfalls, wenn auch in geringen Mengen, Alkohol enthält. Neben dem Gewöhnungseffekt ist auch zu bedenken, daß beim Kleinkind bereits geringe Mengen von Alkohol, wenn sie über einen längeren Zeitraum verabreicht werden, auch zu körperlichen Defekten wie Leberschädigungen führen können. 1.4 Alltagsdrogen und „Ersatzmittel". Neben dem Ausgeliefertsein an Suchtstoffen in der vorgeburtlichen Lebensphase und im Kleinkind- und Kindesalter und der Konfrontation mit ausgeprägten Abhängigkeiten der Eltern von Drogen, sind Kinder heute in einem

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unermeßlichen Ausmaß in mildere Formen des Umgangs mit Alltagsdrogen und sog. Ersatzmitteln eingebunden. Als Alltagsdrogen gelten neben Alkohol (-•Alkoholabhängigkeit; -»Geschichte des Alkohols) und Medikamenten (-•Medikamentenabhängigkeit), Tabak (-•Geschichte des Tabaks; -•Nikotin), Kaffee und Tee (-•Geschichte des Tees und des Kaffees) für die ein hohes soziales Entgegenkommen besteht. Ihr Konsum, wie auch der kurzfristige Mißbrauch, wird gefördert und ihre Verwendung gehört zum Normalbild der Alltagsgestaltung in Familie, Freizeit und Beruf. Zur Zeit wird diskutiert, inwiefern eine Erweiterung der Palette von Alltagsdrogen sinnvoll ist („Haschischverkauf in Apotheken"), andererseits gibt es Gegenbewegungen, die das Rauchen aus bestimmten öffentlichen Bereichen verbannen wollen. Unter „Ersatzmittel" sollen Gegenstände und Tätigkeiten des alltäglichen Lebens (Alltagsmittel) verstanden werden, die - wie die Alltagsdrogen auch - längerfristig und ausschließlich einseitig zur Kompensation von Unlust, Unbefriedigtsein, Minderwertigkeitsgefühlen, Langeweile, Trauer, Frustration, inneren Spannungen usw. verwendet werden. Die Liste der u. U. mißbräuchlich und süchtig zu verwendenden Ersatzmittel ist enorm lang. Hierher gehören Fernsehen, Video und Computerspiele, Musikhören, Autofahren, Arbeiten, Sexualität, Hobbies, Putzen, Stricken, Joggen, (Nuckel-)Flaschen, Süßigkeiten u.v.a. Falls die Verwendung dieser Möglichkeiten süchtige Formen annimmt, handelt es sich um -•stoffungebundene Suchtformen, also um Süchte ohne Zufuhr von Drogen (mit ihrem entsprechenden Wirkungsspektrum auf das Zentralnervensystem). Diese Ersatzmittel dienen häufig nicht mehr dem Genuß, sondern sind Ersatzbefriedigungen, die dem Vermeiden und Ausweichen von fälligen Auseinandersetzungen mit sich selbst und der Umwelt dienen und damit im Dienste der Verdrängung stehen, was im Endeffekt

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den zugrundeliegenden Konflikt nur noch vergrößert. Hier ist es natürlich besonders wichtig, das „Kind nicht mit dem Bade auszuschütten". Die erwähnten Möglichkeiten und viele weitere und ständig neue gehören zum Alltag moderner Industriegesellschaften. Sie machen diesen Alltag auch lebenswert und sie sind durchaus stabilisierend, indem sie Befriedigung, Entspannung und Entlastung bieten und Selbstbewußtsein, Lust und Leistungssteigerung vermitteln. Problematisch wird es nur, wenn sie einseitig und langfristig als einzige Möglichkeit der psychosozialen Stabilisierung verwendet werden. Ansonsten kann es nicht darum gehen, Alltagsdrogen und Alltagsmittel pauschal und sektiererisch zu verteufeln, aber es muß darum gehen, die Gefährdungen durch deren Mißbrauch deutlich zu machen. Die Nachahmung ist ein wesentlicher Lernmechanismus für Kinder, und das Vorbild der Erwachsenen ist wirksamer als deren Ermahnungen. So kann ein familiales Sozialisationsklima, das durch einen unreflektierten und unbeherrschten Umgang mit Alltagsdrogen und Alltagsmitteln gekennzeichnet ist, bei Kindern, die dies alltäglich erleben, den Grund für den Mechanismus einer süchtigen Haltung legen. Sie werden als Jugendliche und Erwachsene, falls sie keine reizvollen Alternativen kennenlernen, immer wieder auf die alten und ja besonders wirksamen Mechanismen zurückgreifen müssen. Darüber können sie versuchen, genau so, wie sie es in der Kindheit erlebt haben, momentan als unangenehm und quälend erlebte Befindlichkeiten zu verändern. Gelangweilt den Fernseher einschaltende Eltern, der gekränkte Vater, der der Auseinandersetzung durch eine Autotour entgeht, der grantige Onkel, der erst lustig wird, wenn er sein Glas Wein intus hat, die kettenrauchende Erzieherin, die sich erst noch einen Kaffee gönnen muß usw., all dies sind programmatische Erfahrungen, die das Kind als 357

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Verhaltensmodelle speichert und mit großer Wahrscheinlichkeit in ähnlichen Situationen anwendet. Kinder sind aber auch direkt betroffen, wenn sich Eltern und Erzieherinnen einer verständigungsorientierten Auseinandersetzung entziehen, wenn sie nicht als ganzheitliche Personen, so wie sie nun einmal sind, auch mit ihren Schattenseiten, für das Kind greifbar zur Verfügung stehen, sondern auf die Angebote der Kinder, auf ihre Tränen, Fragen und spontanen Aktionen, auf Traurigkeiten und Aggressionen mit Süßigkeiten, mit dem Schnuller, der Nukkelflasche, dem Spielzeug, dem Einschalten der Kindersendung im Fernsehen oder dem Einlegen der Kassette vom „Meister Eder" reagieren. So verständlich dies mit Blick auf gestreßte Eltern manchmal auch ist, einseitig und auf Dauer ist das Anbieten unpersönlicher Mittel als Ersatz für soziale Beziehungen und für persönliche Zuwendung eine vernichtende Waffe, die die Entwicklung von Kindern schwer behindert. Eine humane Sozialisation, die durch verständigungsorientierte Bereitschaft und einfühlsame Unterstützung gekennzeichnet ist, läßt sich so nicht verwirklichen. Wenn menschliche „Hilfsiche" durch unpersönliche „Hilfsobjekte", durch zeit- und arbeitssparende technische Mittel ersetzt werden, wie der „Erfinder" des Psychodramas, J. L. Moreno, dies einmal formuliert hat, besteht zunehmend die Gefahr, daß nicht nur eine kurzfristige Ersatzbefriedigung über Ersatzmittel gesucht und gefunden wird, sondern auch eine ganze Ersatzwelt geschaffen wird. 2. Allgemeine Gefährdungen: Familie und Suchtentwicklung. Die zentrale familiale Aufgabe ist die Erfüllung der Sozialisationsfunktion, über die Kinder ausreichende emotionale, kognitive und soziale Kompetenzen erwerben, um sich im Kindergarten, in der Schule, im Kreis Gleichaltriger und später in Partnerschaften und im Beruf zurechtzufinden. 358

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Gefragt ist in modernen Gesellschaften ein „interaktionsfähiger" Mensch, der über alle Konflikte und Probleme hinweg, in immer wieder neuen Anläufen, kritisch und (selbst-)bewußt handelt und die persönlichen wie die sozialen und sachlichen Aufgaben zu bewältigen versucht. Die Grundlegung einer solchen Qualifizierung ist Aufgabe der Familienerziehung. Deren Gelingen ist gleichzeitig ein protektiver Faktor, der vor süchtigen Entwicklungen schützt ( + Genese), wie deren Mißlingen, wie in vielen Biographien abhängiger Menschen nachzuweisen, einen wesentlichen, vielleicht den bedeutsamsten, pathogenen Faktor für Suchtentwicklungen darstellt. Es stellt sich dann die Frage, wie eine Familie aussehen müßte, in der die genannte und andere Aufgaben zufriedenstellend erfüllt werden. Zwei amerikanische Autoren, R. D. Hess und G. Handel, haben in ihrem 1975 in deutsch erschienenen Buch „Familienwelten" die Aufgaben, für die jede Familie eine Lösung finden muß, aufgelistet. Diese innerfamilialen Voraussetzungen für die Persönlichkeitsbildung sind die Notwendigkeit, ein flexibles Verhältnis von Nähe und Distanz, von Fremd- und Selbstbildern, von Familie und sozialer Umwelt und zu den biosozialen Fragen (Alter und Geschlecht) zu entwickeln. Bei zwei Familientypen (Stimmer 1990) gelingt diese Aufgabe nur unvollkommen. Es sind dies - die „überorganisierte" Familie mit einer zentripetalen Ausrichtung, einer nach innen gerichteten Anziehung, einem hohen Grad des Zusammenhalts mit sehr dichten Beziehungen und ausgeprägten Wünschen nach emotionaler Nähe und - die „unterorganisierte" oder „desorganisierte" Familie, mit einer zentrifugalen Ausrichtung, einem Schub nach außen, einem geringen Grad des Zusammenhalts, emotionaler Distanz und einer relativ hohen Beziehungslosigkeit.

Kindheit

Der „überorganisierte" Familientyp läßt sich zunächst in seiner „autoritäten" Ausprägung, für die erkennbarer Zwang und das Erwecken von Schuldgefühlen vorrangige „Erziehungsinstrumente" sind, beschreiben. Dieser Untertyp hat in den vergangenen vier Jahrzehnten, zumindest in Deutschland an Bedeutung verloren, wirkt aber nach wie vor. In der Lebensgeschichte von abhängigen Menschen tauchen immer wieder Erzählungen auf, die deutlich machen, wie sehr durch Androhung von Gewalt, manchmal noch schlimmer durch Erwecken von Schuldgefühlen, Kinder von früh an überfordert und gebrochen werden, so daß sie irgendwann die elterlichen Anordnungen widerspruchslos hinnehmen. Der zweite Untertyp der „überorganisierten" Familie ist durch eine übermächtige emotionale Bindung gekennzeichnet. Diese Familientypen, die der Psychoanalytiker Horst Eberhardt Richter (1970) so treffend mit „Sanatorium" und „Festung" umschrieben hat, haben eine enorme Sogwirkung auf alle Beteiligten. Beim Sanatoriumtyp wird Sicherheit dadurch gewonnen, daß die Familiengrenzen dichtgehalten werden. Es entsteht bei den Familienmitgliedern ein Gefühl, daß „draußen" eine feindliche Welt existiert, daß alles in Ordnung ist, solange die Familie nur zusammenhält und zusammenbleibt. Jeder Versuch der Abnabelung wird bei diesem Familientyp unterbunden, aber nicht durch äußeren Zwang, sondern mit sehr viel wirksameren Methoden. Schwere Schuldgefühle erwecken gehört sicherlich auch hierher, aber es gibt noch raffiniertere Strategien, um diesen Schonraum, zunächst natürlich von den Eltern ausgehend, später unter Mitwirkung auch der Kinder, über die Verwirrung der Realität zu sichern. Zwei Verhaltensmuster, die dem handelnden Mensch natürlich unbewußt bleiben, sind die „Mystifizierung" und die „Doppelbindung". Bei der Mystifizierung wird die Wahrnehmung von Menschen verwirrt. Wenn in einer Familie Aggressionen

Kindheit

tabu sind, werden sie aus der Wahrnehmung ausgeblendet. Hierher gehört aber auch ein Verhalten der Eltern, ihre Kinder zu „Prinzessinnen" oder „Helden" hochzustilisieren. Das hat nichts mit dem oft ja berechtigten Stolz der Eltern auf ihre Kinder zu tun, sondern blendet alles, was das überzogene elterliche Wunschbild stören könnte aus, dies mit der fatalen Folge, daß den Kindern ein absolut unrealistisches Selbstbild übergestülpt wird. Die Kinder haben hier die Phantasien der Eltern zu erfüllen. Alle Wahrnehmungen eigener Schwächen durch die Kinder werden verleugnet, indem das Schlechte, Böse, Schwache nach außen projeziert und dort quasi abgestellt wird oder auch bekämpft wird, wie dies beim Typ „Festung" der Fall ist, wo die Grenze wie beim Typ „Sanatorium" zwar auch eine sehr rigide ist, aber doch so etwas wie „Schießscharten" existieren. Wenn Mütter ihrem kleinen Prinzen verbieten mit einem bestimmten Jungen zu spielen, weil der immer so frech und ungezogen sei oder wenn Eltern ihr Mädchen zur Eisprinzessin hin trimmen, so sind das allbekannte Beispiele für dieses elterliche Verhalten, das aber in vielerlei Kleidern auftritt. Bei der Doppelbindung werden in einer Situation auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen (z.B. Sprache und Mimik) gleichzeitig widersprüchliche Botschaften vermittelt und zwar in der Form, daß die eine die andere aufhebt. Ein Beispiel ist etwa, daß die Mutter zum Kind sagt „Du bist mir die Liebste von allen!", gleichzeitig aber mit ihrer Mimik und Gestik ausdrückt, „Bleib mir nur vom Leib!". Für Kinder, die diese Erfahrung einseitig und häufig erfahren, entstehen Unsicherheit und Verwirrung, die eigene Wahrnehmung wird im Laufe der Zeit immer mehr angezweifelt. Der „unterorganisierte" Familientyp ist eine Art Gegentyp zum „überorganisierten" und gehört heute zur Erfahrung vieler Kinder und Jugendlicher. Wenn im „überorganisierten" Typ, etwas 359

Klassifikation

überzogen formuliert, die Regel gilt: „Passe Dich an unsere Regeln an und verändere Dich nicht!", so gilt für den „unterorganisierten" die Botschaft: „Vermeide jegliche verbindliche Regelung und ändere dich entsprechend Deinen Bedürfnissen ohne Rücksicht auf andere!". Menschen werden im Extremfall austauschbar, Partnerwahlen und Partnerbeziehungen einer egozentrischen Wunscherfüllung unterworfen und Verpflichtungen auch in den Familienbeziehungen lästig, wenn sie eingefordert werden. Der Partner, dem Liebe, Zuwendung, Unterstützung „in guten wie in schlechten Zeiten" versprochen wurde, wird durch den „Lebensabschnittspartner" ersetzt. Dieser Familientyp ist stets von Auflösung bedroht. Die Familienmitglieder haben eine ausgeprägte Außenorientierung. Sie sind meist an vielen außerfamilialen Gruppierungen beteiligt, allerdings jeder für sich und ohne daß diese Erfahrungen in die Familie eingebracht, diskutiert und verarbeitet werden. Für die Entwicklung der Kinder in diesen Familien mit einem geringen Kohäsionsgrad fehlt die notwendige emotionale Nähe. Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, weiterzuentwickeln und zu erproben bleibt weitgehend auf der Strecke, da sie eines Klimas bedürfen, das durch einfühlende Bestätigung und gegenseitiges Vertrauen geprägt ist. Ein solches familiales Umfeld läßt sicher Menschen heranreifen, die in vielen Feldern unserer Gesellschaft, wo Emotionalität und Mitgefühl verpönt sind, gut funktionieren. Andere verkümmern in dieser Welt, die emotional kalt bleibt und die zudem sehr wenig gesichert erscheint. Ein im Sinne der Persönlichkeitsbildung günstiger Familientyp ist der „dynamisch organisierte", der damit für die -•Prävention und »Gesundheitsförde rung eine positive Zielvorstellung abgibt. In diesem Familientyp wird die Balance zwischen Überorganisation und Unterorganisation, zwischen zentripeta360

Klassifikation

len und zentrifugalen Bestrebungen, zwischen Individualismus und Gruppenorientierung angestrebt. Kinder in solchen Familien können sich in einer vertrauensvollen und gesicherten familialen Umwelt entwickeln und ihre sozialen Kompetenzen in kleinen Schritten erwerben und erproben. Wiederum als Botschaft für das Kind formuliert, würde dies heißen: „Entwickle Dich, wir helfen Dir dabei!". Die flexible Gestaltung der familialen Aufgaben findet in einem Klima der Offenheit nach innen und nach außen statt, so daß ein entwicklungsförderliches Erleben von Nähe und Distanz sowie von Dauerhaftigkeit und Wandel gewährleistet wird. Auseinandersetzung findet über Aussprache und Diskussion statt bei gleichzeitigem Bemühen, zerstörerische Strategien wie Zwang, Schuldgefühle erwecken, Mystifizierungen oder Doppelbindungen zu vermeiden oder kurzfristig wieder aufzulösen. Bei diesem Familientyp werden egoistische und individualistische Bedürfnisse nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verbunden mit der klaren Setzung von Grenzen und mit der Fürsorge und Verantwortlichkeit für die anderen Familienmitglieder und letztlich auch mit einer Orientierung hin auf die Familie als Ganzes. •Elementarbereich; -•Familie; -»Jugend; -»Schule Lit.: Richter, Η. E., Patient Familie, Reinbek, 1970; Stimmer, F., Familie und Persönlichkeitsbildung. Sozialisation im Spannungsfeld des modernen Alltags, in: Annali die Sociologia - Soziologisches Jahrbuch 1990, I—II, S. 359-386; Stimmer, F., Suchtprävention schon im Kindesalter? in: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hrsg.), LJS-InfoDienst 1990, Nr. 1, S. 2-6. Franz Stimmer, Lüneburg Klassifikation

Durch K. wird versucht, die Vielfalt empirischer Erscheinungsformen durch Kategorisierung nach gemeinsamen

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

Klientenzentrierte Gesprächsführung/ Beratung Merkmalen zu reduzieren und durch Zusammenfassung zu übergeordneten Bezeichnungen zu gelangen. Im Suchtmittelbereich gibt es zum Teil sehr einfache und künstliche Klassifikationsversuche wie die Einteilung nach weichen und harten Drogen oder nach legalen und illegalen Drogen. Dabei kommt man sehr schnell in Erklärungsnöte, wenn Alkohol zwar eine harte aber dennoch legale Droge ist, Haschisch dagegen eine weiche aber illegale. Weitere Klassifikationsversuche sind etwa die Typenbildungen von Jellinek oder von Cloninger ( •Alkoholabhängigkeit; ~>Alkoholikertypen) oder die Bildung von -•Suchtstoffgruppen (-•Medikamentenabhängigkeit). -»ICD 10 und -•DSM IV sind Klassifikationssysteme der Medizin, in denen auch Suchterkrankungen bzw. Suchtfolgekrankheiten erfaßt sind. Die für medizinische und psychiatrisch/ psychotherapeutische Zwecke entworfenen Klassifikationssysteme haben allerdings den Nachteil im Hinblick auf die Komplexität der Lebenslage von problembelasteten Menschen entweder nur einen jeweils engen Ausschnitt zu berücksichtigen oder die psychosozialen Aspekte aus der medizinischen bzw. psychotherapeutischen Perspektive einseitig zu deuten. Mit dem in USA entwickelten Person-in-Enviroment ( - Φ Ι Ε ) steht ein neues klassifikatorisches Instrument zur Verfügung. Es handelt sich dabei um eine an professionellen Kompetenzbereichen orientierte Operationalisierung eines „ganzheitlichen" bzw. bio-psycho-sozialen Paradigmas. Die gängigen medizinischen und psychotherapeutischen Klassifikationssysteme des ICD 10 und des DSM IV sind als die Faktoren III und IV integriert. Für die -»Soziale Arbeit sind die Faktoren I (Probleme mit sozialen Rollen) und II (Umgebungsprobleme im Gemeinwesen) entscheidend.

Klientenzentrierte Gesprächsftthrung/ Beratung -•Psychotherapie; -•Humanistische Psychologie; -•Motivational Interviewing; -•Suchtberatung Kodein -•Codein Körpereigene Drogen Der menschliche Körper bildet -•Opioide (-•Medikamentenabhängigkeit), die -»Endorphine genannt werden. Dies sind Peptide (Eiweißmoleküle), die in ihrer Wirkung den -•Morphinen ziemlich ähnlich sind. Weil sie der Körper selbst produziert, wurden sie „endogene Morphine" oder „Endomorphine" und schließlich „Endorphine" genannt. Dabei handelt es sich um Neurotransmitter. Diese haben die Funktion, elektrische Impulse auf Nervenzellen zu übertragen, die durch den Impuls entweder gebremst oder angeregt werden. Die Gemeinsamkeit der Endorphine mit den äußerlich zugeführten Opioiden ist die, daß sie im Limbischen System auf die gleiche Art aufgenommen und verarbeitet werden, also dort, wo sich das emotionale Wohlbefinden gestaltet. Die Ausschüttung von Endorphinen führt zur Blockierung von Schmerz und Angst und bewirkt euphorische Zustände und intensive Glücksgefühle. Bei einer Vielzahl von ->stoffungebundenen Süchten wird genau diese Wirkung gesucht. -•Neue Süchte Körperliche Entgiftung (Alkohol) Nach meist jahrelangem Alkoholabusus treten bei unterlassener oder verminderter Zufuhr des Suchtstoffes Alkohol Entzugssymptome auf, die in ihrem Erscheinen sowohl psychischer als auch körperlicher Art sein können und zusammen als -•Entzugssyndrom bezeichnet werden. Dieses Syndrom kann dabei unterschiedliche Ausprägungen annehmen, wobei die schwerste Form als Entzugsdelir bezeichnet wird, das ohne medizinische Versorgung nicht selten tödlich endet und aus diesem Grund eine 361

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

sofortige stationäre Behandlung erfordert. Kompliziert werden kann ein Entzugssyndrom zusätzlich durch eine Mischabhängigkeit von mehreren unterschiedlichen Suchtstoffen, in Verbindung mit Alkohol handelt es sich dabei am häufigsten um Beruhigungsmittel aus der Gruppe der -»-Benzodiazepine, aber auch jede andere Kombination von Suchtstoffen (Distraneurin, andere Beruhigungsmittel, illegale Drogen) kann dabei auftreten. 1. Klinisches Bild 1.1 Entzugssymptome. Die Erscheinungsform der Symptome kann unterschiedlichen Gebieten der klinischen Medizin zugeordnet werden: - Vegetative Störungen: Herz-Kreislaufbeschwerden: Bluthochdruck, Tachykardie, Rhythmusstörungen; Magen-Darmbeschwerden: Appetitlosigkeit, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen; Schlafstörungen; erhöhte Schweißneigung; Juckreiz. - Neurologische Störungen: Tremor, Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Empfindungsstörungen. - Psychische Störungen: Angst, erhöhte Reizbarkeit, Unruhe, Gedächtnisstörungen, optische und akustische Halluzinationen, Verlust der Orientierung, Bewußtseinstrübungen. Die Schwere des Entzugssyndroms richtet sich nach der Menge und Ausprägung der einzelnen Symptome, wobei man im Allgemeinen in leicht, schwer, ohne und mit Krampfanfällen und ohne und mit Delir unterscheidet. Ein leichtes Entzugssyndrom beinhaltet mäßig ausgeprägte vegetative Störungen, die der Patient als deutlich beeinträchtigend erlebt, die aber keine Gefährdung für sein Leben darstellen, z.B. Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwitzen und Tremor. Bei einem schweren Entzugsyndrom kommt es zu einer objektiv ausgeprägten Behinderung des Patienten mit schweren vegetativen Störungen, z.B. starkem Blutdruckanstieg, starkem Erbrechen mit folgender Störung der Blutsalze 362

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

(Kaliumverlust) und der Gefahr von Schleimhauteinrissen in der Speiseröhre oder heftigem Schwitzen mit hohen Flüssigkeitsverlusten. Beginnende psychische Störungen (Unruhe, Ängste, illusionäre Verkennung) kennzeichnen den Übergang zum sog. Prädelir. Die schwerste Form des Entzugssyndroms wird als Delirium tremens bezeichnet, das eine akute Form der exogenen -»•Psychose darstellt. Es ist durch örtliche, zeitliche und situative Desorientierung, illusionäre Verkennungen und meist optische (akustische und taktile seltener) Halluzinationen zusätzlich zu den oben beschriebenen vegetativen Störungen gekennzeichnet. Die Letalität des unbehandelten Delirs wird mit 1530% angegeben (Feuerlein 1989), bei ausreichender Behandlung mit 1-8%. Ein Delir kann nach Abklingen in ein Wernicke-Korsakow-Syndrom münden, das akut (Wernicke) durch Sehstörungen, Koordinationseinschränkungen und Bewußtseinsstörungen gekennzeichnet ist und chronisch (Korsakow) zu einem sog. Amnestischen Syndrom führt, bei dem es zu Zeitgitterstörungen und Verlust des Kurzzeitgedächtnisses kommt. Diese Erkrankung tritt bei langjähriger Alkoholabhängigkeit häufig auch ohne vorhergehendes Delir auf. Krampfanfälle, die im Entzug im allgemeinen als „Grand mal" Anfälle (generalisiert) auftreten, stellen insbesondere durch die Verletzungsgefahr (Kopfplatzwunden, Knochenbrüche) ein weiteres Gefährdungsmoment dar. Ein schwer verlaufendes Entzugssyndrom kann außerdem durch Infektionen kompliziert werden, häufig handelt es sich dabei um Pneumonien. 1.2 Alkoholtoxische Folgeerkrankungen. Eine Alkoholentgiftung kann durch bereits eingetretene Folgeerkrankungen des übermäßigen Alkoholkonsums erheblich schwerer verlaufen, so daß zu Beginn eines Entzugs eine genaue Erhebung des körperlichen und psychischen Befundes unerläßlich ist, um die jeweilige Gefährdung einschätzen zu können

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

und eventuell zusätzliche therapeutische Maßnahmen zu ergreifen. Als Folgeerkrankungen gelten: - Internistische Folgeerkrankungen: Leber: Fettleber, Fettleber-Hepatitis, Leberzirrhose mit Gerinnungsstörungen, Eiweißmangel, Erhöhung des Ammoniak-Spiegels (kann zum Koma führen); Magen-Darm-Trakt: Pankreatitis (akut oder chronisch), Mundboden- und Speiseröhrenkarzinom, Gastritis und Oesophatigitis (Entzündung der Schleimhaut von Magen und Speiseröhre), MalloryWeiss-Syndrom (Einrisse in der Wand der Speiseröhre durch starkes Erbrechen), Oesophagusvarizen (Krampfadern in der Speiseröhre bei Leberzirrhose); Herz-Kreislaufsystem: Kardiomyopathie (vorzeitige Alterung und Erschlaffung des Herzmuskels), Hypertonus; Blut: Störung der Blutkörperchenbildung und deren Mangel; Muskel: Rhabdomyolyse (Zerfall der Muskulatur mit möglicher Schädigung der Nieren); Stoffwechsel: Erhöhung der Blutfette, Libido- und Potenzverlust, Störung der Menstruation, Diabetes mellitus (infolge einer Bauchspeicheldrüsenentzündung), Gicht. - Neurologische Folgeerkrankungen: Peripheres Nervensystem: Polyneuropathie (Sensibilitätsverlust der peripheren Nerven, Mißempfindungen, Muskelkrämpfe und -schwäche); zentrales Nervensystem: Kleinhirnatrophie mit Gangstörungen, Tremor und später Sprachstörungen; Wernicke-Korsakow-Syndrom: ausgelöst durch Thiaminmangel, s. o.; zerebrale Krampfanfälle: meist durch Entzug ausgelöst. - Psychiatrische Folgeerkrankungen: Alkoholentzugsdelir, s. o.; Alkoholhalluzinose: meist akustische Halluzinationen mit vorwurfsvollem oder kommentierendem Charakter; Depression und Ängste; Suizidalität. 1.3 Dauer des Entzuges. Die Dauer des Entzugssyndroms richtet sich in etwa

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

nach dessen Ausprägung und beträgt Tage bis höchstens wenige Wochen, wobei die Art der Behandlung eine wesentliche Rolle spielt. In der wissenschaftlichen Literatur wird die mögliche Erscheinung eines verlängerten Entzugssyndroms mit zeitweiligen vegetativen und psychischen Störungen über einen Zeitraum von 1-2 Jahren, diskutiert (Soyka 1995). 1.4 Mehrfachabhängigkeit. Ein Entzugssyndrom bei -•Mehrfachabhängigkeit ist in seinem Verlauf schlechter einzuschätzen als ein reines Alkoholentzugssyndrom, da insbesondere Benzodiazepine mit unterschiedlichen Halbwertzeiten und der Bildung von ebenfalls wirksamen Metaboliten wesentlich länger im Körper persistieren und es dadurch zu einem verzögerten >-Entzugssyndrom kommen kann. In Verbindung mit einem Alkoholentzug können zweizeitig Symptome entstehen (z.B. 1. und 2. Tag Alkoholentzug, 4.-6. Tag Benzodiazepinentzug). Ein Mißbrauch anderer Substanzen verändert bei ausgeprägter Alkoholabhängigkeit das E. nicht direkt wesentlich, so z.B. Cannabismißbrauch, gelegentlicher Kokainkonsum oder eine Beruhigungsmitteleinnahme im sog. -•low-dose Bereich, da das Alkoholentzugssyndrom hierbei in seiner Ausprägung überwiegen würde, aber in der längerfristigen Entwicklung können auch bei einer milden Schlafmittel- oder Beruhigungsmittelabhängigkeit insbesondere Schlafstörungen weit über das Entzugssyndrom hinaus das suchtmittelfreie Leben empfindlich belasten. Eine zusätzlich bestehende Opiatabhängigkeit erschwert das Entzugssyndrom, wobei das subjektiv erlebte Krankheitsgefühl des Patienten hier verstärkt ist und sich bei Opiatabhängigkeit während des Entzuges ein deutlich erhöhter Suchtdruck entwickelt, der nicht selten zum Abbruch führt. Opiatabhängige, die auf Methadon eingestellt wurden und sekundär eine Alkoholabhängigkeit entwickelt haben, können auch während des Alkoholentzugs ihr Methadon wei-

363

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

ter erhalten, so daß ein doppelter Entzug vermieden werden kann. 1.5 Diagnostik. Bei Aufnahme eines alkoholabhängigen Patienten zur stationären Entgiftung oder bei einer Untersuchung vor einer ambulanten Entgiftung sollte eine genaue körperliche und psychische Befunderhebung stattfinden und die Suchtanamnese mit Fragen nach Trinkmenge, vorhergehenden Entzugssyndromen, Krampfanfällen und Delirien erhoben werden. Unerläßlich ist dabei das Erfragen eventueller Suizidgedanken. Bekannte Allergien des Patienten sollten ebenfalls vermerkt werden. Eine Bestimmung des >Atemalkohols oder des -•Blutalkoholspiegels sowie, bei Verdacht, eine Urinuntersuchung auf bestimmte Drogen oder Medikamente sollte unbedingt erfolgen. Eine zusätzliche Laboruntersuchung kann auf Leberschäden, Gerinnungsstörungen, Veränderungen und Verminderung der Blutkörperchen, Bauchspeicheldrüsenentzündungen, Elektrolytstörungen, Muskelschäden, eine Gichtgefährdung, Vitaminmangel oder Entzündungen im Körper hinweisen. Weitere Hilfsmittel können EKG, EEG, Sonographie des Bauchraumes und eine Röntgenuntersuchung von Herz und Lunge sein. Eine genaue neurologische Untersuchung wird bei unklaren Bewußtseinsstörungen notwendig, eventuell muß in einem solchen Fall zum Ausschluß einer Blutung im Gehirn, z.B. nach Sturz bei Krampfanfall, auch eine Computertomographie des Gehirns durchgeführt werden. 1.6 Differentialdiagnosen. Ein Alkoholentzugssyndrom kann im klinischen Bild anderen Erkrankungen gleichen, insbesondere bei bekannter Alkoholabhängigkeit können diese anderen Erkrankungen deswegen übersehen werden. Delirante Symptome können bei Infektionskrankheiten (z.B. Pneumonien, Meningitis), Exsikkose, Schizophrenie, Entzündung der Bauchspeicheldrüse, Überfunktion der Schilddrüse und Erkrankungen des Gehirns (z.B. Tumore, 364

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

Trauma, Demenz) auftreten. Eine Hypooder Hyperglykämie und andere Stoffwechselentgleisungen können entzugsähnliche Symptome hervorrufen. 2. Ursachen. Die genauen Zusammenhänge und pathophysiologischen Ursachen für das Entzugssyndrom sind noch nicht genau geklärt (Wetterling 1997). Alkohol hat vielfältige Wirkungen auf das menschliche Gehirn, er greift insbesondere in die Neurotransmittersysteme des Nervensystems ein. Eine dauerhafte Zufuhr von Alkohol führt in diesen Systemen zu einem Versuch der Anpassung, um die schädigende Wirkung zu kompensieren. Fällt nun der Alkoholspiegel durch verminderte oder unterlassene Zufuhr, kommt es zu einer Störung des neuen, sehr labilen, Gleichgewichtes und zu einer Reaktion der betroffenen Transmittersysteme. Insbesondere scheint dabei die Erhöhung des Noradrenalins für die vegetative Komponente und die des Dopamins für die psychischen Symptome verantwortlich zu sein. Ein weiterer Faktor für den Verlauf des Entzuges ist der körperliche Allgemeinzustand des Patienten, bereits eingetretene Elektrolytentgleisungen können das Entzugssyndrom erschwerden. 3. Therapie. Die Behandlung des Alkoholentzugssyndroms richtet sich nach der Ausprägung und den eventuell vorhandenen Begleiterkrankungen, die nicht selten den eigentlichen Aufnahmegrund für das Krankenhaus darstellen, z.B. Lebererkrankungen für eine internistische Station, Knochenbrüche nach Sturz für eine chirurgische oder Krampfanfälle für eine neurologische Station. Nicht jedes E. muß im Krankenhaus behandelt werden, viele Abhängige versuchen aus Schamgefühlen, allein zu entziehen, auch gibt es die Möglichkeit unter ärztlicher Betreuung ambulant zu entgiften. Gründe für eine Krankenhauseinweisung sollten sein: schwere Begleit- oder Folgekrankheiten, Mischabhängigkeiten, Krampfanfälle oder De-

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

lire in der Vorgeschichte, beginnende delirante Symptomatik und schlechter Allgemeinzustand. Die oben genannten Gründe erklären die jeweilige Einweisung in somatische oder psychiatrische Krankenhäuser, wobei einem ernsthaften Abstinenzwunsch des Patienten dahingehend Rechnung getragen werden sollte, ihn einer qualifizierten Entgiftung zuzuführen, um eine bessere psychische und soziale Betreuung zu gewährleisten und damit die Chance der langfristigen Abstinenz zu verbessern. Die medikamentöse Therapie ist nur bei ausgeprägten vegetativen Störungen, immer aber bei psychischen Symptomen indiziert. Es stehen dafür unterschiedliche Medikamente zur Verfügung, die aber zum Teil selbst ein erhebliches Suchtpotential aufweisen. In Deutschland werden vorrangig folgende Medikamente verwendet: Clomethiazol (Distraneurin®), Diazepam (Valium®), Haloperidol (Haldol®), Carbamezepin, Clonidin und ß-Blocker. Entscheidend für die jeweilige Medikation ist die gewünschte Zielsymptomatik, die Ausstattung der jeweiligen Einrichtung (psychiatrische Station, Intensivstation) und die gesammelte Erfahrung mit den einzelnen Medikamenten: - Clomethiazol: gute Wirksamkeit gegen alle oben genannten Symptome, hat aber folgende Nachteile: Verschleimung der Atemwege, bei hoher Dosierung kann eine Beatmung notwendig sein, deswegen darf dieses Medikament nur auf Intensivstationen intravenös verabreicht werden; hohes Suchtpotential; allergische Reaktionen; sollte nicht ambulant verschrieben werden. - Diazepam: in den USA Mittel der Wahl; bei uns insbesondere bei Mischabhängigkeit anzuwenden; wirkt nicht bei psychotischen aber bei anderen oben genannten Symptomen; ebenfalls Atemdepression, aber nicht so ausgeprägt wie bei Clomethiazol, kann deswegen bei schweren Vorerkrankungen der Atemwege als Ersatz

Körperliche Entgiftung (Alkohol)

verwendet werden; hohes Suchtpotential. - Haloperiol: das Mittel der Wahl bei schweren psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen); nicht als Monopräparat zu verwenden, da es keine Wirkung auf vegetative und neurologische Symptome hat; bewirkt eine Erniedrigung der Krampfschwelle, so daß es leichter zu Krampfanfällen kommen kann; ausgeprägte Nebenwirkungsrate. - Carbamazepin: als Prophylaxe gegen Krampfanfälle, wirkt auch bei psychomotorischer Unruhe, aber nicht so gut wie Clomethiazol und Diazepam, wird deshalb häufig zusätzlich verwendet, oder bei ambulanten Entzügen und dementsprechend leichteren Symptomen. - Clonidin: gute Wirkung gegen die vegetativen Symptome, mäßige gegen psychomotorische Unruhe; kann in hohen Dosierungen nur auf Intensivstationen gegeben werden, da es zu starkem Blutdruckabfall führen kann. - ß-Blocker: ähnlich Clonidin gut wirksam gegen vegetative Symptome, insbesondere bei starken Blutdruckerhöhungen, ansonsten aber keine weitere Beeinflussung anderer Symptome, deswegen nur in Kombination zu verwenden. Bei schweren Entzügen gibt man zusätzlich Vitamin B, zur Behandlung oder Vorbeugung eines Wernicke-KorsakowSyndroms. Patienten mit einer Mehrfachabhängigkeit bedürfen eventuell einer anderen Medikation. Zuerst ist diagnostisch abzuklären, inwieweit der zusätzliche Substanzmißbrauch Relevanz hat, z.B. mit einem quantitativen Drogenscreening. Wenn hierbei hoch positive Werte nachgewiesen werden, muß man Kombinationsstrategien entwerfen. Bei Abhängigkeit von Alkohol und Benzodiazepinen kann das Diazepam aus der Gruppe der Benzodiazepine verwendet werden, man muß aber auf ein langsameres Ausschleichen achten wegen der oben er365

Koffein

Koka/Kokain

wähnten zweizeitigen Entzugssymptome. Eine zusätzliche Opiatabhängigkeit kann kombiniert mit oben genannten Medikamenten ausschleichend mit Methadon behandelt werden, diese Vorgehensweise bedarf allerdings gewisser Erfahrung und wird auf somatischen Stationen insbesondere aus Angst vor Mißbrauch durch Patienten nur selten angewendet. Lit.: Feuerlein, W., Alkoholismus-Mißbrauch und Abhängigkeit, Stuttgart, 4 1989; Soyka, M„ Die Alkoholkrankheit - Diagnose und Therapie, Weinheim, 1997; Wetterling, T„ Veltrup, C„ Diagnostik und Therapie von Alkoholproblemen, Berlin, 1997. Gunnar Carsten Witt, Lüneburg Koffein

K. oder Coffein ist ein -»Alkaloid aus der Gruppe der Purinderivate, das in den Samen des Kaffeebaumes und den Blättern des Teestrauches sowie in Mate, Kolanuß, Kakao u. a. vorkommt und Colagetränken und vielen Medikamenten (-•Medikamentenabhängigkeit; -•Xanthine) zugesetzt wird. K. wirkt erregend auf Hirnrinde, Atem- und Gefäßzentrum, was insgesamt als abnehmende Ermüdung, eine gewisse Euphorisierung und eine gesteigerte Leistungsfähigkeit wahrgenommen wird. Bei individueller K.-Unverträglichkeit oder auch bei zu hohen Dosen kommt es u. a. zu Erregungszuständen, Herzklopfen, Zittern, Schlafstörungen.

Koka/Kokain

Kokain ist der Hauptinhaltsstoff der Blätter der Kokapflanze. Sie wächst als Strauch unter den günstigen klimatischen Bedingungen der Anden-Ostseite in etwa 600 bis 1000 m Höhe. Seine anregende und leistungssteigernde Wirkung ist seit langem bekannt. Kokain fand Ende des letzten Jahrhunderts Eingang in die Medizin als Lokalanästhetikum. Seither ist auch seine abhängigkeitserzeugende Wirkung bekannt. In den 20er Jahren dieses Jahrhunderts wurde der Mißbrauch von Kokain in Deutschland zu einem Problem. Seit Anfang der 80er Jahre findet es erneut weite Verbreitung als Rauschdroge. Der Wirkstoff kann durch Kauen der KokaBlätter unter Zusatz von Pflanzenasche extrahiert und durch den Magen-DarmTrakt aufgenommen werden. Die Reinsubstanz Kokain hingegen wird in aller Regel geschnupft und über die Nasenschleimhaut resorbiert. Die Wirkungen sind qualitativ die gleichen, durch die unterschiedlichen Resorptionsverhältnisse in Ausprägung und Dauer aber doch verschieden. 1. Koka. In den Andenländern ist der Konsum von Koka-Blättern weit verbreitet. Sie werden zusammen mit alkalischen Zusätzen gekaut (Pflanzenasche). Die Wirkung der gekauten Koka-Blätter besteht in der Erzeugung einer milden Euphorie, einer subjektiv empfundenen allgemeinen körperlichen und psychischen Leistungssteigerung und in einer gewissen Anregung. Der

Tabelle 1: Wirkungen chronischen Koka-Konsums Psychische Veränderungen

Minderleistungen

Körperliche Veränderungen

Passivität Apathie Stumpfsinn herabgesetztes Interesse Euphorie Kritikschwäche

Merkfähigkeit Lernfähigkeit Konzentration Antrieb praktische Intelligenz

Blutbildveränderungen Augenerkrankungen Leberveränderungen Muskelatrophie Karies Mangelernährung herabgesetzter Allgemeinzustand reduzierte Körperhygiene

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Koka/Kokain

Koka/Kokain

chronische Koka-Konsum führt allerdings zu körperlichen, seelischen und sozialen Verfallserscheinungen. Es bildet sich ein Zustandsbild aus, das dem amotivationalen Syndrom (AMS) der chronischen -»Cannabis-Konsumenten ähnelt: Passivität, Verlust von Spontaneität, andererseits aber Euphorie und Stumpfsinn im Sinne mangelnder geistiger Anregbarkeit. Eine Reihe körperlicher Erkrankungen tritt hinzu. Auf Dauer werden auch die Merk- und Lernfähigkeit, die Konzentration und der Antrieb sowie die praktische Intelligenz herabgesetzt. 2. Kokain. Kokain ähnelt in seiner Wirkung manchen antidepressiven Medikamenten. Es hebt auch die Wirkung antidopaminerger Substanzen (z.B. Haloperidol) auf. Bei intravenöser Injektion kommt es zu schnell ansteigenden Plasmakonzentrationen. Eine Besonderheit des Kokains besteht darin, daß es über die intakte Schleimhaut resorbiert wird. Aufgrund seiner abhängigkeitserzeugenden Wirkung ist es in der Klinik durch synthetische Lokalanästhetika (Typ Prokain bzw. Lidokain) ersetzt worden. 3. Crack. Eine besondere Konsumform des Kokains ist das Crack. Während Kokain ein wasserlösliches Salz ist, handelt es sich beim Crack um die •Kokainbase. Die Substanz wird in einer Art Pfeife geraucht. Aus dem in der Pfeife

befindlichen Gemisch entsteht in der Hitze des Verbrennens flüchtige Kokainbase, die die Konsumenten einatmen. Es kommt dabei zu einer beträchtlichen Verstärkung der kokainspezifischen Wirkungen. Crack hat sich in kürzester Zeit Ende der 80er Jahre in den USA epidemisch ausgebreitet, zumal ein Preisverfall des Kokains parallel ging. Crack wirkt extrem schnell, führt zu einem sekundenschnell einsetzenden Rausch und zu einem überwältigenden „High"-Gefühl, hat ein hohes Euphorisierungspotential und damit auch ein besonders hohes Suchtpotential, welches dasjenige des Kokains noch übertrifft. In Deutschland ist Crackkonsum längst nicht in dem Maße verbreitet wie in den USA, es werden aber aus einzelnen Städten gewisse Verbreitungsziffern genannt, doch scheint das Crackrauchen ein primär auf die USA begrenztes Problem geblieben zu sein. 4. Psychische und körperliche Wirkungen von Kokain. Die psychischen Wirkungen (Tabelle 2) faßt man als Kokainrausch zusammen. Er verläuft in drei Abschnitten, die nur unscharf voneinander zu trennen sind: Im euphorischen Stadium kommt es zu positiv gefärbten Erlebnisumgestaltungen. Im Rauschstadium erfolgt der Ubergang zu ängstlich-paranoiden Erlebnisweisen. Der ausklingende Kokainrausch ist durch eine depressive Tönung des Erlebens

Tabelle 2: Kokainwirkungen bei einmaligem Konsum (fließende Übeigänge zwischen den einzelnen Stadien) Euphorisches Stadium

Rauschstadium

Depressives Stadium

Allgemeine positive Erlebnisumgestaltung: Euphorie Antriebssteigerung vermehrte Aktivität Abbau von H e m m u n g e n Kontaktverbesserung beschleunigtes Denken erhöhtes Selbstwertgefühl Libidovermehrung

Halluzinationen, vor allem akustischer und optischer Art allmähliches Abklingen der o. g. Wirkungen

Angst Unruhe Depression Getriebenheit Suizidgedanken paranoide Erlebnisumformungen

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Koka/Kokain

mit Angst und Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Dysphorie gekennzeichnet. Bei einmaligem Konsum von Kokain dominieren im körperlichen Bereich sympathikomimetische Herz-Kreislauf-Wirkungen (Tabelle 3). Es kommt zur Pupillenerweiterung, die Krampfschwelle wird gesenkt. Tabelle 3: Körperliche Wirkungen des Kokains bei einmaligem K o n s u m Sympathikomimetische Herz-KreislaufWirkungen: Tachykardie Vasokonstriktion Blutdruckanstieg Atemfrequenzanstieg Temperaturanstieg Mydriasis Erniedrigung der Krampfschwelle

Die körperliche Leistungsfähigkeit wird leicht erhöht. Das aber dürfte auf die Euphorisierung der Konsumenten und die damit verbesserte Leistungsbereitschaft zurückzuführen sein, nicht auf eine erhöhte Muskelkraft. Der Nachweis aus Körperflüssigkeiten ist mit gas- und dünnschichtchromatographischen Verfahren, aber auch durch enzym-immunologische Bestimmungsverfahren (EMIT) möglich. Die Giftwirkung setzt bei Ungewohnten bei 20 mg nach oraler Gabe ein. Die tödliche Dosis liegt bei etwa 1 g oral. Aber auch bei der Aufnahme von 40 mg Kokain sind bereits tödliche Vergiftungen beobachtet worden. Der Tod tritt unter den Zeichen des Herz-Kreislauf-Versagens, unter zerebralen Krampfanfällen und zentraler Atemlähmung ein. 5. Dauerkonsum von Kokain. Bei Dauerkonsum der Droge kommt es zur Abhängigkeit vom Kokain-Typ. Sie besteht aus starker psychischer, jedoch fehlender körperlicher Abhängigkeit und ausgeprägter Tendenz zur Dosissteigerung. Wie alle Abhängigen meinen auch Kokainabhängige, sie könnten den Konsum der Droge allemal aufgeben, sie hätten 368

Koka/Kokain

ihre Konsumgewohnheiten jederzeit in der Hand. Das mag in einem Anfangsstadium der Fall sein. Bei praktisch allen Suchtformen beobachtet man jedoch Vorstadien des sich intensivierenden Mißbrauchverhaltens, die individuell unterschiedlich lange dauern können. Die Frage, ob Kokainkonsum auch zu Toleranzbildung gegen bestimmte zentrale Wirkungen der Droge führen, ist in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet worden. Umgeht man mittels intravenöser Gabe die Aufnahmeverzögerung durch Vasokonstriktion, so sind deutliche Toleranzerscheinungen zu erkennen. Weitere psychische Wirkungen bei Dauerkonsum von Kokain (Tabelle 4) bestehen in Antriebs- und Konzentrationsstörungen, paranoiden Erlebnisumformungen, im Auftreten taktiler und akustischer Halluzinationen sowie optischer Verkennungen. Dazu kommen Interessenverflachung, affektive Nivellierung und amotivationale Entwicklung. Das sexuelle Empfinden liegt meist darnieder, wenn die Droge über einen längeren Zeitraum konsumiert wird. Die anfänglich stimulierenden Wirkungen treten zurück. Soziale Störungen und suchttypische Wesensänderungen (Depravationen) runden das Bild des chronischen Kokainkonsumenten ab. 6. Psychotische Zustände durch Kokain. Kokain gehört auch zu denjenigen Rauschdrogen, die - etwa wie das Cannabis - Psychosen auslösen können. Sie Tabelle 4: Kokainwirkungen bei chronischem Konsum Abhängigkeit vom Kokaintyp Halluzinationen (optischer, akustischer, taktiler Art) paranoide Erlebnisproduktionen blinde Aktivität (u. U. auch Lethargie bzw. Antriebsverlust) Konzentrationsstörungen Libidoverlust sozialer Verfall, Depravation kokaininduzierte Psychosen

Koka/Kokain sind schon vor mehr als einem halben Jahrhundert detailliert beschrieben worden. Dabei sind solche Formen, die Schizophrenien ähneln, von jenen zu unterscheiden, die ein eher „exogenes" Gepräge tragen und Delirien oder Korsakow-Syndromen gleichen, wie man sie vor allem vom Alkoholismus her kennt. Eine Besonderheit sind die mikrohalluzinatorisch-taktilen Psychosen. Dabei handelt es sich meist um Trugwahrnehmungen im Bereich der Haut („Kokaintierchen"). Das Risiko, an einer Psychose zu erkranken, wird durch Kokainkonsum erhöht. Man geht heute davon aus, daß kokaininduzierte Psychosen keine Krankheit sui generis, sondern in der Mehrzahl ausgeklinkte schizophrene Psychosen sind. 7. Die wichtigsten Gefährdungsmomente. Wegen der immer wieder auflebenden Diskussion um die Gefährlichkeit des Kokainkonsums seien nachfolgend noch einmal die wichtigsten Gefährdungsmomente zusammengefaßt: 1. Chronischer Kokainkonsum führt zur Abhängigkeit vom Kokain-Typ. 2. Dosissteigerung und wahrscheinlich auch Toleranzbildung gegen eine Reihe von Wirkungen der Substanz sind Teil dieses Abhängigkeitstyps. 3. Während einmaliger Konsum von Kokain zu typischen Rauschzuständen führt, ist bei chronischem Konsum neben der Abhängigkeit mit folgenden Wirkungen zu rechnen: Antriebs- und Konzentrationsstörungen, optische, akustische und taktile Halluzinationen, schizophrenie-ähnliche Psychosen, amotivationale Verhaltensstörungen (AMS). 4. Kokain wirkt schon in relativ geringen Dosen toxisch. 5. Kokainkonsum verstärkt für die Konsumenten die Suizidgefahr. 6. Kokain gehört zu den psychosefördernden Substanzen. 7. Auch der Konsum von Koka-Blättern in den Erzeugerländern führt zu einer Fülle eindeutig nachgewiesener

Koka/Kokain gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei der dortigen Bevölkerung. 8. In seiner Gefährlichkeit ist Kokain, verglichen mit Cannabis auf der einen und Heroin auf der anderen Seite, eindeutig stärker dem Heroin zuzuordnen. Mit ihm ist es in der Vielzahl der Konsequenzen am ehesten vergleichbar. 8. Behandlung. Die Behandlung der akuten Kokainvergiftung setzt zunächst eine exakte Diagnose voraus und orientiert sich an den Grundprinzipien der Intensivbehandlung von Vergiftungen. Dabei muß die zentral stimulierende Wirkung des Kokains berücksichtigt werden, die von einet zentral atemlähmenden Wirkung begleitet ist. Deshalb dürfen zur Sedierung des u. U. hoch erregten ζ. T. auch krampfenden Patienten keine Opiate eingesetzt werden. Das Mittel der Wahl ist Diazepam (-»•Medikamentenabhängigkeit), das die Krampfschwelle erhöht und zentral sedierend wirkt. Die weitere Behandlung der Kokainabhängigkeit richtet sich nach den Therapieprinzipien bei Opiatsüchtigen und Polytoxikomanen. Lit.: Andrews, G.; Solomon, D. (Hrsg.), The Coca Leaf and Cocaine Papers. Harcourt Brace Jovanovich New York and London, 1975; Ellinwood, Ε. H., Kilbey, Μ. M. (Hrsg.), Cocaine and other Stimulants. Plenum Press, New York and London, 1977; Grinspoon, L., Bakalar, J. B., Cocaine. A Drug and its social evolution. Basic Books, Inc. New York, 1976; Joel, E„ Frankel, F., Der Cocainismus. Springer, Berlin, 1924; Maier, H. W., Der Kokainismus. Geschichte/Pathologie/Medizinische und behördliche Bekämpfung. Thieme, Leipzig, 1926; Mule, S. J. (Hrsg.), Cocaine: Chemical, biological, clinical, social and treatment aspects. CRC Press Inc., Cleveland/Ohio, 1976; Täschner, K.-L., Harte Drogen, weiche Drogen? Trias, Stuttgart, 1997; Täschner, K.-L., Richtberg, W., Koka und Kokain - Kon369

Kokainbase

sum und Wirkung, 2. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln, 1987. Karl-Ludwig Täschner, Stuttgart Kokainbase K. ist ein noch stark verunreinigtes und relativ billiges Zwischenprodukt auf dem Weg der Produktion von den Blättern des Kokastrauches (östliche Andenausläufer) zu -»Kokain, einem wasserlöslichen Salz. Aus etwa 1000 Kokablättern entstehen ca. 5 kg Koka-Paste. Die K. ist eine Weiterverarbeitung der KokaPaste durch Reinigung mit Kerosin und unter Zugabe von Kalk. Nach dem Trocknen der K. erfolgt der Transport in die Laboratorien, wo die weitere Raffination erfolgt. -»Crack ist eine K.-Form. Kola-Nuß Samen des Kola-Baumes, der sich durch seinen •Koffeingchalt auszeichnet. Durch Kauen der frisch geernteten Samen können euphorische Zustände ähnlich dem des Alkohol erreicht werden. -•Drogenpflanzen Komorbidität 1. Begriffsbestimmung. Unter Komorbidität (K.) versteht man ganz allgemein das gemeinsame Auftreten von mindestens zwei Störungen bzw. Erkrankungen. Psychiatrische K. bezieht sich demgegenüber speziell auf das gemeinsame Auftreten psychischer Störungen. Das Vorliegen einer K. ist von erheblicher Bedeutung für das Verständnis, für den Verlauf und für die Behandlung einer psychischen Störung. Die moderne epidemiologische Forschung ist zu dem Ergebnis gekommen, daß viele psychische Störungen nur selten alleine auftreten. Besonders häufig tritt Alkoholismus gemeinsam mit anderen psychischen Störungen auf, vor allem gemeinsam mit Angststörungen, antisozialen Persönlichkeitsstörungen und affektiven Störungen. Hinsichtlich des gemeinsamen Auftretens von Alkoholismus und z.B. einer depressiven Störung werden vier Formen des Zusammenwirkens diskutiert: 370

Komorbidität

1. Die depressive Symptomatik entwikkelt sich vor dem Hintergrund einer langjährigen Alkoholabhängigkeit, sie wird als Folge langjährigen Alkoholmißbrauchs verstanden. In diesem Fall wird häufig auch von primärem Alkoholismus gesprochen. 2. Demgegenüber ist beim sekundären Alkoholismus - genau umgekehrt der übermäßige Alkoholkonsum Folge der depressiven Störung. Möglicherweise handelt es sich beim sekundären Alkoholismus um einen „Selbstbehandlungsversuch" der bestehenden depressiven Störung. 3. Alkoholismus und depressive Störung sind zwei unabhängig voneinander auftretende Erkrankungen. 4. Alkoholismus und depressive Störung sind unterschiedliche Manifestationen ein und derselben Erkrankung. Diese vier Formen des Zusammenwirkens werden auch für andere psychische Störungen diskutiert. Vermutlich existieren alle vier Formen des Zusammenwirkens, und für jede dieser Formen sind andere Ursachen und andere Krankheitsverläufe zu vermuten und andere Behandlungen indiziert. 2. Empirische Befunde. In den letzten Jahren hat sich das Komorbiditätsproblem zu einem wichtigen Forschungsgebiet im Bereich psychischer Störungen entwickelt. Vor allem die epidemiologische Forschung kann mit beachtlichen Ergebnissen aufwarten. Unterschieden werden Studien mit repräsentativen und mit behandelten Stichproben. In einer großen repräsentativen amerikanischen Studie fanden Regier u.a. (1990) bei 13,5% der Befragten eine Lebenszeitdiagnose Alkoholmißbrauch (5,6%) bzw. Alkoholabhängigkeit (7,9%). 45,0% dieser Probanden wiesen zusätzlich eine andere psychische Störung (36,6%) oder Drogenabhängigkeit (21,5%) auf. Umgekehrt sind bei 28,9% der Probanden mit einer anderen psychischen Erkrankung Alkohol(22,3%) oder andere Drogenerkrankun-

Komorbidität

gen (14,7%) zu verzeichnen. Für die K. von Alkoholismus mit Angst-, antisozialen Persönlichkeits- und affektiven Störungen sowie Schizophrenie erhielten Regier u.a. (1990) folgende Raten: 1. Angststörung: 19,4% der Alkoholiker (im folgenden incl. der Alkoholmißbraucher) erkrankten zusätzlich an einer Angststörung (1.5 odds ration), 17,9% der Probanden mit einer Angststörung erkrankten zusätzlich an Alkoholismus (1.5 odds ratio). 2. Antisoziale Persönlichkeitsstörung: 14,3% der Alkoholiker erkrankten zusätzlich an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (1.1 odds ration), 73,6% der Probanden mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erkrankten zusätzlich an Alkoholismus (2.7 odds ratio). 3. Affektive Störung: 13,4% der Alkoholiker erkrankten zusätzlich an einer affektiven Störung (1.9 odds ration), 21,8% der Probanden mit affektiven Störungen erkrankten zusätzlich an Alkoholismus (1.9 odds ratio). 4. Schizophrenie: 3,8% der Alkoholiker erkrankten zusätzlich an einer Schizophrenie (3.3 odds ration), 33,7% der Schizophrenen erkrankten zusätzlich an Alkoholismus (3.3 odds ratio). Im Vergleich zu dieser repräsentativen Bevölkerungsstichprobe liegt das Ausmaß der K. in behandelten Gruppen ζ. T. deutlich höher. Es variiert erheblich in Abhängigkeit von der Art der Behandlungseinrichtung. So liegen z.B. die Prävalenzraten von Angststörungen bei behandelten Alkoholikern zwischen 10% und 25% und von Schizophrenien zwischen 2% und 8%. Umgekehrt variieren die Einschätzungen von sekundärem Alkoholmißbrauch bei primären Angststörungen zwischen 7% und 36% und bei primär Schizophrenen zwischen 31% und 48%. Die hohen Komorbiditätsraten in behandelten Gruppen im Vergleich zu repräsentativen Bevölkerungsstudien sind dadurch erklärbar, daß für psychisch mehrfach Erkrankte eine stärkere Be-

Komorbidität

handlungsnotwendigkeit besteht als für einfach Erkrankte und sie daher auch häufiger in Behandlungseinrichtungen zu finden sind. Untersuchungen an behandelten Gruppen führen daher zu einer systematischen Überschätzung der „wahren K.". Die vorhandenen Untersuchungen belegen eindeutig, daß Alkoholismus eine Krankheit ist, die überzufällig häufig mit zusätzlichen psychischen Störungen zusammenfällt, die den Krankheitsverlauf nachhaltig negativ beeinträchtigen und damit zu einer Verschlimmerung der Abhängigkeit in Richtung auf eine sogenannte chronische Mehrfachschädigung führt (-»-Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker). K. steht in Zusammenhang mit einer schlechten Prognose. 3. Diagnostische Probleme. Die gängigen Klassifikationsprobleme psychischer Störungen >DSM IV (auch DSM III/III-R) und ->ICD 10 erlauben im Gegensatz zu früheren Versionen dieser Systeme durch das Konzept der multiplen Diagnosen (für einen Patienten können mehrere Diagnosen gestellt werden) die Diagnose von K. Damit werden diese Klassifikationssysteme der in der klinischen Praxis häufig anzutreffenden K. psychischer Störungen gerecht. Vor allem in der akuten Entzugsbehandlung ist es oft schwer, bei Patienten mit deutlichen psychischen Symptomen eine Unterscheidung zwischen einer Alkoholabhängigkeit (primärer Alkoholismus) und einer voll ausgeprägten psychischen Störung (sekundärer Alkoholismus) zu treffen. Eine solche Entscheidung läßt sich nur vor dem Hintergrund anamnestischer Daten fällen. Entscheidend ist, ob der Alkoholmißbrauch schon lange Zeit vor den ersten psychischen Auffälligkeiten bestanden hat oder ob genau umgekehrt der Alkoholmißbrauch den psychischen Symptomen zeitlich folgte. In der klinischen Praxis besteht das Problem, daß, nachdem eine erste Diagnose meist aufgrund eines leicht beobachtba371

Komorbidität ren Verhaltens gestellt wurde, entweder keine weiteren diagnostischen Untersuchungen mehr durchgeführt werden oder die weiteren diagnostischen Bemühungen darauf abzielen, die einmal gestellte Diagnose zu bestätigen. Dieses weit verbreitete Verhalten ist sicher damit dafür verantwortlich, daß in der Alkoholismusbehandlung so selten „Doppeldiagnosen" vergeben werden. Weiterhin besteht die Gefahr, daß beim Vorliegen einer sozial weniger stigmatisierten Störung andere Störungen, eventuell klinisch bedeutsamere Störungen übersehen werden. Diesen Problemen und Gefahren kann durch eine standardisierte Befunderhebung begegnet werden, z.B. durch den routinemäßigen Einsatz von Symptomchecklisten und von strukturierten klinischen Interviews. 4. Konsequenzen für die Behandlung. Für Alkoholiker, die zusätzlich an einer anderen psychischen Störung erkrankt sind, und für psychisch Erkrankte mit zusätzlichem Alkoholismus muß die üblicherweise durchgeführte Behandlung in vielen Fällen erheblich modifiziert werden. Gerade für diese Patienten ist der Ausbau eines differenzierten Behandlungssystems, das den unterschiedlichen Ursachen und Entwicklungen gerecht wird, erforderlich. Die „klassische" Suchtkrankenhilfe, bestehend aus Fachberatungsstellen, Suchtfachkliniken und Selbsthilfegruppen ist nur unzureichend auf Alkoholiker mit zusätzlicher psychischer Störung vorbereitet. Die meisten dieser Alkoholiker sind in den weniger spezialisierten psychiatrischen Krankenhäusern zu finden. Erforderlich ist zunächst einmal eine gründliche psychologische, auch neuropsychologische Diagnostik, um Alkoholiker mit zusätzlicher psychischer Störung überhaupt identifizieren zu können. Weiterhin muß gerade für diese Gruppe von Alkoholikern das Behandlungsziel neu bestimmt werden. Für einen großen Teil dieser Alkoholiker ist eine weitergehende gezielte psychotherapeutische 372

Komorbidität Behandlung unumgänglich. Vermutlich sind nicht primär Spezialeinrichtungen erforderlich, sondern maßgeschneiderte Therapien im Rahmen bestehender Behandlungsprogramme, die vom therapeutischen Personal ein hohes Maß an beruflicher Qualifikation verlangen. 5. Ausblick. Die vorhandenen Theorien zur Entstehung einzelner psychischer Störungen (auch Alkoholismus) wurden hauptsächlich auf der Grundlage von Patienten entwickelt, die nur an einer Störung erkrankt sind. Entsprechend spezifisch sind die Behandlungsansätze. Da K. nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel ist, ist die Entwicklung von Theorien multipler psychischer Störungen erforderlich. Eine solche Theorie fragt z.B. nach den Ursachen für das überzufällige Vorhandensein von Alkoholismus und anderen psychischen Störungen, sie fragt danach, ob übermäßiger Konsum von Alkohol die Entstehung psychischer Störungen begünstigt und welche Mechanismen ggf. dafür verantwortlich sind, sie fragt ganz allgemein nach dem gegenseitigen Beeinflussungs- und Bedingungsgefüge von Alkoholismus und psychischer Erkrankung. Auf der Grundlage einer solchen Theorie ließen sich dann auch gezielt Behandlungsansätze für Alkoholiker mit zusätzlicher psychischer Störung entwickeln. Dieser Perspektivenwechsel stellt eine Herausforderung künftiger Theorieentwicklung dar. -•Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker; -•Psychiatrie; -•Psychosen Lit.: Hilge, T., Entwicklung eines Meßinstruments zur Erfassung chronisch mehrfach geschädigter Alkoholkranker: die Braunschweiger Merkmalsliste (BML). Unveröff. Dissertation, Technische Universität Braunschweig, 1998; Regier, D. Α., Farmer, Μ. E„ Rae, D. S., Locke, Β. Z„ Keith, S. J„ Judd, L. L. Goodwin, F. K., Comorbidity of Mental Disorders With Alcohol and Other Drug Abuse. Results from the Epidemiologic Catchment Area (ECA) Study, in: Jour-

Konsummuster in Ost und West

Konsum nal of the American Medical Association 264 (1990), 2511-2518; Wiesbeck, G. Α., Schröder, S. G„ Czogalik, D„ Täschner, K. L., Zur Komorbidität psychischer Erkrankungen und Abhängigkeit, in: Sucht 40 (1994), 156-164. Wolfgang Schulz, Braunschweig Konsum K. wird im Suchtmittelbereich als relativ neutrales Wort für die Zuführung von unterschiedlichen Substanzen - je nach Konsumgegenstand oral, durch Rauchen, durch Inhalation oder durch Injektion - verwendet. Während bezüglich dieses Begriffs bei den „Alltagsdrogen" (-»•Alkohol, ---Kaffee, -"Tee, - -Tabak) und bei vielen Medikamenten (- "-Medikamentenabhängigkeit) eher eine verharmlosende Tendenz vorherrscht, wird bei „kulturfremden" Drogen wie Haschisch (-»-Cannabis) schon der K. schnell dramatisiert und bei Drogen wie -•Heroin oder -»-Kokain wird der K.-Begriff, auch aufgrund rechtlicher Vorschriften, fast ausschließlich synonym mit -»-Mißbrauch, -»-Abhängigkeit oder -•Sucht verwendet. Konsument Der Begriff K. wird, entsprechend der Definition von -»Konsum, diskriminierend verwendet. Wenn von Drogenkonsumenten die Rede ist, sind Konsumenten illegaler Drogen gemeint, während Begriffe wie Alkoholkonsument, Medikamentenkonsument oder Zigarettenkonsument ungewöhnlich sind. Konsummuster in Ost und West K. im Sinne von sich wandelnden Konsumgewohnheiten lassen sich anhand der Statistiken der Getränke-, Pharmaund Tabakindustrie sowie der regelmäßig im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführten Repräsentativerhebungen zum Gebrauch -»•psychoaktiver Substanzen (Alkohol, Medikamente, illegale Drogen und Tabak) beschreiben. In diesen Befragungen wurden 1990 erstmals auch die neuen Bundesländer berücksichtigt. Er-

gänzend zur Beschreibung bemüht sich die psychologische und soziologische Forschung um eine Aufklärung der Determinanten bzw. Einflußfaktoren dieser Konsummuster und ihrer Veränderungen in Abhängigkeit von soziokulturellen und psychologischen Variablen. Alkohol. In beiden Teilen Deutschlands hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch reinen Alkohols seit den 50er Jahren von rund 4 Litern auf 12 bis 13 Liter der 90er Jahre etwa verdreifacht. Trotz der vergleichbaren Menge reinen Alkoholkonsums werden bei der Differenzierung nach Alkoholsorten deutliche Unterschiede in den K. deutlich. Der Bierkonsum stieg bei etwa gleichem Ausgangsniveau in Ost und West bis zu Beginn der 80er Jahre gleichermaßen an und erreichte in der Folge in beiden Teilen Deutschlands ein nahezu stabiles Niveau von rund 140 bis 150 Liter Bier pro Kopf und Jahr. Analog verdoppelte sich der Spirituosenkonsum in Ost und West bis zum Jahr 1975 auf jeweils rund 8 Liter pro Kopf. Im Westen trat dann zunächst eine Stagnation dieses Konsums, in den 80er Jahren schließlich ein Rückgang auf etwa 6 Liter pro Jahr und Einwohner ein. Im Osten hingegen hielt der Aufwärtstrend des Spirituosenkonsums bis 1988 an, wobei der ProKopf-Verbrauch eine Höchstmarke von 16 Litern erreichte. Bezogen auf den Wein- und Sektkonsum ist über die vier Jahrzehnte hinweg in Ost und West ein paralleler Aufwärtstrend zu beobachten, doch war der Jahresverbrauch im Osten stets um rund 10 Liter geringer als der Konsum im Westen, der 1990 bei rund 26 Liter pro Kopf lag. Diese unterschiedlichen K. können unter anderem auf dem Hintergrund der Verfügbarkeit bzw. des Preisniveaus in den beiden Staaten interpretiert werden. In der DDR bestand ein insgesamt eingeschränktes aber relativ preiswertes Alkoholikaangebot. Spirituosen zählten dabei zu den zuverlässig und reichhaltig verfügbaren Alkoholsorten. In der früheren BRD hingegen dämpften etwa wiederholte Branntweinsteuererhöhun373

Konsummuster in Ost und West gen regelmäßig die Konsumzahlen für Spirituosen. Seit der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands lassen sich weitere Änderungen der K. beobachten. Bezogen auf die bevorzugten Alkoholsorten besteht seit 1988 im Osten ein Abwärtstrend des Spirituosenkonsums. Zugleich ist ein steiler Anstieg des Wein- und Sektkonsums zu verzeichnen. Jüngere Statistiken weisen jedoch die Konsummengen nicht mehr getrennt für Ost und West aus. Für 1996 wird für Deutschland ein Pro-Kopf-Verbrauch von 10,9 Litern reinen Alkohols ausgewiesen, was im Vergleich zu 1990 einem Konsumruckgang um rund 7,6% entspricht. Dies spiegelt sich auch in den Daten der Repräsentativerhebungen aus den Jahren 1990 und 1995, wobei weitere Besonderheiten der K. deutlich werden. In diesem Zeitraum ist in beiden Teilen Deutschland der Anteil von Personen, die nie Alkohol trinken, gestiegen. Der Anteil alkoholabstinenter Personen ist jedoch im Westen für beide Geschlechter zu beiden Erhebungszeitpunkten höher als im Osten. Bei ostdeutschen Männern findet sich zudem ein höherer Anteil schädlichen Alkoholkonsums (> 40 g Reinalkohol/Tag) im Vergleich mit westdeutschen Männern. Trotz geringerem Anteil abstinenter Frauen in Ostdeutschland sind die prozentualen Anteile der Frauen mit schädlichem Alkoholkonsum (> 20 g Reinalkohol/Tag) in Ost und West ausgeglichen. Jugendliche machen in Ost und West am häufigsten zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr erste Erfahrungen mit Alkohol. In der Altersgruppe der 14—16jährigen liegt die Prävalenzrate des Alkoholkonsums im Westen höher als im Osten. Ebenso konsumieren Jugendliche im Westen regelmäßiger weiche und harte Alkoholika als im Osten, obwohl Jugendliche aus dem Osten insgesamt häufiger erste Erfahrungen mit harten Alkoholika angeben. Mit Beginn des dritten Lebensjahrzehnts wandeln sich dann offenbar die K. in Richtung auf die 374

Konsummuster in Ost und West oben beschriebenen Konsumgewohnheiten der Erwachsenen aus den beiden Landesteilen. Die wenigen Studien zu differentiellen Einflußfaktoren auf den Alkoholkonsum in Ost und West verweisen eher auf vergleichbare Moderatorvariablen. Als Determinanten des Alkoholkonsums Jugendlicher werden inadäquate Problemlösestile, konsumorientiertes Freizeitverhalten, die Einbindung in suchtmittelkonsumierende Gruppen sowie hedonistisch geprägte Werthaltungen genannt. Fehlende oder unangepaßte Bewältigungsstrategien werden neben Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. Einstellungen, Erwartungen, Kontrollüberzeugungen) auch als Moderatorvariablen des Alkoholkonsums von Erwachsenen bestimmt. Zusätzlich beeinflussen eher externale Faktoren wie soziale Unterstützung, Partnerschafts- oder Familienklima und Konsummuster des sozialen Umfeldes die Konsumgewohnheiten. 2. Illegale Drogen. Während -»illegale Drogen in der früheren BRD seit den sechziger Jahren verstärkt auf den Markt kamen und Drogenabhängigkeit zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde, waren die Substanzen in der DDR kaum beschaffbar und galten sie gemeinhin als Gefahr aus dem kapitalistischen Westen. Mit der Maueröffnung wurde dann von unterschiedlicher Seite eine Überflutung der ostdeutschen Länder mit illegalen Drogen vorhergesagt; eine entsprechend problematische Entwicklung blieb jedoch aus: Zwar nahm die Verfügbarkeit illegaler Drogen (zumindest in den größeren Städten) von Jahr zu Jahr deutlich zu, die Probierbereitschaft der Jugendlichen (d. h. der Hauptkonsumentengruppe) stieg im Vergleich dazu jedoch nur langsam an und bezieht sich nach wie vor hauptsächlich auf weiche Drogen (d. h. Cannabisprodukte). Der tatsächliche Konsum lag in den neuen Bundesländern auch fünf Jahre

Konsummuster in Ost und West

Konsummuster in Ost und West

illegaler Drogen in der Jugend dieser Altersgruppe zurückführen. Die augenscheinlich hohen LifetimePrävalenzen zum Gebrauch illegaler Drogen gehen hauptsächlich auf den Konsum weicher Drogen zurück, wobei diese zudem von ca. 2 h der Personen nur einmalig probiert wurden. Die 12-Monats-Prävalenzen betrugen 1995 im westlichen Deutschland bei 18-39jährigen Erwachsenen insgesamt für -»Kokain 1,6%, für Aufputschmittel 1,5%, für -•LSD 1,0%, für »Heroin 0,4% und für andere -»Opiate 0,5%. In den ostdeutschen Ländern lagen die 12-Monats-Prävalenzen für Aufputschmittel, LSD und Kokain zwischen 0,3 und 0,4%; für Heroin und andere Opiate lagen sie im nicht erfaßbaren Bereich.

nach der Wiedervereinigung insgesamt deutlich unter dem Niveau der alten Länder. In Westdeutschland stieg von 1990 bis 1995 der Anteil der 18-39jährigen Erwachsenen, die mindestens einmal illegale Drogen konsumiert hatten (Lifetime-Prävalenz) leicht auf etwa 21% an, in den ostdeutschen Ländern stieg der Anteil in diesen Jahren von 1,0% auf 7,1%. Neben der Zunahme des -•Cannabiskonsums ist im Osten v. a. ein verstärkter Konsum von Aufputschmitteln für diese Steigerung verantwortlich. Trotz der insgesamt deutlichen OstWest-Unterschiede waren die K. 1995 in begrenzten Altersbereichen bereits ähnlich: In den alten Bundesländern hat in der Altersspanne von 18 bis 29 Jahren durchgängig ca. 'At der Personen Drogenerfahrungen. In Ostdeutschland ist der Anteil in der Gruppe der 20-24jährigen vergleichbar hoch, in der Gruppe der 18-20jährigen jedoch geringer und in der Gruppe der 25-29jährigen nochmals geringer (siehe Abb. 1). Die niedrigsten Prävalenzraten finden sich in Ost und West bei den über 30jährigen. Daß hier wiederum die Raten in den neuen Bundesländern besonders niedrig sind, läßt sich auf die fehlende Verfügbarkeit

Insgesamt werden illegale Drogen häufiger von Männern als von Frauen eingenommen, dieser Geschlechterunterschied ist in Ostdeutschland mit 3:1 allerdings extremer als im Westen (2:1). 3. Medikamente. Die Muster des Medikamentenkonsums in Ost- und Westdeutschland waren bereits 1990 weitgehend vergleichbar und sind es nach wie • Lifetime

West 30

24,8

27 4

'

• 12 M o n a t e

25,5

20 10,1

10

1,6

0 18 - 20 J.

30

21 - 2 4 J.

14,2

10

— —

• Lifetime • 12 M o n a t e

11,7 4,5

2,1

0 1 8 - 2 0 J.

30 - 59 J.

Ost

25,1

20

25 - 29 J.

21 - 2 4 1.

25 - 29 J.

1

0,2

30 - 59 J.

Abb. 1: Lifetime- und 12-Monats-Prävalenz des Konsums mindestens einer illegalen Droge für unterschiedliche Altersgruppen in West- und Ostdeutschland

375

Konsummuster in Ost und West vor. Die Ähnlichkeit der K. bezieht sich sowohl auf die Art der eingenommenen Mittel (wenn auch unter verschiedenen Handelsnamen) als auch auf die Häufigkeit und Menge der Einnahme und den Konsum in unterschiedlichen Altersgruppen. Eine Studie zum Konsumverhalten von Frauen zeigte 1995 darüber hinaus ein vergleichbares Ausmaß von abhängigem bzw. abhängigkeitsgefährdendem Medikamentenkonsum in Ost und West. Für beide Landesteile gilt, daß Frauen in größerem Umfang Medikamente konsumieren als Männer und daß der Konsum mit dem Alter zunimmt. An erster Stelle der häufig eingenommenen Medikamente stehen Schmerzmittel. In der Repräsentativerhebung von 1995 wurde ermittelt, daß in Westdeutschland 12,1% der 18- bis 59jährigen mindestens einmal pro Woche Schmerzmittel einnehmen (14,3% der Frauen und 9,9% der Männer); in Ostdeutschland beträgt der Anteil 9,7% (12,0% der Frauen und 7,4% der Männer). In deutlich geringerem Ausmaß werden Beruhigungsmittel (3,6% in West- und 5,7% in Ostdeutschland), Schlafmittel (2,6% und 4,2%), Abführmittel (1,4 und 1,7%), Anregungsmittel (0,9 und 0,8%) und schließlich Appetitzügler (0,8 und 0,6%) eingenommen. (-•Medikamentenabhängigkeit) 4. Tabak. In beiden Teilen Deutschlands stieg der Zigarettenverbrauch seit den 50er Jahren bis zu Beginn der 80er Jahre stetig an. Der Pro-Kopf-Verbrauch lag dabei im Osten stets etwas unterhalb des Verbrauchs im Westen, der mit rund 2000 Zigaretten pro Kopf und Jahr ein Maximum erreichte und danach leicht rückläufig war. Im Osten hielt der Aufwärtstrend bis Ende der 80er Jahre an und pendelte sich mit rund 1850 Zigaretten pro Kopf und Jahr gegen Ende der 80er Jahre auf das Westniveau ein. Seit der Wiedervereinigung konnte einige Jahre ein Rückgang des Zigarettenkonsums beobachtet werden. Zwischen 376

Konsummuster in Ost und West 1993 und 1996 stieg der Pro-Kopf-Verbrauch jedoch wieder um 6% an und lag bei rund 1600 Zigaretten. Bezogen auf die Bevölkerung über 15 Jahren liegt der Anteil der Raucher insgesamt im Osten bei 37%, im Westen bei 36%. In beiden Landesteilen rauchen Männer deutlich häufiger als Frauen, wobei dieser Unterschied im Osten stärker ausgeprägt ist als im Westen. Frauen im Osten rauchen seltener und zudem im Durchschnitt auch weniger Zigaretten pro Tag als Raucherinnen im Westen. Bezogen auf die Altersgruppe der 18 bis 59jährigen Raucherinnen sind im Westen 38,5% und im Osten nur 18,2% als starke Raucherinnen zu kategorisieren (> 20 Zigaretten/Tag). Die Konsummengen von Rauchern aus Ost und West sind eher vergleichbar: jeweils knapp die Hälfte der Raucher konsumieren mehr als 20 Zigaretten pro Tag. Im Westen wird häufiger als im Osten schon früh - im Alter zwischen 12 und 14 Jahren - mit dem Rauchen begonnen. In beiden Landesteilen ist jedoch die Mehrheit der Raucher bei Beginn des Tabakkonsums noch unter 18 Jahren (West 75%; Ost 70%). Im Vergleich der Mikrozensusdaten aus den Jahren 1992 und 1996 ist bei Männern aus beiden Landesteilen ein leichter Rückgang der Raucher zu verzeichnen, während der Anteil rauchender Frauen sich jedoch nicht verändert hat. -•Nikotin Lit.: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht '93, '94, '97, '98, Geesthacht, '93, '94, '97, '98; Elsesser, K„ Kötter, S., Algermissen, G., Franke, Α., Sitzler, F., Gesundheit und Abhängigkeit bei Frauen. Ein Vergleich von Frauen aus Dortmund und Magdeburg, in: Begenau, J. und Helfferich, C. (Hrsg.), Frauen in Ost und West - Zwei Kulturen, zwei Gesellschaften, zwei Gesundheiten, Freiburg, 1997; Franke, Α., Elsesser, K., Sitzler, F.; Algermissen, G., Kötter, S., Gesundheit und Abhängigkeit von Frauen. Eine

Kontrollierter Konsum von illegalen Drogen

Konsumsucht salutogenetische Verlaufsstudie, Dortmund, 1997; Herbst, K„ Kraus, L., Scherer, K., Repräsentativerhebung 1995. Schriftliche Befragung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland, Bonn, 1996; Nordlohne, E., Reißig, M., Hurrelmann, K., Drogengebrauch in Ost und West. Zur Situation des Drogengebrauchs bei Jugendlichen in den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik, in: Sucht 39 (1993), 1, 10-34; Simon, R„ Bühringer, G., Wiblishauser, R M., Repräsentativerhebung 1990 zum Konsum und Mißbrauch von illegalen Drogen, alkoholischen Getränken, Medikamenten und Tabakwaren, Bonn, 1991. Karin Elsesser, Wuppertal Franziska Sitzler, Dortmund Konsumsucht K. ist eine moderne Form der -•stoffungebundenen Süchte (-•Neue Süchte). Wie bei den meisten anderen Suchtformen auch, sind die Ubergänge zwischen Konsum, Mißbrauch und Abhängigkeit fließend. Um einen Konsum als süchtig zu bezeichnen, muß das Verhalten der Konsumenten den Kriterien von -•Mißbrauch bzw. -»Abhängigkeit entsprechen. Ein typisches Symptom von Kaufsucht, Konsumsucht, eines Kaufrausches oder des „Shopaholism" ist das zwanghafte und unkontrollierte Kaufen von Dingen, die eigentlich nicht gebraucht werden und deren Kauf zudem häufig den vorhandenen Etat bei weitem übersteigen, was zu erheblichen Verschuldungen führen kann (-»Schuldnerberatung). Desweiteren ist ein zunehmend stärker werdender innerer Druck bei Kaufsüchtigen feststellbar, der erst mit dem Kauf der Ware nachläßt. Dies ist vergleichbar mit einem Alkohol- oder Heroinabhängigen, der die Erlösung erst mit der Zufuhr der Droge erlebt. Wie bei diesen, ist das Glücksgefühl (-»Kick/ Thrill) beim Kauf meist schnell vorbei und macht der Katerstimmung (Schuldgefühle, depressive Verstimmungen) Platz mit der Folge, daß der Zwang zu

kaufen wieder steigt und der Kreislauf fortgesetzt wird. Kontaktläden K. sind Einrichtungen -»niedrigschwelliger Angebote (Kaffee- und Teeausschank, Spritzentausch, medizinische Basisversorgung, Beratung u. a.). -»-Akzeptierende Drogenarbeit Kontrollierte Drogenabgabe In der Debatte um die -•Drogenpolitik und Hilfen für Abhängige wird immer wieder die k. D. diskutiert. Im Gespräch ist etwa der Verkauf von -»Cannabisprodukten durch Apotheken oder die Applikation von -»Heroin unter strengen Indikationskriterien an schwerstabhängige Konsumenten durch dafür beauftragte Ärzte. Als Vorteile dieses Verfahrens werden u. a. eine bessere Kontrolle der Zusammensetzung der Drogen, eine gewisse -»Entkriminalisierung der Konsumenten sowie ein Rückgang des illegalen Drogenhandels und vor allem eine Reduzierung gesundheitlicher Probleme gesehen. Andererseits wird eine Ausweitung des Drogenkonsums befürchtet. -»Drogenfreigabe; -»Ethik Kontrollierter Alkoholkonsum nach Abhängigkeit -»Kontrollverlust Kontrollierter Konsum von illegalen Drogen Die Annahme, daß illegale Drogen nicht kontrolliert konsumiert werden können, läßt sich für -»Cannabisprodukte sicher nicht bestätigen, sie ist aber auch für Drogen wie -»Ecstasy, -»Kokain und selbst für -»Heroin in ihrer Pauschalität nicht aufrechtzuerhalten. Inzwischen gibt es eine Reihe von Erkenntnissen, daß dies sehr wohl möglich ist, wenn auch vielleicht nur in einer geringen Zahl der Fälle. So wurde in der RobinsStudie (1976) über Kriegs-Veteranen, die in Vietnam Opium konsumiert hatten und zum Teil abhängig wurden, festgestellt, daß viele von ihnen nach ihrer Rückkehr in die USA den Gebrauch einfach wieder eingestellt haben (-»Matur377

Kontrollverlust ing out). Von denjenigen, die in ihrer Heimat auf einen gelegentlichen Heroinkonsum umgestiegen sind (10%) wurden nur 1% erneut süchtig. D. h., daß Opiatkonsum nicht zwangsläufig zu einer Abhängigkeit führt und daß Abhängige nicht zwangsläufig für immer abhängig bleiben müssen, sondern auch auf einen gelegentlichen Konsum umsteigen können. Dadurch wurde auch auf die besondere Bedeutung der sozialen Umstände des Drogenkonsums hingewiesen, die auch beim Opiatkonsum bei ein und derselben Person pathogen oder protektiv wirken können. Ein wesentliches Kriterium nach dem sich kontrollierte Heroinkonsumenten von nicht-kontrollierten unterscheiden, scheint zu sein, daß sie ihren Konsum, wie Gesellschaftstrinker, ritualisieren. -•Kontrollverlust Kontrollverlust Der Begriff K. wurde zunächst von Jellinek in seiner Alkoholismustypologie ( »Alkoholikertypen) und seinem -»•Phasenmodell der Alkoholabhängigkeit als zentrales Kriterium für -•Abhängigkeit bzw. -»-Krankheit eingeführt. Unter K. in diesem Modell wird die Unfähigkeit verstanden, mit dem Trinken aufzuhören, wenn einmal damit begonnen wurde, d. h. daß erst ein erheblicher Rauschzustand oder äußere Einflüsse das Trinken beenden. Phasen der Abstinenz sind aber möglich. Inwiefern diese Art des Kontrollverlustes, die primär auf die psychische Abhängigkeit bezogen ist (Gamma-Alkoholismus), lebenslang erhalten bleibt, also eine totale -•Abstinenz als primäres Behandlungsziel gelten muß oder ob kontrolliertes Trinken, eventuell bei veränderten sozialen Umständen (-»kontrollierter Konsum von illegalen Drogen) möglich ist, sind noch keine sicheren endgültigen Aussagen zu machen. Der Begriff des K. sollte logischerweise erweitert werden und die Unfähigkeit zur Abstinenz (Delta-Alkoholismus) als zweite Form mit einbezogen werden, bei der es ohne das notwendige tägliche Quantum Alkohol zu quä378

Kosten-Nutzen-Analyse lenden Entzugserscheinungen kommt. Auch hier ist die Frage, ob nach einem -•Entzug und einer -»Entwöhnung bei einer stabilisierenden sozialen Umgebung kontrolliertes Trinken möglich ist, eine Frage, zu deren Klärung es eine Reihe von Versuchen gibt, wissenschaftlichen wie Selbstversuchen, die aber noch keine klare Stellungnahme zulassen. Der aller Erfahrung nach sicherere Weg ist heute ohne Zweifel die Abstinenz. Der Begriff K. wird teilweise auch auf andere -»stoffgebundene und -»stoffungebundene Süchte übertragen. Korsakow-Syndrom Das K.-S. (Amnestisches Syndrom) tritt manchmal als Folge einer chronischen -•Alkoholabhängigkeit auf (aber auch bei anderen Vergiftungen und organischen Hirnerkrankungen). Zentrale Auswirkungen sind Orientierungsstörungen und Kurzzeit-Gedächtnisstörungen bei intaktem Langzeitgedächtnis sowie häufig auch Konfabulationen. Das K.-S. gilt als organisch bedingte psychische Störung. Bei Alkoholmißbrauch beginnt die Krankheit in der Regel nach einem -•Delirium tremens. Bei absoluter Abstinenz besteht die Hoffnung auf Rückbildung der Symptome. -•Phasen der Alkoholabhängigkeit Kosten-Nutzen-Analyse 1. Definitionen. Unter dem Begriff K. werden im weiteren Sinne alle Methoden zur Bewertung öffentlicher Projekte bzw. Projektalternativen verstanden (Schußmann 1994: 513). Hierbei geht es um die Beantwortung der folgenden beiden grundlegenden Fragen: 1. Ist es sinnvoll, ein spezifiziertes staatliches Projekt auf Kosten des Entzugs finanzieller Mittel aus dem privaten Sektor durchzuführen? 2. Welches staatliche Projekt soll aus einer gegebenen Menge alternativer Vorhaben ausgewählt und realisiert werden? Je nachdem, an welchen Zielvorstellungen die Vorteilhaftigkeit eines öffentlichen Projektes gemessen werden soll,

Kosten-Nutzen-Analyse

und welche Verfahren zur Transformation der Zielvorstellungen in operable Entscheidungskriterien eingesetzt werden, unterscheidet man vor allem die folgenden Typen von Bewertungsmethoden: Die K. im engeren Sinne bzw. traditionelle K. beschreibt die Zielvorstellungen monofinal durch das ökonomische Ziel der Wohlfahrtssteigerung. Unter Wohlfahrt wird hierbei die Summe der individuellen Nutzen verstanden, die die Individuen einer Gesellschaft aus dem Konsum der ihnen verfügbaren Güterbündel zu ziehen vermögen (Hanusch 1994:2). Werden öffentliche Projekte dagegen auf einer der Wohlfahrtszielsetzung untergeordneten projektspezifischen Zielebene beurteilt, die aus einem ganzen Bündel sich gegenseitig begünstigender oder miteinander konkurrierender Einzelziele besteht, und wird gleichzeitig auf eine Verknüpfung der unterschiedlichen Zielerfüllungsmaße zu einem Gesamtmaß verzichtet, so spricht man von Kosten-Wirksamkeits-Analysen. Diese liefern keine eindeutigen Entscheidungskriterien, sondern begnügen sich mit der Systematisierung von Wirkungskategorien (classification) und der Entwicklung von Indikatoren zur Beurteilung von Handlungsalternativen innerhalb dieser Kategorien (characterization). Die endgültige Entscheidungsfindung bleibt dann ganz den subjektiven Vorstellungen des politischen Entscheidungsträgers überlassen. Soll nun zusätzlich der Schritt unternommen werden, in einem formalisierten Verfahren die Indikatorenvektoren der Kosten-Wirksamkeits-Analyse in ein eindeutiges Entscheidungskriterium zu überführen (valuation), so muß eine entsprechende Transformationsfunktion definiert werden. In der betriebswirtschaftlichen Entscheidungspraxis hat sich hierbei das Verfahren der Nutzwertanalyse durchgesetzt: Den Indikatoren der einzelnen Wirkungskategorien werden auf einheitlichen Rangskalen Zielerfüllungsgrade zugeordnet. Gleichzei-

Kosten-Nutzen-Analyse

tig wird den Einzelzielen ein Gewicht zugemessen, das deren relativen Anteil an einer imaginären Gesamtzielerfüllung ausdrücken soll. Durch Multiplikation der Gewichte mit den Erfüllungsgraden und Addition über alle Wirkungskategorien wird ein Gesamtwert (Nutzwert) ermittelt, der als eindeutiges Nutzenmaß herangezogen wird. 2. Theoretische Konzeption 2.1 Methodeneingrenzung. Jede der beschriebenen Spielarten der K. hat ihre spezifischen Einsatzbereiche. KostenWirksamkeits-Analysen kommen häufig zum Einsatz, wenn es lediglich darum geht, einzelne Projektwirkungen auf der Basis wissenschaftlich fundierter Wirkungsanalysen mittels Indikatoren zu beschreiben, die endgültige (subjektive) Nutzenbeurteilung aber einem nichtwissenschaftlichen öffentlichen Diskurs überlassen werden soll. Dies wird häufig in der jüngsten Ökobilanzdiskussion zur Beurteilung ökologischer Projekte praktiziert. Nutzwertanalysen sind besonders in der betrieblichen Entscheidungspraxis verbreitet, wenn es darum geht, subjektive Entscheidungsprozesse zu formalisieren, offenzulegen und damit nachvollziehbar zu machen. Beide Verfahren haben den Nachteil, daß die Verknüpfung der Kosten- mit der Nutzenseite nicht gelingt. Kosten-Wirksamkeits-Analysen verzichten von vornherein auf solche Verknüpfungen. Hier stellt die Kostenseite lediglich eine zusätzliche Beurteilungskategorie der Projekte dar. In Nutzwertanalysen wird der Projektnutzen in dimensionslosen Zahlen gemessen. Bei einer kombinierten Kosten-Nutzen-Bewertung müßte man demnach auch die Kostenseite in dasselbe Zielsystem einbeziehen und damit künstlich vergröbern. Zur Bewertung staatlicher Projekte wird daher häufig die K. i.e.S. herangezogen. Hier wird sowohl die Kosten- als auch die Nutzenseite in monetären Größen, möglichst auf der Basis von Marktpreisen gemessen. Die Analyse kommt zu einem ein379

Kosten-Nutzen-Analyse

Kosten-Nutzen-Analyse

1. Altemativenraum festlegen

Projektbeschreibungen Bestimmung der Nebenbedingungen Alternativenvorauswahl Festlegung des Projektzeitraumes

2. Projektkosten

Ermittlung direkter und indirekter Kosten Einteilung in tangibel und intangibel; Monetarisierung der tangiblen Kosten (ggf. Wahrscheinlichkeitsverteilungen) Kostendatierung

3. Projektwirkungen

Erfassung direkter und indirekter Wirkungen Einteilung in tangibel und intangibel Monetarisierung der tangiblen Wirkungen (ggf. Wahrscheinlichkeitsverteilungen) Wirkungsdatierung

4. Entscheidungsfindung

Entscheidungskriterium festlegen Quantifizierung Zusätzlicher Einbezug intangibler Effekte

deutigen Ergebnis: Ein Projekt ist dann durchzuführen, wenn sein monetärer Nutzen die Projektkosten übersteigt. Im folgenden wird daher unter einer K. stets die K. i.e.S. verstanden. 2.2 Theoretische Grundlagen und historische Entwicklung. Die K. bezieht ihre theoretischen Grundlagen zum einen aus den normativen Vorstellungen der Nutzen- und Wohlfahrtstheorie, zum anderen aus den Erkenntnissen der betriebswirtschaftlichen Investitionstheorie sowie der Risiko-Nutzen-Theorie. Investitionsrechnerische Komponenten fließen in die Analyse ein, da Projektwirkungen häufig über sehr lange Zeiträume zu beobachten sind, und daher auch monetäre Wirkungen unterschiedlicher Zeitpunkte vergleichbar gemacht werden müssen (Fisher 1932). RisikoNutzen-Überlegungen werden relevant, da die Projektwirkungen i.d.R. nicht als einwertige Daten, sondern lediglich in Form von Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorliegen, für die ein monetäres Risikonutzenmaß gefunden werden muß (Bernoulli, 1738). Die Basis für die Kosten direkt tangibel

380

intangibel

wohlfahrtstheoretisch fundierte Methodenentwicklung wurde 1844 durch Jules Dupuit gelegt (Dupuit 1844). Entscheidende Impulse für die praktische Weiterentwicklung wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch gesetzliche Vorschriften in den USA, zunächst vor allem im wasserwirtschaftlichen Bereich, gegeben. Im Gesundheitswesen sind K. noch relativ selten; entsprechende Ansätze finden sich vor allem im arbeitsmedizinischen Bereich (Kentner 1996). 2.3 Elemente der K. Eine K. umfaßt die folgenden Handlungsschritte (siehe obenstehende Tabelle) Im Rahmen der Beschreibung des Alternativenraumes wird durch die Berücksichtigung von Nebenbedingungen eine Vorauswahl der in die K. einzubeziehenden Projektaltemativen getroffen und der Projektzeitraum festgelegt. Die nächsten beiden Schritte stellen mit der Spezifizierung der Projekteffekte durch Kosten-Nutzenzuordnungen das Kernstück der K. dar. Die Projekteffekte lassen sich hierbei wie folgt typisieren (Tabelle unten):

Projektwirkungen indirekt tangibel

intangibel

Nutzen direkt

tangibel

intangibel

indirekt tangibel

intangibel

Kosten-Nutzen-Analyse Indirekte Projektwirkungen sind im Gegensatz zu den direkten Effekten dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht bewußt als Ziel angestrebt werden, sondern als eher unbeabsichtigte Nebenfolgen anfallen. Tangible Effekte lassen sich in monetären Größen quantifizieren, intangible Effekte können nur qualitativ beschrieben werden. Die Quantifizierung der Entscheidung erfolgt dann durch Anwendung eines investitionsrechnerischen Verfahrens auf der Basis der tangiblen Effekte, ggf. unter Berücksichtigung der Risikosituation. Abschließend können die intangiblen Effekte in einer verbal-argumentativen Schlußbetrachtung in die Analyse einbezogen werden. 3. Praxisbeispiel Drogentherapie 3.1 Handlungsalternativen. Im Rahmen der K. ist es üblich, daß der Entscheidungsträger eine oder mehrere Projektalternativen untersuchen lassen möchte. Aufgabe der K. ist es dann, den Nettonutzen, also die Differenz zwischen Kosten und Nutzen der zu untersuchenden Alternativen, zu bestimmen. Bei der Festlegung der zu untersuchenden Alternativen ist zu beachten, daß der „Status Quo" stets eine eigenständige Alternative darstellt. Die Berücksichtigung der Situation, die ohne Realisierung des Projektes besteht, führt dazu, daß auch bei der Betrachtung von nur einem Vorhaben immer eine echte Vergleichsalternative besteht (einfacher Vorteilhaftigkeitsvergleich). Für die Ermittlung der gesamtwirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit von Drogentherapiekonzepten mittels einer K. bedeutet dies, daß die Wirkungen der Therapie mit den Wirkungen des „Status Quo", d. h. dem Zustand bei Nicht-Therapierung, zu vergleichen sind. Hierbei werden alle negativen Wirkungen der Nicht-Therapierung zu Nutzwirkungen aus Sicht der Drogentherapie. Ein solcher einfacher Vorteilhaftigkeitsvergleich, bei dem die Therapiealternative durch ein stationäres Therapiekonzept gegeben wird, soll im folgenden untersucht werden.

Kosten-Nutzen-Analyse 3.2 Kosten der stationären Drogentherapie. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht lassen sich folgende Kosten der stationären Drogentherapie differenzieren: Direkte Kosten: - Fahrtkosten zur Therapieeinrichtung, - Kosten der körperlichen Entgiftung, - Kosten der stationären Therapie, - Kosten der ambulanten Therapienachsorge. Indirekte Kosten: - Kosten für Übergangsgeld/Sozialhilfe, - Kosten der beruflichen Wiedereingliederung/Qualifizierung. Soweit in der Praxis entsprechende Informationen vorliegen, sind die o. g. Kostenarten für die Zwecke der K. zu monetarisieren, d. h. in Geldeinheiten zu bewerten. Mögliche Quellen hierfür sind z.B. Sozialämter, stationäre Therapieeinrichtungen, Bildungsträger, Rentenversicherungsträger, Krankenkassen und Krankenhäuser. Im Rahmen eines praktischen Projektes haben sich hierbei die Kosten der körperlichen Entgiftung, die Kosten der stationären Drogentherapie, die Kosten der ambulanten Therapienachsorge und die Kosten des Übergangsgeldes bzw. der Sozialhilfe als tangibel erwiesen (Reinhold 1997). Die Kosten für die Fahrt zur Therapieeinrichtung und die berufliche Wiedereingliederung bzw. Qualifizierung schwanken in der Praxis je nach Patienten stark und wären somit als intangibel einzustufen. 3.3 Nutzen der stationären Drogentherapie. Im einfachen Alternativenvergleich stellen die mit einer Nicht-Therapierung von Drogenabhängigen für die Gesellschaft verbundenen Kosten die möglichen Nutzwirkungen der Therapie dar, da eine erfolgreiche Behandlung Drogenabhängiger diese gesellschaftlichen Kosten unterbindet bzw. reduziert. Die Risikosituation wird durch die Verteilung der Erfolgswahrscheinlichkeit der Therapie bestimmt. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht lassen sich folgende 381

Kosten-Nutzen-Analyse Nutzwirkungen der stationären Drogentherapie differenzieren: Direkte Nutzwirkungen: - Vermeidung der Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente, - Reduzierung der Folgekosten der Behandlung spezieller mit der Drogenabhängigkeit verbundener Erkrankungen, - Reduzierung der Folgekosten des Medikamentenmißbrauches, - Reduzierung der Folgekosten des Todes. Indirekte Nutzwirkungen: - Reduzierung der Beitragsverluste für die Sozialversicherungsträger, - Reduzierung der Kosten der Sozialversicherungsträger, - Reduzierung der Einkommensverluste für die Volkswirtschaft, - Reduzierung der gesamtwirtschaftlichen Kosten der Verschuldung Drogenabhängiger, - Reduzierung der direkten und indirekten Kosten der Beschaffungskriminalität, - Reduzierung der Folgekosten in der Generationsfolge, - Reduzierung der Kosten der Suchtforschung und -prävention. Mögliche Quellen für die monetäre Bewertung der o. g. Nutzwirkungen sind z.B. das Bundeskriminalamt, die Sozialämter, der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, die Rentenversicherungsträger, die Sozialversicherungsträger, die öffentlichen Verkehrsbetriebe, der Verband des Einzelhandels, die Sozial- und Finanzämter, die Haftanstalten, das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesministerium des Inneren und der Drogenbeauftragte der Bundesregierung. In der erwähnten Praxisstudie haben sich die Reduzierung der Folgekosten des Todes, die Reduzierung der Beitragsverluste für die Sozialversicherungsträger, die Reduzierung der Kosten der Sozialversicherungsträger, die Reduzierung der Einkommensverluste für die Volkswirtschaft, die Reduzierung der gesamtwirt382

Kosten-Nutzen-Analyse schaftlichen Kosten der Verschuldung Drogenabhängiger und die Reduzierung der direkten und indirekten Kosten der Beschaffungskriminalität als tangibel erwiesen. Alle weiteren Nutzwirkungen waren aufgrund mangelnder Datenbasis als intangibel anzusehen. 3.4 Ergebnis. Die rein ökonomische Gegenüberstellung der tangiblen Kosten und Nutzen der stationären Drogentherapie verdeutlicht, daß das Drogenproblem nicht losgelöst von seinen gesamtwirtschaftlichen Wirkungen diskutiert werden darf. Mit Hilfe der K. wird erkennbar, daß mit einer erfolgreichen Therapierung Drogenabhängiger die gesellschaftlichen Kosten der Nicht-Therapierung so stark reduziert werden können, daß der Therapienutzen die Kosten um ein Vielfaches übersteigt. Bei der Klärung der Finanzierungsfrage von Therapiekonzepten erscheint es daher wichtig, alle Beteiligten bzw. Betroffenen einzubinden, da die Nutzwirkungen der Therapie zu vielschichtig sind, um die Entscheidung allein auf die öffentlichen Kostenträger der Drogentherapie zu beschränken. 4. Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen der Methode. Der Einsatz einer K. im Rahmen der Beurteilung von Drogentherapiekonzepten eröffnet eine neue Sichtweise auf die Problematik der Drogenabhängigkeit und den Nutzen ihrer Therapierung. Eine derartige ökonomische Betrachtung kann niemals als alleinige Grundlage für drogentherapiebezogene Entscheidungen herangezogen werden, sie kann aber sehr wohl medizinische und sozialwissenschaftliche Betrachtungen sinnvoll ergänzen. Die Ergebnisse praktischer K. zeigen, daß sich erfolgreiche Drogentherapiekonzepte auch unter Wirtschaftlichkeitsüberlegungen als sinnvoll erweisen. Die Kürzung von Finanzmitteln im Bereich der Drogentherapie stellt sich daher häufig als „Sparen am falschen Ende" heraus. Die Grenzen der K. liegen in dem hohen

Kostenträger

Krankheit

Umfang intangibler Wirkungen begründet. Einen besonders kritischen Aspekt stellt hierbei die Ungewißheit bezüglich des Therapieerfolges dar. Über Erfolgswahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Drogentherapiekonzepte oder gar darüber, wie die Finanzmittelausstattung einer Therapieeinrichtung die Erfolgswahrscheinlichkeiten beeinflußt, liegen kaum verläßliche Daten vor. -•Evaluation; -»Finanzierung; -»Qualitätssicherung; -»Suchtkrankenhilfe Lit.: Bernoulli, D., Specimen theoriae novae de mensura sortis, Übersetzung: Exposition of a New Theory on the Measurement of Risk, in: Econometrica 22 (1954), S. 23-36; Dupuit, J., De la Measure de l'Utilite des Traveaux Publics, 1844, Übersetzung: On the Measurement of the Utility of Public Works, in: International Economic Papers 2 (1952), S. 83-110; Fisher, I., The Theory of Interest, New York, 1930; Hanusch, H., Nutzen-Kosten-Analyse, München, 2 1994; Kentner, Μ., KostenNutzen-Analyse der praktischen arbeitsmedizinischen Tätigkeit, in: Gesundheitswesen 58 (1996), S. 102-105; Reinhold, W., Volkswirtschaftliche Kosten der Drogentherapie, in: Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V. (Hrsg.), FDR-Berichte 48 (4/1997), S. 5 - 8 ; Schußmann, K., Kosten-NutzenAnalyse, in: Geigant, F., Haslinger, F., Sobotka, D„ Westphal, Η. M. (Hrsg.), Lexikon der Volkswirtschaft, Landsberg/Lech, 6 1994, S. 513-514. Weif Reinhold, Hamburg Norbert Sturm, Lüneburg Kostenträger -•Finanzierung; -»Kosten-Nutzen-Analyse; -»Sozialrecht Krankenversicherung -»Finanzierung; -»Sozialrecht Krankheit Krankheit ist unter dem Vorzeichen der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften einer der zentralen sozi-

alpolitischen Steuerungsbegriffe. In seiner einfachsten und in diesem Sinne auch in der Alltagssprache gängigen Bedeutung steht er für eine Störung der Gesundheit, als einer Abweichung von der Norm einer unbeeinträchtigten körperlichen Verfassung. Von besonderer Bedeutung für sozialpolitisch begründete Versorgungsregelungen sind vor allem die eng miteinander verbundenen medizinischen und sozialrechtlichen Krankheitsbegriffe. 1. Der medizinisch-professionelle Krankheitsbegriff im Sinne des biomedizinischen Modells ist das die Theorie und Therapie in der Medizin beherrschende und derzeit für die Ausgestaltung des Gesundheitswesens entscheidende Konzept. Er beruht auf folgenden Voraussetzungen: (1) Jede Erkrankung besitzt eine spezifische Ursache, (2) jede Krankheit zeichnet sich durch eine bestimmte somatische Grundschädigung aus, (3) Krankheiten haben typische Symptome und können durch Ärtzlnnen erkannt werden sowie (4) Krankheiten haben beschreibbare und vorhersagbare Verläufe, die sich ohne medizinische Versorgung verschlimmern. Die enge Bindung des Krankheitsbegriffs an somatische Grundstörungen wird von verschiedenen Autoren auch für psychische bzw. geistige Störungen geltend gemacht. Da jedoch die spezifischen Ursachen vieler als Krankheiten eingestufter Funktionsstörungen auch heute noch nicht oder wenigstens nicht eindeutig bekannt sind, folgt die Bestimmung von Krankheiten weitgehend der von Expertinnengremien erarbeiteten und international abgestimmten „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" (ICD-10). Diese Klassifikation ist jedoch für eine Anwendung in der Krankenversorgung aufgrund der in der 10. Revision vorgenommenen Ausweitung auf psychosoziale Problemlagen (z.B. für den Bereich Z55ff. „Personen mit potentiellen Gesundheitsrisiken auf383

Krankheit

grund sozioökonomischer und psychosozialer Umstände") vom Bundesministerium für Gesundheit nicht vollständig in Kraft gesetzt worden. Mit der neuerlichen Verabschiedung des Psychotherapeutengesetz (PsychThG) ist das Behandlungsmonopol der Ärzteschaft partiell zugunsten von Psychologinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherpeutlnnen durchbrochen, die jetzt selbständig in der „Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist" tätig werden können. Der Gesetzgeber hat im PsychThG Psychotherapie ausdrücklich von Tätigkeiten abgegrenzt, „die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben". In interdisziplinären Auseinandersetzungen um den Krankheitsbegriff konnten in den vergangenen Jahrzehnten andere Krankheitsmodelle - teils aufgrund ihrer empirischen Absicherung teils wegen ihrer theoretischen Plausibilität an Einfluß gewinnen. Diese Modelle, z.B. das psychosomatische Krankheitsmodell, das Streß-Coping-Modell, das Devianz-Modell, das sozioökonomische Modell und das Risikofaktoren Modell (vgl. Waller 1997), verweisen auf die komplexen und von einer Vielzahl von biophysischen, psychischen und sozialen Faktoren beeinflußten Ätiologien verschiedenster Krankheiten. 2. Der sozialrechtliche Krankheitsbegriff (-»-Sozialrecht) sieht vor, daß als Krankheit jeder regelwidrige, i.d.R. behebbare oder in seinem Fortschreiten aufhaltbare Körper- oder Geisteszustand anzuerkennen ist, der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Die Ursache einer Krankheit ist, anders als im medizinischen Krankheitsbegriff, unbeachtlich. Da die Krankenbehandlung berufs- und sozialrechtlich gleichzeitig für die Ärzteschaft monopolisiert ist (mit den bekannten und begrenzten Ausnahmen für Heil384

Krankheit

praktikerinnen und neuerdings für Psychotherapeutinnen), stellt sich der jeweils konkrete Krankheitsfall sozialrechtlich praktisch als Ergebnis einer professionellen Problemdefinition mit gfls. konkreten Folgen in verschiedenen Lebensbereichen dar, die den Zugang zu spezifischen und auf die Behebung oder Linderung der Krankheit zielenden personenbezogenen Dienstleistungen sowie Leistungen zur ökonomischen Sicherung der Lebensführung (Lohnfortzahlung, Krankengeld etc.) erschließt. Zwischen dem medizinisch-professionellen und dem sozialrechtlichen Krankheitsbegriff bestehen vielfältige Wechselwirkungen, sie sind in ihrer Bedeutung jedoch nicht deckungsgleich. Sowohl in professionellen als auch in alltäglichen Kontexten wird häufig Leiden mit Krankheit gleichgesetzt. Leiden steht bei genauerer Betrachtung als Synonym für eine beeinträchtigte Befindlichkeit, die von sehr unterschiedlichen Faktoren, wie z.B. sozialen, ökonomischen, psychischen, gruppendynamischen ausgelöst sein kann, denen kein Krankheitswert zukommt. Hinzu kommt, daß manche Krankheiten, wie z.B. Karzinome im Anfangsstadium, nicht ohne weiteres zu einer beeinträchtigten Befindlichkeit führen, Leidenssymptome also trotz einer manifesten Krankheit fehlen. Insgesamt kommt jedoch „Leiden" ein hoher diagnostischer Wert zu. Leiden läßt insofern häufig auf personale Funktionsstörungen in einem allgemeineren Sinne schließen, für die es gilt, fallbezogen adäquate und oft multiprofessionelle Hilfeverfahren innerhalb eines breiteren Spektrums sozialer, psychologischer und/oder medizinischer Dienstleistungsangebote einzuleiten. Entscheidend dafür ist eine an professionellen Standards orientierte Überprüfung subjektiver Befindlichkeiten. Eine medizinische Sichtweise der als stoffgebundene Sucht bzw. Abhängigkeit identifizierten Funktionsstörungen läßt sich auch im ICD-10 vor allem

Kreuzbund e.V. Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und deren Angehörige unter „Psychische oder Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen" (Fl0.0 - F19.9) feststellen, wo u.a. die akute Intoxikation, schädlicher Gebrauch, Abhängigkeitssyndrom, Entzugssyndrom ohne und mit Delir sowie Psychotische Störung angeführt werden. Die Definition des Abhängigkeitssyndroms (für Alkoholismus F10.2) läuft im Kern darauf hinaus, daß Abhängigkeit als Folge eines chronischen Mißbrauchs psychotroper Substanzen verstanden wird und psychosoziale Einflußfaktoren ausgeblendet bleiben. Als Abhängigkeitssyndrom gilt „Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwikkeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten den -»Konsum zu kontrollieren und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung (-»Toleranz) und manchmal ein körperliches ^Entzugssyndrom." Der Begriff ->„Sucht" hat für das offizielle medizinische Klassifikationssystem keine Bedeutung, wie sich am Beispiel der •„Spielsucht" zeigen läßt, die im ICD-10 in der Kategorie „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63.0) unter der Bezeichnung „Pathologisches Spielen" eingeführt wird: „Die Störung besteht in häufigem und wiederholtem episodenhaftem Glücksspiel, das die Lebensführung des betreffenden Patienten beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt." Die sozialrechtliche Anerkennung stoffgebundener Süchte als Krankheit setzte sich erst 1968 in der Folge einer seither ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts durch. Danach bildet „die Sucht selbst einen regelwidrigen Körper- und Geisteszustand, der sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der

krankhaften Abhängigkeit vom Suchtmittel, im Nicht-mehr-aufhören-Können, äußert" (Krasney, 1992: 46 f.). Die zahlreichen Einwände gegen die Plausibilität und problematische Folgen der Anwendung des Krankheitskonzeptes z.B. auf den Alkoholismus versucht Feuerlein zu entkräften. Die von ihm vorgebrachten Argumente erscheinen jedoch vielfach inkonsistent und versuchen im Trend vor allem die Medikalisierung der Abhängigkeitsproblematik und ihrer Versorgung zu legitimieren (Feuerlein 1998, 12 ff.). Auch das Beispiel der „Spielsucht" verweist auf die weiter fortschreitende Medikalisierung der Versorgung psychischer und sozialer Desintegrationsprobleme, die mit Sucht regelmäßig ursächlich und symptomatisch eng verbunden sind. 3. Als Alternative zu einer primär am medizinischen und sozialrechtlichen Krankheitsbegriff orientierten Problemdefinition süchtigen bzw. abhängigen Verhaltens bietet sich an, Problemlagen dieser und vergleichbarer Art als personale Funktionsstörungen zu verstehen, für die ein breiteres und fallweise variierendes Spektrum sozialer, psychischer und somatischer Einflußfaktoren und Symptome zu identifizieren ist. Auf der Ebene fallorientierter Hilfemaßnahmen sollte diese Einsicht zu einer Restrukturierung der zunehmend medikal dominierten Versorgungsstrukturen zu multiprofessionell-kooperativen führen. Lit.: DIMDI (Hrsg.) 1994, ICD-10, München; Feuerlein, W. 1998, Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit, München; Krasney, Ο. E. 1992, Sozialrechtliche Vorschriften bei der Betreuung Suchtkranker, Kassel; Waller, H. 1997: Sozialmedizin, Stuttgart. Georg Hey, Lüneburg Kreuzbund e.V. Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und deren Angehörige Der Kreuzbund e. V. ist eine katholische Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für 385

Kreuztoleranz Suchtkranke und deren Angehörige in der Bundesrepublik Deutschland. Der Verein wurde 1896 von Pfarrer J. Neumann in Aachen gegründet. Neumanns Motivation zur Gründung des Vereins lag zum einen in den Erfahrungen der eigenen Familie, zum anderen wollte er etwas gegen den Elendsalkoholismus der industriellen Gesellschaft tun. Die Voraussetzung zur Mitgliedschaft war und ist bis heute die Abstinenz von Alkohol oder/und suchtbildenden Medikamenten. Die wichtigsten Aufgaben des Kreuzbundes sind begleitende Hilfe und Nachsorge bei Alkohol- und Medikamentenabhängigen und deren Familien sowie Präventionsarbeit. Der Verband finanziert sich zum Großteil aus Mitgliedsbeiträgen. Die Arbeit in den Kreuzbundgruppen wird durch ehrenamtliches Engagement getragen. Auf Bundes- und Diözesanebene gibt es Weiterbildungsangebote für Verantwortliche und Teilnehmer der Kreuzbundgruppen. Seit 1969 erscheint die Mitgliederzeitschrift „Weggefährte". -»• Abstinenzbewegungen Anschrift: Postfach 1867, 59008 Hamm, Tel.: 02381/672720, Fax: 02381/6727233, e-mail:kreuzbund. hamm @ t-online .de Kreuztoleranz Mit K. wird ein Phänomen umschrieben, das vor allem, aber nicht nur, beim Barbiturat-Alkoholtyp (-•Drogentypen) bekannt ist, daß nämlich bei erhöhter -•Toleranz einer Substanz (z.B. durch chronischen Konsum von Alkohol) eine verminderte Empfindlichkeit gegenüber einer anderen Substanz (z.B. Barbiturate) besteht. Das heißt auch, daß etwa Alkohol durch andere Drogen ausgetauscht werden kann und umgekehrt, bei gleichzeitiger Erzielung sehr ähnlicher Wirkungen. Dadurch können Entzugserscheinungen vermieden werden, beispielsweise durch die Verwendung von -•Distraneurin beim Alkoholentzug. -•Entzug; -•Körperliche Entgiftung; -•Substitution 386

Krise Kriminalisierung K. hat vor allem im Bereich der illegalen Drogen Bedeutung. Die Basis der K. bildet die Definition einer Verhaltensweise als kriminell, deren Feststellung und Registrierung sowie deren Etikettierung. Nach dem geltenden ->Drogenrecht werden die Produzenten und Händler von (illegalen) Drogen, aber auch die Konsumenten als kriminell definiert und den gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen ausgeliefert. Die Strategie der Etikettierung führt u. U. bei den Konsumenten über komplexe Mechanismen zu einem (verstärkt) abweichenden Verhalten, das aber im wesentlichen Folge gesellschaftlicher Reaktionen und Sanktionen ist. Die K. als Reaktion auf den Drogenkonsum entspricht dem strafrechtlichen Ansatz. »Sucht und Kriminalität Kriminalität -•Sucht und Kriminalität Krise Lebenskrisen sind oft Auslöser, nicht aber die Ursache, für den Mißbrauch von Drogen aller Art. Im „life-events"Fragebogen (nach Holmes und Rahe) liegt eine quantitativ abgestufte Skalierung vor, die deutlich macht, wie hoch die Anpassungsleistungen bei Alltagskrisen, in Abgrenzung zu traumatischen Krisen wie Katastrophen oder plötzliche Invalidität, sind. Der Tod des Ehepartners, eine Krise, die meist den traumatischen zugerechnet werden muß, hat dabei den Punktwert 100, gefolgt von Scheidung (73), Trennung (65), Kündigung (45), Geänderte Arbeitsinhalte (36), Darlehensaufnahme (31), Kinder verlassen das Haus (29) bis hin zu Ferien (13), Weihnachten (12) und kleineren Gesetzesübertretungen (11). Mit veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ändert sich die geforderte Anpassungsleistung. Soziale Auslöser von Krisen wie (vermutete langfristige) Arbeitslosigkeit sowie deren Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. (Partnerschaft, Unterhaltsfinanzierung, Freizeit)

Krisenintervention verursachen Dauerkrisen, die zu psychosomatischen Beschwerden und zum Konsum und Mißbrauch hierfür angebotener Drogen, vor allem Alkohol und Medikamente führen (-»Iatrogene Abhängigkeit), wenn andere Möglichkeiten der Kompensation oder entsprechende kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen nicht zur Verfügung stehen. Durch diese Bewältigungsversuche werden weitere Krisen initiiert. (Lebens-) Krisen können damit sowohl Auslöser als auch Folge eines Drogenkonsums sein. K. im Verlauf von Beratungs- und Therapieprozessen und ihre Bearbeitung gehören zum Gesundungsprozeß - auch •Rückfälle können so genutzt werden - , sie führen aber auch oft zum Abbruch (-»Abbruchquote) der Beratung und Behandlung, häufig schon in der Entzugsphase -»-Entzug; -•Qualifizierte Entgiftung Krisenintervention K. sind Soforthilfen bei akuten -»Krisen, die zu beheben die Betroffenen selbst zum gegebenen Zeitpunkt und in der vorfindlichen Situation nicht in der Lage sind. Durch K. soll ein ungünstiger Verlauf der Krisensituation verhindert werden und die Motivation für weiterführende Hilfen angeregt werden. Phasen der K. sind 1. die Einschätzung der akuten Lage der Betroffenen, 2. die Planung der Intervention selbst, 3. die Durchführung der Intervention und 4. die Krisenbewältigung und eine vorausschauende Hilfeplanung. Eine professionelle K. setzt eine gemeindenahe Koordination der Hilfen voraus, wie auch die sofortige Verfügbarkeit und Mobilität der Versorgungsdienste. Die Ansprüche an die Krisenhelfer bezüglich der Flexibilität in der Ausübung ihrer Rolle sind hoch. K. im Suchtbereich werden u. a. von Ärzten, Seelsorgern, Psychologen, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, aber auch von Laienhelfern und Mitgliedern von Selbsthilfegruppen in unterschiedlichen Zusam-

Kultur menhängen in Praxen, in Beratungsstellen, am Telefon, auf der Straße ( »Streetwork), bei Hausbesuchen, bei Notfalleinsätzen, während Sitzungen der Selbsthilfegruppen, in der Einzelund Gruppentherapie u.v.a. durchgeführt. Notwendigkeiten der K. sind im gesamten Behandlungsverlauf vom Erstkontakt, über den »Entzug, der -•Entwöhnung und der -»-Nachsorge und auch bei abhängigen Menschen, die nie zu einer Behandlung Zugang gefunden haben, gegeben. Dies trifft besonders auch für schwerstabhängige Menschen zu (-»Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker). Besondere Anlässe der K. im Suchtbereich sind u. a. Selbst- und Fremdgefährdungen (-•Suizid; -»-Eßsüchte; -»Sucht und Gewalt), drohende oder bereits eingetretene -»Rückfälle, akute Vergiftungen durch Überdosierung und psychotische Episoden als direkte oder indirekte Folge des Drogenkonsums (-»Delir; -»Psychose) oder als -»Komorbidität. Die Verfahren der K. im Suchtbereich erstrecken sich vom verständnisvollen Gespräch, über psychosoziale Beratung (-•Suchtberatung) bis hin zu medizinisch und juristisch notwendigen Eingriffen (-»Akutbehandlung; -»Unterbringung). K. sind im Suchtbereich auch höchst sinnvoll und notwendig, wenn sie bewußt auch auf die Angehörigen mit ihren akuten und oft sehr bedrohlichen Nöten bezogen werden. Beispiele hierfür sind etwa die Verlassenheitskrise von Frauen, wenn die abhängigen Männer in stationärer Langzeittherapie sind (-»-Co-Alkoholismus) oder die Notsituationen von -»Kindern suchtkranker Eltern. Kultur Unter K. wird das gesamte soziale Erbe, das Gesellschaftsmitglieder im Verlaufe der Sozialisation (kritisch) übernehmen, verstanden: religiöse Vorstellungen und Menschenbilder, Wissen, Sitten, Gebräuche und Fertigkeiten. In geschlossenen, orthodoxen Gesellschaften besteht 387

Kultur die Gefahr der rigiden Unterwerfung, in offenen Gesellschaften die der verwirrenden Diffusität. Auch der Drogengebrauch und seine Funktionen unterliegen kulturellen Ausprägungen. Wer wann wie welche Droge zu welchem Zweck konsumieren darf, ob rauschhafte Exzesse erlaubt oder verboten sind und vieles andere ist kulturell verankert und über Sanktionen abgesichert. -»-Soziologische Konzepte Kurzzeittherapien Therapie meint hier die stationäre Entwöhnungsbehandlung in speziellen Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe (-•Fachklinik; -»Therapeutische Gemeinschaft). K. zwischen etwa 6 - 1 2 Wochen sind in den vergangenen Jahren ausgeweitet worden. Dies ist sicher eine Frage der Finanzierbarkeit, kann aber

388

Kultur auch inhaltlich begründet werden. Die Art und Dauer der Behandlung insgesamt (ambulant oder stationär, kurz-, mittel- oder langfristig) kann nicht pauschal für jeden abhängigen Menschen und für jede Form der Abhängigkeit festgelegt werden. Je mehr Möglichkeiten grundsätzlich zur Verfügung stehen, um so differenzierter und situationsbezogener kann der individuelle Behandlungsplan erarbeitet werden. K. sind eine sinnvolle Option, für die Wahl müssen aber verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, wie die Art und der Schweregrad der Abhängigkeit, psychische Probleme und körperliche Schädigung sowie individuelle, familiale und soziale Situation. Wenn K. gewählt werden ist die Einbettung in ein regionales Versorgungssystem besonders wichtig.

Legalisierung

Laxanzien

L Laxanzien L. (syn. Laxativa) Abführmittel bzw. Medikamente zur Förderung und Erleichterung der Darmentleerung. Bei bestimmten -•Eßstörungen kommt es zu einer mißbräuchlichen Einnahme (Laxanzienabusus). •Medikamentenabhängigkeit Lebensstil -•Soziologische Konzepte Lebenswelt -•Soziologische Konzepte Leberzirrhose Chronische Lebererkrankung mit entzündlichen Veränderungen und narbige Umwandlung des Bindegewebes unterschiedlicher Genese. Neben der -»Fettleber und der Leberentzündung (-•Hepatitis) ist die L. (Leberschrumpfung) aber eine typische Alkoholfolgekrankheit (bei etwa 10-20%), die über Blutungen aus Ösephagusvarizen (Erweiterung der Speiseröhrenvene durch den Pfortaderstau, der durch die Leberschädigung verursacht ist) häufig zum Tod führt. Der Verlauf der L. ist meist fortschreitend (progredient), in manchen (leichteren) Fällen jedoch auch begrenzt. Bei einer durch Alkoholmißbrauch bedingten L. ist über die totale Abstinenz die Prognose wesentlich günstiger als bei anderen Ursachen. Eine Leberzirrhosegefährdung wird bei Männern ab einer täglichen Menge von 60 g reinem Alkohol und bei Frauen ab einer Menge von 20 g reinem Alkohol angenommen. Zum Vergleich: eine Flasche Export- oder Pilsbier (0,5 1) hat einen Alkoholgehalt von ca. 20 g (-•Alkoholfolgekrankheiten). Legale Drogen Die Legalität von Drogen ist kulturell definiert (-•Soziologische Konzepte). Legale D. sind in die Gesellschaft integriert. Ihr Konsum ist nicht strafbar, er wird im Gegenteil mit ökonomischen Strategien gefördert. Es kann aber auch

zu mißbräuchlicher Verwendung und Abhängigkeiten kommen. Legale oder legalisierte D. im europäischen Raum sind »Kaffee, Tee (-^Geschichte des Kaffees und Tees), -•Nikotin, - • Alkohol sowie Arzneimittel (-»Arznei; -•Medikamentenabhängigkeit). Konsumenten der legalen Drogen Alkohol und Nikotin sollen durch das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz (LMBG) geschützt werden (z.B. Verpflichtung zu Warnhinweisen auf Tabakwaren) sowie Jugendliche durch das •Jugendschutzgesetz. Im -•Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ist der legale Verkehr mit Betäubungsmitteln geregelt (-•Betäubungsmittel; -•Betäubungsmittelrezept). -•Psychotrope Substanzen der im BtMG aufgelisteten Mittel unterliegen der Regulierung nach dem Arzneimittelgesetz (Apothekenpflicht; -•Verschreibungspflicht). •Drogenrecht Legalisierung Wegen der -•Kriminalisierungstendenzen im Rahmen einer verbotsorientierten -•Drogenpolitik und u. a. auch wegen der oft geringen Erfolge der -•Drogenhilfe bei manchen Abhängigengruppen wird seit Ende der 80er Jahre eine Lockerung der Bestimmungen des ->Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) diskutiert. Dies würde, in Ablösung oder Differenzierung des strafrechtlichen Ansatzes, dem sozialpolitischen Ansatz als Reaktionsmöglichkeit entsprechen (-•Kriminalisierung). Durch die L. sollen Substanzen (vor allem -•Cannabisprodukte), die nach heutigem Recht dem BtMG unterliegen, den -•legalen Drogen gleichgestellt werden, was gleichzeitig eine -•Entkriminalisierung dieser Drogenkonsumenten bedeuten würde. Neben einer Teillegalisierung (Verschreibung durch Ärzte, staatlich kontrollierte Abgabe) ist sogar eine vollständige Legalisierung (Gleichstellung mit Genußmitteln) in der meist sehr ideo389

Leistungsdrogen logisch geführten Diskussion. ->Drogenfreigabe; -»-Drogenpolitik; >Kontrollierte Drogenabgabe Leistungsdrogen ^Psychostimulanzien Leistungsträger -»Finanzierung; -»Sozialrecht -•Lerntheorien L. sind theoretische Ansätze zur Erklärung und zum Verstehen von Lernvorgängen und bilden in Verbindung mit der Lernforschung auch die Basis für psychologische Erklärungsmodelle süchtigen Verhaltens (-»Psychologische Konzepte) wie auch für therapeutische Interventionen (-•'Verhaltenstherapie). Liberalisierung Die Forderung nach einem Rückzug des Strafrechts gegenüber Drogenabhängigen steht unter dem Oberbegriff der Liberalisierung. Diese wird mit strafrechtstheoretischen Überlegungen, mit dem Vorrang des Krankheitsparadigmas, mit einer abolitionistischen grundsätzlich strafrechtskritischen Position und mit dem „Genußparadigma" begründet. Der Rückzug des Strafrechts ist zu unterscheiden mit den Begriffen „Entpoenalisierung", „Entkriminalisierung" und „Legalisierung". Entpoenalisierung bedeutet, daß die Strafbarkeit des Umganges mit illegalen Drogen in Ausnahmefällen wie z.B. bei konsumbezogenen Begehungsweisen mit geringen Drogenmengen zwar bleibt, aber von Strafe abgesehen wird (die Tat bleibt crimen, es entfällt die poena.) Bei der Entkriminalisierung bleibt der Drogenumgang ein Gesetzesverstoß, ist aber keine Straftat mehr. Er ist weiterhin unrechtmäßig, also nicht legal, aber stellt kein crimen mehr dar und ist anstatt nach dem Strafrecht nach verwaltungsrechtlichen Regelungen zu sanktionieren. Die Legalisierung hat den Wegfall der Prohibition und die Gleichstellung von gegenwärtig illegalen Drogen mit ande390

Liberalisierung ren Substanzen wie Arznei- oder Lebensmitteln zur Folge. Maßnahmen und Vorschläge für eine Legalisierung reichen von einer Medizinalisierung des Drogenumganges mit einer Ausdehnung der bisherigen Substitutionspraxis durch Methadonprogramme und einer Verabreichung von Originalpräparaten wie Heroin im Rahmen einer akzeptierenden Drogenhilfe, die darauf verzichtet, ihr Angebot an die Bedingung oder das Ziel der Abstinenz von Drogen zu binden. Dazu zählt auch die Einrichtung von „Gesundheitsräumen", die den Drogenkonsumenten die Gelegenheit bietet, Drogen unter hygienischen Bedingungen und in der Nähe von medizinischer Hilfe zu spritzen. Auch wenn die strafrechtliche Zulässigkeit von „Gesundheitsräumen" aufgrund des Wortlautes § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 BtMG (-»Betäubungsmittelgesetz) sehr umstritten ist und Probleme mit dem Legalitätsprinzip und staatlichem Verfolgungszwang von Straftaten bestehen, so zeigt der als erfolgreich eingestufte Betrieb von solchen Einrichtungen, daß eine an den Bedürfnissen der Drogenkonsumenten und des sozialen Umfeldes ausgerichtete Drogenpolitik in Zusammenarbeit von Sozialer Arbeit, Polizei und Staatsanwaltschaften auch gegen rechtliche Bedenken möglich ist (vgl. hierzu die Auseinandersetzung zwischen: Hoffmann-Riem 1998; Bölter 1998). Am Beispiel der Gesundheitsräume ( >Druckraum) wird deutlich, daß wirkungsvolle Maßnahmen der Drogenpolitik sich nur durch den Sinn und Zweck des Hilfeangebotes, nicht jedoch durch strafprozessrechtlich-dogmatische Erwägungen begründen lassen (Gebhardt 1998, 639-646). Deshalb will die Bundesregierung die Unsicherheiten der fehlenden rechtlichen Grundlage sowohl für die Betreiber (Kommunen) als auch für die Nutzer sowie für die mitwirkenden Institutionen auf Seiten der sozialen Fachkräfte und die Organe der sozialen Kontrolle (Polizei, Justiz) beseitigen,

Liberalisierung

wie im Drogen- und Suchtbericht 1998 (BMG 1998) erklärt wird (S. 4). Nach den internationalen Vorgaben ist Deutschland jedoch auf eine mehr oder weniger repressive Linie in der Drogenpolitik und der Ausrichtung des Drogenrechts verpflichtet. Der Umgang mit Drogen ist auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke beschränkt. Eine generelle Verwendung zu Genußzwecken darf nicht zugelassen werden (Gebhardt 1998, 639). Gleichwohl praktizieren einige Länder wie die Niederlande oder die Schweiz eine liberale Drogenpolitik und werden dafür auch dementsprechend durch den UN-Drogenkontrollrat getadelt. So beanstandet dieser im Jahresbericht die permissive Drogenpolitik der Niederlande, weil die Zahl der „Coffeshops" mit fast 2000 zu groß sei und der Anbau von Cannabis insgesamt und die Neuzüchtung besonders wirkstoffhaltiger Pflanzensorten zugenommen habe (vgl. Gebhardt 1998, 639). Die liberale Drogenpolitik und mit ihr ein weit ausgelegtes Drogenrecht werden auch von anderen Institutionen wie z.B. dem Zusammenschluß „Europäische Städte gegen Drogen" (ECAD) heftig kritisiert, verbunden mit der Aufforderung an den UN-Drogenkontrollrat, tätig zu werden. Die ECAD fordert u. a., die legale Abgabe von Rauschgiften zu beenden. Die ECAD ist demgemäß Verfechter einer restriktiven Drogenpolitik und vertritt folgende Sichtweise: „Die sogenannten wissenschaftlichen Heroinabgabeprojekte in der Schweiz sind nichts anderes als ein Versuch, Drogen quasi hintenherum zu legalisieren. Dies muß verhindert werden, indem man den UNO-Programmen zur Drogenkontrolle (UNDCP; -•United Nations International Drug Control Programme) den Auftrag erteilt, Heroinimportlizenzen zurückzuziehen, wenn das Heroin für den Konsum durch Süchtige bestimmt ist" (Zeit-Fragen Nr. 34 v. 1. 2. 1997, S. 3). Ebenso wird gefordert, Cannabisprodukte in Bezug auf Prävention,

Liberalisierung

Rehabilitation und Kontrolle wie andere Rauschgifte zu behandeln und damit die Unterscheidung zwischen „harten" und „weichen" Drogen aufzugeben, damit auch der Konsum von Cannabisprodukten „hart" geahndet werden kann. Dagegen haben wiederum die Fürsprecher einer liberalen Sichtweise die Initiative „Europäische Städte im Zentrum des illegalen Drogenhandels" gebildet und bereits 1990 mit der „Frankfurter Resolution" eine Streitschrift für verbesserte Maßnahmen einer „akzeptierenden Drogenhilfe" beschlossen (Gebhardt 1998, 639). Auch der 24. Deutsche Jugendgerichtstag verabschiedete auf seiner Sitzung im September 1998 seine Thesen zum Thema „Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter - Prävention und Reaktion" zur Frage der Drogenpolitik die gegenteilige Position. Die These lautet: „Im Rahmen einer rationalen Drogenpolitik, die sich nicht am Ziel einer drogenfreien Gesellschaft, sondern der Sicherheit und Gesundheit der Bürger orientiert, ist nach Schweizer Vorbild ein umfassender und multizentraler Modellversuch einer ärztlich kontrollierten Heroinvergabe an Heroinabhängige, die über andere Behandlungsformen nicht erreichbar sind, zu ermöglichen. Zusätzlich ist eine flächendeckende Substitutionsbehandlung in Form einer kassenfinanzierten Behandlung durch niedergelassene Ärzte zuzulassen" (Dt. JGT 1998, 297). Das Drogenrecht wird in zwei entgegengesetzten Richtungen eingesetzt. Zum einen sind im „war on drugs" Verschärfungen der Strafverfolgung und „Kriegserklärungen" gegen das Rauschgift auf Seiten der US-amerikanischen Drogenpolitik und der internationalen Organisationen zu verzeichnen. Auf der anderen Seite ist von einer Liberalisierung des Drogenrechts die Rede, wie sie hauptsächlich in einigen europäischen Ländern praktiziert wird. Während das Konzept des Rauschgiftkrieges auf höhere Strafdrohungen, 391

Liberalisierung

Mehraufwendungen für Polizei und Strafvollzug, schärfere Grenzkontrollen und eine Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit von Polizei und Militär sowie auf einen verstärkten Druck auf insbesondere die mittel- und südamerikanischen Produzentenstaaten abstellt, wie dies in modifizierter Form von Executive Director Pino Arlacchi des United Nations International Drug Control Programme (UNDCP) bestätigt worden ist (UNDCP 1998), setzt die Liberalisierung auf differenzierte Maßnahmekataloge. In diesem Zusammenhang ist der Cannabis-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von Bedeutung. Dieser wurde als Freigabe oder als Legalisierung von Drogengebrauch verstanden. Richtigerweise ist die Entscheidung als eine Variante einer verfassungsrechtlichen Einstellungspflicht nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstehen und ist ein Beitrag zur Entpoenalisierung. Nach dem Übermaßverbot ist dem BVerfG zufolge von der Verfolgung derjenigen Straftaten abzusehen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind (BVerfG NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 1994, 1577). Der Beschluß des BVerfG wird in der Kritik als sehr widersprüchlich interpretiert, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll (vgl. dazu nur das abweichende Votum des Richters Simon 1994, 1588ff.). Bemerkenswert ist die neue Argumentationsfigur des BVerfG über die internationale Komponente. Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) wird „zugleich als Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur internationalen Kontrolle der Suchtstoffe und psychotropen Stoffe, zur Kontrolle des Umgangs mit diesen Stoffen sowie zur Bekämpfung des illegalen Drogenmarktes und der an ihm beteiligten kriminellen Organisationen" bewertet, 392

Liberalisierung

„die ein gemeinsames Anliegen der in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staatengemeinschaft sind und nach deren übereinstimmender Uberzeugung nur im Wege einer Zusammenarbeit der Staaten mit Aussicht auf Erfolg ins Werk gesetzt werden können" (BVerfG NJW 1994, 1579). Wie Nelles/Velten zu Recht feststellen, hat das BVerfG damit die Definitionsmacht für gesetzliche Zielvorstellungen und die Zwecktauglichkeit von Strafvorschriften bedingungslos der „übereinstimmenden Überzeugung" der Vereinten Nationen anheimgestellt (Nelles/Velten 1994, 366). Nach Ansicht des BVerfG diene das BtMG Gemeinschaftsbelangen der Vereinten Nationen, die vor der deutschen Verfassung Bestand hätten. Gerade der Umstand, daß internationale Abkommen „bei der Bekämpfung des Drogenmißbrauchs und des unerlaubten Verkehrs mit Drogen zunehmend auf den Einsatz strafrechtlicher Mittel" setzen, macht nach Überzeugung der Mehrheit des BVerfG ein entsprechendes strafrechtliches Verbot erforderlich (BVerfG NJW 1994, 1581), ohne dieses jedoch genauer zu begründen. Indessen vermag Sommer der Entscheidung des Senats nicht in vollem Umfang zuzustimmen (Abweichende Meinung des Richters Sommer NJW, 1994, 1588), ebenso wie große Teile der Literatur (Nelles/Velten 1994, 366ff.; Böllinger 1994,405 ff.). Nach Ansicht Sommers verletzt die Strafdrohung des BtMG gegen Einfuhr, Durchfuhr, Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten (insbesondere Haschisch) auch in geringen Mengen zum Eigenverbrauch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I G G ) und die Würde des Menschen (Art. 1 I GG), beide in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine Verletzung des Grundgesetzes wird aber nicht deshalb gegenstandslos, weil sie auf einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland beruht (BVerfG NJW 1977, 2029).

Lösemittel Insbesondere Sommer und zuvor bereits Schneider ( 1 9 9 2 , 4 8 9 ) prüften die Frage der Entkriminalisierung der Konsumverhaltensweisen im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik. Sie kommen im Gegensatz zum BVerfG zu dem Schluß, daß die für geboten gehaltene Entkriminalisierung des Eigengebrauchs bestimmter Drogen durchaus mit den internationalen Abkommen vereinbar seien (wie auch bereits Böllinger 1991, 407). >Drogenfreigabe; •Drogenpolitik; ^Drogenrecht; ->Drogenrecht (internationales und europäisches) Lit.: B M G (1999), Drogen- und Suchtbericht 1998, Bonn, in: http://www.bmg gesundheit. de / krankheit/ubersi2. htm; Böllinger, L. (1991), Strafrecht, Drogenpolitik und Verfassung, in: Kritische Justiz, Heft 4, Jg. 24, S. 3 9 3 - 4 0 9 ; Bolter, Η. (1998), Ist der Betrieb von Fixerstuben wirklich straflos? in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 5, 18. Jg., S. 224—226; Gebhardt, Ch. (1998), Drogenpolitik, in: Kreuzer, A. (Hg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, München, S. 5 8 7 - 6 4 6 ; HoffmannRiem, W. (1998), Gutachten - Ist der Betrieb von Gesundheitsräumen strafbar, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 1, S. 7ff.; Nelles, W„ Velten, P. (1994), Einstellungsvorschriften als Korrektur für unverhältnismäßige Strafgesetze? in: Neue Zeitschrift für Straf-

LSD recht, Heft 8, S. 3 6 6 - 3 7 0 ; Schneider, H. (1992), Entkriminalisierung der Konsumverhaltensweisen des Betäubungsmittelstrafrechts im Lichte internationaler Verpflichtungen, in: Der Strafverteidiger, Heft 10, S. 4 8 9 - 4 9 2 ; UNDCP (1998), in: http://www.un.org/ga/20spezial/presskit/themes/judcoo-1 .htm Peter Schäfer, Lüneburg Lösemittel Über die Inhalation von L.-Dämpfen (beispielsweise Klebstoff- oder Lackverdünner, Nagellack- oder Fleckentferner) können erhebliche Rauschzustände erzeugt werden. »-Schnüffelstoffe Low-Dose-Dependence L.-D.-D. bezeichnet eine Abhängigkeit von einer Substanz ohne Dosissteigerung. Eine -•Abhängigkeit ist - unterschieden j e nach konsumierter Substanz - dennoch durch die regelmäßige Einnahme gegeben. Besonders häufig trifft man dieses Phänomen bei der -•Medikamentenabhängigkeit an. LSD L S D ist die Abkürzung für LysergsäureDiäthylamid, ein chemisches Rauschmittel, das neben -»Meskalin zu den klassischen -•Halluzinogenen gerechnet wird. Es ist eine -•psychoaktive Substanz, die schon in geringen Mengen Sinnestäuschungen hervorrufen oder auch Sinneseindrücke verändern kann. -•Drogenabhängigkeit

393

Männer

Maturing out Μ

Männer -»•Geschlechtsspezifische Aspekte Sucht

der

Mafia M. ist ein Sammelbegriff für die organisierte Kriminalität. Ursprünglich handelte es sich um eine Selbsthilfeorganisation mit den Aufgaben Schutz, Vermittlung und Organisation, die sich 1282 in Italien gründete. Heute sind die weltweit agierenden diversen M. straff geführte Organisationen, die in verschiedene Gruppen („Familien") differenziert und hierarchisch auf eine absolute Führungsperson ausgerichtet ist. Zentrales Merkmal ist die Verquickung von legalen und illegalen Tätigkeiten mit starken Verflechtungen in Politik, Justiz und Militär. Beim globalen -»· Drogenhandel gibt es Versuche der Oligopolisierung als ein Drogenmonopol, das auf nur wenige mafiose Großunternehmen aufgeteilt ist (z.B. das Syndikat von Medellin). Die Realität ist aber (noch), daß eine ganze Reihe mehr oder weniger miteinander kooperierender, öfter aber miteinander konkurrierender und sich bekämpfender „Mafias" bestehen, die sich um starke Einzelpersonen oder Kemfamilien gruppieren und die den Markt nach entsprechenden freiwilligen oder erzwungenen Absprachen unter sich aufteilen. Magersucht Anorexia nervosa; Pubertätsmagersucht; -»Eßstörung, die durch Nahrungsverweigerung (trotz häufig vorhandenem Appetit), gestörter Körperwahrnehmung, Krankheitsverleugnung u. a. gekennzeichnet ist. Besonders betroffen sind Frauen zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr; die geschätzte -»-Prävalenz in Deutschland liegt bei steigender Tendenz bei 1% Frauen und 0,08% Männer. Magische Pflanzen Die Wirkungen von -»Halluzinogenen wurden seit altersher gesucht und gefun394

den. Das >LSD dagegen mit ganz ähnlichen Eigenschaften wie die m. Pf. ist eine ganz junge Entdeckung (Anfang der 1940er Jahre). Die magischen Pflanzen oder halluzinogenen Pflanzen (-»•Drogenpflanzen) gehören zur Kulturgeschichte der Menschheit. Seit Jahrtausenden wurden über die Verwendung von Pilzen, Gräsern, Lianen, Kakteen, Orchideen und Sträuchern halluzinogene Zustände, meist in magisch-religiöser Verwendung, erzeugt. Zu den bekanntesten m. Pf. die oft in rituelle Konsumformen eingebettet oder Bestandteil schamanistischer Ekstasetechniken waren, gehören die „Hexenkräuter" -»•Bilsenkraut, -»-Tollkirsche und -»-Alraunwurzel, -»-Mutterkorn und Peyote (-»•Meskalin). -•Drogenpilze Marihuana Die weltweit verbreitete Droge M. wird aus den getrockneten Blättern und Blüten der Hanfpflanze gewonnen und über Rauchen konsumiert. -»Cannabis Maturing out 1. Definition und Forschungsstand. Die erstmalig von Winick (1962) formulierte M.-These besagt: Opiatabhängige Personen wachsen mit zunehmendem Alter eo ipso durch den „Reifungsprozeß" einer zunehmenden Orientierung an konventionellen Rollenmustem aus ihrem Abhängigkeitsstatus heraus. Empirisch stützte sich Winick dabei lediglich auf die Analyse von Strafregistern und zog allein das Kriterium der Legalbewährung heran. Er stellte fest, daß von 7234 Personen, die mindestens fünf Jahre lang aufgrund von Drogendelikten bei der zuständigen Behörde des Federal Bureau of Narcotics regelmäßig registriert worden waren, zum Untersuchungszeitpunkt ca. 65% seit mindestens fünf Jahren nicht erneut strafrechtlich auffällig geworden sind. In der Bundesrepublik kamen Lange/Günther (1983) erstmals in einer vergleichbaren

Maturing out

Auswertung zu ähnlichen Ergebnissen. Von 1148 im Zeitraum zwischen 1968 und 1974 bei der Hamburger Koordinationsstelle für Rauschmittelfragen registrierten Personen wurden unter Einbeziehung der Mortalitätsquote (9%) insgesamt 77% (= 880) seit spätestens Anfang der 80er Jahre nicht erneut aktenkundig. Erwähnenswert ist der Sachverhalt, daß von den registrierten Neueinsteigern in den Jahren 1975-1977 ( N = 405) ca. 20% lediglich im Jahr ihrer Erstregistrierung strafrechtlich in Erscheinung traten. Auch wenn die Möglichkeit eines kontrollierten, sozialintegrierten Gebrauchs konzidiert wird, führt Lange (1986) in seiner Ergebnisinterpretation die Vermeidung strafrechtlicher Auffälligkeit auf die erfolgreiche Polizeiarbeit, das umfangreiche Netz von Beratungs- und Behandlungseinrichtungen und nicht zuletzt auf einen allgemeinen Wertewandel, der sich in dem „Zerfall der Freak-Kultur" beobachten lasse, zurück. Die Kritik an Winick richtete sich neben seiner zu ungenauen Berücksichtigung der Mortalitätsrate vornehmlich auf den Sachverhalt, daß selbst eine langjährige Vermeidung strafrechtlicher Unauffälligkeit nicht automatisch auf die Konstituierung eines Opiatabstinenzstatus schließen läßt (Weber/Schneider 1997). Zudem reicht es nicht aus, - und diesen Eindruck erweckt Winick die Drogenverlaufsentwicklung als einen automatisch durch das Lebensalter sich selbst begrenzenden Vorgang zu deuten. Allerdings konnte auch in anderen, die M.These überprüfenden Studien, ein relevanter Zusammenhang zwischen der Konstituierung eines Opiatabstinenzstatus und dem Lebensalter ermittelt werden. Hier ließ sich die These von Winick, ca. zwei Drittel der Opiatkonsumenten stelle den Gebrauch im Laufe der dritten Lebensdekade ein, teilweise bestätigen und zugleich relativieren (vgl. zusammenfassend: Weber/Schneider 1997). Angesichts methodischer und interpretativer Unterschiede zwischen

Maturing out

den Studien, die eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschweren, sind verallgemeinernde Aussagen schlecht möglich. Da die These des M. bisher nur anhand des Kriteriums der Legalbewährung begründet wird und sie sich ausschließlich auf kriminalstatistische Erhebungsdaten stützt, war es bisher nicht möglich, die Prozesse des Herauswachsens im lebensgeschichtlichen Kontext zu verfolgen und damit auch die Ausstiegsmotive und die diese unterstützenden personalen und sozialen Ressourcen subjektbezogen zu erfassen. Die weitverbreitete Definition von sog. „Selbstheilern" oder „Spontanaussteigern" (Autoremission) ist sehr skeptisch zu beurteilen. Diese eher mechanistisch gedeutete Annahme verkennt, daß ein selbsteingeleiteter Ausstieg aus dem zwanghaften und exzessiven Drogengebrauch (kompulsiver Gebrauch) ohne überwiegende professionelle Betreuung durch vielfältige Bedingungen vorbereitet und auch mitgestaltet wird, also kaum spontan oder gar natürlich geschieht (als ein Münchhausenakt). Die Umschreibung eines komplexen Ausstiegsverlaufs mit „Spontanremission" zu fassen, suggeriert darüber hinaus einen abrupten „Clear cut". Auch singulare Wendepunktereignisse, die nicht zwangsläufig mit individuellen „Reifungsprozessen" und Entwicklungsfortschritten in konventionellen Lebenskontexten korrelieren, können eine entscheidende Bedeutung haben. Dies zeigt beispielsweise die berühmte Vietnamstudie von Robins (1975) eindrucksvoll auf: Vietnamrückkehrer, die vor Ort opiatabhängig waren, gaben ihren Konsum nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten mehrheitlich auf. Die Ausstiegsverlaufentwicklung läßt sich als „Stop and Go", als eine Kombination von „pushes" aus dem Drogenkontext und „pulls" in konventionelle Lebensbereiche beschreiben (vgl. Biernacki 1996). Der Heilungsbegriff impliziert ferner etwas Endgültiges, schließt die Entwicklung autonom kontrollierter Gebrauchsformen von 395

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vornherein aus. Die Autoren der Studie „Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen" definieren insofern Ausstiegsversuche als einen Prozeß, der selbstinitiiert, privat organisiert und umweltgestützt anzusehen ist (Weber/Schneider 1997). Ausstiegsprozesse als Übergangsverläufe (Transitionen) sind demzufolge keine linearen Abläufe, sondern Bewegungssequenzen innerhalb eines Entwicklungsprozesses, und sie stehen in einem Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung von Person und Umwelt. Bewältigungsanforderungen und Bewältigungsanstrengungen sind von daher vielfältig und wechselseitig voneinander abhängig (drug adiction trajectory, vgl. Prins 1995). Folgende, unterschiedliche Entwicklungsverläufe sind möglich: - ein relativ undramatisches, stufenförmiges Herauswachsen aus drogenspezifischen Lebenskontexten; - eine „Entproblematisierung" des zwanghaften und exzessiven Drogengebrauchs durch Etablierung kontrollierter Gebrauchsvarianten als Vorstufe oder Produkt des selbsteingeleiteten Ausstiegsprozesses; - einen komplexen „DevelopmentChange"-Effekt unterschiedlicher und zeitintensiver Ausstiegskonsequenzen bis zur relativen Abstinenzstabilisierungsphase (vgl. Weber/Schneider 1997). Die Ausstiegssequenzen selbst sind höchst heterogen und variabel und verbieten demzufolge unzulässige Verallgemeinerungen. Nach den Ergebnissen des Forschungsprojektes „Herauswachsen aus der Sucht" entwickelt sich eine Ausstiegsmotivation zum einen aus der Angst vor weiterer oder auch nur vorweggenommener Verelendung, zum anderen aus dem Bedürfnis nach bewußter Umweltkontrolle und zum dritten aus zufälligen Ereignissen wie der Tod einer nahestehenden Person, Schwangerschaft oder Momente „totaler Selbstbewußtheit" (Naked-Lunch-Motiv) unter dem Motto „So kann es nicht weitergehen". 396

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Eine Bereitschaft zum Ausstieg entsteht also nicht erst, wenn Drogengebraucher aufgrund von Intensität und Ausweglosigkeit ihrer Drogenentwicklungsgeschichte „reif werden, sich einer stationären Therapie zu unterziehen. Die Entwicklung hin zu einem selbstinitiierten und privatorganisierten Ausstieg als Übergangsprozeß setzt die Nutzung und Wirksamkeit von vorhandenen Stützsystemen (personale, sozialgesellschaftliche, materielle Ressourcen) und die Vorwegnähme positiver Folgen der (relativen) Abstinenz voraus. Illegalität und Kriminalisierung führen oft zu einer Verfestigung drogaler Identität, die Ausstiegsprozesse oder auch die Entwicklung kontrollierter Gebrauchsformen verhindert. M. als Selbstsozialisierung und Erweiterung von Handlungsspielräumen ohne überwiegenden Drogengebrauch kann als dynamisches Geschehen interpretiert werden. M.-Prozesse werden durch die wechselseitige Einflußnahme von Person (Ausstiegsmotive), Drogengebrauch (kontrollierter Gebrauch oder Substitution), Umwelt (Stützsysteme) und antizipatorischer Zielbewertung (Arbeit, Beruf, Ausbildung, soziale Anerkennung, Statushebung, Selbstwertgefühl, Selbstachtung) gesteuert. Ausstiegsszenarien als Übergangsverläufe haben spezifische, personenbezogene Entscheidungs- und Motivationsprozesse zur Voraussetzung: Selbstveränderungswunsch, Selbstaufforderung, Unterstützungswahrnehmung, Fähigkeitswahrnehmung, Selbstverantwortlichkeit (Schneider 1996; Weber/Schneider 1997). Eines bleibt jedoch zu bedenken: M.Prozesse sind nicht kausalanalytisch festlegbar. Es erfolgt kein quasi automatisch vollziehender Prozeß der Abwendung vom dysfunktional erlebten Drogengebrauch. Daraus folgt, daß M.Prozesse nicht planbar sind. Insofern verbietet sich eine wie auch immer geartete prognostische Ausstiegsmodellkonstruktion: Zu vielfältig, plural, mehrdeu-

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tig und multiperspektivisch stellen sich Ausstiegsprozesse und Ausstiegsbedingungen dar. Ohne das „Wollen" des Subjekts, seine Selbstverantwortungsübernahme geschieht zudem nichts. 2. Ein phasenspezifisches Ausstiegsmodell. Neben der bereits erwähnten Initialphase durch spezifische Ausstiegsmotive und Schlüsselereignisse als Bildung einer expliziten Ausstiegsmotivation ist die eigentliche Überwindungsphase das zentrale „Problem" des M.-Prozesses. Die Überwindung des zwanghaften Drogengebrauchs beinhaltet einen Prozeß „abwärtsgerichteter Phasenmobilität". Die Aktivierung persönlicher Ressourcen, die Nutzung des vorhandenen dichten Netzes sozialer Unterstützung, evasiv-konzentrative Strategien des Umgangs mit „Drug-Cravings" (Drogensehnsüchte), bewußte Distanzierung von drogenspezifischen Lebenskontexten und die Bewältigung von weiterhin gültigen Kriminalisierungs- und Stigmatisierungseffekten kennzeichnen diese eigentliche Überwindungsphase. Die „Beziehungslockerung" zur öffentlichen Drogenszene und die Aktivierung adäquater Handlungs- und Bewältigungsstrategien im Verbund mit der effektiven Nutzung verfügbarer Unterstützungspotentiale können als wesentliche Anforderungen der Überwindungsphase angesehen werden. Soziale Stützungssysteme stärken die Umsetzungsmotivation und das Selbstwertgefühl: Sie wirken als Puffer und psychosoziales „Immunsystem" in möglichen Krisensituationen. Forschungsergebnisse verdeutlichen, daß die Verfügbarkeit über soziale Unterstützungsressourcen und deren Nutzung als wesentliches „soziales Kapital" für die Bewältigung des M.-Prozesses anzusehen ist (zusammenfassend: Happel/Fischer/Wittfeld 1993: Schmidt 1996; Estermann 1996; Weber/Schneider 1997). In der sich anschließenden Phase der vorläufigen Integration als Stabilisierungsphase geht es um die fortschrei-

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tende, lebenspraktische „Testung" relativ drogenfreier Lebensführungen: Perspektivenentwürfe und erste Realisierungsversuche. Die sich entwickelnden, nicht drogenbezogenen Lebenskontexte (Partnerschaft, Ausbildung, Beruf, Freizeitverhalten) beginnen sich zu „konsolidieren". Die soziale Integration wird durch eine „neue" biographische Gesamtbilanzierung begleitet. Alternativen zum Drogengebrauch besitzen nun einen höheren Stellenwert, wobei der gelegentliche Gebrauch von Cannabisprodukten und/oder der kontrollierte Gebrauch von Heroin/Kokain als zukünftige Konsummotivation nicht als destabilisierend vorweggenommen wird (vgl. Weber/Schneider 1997). Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es nicht ausreicht, M.-Prozesse quasi als automatischen, sich mit zunehmendem Alter zwangsläufig entwickelnden Reifungsprozeß zu deuten. Auch kann eine Überprüfung der M.-These durch die monokausale Betrachtung isolierter Kriterien - etwa Abstinenz oder Legalbewährung - weder differente Ausstiegsverläufe noch die dem Ausstiegsprozeß immanente Dynamik aufzeigen. Die vorgenommene Ausstiegsskizzierung ist durch die Konstruktion einer Prozeßtypologie gekennzeichnet, die vielschichtige, sich wechselseitig beeinflussende Bedingungskonstellationen bei der Überwindung eines kompulsiven Gebrauchs erfaßt und beschreibt. Die beschriebene Entwicklungsdynamik stellt sich als sehr zeitintensiv dar. Nur über weitergehende, qualitative Prospektivstudien wären Validität und Stabilität der entwickelten M.-Typologien letztlich einzuschätzen. Eine differentielle, an Entwicklungsprozessen im Kontext orientierte Drogenforschung ist notwendig. Eine Drogenforschung, die Drogengebrauch nicht einfach als vorab definierte Größe begreift, sondern dessen psycho-soziale Bedeutung subjektbezogen, situationsspezifisch und prozessorientiert entschlüsselt. Man hätte es dann nicht mit einem wie auch immer 397

Maturing out begründeten Kausalkonzept zu tun, sondern mit einem Zugang, der die jeweils spezifischen Interpretationen und Handlungen der Drogengebraucher selbst als aktives Sich-Aneignen (sub-)kultureller drogenbezogener Erfahrungen einbeziehen kann. 3. Praxiskonsequenzen. Die Forschungsergebnisse zu M.-Prozessen machen deutlich: Eine simple Schwarz-WeißBetrachtung von Drogenabhängigen, die drogale Wirklichkeit nur in der Alternative - entweder Überdosis und Tod oder Langzeittherapie mit Umwertung aller Werte - wahrnimmt, entspringt einem Interesse an negativer Sensation: der Drogenabhängige als verwahrloste, defizitäre, Ich-entkernte und kranke Schrekkensgestalt aus einer anderen Welt. Wie falsch diese Vorstellung ist, geht daraus hervor, daß die Zahl derer, die sich selbständig aus kompulsiven Gebrauchsformen lösen oder kontrollierte, nicht auffällige Gebrauchsmuster entwickelt haben, weit größer sein muß als die Summe der Drogentoten und derer, die Langzeittherapien erfolgreich durchlaufen. Die deterministische Auffassung von sog. Abhängigkeitskriterien als automatisch verlaufende Verelendungsprozesse muß relativiert werden. Drogengebrauchsentwicklungen haben nicht den Charakter naturlogischer Abläufe - entweder in Richtung Verelendung/Tod oder Abstinenz. Drogenabhängige verfügen häufig noch über ein großes Repertoire an Verhaltensalternativen, und das heißt auch: Sie sind nicht generell „behandlungsbedürftig" und handlungsunfähig. Die Chancen zum selbstorganisierten Ausstieg als M.-Prozeß oder zur Etablierung kontrollierter Gebrauchsformen werden von nicht wenigen - selbst unter kriminalisierten Lebensbedingungen - genutzt. Dies macht auch eine Neuorientierung sekundärpräventiver Maßnahmen (-»·Sekundärprävention) im Rahmen der Drogenhilfe als Verhinderung von Gebrauchsstabilisierungseffekten notwen398

Maturing out dig. Unter dem Stichwort „akzeptanzorientierte Drogenarbeit" (-•Akzeptierende Drogenarbeit) werden derartige Maßnahmen zur Schadensminimierung (Harm Reduction) und Überlebenshilfe seit langem diskutiert und teilweise auch umgesetzt. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit zielt - ohne ein gesetztes Abstinenzgebot - auf die Verringerung der gesundheitlichen, sozialen und psychischen Risiken des Drogengebrauchs und berücksichtigt dabei das Selbstbestimmungsrecht der Konsumenten. Begreift man akzeptanzorientierte Drogenarbeit als adressaten- und bedürfnisbezogene Perspektive der Einbeziehung vorhandener Handlungskompetenz von drogengebrauchenden Menschen, dann sollte eine so verstandene, „empowermentorientierte" Drogenarbeit als selbstorganisierender Prozeß im Alltagsleben, auf die Aufhebung der „Opfer- und Klientenrolle" von Drogengebrauchern zielen. Selbstgestaltung als Stärkung der Selbstbemächtigung mit und ohne Drogengebrauch statt Zwangskorrektur, so läßt sich zusammenfassend das Grundverständnis einer akzeptanzorientierten Drogenhilfe beschreiben (Schneider 1993; Gerlach/Engemann 1996). Praktisch umgesetzt, bedeutet dies einen paradigmatisch begründeten Wechsel von abstinenzbezogenen Abschreckungsund Immunisierungsstrategien hin zu sachgerechten, auf Vor- und Nachteile zielenden, ausgewogenen, kontextnahen und risikominimierenden Substanzaufklärungen im Sinne der Stützung regelund auch genußbezogener Gebrauchsformen. Es geht um eine Szenen- und konsumentennahe „Verbraucherberatung" ohne Kolonialisierungsabsicht als pragmatische „Suchtprävention" jenseits einer Moral induzierten, sklerotischen Anti-Drogenaufklärung. Im Zusammenhang mit der Einführung von Substitutions- und Spritzenaustauschprogrammen kennzeichnet dieser neue Richtungsverlauf sowohl das professionelle als auch das Selbsthilfe-An-

Medien gebot im Drogenhilfebereich. Ansatzpunkt ist nicht die alleinige Motivierung kompulsiver Drogengebraucher zur Annahme einer stationären Langzeittherapie, nicht die Orientierung am Abstinenzpostulat, sondern die Unterstützung zur selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Erarbeitung realisierbarer Lebensperspektiven mit und ohne Drogen. Innerhalb eines M.-Prozesses kann beispielsweise die Stützung der Selbstwirksamkeitserwartung ein protektiver Faktor gegen belastende Erfahrungen, Drogencravings, negative Emotionen und Gesundheitsverschlechterungen sein: Sie kann eine Art von funktionalem Optimismus beeinflussen, bei dem die Betonung auf den eigenen Ressourcen liegt. Zusammengefaßt kann festgehalten werden: Sachgerechte Substanzaufklärung als Verbraucherberatung und Safer Use zielt vordringlich auf die Minimierung von Gebrauchsrisiken, auf die Vermeidung kompulsiver Gebrauchsmuster und auf die Unterstützung selbstbezogener Ausstiegsprozesse (relative Abstinenz, kontrollierter Gebrauch). Eine weitergehende Praxisumsetzung ist leider zur Zeit noch mit Vorurteilen wie Konsumanreizschaffung und Verharmlosung belastet. Es herrscht nach wie vor irrationale Drogenangst und das Mißverständnis vor, daß eine Akzeptanz gleichzeitig eine moralische Sanktionierung bedeutet. Dabei ist es Realität: Drogengebrauch ist weder moralisch noch strafrechtlich „abschaffbar", es gibt keinen Königsweg als Patentrezept. Eine weitergehende „Normalisierung" der Lebensbedingungen von Gebrauchern illegalisierter Drogen wird aber erst dann gelingen, wenn sich auch die Drogenpolitik notwendigen Konsequenzen (personen- und handlungsbezogene Entkriminalisierung, substanzbezogene Legalisierung) nicht länger verschließt. Lit.: Biernacki, P., Pathways from Heroin Addiction. Recovery without Treatment, Philadelphia, 1986; Estermann, J.,

Medien Sozialepidemiologie des Drogenkonsums. Zur Prävalenz und Inzidenz des Heroin- und Kokaingebrauchs und dessen polizeiliche Verfolgung, Berlin, 1996; Gerlach, R., Engemann, S., Zum Grundverständnis akzeptanzorientierter Drogenarbeit, Münster, 1996; Happel, Η. V., Fischer, R„ Wittfeld, K„ Selbstorganisierter Ausstieg. Forschungsbericht, Frankfurt, 1993; Lange, K. J„ Neuere kriminalistische Beobachtungen zum Verlauf von Opiatabhängigkeit, in: Suchtgefahren 17 (1986) 2: 112-116; Lange, K. J., Günther, E., Zur Frage des „Herauswachsens aus der Sucht" bei Opiatabhängigen, in: Suchtgefahren 14 (1983) 2, 175-180; Prins, Ε. H„ Maturing Out, Van Gorcum, 1995; Robins, L. N., Narcotic Use in Southeast Asia and Afterward, in: Archives of General Psychiatry 26 (1975) 6, 955-961; Schmidt, T., Ich habe es ohne Therapie geschafft, Rasch und Röhring, 1996; Schneider, W., Selbstgestaltete Sekundärprävention. Akzeptierende Drogenarbeit als Vermittlung und Stützung risikobewußter Gebrauchsregeln, in: Bollert, K., Otto, U. (Hrsg.), Umgang mit Drogen. Sozialpädagogische Handlungs- und Interventionsstrategien, Bielefeld, 1993; Schneider, W., Der gesellschaftliche Drogenkult. Essays zur Entzauberung von Drogenmythen in Drogenhilfe, Drogenforschung und Drogenpolitik, Berlin, 1996; Weber, G„ Schneider W„ Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen. Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg, Berlin, 1997; Winick, C., Maturing out of narcotic addiction, in: Bulletin on Narcotics (1962) 15:1-7: Wolfgang Schneider, Münster Medien Berichte in den Massen-M. (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Broschüren, Film, Funk, Fernsehen, zunehmend auch die Nutzung des Internets) haben durch den Inhalt und die Art ihrer Information einen erheblichen Einfluß auf die Wahrnehmung, Einstellungen und Verhal399

Medikamentenabhängigkeit

tensweisen großer Bevölkerungsgruppen bezüglich suchtspezifischer Themen. In aufklärender und präventiver Absicht ist dies vielfach hilfreich, verkaufsfördemde Sensationsberichte dagegen haben oft verheerende Auswirkungen u. a. bezüglich der stigmatisierenden Bilder von Drogenkonsumenten und ihrer »Lebenswelt und bezüglich des Ausmaßes der Suchtproblematik. Die Beschäftigung mit den -»-Neuen Süchten wurde zum Großteil von den Medien angeregt und ins Gespräch gebracht. -»Stoffungebundene Süchte Medikamentenabhängigkeit

1. Definitionen. Medikamentenabhängigkeit (= Arzneimittelabhängigkeit) ist in der Bevölkerung Mitteleuropas nach der Nikotinabhängigkeit (-»Nikotin) und dem Alkoholismus (-• Alkoholabhängigkeit) die dritthäufigste Suchtkrankheit (-»Epidemiologie). Einige Arzneimittel können zu -»Mißbrauch (= Abusus) und -»Abhängigkeit führen, sie werden suchtstoffhaltige Arzneimittel genannt. Im Gegensatz zu den anderen Suchtformen, bei denen nur eine (Alkoholismus) oder wenige (illegale Drogen) verschiedene Substanzen beteiligt sind, können zahlreiche verschiedene Arzneistoffe eine Suchtkrankheit (Abusus oder Abhängigkeit) auslösen. Viele dieser Arzneistoffe sind zudem noch in Form mehrerer Firmenpräparate auf dem Arzneimittelmarkt, was die Situation für den Nichtfachmann sehr unübersichtlich macht. Bei den suchterzeugenden Arzneimitteln handelt es sich größtenteils um anxiolytische (angstlösende) oder analgetische (schmerzlindernde) Arzneimittel; anxiolytische Medikamente mit kurzer Wirkungsdauer werden in hohen Dosen auch als Schlafmittel eingesetzt. Schlafmittel ist synonym mit Hypnotika. Etwa 70% aller Fälle von Arzneimittelsucht gehen derzeit auf Benzodiazepine (= Tranquillanzien) zurück, die als Anxiolytika oder Hypnotika auf dem Markt sind. Wie bei allen Suchtkrankheiten sind die 400

Medikamentenabhängigkeit

wichtigsten Motive der Einnahme suchterzeugender Medikamente die Suche nach Lust oder Unlustvermeidung, wobei im Fall der Arzneimittel das Letztere überwiegt. Im Gegensatz zu den anderen Suchtkrankheiten liegen einer Arzneimittelabhängigkeit nämlich meistens Krankheiten oder Symptome zu Grunde, deren Behandlung zum Einstieg in die Sucht geführt hat (-»Iatrogene Abhängigkeit). Am häufigsten handelt es sich um Angstkrankheiten, Depressionen und Schmerzen. Diese „Grundkrankheiten" bestehen auch während der Arzneimitteleinnahme weiter, vor allem aber brechen sie in Entzugsphasen (-»Entzug; -»Qualifizierte Entgiftung) mit verstärkter Intensität wieder aus. Ohne zusätzliche und erfolgreiche Behandlung der „Grundkrankheit" mißlingt die Therapie der Medikamentenabhängigkeit fast immer. Ansonsten entspricht die -»Therapie der Arzneimittelabhängigkeit der der Alkoholabhängigkeit, sie wird auch von den gleichen Institutionen im gleichen Setting durchgeführt. (-»Ambulante Einrichtungen; -»Fachklinik; -»Rehabilitation) Die suchtstoffhaltigen Arzneimittel lassen sich in pharmakologischen Gruppen zusammenfassen, innerhalb derer unabhängig von der Einzelsubstanz weitgehende, aber nicht vollständige Übereinstimmung von Wirkung und -»Entzugssyndrom besteht. Außerdem kann das Entzugssyndrom nach einer Substanz durch eine andere Substanz der gleichen Gruppe gelindert oder aufgehoben werden. Der Drogenszene ist dieser Sachverhalt gut bekannt: Drogenabhängige verlangen in Entzugssituationen von ihren Ärzten oft Arzneimittel, deren Wirkungen dem „ihres" Suchtstoffs ähneln. Die medizinischen Diagnosen (-•Diagnostik) „Mißbrauch" und „Abhängigkeit" werden bei den Arzneimittelsüchten ebenso wie bei Alkoholismus oder Drogensucht gestellt, in Europa meist nach den Kriterien von -»ICD-10.

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Medikamentenabhängigkeit Tab. 1: Suchtstoffgruppen mit zugehörigen Arzneimitteln (Beispiele) Hauptgruppe

Untergruppen (beispielhafte Arzneistoffe)

Opioidrezeptor-Agonisten (Opioide)

klassische Opioide (Morphin, Codein, Methadon) atypische Opioide (Pentazocin, Buprenorphin) Alkohol (in Klosterfrau Melissengeist) Barbiturate (Pentobarbital) barbituratähnliche Stoffe (Clomethiazol, Chloralhydrat) Tranquillanzien (Diazepam, Flunitrazepam) Gase (Lachgas) Dämpfe (Halothan) Kokain Amphetamine u. Ephedrine (Amphetamin, Ephedrin) Entactogene („Ecstasy", MDMA), keine Medikamente koffeinhaltige Mischanalgetika Nabilon keine Arzneimittel bekannt Ketamine

GABA-Rezeptor-Agonisten

Schnüffelstoffe Psychostimulanzien

Xanthine Cannabionide reine Halluzinogene NMDA-Rezeptor-Antagonisten Azetylcholinrezeptor-Agonisten = Cholinomimetika Azetylcholinrezeptor-Antagonisten = Anticholinergika sonstige Suchtstoffe

Mißbrauch ohne ZNS-Wirkung

Nikotinpflaster, Nikotinkaugummis Atropin, Biperiden Kavapyrone (Kava-Kava und Kavain) Glukokortikoide Anabolika Laxanzien (Senna-Glycoside), Diuretika (Furosemid)

2. Pharmakologische Gruppen. Die Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Arzneimittelgruppen, bei denen Suchtkrankheiten beobachtet werden können. Die Zusammenfassung in Gruppen bietet den Vorteil, daß Neuentwicklungen leicht eingeordnet werden können. Gerade bei den Arzneimitteln ändert sich das Spektrum der verwendeten Finnenpräparate bzw. Einzelstoffe stetig, ohne daß grundsätzlich Änderungen vorkommen. So ist derzeit (1998) Tramadol das meistverwendete Schmerzmittel vom Opioidtyp, in 10 Jahren könnten es Tilidin, Fentanylabkömmlinge oder ganz andere Substanzen sein; der Bedarf für stark wirksame Schmerzmittel aber bleibt. 2.1 Opioide (früher auch als Opiate bezeichnet) sind Schmerzmittel, die eine morphinähnliche Wirkung haben und an Opioiderezeptoren (vorwiegend im Gehirn) binden. Suchterzeugend wirken nur solche Opioide (Schmerzmittel und Hustenmittel), die im Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) wir-

ken. Die klassischen Opioide üben ihren Effekt praktisch ausschließlich über den μ-Rezeptor aus, die atypischen Opioide binden auch an andere Opioidrezeptoren. Die klassischen Opioide haben ein hohes Suchtpotential (das höchste aller bekannten Substanzen!), die atpyischen ein geringeres. Die Standardsubstanz ist das klassische Opioid Morphin (früher Morphium genannt), ein Alkaloid aus Opium, dem getrockneten Saft aus unreifen Mohnkapseln. Opium enthält außerdem Codein, das in Deutschland überwiegend als Hustenmittel verwendet wird, in anderen Ländern auch als Schmerzmittel. Daneben ist eine große Zahl halbsynthetischer und synthetischer Opioide im Gebrauch, meist als Schmerzmittel für medizinische Zwecke. Der Körper bildet auch selbst Opioide, die Endorphine genannt werden. Es handelt sich dabei um Peptide, die die Bluthirnschranke nicht passieren. Die opioidhaltigen Arzneimittel besetzen die Bindungsstellen (Rezeptoren) für körpereigene Opioide, sofern sie das 401

Medikamentenabhängigkeit

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Tab. 2: Opioide Substanzbezeichnung

Firmenname (Auswahl)

Opioidtyp

Alfentanil Buprenorphin Codein Dihydrocodein ß-Endorphin Fentanyl Levomethadon d,l-Methadon Methenkephalin Morphin Pentazocin Tilidin Tramadol

Rapifen® Temgesic® Codipront® Remedacen® entfällt Fentanyl-Janssen® L-Polamidon® Methadon entfällt z.B. MST® Fortrai® in Valoron N® Tramal®

klassisches Opioid atypisches Opioid klassisches Opioid klassisches Opioid körpereigener Stoff klassisches Opioid klassisches Opioid klassisches Opioid körpereigener Stoff klassisches Opioid atypisches Opioid klassisches Opioid Opioid, evtl. atypisch

Gehirn erreichen können, d. h. die Bluthirnschranke passieren. Die Tabelle 2 gibt eine Auswahl. Opioide haben pharmakologische Effekte, zu denen auch Entzugserscheinungen gehören. Die Effekte betreffen nicht nur das ZNS. In Tabelle 3 sind wichtige Opioidwirkungen aufgeführt. Wärmegefühl, Euphorie und intensive Glücksgefühle führen zur Abhängigkeit, die zunächst nur psychisch ist. Später wird sie durch Entzugserscheinungen nach Abklingen der Wirkung noch verstärkt. Bei Schmerzkranken mag auch die Schmerzlinderung zur Abhängigkeitsentwicklung beitragen. Dieser Teileffekt ist aber früher überschätzt worden, so daß Menschen mit Schmerzen

Opioide vorenthalten wurden, obwohl sie notwendig waren. 2.2 Alkohol, Barbiturate, barbituratähnliche Stoffe und Benzodiazepine sind GABA-Rezeptor-Agonisten, d. h. sie verstärken die Wirkung des körpereigenen Neurotransmitters γ-Aminobuttersäure (= GABA), allerdings mittels unterschiedlicher Mechanismen. GABA ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter im ZNS. All diese Stoffe wirken ähnlich, weshalb sie für Suchtkranke weitgehend austauschbar sind. Ihre wichtigsten Effekte sind Sedierung, schlafanstoßende Wirkung und Anxiolyse. Deshalb werden diese Stoffe auch häufig von Menschen mit Übererregbarkeit, Schlafstörungen oder Angstkrank-

Tab. 3: Opioideffekte und Opioidentzugserscheinungen Wirkung

zugehörige Entzugserscheinung

Schmerzlinderung (Analgesie) Stuhlverstopfung Übelkeit, Erbrechen - (kein Wirkungspendant bekannt) Hustendämpfung Atemhemmung und -lähmung Wärmegefühl Euphorie intensivstes Glücksgefühl („Flash") Pupillenverengung trockene Schleimhäute nachlassendes sexuelles Interesse Toleranzentwicklung

Hyperalgesie und Spontanschmerzen Durchfall - (kein Pendant im Entzug bekannt) Tränenfluß, Niesen Spontanhusten verstärkte Atmung Kältegefühl, Gänsehaut Dysphorie Anhedonie Pupillenerweiterung Niesen, Tränenfluß wiedererwachende Sexualfunktionen Toleranzverlust

402

Medikamentenabhängigkeit heiten genommen, meist auf ärztliche Verordnung. Alkohol ist Bestandteil zahlreicher Arzneimittel, meist als Konservierungsoder Lösungsmittel. Bekanntestes Beispiel ist Klosterfrau-Melissengeist®, nach deutschem Arzneimittelrecht ein rezeptfreies Medikament. Von diesem „Arzneimittel" mit 79 Vol.% Alkoholgehalt k o m m e n gelegentlich Abhängigkeiten vor. Durch den enorm hohen Alkoholgehalt ist ein sehr rationeller Transport, z.B. in einer Damenhandtasche möglich. Allerdings ist der Preis sehr hoch. Andere alkoholhaltige Arzneimittel haben gelegentlich Rückfälle bei nüchtern gewordenen Alkoholabhängigen in Gang gesetzt. Alkohol in Arzneimitteln wird auf Flasche, Beipackzettel und Umkarton in Vol.% deklariert. Heutzutage können dank der pharmazeutischen Technologie praktisch alle Arzneimittel ohne Alkohol hergestellt werden. Der Alkohol als Hilfsstoff ist damit ein „alter Z o p f , an dem aber von manchen Schulen zäh fest gehalten wird. Barbiturate mit ihrem hohen Suchtpotential haben früher eine große Rolle als Suchtstoffe gespielt. D a in Deutschland heute nur noch wenige Barbiturate als Arzneimittel erhältlich sind, ist diese Form der Medikamentenabhängigkeit praktisch ausgestorben. Neuerdings tauchen zunehmend Barbiturate als illegale Drogen auf, die in „Geheimlabors" synthetisiert werden. Leitsymptome der Barbituratabhängigkeit sind die starke Gier nach diesen Stoffen sowie schwere Intoxikationszeichen (Schwanken, Lallen, grobe Verhaltensstörungen); nach dem Absetzen tritt ein schweres Entzugssyndrom mit Krampfanfällen und Delirien auf. Unter den barbituratähnlichen Stoffen spielt in Deutschland heute nur Clomethiazol (Distraneurin®) eine Rolle, das bei (ehemaligen) Alkoholikern häufig zur Sucht führt. Die Verschreibung dieser Substanz an Alkoholiker ist ein Kunstfehler, lediglich die kontrollierte

Medikamentenabhängigkeit Verabreichung an diese Patientengruppe im Krankenhaus ist medizinisch akzeptabel. (-»-Iatrogene Abhängigkeit) Intoxikations- und Entzugserscheinungen entsprechen denen von Barbituraten. Zu den barbituratähnlichen Stoffen gehört auch das Chloralhydrat (Chloraldurat®), das gelegentlich als Schlafmittel im Greisenalter eingesetzt wird. Benzodiazepine sind heute die Medikamente, die am häufigsten zu Abhängigkeit (und Abusus = Mißbrauch) führen. Diese Suchtkrankheit tritt hier in 3 Formen auf: Benzodiazepinabhängigkeit bei Drogensüchtigen (über die Hälfte der Heroinabhängigen sind zumindest zeitweise benzodiazepinabhängig), Benzodiazepinabhängigkeit bei (früheren) Alkoholikern und isolierte Benzodiazepinabhängigkeit. Dabei ist die isolierte, primäre Benzodiazepinabhängigkeit die seltenste Form, d. h. ohne K o n s u m weiterer Suchtstoffe. In Deutschland sind über 20 Benzodiazepine auf dem Markt, mehr als 100 Arzneimittel enthalten einen dieser Stoffe. Ihre Indikationen sind: Anxiolyse, Sedierung, Schlafinduktion, antikonvulsive (antiepileptische oder k r a m p f h e m m e n d e ) Wirkung, Muskelrelaxation (= Muskelentspannung) und amnesiogene Wirkung (für Narkosezwecke). Zur Zeit häufig auf d e m deutschen Markt eingesetzte Substanzen sind in Tabelle 4 zusammengestellt. In hohen Dosen wirken Benzodiazepine ähnlich wie die Barbiturate. In therapeutischen Dosen hingegen ist der äußerlich erkennbare Effekt eher gering. Im Entzug tritt ein charakteristisches Entzugssyndrom auf, das auch nach jahrelangem Gebrauch in niedrigen Dosen (-»-„low dose dependency") beobachtet wird. Je höher die Dosis und j e länger der Gebrauch, desto schwerer das Entzugssyndrom. Es besteht aus folgenden Elementen: schwere Einschlafstörung (Leitsymptom!), Angst, Depressionen, Muskelverspannungen und Muskelzuckungen, Zittern, Wahrnehmungsstörungen in allen Sinnesqualitäten, (selten) Delirien

403

Medikamentenabhängigkeit Tab. 4: Benzodiazepine auf dem deutschen Arzneimittelmarkt Substanz (internationale Freinamen)

Firmenname(n)

Alprazolam Bromazepam Brotizolam Chlordiazepoxid Clobazam Clonazepam Diazepam Dikaliumclorazepat Flunitrazepam Flurazepam Loprazolam Lorazepam Lormetazepam Medazepam Metaclazepam Midazolam Nitrazepam

Tafil® Lexotanil® Lendormin® Librium® Frisium® Rivotril® Faustan®, Valium® Tranxilium® Rohypnol® Dalmadorm® Sonin® Tavor® Noctamid® Rudotel® Talis® Dormicum® Mogadan® Radedorm Tranxilium N® Adumbran® Demetrin®, MonoDemetrin® Planum®, Remestan® Musaril® Halcion®

Nordazepam Oxazepam Prazepam Temazepam Tetrazepam Trizolam '

mit optischen Halluzinationen und Verwirrtheit und (sehr selten) Krampfanfälle. Das Entzugssyndrom hält länger an als im Alkoholentzug, in Einzelfällen mehr als 4 Wochen. Es bildet sich aber bei konsequenter Abstinenz schließlich doch zurück. Die neuen Substanzen Zopiclon (Ximovan®) und Zolpidem (Bikalm®, Stilnox®) sind chemisch keine Benzodiazepine, ähneln diesen Stoffen aber. Sie wirken kürzer als die meisten Benzodiazepine, so daß bei Verwendung dieser Substanzen als Schlafmittel der „Hangover" keine Rolle spielt. „Hang-over" (Überhang) ist Tagesmüdigkeit mit psychomotorischer Behinderung am Tag nach der Einnahme eines Schlafmittels. Abhängigkeit ist aber auch nach Dauereinnahme dieser Substanzen beobachtet worden, vor allem bei früheren Alkoholabhängigen. 404

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Benzodiazepine und andere GABARezeptor-Agonisten beeinträchtigen die Fahrtauglichkeit von Autofahrern massiv. Verlangsamung und motorische Beeinträchtigung werden aber subjektiv kaum wahrgenommen, so daß Menschen unter diesen Stoffen ihre verschlechterte Fahrtauglichkeit selbst nicht erkennen. Das gilt auch für Abhängige mit Toleranzentwicklung unter diesen Stoffen. Unter Höchstdosen, wie sie Drogenabhängige oft einnehmen, nimmt auch die Geschicklichkeit bei Alltagsverrichtungen so weit ab, daß es zu Stürzen, Unfällen und Sachschäden kommt. GABA-Rezeptor-Agonisten (also auch Alkohol) sind im Schießsport als Dopingmittel (-»-Doping) verboten, unabhängig von ihrer Herkunft. Der Nachweis ihrer Einnahme bei Wettkämpfen führt zur Disqualifizierung 2.3 Die -»Schnüffelstoffe (neuerdings auch Inhalativa genannt) sind rauscherzeugende Gase oder Dämpfe, die inhaliert werden. Früher wurden meist die Narkosemittel Lachgas, Äther und Chloroform zum „Schnüffeln" eingesetzt, heute sind es eher Feuerzeugbenzin, Klebstoffverdünner, Fleckenreiniger und Farbstoffverdünner. In den USA wird neuerdings Lachgas in großem Umfang als „Partydroge" zu Rauschzwecken eingesetzt. Lachgas ist bis heute ein wichtiges Medikament in der Anaesthesiologie. Gelegentlich kommt auch der Mißbrauch von Asthmasprays vor, der wahrscheinlich eher auf die Treibgase als auf die eigentlichen Asthmamittel zurückzuführen ist. Diesem (zugegebenermaßen geringen) Risiko begegnet man zunehmend durch Ersatz der rauscherzeugenden Treibgase durch solche ohne diesen Effekt (z.B. Stickstoff). 2.4 Die Psychostimulanzien umfassen 3 Untergruppen: -»Kokain, -»Amphetamine/Ephedrine sowie Entactogene (= -»„Ecstasy"). Stoffe aus allen 3 Gruppen wirken euphorisierend, stimulierend, appetithemmend und schlafverhindernd. Unter ihrer Wirkung entsteht ein Gefühl

Medikamentenabhängigkeit

von Energie, Leichtigkeit und Tatkraft. Kokain kann daneben noch eine extreme Euphorie erzeugen, vor allem bei intravenöser Injektion und beim Rauchen (Crack ist rauchfähiges Kokain). Allerdings ist Kokain als Arzneimittel heute obsolet, es ist durch andere Lokalanästhetika ersetzt. Dagegen wird das Methylphenidat (Ritalin®) bei den Krankheiten Narkolepsie und ADHD (attention devicit hyperactivity disorder = hyperkinetisches Syndrom mit Aufmerksamkeitsdefizit) bis heute in der Medizin angewandt. Bei strikt kontrolliertem therapeutischem Gebrauch entstehen erfahrungsgemäß keine Suchtprobleme, wohl aber bei Mißbrauch durch Drogenabhängige. Eines der Entactogene, das MDMA („Ecstasy"), wurde zeitweise als PsychotherapieHilfsstoff diskutiert; wegen schwerwiegender Stoffrisiken hat sich diese Diskussion aber erledigt. Deshalb ist MDMA heute in Deutschland ein illegaler Suchtstoff. Psychostimulanzien verschlechtern die Fahrtauglichkeit durch Zunahme einer riskanten Fahrweise und Selbstüberschätzung. Das gilt ganz besonders für Hochdosisabhängige, gleichgültig, ob sie „legale" Tabletten oder „illegales speed" nehmen. Psychostimulanzien sind im Sport als Dopingmittel verboten, unabhängig von ihrer Herkunft. Vor allem Ausdauersportler nehmen Stoffe aus dieser Klasse, um ihre Dauerleistung zu erhöhen. Diese Form des Mißbrauchs führt dann gelegentlich zu tödlichen Sportzwischenfällen durch extreme Erschöpfung. 2.5 Unter den Xanthinen spielen heute nur koffeinhaltige Mischanalgetika eine Rolle als Suchtstoffe. Diese Schmerzmittel sind zwar apotheken-, aber nicht rezeptpflichtig. Sie werden oft mißbräuchlich genommen, oft in unvorstellbar hohen Dosen und über Jahrzehnte. Für die Konsumenten ist dabei wichtig, daß sie sich frisch und aktiv fühlen, was zumindest teilweise Effekt des Koffeins

Medikamentenabhängigkeit

ist. Außerdem führen hohe Dosen von koffeinhaltigen Mischanalgetika zu einem Absetzkopfschmerz, der nach Wiedereinnahme schnell verschwindet. Dadurch wird die Fortsetzung der Einnahme gleichsam erzwungen. Häufig verwandte Firmenpräparate aus dieser Gruppe sind: Thomapyrin®, Spalt®, Doppelspalt® und Vivimed®, die alle Koffein enthalten. Der Mißbrauch dieser Stoffe wird oft sorgfältig verheimlicht, so daß Angehörige, Ärzte und Psychotherapeuten nichts davon wissen. Koffein selbst in Form von Kaffee oder Tee führt nur sehr selten zur Abhängigkeit; allenfalls sind hier Koffeintabletten mit hohem Koffeingehalt (200 mg pro Tablette) zu nennen. Eine wichtige Spätfolge der Dauereinnahme von Mischanalgetika ist die „Analgetikanephropathie", die in ihrem Endstadium den Verlust der Nierenfunktion und die Dialysepflichtigkeit bedeutet. Es wird geschätzt, daß etwa 20% der Fälle von Nierenversagen auf die Einnahme von Mischanalgetika zurückgehen. Sehr hohe Koffeindosen, nachgewiesen durch hohe Urinkonzentrationen, werden in manchen Sportarten als Doping gewertet und führen zur Disqualifikation; diese Dosen können durch Kaffeeoder Teekonsum praktisch nicht erreicht werden. 2.6 Cannabinoide, vor allem das A9-Tetrahydrocannabinol (THC) als der wichtigste Inhaltsstoff von Haschisch und Marihuana, sind heute illegale Suchtstoffe. Ihr Einsatz als Arzneimittel wird aber diskutiert, vor allem für die Indikationen Augendrucksenkung, Asthma, Muskelrelaxation, Erbrechen und Hypertonie. Ein THC-Abkömmling, das Nabilon®, ist in Deutschland als Arzneimittel mit der Indikation unstillbares Erbrechen zugelassen, aber nicht auf dem Markt, da es für diesen Zweck wirksamere und nebenwirkungsärmere Arzneimittel gibt. 2.7 Reine Halluzinogene haben bisher keinen sinnvollen und gesicherten Platz 405

Medikamentenabhängigkeit

im Arzneimittelschatz. Sie sind demzufolge in Deutschland nicht zugelassen. 2.8 NMDA-Rezeptor-Antagonisten binden an einen der Glutamatrezeptoren, den sog. N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor, im Gehirn. Einer dieser Stoffe, das Narkosemittel Ketamine (Ketanest®), wird gelegentlich zu Rauschzwecken mißbraucht. Die Mehrzahl der Menschen erlebt die Wirkung dieses Stoffes aber als so quälend, daß sie ihn nach Erstexposition nie wieder einnehmen möchten. 2.9 Azetylcholinrezeptor-Agonisten (= Cholinomimetika) am Nikotinrezeptor sind wichtige Suchtstoffe, vor allem das Nikotin und das Arekolin (der wirksame Inhaltsstoff von Betel). Nikotin ist in den Arzneimitteln Nikotinpflaster und Nikotinkaugummi enthalten. Von der letzteren Arzneiform wurden gelegentlich Fälle von Abhängigkeit beschrieben, was bei der Raucherentwöhnung beachtet werden muß. 2.10 Azetylcholinrezeptor-Antagonisten (= Anticholinergika = Cholinolytika) am Muskarinrezeptor werden gelegentlich als Suchtstoffe mißbraucht oder abhängig genommen, vor allem in Form der leicht ins Zentralnervensystem eindringenden Antiparkinsonmittel Biperiden (Akineton®), Metixen (Tremarit®), Bornaprin (Sormodren®) und Trihexyphenidyl (Artane®). Motor des Mißbrauchs sind Euphorie und optische Halluzinationen unter der Wirkung dieser Stoffe. Patienten mit Parkinson-Krankheit sind vor Suchtkrankheiten aller Art geschützt; dieser Befund ist mit der Beteiligung des mesolimbischen Suchtsystems an der Entwicklung von Suchtkrankheiten gut vereinbar, da bei der Parkinson-Krankheit u. a. die ventrale tegmentale Area des Suchtsystems zerstört wird. 2.11 Unter sonstigen Suchtstoffen werden im Zentralnervensystem wirksame Substanzen subsumiert, die bisher nicht gut theoretisch und praktisch untersucht wurden; es handelt sich also um eine Restkategorie. Hier sind vor allem die 406

Medikamentenabhängigkeit

anabolen Steroide (= Steroidanabolika) und die Kavapyrone (Inhaltsstoffe des polynesischen Rauschpfeffers) zu nennen. Anabole Steroide werden nicht nur wegen ihrer Wirkung auf das Muskelwachstum, sondern auch wegen ihrer psychischen Wirkung genommen. Steroidanabolika sind wichtige Dopingmittel, vor allem bei Kraftsportlern und Bodybuildern. Ihre Einnahme in der Trainingsphase führt im Sport unabhängig von der Herkunft zur Disqualifizierung. Wahrscheinlich werden heutzutage mehr Steroidanabolika als Dopingmittel genommen als für arzneiliche Zwecke. Kavapyrone sind als Anxiolytika auf dem deutschen Arzneimittelmarkt, z.B. unter dem Namen Neuronika®. 2.12 Mit Mißbrauchsstoffen ohne ZNSWirkung werden Körperfunktionen manipuliert, ohne daß diese Substanzen im Zentralnervensystem wirksam werden. Es handelt sich bei den Arzneimitteln vor allem um Abführmittel (= Laxanzien) und harntreibende Mittel (= Diuretika). Medikamente beider Klassen werden zur Reduktion des Körpergewichts mißbraucht, z.B. von Patienten mit Bulimie oder Anorexia nervosa (->Eßstörungen). Die Dosen übersteigen den therapeutischen Rahmen oft um ein Mehrfaches. Problematisch sind dabei Mineralverluste sowie Nieren- und Darmschäden. Diuretika werden im Sport manchmal zum sog. Gewichtsdoping oder zum Kaschieren der Einnahme anderer Dopingmittel genommen. Mittels Gewichtsdoping wollen Sportler in eine niedrigere Gewichtsklasse eingruppiert werden, was sie durch massive Wasserausscheidung unter Diuretika erreichen können, allerdings um den Preis einer geringen Leistungsminderung. Das Kaschieren anderer Dopingmittel wird erreicht, wenn der Urin mittels Diuretika so verdünnt wird, daß z.B. Anabolika nicht mehr nachweisbar sind. Daher führt der Nachweis von Diuretika im Urin bei Leistungssportlern ebenfalls zur Disqualifikation, 'latrogene Abhängigkeit

Meskalin

Meditationsdrogen Lit.: Ciasing, D., Doping - verbotene Arzneimittel im Sport, Fischer, Stuttgart, 1992; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Medikamentenabhängigkeit, Lambertus, Freiburg, 1992; Geschwinde, T., Rauschdrogen. Marktformen und Wirkungsweisen, 3. erweiterte und überarbeitete Auflage, Springer, Berlin, 1996; Keup, W„ Mißbrauchsmuster bei Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten und Drogen, Lambertus, Freiburg, 1993; Krüger, H. P., Kohnen, R„ Schöch, H., Medikamente im Straßenverkehr. Auftreten Risiken - Konsequenzen, Gustav Fischer, Stuttgart, 1995; Poser, W., Poser S., Medikamente - Mißbrauch und Abhängigkeit, Thieme, Stuttgart, 1996. Wolfgang Poser, Göttingen Meditationsdrogen Als M. können Drogen bezeichnet werden, die im Rahmen meditativer Verfahren eingenommen werden, um die Meditation einzuleiten, die Meditationstiefe zu verstärken und die meditativen Erfahrungen zu intensivieren. Zu den M. gehören z.B. die verschiedenen ->• Drogenpflanzen, die bei religiösen Ritualen eine Rolle spiel(t)en. In Europa hat vor allen Dingen -»Cannabis den Ruf als Meditationsdroge erlangt, was mit der Zeitgeistströmung der 70er Jahre zusammenhängt (-»Populäre Musik und Drogen). In diese Gruppe, wenn auch nicht so verbreitet wie Cannabis, gehört auch •LSD. Der Konsum dieser Drogen diente der »„Bewußtseinserweiterung", indem nach deren Konsum Wahrnehmungsveränderungen stattfinden, die etwa Farben, Gerüche und akustische Signale stark in den Vordergrund der Wahrnehmung bringen bzw. die Umweltwahrnehmung stark verändern. Die M. gehören zur Gruppe der »Halluzinogene. Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) Unterschiedliche Anlässe können dazu führen, daß das Straßenverkehrsamt die

Durchführung einer MPU verlangt. Ca. 75% der Untersuchten mußten sich allerdings wegen Alkohol am Steuer der MPU unterziehen. Ziel der MPU ist in diesen Fällen die Wiedererlangung der eingezogenen Fahrerlaubnis. Die MPU findet in der Regel beim TÜV oder bei zugelassenen privaten Gutachtern statt und beinhaltet eine ärztliche Untersuchung, ein Gespräch mit einem Psychologen und verschiedene Leistungstests. Trotz bundeseinheitlicher Test-Grundsätze gibt es erhebliche Ermessensspielräume. Bei der MPU anläßlich von Alkoholbzw. Drogenkonsum soll geklärt werden, ob der Untersuchte auch zukünftig ein KFZ unter Alkohol- und Drogenkonsum führen wird und charakterlich geeignet ist, ein KFZ zu führen. Außerdem geht es darum, ob als Folge eines unkontrollierten Alkohol- oder Drogenkonsums Beeinträchtigungen vorliegen, die das sichere und verantwortungsvolle Führen von KFZ im öffentlichen Verkehr auch zukünftig in Frage stellen. Der Betroffene kann die MPU beliebig oft wiederholen, die Untersuchungsstelle frei wählen und auch selbst entscheiden, ob er das Gutachten der Straßenverkehrsbehörde vorlegt. Für die Straßenverkehrsbehörde ist das Gutachten lediglich eine Entscheidungshilfe, sie ist an die Ergebnisse der MPU nicht gebunden. Meerträubchen -•Drogenpflanzen Mehrfachabhängigkeit Dependency) -•Polytoxikomanie

(Multiple-Drug-

Meskalin M. ist ein -•Halluzinogen, das aus dem Peyotl-Kaktus (Mexiko und Südamerika) gewonnen wird und entweder frisch gegessen, als Absud getrunken oder nach Trocknung als sog. peyote button gekaut oder nach Aufweichen im Mund geschluckt wird. Das von über dreißig •Alkaloiden des Kaktus für die 407

Metabolismus psychische Wirkung bedeutsamste ist das Meskalin, das 1896 erstmals isoliert wurde und heute auch synthetisch hergestellt werden kann. In seiner Wirkung ist es -»LSD sehr ähnlich. -•Drogenpflanzen Metabolismus M. (syn. Stoffwechsel) ist die Bezeichnung für das Insgesamt der chemischen Reaktionen, die am Abbau bzw. der Umwandlung von Substanzen, die einem Organismus von außen zugeführt werden (z.B. Alkoholabbau über Oxidation in der Leber) sowie am Auf- und Abbau und der Umwandlung körpereigener Substanzen beteiligt sind. Methadon M. ist ein hochwirksames, den Bestimmungen des •Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) unterliegendes Schmerzmittel (synthetisches -•Opioid), das auch als Polamidon (Levomethadon) auf dem Markt ist, und das als Substitutionsmittel (-•Substitution) bei der Behandlung von Heroinabhängigen Verwendung findet. Durch die relativ geringfügigen Nebenwirkungen (Schwitzen, Obstipation, Konzentrationsstörungen u. a.), die lange Halbwertszeit von 1560 Stunden (einmalige tägliche Einnahme genügt), die Möglichkeit der oralen Einnahme und die kaum euphorisierende oder bewußtseinsverändernde Wirkung wurde M. zum weltweit verbreitetsten Substitutionsmittel. M. wird als Mittel zur Vermeidung von Entzugserscheinungen eingesetzt. Durch die fehlende euphorisierende Wirkung fällt es vielen Konsumenten aber auch sehr schwer, eine langfristige Substitutionsbehandlung ohne Beikonsum oder „Beigebrauch" von »-Heroin oder anderen euphorisierenden Drogen (Alkohol, Medikamente) durchzuhalten. -•Geschichte der Opiate Methadonbehandlung Bei der M. sind drei Arten zu unterscheiden, erstens die Kurzzeitbehandlung im Rahmen des -»Entzugs, zweitens die 408

Mißbrauch mittelfristige Behandlung (Maintenance-to-abstinence-programs) mit dem Ziel der zukünftigen Abstinenz nach erfolgter sozialer Integration und drittens die Langzeitbehandlung (Maintenancebzw. Erhaltungsprogramme) im Sinne einer medikamentengestützten langfristig angelegten Rehabilitation. -»Methadon; -»Substitution Methadonprogramm M. sind, in Abgrenzung zu den überforderten Einzelkämpfern („Drogenärzte") die Organisation und das professionelle Angebot der -•Methadonbehandlung nach unterschiedlich strengen Zulassungs- und Durchführungskriterien wie die Zeit des Heroinmißbrauchs bzw. der -abhängigkeit, Nachweis von Entgiftungsbehandlungen oder auch einer bestimmten Zahl von erfolglosen drogenfreien Therapien, Mindestalter, Aufnahme der Anamnese, körperliche Untersuchung, Teilnahme an einer begleitenden psychosozialen Therapie, Zwischenauswertungen, Abgabe nur von ausgesuchten Ärzten (Klinik/Gesundheitsamt), Mitgabe des Methadons nach Hause nur unter Urinkontrollen u. a. -•Methadon; -»Substitution Mißbrauch M. bezeichnet den falschen, unsachgemäßen, übertriebenen oder verbotenen Gebrauch von Dingen. In der Drogendebatte wird leicht der -•Konsum von -•illegalen Drogen prinzipiell als Mißbrauch bezeichnet, weil er nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verboten ist. Diese -•Klassifizierung sagt aber nichts über den jeweiligen individuellen Gebrauch einer Droge aus. Um eine ursprünglich stark medizinisch dominierte Auffassung von Drogenmißbrauch („andauernder oder gelegentlich übermäßiger Drogengebrauch, der mit einer akzeptablen ärztlichen Anordnung nicht übereinstimmt bzw. mit dieser nicht in Beziehung steht", W H O 1969) zu korrigieren, wurden von der WHO folgende Unterscheidungen eingeführt: Unerlaubter Gebrauch, Gefährlicher Ge-

Mortalität(sziffer)

Mißbrauchspotential

brauch, Dysfunktionaler Gebrauch und Schädlicher Gebrauch (WHO 1981) von Substanzen. Substanzen mit einem hohen -»Mißbrauchs- oder Suchtpotential sind in der Regel der Verschreibungsverordnung unterstellt, was einen gewissen Schutz vor der allgemeinen Verbreitung des Mißbrauchs dieser Substanzen bietet. Mißbrauchspotential Unter M. wird die Fähigkeit eines Stoffes verstanden, Mißbrauch und Abhängigkeit, also die Entstehung körperlicher und psychischer Gewöhnungsmuster zu begünstigen. -»Abhängigkeit; -»Mißbrauch Mobile Drogenprävention Die m. D. ist ein Modellprogramm der deutschen Bundesregierung (Bundesministerium für Gesundheit) das 19901993 im Rahmen des -»Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes umgesetzt wurde. Die Koordination und die wissenschaftliche Begleitung lag bei der -»Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren. Ausgehend von der Erkenntnis, daß -»Prävention weit vor dem eigentlichen Substanzkonsum beginnen sollte, wurden durch verschiedene mobile Projekte differenzierte, breitgefächerte und niedrigschwellige Präventionsmaßnahmen durchgeführt. Dazu gab es folgende Arbeitsschwerpunkte: Erreichen der Zielgruppen, Mediatorenbildung, Multiplikatorengewinnung, -»Sekundärprävention, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung. Daraus ergaben sich folgende Aufgabenfelder: Gewinnung von Personengruppen bzw. Verbänden oder Institutionen für die Planung, Entwicklung und Durchführung von Präventionsprojekten; Erschließung von Ressourcen, Initiierung und Koordination von Maßnahmen; Abbau von Schwellenängsten vor Beratung; Entwicklung von Konzepten zur Integration von Prävention in andere soziale Arbeitsfelder und Beratung für diese bei Präventionskonzepten und schließlich die Entwicklung und Umsetzung von

Projekten, die spezifisch auf die Zielgruppe Jugendliche ausgerichtet sind (z.B. Erlebnispädagogik, Rockkonzerte, Videoprojekte etc.). Aus dem Projekt wurden u. a. folgende Empfehlungen abgeleitet: Entwicklung von Suchtpräventions-Standards, Professionalisierung der Arbeit von Präventionsfachkräften, Kooperation mit anderen Arbeitsfeldern, Integration der Fächer Sucht- und Suchtprävention in relevante Ausbildungsgänge als Pflichtveranstaltungen. Morphin (synonym: Morphium). M. gehört als Alkaloid aus Opium (getrockneter Saft aus unreifen Mohnkapseln) zu der Gruppe der -»Opiate bzw. -»Opioide. -»Medikamentenabhängigkeit; -»Geschichte der Opiate Morphinbase M. ist die Bezeichnung für das wichtigste -»Alkaloid des Opiums. -»Opiate Morphinismus M. bezeichnet die Abhängigkeit von Morphium. Morphin wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Allheilmittel (Neuralgien, Migräne, Keuchhusten u.v.a.) verwendet. Der M. war schon in Folge der Kriege von 1866 und 1870/71 eine bekannte Erscheinung geworden, da Morphium damals als Mittel der Wahl bei Schmerzzuständen eingesetzt wurde. Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, die leichten Zugang zur Droge hatten, waren besonders davon betroffen. -»Geschichte der Opiate Morphium Synonym: -»Morphin Mortalität(sziffer) M. (synonym: Sterblichkeit(sziffer)) ist ein wichtiger Grundbegriff der -»Epidemiologie, mit dem das Verhältnis der Zahl der Todesfälle zur Gesamtzahl der berücksichtigten Personen in einem bestimmten Zeitraum bezogen auf eine bestimmte Fragestellung angegeben wird. Epidemiologisch ist es wichtig, 409

Motivational Interviewing

Aussagen über bestimmte Zusammenhänge (ζ. Β. Todesfälle im Verhältnis zur Gesamtzahl der weiblichen Raucher im Alter von χ Jahren im Zeitraum von y) zu gewinnen, um daraus Rückschlüsse über Präventionskonzepte zu erhalten. Problematisch dabei ist aber, die tatsächlich zum Tod führenden Fakten (unter Vernachlässigung möglicher Sekundärfaktoren) eindeutig benennen zu können. Die M. eines Landes gibt das Verhältnis der Zahl der Sterbefälle innerhalb eines Jahres zum Durchschnittsbestand der Gesamtbevölkerung an. Motivational Interviewing

Μ. I. wurde im Kontext der Beratung und Behandlung von substanzabhängigen Menschen entwickelt (Miller, 1983; Miller, 1985; Miller, 1989; Miller & Rollnick, 1991). Ziel von Μ. I. ist die Förderung der Änderungsbereitschaft hinsichtlich des Substanzkonsums und der daraus resultierenden Probleme. Es baut auf Grundsätzen humanistischer Therapieschulen auf, ist jedoch direktiver als Gesprächspsychotherapie und integriert unterschiedliche Konzepte und Methoden verschiedener Therapierichtungen. (-"-Humanistische Psychologie) Beratungs- und Behandlungsstrategien sind spezifisch auf unterschiedliche Motivationslagen abgestimmt. Die Innovation des Verfahrens besteht in der Fokussierung von Zielgruppen, die nur eine geringe Änderungsbereitschaft aufweisen oder in hohem Maße ambivalent sind. Μ. I. ist somit für Beratungssettings mit einer motivational niedrigen Zugangsschwelle geeignet. Hierzu zählen z.B. Arztpraxen, Gesundheitsämter, Beratungsstellen, Psychiatrische Kliniken und viele andere Einrichtungen, in denen die Motivation zur Verhaltensänderung häufig nicht Voraussetzung, sondern Ziel des Beratungskontaktes ist. Die wesentlichen Elemente des Μ. I. sind: fünf Grundprinzipien, fünf allgemeine Techniken der Gesprächsführung, 410

Motivational Interviewing

strukturierende Vorgehensweisen und spezifische Strategien im Umgang mit Widerstand. 1. Grundprinzipien. Die Grundprinzipien des Μ. I. sind: (1) Eine empathische Grundhaltung des Beraters, die es dem Klienten erleichtert, seine Zurückhaltung aufzugeben und sich zu öffnen. (2) Die Förderung der Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen Zielen und Wünschen des Klienten und seinem Substanzkonsum. (3) Die Vermeidung von konfrontativen, moralisierenden und stigmatisierenden Argumentationen. (4) Die Wertung von Abwehr als Ausdruck einer Störung der Interaktion zwischen Klient und Berater, die es zu bearbeiten gilt. (5) Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wird als ein wichtiges Element erfolgreicher intentionaler Verhaltensänderungen angesehen und soll daher gefördert werden. 2. Techniken der Gesprächsführung. Als besonders hilfreich für die Entwicklung einer konstruktiven Beratungssituation haben sich fünf zentrale Techniken der Gesprächsführung erwiesen: (1) Offene Fragen stellen, die den Klienten ermutigen, von sich zu berichten. Es sollen Fragen vermieden werden, die lediglich ein „Ja" oder „Nein" zur Antwort erfordern. Die Fragen sollten keine richtungsweisenden Implikationen enthalten wie zum Beispiel: „Wollen Sie etwas gegen ihr Alkoholproblem unternehmen oder weitertrinken wie bisher?" Offene Fragen (z.B. „Sie sagten, Sie hätten sich schon einmal Sorgen gemacht wegen Ihres Alkoholkonsums. Was war denn das für eine Situation?") sind geeignet, eine vertrauensvoll Atmosphäre zu schaffen, und erlauben es dem Klienten, Einfluß auf Richtung und Tempo der Beratung zu nehmen. (2) Reflektierendes Zuhören im Sinne eines einfühlenden und nicht wertenden

Motivational Interviewing

Verstehens. Durch das reflektive Zuhören erhält der Berater Zugang zu der Lebenswelt des Klienten und möglichen zentralen Inhalten und Themen seiner Problemlage. Dem Klienten wird hierbei Raum gegeben, ein differenziertes Bewußtsein über seine jetzige Lebenssituation zu entwickeln. Kontraindiziert sind: direktive Anweisungen, Warnungen oder Drohungen, Ratschläge, Lösungsvorschläge, Überredungen mit verschiedenen Argumentationen, Moralisierungen, Schuldzuweisungen oder andere Vorgehensweisen, die dem Klienten bei der Bearbeitung und Interpretation seiner jetzigen Lebenssituation eine passive Rolle zuweisen. (3) Bestätigen und Unterstützen des Klienten. Positive Rückmeldungen signalisieren dem Klienten, daß er verstanden und angenommen wird. I. d. R. geschieht dies durch kurze Bemerkungen. Hat ein Patient im Allgemeinkrankenhaus z.B. gerade berichtet, daß es ihm sehr schwer gefallen ist, ins Krankenhaus zu gehen, weil er sich wegen seiner Alkoholproblematik schämt, so könnte der Berater zum Beispiel bestätigen: „Das war ein schwerer Schritt für Sie, aber Sie haben es geschafft!". (4) Zusammenfassen zwischen zwei Gesprächsblöcken oder zum Ende der Beratung durch den Berater. Hierbei werden Gesprächsteile zusammengeführt und in eine Struktur gebracht. „Zusammenfassen" verstärkt, was besprochen wurde, zeigt den Klienten, daß sie verstanden wurden und leitet über zu einer anderen Gesprächsphase. Diese Technik ist insbesondere hilfreich, um Ambivalenzen auf Seiten des Klienten deutlich zu machen. Der Ton ist kooperativ und erlaubt den Klienten, etwas hinzuzufügen oder zu korrigieren. (5) Äußerungen zur Eigenmotivation herausarbeiten. Motive für Änderungsbereitschaft werden von den Klienten auf kognitiver, affektiver oder intentionaler Ebene geäußert. So ist die Äußerung eines Klienten „Ich habe durch meine Bauchspeicheldrüsenentzündung

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das erste Mal direkt zu spüren bekommen, daß mir Alkohol auch schaden kann", die Anerkennung eines Problems auf kognitiver Ebene. Auf affektiver Ebene spielt der Ausdruck von Sorge oft eine große Rolle bei der Herausarbeitung von Änderungsbereitschaft. Häufig wird er nicht gleich verbalisiert, sondern ist nur aus Gestik oder Mimik zu erschließen. Auch intentionale Änderungsabsichten werden nicht immer offen geäußert, sondern indirekt, z.B. durch die Frage: „Was tun denn Ihre anderen Klienten, wenn sie mit dem Trinken aufhören wollen?". 3. Strukturierende Vorgehensweisen. Strukturierende Vorgehensweisen haben das Ziel, einen systematischen Zugang zu der Problemlage des Klienten herbeizuführen. Beispiele hierfür sind: die Schilderung eines typischen Tages aus der letzten Zeit, die Verdeutlichung der positiven und negativen Aspekte des Alkoholkonsums aus der Sicht des Klienten, eine Bearbeitung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Exploration von Sorge und Beunruhigung, das Angebot von Informationen und die Unterstützung bei Entscheidungsfindung durch das Aufzeigen von Optionen. 4. Umgang mit Widerstand. Miller & Rollnick gehen prinzipiell davon aus, daß Widerstand in der Interaktion zwischen Klient und Berater entsteht. Widerstand ist ein Zeichen dafür, daß die Intervention nicht zur derzeitigen Motivationslage des Klienten paßt. Widerstand artikuliert sich insbesondere durch: (1) Einwände des Klienten, wie z.B. Zweifel an den Aussagen des Beraters, Mißtrauen oder offene Feindseligkeit. (2) Unterbrechungen des Dialogs durch Weiterreden ohne angemessene Gesprächspausen oder Unterbrechen einer Aussage. (3) Verleugnung oder Verweigerung, indem die Problematik bagatellisiert wird, Angebote ohne konstruktiven Gegenvorschlag abgelehnt werden, eine Ei411

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genverantwortlichkeit negiert wird oder die Äußerungen durchgängig pessimistisch oder negativistisch sind. (4) Ignorieren des Gesprächsinhaltes, indem unvermittelt das Thema gewechselt wird oder durch Unaufmerksamkeit eine Fortsetzung des Gesprächs erschwert wird. Eine konfrontative Gesprächsführung, die das Ziel hat, den Widerstand zu brechen, ist in den geschilderten Situationen nur wenig erfolgreich. In der Regel kommt es hierbei sogar zu einer Erhöhung der Abwehr seitens des Klienten. Μ. I. beinhaltet deshalb spezifische Strategien der Gesprächsführung im Umgang mit Widerstand, die es erleichtern, den Dialog konstruktiver zu gestalten. Die Strategien werden zu acht Kategorien zusammengefaßt: (1) einfache Widerspiegelung, (2) überzogene Widerspiegelung, (3) Widerspiegelung von Ambivalenz, (4) Verschiebung des Fokus, (5) Zustimmung mit einer Wendung, (6) Betonung der persönlichen Wahlfreiheit und Kontrolle, (7) Informationen in einen anderen Kontext setzen und (8) (in Ausnahmefällen) paradoxe Interventionen. Miller & Rollnick geben zahlreiche Beispiele aus Beratungssitzungen, mit denen sie das Vorgehen in der Gesprächsführung illustrieren. Erfolgreich ist die Gesprächsführung jeweils dann, wenn Berater und Klient die Motive, die sich im Widerstand artikulieren, für den Beratungsprozeß nutzbar machen. 5. Μ. I. im Vergleich zu anderen Beratungsformen. Häufig wird ein Konzept und das zugrundeliegende Menschenbild erst im Vergleich mit anderen Konzepten deutlich. In der Beratung von Klienten mit Substanzmißbrauch oder abhängigkeit dominieren in der traditionellen Suchtkrankenversorgung konfrontative Beratungsformen. Dies basiert auf der Annahme, daß alkoholkranke Menschen erst angesichts erheblicher Folgeprobleme einer Behandlung bzw. veränderungsorientierten Beratung 412

Motivational Interviewing

zugänglich sind. Diese Annahme wurde maßgeblich durch die Arbeiten von Jellinek (Jellinek, 1952; Jellinek, 1960a) und das Krankheitskonzept der -»Anonymen Alkoholiker geprägt (Cantwell & Chick, 1994). Wesentliches Merkmal des konfrontativen Beratungsstils ist es, die Veränderungsmotivation des Klienten durch indirekte und aggressive Konfrontation mit negativen gesundheitlichen, sozialen oder interpersonalen Problemen herbeizuführen. Μ. I. hingegen sieht in einem solchen Vorgehen die Gefahr der Stabilisierung oder Erhöhung von Abwehrmechanismen und steht für einen kompetenzorientierten und respektierenden Beratungsansatz. In Tabelle 5 werden einige Merkmale des konfrontativen Beratungsstils der Μ. I. gegenübergestellt. 6. Modifikationen von Μ. I. für unterschiedliche Beratungs-Settings. Für Beratungen, die aus einzelnen Kontakten von weniger als einer Stunde bestehen, wurden spezielle Kurzformen von MI entwickelt (Rollnick & Bell, 1991). Es wurde so konzipiert, daß es von unterschiedlichen Berufsgruppen, die keine suchtspezifische Ausbildung haben, erlernt und durchgeführt werden kann. Vielversprechend sind Konzepte, die Μ. I. in die medizinische Basisversorgung integrieren (Hapke, Rumpf & John, 1996; Rollnick, Heather & Bell, 1992). Im Setting eines Allgemeinkrankenhauses konnte hierdurch bei Patienten mit einer Alkoholproblematik, die Inanspruchnahme suchtspezifischer Versorgungsangebote, wie z.B. Selbsthilfegruppen, Suchtberatungen und Entwöhnungsbehandlungen von 28,9% auf 56,1% gesteigert werden (Hapke, Rumpf, Hill & John, 1997). Vergleichbare Ergebnisse finden sich auch in der Untersuchung von Kremer et al. (1997). -•Drogenberatung Lit.: Cantwell, R. & Chick, J. (1994), Alcohol misuse, clinical features and treatment, in: J. Chick, R. Cantwell (Hrsg.), Alcohol and Drug Misuse

Motivational Interviewing

Motivational Interviewing Tabelle 5: Gegenüberstellung von Beratungsstilen* Konfrontativer Stil

Motivational Interviewing

Selbstakzeptanz als jemand, der ein Problem hat. Akzeptanz der Diagnose als Voraussetzung der Veränderung.

Akzeptanz des Etiketts „Alkoholismus" oder anderer Etikette ist zur Veränderung nicht nötig. Betonung der persönlichen Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung für zukünftiges Verhalten.

Krankheitsbild, das die Fähigkeit zur persönlichen Entscheidung, Beurteilung und Kontrolle reduziert. Berater präsentieren Beweise, um Klienten zu überzeugen, die Diagnose zu akzeptieren. Widerstand wird als Klientenmerkmal angesehen. Widerstand ist mit Konfrontation zu begegnen. Ziele der Beratung und die Strategien ihrer Realisierung werden vom Berater festgelegt. Der Klient ist aufgrund seiner Suchterkrankung nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Berater bringen mit Blick auf die Interessen des Klienten zu einem geeigneten Zeitpunkt objektiv Informationen in das Gespräch. Widerstand wird als interpersonales Geschehen angesehen, das durch das Verhalten des Beraters beeinflußt wird. Widerstand bedarf der Reflexion. Ziele und Strategien werden von Klient und Berater zusammen entwickelt und getragen. Hierbei wird die gegenseitige Akzeptanz als elementarer Bestandteil der Beratungssituation angesehen.

*(Miller & Rollnick, 1991, S. 53, modifizierte Übersetzung der Autoren)

(pp. 126-155), London, Gaskell; Hapke, U„ Rumpf, H.-J., Hill, A. und John, U. (1997), Alkoholprobleme in der medizinischen Basisversorgung - Prävalenz und sekundär-präventive Strategien. In Α. P. Kranke (Hrsg.), Innovative Behandlungsstrategien bei Alkoholproblemen, Freiburg im Breisgau, Lambert s ; Hapke, U, Rumpf, H.-J., John, U. (1996), Beratung von alkoholabhängigen Patienten im Allgemeinkrankenhaus, in: Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (Hrsg.), Alkohol - Konsum und Mißbrauch, Alkoholismus Therapie und Hilfe (345-354), Freiburg im Breisgau, Lambertus; Jellinek, Ε. M. (1952), Phases of alcohol addiction. Quarterly Journal of Studies Alcohol., 13, 673-684; Jellinek, Ε. M. (1960a), The disease concept of alcoholism. New Haven, Hillhouse Press, New Brunswick; Kremer, G., Dormann, S„ Pörksen, Ν.. Wessel, Τ., Wienberg, G. (1997), Alkoholprobleme in der medizinischen Basisversorgung - Prävalenz und sekundärpräventive Strategien, in: Aktion Psychisch Kranke (Hrsg.), Innovative Behandlungsstrategien bei Alkoholproblemen, Freiburg im Breisgau, Lambertus; Miller, W. R.(1983), Moti-

vational interviewing with problem drinkers, Behavioral Psychptherapy, 1, 142-172; Miller, W. R. (1985), Motivation for Treatment, A Review With Special Emphasis on Alcoholism, Psychological Bulletin, 98, 84-107; Miller, W. R. (1989), Increasing motivation for change, in: R. K. Hester, W. R. Miller (Eds.), Handbook of alcoholism treatment approaches, effective alternatives (pp. 67-80), New York, Pergamon; Miller, W. R„ Rollnick, S. (1991), Motivational Interviewing. Preparing People to Change Addictive Behavior, New York, The Guilford Press; Rollnick, S., Bell, A. (1991), Brief Motivational Interviewing for Use by the Nonspecialist, in: W. R. Miller, S. Rollnick (Eds.), Motivational Interviewing. Preparing People to Chance Addictive Behaviour (pp. 203-213), New York, The Guilford Press; Rollnick, S„ Heather, N„ Bell, A. (1992), Negotiating behaviour change in medical settings: The development of brief motivational interviewing, Journal of Mental Healt, 1, 25-37. Ulfert Hapke, Greifswald Georg Kremer, Bethel Hans-Jürgen Rumpf, Lübeck 413

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Musik und Drogen Unter-

Multinationale Rauschgiftbekämpfungsgremien Da das Phänomen des Drogenkonsums nicht länderspezifisch ist (auch wenn es regionale Unterschiede gibt), wurden m. R. eingerichtet, deren gemeinsames Ziel die Verhinderung von Anbau, Produktion, Transport und Verkauf von illegalen Drogen ist. -»-Europa Musik und Drogen Drogen sind seit jeher Begleiter der Kreativität. Künstler waren und sind nicht frei von Drogenmißbrauch und Abhängigkeit (-»-Drogen in der Literatur) und auch in der populären Musik waren Drogen seit jeher Katalysator. Durch die Jahrhunderte gibt es dafür genügend Beispiele und auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Drogen bei den Blues- und Jazzmusikern zunächst Inspiration und später manchmal sogar Vollstrecker eines frühen Todes. Populäre Musik und Drogen sind in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Ausdruck von Jugendkulturen, die sich verkürzt so definieren lassen: 1. 50er Jahre: - Halbstarke/Teddy Boys/BIuson Noirs/ Teeny bopper etc. Bevorzugte Musik: Rock'η Roll Leitdrogen: Legale Genußmittel, Alkohol und Nikotin - Vorwiegend der Mittelschicht entstammt in Europa eine kleine Gruppe von Revivalisten, die sich hinsichtlich ihrer Einstellungen, ihres Sozialverhaltens und ihres Musikgeschmacks (Jazz) von den Halbstarken abgrenzte. - Beatniks: Eine in den USA entstehende autochthone Bohemestruktur. Bevorzugte Musikrichtung: Jazz (Bebop, Hardbop) Leitdrogen: Polytoxikomane Tendenz, Cannabis, Halluzinogene, Heroin 414

2. 60er Jahre: - Rocker Bevorzugte Musikrichtung: Rock'n Roll, Hardrock Leitdrogen: Alkohol, Amphetamine - Mods Bevorzugte Musikrichtung: Pop Leitdrogen: Amphetamine, aber auch andere Psychopharmaka, in begrenztem Ausmaß auch Cannabis - Hippies Bevorzugte Musikrichtung: Folk, Rock, femöstliche Formen Leitdrogen: Cannabis, Halluzinogene; doch starke Neigung zur Polytoxikomanie als Ausdruck eines Bedürfnisses nach neuen Erfahrungen und Entgrenzungen der Persönlichkeit (Psychedelismus) - Gammler Bevorzugte Musikrichtung: Folklore, Rock, Pop, Jazz Bevorzugte Drogen: Cannabis, Halluzinogene, Arzneimittel mit psychoaktiven Nebeneffekten, Stimulanzien, Rauchopium, später auch Opiate 3. 70er Jahre: - Punk Bevorzugte Musikrichtung: Punk, Reggae, später Heavy Metal Bevorzugte Drogen: Lösungsmittel, Alkohol, Stimulantien, später auch Heroin - Skinheads Bevorzugte Musik: Hardrock, Heavy Metal, Reggae Bevorzugte Drogen: Alkohol, Lösungsmittel, später auch Opiate 4. 80er Jahre („Post Punk Fragmentation"): - Grundmuster von Punks, Skinheads und Hippies bleiben erhalten; es erfolgen Verschmelzungen. Neu ist die „Rave-Bewegung". - Die Ravers Bevorzugte Musik: Acid House, Techno, Rap Bevorzugte Drogen: Designerdrogen, Ecstasy, Halluzinogene, „Smart drugs", legale Stimulanzien (Nach: Springer 1997)

Musik und Drogen

Es fing aber alles wenig spektakulär an, dennoch fehlten Massenmedien, die zur schnellen Verbreitung von Moden, Drogenexzessen und Drogentoten beitrugen. Das änderte sich in den 60er Jahren, als die Rockmusik zu einem eigenen Ausdrucksmittel der Jugendkultur wurde. Drogen waren dabei nicht nur Gegenstand musikalischer Erörterungen, sie wurden von den Autoren auch dazu genutzt, kreative Leistungen zu vollbringen. Im November 1963 spielten die „Rolling Stones" den Titel „Stoned" ein. „To be stoned" bezeichnet im Jugendslang der 60er den Rauschzustand. Bei diesem Titel handelt es sich wahrscheinlich um den frühesten Drogensong der Beat-Ära, der allerdings von der Zensur bis auf einige Wortfetzen auf die bloße Musik reduziert wurde. Mitte der 60er Jahre war die am meisten diskutierte Droge Lysergsäurediäthylamid, genannt LSD. Mit dem Titel „Lucy in the sky with diamonds" haben die Beatles auf ihrem richtungsweisenden Album „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band" einen Titel lanciert, von dem Eingeweihte behaupten, die im Titel enthaltenen Buchstaben LSD seien durchaus schon so etwas wie eine Inhaltsangabe. In Wahrheit - so Paul McCartney 1998 - sei dieses Album unter dem Einfluß von Cannabis entstanden. Bewußtseinserweiternde Drogen wurden Mitte der 60er Jahre die Grundlage praktisch aller Erscheinungsformen der sich allmählich entwickelnden Gegenkultur der Hippies, deren entscheidende Ausdrucksform der „West-Coast-Rock" wurde. Ein wesentlicher Aspekt dabei war die Suche nach der eigenen Identität. Es galt, den „Fluß in sich selbst, im eigenen Körper zur Quelle zurückzuverfolgen." Bereits 1963 prägte der „Drogenpapst" Timothy Leary einen der bekanntesten Slogans des Jahrzehnts „Turn on, tune in, drop out": Erweitere dein Bewußtsein, stimm' dich ein und steig aus. Ins-

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besondere dieses Aussteigen beunruhigte die amerikanische Gesellschaft. Jugendliche, die sich Drogen zuwandten, mußten sich zwangsläufig von den bisher existierenden Normen abwenden. Die Konsequenz daraus war ein zunehmender Kampf gegen die Legalisierung von Marihuana und für das Verbot von LSD. Gleichzeitig wurden starke Kräfte frei, die unliebsame Rocksongs mit drogenbezogenen Inhalten aus dem Äther verbannen wollten. Die Radiostationen fürchteten bei den „falschen" Titeln um ihre Lizenzen. Es ergab sich das Paradox, daß Rockmusiker öffentlich jeden Drogenbezug in ihren Songs abstritten, auch wenn der noch so offensichtlich war. Andererseits wurden selbst Schallplatten blockiert, die mit Drogen recht wenig zu tun hatten - in der Konsequenz ergaben sich jedoch keine nennenswerten Konsequenzen: Hörer und Plattenkäufer gaben sowieso nichts auf öffentliche Erklärungen und verbotene Platten waren besonders interessant. Die amerikanischen Entwicklungen erreichten auch recht bald das europäische Festland und Großbritannien. Wiederum waren es die Rolling Stones, die diese Entwicklung aufnahmen und 1966 deutlich machten, daß Drogenkonsum auch gesellschaftliche Hintergründe hat. Bewußt siedelten sie ihren Song „19 th Nervous Breakdown" in den besseren Kreisen an. Eine Musikwissenschaftlerin schrieb 1974 über diesen Song: „In diesem Text werden, lange bevor eine immer mehr zunehmende Zahl junger Rauschgiftsüchtiger die Öffentlichkeit verschreckte und die Wissenschaft nach den Ursachen zu suchen veranlaßte, die Gründe für dieses Phänomen aufgezählt: Reizübersättigung in frühen Jahren, eine konzeptionslose Erziehung, die mit materiellen Gütern zu kompensieren trachtet, was sie an Liebe und Zuwendung schuldig blieb und Eltern, die offensichtlich keine gemeinsame Basis finden konnten. Das Resultat, ein allein gelassenes, rastloses Wesen hängt sich an den Erstbesten, der daherkommt, probiert es 415

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hier und da und überläßt sich schließlich den Drogen." Vielmehr an Motiven haben bis jetzt Psychologie, Sozialarbeit und Medizin auch nicht zu Tage gefördert. Drei Monate nach diesem Stück, im Mai 1966 holen die „Stones" noch einmal aus: Unbarmherzig entlarven sie in „Mothers Little Helper" bürgerliche Doppelmoral. Während der Genuß vergleichsweiser harmloser Rauschmittel wie Haschisch und Marihuana strafrechtlich auf das Schärfste verfolgt wird, schlucken Hausfrauen völlig legal Massen von suchterzeugenden Tabletten. Der Song verschweigt nicht die Ursachen und zeigt gleichzeitig auch den Wirkungsmechanismus der Drogenabhängigkeit auf. Unmerklich vollziehen sich Steigerung und Gewöhnung. Was mit einer Pille beginnt, endet in einer Überdosis. Parallel zur Entwicklung der Populären Musik verläuft auch die Entwicklung von -»Jugend. Musik ist nicht nur akustischer Konsum, sondern auch Ausdruck von Zeitgeist, der sich in Stilen und Modetrends ausdrückte, schließlich sogar politische Dimensionen erreichte (Vietnam-Krieg). In diese Zeit fielen auch die ersten großen Rockfestivals, zuerst im Juni 1967 in Monterey (USA). Das bis heute berühmteste Festival war 1969 Woodstock (USA), das zwar katastrophal organisiert war, was der Stimmung dort keinen Abbruch tat. Während die sanitären Verhältnisse völlig unzureichend waren (weil die Veranstalter auch nicht mit 500000 Besuchern gerechnet hatten), gab es ausreichend Drogen (vor allem -•Cannabis). Woodstock wurde zu einem Synonym für Jugendkultur in Kombination mit alternativen Lebensentwürfen (vgl. Chapple/Garofalo, 1980, 165 ff.). Daraus resultierte dann eine ganze Musikrichtung: Psychedelic Rock (auch Acid Rock) mit Gruppen wie Jefferson Airplane, Pink Floyd und vor allen Dingen Grateful Dead, die diese alternativen Lebensentwürfe auch 416

Musik und Drogen

praktizierten. In Deutschland fand diese Entwicklung zwar parallel statt, aber in einem wesentlich kleineren Maßstab. Initiiert wurde diese Entwicklung von Amon Düül, Can, Guru Guru und später sehr bekannt wurde Tangerine Dream. Ab 1967 begannen die Drogen, ihre „Unschuld" zu verlieren. Mit dem Einbruch von harten und massiv suchterzeugenden Rauschgiften nahm die Zahl der Anti-Drogen-Songs, aber auch der populären Drogentoten zu. In dieser Zeit verfaßte Lou Reed seinen bestürzenden Song „Heroin", der eine leidenschaftslose und deshalb um so beklemmendere Beschreibung eines Heroinsüchtigen bietet. Die Ursachen dieser Sucht werden nur gestreift. Um so deutlicher treten die Wirkungen hervor. Den kurzen Phasen des Hochgefühls im Rausch steht das Bewußtsein gegenüber, unaufhaltsam in die totale Zerstörung zu treiben. Am Ende der Sucht steht der Tod. Unausweichlich für den Süchtigen? Es beginnt die Zeit der populären Drogentoten. Jim Morrison, Jimmy Hendrix, Janis Joplin sind nur einige Namen, die stellvertretend für viele andere stehen. In dieser Zeit wird auch der Mythos der Kreativität entlarvt. Sicherlich ist es richtig, daß Drogenkonsum Menschen in Bewußtseinsdimensionen versetzt, in denen sie außergewöhnliche künstlerische Leistungen vollbringen können. Es zeigte sich jedoch, daß dieser Zustand nicht beliebig verlängerbar ist. Viele populäre Musiker waren durch ihren Drogenkonsum an einen Punkt gekommen, an dem sie nicht mehr leistungsfähig waren. Stellvertretend für andere sei hier Eric Clapton genannt, der erst durch das von Freunden organisierte „RainbowConcert" den Weg aus der Sucht fand und seither zu den Erfolgreichen der Branche gehört. Vereinzelte Drogenexzesse und Todesfälle kamen in der Musikszene in den 70er und 80er Jahren immer wieder vor. Aber die innovative Zeit war vorbei, es wurde nun auf dem bisher Erreichten

Musik und Drogen aufgebaut, ohne daß es zu so spektakulären Umbrüchen kam, wie in den 60er Jahren. Das änderte sich erst in den 80er Jahren. Seit den frühen 70er Jahren steht die Gruppe „Kraftwerk" für elektronische Musik, die bei Drogenfreundinnen und freunden sehr beliebt ist. In Detroit fand die weiße und deutsche Musik von Kraftwerk plötzlich Anklang. Eine schwarze Bevölkerungsschicht, „musikalisch eher durch Jazz und Blues geprägt, griff diese Musik auf, da sie wie keine andere das alltägliche Leben mit seiner unsäglichen Monotonie und Gefühlskälte widerspiegelte. Von den Vorreitern der Detroiter Szene wie Juan Atkins oder Derrick May wird diese Musik gar als Initialzündung bezeichnet, ohne die es Techno in seiner heutigen Form wohl nie gegeben hätte." (Claus 1997). Technomusik wird in der zweiten Hälfte der 90er Jahre als „Drogenmusik" verstanden. „In der Techno-Kultur geht es (...) ausdrücklich darum, den Alltag zu verlassen und andere Erfahrungen zu machen mit dem Ziel, Zugang zu anderen, höheren Qualitäten des menschlichen Seins zu erlangen. Techno ist ausdrücklich auf eher latente, unbewußte Erfahrungsebenen ausgerichtet, weil am Ausgangspunkt die Idee steht, daß der Mensch im Alltag, d. h. eingebunden in materielle Zwänge und einschränkende soziale Regeln, seine „wahre Natur" und zumindest seine bessere Seite nicht (er-)leben kann. Zu dieser anderen besseren Hälfte gehört die Fähigkeit zu Liebe und Nähe, zu Genuß und Ekstase, aber auch zur Transzendenz, d. h. zum Erkennen der größeren Zusammenhänge hinter der Oberfläche der Dinge. Die Entfaltung dieser Fähigkeiten wird für notwendig gehalten, um endlich zu einem friedlicheren und menschlicheren Zusammenleben zu gelangen. Techno bietet drei sich ergänzende Mittel an, um die Ebene des Alltags zu verlassen: Musik, Parties und Drogen." (Spohr 1996)

Musik und Drogen Die Verbindung von Musik, Party und Drogen machen den Techno-Abend zu etwas ganz besonderem. Herausragendes Merkmal ist die Überschreitung von Grenzen: Die Musik ist schneller und lauter als alles, was es bisher gab, die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit werden durch die aufputschenden Substanzen bis ins scheinbar Unendliche ausgedehnt. Und es geht darum, sich selbst uneingeschränkt zu zeigen und zu inszenieren, z.B. durch schrille Outfits und Stylings, durch Tanzen auf Bühnen und Podesten etc. Wieder einmal ist eine Kultur der Grenzüberschreitung entstanden, nur im Unterschied zu den 60er Jahren unterstützt und teilweise auch inszeniert von einer Vielzahl spezifischer Medien, deren Hintergrund die Profitmaximierung ist. Mit dem Aufkommen der Technomusik wurde ein Lebensgefühl vermarktet, das dem Zeitgeist entspricht. Das war in den 60er Jahren schon einmal so, allerdings waren die Marketingmethoden damals wesentlich weniger ausgefeilt und weniger strategisch geplant. Aber für die „Techno-Familie" gilt, was auch damals für die Verbindung Rockmusik und Drogen galt: „Ihr Image war künstlich, die Realität bitter. Auch die Techno-Familie erweist sich bei genauerem Hinsehen nicht als locker, offen und freundlich, sondern eher elitär: „Dazu gehören zu dürfen, ist eine Ehre und die will verdient sein, indem man einen interessanten Anblick bietet, gute Stimmung verbreitet und ein Gewinn für die Party ist. Die Techno-Szene ist sehr leistungsorientiert, der Lohn ist die flüchtige Anerkennung und Bestätigung durch andere Techno-Kids. Anerkennung wird auch hier nicht dafür gegeben, daß man ist, wie man ist, sondern für Leistung, für das Erfüllen bestimmter Bedingungen. Der Zweifel am eigenen Wert bleibt bestehen und wird sogar noch vertieft." (Spohr 1996) Drogen haben in der populären Musik Kreativität und Leistungsfähigkeit ge417

Muskatnuß

Mutterkorn theja im Norddeutschen Rundfunk verwendet.

steigert und Meilensteine dieses Genres geliefert. Drogen haben den Hörern dieser Musik geholfen, Musik zu erleben und zu genießen. Die Verbindung von beidem hat den Hintermännern des Musik- und des Drogengeschäftes viel Geld gebracht. Drogen vermögen jedoch eines nicht: Die Verhältnisse zu verändern, in denen man lebt. Auch im Zusammenhang mit populärer Musik zeigt sich, daß Drogen kein Kulturgut sind, das es zu respektieren gilt, sondern Fahrschein für große und kleine Fluchten, die der Verdrängung dienen.

Muskatnuß M. ist der Samen des Muskatnußbaums, dessen Konsum aus mehreren geriebenen Nüssen, auch in Bier, einen Rauschzustand erzeugt, der dem von -•Cannabis ähneln soll, aber u. a. zu starken Magenreizungen führt, was einem Dauergebrauch entgegenwirkt. •Drogenpflanzen

Lit.: Chappie, S., Garofalo, R., Wem gehört die Rockmusik? Hamburg, 1980; Claus, C., Techno-Musik, Techno Szene und ihre Kommunikationsmedien, in: Rabes, M„ Harm, W„ (Hrsg.), XTC und XXL. Ecstasy, Rowohlt Verlag, Reinbek, 1997; Graf, D„ Rockmusik-Lexikon, Hamburg, 1986 (2 Bände); Graves B., Schmidt-Joos, S., Rock-Lexikon, Rowohlt Verlag, Reinbek, 1993; Kneif, T., Sachlexikon Rockmusik, Hamburg, 1980; Spohr, B., Die Attraktivität von Techno-Party-Drogen aus psychologischer Sicht, in: Wegehaupt, H., Wieland, N., In Kontakt bleiben, Kinder, Drogen, Jugendliche, Pädagogen, Votum-Verlag, Münster, 1996; Springer, Α., Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Fleisch, E., Haller, R., Heckmann, W., (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe, Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz Edition Sozial, Weinheim und Basel, 1997; Für diesen Beitrag wurden darüber hinaus Informationen aus dem Beitrag „Drogen in der Rock Musik" der Hörfunkreihe „Rock-File" von Bernd Mat-

Mutterkorn Das M. (Seeale cornutum) ist ein Schmarotzerpilz, der Getreide und getreideartige Gräser befällt. Die wichtigste Art ist das M. des Roggens, die Überwinterungsform des Fadenpilzes Claviceps purpurea. Die Verwendung der Droge als Wehenmittel und zur Stillung uteriner Blutungen ist durch die Reindarstellung der Secalealkaloide (-•Alkaloide) heute sehr in den Hintergrund getreten. Das Mutterkornalkaloid Dihydroergotaminmesilat ist ein Mittel der Wahl bei Hypotonie, akuten Kreislaufstörungen, vaskulären Kopfschmerzen und, bei der hohen Zahl der Fälle besonders bedeutsam, Migräneanfällen. In früheren Zeiten kam es durch den Verzehr befallenen Roggens zu teilweise epidemischen Mutterkornvergiftungen, letztmals 1926/27 in Südrußland, eine Gefahr, die heute aufgrund chemischer und technischer Möglichkeiten gebannt ist. Bei planmäßigen Untersuchungen über die Alkaloide des Mutterkorns kam es zur Herstellung von •LSD. »Drogenpflanzen; -»Magische Pflanzen

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Jost Leune, Hannover

Narzißmus

Nachrausch Ν Nachrausch Synonym: Echophänomen, Spätrausch -»•Flash-back Nachsorge N. kann sich an eine stationäre -»Entwöhnung anschließen und soll die in der Entwöhnungsbehandlung erreichten persönlichen und sozialen Fähigkeiten stabilisieren. Im Zentrum der Nachsorge steht die aktuelle Bewältigung von Alltagsproblemen, die sich aus der - • Abstinenz und der Rückkehr des Abhängigen in das familiäre, berufliche und soziale Umfeld ergeben, die •Rückfallprophylaxe und die Unterstützung bei -»Krisen. Die N. in der beruflichen Wiedereingliederung (-•Betriebliche Suchtprävention) und auch die ^Schuldnerberatung bilden weitere Handlungsfelder. Eine adäquate N. orientiert sich an den Erfordernissen des Einzelfalls und ist in einer Hilfeplanung berücksichtigt. In letzter Zeit konkurriert der Begriff der N. mit dem der -•Adaption (Anpassung). Beide Begriffe sind im Grunde problematisch: N. suggeriert, die Phase nach der Behandlung hätte eine nachrangige Bedeutung, obwohl hier eigentlich die „Realitätsüberprüfung" stattfindet und der Begriff der Adaption legt den Schwerpunkt zu einseitig auf die Anpassungsleistungen des Klienten und widerspricht damit einem systemischen Verständnis. Orte der Nachsorge: Im Rahmen der •Empfehlungsvereinbarung über die ambulanten medizinischen Leistungen besteht die Möglichkeit, im Anschluß an eine stationäre Entwöhnung 20 Therapieeinheiten in einer anerkannten Suchtberatungs- und Behandlungsstelle oder in der stationären Einrichtung durchzuführen. Übergangseinrichtungen wie z.B. Übergangswohnheime bieten die Chance, in einem Zeitraum bis zu 12 Monaten die Verselbständigung unter beschützenden Bedingungen zu trainieren.

Tages- oder Nachtkliniken machen es, ebenso wie Tagesstätten, möglich, einen Teil des Tages unter beschützten Bedingungen und den anderen Teil selbstverantwortlich zu gestalten und so schrittweise eine eigenverantwortliche abstinente Lebensgestaltung zu entwickeln. Die Selbsthilfe ist ein wesentlicher Bestandteil der Nachsorge. Hier können Abhängige nach der Entwöhnung wenn sie nicht schon vorher und/oder während der Behandlung Kontakt zu Selbsthilfegruppen hatten - neue soziale Kontakte finden und von anderen lernen, wie sich der Alltag abstinent bewältigen läßt. -+Suchtkrankenhilfe Nachtschattengewächse Bez. für eine Gruppe von krautigen und holzigen Pflanzen mit etwa 2300 Arten. Sie sind weltweit verbreitet, besonders häufig aber in Südamerika zu finden. Neben den Nutzpflanzen wie Kartoffel, Tomate, Eierfrucht, Paprika und Tabak gehören eine Reihe von -•Drogenpflanzen wie -•Bilsenkraut, -•Stechapfel und -•Tollkirsche, aber auch Zierpflanzen wie die Lampionblume und die Petunie zu den N. Alle Pflanzen enthalten, wenn auch oft nur in geringen Mengen, ->A1kaloide, z.B. Atropin, Nikotin und Solanin. -»Magische Pflanzen Narzißmus Der Begriff und das Konzept des N. wurde von Sigmund Freud 1914 in die Psychoanalyse eingeführt und hat bis heute in den verschiedenen theoretischen Ausprägungen (Adler, Horney, Kernberg, Kohut u. a.) eine hohe Relevanz allgemein zum Verstehen von Sozialisations- und Identitätsbildungsprozessen und speziell als Erklärungsmodell süchtigen Verhaltens. Der Begriff wird heute allerdings verwirrend vielfältig verwendet. Grundsätzlich geht es um eine mögliche Regulierung des Selbstwerterlebens. In einer allgemeinen Definition wird narzißtisches Verhalten ver419

Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen standen als eine spezielle Form menschlichen Verhaltens, nämlich der Rückzug aus sozialen Beziehungen bzw. die Funktionalisierung sozialer Beziehungen bei gleichzeitiger Entwicklung und Gestaltung unrealistischer Größenphantasien, wobei dieses Verhalten der Kompensation von Selbstwertstörungen dient. Diese Konflikte werden als quälende Gefühle von Verzweiflung, Leere, Sinnlosigkeit, Minderwertigkeit und Langeweile erlebt. Narzißtisches Verhalten ist sowohl als schwere psychische Störung, aber auch in Verbindung mit psycho-sozialen Problemen wie -»Sucht und ^Suizid zu finden und gehört zudem mehr oder weniger ausgeprägt zum Alltag moderner Menschen. Bei vielen der -»Neuen Süchte zeigen sich diese Größenphantasien besonders deutlich, wobei hier allerdings auch die diffusen Grenzen zwischen einem gesellschaftlich geförderten und entsprechend wahrgenommenen Verhalten und einem süchtigen Verhalten sichtbar werden (-»Konsumsucht, •Sexsucht, BungeeSpringen u.a.). Die genannten Gefühle und das beschriebene Verhalten bilden in vielen Konzepten die Basis für Erklärungsmodelle süchtigen Verhaltens (-»Arbeitssucht, -»Alkoholabhängigkeit, -»Drogenabhängigkeit, -»Eßsucht u. a.), meist aber, ohne daß der Begriff oder die Theorie des N. benannt oder gar zugrunde gelegt würden. Die Drogenzufuhr bzw. bestimmte Verhaltensweisen bewirken einerseits eine Verdrängung der quälenden Alltagsrealität und andererseits fördern sie die Bildung von Größenphantasien. Dies macht auch die Unsinnigkeit von -» Abstinenzforderungen ohne gleichzeitige Angebote stabilisierender Äquivalente deutlich. Zu einem umfassenden Verständnis der Genese von Selbstwertstörungen und deren Kompensation durch narzißtisches Verhalten sind neben der entwicklungspsychologischen Ebene, wo bisher vor allem die frühen Mutter-Kind-Beziehungen bzw. deren Störungen untersucht wurden, die familiensoziologische Ebe420

ne (-»Familie) und vor allem auch die gesamtgesellschaftliche Ebene (z.B. hohes soziales Entgegenkommen für narzißtisches Verhalten bei gleichzeitiger ökonomischer Ausbeutung selbstwertgestörter Menschen) zu beachten. Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) Die NAKOS wurde 1984 begründet. Sie wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales gefördert. Finanzmittel für einzelne Projektmaßnahmen werden vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG), vom BMFSFJ und von den Bundesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung gestellt. Träger der NAKOS ist die deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V., Gießen, in Kooperation mit dem Paritätischen Bildungswerk Bundesverband e.V., Frankfurt (Main). Zentrale Aufgaben der NAKOS sind: Selbsthilfegruppen und Interessenten zu informieren und zu unterstützen; in der Gesellschaft und der Fachwelt auf ein Selbsthilfegruppen-freundliches Klima hinzuwirken; Wege der Unterstützung und Förderung von Selbsthilfegruppen aufzuzeigen und zu initiieren; die Qualität der Selbsthilfe-Unterstützungsarbeit zu entwickeln und zu sichern; den fachlichen Austausch der Selbsthilfe-Unterstützungseinrichtungen zu organisieren und die Fachpolitik lobbyistisch zu vertreten. Die NAKOS wirkt auf Bundesebene. Sie arbeitet unabhängig und problemübergreifend. Sie bietet Informationen, Kontakte und Beratung. Adressen sind: Selbsthilfegruppen und Selbsthilfegruppen-Interessenten, berufliche Helfer und Versorgungseinrichtungen im Gesundheits- und Sozialbereich, Entscheidungsträger in Verbänden, Verwaltungen, Krankenkassen und Völkshochschulen, Wissenschaftler, Journalisten,

Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan

Multiplikatoren sowie die interessierte Öffentlichkeit. Ferner veranstaltet NAKOS bundesweite Arbeitstagungen für fachliche Unterstützer, Multiplikatoren und Förderer der Selbsthilfe. Es werden Fortbildungen für berufliche Helfer aus dem Gesundheits- und Sozialbereich zur Entwicklung fachlicher Kompetenz in der Unterstützungsarbeit angeboten. Informationsmaterialien und Arbeitshilfen für Selbsthilfegruppen und Interessenten, berufliche Helfer, politische und verbandliche Entscheidungsträger, Journalisten etc. stehen in Form von Faltblättern, Plakaten, Arbeitshilfen, Studien usw. zur Verfügung. Anschrift: Albrecht-Achilles-Straße 65, 10709 Berlin, Tel.: 030/8914019, Fax: 030/8934014, e-mail:[email protected] http://www.nakos.de Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan 1989 haben die Regierungschefs von Bund und Ländern beschlossen, unter Einbeziehung relevanter Organisationen, einen N. zu entwickeln. 1990 wurde er auf der Nationalen Drogenkonferenz verabschiedet. Schwerpunkte des Plans sind: die Entwicklung und/oder Verbesserung der Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage durch Prävention, Therapie (-»Psychotherapie) und -»-Rehabilitation, die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität durch organisatorische Verbesserungen und gesetzliche Maßnahmen und die Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit. Als Leitlinien für die Prävention werden folgende Ziele genannt: Totale -»Abstinenz im Hinblick auf -»illegale Drogen, Selbstkontrollierter Umgang mit legalen Suchtmitteln (wie -»Alkohol und Tabak (-»Nikotin)) mit dem Ziel weitgehender Abstinenz und der bestimmungsgemäße Gebrauch von Medikamenten. Für die Bereiche Beratung (-»Suchtberatung), Behandlung, -»Nachsorge und -»Rehabilitation wurden Modellvorhaben wie die aufsuchende Sozialarbeit (-•Streetwork), stationäre -»Krisenintervention, die Betreuung und Bera-

Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan

tung HIV-infizierter Drogenabhängiger (-»Aids) usw. initiiert bzw. Problembereiche genannt. Im Bereich der Forschung wurden erhebliche Defizite im Bereich der biologischen Grundlagenforschung, der epidemiologischen Forschung, der Präventionsforschung und der klinischen Forschung festgestellt und die Länder, die freien Träger der Wohlfahrtspflege, die Industrie und die Forschungsinstitutionen wurden aufgefordert, sich verstärkt an der Intensivierung der Forschung zu beteiligen (-»Drogenforschung). Für die Rauschgiftbekämpfung durch die Polizei und Justiz stehen vor allem die Verhinderung der Produktion von, durch das -»BtMG verbotenen, Substanzen, die Zerschlagung der Händlerstrukturen und -Organisationen, das Ermitteln und Abschöpfen der illegalen Gewinne und die Erschwerung des Zugangs zu verbotenen Substanzen im Vordergrund. Gesetzgeberische Maßnahmen betreffen vor allem Änderungen im Betäubungsmittelgesetz, in der Strafprozeßordnung und im Strafgesetzbuch. Eine wirksame Rauschgiftbekämpfung erfordert eine internationale Kooperation in Hinblick auf alle vorgenannten Bereiche (-»Drogenpolitik, -»Europa). Die in dem N. vorgeschlagenen Maßnahmen und Absichten sollen in Abständen auf Aktualität und Wirksamkeit überprüft werden. Kritisiert wurde der N., weil polizeilichstrafrechtliche Maßnahmen ein größeres Gewicht hatten als Prävention und der Ausbau der Hilfen, was u. a. darin zum Ausdruck kam, daß in diesem Bereich eine Vielzahl konkreter Maßnahmen beschrieben wurde, während die Maßnahmen der anderen Bereiche zunächst eher vage blieb. In der Folge förderte der Bund eine Reihe von Modellen in den Bereichen Prävention und Behandlung, die wissenschaftlich begleitet wurden und bei Erfolg ζ. T. durch die Länder oder Kommunen inzwischen als Leistungssegmente der Prävention und Beratung/Behandlung dauerhaft finanziell 421

Needle-sharing

gefördert werden. -»Drogenpolitik; -•Drogenrecht; -»Mobile Drogenprävention; -»Prävention; -»• Suchtkrankenhilfe Needle-sharing Ν. meint die gemeinsame Benutzung von Spritzbestecken durch mehrere Drogenkonsumenten (z.B. für den intravenösen Konsum von Heroin). Generell bringt der gemeinsame Gebrauch von Spritzbesteck die große Gefahr der Übertragung von Krankheiten (-»Hepatitis). Durch das Aufkommen von -»Aids ist das N. für viele Konsumenten zusätzlich zu einer lebensbedrohlichen Gefährdung geworden. Die Versorgung mit -»Einmalspritzen ist mancherorts noch zögerlich. Neben der Aids-Hilfe haben aber zunehmend Drogenberatungsstellen mit kostenlosem Umtausch- bzw. Verteilerservice begonnen. Es gibt allerdings auch weitere Hinderungsgründe, das N. aufzugeben. Die Demonstration der emotionalen Zusammengehörigkeit gehört hierzu, aber auch die Folgen der möglichen Knappheit an Heroin, die dazu führt, besonders bei Paaren, das erworbene Heroin zu teilen, wozu die Spritze in der Regel nur einmal aufgezogen wird und der Inhalt dann je zur Hälfte injiziert wird. -»Druckraum; -»Niedrigschwellige Angebote Neue SUchte Neue S. ist ein pauschaler Begriff, der synonym zu Begriffen wie -»stoffungebundene Süchte oder nicht-substanzgebundene Süchte o. ä. verwendet wird. In mancherlei Hinsicht ist dieser Begriff allerdings irreführend. Nicht gemeint sind damit neu auf den Markt kommende Suchtstoffe oder schon altbekannte Substanzen, deren Konsum plötzlich wieder aktuell sind. Die meisten der unter diesem Begriff zusammengefaßten Süchte wie die -»Arbeitssucht, die -»Eßsucht oder die -»Spielsucht haben ihren Novitätscharakter lediglich durch das aktuelle Interesse der Medien und der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen 422

Neurobiologie

damit erhalten. Süchte

-»Stoffungebundene

Neurobiologie 1. Definition. Zeitabhängige Wechselwirkungen von genetischer Disposition, Faktoren des Umfelds und den Effekten des Suchtmittels selbst führen in charakteristischen Phasen vom kontrollierten Gebrauch des Suchtmittels zu abhängigem Verhalten mit Kontrollverlust. Die neurobiologische Suchtforschung der letzten Jahre hat gezeigt, daß im Verlauf einer solchen Entwicklung auf der Basis genetischer Vulnerabilität und peristatischer Risikofaktoren, Prozesse der Sensitivierung und Desensitivierung sowie der Konditionierung in suchtrelevanten neurobiologischen Systemen des Gehirns in Gang gesetzt werden. Dies führt zu einer neuen Gewichtung bis zur Entkopplung neuronaler Regelkreise (Homoeostase -»Allostase). Auf phänotypischer Ebene schlagen sich die neuronalen Veränderungen in den für die Abhängigkeitserkrankungen charakteristischen Verhaltensmustern nieder, wie sie beispielsweise in den diagnostischen Handbüchern (-»ICD-10, -»DSM IV) beschrieben sind. Abgeschwächt schon während der Entwicklung zur Abhängigkeit, aber deutlich im Stadium der manifesten Erkrankung, treten Prozesse des Suchtmittelentzugs und der Reexpositionsvulnerabilität (Rückfallneigung) hinzu, die insbesondere bei Versuchen, abstinent zu werden und zu bleiben, deutlich werden. Diese Zusammenhänge sollen dargestellt werden. 2. Theoretische Konzepte und Forschungsansätze 2.1 Disposition, Risikofaktoren und Umfeld. Wie bei anderen komplexen Erkrankungen des Zentralnervensystems (z.B. Schizophrenie, endogene Depression) bestehen heute keine Zweifel mehr, daß insbesondere die Alkoholkrankheit familiär gehäuft auftritt. Die Metaanalyse von 39 Familienstudien ergab, daß einer von drei Alkoholkranken zumindest einen alkoholkranken El-

Neurobiologie

ternteil hat. Solche Patienten beginnen im allgemeinen früher zu trinken und haben mehr Probleme im Zusammenhang mit Alkohol (z.B. Trunkenheit am Steuer, aggressive Durchbrüche) als Alkoholkranke ohne alkoholkranke Eltern. Auch aus Zwillingsuntersuchungen lassen sich die genetischen Anteile einer bestimmten Erkrankung abschätzen. Sie erlauben, den relativen Anteil genetischer und Umweltfaktoren auf die phänotypische Varianz zu berechnen, weil monozygote Zwillingspaare genetisch identisch sind und dizygote ungefähr in der Hälfte ihrer Gene übereinstimmen. Eine bei eineiigen Zwillingen größere als erwartete Übereinstimmung als bei zweieiigen spricht deshalb für einen genetischen Einfluß auf ein bestimmtes Merkmal. Die Analyse sämtlicher Studien ergab einen genetischen Anteil zwischen 0,3 und 0,6 bei der Alkoholkrankheit. Diese Zahlen belegen eindeutig eine genetische Komponente. Interessant ist, daß die Häufigkeit der Kontakte zwischen den Zwillingen keinen Einfluß auf die Trinkgewohnheiten hatte. Der genetische Anteil bei Männern ist mit ca. 50% höher als bei Frauen (ca. 25%). Weiterhin ergaben Adoptionsstudien, bei denen Personen eingeschlossen wurden, die innerhalb der ersten 6 Lebenswochen von nichtverwandten Familien ohne alkoholkranke Familienmitglieder adoptiert worden waren, daß 18% der Adoptierten mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil der biologischen Eltern im Laufe ihres Lebens eine Alkoholkrankheit entwickelten, im Vergleich zu 5% in der Gruppe von adoptierten Personen ohne einen alkoholkranken Elternteil. Adoptionsstudien führten auch zu der Erkenntnis, daß es zumindest zwei Gruppen von Alkoholkranken gibt, die sich bezüglich genetischer Einflüsse deutlich unterscheiden. Die eine Gruppe (Typ I nach Cloninger, s. u.) hat ein relatives Risiko von 2 alkoholkrank zu werden und die Typ II-Alkoholkranken ein

Neurobiologie

solches von 9. Unter dem relativen Risiko versteht man das Verhältnis der absoluten Risiken in zwei Vergleichsgruppen wie ζ. B.: Personen mit alkoholkranken Blutsverwandten im Vergleich zu Personen ohne Blutsverwandte. Trotz des erheblich höheren Risikos der Typ II Alkoholkranken ist das relative Risiko von 2 im Fall der Alkoholkrankheit aber von größerer gesundheitspolitischer Bedeutung, da der Anteil der Typ II Alkoholkranken bei diesen Patienten höchstens 25% beträgt. Die beiden Gruppen unterscheiden sich vor allem durch folgende Merkmale: Typ I: 1. Das Ersterkrankungsalter liegt bei 25 Jahren und höher, 2. Es besteht eine relative Unfähigkeit zu Abstinenz, 3. bezüglich bestimmter Persönlichkeitsmerkmale ist die Risiko Vermeidung („harm avoidance") ausgeprägt, Typ II: 1. Ersterkrankungsalter unter 25 Jahren, meist in der späten Pubertät, 2. Impulsivität und leichte Erregbarkeit, 3. weit überwiegend Männer und 4. der Drang nach neuen Erfahrungen („novelty seeking") ist relativ zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen ausgeprägt. Schließlich sind die „high-risk"-Studien, die bestimmte Aspekte von Familienstudien prüfen, zu erwähnen. Sie können über die Bestimmung von biologischen Meßgrößen von jugendlichen Söhnen alkoholkranker Väter das Risiko, später selbst alkoholkrank zu werden, abschätzen helfen. Etwa 40% der Söhne reagierten auf einen Probetrunk von Ethanol weniger intensiv als eine Vergleichsgruppe ohne entsprechende Familiengeschichte. Dies betrifft die subjektiven Empfindungen betrunken zu sein, die Standsicherheit, bestimmte Wellen im Elektroenzephalogramm (P3OQ-Welle der akustisch evozierten Potentiale) und mehrere Hormone (geringerer oder kürzer dauernder Anstieg von ACTH, Prolaktin und Kortisol, „blunting"). In einer Nachuntersuchung nach 10 Jahren zeigte sich, daß Personen mit verminderter Ethanolempfindlichkeit signifikant häufiger alkoholkrank gewor423

Neurobiologie den waren. Die 2 0 % der unempfindlichsten Söhne aus beiden Gruppen zusammengenommen hatten eine mehr als 5 0 % i g e Wahrscheinlichkeit nach 10 Jahren alkoholkrank zu sein (Schuckit und Smith, 1996). Die Befunde wurden dahingehend interpretiert, daß die verminderte Reaktion auf Ethanol ein Schutzmechanismus des Körpers ist. Allerdings steigt dadurch das Risiko, größere Mengen an alkoholischen Getränken zu konsumieren, um die gleichen Wirkungen zu erleben wie genetisch unbelastete Personen mit einer vergleichsweise niedrigen Alkoholmenge. Die sogenannten Risiko-Söhne empfinden weniger Warnsignale, die ihnen anzeigen, daß es an der Zeit ist, mit dem Trinken aufzuhören. Dieses Trinkverhalten kann zu Gewohnheitstrinken und Toleranzentwicklung beitragen, was wiederum in einen Teufelskreis bei höherem Alkoholkonsum münden würde. Die Langzeitbeobachtungen bestätigen zum einen, daß zahlreiche genetische Besonderheiten (polygene Polymorphismen) sich in mehreren, sehr verschiedenartigen Körperfunktionen auswirken. S i e unterstreichen also nachdrücklich die Multiplizität und Komplexität der genetischen Faktoren. (-"-Genetik) Außer den hier dargestellten Risikofaktoren sind auch protektive Faktoren bekannt. Das am besten untersuchte B e i spiel ist das Defizit einer Isoform der Aldehyddehydrogenase. B e i Betroffenen führt Alkoholkonsum zur sogenannten „flush"-Reaktion, die wegen der resultierenden Übelkeit und Kreislaufstörungen als höchst unangenehm empfunden wird. Homozygote Träger mit diesem Defizit leben abstinent und werden auch nicht alkoholkrank. (Rommelspacher und Schuckit, 1996). Das klinische Bild des Alkoholismus unterscheidet sich erheblich zwischen den einzelnen Kulturkreisen. Beispielsweise ist für skandinavische Länder das Wochenendtrinken typisch, für weite

424

Neurobiologie Teile des übrigen Europa der tägliche Alkoholkonsum. Andere Persönlichkeitsfaktoren wie Temperament und Lebensgewohnheiten beeinflussen das individuelle Trinkmuster. Erfahrungen im Familienverband, beispielsweise wenn ein Elternteil abhängig ist, Erziehungsmaßnahmen der Eltern, körperliche Behinderungen und Defizite, soziologische Besonderheiten, also beispielsweise die gesellschaftliche Schicht, aus der der Abhängige stammt, und andere psychiatrische Erkrankungen beeinflussen die Trinkgewohnheiten der Abhängigen. Diese Faktoren des Umfeldes spielen aber auch für andere individuelle Besonderheiten eine Rolle wie beispielsweise, ob ein gefährdeter Abhängiger einen Therapeuten aufsucht, ob der die Therapieangebote wahrnimmt, sich einem Therapieplan unterzieht und diesen durchsteht. Für einzelne dieser Faktoren, die die Ausprägung der Abhängigkeit mitbestimmen, spielen weitere genetische Faktoren eine disponierende Rolle. Auch die Vulnerabilität einzelner Körperorgane wie des Gastrointestinaltrakts oder die Leber gegenüber den toxischen Wirkungen des Suchtstoffs unterliegt individuellen Besonderheiten. Die neurobiologischen Untersuchungen zeigen auch, daß einzelne Gene nur einen geringen Einfluß auf den Phänotyp haben und daß die Komposition disponierender Faktoren beim einzelnen Abhängigen unterschiedlich ist. 2.2 Tierexperimentelle Beobachtungen und deren Entsprechungen bei menschlichen Verhaltensweisen. Wichtige Aspekte der tierexperimentellen B e o b achtungen wurden bereits von Pawlov eingeführt, der einen sonst neutralen Reiz (Klingel, Licht) mit einem verhaltensverstärkenden Reiz (Nahrung, Trinken, „positiver Reinforcer") verknüpfte. Das Tier lernte den Zusammenhang („contingency") zwischen Klingelzeichen und Nahrung, d. h. ein konditionierender Stimulus löste zeitlich versetzt eine konditionierte Antwort beim Tier

Neurobiologie

aus. Der konditionierende Stimulus kann beim Menschen ein Umgebungsreiz sein wie der Anblick der Stammkneipe, der Fernsehsessel, ein bestimmtes Millieu usw., der den Wunsch nach der Droge („positiver Reinforcer") auslöst. In der Phase der manifesten Abhängigkeitserkrankung wird ein solcher Wunsch beispielsweise als unstillbares Verlangen, Gier oder „craving" bezeichnet. In dieser Phase wird aber auch deutlich, daß es nicht nur positive Verstärker gibt, die zur Drogeneinnahme führen können, sondern auch negative. Ein Beispiel dafür sind die Entzugserscheinungen. Dabei sind nicht nur die körperlichen Symptome gemeint (Zittern, Schwitzen, Herzklopfen, Durchfälle usw.), sondern auch psychische Symptome (Gereiztheit, Depressivität, Schuldgefühle, Versagensangst usw.), die zu erneuter Drogeneinnahme führen können. Das Motiv für die Drogeneinnahme ist, die Wirkung des negativen Verstärkersymptoms zu überwinden. Teile dieser Lernvorgänge können im Tierexperiment modellhaft untersucht werden. Sie bieten die Möglichkeit, auch deren neuronale Grundlagen zu erforschen und suchtrelevante neuronale Systeme zu erfassen. In Selbststimulierungsexperimenten mit feinen Elektroden kann unter in vivo-Bedingungen herausgefunden werden, welche Nervenbahnen durch einen schwachen Stromstoß vom Tier mit einer Verhaltensverstärkung (erneuter Hebeldruck) beantwortet wird, also wahrscheinlich als angenehm erlebt wird. Diese „Belohnungssysteme" im Gehirn würden dann als suchtrelevant eingestuft, wenn das Tier sich freiwillig Drogen mit bekanntem Abhängigkeitspotential ebenfalls genau in dieselben Hirnregionen applizieren würde, nicht jedoch in andere Hirnregionen. Interessanterweise werden die meisten mißbrauchten Drogen (außer LSD und A9-Tetrahydrocannabinol, THC) von Tieren selbst appliziert. Um ein ähnliches Wirkspektrum zweier chemisch ähnlicher oder auch unähnli-

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cher Substanzen nachzuweisen, werden „drug discrimination"-Experimente durchgeführt. Ein Tier lernt in einer Konditionierungskammer, die mit zwei Hebeln sowie mit zwei oder drei Vorratsgefäßen ausgestattet ist, eine Standarddroge, z.B. Morphin, von Lösungsmitteln zu unterscheiden. Das Tier wird nach wenigen Sitzungen nur noch den Hebel drücken, über den die Morphinlösung freigegeben wird. Die Moiphinlösung wird dann durch die auf Ähnlichkeit zu prüfende Substanz ersetzt. Wenn das Tier sein Verhalten beibehält, gilt die Prüfsubstanz als ähnlich in ihren Wirkungen wie die Standardsubstanz. Bei einer anderen Versuchsanordnung, mit der dasselbe Ziel verfolgt wird, wird zunächst diese Droge appliziert. Dann wird das Tier in die Kammer gesetzt und bekommt dann eine Belohnung (Futter, Zuckerlösung o. ä.), wenn es den „richtigen" Hebel drückt (Contingency). Auch bei dieser Anordnung wird in einer zweiten Phase die Standardsubstanz durch die Prüfsubstanz ersetzt. Ein wichtiges Kriterium ist die Dosis der Prüfsubstanz, die erforderlich ist, um das gleichartige Verhalten zu erzielen. Ein anderes Verfahren zur Untersuchung des Abhängigkeitspotentials einer Droge sind Selbstapplikationsexperimente. Das Tier kann sich über einen Hebel eine Lösung, die die Prüfdroge enthält, intravenös, oral oder direkt ins Gehirn zuführen. Ein bekanntes Beispiel ist Kokain, das sich Ratten mit einer hohen Motivation zuführen, wenn ein zeitlich begrenzter Zugang ermöglicht wird (z.B. eine Stunde). Das Versuchstier drückt den Hebel sehr rasch hintereinander, selbst wenn nur jeder zehnte oder zwanzigste Hebeldruck mit Kokain belohnt wird. Dieses Beispiel legt nahe, daß zur Gewohnheit gewordene, stereotype, automatische Handlungen ein Aspekt süchtigen Verhaltens - übrigens auch beim Menschen - sind. Weitere Untersuchungen haben gezeigt, daß der soziale Kontext (z.B. Untersuchung im gewohnten Käfig oder in fremder Um425

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gebung, in einer Gruppensituation oder im Einzelkäfig), in dem die Droge angeboten und konsumiert wird, ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf das Selbstapplikationsverhalten hat. 2.2.2 Neuroanatomisches Substrat. Die Anwendung der dargestellten Methoden hat als wichtiges anatomisches Substrat für die Entwicklung aber auch die Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens und die Entzugsphase das mesolimbischmesokortikale dopaminerge Wohlbefindlichkeitssystem, engl, „reward" System, ergeben. Diese dopaminergen Neurone mit Zellkörpern in der ventralen Haubenregion (VTA) projizieren nach kranial und enden mit ihren synaptischen Verschaltungen im Nukleus accumbens, dem Mandelkern (N. amygdala), dem Nukleus Olfaktorius, in zahlreichen weiteren Kerngebieten und vor allem auch im präfrontalen Kortex. Die dopaminergen Neurone sind in ein Geflecht von hemmenden und stimulierenden Nervenbahnen eingebettet, die, aus zahlreichen Himregionen kommend, sie beeinflussen. Diese bestehen vorwiegend aus serotonergen, glutamatergen, gabaergen, noradrenergen und endorphinergen Nervenzellen. Aus dieser Auflistung läßt sich unschwer erkennen, daß viele Medikamente Einfluß auf das Wohlbefindlichkeitssystem nehmen und beispielsweise verschieden wirkende Medikamente als Rückfallprophylaktika (Anti-craving-Medikamente) denkbar sind. Die Effektorneurone haben wichtige Synapsen im Pallidum, wovon weitere Bahnen entweder über den Thalamus in den Kortex projizieren oder zu motorischen Kernen gelangen, wo dann Handlungen ausgelöst werden („drug-seeking behaviour"). Die Funktion des Wohlbefindlichkeitssystems umfaßt mehrere Aspekte, die im folgenden dargestellt werden. 2.2.2.1 Motivation. Das mesolimbische Wohlbefindlichkeitssystem wird durch Vorgänge, die sich im Vorfeld der tatsächlichen Drogeneinnahmen abspielen, 426

Neurobiologie

besonders aktiviert (appetitive oder prodromale Phase). Dazu gehören beispielsweise Erinnerungen an die Drogenwirkung, die Rituale im Zusammenhang mit der Beschaffung (Stammkneipe, bestimmte Bekannte usw.), aber auch die Erinnerung an negative Gefühle und Erfahrungen wie sie bereits geschildert worden sind. Die Motivation, zum Alkohol oder zur Droge zu greifen bzw. sich den nicht-stofflichen Süchten hinzugeben, ist die zentrale Funktion des mesolimbischen dopaminergen Systems. Unter Motivation versteht man das zielgerichtete Verhalten eines Organismus, die Umgebung zu kontrollieren im Hinblick auf seine eigenen Bedürfnisse. Ein fundamentaler Aspekt der Motivation ist das Lernen der Beziehung zwischen wichtigen Reizen im Sinne der Definition und Hinweisreizen auf diese relevanten Reize (Bahnen zum Hippokampus und Kortex). Durch den Prozeß des Lernens wird dem Organismus klar, welche Reize im Sinne des Ziels nützliche Reize sind. Er lernt, schädliche Reize zu vermeiden und nutzlose Reize nicht zu beachten. Unter dem Begriff der inzentiven Stimuli werden all die positiven Reize zusammengefaßt (innere, die aus dem Abhängigen selbst, bewußt oder unbewußt, kommen („set") und äußere („setting")), die dazu führen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wie beispielsweise die tatsächliche Einnahme der Droge. In der vorbereitenden Phase vor der Drogeneinnahme werden die mesolimbischen dopaminergen Nervenbahnen durch dieses Bündel von Einflüssen aktiviert und in der Folge Handlungsmuster entworfen. Diese motivationale Rolle des mesolimbischen Systems dürfte für die Entwicklung von Abhängigkeit besonders bedeutsam sein. Eine weitere Funktion des mesolimbischen Systems dürfte die Heraushebung von relevanten Stimuli sein. Motivation kann ja als Prozeß betrachtet werden, der zu einer neuen hierarchischen Ordnung unter den Stimuli führt

Neurobiologie

und zu einer Auswahl der relevantesten, die dann im Verlauf von Lernprozessen in hippokampale und kortikale Hirnabschnitte integriert werden. Dieser Prozeß der Stimulusselektion betrifft wahrscheinlich die Verstärkung von Unterschieden mehrerer Reize. Die Funktion des mesolimbischen Systems dürfte außer der Übermittlung, Ordnung und Integration der inzentiven Stimuli mit vorhandenen Reizmustern und Impulsen aus anderen Hirnregionen auch die Umsetzung in Handlungen sein, die zur Drogenbeschaffung und -einnähme führen können aber nicht müssen. 2.2.2.2 Sensitivierung. Ein weiterer Aspekt bei der Entwicklung von Abhängigkeit und der Rolle des mesolimbischen Wohlbefindlichkeitssystems ist die Sensitivierung („behavioral sensitization"). Darunter versteht man die Beobachtung, daß nach wiederholter Applikation von Drogen eine qualitative aber auch quantitative Veränderung einzelner Wirkungen (nicht aller!) beobachtet werden kann. Zu den qualitativen Veränderungen ist die Wirkung von wiederholter Applikation von Opiaten zu rechnen, die zu stereotypen Reaktionen bei Ratten führt, ein Verhalten, das Opiate üblicherweise nicht hervorrufen. Zu den quantitativen Veränderungen gehört die Beobachtung, daß der maximal erzielbare Effekt einer Droge größer wird nach wiederholter Applikation wie beispielsweise die Aktivierung der Lokomotion. Weiterhin wurde beobachtet, daß nach Absetzen und Wiederverabreichung einer Droge eine größere Menge der Droge freiwillig eingenommen wird als am Ende der vorangegangenen Trinkperiode („reinstatement"). Eine solche Sensitivierung kann nicht nur nach Substanzen mit Abhängigkeitspotential beobachtet werden (am besten untersucht sind Amphetamin und Kokain), sondern auch durch wiederholte Streßsituationen, was zu einer vermehrten Ausschüttung von Dopamin pro Reiz im präfrontalen Kortex führt. Zwar sind die Mechanismen, die zur erhöhten

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Effizienz der neuronalen Übertragung beitragen, noch nicht genau bekannt, doch wurde beobachtet, daß die autosomalen, also präsynaptischen DopaminD 2 -Rezeptoren, die über einen lokalen Rückkoppelungsmechanismus die Ausschüttung von Dopamin vermindern, herunterreguliert werden. Damit wird pro Aktionspotential mehr Dopamin freigesetzt. Allerdings verschwindet dieser Effekt nach einigen Tagen. Ein weiterer Mechanismus dürfte die Adaption der Zahl der Dopamintransporter sein. Beispielsweise steigt nach Absetzen von Kokain kurzfristig (3 Tage) deren Zahl an, ist dann aber über viele Wochen erniedrigt. Dies bedeutet, daß die Ausschüttung der für ein Aktionspotential üblichen Dopaminmenge eine längere Wirkung hat, da weniger Transportkapazität für den Rücktransport in die Präsynapse zur Verfügung steht. Entsprechend ist die Wirkung einer Injektion von Kokain auch verstärkt. Kokain wirkt über eine Blockade des Dopamintransports, unter diesen Bedingungen wäre eine bestimmte Menge an Kokain also wirksamer. Außer diesen präsynaptischen Mechanismen dürften auch postsynaptische für die erhöhte Empfindlichkeit eine Rolle spielen wie Stimulierungen mit Dopaminagonisten gezeigt haben. Diese aktivieren unter diesen Bedingungen die Adenylylzyklase und sog. „immediate early genes" stärker. Damit würde die Impulsübertragung in der Effektorzelle stärker gebahnt. Für die Entwicklung abhängigen Verhaltens könnten Vorgänge der Sensitivierung insofern von Bedeutung sein, als Substanzen mit Abhängigkeitspotential bei wiederholter Einnahme das Wohlbefindlichkeitssystem sensitivieren, so daß die Einnahme der Droge einen zunehmend größeren Verstärkereffekt hat. Für die Sensitivierung im Laufe der Entwicklung von Abhängigkeit dürften Glukokortikoide wichtig sein. Diese bahnen das dopaminerge Wohlbefindlichkeitssystem. Applikation von Kortikosteron führt zu einer Intensivierung der Psy427

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chostimulantienwirkung. Umgekehrt verhindert Blockade der Kortikosteronausschüttung die Verstärkerwirkung von Stressoren auf die Effekte von Psychostimulantien und Morphin. Ein weiteres Beispiel: Eine Gruppe von Ratten, die vergleichsweise schnell lernten, sich Drogen selbst zu applizieren, hatten ein dysreguliertes Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierensystem (ΗΡΑ-Achse). Stress löste bei ihnen eine vergleichsweise lang anhaltende Kortikosteronsekretion aus. Eine Dysregulation der HPA-Achse könnte auch eine der Ursachen für die Rückfallneigung sein. Mit der Drogeneinnahme konditionierte Reize könnten eine stärkere und länger anhaltende Ausschüttung der Glukokortikoide auslösen und so die Reagibilität des Wohlbefindlichkeitssystems verstärken und zwar in beide Richtungen. 2.2.3 Der -"-Entzug. Als ein Faktor für die Aufrechterhaltung von Abhängigkeit gilt das Entzugssyndrom, das als negativer Verstärkermechanismus aufgefaßt werden kann (s. o.). Besonders die Opiate sind diesbezüglich gut untersucht. Außerdem konnte gezeigt werden, daß Entzug von Ethanol und Benzodiazepinen beim Menschen anxiogen wirkt, was auch tierexperimentell für mit Alkohol behandelte Ratten gezeigt wurde (Hölter et al„ 1998). Die Stärke der anxiogenen Reaktionen nimmt nach wiederholten Entzügen zu. Im akuten Entzug besteht eine Abnahme positivmotivierender Reize bzw. der Aktivierbarkeit des Wohlbefindlichkeitssystems. Diese und andere Befunde haben zur Folge, daß der Entzug ein negativ-motivationaler Stimulus ist (Markou und Koob, 1991). 2.2.4 Toleranz. Toleranz kann operational als Rechtsverschiebung der DosisWirkungskurve nach wiederholter Drogeneinnahme definiert werden. Es gibt neben der pharmakokinetischen (metabolischen) Toleranz durch eine Beschleunigung des Abbaus von Drogen auch eine zelluläre (pharmakodynamische) Toleranz, die auf einer neuronalen 428

Neurobiologie

Anpassung an die wiederholte Drogeneinnahme basiert. Für die zelluläre Toleranz gibt es verschiedene Formen, die nicht nur für die einzelnen Drogen verschieden sind, sondern auch von den Umständen der Drogeneinnahme abhängen. Intermittierende Dosierung von Nikotin verursacht beispielsweise größere Veränderungen der Rezeptorregulation („down-regulation") als kontinuierliche Verabreichung. Dabei ist zu beachten, daß sich die Toleranz nicht nur in Schaltkreisen manifestiert, in denen die Suchtstoffe unmittelbar wirken, sondern auch in mit diesen verbundenen Schaltkreisen. Diese antagonisieren die Wirkungen der Droge mit dem Ziel, die Homoeostase aufrechtzuerhalten. Beispielsweise werden während des chronischen Mißbrauchs von Drogen (Kokain, Opiate, Ethanol, THC) Streßsysteme des Gehirns empfindlicher wie beispielsweise das CRH-System (KortikotropinReleasing-Hormon). Unter den Bedingungen der Homoeostase sind die Interaktionen der neuronalen Systeme noch koordiniert. Bei fortgesetztem Mißbrauch kann es jedoch zu einer Abkoppelung einzelner Systeme von der Kontrolle durch kortikale Zentren kommen. Dann besteht Kontrollverlust. Die neurobiologische Grundlage dieser Entkoppelung ist unbekannt. Eine ausgeprägte Toleranz entwickelt sich gegenüber LSD. Am vierten Tag einer regelmäßigen LSD-Einnahme verschwinden seine Effekte praktisch völlig. Toleranz entwickelt sich gegenüber einigen Wirkungen der Benzodiazepine (z.B. Sedierung), aber nicht gegenüber anderen (z.B. Anxiolyse). Vom Nikotin ist gezeigt worden, daß Toleranz gegenüber aversiven Wirkungen (z.B. Übelkeit) ausgeprägter als gegenüber den erwünschten ist. Bei Opiaten besteht Toleranz hauptsächlich gegenüber den meisten dämpfenden Wirkungen. Auch gegenüber Alkohol sind Hinweise auf akute und chronische Toleranzen gegenüber den sedierenden, subjektiven,

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hypothermen und ataktischen Wirkungen beschrieben. Die Bedeutung der Toleranz für die Phasen der Abhängigkeit ist wenig untersucht. Die Toleranz sowohl gegenüber den erwünschten wie gegenüber den aversiven Wirkungen der Drogen beeinflußt die Menge der eingenommenen Drogen. Toleranz gegenüber den Verstärkereffekten führt beispielsweise auch zu einer Verlängerung der Zeit, die der Abhängige mit der Drogenbeschaffung zubringt. Die high-risk-Studien (s. o.) haben gezeigt, daß Toleranz gegenüber aversiven Wirkungen von Alkohol zu einem erhöhten Konsum führen kann (Rommelspacher, 1997). 2.2.5 Bildung vom Morphin-ähnlichen Substanzen in der Folge des Alkoholkonsums. Aktive Metaboliten von Neurotransmittern wie Dopamin und Noradrenalin (Tetrahydroisochinoline) sowie Tryptamin und Serotonin (ß-Carboline) sind deshalb auf das Interesse der Suchtforscher gestoßen, weil sie in der Mohnpflanze Vorstufen für Morphin und Kodein sind. Es wurde deshalb die Hypothese aufgestellt, daß auch Morphin und verwandte Substanzen im Körper vorkommen und ein Defizit der physiologischen Substanzen zu Alkoholverlangen führen können (Defizithypothese). In diesen Überlegungen spielte der Alkohol insofern eine zentrale Rolle, weil sein Metabolit Acetaldehyd die Bildung der aktiven Metaboliten der Neurotransmitter fördert. Während der Alkoholintoxikation und damit verstärkten Bildung des Acetaldehyds würde es nach der Defizithypothese zu einer starken Anreicherung der aktiven Metaboliten kommen. Eine Person mit einem Defizit an körpereigenen Opioiden würde in einem „Selbstversuch" feststellen, daß sie sich nach einer Alkoholeinnahme besonders wohlfühlt, ohne daß sie die Zusammenhänge im einzelnen durchschaut. Tatsächlich würde nach dem akuten Abklingen der Ethanolwirkung durch die Bildung von Morphin oder morphin-ähnlicher Substanzen das

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Wohlbefinden nach Alkoholgenuß durch den Ausgleich des Defizits an körpereigenen Opiaten verlängert. Das Verlangen, diesen Zustand erneut zu erleben, würde bei Personen mit dem entsprechenden Defizit bewußt oder unbewußt immer vorhanden sein. Diese Hypothese hat zu zahlreichen Untersuchungen geführt und auch zu der Erkenntnis, daß Morphin auch bei Mensch und Säugetieren in Spuren vorkommt, die allerdings nicht ausreichen, um Opioidrezeptoren nennenswert zu stimulieren. Auch im Vergleich zu Morphin einfach strukturierte Kondensationsprodukte sowohl aus der Gruppe der Tetrahydroisochinoline (TIQ; z.B. Salsolinol), als auch der Gruppe der ß-Carboline (BC; z.B. Tetrahydronorharman, Norharman, Harman, Harmalol, Tetrahydroharman, 6Hydroxynorhaman, 6-Hydroxytetrahydronorharman) kommen als physiologische Substanzen in wesentlich höheren Konzentrationen vor. Diese Kondensationsprodukte lösen im Tier zahlreiche Verhaltensveränderungen aus. Unter anderem ist die Induktion einer freiwilligen Alkoholeinnahme bei Ratten nach Infusion von BC's und TIQ's in das Ventrikelsystem oder direkt in hippokampale Strukturen besonders bemerkenswert. Diese Wirkung kann mit einer Aktivierung des mesolimbischen Wohlbefindlichkeitssystems erklärt werden. Die Konzentration der ßCarboline Norharman und Harman sind im Urin während der Alkohol-Intoxikationsphase und auch in den ersten Wochen nach dem Entzug um ein mehrfaches erhöht. Ein rascher Konzentrationsanstieg löste Halluzinationen aus (Spies et al., 1996). Diese Befunde können so interpretiert werden, daß bei Alkoholkranken eine Stoffwechselstörung vorliegt, die unter bestimmten Umständen sichtbar wird. Die kürzlich erfolgte Entdeckung eines spezifischen ß-Carbolinrezeptors (Lichtenberg-Kraag et al., 1997) und die Untersuchungen der Biosynthese der ß-Carboline dürften weitere Einblicke in spezifische metaboli429

Neuroleptika

sehe Störungen bei Alkoholabhängigen erlauben. Diese könnten zum Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Abhängigkeit wesentlich beitragen. 3. Ausblick. Die Erkenntnisse der letzten Jahre haben dazu geführt, daß neben den psychotherapeutischen Verfahren zur Behandlung Abhängiger auch Möglichkeiten entwickelt wurden, durch Medikamente ergänzend die bisherigen Behandlungsmöglichkeiten zu unterstützen. In Deutschland wird mit dem -•Acamprosat ein solches Medikament als Rückfallprophylaktikum für Alkoholabhängige angeboten. Weitere Arzneimittel auch für andere Suchtstoffe wären denkbar, wenn die öffentliche Hand sich entschließen könnte, die Suchtforschung nennenswert zu fördern. Die süchtigem Verhalten zugrundeliegenden Vorgänge sind so komplex und betreffen grundlegende Prozesse der menschlichen Existenz, daß mit schnellen Erfolgen nicht gerechnet werden kann. (-•Genetik) Lit.: Altman, J., Everitt, B. J., Glautier, S. et al., The biological, social and clinical bases of drug addiction: Commentary and debate, Psychopharmacology 1996, 125, 284-345; Gastpar, M„ Mann, K., Rommelspacher, H., Lehrbuch der Suchterkrankungen, 1999, Thieme Verlag, Stuttgart, New York; Hölter, S. M., Engelmann, Μ., Kischke C., Liebsch G., Landgraf, R., Spanagel, R., Longterm ethanol selfadministration with repeated ethanol deprivation episodes changes ethanol dringking pattern and increase anxiety related behaviour during ethanol deprivation in rats, Behav Pharmacol, im Druck; Lichtenberg-Kraag, Β., Klinker, J. F., Mühlbauer, Ε., Rommelspacher, Η., The natural beta-carbolines facilitates inositol phosphate accumulation by activating small G-proteins in human neuroblastoma cells (SH-S Y5 Y), Neuropharmacology 36, 1771-1778, 1997; Markou, Α., Koob G. F., Postcocaine anhedonia. An animal model of 430

Nichtraucher-Initiative Deutschland e.V.

cocaine withdrawal, Neuropsychopharmacology 1991, 4, 17-26; Rommelspacher, H., Schuckit, Μ. Α., Drugs of abuse. Bailliere's Clinical Psychiatry, Band 2, 1996, Bailiiere Tindall, London, Philadelphia, Sydney; Schuckit, Μ. Α., Smith, T. L„ An 8-year-follow-up of 450 sons of alcoholic and control subjects, Arch Gen Psychiat 1996, 53, 202210; Spies, C. D., Rommelspacher, H., Winkler, T. et al., ß-Carbolines in chronic alcoholics following trauma, Addict Biol 1996, 1,93-103. Hans Rommelspacher, Berlin Neuroleptika

Bez. für Medikamente, die zur Gruppe der Antipsychotika gehören und antipsychotisch, sedierend und psychomotorisch dämpfend wirken. -•Psychopharmaka Nichtraucher-Initiative Deutschland e.V.

Die Nichtraucher-Initiative Deutschland (NID) wurde 1988 von regionalen und lokalen Nichtraucher Initiativen sowie Einzelpersonen gegründet. Vorrangiges Ziel der NID ist ein gesetzlicher Nichtraucherschutz und die Verminderung des Tabakkonsums. Die NID informiert in Druckschriften über die Gefahren des (Aktiv-)Rauchens und Passivrauchens und die rechtliche Situation insbesondere beim Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Sie koordiniert die Aktionen regionaler und lokaler Nichtraucher-Initiativen, betreibt Öffentlichkeitsarbeit und fördert politische Bemühungen, die auf einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zielen. Der NID gehören neben Einzelpersonen fast alle vereinsmäßig organisierten regionalen und lokalen Nichtraucher-Initiativen an. Der NID finanziert sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Anschrift: Carl-von-Linde-Straße 11, 85716 Unterschleißheim, Tel.: 089/ 3171212, Fax: 089/3174047, e-mail: [email protected] http://www. ip-service.com/NID/

Nicht-stoffgebundene Süchte Nicht-stoffgebundene Süchte -•Stoffungebundene Süchte Niedrigschwellige Angebote Ν. A. bezeichnen vor allem aufsuchende und szenenahe Angebote an Drogenkonsumenten, die keine Vorbedingungen an den Hilfesuchenden stellen (Beratung, -•Druckräume, Kontaktzentren etc.). Dieses Konzept geht seit den 1980er Jahren einher mit einem grundsätzlichen Wandel in der Arbeit mit Drogenkonsumenten, wonach das frühe Erreichen der Betroffenen im Vordergrund steht, um die gesundheitlichen und sozialen Risiken des Drogenkonsums zu minimieren und sich gleichzeitig auf die Lebensbedingungen der Betroffenen einzulassen. -»•Akzeptierende Drogenarbeit; -•Soziale Arbeit; -•Streetwork und aufsuchende Arbeit Nikotin 1. Definition. Der Begriff läßt sich auf den französischen Diplomaten Jean Nicot (1530-1600) zurückführen, der als Gesandter des französischen Königs in Lissabon (von 1559-1561) den Tabak kennenlernte und nach seiner Rückkehr in Paris den französischen Adel von den besonderen Heilkräften überzeugte. Ihm zu Ehren gab Liebeault 1570 der Tabakpflanze den Namen Nicotina. Nachdem der wichtigste Wirkstoff der Tabakpflanze im Jahre 1828 isoliert werden konnte, nannten ihn die Entdecker Posselt und Raimann Nikotin. 2. Wirkungen. Nikotin gehört zu den wenigen natürlich vorkommenden flüssigen -•Alkaloiden. In reinem Zustand ist es eine farblose Flüssigkeit, die sich an der Luft braun färbt und den typischen Tabakgeruch verbreitet. Chemisch handelt es sich um ein 3-(l-Methyl-2-Pyrrolidinyl)-Pyridin, das in der Tabakwurzel gebildet und in den Blättern abgelagert wird (N.-Gehalt je nach Sorte 0,1 bis über 10%). Als schwache Base ist N. sowohl in Wasser als auch in Äthanol oder Chloroform löslich. Diese günstigen physiko-chemi-

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sehen Eigenschaften erleichtern den Transfer durch biologische Membranen. Die Aufnahme erfolgt nach dem Prinzip der „Non-Ionic-Difusion", die Ausscheidung durch die Nieren. N. ist eine farblose, ölige Flüssigkeit und eines der stärksten Pflanzengifte (tödliche Dosis für den Menschen etwa 0,05 g). Diese Dosis kann beim Rauchen nicht erreicht werden, da das N. im Körper sehr schnell wieder abgebaut wird. In kleinen Dosen wirkt N. erregend auf die Ganglien des vegetativen Nervensystems und setzt aus dem Nebennierenmark Katecholamine (wichtigste: Adrenalin und Noradrenalin) frei. Eine akute N.-Vergiftung äußert sich in Übelkeit, Erbrechen, Leibschmerzen, Durchfall, Herzklopfen, Änderung des Blutdrucks (Steigerung oder Senkung), Schweißausbruch, Schwindel und Zittern. Beim Tabakrauchen ist N. ein Hauptwirkstoff. Durch die Inhalation wird N. durch das Alveolarepithel (Alveole = Lungenbläschen) in das strömende Blut aufgenommen und gelangt mit diesem innerhalb von 7 Sekunden in das Gehirn, wo die zentralen Wirkungen ausgelöst werden. Die physiologischen Wirkungen des N. sind vielfältig. Im vegetativen Nervensystem erregt es sowohl den Sympathikus als auch den Para-Sympathikus. In höheren Dosen hemmt es die Tätigkeit beider. Die subjektiv erfahrene Wirkung ist entweder eine Beruhigung oder eine Anregung (sog. Nesbitt'sches Paradox). Durch seine chemische Ähnlichkeit mit dem Acetylcholin bewirkt es die Ausschüttung von Noradrenalin aus den sympathischen Nervenendigungen sowie von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebenrindenmark. Dadurch wird die Herzfrequenz und die Gefäßkonzentration erhöht. Durch Verringerung der Muskelspannung und der reflektorischen Erregbarkeit wird ein als angenehm empfundenes Entspannungsgefühl ausgelöst. Die Wirkungen auf das zentrale Nervensystem wie Anregung der Atmung, Konzentrationssteigerung 431

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und Erhöhung der Gedächtnisfähigkeit lassen sich auf die Noradrenalin-Ausschüttung zurückführen. 3. Gesundheitsschäden. Beim Tabakrauchen wird ein Gasgemisch, bestehend aus ca. 500 Stoffen (u. a. Stickstoff, Kohlenoxide, Cyanwasserstoff) und Partikeln aus ca. 3500 verschiedenen Substanzen inhaliert. Der Haupt- und Nebenstromrauch enthält u. a. mehr als 40 verschiedene carzinogene Substanzen (u.a. N.-Nitrosamine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe). Das zu etwa 2,8 bis 4,6% im Zigarettenrauch enthaltene Kohlenmonoxid wird in Zusammenhang mit der erhöhten Morbiditätsrate für degenerative Gefäßerkrankungen gebracht. Die gesundheitsschädigenden Wirkungen des Tabakrauchens sind inzwischen allgemein anerkannt. Zigarettenrauchen ist Kausalfaktor für Herzerkrankungen sowie arteriosklerotische periphere Gefäßerkrankungen. Lungenkrebs sowie Karzinome von Larynx, Mundhöhle und Speiseröhre ebenso wie Blasen-, Nieren und Pankreaskrebs können durch Rauchen verursacht werden. Das Fötalwachstum (-»Embryopathie) wird verzögert, das Risiko spontaner Fehlgeburten steigt ebenso wie die Beeinträchtigung des Wachstums im frühen Kindesalter. Synergistische Effekte wurden festgestellt zusammen mit oralen Antikonzeptiva (Thrombosen, Herzattacken und Blutgefäßschäden) und Alkohol (Mundhöhlen- und Ösophagus-Krebs). Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Rauchers, der pro Tag 20 Zigaretten raucht, ist um 5 Jahre niedriger als die eines vergleichbaren Nichtrauchers. Wegen der erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten wird das Tabakrauchen inzwischen einhellig von medizinischen Fachgesellschaften, Ärzteverbänden und internationalen Gesundheitsorganisationen (vor allem der -»Weltgesundheitsorganisation) bekämpft. 4. Nikotin als Genußmittel. Das in Tabakblättern vorhandene N. kann durch 432

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Kauen, Schnupfen oder Rauchen aufgenommen werden. Der Genuß von N. hat seit der Einführung der Tabakpflanze in Europa (-»Geschichte des Tabaks) Gegner und eine umfangreiche Literatur gegen den Tabakkonsum provoziert. Die Kirchen bekämpften das Rauchen wie andere Genußmittel auch unter moralischen Gesichtspunkten. Sie wurden von engagierten Nichtrauchern unterstützt, die sich durch den Rauch belästigt oder in ihrer Gesundheit gefährdet (Passivrauchen) fühlten. Die Rolle des Staates war immer in hohem Maße ambivalent. Einerseits befürchtete man die Zerstörung der Arbeitskraft, die Vergeudung von Vermögen und den Kapitalabfluß ins Ausland. Auf der anderen Seite sah man die Einnahmemöglichkeiten durch Einfuhrzölle und die Einnahme von Tabaksteuern; im Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland schlägt die Tabaksteuer derzeit mit ca. 20 Milliarden DM zu Buche. Die akuten physiologischen Wirkungen des N. können vom Raucher durch die Inhalationstiefe und -frequenz beeinflußt werden. Ergänzend und verstärkend sind psychologische und soziale Faktoren. Tabakrauchen ist ein komplexes, vielschichtiges Verhaltensmuster, das in alltägliche Lebensstile eingebettet ist und sozial verstärkt wird. Eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur hat sich mit den Motiven zum Rauchen befaßt, u. a. zur Klärung der Frage, warum Raucher, die angeben, mit dem Rauchen aufhören zu wollen, trotzdem weiterrauchen (v. Troschke 1987). Eine naheliegende Hypothese ist die der suchtartigen Abhängigkeit von den N.Wirkungen. Die Suchthypothese hat eine große Verbreitung gefunden, dient sie doch gleichermaßen Rauchern als Entschuldigung für ihr Weiterrauchen wie engagierten Gesundheitserziehern zu erklären, warum ihre Bemühungen zur Bekämpfung des Rauchens oft so frustrierend erfolglos sind. Die überwie-

Nikotin

Nikotin

gende Mehrzahl der Entwöhnungsversuche (-^Entwöhnung) endet mit Mißerfolgen. Wer sich erst einmal an das Rauchen gewöhnt hat, der kommt so schnell nicht wieder davon los. Auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen bei stabilen Exrauchern, daß diese in der überwiegenden Mehrzahl von einem auf den anderen Tag ohne irgendwelche äußere Unterstützung mit dem Rauchen aufgehört haben. Die hohe Erfolgsquote der sog. Schlußpunkt-Methode und die relativ kurze Zeit physiologischer Entzugsreaktionen (ca. 1 Woche) sprechen aber gegen die Hypothese einer anderen Süchten entsprechenden physiologischen Abhängigkeit. Offenkundig handelt es sich beim Tabakrauchen um ein komplexes Verhaltensmuster mit einer Vielzahl von Einflüssen, die positiv oder negativ motivierend wirken können.Eine Monographie zur Auswertung der internationalen Rauchermotivationsliteratur (Wetterer, v. Troschke 1986) konnte 6 Nutzen- und 4 Schadensmotive voneinander unterscheiden, die die Entscheidung eines Rauchers beeinflussen können, sich in

Gesellschaftliche Faktoren

subjektiver Nutzen Motive

Vorbilder "Stars"

Selbst-Darstellung (Identitätspräsentation)

einer aktuellen Situation für oder gegen das Rauchen zu entscheiden. Rauchen als soziales Handeln bietet vielfältige Möglichkeiten der Selbstdarstellung (1), insbesondere durch die damit verbundenen sozialen Rituale. Innerhalb einer Gruppe von Rauchern kann derjenige, der sich an die üblichen Rituale anpaßt, soziale Anerkennung (2) und Bestätigung gewinnen. Rauchen als soziales Handeln ist ein Kommunikationsmittel (3). Durch das Anbieten einer Zigarette, das Geben von Feuer etc. können Menschen miteinander verbal und nonverbal kommunizieren. Soziale Barrieren können überwunden und Kontakte aufgenommen werden. Mit dem Rauchen können Zeit- und Handlungsabläufe (4) strukturiert, Wartezeiten überbrückt werden. Man spricht von der Zeiteinheit einer „Zigarettenpause" oder einer „Zigarettenlänge". Psychosoziale Spannungen und negative Emotionen können mit dem Rauchen bewältigt (5) werden, einerseits, indem unangenehme Gefühle verdrängt oder angenehme Gefühle kompensatorisch ausgelöst werden.

situationsbezogene Kosten/NutzenAbwägung

subjektive SchadensMotive

Kosten

"raucherfreundliche" Verhaltensformen

soziale g-^Ablehnung Zigarettenrauchen

Kommunikationsmuster, Rituale

9 _ unangenehme Begleiterscheinungen 10

Belastungsbewältigung

Genußmittel

Genu 13

Steuern Verkaufspreise "raucherfeindliche" Verhaltensformen

V

-w \

Belastungen Bewältigungsmittel

Gesellschaftliche Faktoren

Gesundheits- erziehung - aufklärung - beratung

Situationsbezogene Motivationsbündel

Abb.: Wirkfaktoren

433

Nikotin

Die beschriebenen physiologischen Wirkungen des N. können Genußgefühle (6) vermitteln, die im Sinne einer Selbstbelohnung bewußt eingesetzt werden können. Diesen sechs positiv erlebten Nutzenmotiven stehen vier Nachteile gegenüber, die demotivierend wirken können. Rauchen ist mit finanziellen Kosten (7) und einem gewissen Aufwand (z.B. dem Besorgen von Rauchmitteln) verbunden. In sozialen Gruppen, in denen das Rauchen negativ bewertet wird, muß der Raucher damit rechnen, soziale Ablehnungsreaktionen (8) zu provozieren. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Stigmatisierung des Rauchens wächst der soziale Druck. Die physiologischen Reaktionen des Rauchens können auch Unlustgefühle vermitteln, die durch die Folgen des Rauchens ausgelösten körperlichen Beschwerden und Befindlichkeitsstörungen (9) können demotivierend wirken. Last but not least sind die Gesundheitsschäden (10) zu nennen, die in unserer aufgeklärten Informationsgesellschaft so gut wie allen Rauchern bekannt sind. Der hohe soziale Wert von Gesundheit wird in der modernen Gesundheitserziehung und -aufklärung als wesentliches Motiv gegen das Rauchen eingesetzt. Die individuelle Entscheidung für oder gegen das Rauchen ist abhängig von den vielfältigen situativen Einflüssen des Alltagserlebens. 5. Raucherkarriere. Die Wahrscheinlichkeit und Intensität des N.-Konsums variiert mit den Alters- und Lebensphasen. Die Sozialisation an das Rauchen geschieht gewöhnlich in der Pubertät und dauert ca. 5 Jahre. Am Anfang sind soziale und psychische Motive handlungsleitend. Die physiologischen Wirkungen des Tabakrauchens wirken eher demotivierend (z.B. Übelkeit, Erbrechen, Durchfall). Kinder spielen mit Zigaretten-Symbolen, Jugendliche probieren das Rauchen 434

Nikotin

einer Zigarette und werden zumeist von Älteren zum Rauchen verführt. Bei der Suche nach einer persönlichen Identität werden Rituale und Accessoires, wie sie das Rauchen bietet, als hilfreich erlebt. Je rigider Erwachsene Jugendlichen das Rauchen verbieten, um so stärker wird für extrovertierte Jugendlichen das Motiv des pubertären Protestes, der Zigarette als Freiheitssymbol. Hat man sich erst einmal an die psychischen, sozialen und physiologischen Wirkungen des Rauchens gewöhnt, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Weiterführung über mehrere Jahrzehnte hinweg groß. Der Konsum wird auf ein individuelles Bedürfnisniveau eingestellt mit lebensphasenbezogenen Schwankungen (abhängig von Stressbelastungen, Krankheiten etc.). Bei den meisten Rauchern kommt nach ca. 20 bis 30 Jahren eine Phase der Problematisierung, mit vielfältigen Entwöhnungsversuchen, die zwischen zwei und fünf Jahren dauern. Man demonstriert sich die Unabhängigkeit vom Rauchen, macht spielerische Entwöhnungsversuche und ernsthaftere Versuche, die immer wieder abgebrochen werden. Kommt dann der richtige Zeitpunkt, gelingt die Entwöhnung in der Regel ohne äußere Unterstützung nach der sog. SchlußpunktMethode. Nach mehreren Jahren des Nichtrauchens sinkt das Gesundheitsrisiko sukzessive bis auf das Niveau eines Gleichaltrigen, der nie geraucht hat. Nach einigen Jahren ist der Exraucher-Status zumeist stabil. Rückfälle können sich dann nur noch in extremen Krisen und Konfliktsituationen einstellen. 6. Epidemiologische Daten zum Rauchen. Trotz der allgemeinen Verbreitung medizinischer Erkenntnisse über die Gesundheitsrisiken des Rauchens sind die -•Prävalenzraten in Deutschland immer noch hoch. Grundsätzlich ist festzustellen, daß die vorliegenden epidemiologischen Daten zum Rauchen schwer zu beurteilen sind,

Nikotin

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da in den verschiedenen Erhebungen unterschiedliche Definitionen zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus ist mit einem Antwortverhalten im Sinne sozialer Erwünschtheit (social desirability effect) zu rechnen, der sich im Kontext der angewandten Erhebungsmethoden unterschiedlich auswirken kann. Grundsätzlich ergeben sich somit Probleme der Vergleichbarkeit verschiedener Untersuchungen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat deshalb Empfehlungen zur Standardisierung von Fragestellungen zum Rauchen veröffentlicht (BZgA 1997). Die Tabelle gibt einen Überblick über die im Mikrozensus vom April 1995 ermittelten Raucherquoten. Alter in Jahren

Frauen in %

Männer in %

15-20 20-25 25-30 30-35 35-40 40-45 45-50 50-55 55-60 60-65 65-70 70-75

14,4 30,9 35,0 38,7 35,1 30,8 26,7 19,5 14,3 11,4 9,8 7,2

21,7 41,6 45,8 47,5 47,7 43,3 39,7 34,5 29,8 26,3 22,7 18,3

zusammen

20,4

33,4

Geht man davon aus, daß die potentiellen Raucher eines Jahrgangs bis zum 25. Lebensjahr mit dem Rauchen angefangen haben, dann belegt die Tabelle einen Rückgang der Raucherquoten für Männer und Frauen in den unteren Altersgruppen. (-»-Epidemiologie) 7. Entwöhnungsstrategien. Ein breites Spektrum von Methoden zur Raucherentwöhnung wird angeboten. Mit Informationsmedien aller Art wird versucht, Nichtraucher in ihrem Verhalten zu stabilisieren und Raucher zur Entwöhnung zu motivieren. Derartige Aufklärungsmaßnahmen können als positive Verstärker wirken in Phasen der Unsicherheit

zwischen Nichtrauchen und Rauchen bzw. Rauchen und Nichtrauchen. Prohibitionsmaßnahmen (-•Prohibition) mit der Beschränkung der zur Verfügung stehenden Rauchwaren, Verbote und die Androhung von Bestrafungen können leicht gegenteilige Effekte auslösen. Insbesondere Jugendliche können zu gegenabhängigen Reaktionen provoziert werden. Am wirksamsten ist eindeutig die Überzeugung, daß Nichtrauchen das bessere Verhaltensmuster ist, verbunden mit dem Angebot sozialer Unterstützungsleistungen. Wenn jemand sich an das Rauchen gewöhnt hat, dann kommt es vor allem darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu finden, bei dem der Raucher wirklich überzeugt werden kann und in der Lage ist, seinen guten Vorsatz umzusetzen. Hier ist eine besondere Kompetenz und Sensibilität von Gesundheitsberatern notwendig. Zum richtigen Zeitpunkt ist die Wahrscheinlichkeit des Gelingens nach der Schlußpunkt-Methode besonders groß. Vielfältige Therapieangebote werden vorgehalten. Suggestiv-Therapien wie autogenes Training oder Hetero-Hypnose haben zumeist nur kurzfristige Erfolge. Die Wirksamkeit der Akupunktur ist umstritten. Aversive Stimulationen durch exzessives Rauchen oder Elektroschocks sind ebenfalls kritisch zu bewerten. Verhaltenstherapeutische Methoden (-• Verhaltenstherapie) der Selbstkontrolle können dem Raucher erleichtern, schrittweise sein Verhalten unter Kontrolle zu bringen. Vielen Rauchern hilft es, sich bewußt zu machen, in welchen Situationen, aus welchen Gründen und wie oft sie rauchen. Die -•Substitution von N. in Form von Kaugummis und Pflastern kann sich positiv auswirken durch die Entkoppelung der physiologischen Wirkungen von den psychischen und sozialen Wirkungen. Je stärker die körperliche Abhängigkeit von N. ausgeprägt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß durch eine zeitlich begrenzte Substitution der Rau435

Nikotin

eher lernen kann, von den psychischen und sozialen Wirkungen seiner Rauchrituale unabhängig zu werden. Eine schrittweise Reduzierung des N. kann dann zu einer ausschleichenden Entwöhnung führen (Wiss. Aktionskreis Tabakentwöhnung 1992). Grundsätzlich ist jeder Entwöhnungsversuch zu begrüßen. Mit jedem erfolglosen Versuch steigt die Wahrscheinlichkeit, daß der nächste Versuch erfolgreich sein wird. (-•Entwöhnung) 8. Konsequenzen. Unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft könnten die meisten Menschen theoretisch auf N. als Genußmittel verzichten. Trotz einer breiten umfassenden Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren des Tabakrauchens sind die Inzidenz- und Prävalenzraten weiterhin hoch. Immer noch gewöhnen sich viel zu viele Jugendliche das Rauchen an. Immer noch gelingt es vielen Rauchern nicht, ihre guten Vorsätze zum Nichtrauchen in die Tat umzusetzen. Die hohe Verbreitung des Tabakrauchens in unserer Gesellschaft läßt sich ebenso wie die Verbreitung anderer gesundheitsschädigender Verhaltensweisen im Kontext der vorherrschenden hedonistischen Lebensorientierungen erklären. Die kurzfristige Befriedigung der Bedürfnisse nach körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden ist zusammen mit dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung für die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft handlungsleitend. Über alle möglichen Medien werden wir tagtäglich konfrontiert mit den Werbebotschaften der Konsumgüterindustrie, die uns zum Kauf ihrer Angebote zur schnellen Bedürfnis-

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befriedigung motivieren wollen. In diesem Kontext sind die Erfolgswahrscheinlichkeiten der Gesundheitsaufklärung solange gering, wie sich die Menschen gesund fühlen. Erst mit der Zunahme altersbedingter Befindlichkeitsstörungen und der subjektiven Erfahrung der Folgen gesundheitsschädigender Verhaltensweisen wächst die Motivation, mehr auf die eigene Gesundheit zu achten bzw. sich dafür verantwortlich zu fühlen. Erfolgversprechend sind in diesem Kontext vor allem überzeugende Verhaltensvorbilder, die Kindern und Jugendlichen attraktive Lebensstile vorleben, bei denen die Aufnahme von N. in der Sprache von Jugendlichen nicht nur „nicht in", sondern vielmehr „mega-out" ist. (-•Geschichte des Tabaks) Lit.: Bengelmann, J. C.: Grundlagen und Praxis der Raucherentwöhnung, München, 1984; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Konzeption zur Förderung des Nichtrauchens in der Bundesrepublik Deutschland durch Maßnahmen der Gesundheitserziehung und der gesundheitlichen Aufklärung, Köln, 1987; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Standardisierung von Fragestellungen zum Rauchen, Köln, 1997; Troschke, J. v.: Das Rauchen. Genuß und Risiko, Basel, 1987; Troschke, J. v.: Stünzner, W. v.: Soziale Umwelt und Genußmittelkonsum, Freiburg, 1984; Wetterer, Α.; Troschke, J. V.: Smoker motivation, Springer, 1986; Wiss. Aktionskreis Tabakentwöhnung (Hrsg.): Gesundheitsberatung zur Tabakentwöhnung. Ein Handbuch für Ärzte; Stuttgart, 1992. Jürgen von Troschke, Freiburg

Organisationen

Ökonomie Ο Ökonomie -»Alkohol als Wirtschaftsfaktor; -•Drogenhandel Opiate Synonym: -»-Opioide. Zur Gruppe der O. gehören -"-Opium, -»Morphium, -•Heroin, -»Methadon und -»Codein. Opioide O. (synonym: Opiate) sind Schmerzmittel mit einer morphinähnlichen Wirkung. Klassische O. wie -»Morphin, -»•Codein, -»Methadon haben ein hohes Suchtpotential. Der menschliche Körper bildet selbst auch Opioide (-»Endorphine). -»Drogenabhängigkeit; -»Geschichte der Opiate; -»Medikamentenabhängigkeit Opium O. ist eine klassische Droge mit schmerzstillender, euphorisierender und berauschender Wirkung, das direkt als eingetrockneter Milchsaft der unreifen Kapseln des Schlafmohns gewonnen wird. -»Geschichte der Opiate Opiumderivate Unter O. sind die aus dem Grundstoff Opium gewonnenen Substanzen zu verstehen: Rohopium wird aus dem durch Anritzen der Samenkapseln erhaltenen Milchsaft gewonnen. Das Hauptalkaloid ist -»Morphium/Morphin, das in einem relativ einfachen Verfahren zu -»Heroin verarbeitet wird. -»Geschichte der Opiate Organisationen Es gibt eine große Zahl von Organisationen, die im Sucht- und Drogenbereich mit unterschiedlichen Zielsetzungen tätig sind. Die in diesem Lexikon aufgeführten haben alle überregionale Aufgaben. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl regionaler Organisationen, deren Mitglieder haupt- oder ehrenamtlich tätig sind. Folgende Organisationen sind mit kurzen Aufgabenstellungen und

Zielsetzungen in diesem Lexikon berücksichtigt: - -»Akzept e. V. - -»Al-Anon-Familiengruppen - Alateen -»Al-Anon-Familiengruppen - -»Anonyme Alkoholiker (AA) - -»Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (AWO) - -»Arbeitsgemeinschaft Katholischer Fachkrankenhäuser für Suchtkranke e.V. - -»Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur e. V. (ARCHIDO) - -»Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche Deutschland e. V. - -»Blaues Kreuz in Deutschland e. V. - -»Bund für drogenfreie Erziehung e.V. - -»Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. - -»Bundesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe e.V. - -»Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder· Jugendschutz e. V. - -»Bundeskriminalamt (BKA) - -»Bundesministerium für Gesundheit - -»Bundesverband der Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendliche e. V. (BVEK) - -»Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. - -»Bundesweiter Arbeitskreis Glücksspielsucht - -»Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) - -»Der Beauftragte der Bundesregierung für Drogenfragen - -»Deutsche Aids-Hilfe e. V. - -»Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. - -»Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V. (DHS) - -»Deutscher Caritasverband e. V. (Referat Besondere Lebenslagen) - -»Deutscher Frauenbund für alkoholfreie Kultur e. V. 437

Organisches Psychosyndrom - -»Deutscher Guttempler-Orden e. V. - -»-Deutscher Verein für Gesundheitspflege e. V. - -»Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) - -"-Diatonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V. - -»Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V. (FDR) - -»Fachverband Glücksspielsucht - -»Fachverband Sucht e. V. - -»Foederation der Drogenhilfen in Europa e. V. - -»Frankfurter Zentrum für Eßstörungen e. V. - -»Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. - -»Institut für Therapieforschung (IFT) - -»Katholische Sozialethische Arbeitsstelle e. V. - -»Kreuzbund - -»Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS)

438

Ottawa-Charta - -»Nichtraucher-Initiative land e. V.

Deutsch-

- -»Paritätischer WohlfahrtsverbandGesamtverband e. V. (Referat Gefährdetenhilfe) - -»Stiftung Integrationshilfe für Ehemals Drogenabhängige e. V. (Marianne von Weizäcker-Fonds) - -»Synanon e. V. - -»United Nations Drug Controll Programme (UNDCP) - -»Verband ambulanter Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige e. V. Organisches Psychosyndrom -»Korsakow-Syndrom Ottawa-Charta Die O. ist eine Erklärung der -»Weltgesundheitsorganisation (WHO), die auf der Konferenz in Ottawa 1986 verabschiedet wurde und über die Idee der -•Gesundheitsförderung und einem veränderten Verständnis von -»Prävention Einfluß auch auf die Diskussion im Suchtbereich bekam. -»Gesundheitswissenschaften

Pankreatitis

Persönlichkeit und Suchtverhalten Ρ

Pankreatitis P. ist die Bez. für eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, die besonders häufig bei Alkoholabhängigen vorkommt. -•Alkoholfolgekrankheiten Paritätischer Wohlfahrtsverband e. V. (DPWV) Der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) wurde 1924 unter dem Namen „Fünfter Wohlfahrtsverband e. V." gegründet. Der DPWV arbeitet ohne konfessionelle oder parteiliche Bindung. Mitglied kann jede gemeinnützige oder mildtätig anerkannte Wohlfahrtspflegeorganisation werden, sofern sie keinem anderen Spitzenverband angehört. Der DPWV repräsentiert und unterstützt seine Mitgliedsorganisation in ihrer fachlichen Zielsetzung und ihren rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belangen. Seine weiteren Aufgaben sind Förderung der fachlich-methodischen Sozialarbeit, die Aus- und Fortbildung von Mitarbeitern, die Weiterentwicklung wohlfahrtspflegerischer Aktivitäten der Bürgerschaft, die Betreuung ehrenamtlicher Mitarbeit, wissenschaftliche Untersuchungen für die soziale Praxis, Öffentlichkeitsarbeit und Information der Mitgliedsorganisationen, die Zusammenarbeit mit Behörden und Verbänden sowie internationale Kooperation. Anschrift: Heinrich-Hoffmann-Straße 3, 60528 Frankfurt, Tel.: 069/6706-269, Fax: 069/6706209, e-mail :[email protected] - http://www.paritaet.org Partnerschaft •Co-Abhängigkeit;

»Familie

Partydrogen P. ist ein umgangssprachlicher Pauschalbegriff für Freizeit- und Leistungsdrogen, deren Konsum im einzelnen modischen Strömungen unterworfen ist, wie -•Amphetamine, •Designerdrogen, -•Ecstasy und -•Cannabis (1960er und

70er Jahre). Die Partydroge par excellence ist •Alkohol. -•Populäre Musik und Drogen Pathologisierung Die Pathologie ist ein Teilgebiet der Medizin. Sie hat die Lehre von den krankhaften und abnormen Veränderungen im (menschlichen) Organismus, sowie der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten und die sie verändernden Faktoren zum Inhalt. P. meint die Anwendung des medizinischen Krankheitsmodells auf sozial (mit)bedingte Probleme. Suchtmittelkonsumenten werden vielfach pauschal als krank definiert, wobei der -•Konsum von illegalen Drogen diese Zuordnung besonders schnell erfolgen läßt. Die P. führt dazu, daß Konsumenten die Rolle von Kranken übernehmen, denen in einem zeitlich begrenzten Schonraum mit medizinischen Möglichkeiten geholfen wird. Die P. ist eine alternative gesellschaftliche Reaktionsweise neben der -•Kriminalisierung und dem sozialpolitischen Ansatz mit der Fokusierung auf ein Angebot psychosozialer Hilfen mit dem Ziel der Konsumrisikominderung oder auch der Ausstiegsmotivierung bis hin zur Duldung und sogar der kulturellen Integration des abweichenden Verhaltens. Bei einer differenzierten multiperspektivischen Betrachtung der Suchtthematik (-•Genese) darf das Krankheitsmodell nicht vernachlässigt werden, andererseits müssen stigmatisierende Pauschalierungen vermieden werden. -»Diagnostik; -•Genetik; -•ICD-IO; -•Krankheit; -•Komorbidität; -•Persönlichkeit und Suchtverhalten PCP (Phencyclidin, „Engelsstaub") -•Designerdroge Persönlichkeit und Suchtverhalten 1. Begriffserklärung. Persönlichkeit soll nachfolgend verstanden werden als die 439

Persönlichkeit und Suchtverhalten Gesamtheit psychologischer Merkmale des Menschen, die zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen zu konsistenten, für das Individuum charakteristischen Verhaltensund Erlebensweisen führt. Persönlichkeitseigenschaften sind in ihrer Struktur individuell einzigartige, überdauernde, stabile Verhaltens- bzw. Erlebenskorrelate, die teilweise durch Erbfaktoren determiniert sind. Ihr durchschnittlicher Ausprägungsgrad nimmt mit dem Alter weder wesentlich zu noch ab, und die verschiedenen Eigenschaften ändern bei ein und derselben Person im Laufe des Lebens ihre Rangordnung nicht (Costa und M c C r a e 1995). Diese breite Definition von Persönlichkeit umfaßt selbstverständlich auch verhaltensrelevante biologische Merkmale. Der klinisch und umgangssprachlich populäre, jedoch definitorisch unscharfe Begriff „Sucht" wurde im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits 1964 von der Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) international durch „Abhängigkeit" ersetzt. Da empirische Untersuchungen sich daran orientieren, soll der vorgegebene Begriff „Suchtverhalten" hier ausschließlich im Sinne von „Abhängigkeit" verstanden werden, als ein Verhalten, bei dem der Konsum einer Substanz für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber Verhaltensweisen, die früher höher bewertet wurden. Die sogenannten „nichtstoffgebundenen Süchte" zählen entgegen zahlreicher empirischer und neurobiologischer Argumente nach derzeitigem WHO-Verständnis noch nicht zu den Abhängigkeiten, sondern werden den „abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle" zugerechnet. Sie bleiben in diesem Beitrag daher ebenso unberücksichtigt wie der sog. „schädliche Gebrauch" (früher: „Mißbrauch"), eine Diagnose von unzulänglicher Validität und Reliabilität. Suchtverhalten ist nach diesem Verständnis, ebenso wie Persönlichkeit, in gewisser Weise konsistent, für das be-

440

Persönlichkeit und Suchtverhalten treffende Individuum charakteristisch und in beträchtlichem M a ß durch Erbfaktoren mitbedingt. Grundsätzlich kann die Beziehung zwischen beiden Begriffen unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden (Wiesbeck 1997). 2. Verschiedene Aspekte der Beziehung zwischen Suchtverhalten und Persönlichkeit. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen Suchtverhalten und Persönlichkeit hier unter folgenden Gesichtspunkten besprochen werden: (1) „Süchtigkeit" als Persönlichkeitseigenschaft („Suchtpersönlichkeit"), (2) prämorbide, suchtunspezifische Persönlichkeitseigenschaften, die für die Etablierung von Suchtverhalten bedeutsam sind, (3) Veränderungen von Persönlichkeitseigenschaften als Folge chronischen Suchtmittelgebrauchs und (4) den Stellenwert der psychopathisch gestörten Persönlichkeit im Zusammenhang mit Suchtverhalten. 2.1 „Süchtigkeit" als Persönlichkeitseigenschaft. Obwohl wiederholt als „suchtoffene" (Wanke 1987) oder als „toxikophile" bzw. „toxikophobe" Persönlichkeit (Schrappe 1980) postuliert, ist es nie gelungen, „Süchtigkeit" als valide replizierbares Persönlichkeitsprofil („Suchtpersönlichkeit") nachzuweisen. Mit Bezug auf die Alkoholabhängigkeit sprach Feuerlein sogar von einer „Sackgasse" und Keller formulierte („Keller's L a w " ) : „The investigation o f any trait in alcoholics will show that they have more or less o f it". Mutatis mutandis mag dies auch für alle anderen Abhängigkeiten gelten. S o ist es mit den verschiedensten Untersuchungsinstrumenten der Persönlichkeitspsychologie bisher nicht gelungen, Süchtige in ihrem Persönlichkeitsmuster sowohl von Gesunden als auch anderen psychisch Erkrankten spezifisch zu unterscheiden. Zwar sind bei Süchtigen immer wieder erhöhte Skalenwerte für „Depression" und „Psychopathie" beschrieben worden, jedoch gelang damit nicht die suchtspezifische Abgrenzung

Persönlichkeit und Suchtverhalten

gegenüber anderen Störungen, z.B. den neurotischen oder den depressiven. Werden solche Untersuchungen gar bei Süchtigen im Verlauf der Entgiftung durchgeführt, ist die Konfundierung der Persönlichkeitsmessung durch neurotoxische Effekte im Rahmen eines oft prolongierten Entzuges in Rechnung zu stellen. Eliminiert man diese verfälschende Einflußgröße und untersucht methodisch korrekter die Persönlichkeit mehrwöchig kontrolliert Entgifteter sowie im Vergleich zu sorgfältig „gematchten" gesunden Kontrollen, so lassen sich auch mit neueren Persönlichkeitsinstrumentarien, wie z.B. Cloningers „Temperament and Charakter Inventory (TCI)", keine suchtspezifischen Persönlichkeitseigenschaften ermitteln (Weijers et al. 1999). 2.2 Die prämorbide, zur Sucht disponierende Persönlichkeit. Familien-, Zwillings-, Adoptions- und Hochrisikostudien belegen eine hereditäre Prädisposition zur Abhängigkeit. Auf der Suche nach den psychobiologischen Korrelaten dieser Prädisposition wurde vermutet, daß bestimmte (prämorbide, suchtunspezifische) Persönlichkeitseigenschaften bzw. -eigenschaftskonstellationen, im Sinne eines Risikofaktors, ihren Träger zur Sucht begünstigten, d. h. Mediatoren dieser Heredität sein könnten. (-•Genetik; -»-Neurobiologie) Untersuchungen hierzu stehen vor der Schwierigkeit, daß nach Beginn einer Suchtentwicklung zwischen Ausgangspersönlichkeit und eventuell krankheitsbedingten Persönlichkeitsveränderungen nicht mehr differenziert werden kann. Persönlichkeitsrelevante Antezedenzen und Konsequenzen sind post festum nicht mehr zuverlässig zu trennen! Hierzu notwendige prospektive Längsschnittuntersuchungen mit methodisch anspruchsvollem Design gibt es wenige und die existieren, beschränken sich fast ausschließlich auf die Untersuchung Alkoholabhängiger. Ihre teils widersprüchlichen Ergebnisse lassen es nicht zu, eine prämorbide Risikopersön-

Persönlichkeit und Suchtverhalten

lichkeit einwandfrei zu etablieren. Sie deuten jedoch an, daß sich die prämorbide Persönlichkeit männlicher Risikopersonen durch Eigenschaften auszeichnet, die man allgemein als „behavioural undercontrol", als verminderte Kontrolle im Bereich impulsiven, aggressiven und emotionalen Verhaltens beschreiben könnte. Die Datenlage zur Risikopersönlichkeit bei Frauen ist noch weitaus geringer und läßt empirisch gesicherte Aussagen derzeit nicht zu. Cloninger und Mitarbeiter (1988) untersuchten den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsprofil im 11. und Alkoholismusrisiko im 27. Lebensjahr. Das höchste Risiko ergab sich dabei für Männer mit den Persönlichkeitseigenschaften hohes „novelty seeking" (Suche nach neuen Eindrücken) sowie niedriges „harm avoidance" (Schadenvermeidung) und „reward dependence" (Abhängigkeit von Belohnung). Es stellte sich heraus, daß das Alkoholismusrisiko in nichtlinearer Weise, nämlich exponentiell mit der Abweichung vom Mittelwert in jeder der drei genannten Dimensionen anstieg. Cloninger postulierte daraus einen Einfluß der heritablen Persönlichkeitsdimensionen „novelty seeking", „harm avoidance" und „reward dependence" auf Beginn, Aufrechterhaltung und Beendigung süchtigen Trinkens (Cloninger et al. 1988, 1995). Zu erwähnen ist, daß Cloninger die genannten Persönlichkeitseigenschaften („Temperamente") als überwiegend genetisch determiniert und als mit verhaltensbestimmenden neurobiologischen Funktionssystemen fundiert postuliert. Trotz zahlreicher Einwände gegen die Persönlichkeitstheorie Cloningers, bietet diese zum ersten Mal ein umfassendes, wenn auch hypothetisches Modell, das genetische, neurobiologische Persönlichkeits- und Verhaltensaspekte zusammen mit empirischen Befunden zu integrieren versucht. Eine andere Forschungsstrategie, antezendente Persönlichkeitsmerkmale süch441

Persönlichkeit und Suchtverhalten

tigen Risikoverhaltens zu eruieren, ist der Vergleich nichtabhängiger, gesunder Probanden mit und ohne abhängige Blutsverwandte (biologisches „high risk"-versus „low risk"-Untersuchungsparadigma). Werden dabei methodische Imponderabilien beachtet (soziodemographische Vergleichbarkeit, Ausschluß Antisozialer Persönlichkeiten u. a.), so deckt auch dieser Ansatz bisher keine Unterschiede im Persönlichkeitsprofil Gesunder mit hohem versus niedrigem Suchtrisiko auf. 2.3 Die suchttypische Veränderung der Persönlichkeit („Depravation"). Vorwiegend kasuistisch ist in der älteren Literatur der Aspekt der schweren Persönlichkeitsveränderung als neurotoxische Folge chronischen Suchtmittelkonsums und/oder als Ergebnis süchtiger Fehlentwicklung beschrieben. Auf dem Boden zerebrotoxischer Schädigungen komme es zunächst zu einer Veränderung der höchsten, ganz komplexen Persönlichkeitsschichten, im weiteren Verlauf zu einer Entdifferenzierung und Einebnung des Persönlichkeitsgesamts mit Beeinträchtigung von Intelligenz, Kognition und ethischen Normen. Das einförmige Erscheinungsbild derartig „Depravierter" wird als Ergebnis eines mehrschichtigen Nivellierungsprozesses mit suchttypischer Besinnungsstörung gesehen und zeige ausgesprochenen Egozentrismus, Haltlosigkeit, Unzuverlässigkeit und Verwahrlosung (Schrappe 1980). Ob es zu solchen Veränderungen kommt, hängt u. a. von der Art der Substanz ab. So ist beispielsweise die persönlichkeitsverändernde Wirkung besonders nach chronischem Alkoholoder exzessivem Cannabiskonsum häufig beschrieben worden. Kritisch wertend ist jedoch anzumerken, daß es zur allgemeinverbindlichen, gar operationalisierten, konstruktvaliden Definition eines „Depravations-Syndroms" nie gekommen ist. 2.4 Die psychopathisch gestörte Persönlichkeit. Unter den verschiedenen Störungen der Persönlichkeit (Psychopa442

Persönlichkeit und Suchtverhalten

thien) ist die Antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPD) diejenige mit der größten Bedeutung für die Entstehung manifesten Suchtverhaltens. Daten aus dem „Epidemiologie Catchment Area Survey" belegen, daß etwa 14% aller Alkoholabhängigen und sogar 18% aller Drogenabhängigen die Kriterien einer ASPD erfüllen. Umgekehrt liegt die Lebensprävalenz (->Prävalenz) süchtigen Verhaltens für Personen mit ASPD bei 84%. Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen erhöht die Diagnose ASPD das Lebensrisiko für eine Abhängigkeit um den Faktor 21 - sie ist damit einer der größten Suchtrisikofaktoren, die wir kennen! Die ASPD ist gekennzeichnet durch eine schwere Störung des Sozialverhaltens, die bereits vor dem 15. Lebensjahr, d. h. in der Regel vor dem Beginn der Abhängigkeit, einsetzt. Nach dem 15. Lebensjahr fehlen dauerhafte Tätigkeiten oder stabile Sozial- und monogame Partnerbeziehungen, die Betreffenden sind reizbar und aggressiv, kommen häufig mit dem Gesetz in Konflikt, sie lügen, betrügen und verspüren dabei wenig Gewissensbisse. Im Gegensatz zu anderen Persönlichkeitsstörungen besitzt die ASPD-Diagnose (nach den Diagnostischen Kriterien der American Psychiatric Association, DSM-IV) eine ausreichend hohe Validität und Reliabilität. Eine zuverlässige Differenzierung zwischen primärer Abhängigkeit und ASPD mit sekundärem, d. h. symptomatischem Suchtverhalten im Sinne zweier unterschiedlicher Krankheitsbilder, ist daher möglich und für wissenschaftliche Untersuchungen zwingend zu fordern (Schuckit 1989). Diese enge Beziehung von Suchtverhalten und ASPD ist, besonders bei Männern, seit langem bekannt. Sie diente zahlreichen Typologien als Grundlage. So unterschied beispielsweise Knight bereits in den 30er Jahren einen „essential" (früher Beginn der Sucht, schlechte Prognose, Persönlichkeitsstörung) von einem „reactive" Typus (später Beginn

Persönlichkeit und Suchtverhalten

der Sucht, gute soziale Anpassung, günstige Prognose). Die ζ. Z. populäre Differenzierung Cloningers in einen Typ 1-(„milieu-limited") und einen Typ 2- („male-limited") - Alkoholabhängigen basiert auf ähnlichen Unterscheidungskriterien. Eine weitere Persönlichkeitsstörung, die überzufällig häufig, wenn auch seltener als die zuvor genannte, in Assoziation mit Suchtverhalten auftritt, ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hier ist die Datenlage jedoch weniger fundiert als bei der ASPD und vieles deutet darauf hin, daß vor allem das Risiko einer Alkohol- oder Kokainabhängigkeit für Individuen mit dieser Persönlichkeitsstörung erhöht ist. Ein Wesenselement dieser psychopathischen Persönlichkeiten ist eine Störung der basalen Impulskontrolle, welche sich auch biologisch widerspiegelt, z.B. in einem erniedrigten Funktionsniveau des Neurotransmitters „Serotonin". Manche signifikanten biologischen Abweichungen von der Norm, bei Untersuchungen süchtiger Studienpopulationen mit einem Undefinierten Anteil Typ 2bzw. sekundär Abhängiger beschrieben, mögen so ihre Erklärung finden. 3. Grenzen und Ausblick. Interessant, aber nahezu unerforscht ist die Frage nach suchtprotektiven Eigenschaften der Persönlichkeit. Als mögliche Forschungsstrategie würde sich auch hier wiederum das high-risk Untersuchungsparadigma anbieten, z.B. die prospektiv vergleichende Gegenüberstellung von familiär (sucht)belasteten Personen mit und ohne Entwicklung einer Abhängigkeit. Ein weiterer, kaum erforschter Aspekt ist die Frage nach therapierelevanten Persönlichkeitscharakteristika. Welche Merkmale und Eigenschaften des bereits Süchtigen fördern/behindern seine Behandlung und die Rückkehr zur bzw. Aufrechterhaltung der Abstinenz? Die Frage nach der Interaktion zwischen individueller Persönlichkeit und spezifischen Substanzeffekten wurde bereits

Persönlichkeit und Suchtverhalten

1929 von McDougal gestellt. Er vermutete, daß eine Substanz erst im Zusammenspiel mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften ihre süchtige Wirkung („reinforcement") entfalten könne. Ähnlich postulierte Eysenck in den 50er Jahren die Untersuchung von „Persönlichkeit χ Substanzwirkung" als lohnende Forschungsstrategie. Vermutlich resultieren verschiedene Aspekte süchtigen Verhaltens erst aus einer komplizierten Interaktion von individueller Substanzsensitivität, biologischer Vulnerabilität, suchtbegünstigenden Umgebungsvariablen und bestimmten Ausprägungsgraden von Persönlichkeitseigenschaften bzw. -eigenschaftskonstellationen. Eine zukünftige Erforschung solch wechselseitiger Interaktionen würde dem vielschichtigen Zusammenhang von Suchtverhalten und Persönlichkeit vermutlich gerechter werden als bisherige monokausale Erklärungs- und eindimensionale Forschungsansätze. Lit.: Cloninger, C. R., Sigvardsson, S., Bohman, M. (1988), Childhood personality predicts alcohol abuse in young adults. Alcoholism 123, 494-505; Cloninger C. R., Sigvardsson, S., Przybeck, T. R., Svrakic D. M. (1995), Personality antecedents of alcoholism in a national area prohability sample. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 245, 239-244; Costa, P. T„ McCrae R. R. (1995), Theories of personality and psychopathology: approaches derived from philosophy and psychology. In: Kaplan, Η. I., Sadock B. J. (eds), Comprehensive textbook of psychiatry, 6th edn, vol. I. Williams & Baltimore, pp. 507-519; Schrappe, Ο. (1980), Toxikomanie. In: Peters, U. H. (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. X: Ergebnisse für die Medizin (2): Psychiatrie. Kindler, Zürich, pp. 849-868; Schuckit, M. A. (1989), How relevant are personality diagnoses? In: Vista Hill Foundation (ed) Drug Abuse & Alcoholism Newsletter, 28 (7); Wanke, Κ. (1987), Zur Psychologie der Sucht. In: Kisker, 443

Pervitin Κ. P., Lauter, H„ Meyer, J. E„ Müller, C., Strömgren, Ε. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, 3. Aufl. Bd. 3: Abhängigkeit und Sucht, Springer, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, pp. 19-52; Weijers, H.-G., Wiesbeck, G. Α., Boning, J. (1999), Temperament-/Charakter-Merkmale und -Merkmalmuster bei alkoholkranken Männern und Kontrollen. Nervenarzt (in press); Wiesbeck, G. A. (1997), Gibt es eine Suchtpersönlichkeit? In: Soyka, M„ Möller, H.-J. (eds), Alkoholismus als psychische Störung, Bayer-ZNS-Symposium XII, Springer Berlin, Heidelberg, pp. 15-29. Gerhard A. Wiesbeck, Heinz-Gerd Weijers und Jobst Böning, Würzburg Pervitin P. ist der Markenname für den Wirkstoff Methamphetamin ( •Designerdrogen), das neben -»Amphetamin (Handelsname: Benzedrin) von der deutschen Wehrmacht und der britischen Armee gezielt zur Leistungssteigerung eingesetzt wurde. Auf dem illegalen Markt werden beiden Präparate unter der Bezeichnung „Speed" als Tabletten, Dragees, Tropfen, Infektionslösungen und in pulverisierter Form angeboten. Peyote »Meskalin; -•Drogenpflanzen; -•Magische Pflanze Pharmakologie Arzneimittellehre: -•Medikamentenabhängigkeit, -»Psychopharmakologie; -•Suchtstoffanalysen Phasenmodell der Alkoholabhängigkeit Das von Ε. M. Jellinek entworfene retrospektive Phasenmodell ist das Ergebnis einer empirischen Untersuchung an 2000 Probanden aus den 1940er Jahren in den USA. Dieses Verlaufsmodell macht keine Aussagen über die Entstehung der -•Alkoholabhängigkeit (-»Genese), bezieht sich aber im wesentlichen auf die primär psychische -»Abhängigkeit vom Gamma-Typ (-•Alkoholikertypologie) mit der darauf aufbauenden 444

PIE körperlichen Abhängigkeit. Neben einer „voralkoholischen Phase" mit einem zunächst gelegentlichen, dann gesteigerten Erleichterungstrinken entwickelt Jellinek drei weitere Phasen, denen er unsystematisch insgesamt 45 körperliche, psychische und soziale Symptome zuordnet: - Die Prodromalphase, als Vorläuferphase der Sucht, ist u. a. gekennzeichnet durch Gedächtnislücken, heimliches und gieriges Trinken und Schuldgefühle wegen des Trinkens. - Die Kritische Phase beginnt mit dem -•Kontrollverlust und zeigt als weitere Symptome u. a. soziale Belastungen in der Partnerschaft, Familie, Arbeit und Freizeit, Sichern des Vorrats, erste Einweisungen in das Krankenhaus wegen alkoholischer Beschwerden, grundloser Unwillen, auffallendes Selbstmitleid, Entwicklung einer physischen -»Abhängigkeit, regelmäßiges morgendliches Trinken. - Die Chronische Phase ist geprägt durch verlängerte, tagelange Rauschzustände, undefinierbare Ängste und Zittern, psychomotorische Hemmungen, Verlust der erworbenen Alkoholtoleranz (-»Toleranz), Beeinträchtigungen des Denkens, alkoholische -»Psychosen (Halluzinationen, -»Korsakow-Syndrom; -•Komorbidität) und eventuell auch einem Entzugsdelir (-•Delirium tremens; -•Körperliche Entgiftung). Die 45 Symptome dieser drei Phasen treten selbstverständlich nicht bei jedem Alkoholabhängigen, und schon gar nicht in der oft zu lesenden Reihenfolge, auf, sie verdeutlichen aber immer wieder wahrnehmbare Signalsymptome und sie geben vorsichtige Hinweise auf den Entwicklungsstand einer konkreten Alkoholabhängigkeit. In diesem Sinne sind daraus auch diverse Fragebögen entwikkelt worden. PIE Das Person-In-Enviroment-System wurde Anfang der 90er Jahre in den USA

Polytoxikomanie

Placebo von Karls und Wandrei als bio-psychosoziales Assessmentsystem für die Fallanalyse in der -»Sozialen Arbeit entwikkelt und vorgestellt. Es erfaßt die sozialen Funktionen bzw. sozialen Integrationsprobleme und dient damit in den Faktoren I und II der Diagnostik und Klassifikation sozialer Funktionsstörungen. Außerdem integriert es in den Faktoren III psychische Erkrankungen ( - » D S M IV) und IV körperliche Erkrankungen (-»ICD-10). Faktor I erfaßt die Probleme in sozialen Rollen, die ausdifferenziert sind nach familiären, beruflichen, anderen interpersonalen Rollen sowie spezifischen Lebenssituationen. Im Faktor II werden die Umgebungsprobleme im Gemeinwesen erfaßt, wie sie sich mit dem Erziehungs- und Bildungssystem, dem Rechtssystem, dem System freier Zusammenschlüsse, wie z . B . den Religionsgemeinschaften, sowie im System affektiver Unterstützung ergeben. Placebo R ist ein Schein- oder Leermedikament. Als Placebos werden Präparate bezeichnet, die zwar wie Medikamente aussehen, aber keine pharmakologischen Substanzen enthalten. Sie kommen hauptsächlich in der klinischen Erprobung neuer Medikamente zum Einsatz, aber auch, um Patienten, die unbedingt nach Medikamenten verlangen, aber nach medizinischem Maßstab keine benötigen, Sicherheit zu geben. Während der klinischen Erprobung findet ein sogenannter Doppel-Blindversuch statt: Weder das Medikamente verschreibende und vergebende Personal weiß, welche Patienten das neue Medikament und welche ein P. bekommen, noch die Patienten. Damit ist eine Beeinflussung des Versuchs durch subjektive Faktoren ausgeschlossen. Polamidon -»•Medikamentenabhängigkeit; thadon; -»Substitution

-»Me-

Polizeiliche Maßnahmen P. M. zur Bekämpfung des Angebots und der Nachfrage von bzw. nach illegalen Drogen finden innerhalb der bestehenden Gesetze statt (-»Drogenrecht, insbesondere §§ 2 9 - 3 1 a BtMG). Dieser strafrechtliche Ansatz entspricht der Reaktionsweise der -»Kriminalisierung, wodurch die Polizei mit den Mitteln der Verbrechensbekämpfung (von Kontrollgängen bis hin zum Einsatz von V-Leuten) und die Strafjustiz zu zentralen Institutionen der Drogenpolitik werden. Der Mißbrauch von -»legalen Drogen wird strafrechtlich erst relevant, wenn unter deren Einfluß zu verfolgende Delikte wie Trunkenheitsfahrten, Körperverletzung, fahrlässige oder vorsätzliche Tötung und Fahrerflucht begangen werden (-»Sucht und Kriminalität). -»Drogenpolitik Polyneuropathie Die Alkohol-P. (Schädigung der langen Nervenbahnen) ist eine relativ häufige Störung bei chronischem Alkoholmißbrauch (bei mindestens 2 0 % aller Alkoholabhängiger), die auf die toxischen Einflüsse des Alkohols und auf alkoholbedingte Stoffwechselstörungen (Vitaminmangel) zurückgeführt wird. Die Prognose ist bei Abstinenz in der Regel günstig. Leitsymptome sind, bei Bevorzugung der unteren Extremitäten u. a. Kribbeln, Taubheitsgefühle, Schmerzen, Muskelkrämpfe und Muskelschwäche. -»Alkoholfolgekrankheiten Polytoxikomanie Eine P. (synonym: Mehrfachabhängigkeit, Multiple-Drug-Dependency) liegt nach -»DSM-III-R vor, wenn über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten ein Konsument wiederholt -»psychotrope Substanzen aus wenigstens 3 Kategorien nacheinander oder auch gleichzeitig konsumiert hat und zwar ohne Dominanz einer der verwendeten Substanzen. Ein besonderes Problem liegt vor allem in der Kombination von Substanzen, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken, beispielsweise eine Verbindung

445

Polyvalenter Mißbrauch von Medikamenten und Alkohol, wodurch eine unvorhersehbare starke Rauschwirkung eintreten kann. Viele Suchtmittel substituieren sich gegenseitig, vor allem nach erworbener -•Toleranz und bei drohenden Symptomen beim -»Entzug. Viele Abhängige von illegalen Drogen nehmen zusätzlich auch Alkohol und Medikamente zu sich. Bei Alkoholabhängigen ist der gleichzeitige oder auch ersetzende Konsum von illegalen Drogen weniger verbreitet, der von Medikamenten allerdings häufig. Nicht unüblich ist auch die situationsspezifische Verwendung von -»Aufputschmitteln einerseits und •Beruhigungsmitteln andererseits. Polyvalenter Mißbrauch Polyvalenter -»Mißbrauch bezeichnet den nicht mehr bestimmungsgemäßen gleichzeitigen Gebrauch mehrerer Suchtmittel mit der Gefahr von Kontraindikationen und ungewollten Wirkungsweisen. Dieser Begriff wird auch als Oberbegriff für kombinierte Mißbrauchsmuster und Mehrfachabhängigkeiten ( •Polytoxikomanie) verwendet. Pompidou-Gruppe Die Bezeichnung P.-G. (synonym: Pompidou-Initiative) geht auf den französischen Wirtschaftsexperten und Politiker Georges Pompidou (1911-1974) zurück. Es handelt sich um einen Ausschuß im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit bei der Rauschgiftbekämpfung (-»Multinationale Rauschgiftbekämpfungsgremien). Prädelir P. bezeichnet die Anfangsphase eines Delirs (-»Delirium tremens), in der Symptome wie Schlaflosigkeit, Angst, Unruhe, Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit und »Suggestibilität zu beobachten sind. Bei rechtzeitiger Behandlung kann ein Übergang in ein Delir verhindert werden. 446

Prävention Prävalenz Epidemiologisches Maß (-»Epidemiologie) zur Bestimmung des Krankheitsgeschehens in einer ausgewählten Population; die P. beschreibt die Häufigkeit des Auftretens einer Gesundheitsstörung in einer bestimmten Population zu einem definierten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder in einer definierten Zeitperiode (Periodenprävalenz). -»Inzidenz Prävention Die P. von Sucht ist kein wohldefiniertes Anwendungsfeld einer einzelnen Wissenschaft, sondern eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche pädagogische, psychologische, medizinische, sozialarbeiterische u. a. Tätigkeiten bzw. Maßnahmen, die die Verhütung von manifestem Mißbrauchs- und Suchtverhalten als generelles Ziel verfolgen. 1. Definitionen und Begriffe. Historisch betrachtet findet sich der Präventionsgedanke - zunächst unter dem Begriff der Hygiene subsumiert - als Anleitung zu einer glücklichen und gesunden Lebensführung schon in der Antike (Epikureer, Stoiker), in medizinischen Lehrbüchern des Mittelalters oder in der „Makrobiotik" Hufelands (18. Jh.). Während Prävention ihre Berechtigung hier noch aus der Kraft des Argumentes - Vorbeugen ist besser als Heilen - bezieht, sind es vor allem auch unzureichende therapeutische Instrumente und Methoden, die auf die Notwendigkeit präventiven Handelns verweisen. Mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung in der Medizin gerät der Präventionsgedanke zusehends in den Hintergrund.Dabei sind es paradoxerweise gerade die Hygiene- und Impfmaßnahmen gegen die bis dahin noch nicht oder nur schwer behandelbaren Infektionskrankheiten, die die beeindruckenden Erfolge der Humanmedizin im 19. Jahrhundert ausmachen. Erst mit einer Verschiebung des Krankheitsspektrums von epidemischen Infek-

Prävention

tionskrankheiten hin zu chronisch degenerativen Erkrankungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts - zu denen auch die Suchterkrankungen zählen - erhält die Präventionsthematik neue Brisanz. In Deutschland ist die P. von Suchterkrankungen erst relativ spät zu einem Thema der Gesundheitspolitik geworden. Dabei wird von Anfang an eine Trennung in der Suchtproblematik zwischen legalen und illegalen Substanzen gemacht. 1970 wird das erste „Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs" verabschiedet, in dem Drogenprävention zwar gefordert wird, aber deutlich hinter repressiven Maßnahmen zurücksteht. Mit der Verabschiedung der sogenannten Psychiatrie Enquete (1975) wird dann erstmalig mit Nachdruck, allerdings noch allgemein, die Notwendigkeit psychologischer Präventionsmaßnahmen gefordert. In den Folgejahren entwickeln sich meist auf lokaler Ebene oder durch Länderprogramme (z.B. NRW 1980) angestoßen eine Vielzahl von Präventionsprojekten und Initiativen, die jedoch institutionell eng an bestehende Strukturen des Drogenhilfe systems (Beratungsstellen) angebunden sind. Erst im Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan aus dem Jahre 1990 wird der P. aber eine besondere Rolle in der Bekämpfung der Drogen- und Suchtproblematik zugewiesen. Zwar bilden auch hier noch die Bekämpfung der illegalen Drogen und dabei besonders Maßnahmen der Angebotsreduzierung einen Schwerpunkt, aber auch der Gebrauch legaler Substanzen (z.B. Alkohol, Tabak etc.) wird thematisiert und die P. für legale und illegale Substanzen gleichermaßen gefordert. Insbesondere die Primär P. wird dabei als wirksames Mittel zur Vorbeugung von Mißbrauchsund Suchtverhalten herausgestellt. Der Begriff Sucht-Prävention (S. P.) ist erst in den letzten zwei Dekaden zunehmend in Gebrauch gekommen und geht

Prävention

einher mit der Verwendung eines erweiterten Drogen- und Suchtbegriffes sowie veränderten Zieldefinitionen der P. Während der früher häufiger verwendete Begriff Drogen-Prävention vor allem die Verhinderung des Konsums von illegalen Substanzen und anderer damit verbundenen Risiken zum Ziel hatte, ist S. P. stärker auf die Entwicklung protektiver (Verhaltens)Kompetenzen gerichtet und zielt auf legale wie illegale Suchtmittel gleichermaßen. Darüber hinaus will S. P. nicht nur substanzbedingten Abhängigkeiten entgegenwirken, sondern auch sogenannten nichtstoffgebundenen Suchtformen wie Spiel-, Kauf- oder Arbeitssucht. Obwohl sich in der Praxis ein solcher Bedeutungswandel nachzeichnen läßt (Nöcker, 1990) existiert bislang weder ein einheitliches Klassifikationsschema für die Präventionsmaßnahmen noch eine trennscharfe Terminologie. Auf Caplan (1946) geht das am häufigsten verwandte dreistufige Klassifikationsschema zurück. Primäre P. ist darauf gerichtet, Inzidenzraten von Erkrankungen zu senken. Sie setzt damit weit im Vorfeld einer Störung oder eines spezifischen Krankheitsbildes ein und richtet sich meist an gesamte Populationen (z.B. alle Kinder, Jugendliche) und nicht an spezifische Risikogruppen (z.B. Kinder von Suchtkranken). Allerdings benötigt primäre P. eine genaue Vorstellung bzw. Theorie der Ursache- Wirkungszusammenhänge einer Krankheit oder eines Störungsbildes auf das hin bezogen frühzeitig interveniert werden soll (siehe 2.). Sekundäre P. zielt auf die Senkung der Prävalenzraten. Durch frühzeitige Identifikation sollen bereits eingetretene Krankheitsfälle dem Behandlungssystem zugeführt werden. Hierzu können krankheitsspezifische Früherkennungsuntersuchungen (Screenings) in spezifischen Zielgruppen durchgeführt werden. Tertiäre P. kennzeichnet das Bemühen, die Chronifizierung eines vorhandenen 447

Prävention

Krankheitsbildes zu vermeiden und die damit verbundenen Folgeprobleme zu mildern. Im Zusammenhang mit Suchterkrankungen wird hier vor allem die Rückfallprävention und die Vermeidung fortschreitender sozialer und physischer Verelendung verstanden. Die inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit den Begriffen Therapie, Rehabilitation und Nachsorge haben jedoch dazu geführt, in der Praxis auf den Begriff tertiäre R weitgehend zu verzichten. Primäre und sekundäre Präventionsmaßnahmen können auf zwei verschiedenen Ebenen ansetzen. Auf der personalen Ebene arbeiten Präventionsprogramme in der Regel an einer Verbesserung individueller Verhaltenskompetenzen bzw. Einstellungen, die mit Suchtmittelgebrauch in Zusammenhang gesehen werden. Dabei wird zwischen allgemeinen sozialen und intrapsychischen Fähigkeiten, wie z.B. Kommunikationsund Konfliktfähigkeit sowie speziellen suchtmittelspezifischen Einstellungen und spezifischen Verhaltenskompetenzen, wie z.B. Nein-Sagen oder Gruppendruck standhalten können, unterschieden. Auf der Umweltebene zielt P. auf eine Veränderung der sozialen, kulturellen, ökonomischen oder physikalischen Faktoren, die an der Entstehung einer Krankheit beteiligt sind. Durch die Veränderung der Umwelt soll das Erkrankungsrisiko vermindert werden. In Bezug auf Sucht wird dabei vor allem die Regulierung des Rauschmittelangebotes durch Gesetze (Betäubungsmittel-, Arzneimittel-, Jugendschutzgesetz etc.) und Verordnungen angestrebt. Obwohl in der Fachdiskussion ein weiterer Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Lebensbedingungen und Suchtgenese keineswegs übersehen wird, sind umweltbezogene Maßnahmen, die zur Beseitigung erheblicher psychosozialer Belastungen beitragen könnten, selten. Die Mehrzahl aller Präventionsaktivitäten dürfte daher der personalen Ebene zuzuordnen sein. 448

Prävention

Feser (1980) unterscheidet zwischen einer strukturellen und einer kommunikativen Ebene der P. Während die strukturelle Ebene mit der Umweltebene weitgehend übereinstimmt, wird auf der kommunikativen Ebene zwischen massenkommunikativen und personalkommunikativen Strategien der Ansprache differenziert. Massenkommunikation richtet sich an einzelne Personen, Gruppen und eine unbestimmte Öffentlichkeit. Instrumente der Massenkommunikation sind Anzeigen, Plakate, Printmedien und vor allem TV- und Kino-Spots. Die Wirkung, die von diesem Medienmix ausgeht, liegt zuerst in der Vorbereitung, fortgesetzten Thematisierung und Durchsetzung eines gesellschaftlichen günstigen „Klimas" für die Suchtvorbeugung. Erst in zweiter Linie wird eine Wirkung auf individuelles Verhalten erwartet. Aufgrund der erheblichen finanziellen Aufwendungen, die zur Durchführung massenmedialer Kampagnen erforderlich sind, kann diese Aufgabe nur von wenigen Trägern (Bund, Länder) realisiert werden. Personale Kommunikation besteht aus Gesprächsangeboten, Aktionen mit Erlebnis· und Erfahrungswert und setzt eine unmittelbare Partizipation der Zielgruppe voraus. Sie soll zur Vertiefung und Reflexion der in einer Präventionsmaßnahme angesprochenen Themen und Inhalte dienen. Personale Kommunikation gilt als unverzichtbares Mittel zur Einleitung und Festigung von Einstellungs- und Verhaltensänderungen, die auf dem mit massenmedialen Botschaften erzeugten „Klima" wirksam werden können (BZgA 1993). Massenkommunikation und Personalkommunikation sind deshalb als ergänzende und unterstützende Elemente einer präventiven Gesamtstrategie zu verstehen. 2. Theoretische Bezugskonzepte und Strategien. Kennzeichnend für die gegenwärtige Theoriediskussion von S. P. sind vor allem die Vielfalt der Begriffe, die gravierenden Unterschiede in Erklä-

Prävention rungwert und Reichweite sowie die geringe empirische Bewährung. Der Versuch, Theorien und Strategien der S. P. sauber voneinander zu unterscheiden, kann nur unzureichend gelingen, weil der Gegenstand (Sucht) selbst mindestens vier verschiedene Perspektiven der Betrachtung zuläßt. Nowlis (1975) kennzeichnet diese als ethisch-juristische, medizinische, soziokulturelle und psycho-soziale Perspektive. Strategien und Interventionen, die wiederum mehr oder weniger komplexe Handlungsansätze darstellen, sind darüber hinaus abhängig von den spezifischen Präventionszielen, die erreicht werden sollen. Löcherbach ( 1 9 9 2 ) vergleicht den Prozeß der Aufarbeitung und Auswertung theoriegeleiteter Praxisarbeit daher zutreffend mit dem Einfügen von Mosaiksteinen in ein sich entwikkelndes Bild einer Suchtpräventionstheorie. Die wenigen vergleichenden systematischen Ubersichtsarbeiten (Künzel-Böhmer et al. 1993, Denis et al. 1994, Hanewinkel 1 9 9 7 ) versuchen deshalb stets eine Zusammenfassung der aussagekräftigsten oder verbreitetsten Modelle. Ausgangspunkt sind dabei zum einen Theorien, die die Entwicklung und Aufrechterhaltung des Suchtmittelgebrauchs erklären sowie zum anderen Wirkmodelle, die eher auf Kommunikations- und Lerntheorien Bezug nehmen. S o werden in der „Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs" vier verschiedene Modellgruppen gebildet, die den Suchtmittelgebrauch erklären. Neben den sogenannten ( 1 ) eindimensionalen Konzepten, unter die u. a. die psychiatrischen und psychoanalytischen Konzepte gefaßt werden, und den ( 2 ) prozeß- und interaktionsorientierten Konzepten (lern- und entwicklungspsychologisch), werden besonders das ( 3 ) Risikofaktoren- und das ( 4 ) Schutzfaktorenkonzept herausgestellt. Während die zahlreichen Risikofaktoren empirisch als korrelative - nicht kausale - Zusammenhänge gut belegt sind, sind

Prävention die protektiven Faktoren noch sehr allgemein gefaßt und insgesamt wenig erforscht. Hanewinkel ( 1 9 9 7 ) nennt als Kontextrisikofaktoren: 1. Gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Normen des Konsums, 2. Die Verfügbarkeit der Substanz, 3. Extreme ökonomische Deprivation, 4. Desolate Nachbarschaftsverhältnisse. Zu den individuellen und interpersonellen Faktoren gehören: 5. Psychologische Faktoren, 6. Familiäre Konsummuster, 7. Unzureichende und inkonsistente Erziehungspraktiken in der Familie, 8. Familiäre Konflikte, 9. Geringe Bindungen an die Eltern, 10. Frühzeitiges und persistierendes Problemverhalten, 11. Intelligenz und Schulversagen, 12. Geringe Verpflichtung der Schule gegenüber, 13. Zurückweisung durch Gleichaltrige im Grundschulalter, 14. Umgang mit konsumierenden Gleichaltrigen, 15. Entfremdung und Rebellentum, 16. Positive Einstellungen dem Konsum gegenüber, 17. Frühzeitiger Beginn des Konsums. Nicht nur eine Reduzierung solcher Risikofaktoren kann zur P. von Sucht beitragen, sondern auch das Vorhandensein sogenannter Schutzfaktoren. Dabei wird zwischen personalen und sozialen Schutzfaktoren unterschieden, wobei ein expliziter Zusammenhang zur Suchtgenese bislang empirisch kaum nachgewiesen wurde. Dessen ungeachtet erfreut sich das Schutzfaktorenkonzept gerade in der Praxis der S. P. zunehmender Beliebtheit. Franzkowiak ( 1 9 9 6 ) sieht darin eine neue Leitorientierung, die er konzeptionell der Entwicklungsund Gesundheitsförderung zuordnet. S. P. als integrierter Bestandteil von Gesundheitsförderung soll dabei zugleich kontext- und lebenslagenorientiert handeln. Empfehlungen der B Z g A ( 1 9 9 3 ) setzen an diesen Überlegungen an und formulieren als Ziele der primären S. P. die Förderung von Selbstwert und Selbstvertrauen, Kontakt- und K o m munikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Erlebnis- und Genußfähigkeit sowie die Unterstützung bei der Sinnsuche und

449

Prävention

Sinnerfüllung. Als zentrale Leitidee wird dabei der Begriff „Lebenskompetenzförderung" in die Diskussion eingebracht. Neben „dem" Risikofaktoren- und Schutzfaktorenkonzept hat als weiteres Bezugskonzept ein Modell der Entwicklungsaufgaben an Bedeutung für die praktische S. P. gewonnen. Entwicklungsaufgaben werden quasi als universelle Anforderungen definiert, die so oder so bewältigt werden müssen. Sie stellen gewissermaßen eine Art „Hindernisparcour" auf dem Weg zum Erwachsenwerden dar, wobei Schutzfaktoren und Risikofaktoren auf den Ausgang dieses „Spiels" erheblichen Einfluß nehmen. Als Entwicklungsaufgaben stehen ab dem 11./12. Lebensjahr an: - die Auseinandersetzung mit und die Akzeptanz des eigenen Körperschemas - die Ablösung vom Elternhaus und Aufbau eines neuen Freundeskreises - die Übernahme der (sozialen) Geschlechtsrolle - die Aufnahme intimer sexueller Beziehungen und sexuelle Identität - die Entwicklung eines Selbstkonzeptes - die Übernahme einer Berufsrolle/ Ausbildung - die Entwicklung und Übernahme von Normen und Werten als Orientierung für Partnerschaft/Familie und soziale Verantwortung - die Entwicklung von Vorstellungen der eigenen Zukunft Die bei der Bewältigung dieser Aufgaben entstehenden psychischen Anstrengungen und Belastungen können auch durch den Gebrauch psychoaktiver Substanzen gemanagt werden. Die psychosozialen Funktionen, die der Substanzgebrauch dabei haben kann, machen deutlich, worin der Nutzen dieses riskanten Verhaltens für die Konsumenten liegt. So kann der Substanzgebrauch ζ. B. als Mittel der Betäubung und Kompensation, Stil- und Ausdrucksmittel für 450

Prävention

Erwachsensein, Zugehörigkeit und Anpassung an eine Gleichaltrigengruppe, der vorübergehenden Problemverdrängung oder auch Grenzerfahrung verstanden werden. S. P, die Substanzgebrauch verhindern will, erhält damit eine Anleitung, wo sie kompensativ und stützend eingreifen kann. In Erweiterung zu den Entwicklungsaufgaben sieht Franzkowiak (1996) Risikoverhalten - wie den Substanzgebrauch deshalb als entwicklungsbegleitendes, mit subjektivem und kollektivem Nutzen aufgeladenes Handeln, das als Risikokompetenz eine eigene, zusätzliche Entwicklungsaufgabe darstellt. Das unter der programmatischen Formel „sensible risk-taking" vorgestellte Ziel dieser S. P. orientiert sich am safer use Konzept der Aidsprävention und will Regelkataloge zum alltäglichen Umgang mit (Rauschmittel-)Risiken formulieren, verbreiten und evaluieren. Die dabei eingenommene Position der Risikobegleitung, als Leitorientierung für suchtpräventives Handeln, stellt nicht nur eine relativ neue, wenig erprobte, sondern auch konträre Position zur vorherrschenden Abstinenzorientierung in der primären S. P. dar. 3. Kritik und Ausblick. Die große Vielfalt und Diversität der Konzept- und Modellannahmen hat zur Folge, daß S. P. immer mehr zu einer Aufgabe geworden ist, für deren Lösung es keine eindeutigen Regeln zu geben scheint. Während die konzeptionelle Diskussion weiter voranschreitet und neue Themen (geschlechtsspezifische P., peer education, Ecstasy) aufgegriffen werden, gibt es auch Tendenzen, die zusammenfassen und begrenzen. So setzt etwa die Kritik von Harten (1996) an der konzeptionellen Nähe und geringen Unterscheidbarkeit von abstinenzorientierter S. P. und Gesundheitsförderung an. S. P. soll sich wieder stärker um die Vermittlung von Informationen und Kompetenzen in unmittelbarem Kontext von Substanzgebrauch bemü-

Prävention

hen und so stärker von allgemeiner gesundheitlicher P. abgrenzen. Dieser Rückbezug auf Positionen der alten Drogenprävention fördert eine stärkere Zuwendung zu sekundärpräventiven Aufgaben und Zielgruppen, die im Zusammenhang mit dem Anstieg des Designerdrogengebrauchs neue Brisanz erhalten haben. Daneben setzt nahezu zeitgleich eine intensive Suche nach Qualitätsstandards und Methoden der -»Qualitätssicherung ein, die im wesentlichen durch den im Gesundheitswesen aufgetretenen Kostendämpfungsdruck verursacht ist. Fachtagungen zur Qualitätssicherung und -»·Evaluation von S. P. werden vermehrt angeboten. Auch auf europäischer Ebene ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Seit 1995 forciert die in Lissabon arbeitende Europäische Drogenbeobachtungsstelle mit einem Handbuch für Evaluation (EMCDDA 1998) den Prozeß der Angleichung. Als weiterer Beleg kann das Bemühen der •PompidouGroup, einer Initiative des Europäischen Rates, gewertet werden, die seit 1996 an einem Handbuch für P. von Alkohol, Drogen und Tabak arbeitet (Stel 1996). In den Arbeiten dieser Institutionen werden pragmatische Empfehlungen für die Planung, Durchführung und Auswertung von Präventionsmaßnahmen gegeben, deren Anwendungsnutzen für die Praxis der S. P. in Deutschland allerdings noch abzuwarten bleibt. Hierzu zählt auch die von der EMCDDA 1998 in Angriff genommene europaweite Dokumentationsdatenbank (EDDRA), die einen unmittelbaren Zugang zu europäischen Präventionsprojekten ermöglichen soll. Für Deutschland werden die Informationen zur Suchtprävention durch die BZgA an die Europäische Drogenbeobachtungsteile geliefert. Dabei steht noch zur Entscheidung an, nach welchen Kriterien, Arbeitsfeldern und sektoraler Zugehörigkeit aus der Fülle von Maßnahmen ausgewählt werden soll.

Prävention

Der Trend zu konkreten Handreichungen oder Empfehlungen für die Praxis wird weiterhin gestützt durch fertige Programmpakete, die neben einer eigenen Präventionsphilosophie auch fertige Programmbausteine bereithalten. Solche Programme wie das Lions Quest Programm, ALF (Allgemeine Lebenskompetenz Förderung) oder das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf promotete Life Skill Programm sind zumeist für Jugendliche Zielgruppen entwickelte Lern- bzw. Unterrichtprogramme, die vor allem in den USA eine starke Tradition haben. In Deutschland finden sie bislang nur partiell Anwendung. Allerdings sind solche Programme in der Regel aufwendig evaluiert. Den daraus abgeleiteten generellen Empfehlungen zur Durchführung von Präventionsangeboten (z.B. Goleman 1996) kommt damit für die praktische S. P. ähnliche Bedeutung zu wie den Expertisen und Handreichungen (Künzel-Böhmer et al. 1993, Stel 1996). -»•Elementarbereich; + Gesundheitsförderung; -»Mobile Drogenprävention; (EMCDDA 1998) »Schule Lit.: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Leitlinien zur Suchtvorbeugung, Köln, 1993; Caplan, C., Principles of preventive psychiatry, New York, 1964; Denis et al., Fortschreibung der Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs, Köln, 1994; EMCDDA, Guidlines for the evaluation of drug prevention, Luxembourg 1998; Feser, H., (Hrsg.), Drogenerziehung, Langenau-Albeck, 1980; Franzkowiak P, Risikokompetenz - Eine neue Leitorientierung für die primäre Suchtprävention, in: np 26 (1995) 5, 409^125; Goleman, D., Emotionale Intelligenz, München, 1996; Hanewinkel, R., Psychologische Prävention, Habilitation, Kiel, 1997; Harten, R., Suchtvorbeugung in der Sackgasse, in: Sucht (1996) 5, 365-372; Künzel-Böhmer, J. et al., Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs, Schriftenreihe 451

Primärprävention

Professionalisierung

des BMG, Band 20, Baden-Baden, 1993; Löcherbach, P., Der Mythos Suchtprävention, Koblenz, 1992; Nökker, G., Von der Drogen- zur Suchtprävention, Herford, 1990; Nowlis, H., Drogen ohne Mythos, in: BZgA (Hrsg.), Drogenerziehung durch Lehrer und Eltern, Köln, 1975; Stel, J. van der, Handbook Prevention. Alcohol, Drugs and Tabacco, Pompidou Group-Council of Europe, Strassbourg 1998. Guido Nöcker, Köln Primärprävention Der Begriff der P. ist Teil eines dreistufigen Klassifikationsmodells (-»Klassifikation) der -»Prävention und meint, die Bemühungen die -»Inzidenzraten von Erkrankungen zu senken. Sie hat die Verhinderung körperlicher und psychosozialer Störungen zum Ziel und ist gleichzeitig auf die Herstellung und Erhaltung körperlicher und psychischer Gesundheit ausgerichtet. Insofern sind ihre Ziele denen der -»-Gesundheitsförderung (Stärkung von Gesundheitsressourcen) ähnlich, wenn ihr Ansatz auch noch mehr auf die Vermeidung von Gesundheitsrisiken ausgerichtet ist. P. setzt im Vorfeld von Störungen oder spezifischen Krankheitsbildern wie Alkoholabhängigkeit ein und richtet sich meistens an eine gesamte Population (alle Kinder; •Elementarbereich; -»Schule) und nicht an spezielle Risikogruppen (-»Kinder von suchtkranken Eltern). Die weiteren Präventionsformen des Modells sind die -»Sekundärprävention und die -»Tertiärprävention. Problemtrinken Der Begriff P. kann im Sinne der Typologie von Jellinek (-»Alkoholikertypologie) für den Gamma-Alkoholismus verwendet werden, wenn das Konflikttrinken (Alpha) in süchtiges (-»Kontrollverlust) Problemtrinken übergeht. Eine verbreitetere Verwendung findet dieser Begriff in der Form, daß unter P. Trinkgewohnheiten verstanden werden, die bezüglich der Trinkmenge, der Kon452

sumhäufigkeit, der psychischen Bedeutung des Konsums und der körperlichen und sozialen Konsequenzen als problematisch angesehen werden, ohne daß eine manifeste -»Alkoholabhängigkeit besteht, wenn die Übergänge vom P. zur Abhängigkeit auch sicher fließend sind. In Untersuchungen aus den USA sind als bezüglich des P. besonders gefährdete Populationen u. a. Collegestudenten, Arbeitslose, Schwarze und Militärangehörige benannt. Spezielle soziale und psychische Belastungen von gesellschaftlichen Populationen sind für Fragestellungen der -»Gesundheitsförderung und der -»Prävention im Zusammenhang mit dem P. deshalb besonders zu beachten: -»Armut; -»Behinderung; -»Elendsalkoholismus; -»Wohlstandsalkoholismus. Produktion -»Ökonomie; -»Drogenhandel Professionalisierung 1. Das System der -»Suchtkrankenhilfe entwickelte sich als ein eigenständiges System außerhalb des somatischen bzw. psychiatrischen Versorgungssystems. Zu Beginn der Entwicklung vor ca. 100 Jahren bestand das Hilfeangebot der Suchtkrankenhilfe aus den konfessionell getragenen sogenannten Trinkerheilanstalten und den ζ. T. konfessionell geprägten Selbsthilfe- und -»Abstinenzbewegungen. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich ein differenziertes Hilfeangebot, insbesondere nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes von 1968, in dem die -»Sucht sozialrechtlich als Krankheit anerkannt wurde. Ergebnis der fachlichen Entwicklung der Suchtkrankenhilfe ist eine die Erkenntnisse der Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Soziologie und andere Einzeldisziplinen integrierende Fachlichkeit, ihr Handeln ist multidisziplinär, teamorientiert und in der Praxis ohne Dominanz einer bestimmten Disziplin oder Therapieschule. Charakteristisch ist die Interdisziplinarität. Berufs- und sozialrechtlich sind die Ärzte allerdings die profes-

Professionalisierung

sionell dominante Berufsgruppe, da sie die fachliche Leitung und Verantwortung in der stationären und zunehmend auch in der ambulanten Versorgung haben ( B M G 1996, Engler u. a. 1997, B M J F F G 1988). Typischerweise schließt diese Interdisziplinarität die drei Berufsgruppen Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter ein, abgesehen von der in diesem Zusammenhang (noch) nicht relevanten Gruppe der Arbeitstherapeuten, die vor allem in den Entwöhnungskliniken eine wichtige Berufsgruppe darstellen. 2. Professionalisierung ist ein Strukturmerkmal der Entwicklung moderner arbeitsteiliger, industrieller Gesellschaften. Unter der Bezeichnung Professionalisierung werden insbesondere zwei Erscheinungen diskutiert (vgl. Boudou 1992: 4 5 2 f.). Erstens wird darunter die Zunahme des Anteils von Erwerbstätigen verstanden, die eine „Profession" ausüben (Professionalisierung in weiterem Sinne). Zweitens wird damit der Prozeß bezeichnet, in dem ein Beruf die Merkmale einer Profession erreicht oder zu erreichen versucht (Professionalisierung in engerem Sinne). Insbesondere die Berufe der Richter, Rechtsanwälte, der Ärzte und der Theologen haben als Modell oder Muster gedient, die Merkmale zu beschreiben, die die Professionalisierung charakterisieren: - Die Berufstätigkeit beruht auf lange dauernder, theoretisch fundierter Spezialbildung. - Die Berufsangehörigen sind an bestimmte ethische Normen, Verhaltensregeln und fachliche Standards gebunden. - Die Berufsangehörigen haben sich zu Berufsverbänden mit weitgehender Selbstverwaltung zusammengeschlossen, die unter anderem wesentlichen Einfluß auf Ausbildung und Berufszugang haben. - Die Arbeit der Berufsangehörigen dient dem öffentlichen Wohl.

Professionalisierung

- Die Berufsangehörigen gelten als Experten und genießen weitgehende persönliche und sachliche Entscheidungsfreiheit. - Die Berufsangehörigen genießen hohes Ansehen und haben ein entsprechendes Selbstbewußtsein. - Der Status als anerkannter Experte ist mit der akzeptierten Möglichkeit verbunden, (neue) gesellschaftliche Problemlagen zu definieren und Lösungen vorzuschlagen. Orientiert an diesen Merkmalen ist festzustellen, daß es der Berufsgruppe Sozialarbeiter weder in der Suchtkrankenhilfe noch in anderen Bereichen der sozialen Arbeit gelungen ist, Professionalisierung in engerem Sinne zu erreichen. Dabei leistet die Sozialarbeit (-»Soziale Arbeit) in der Suchtkrankenhilfe einen ganz eigenständigen Beitrag, der mit unterschiedlichen Methoden der Sozialarbeit und der Psychologie erbracht wird. Die Sozialarbeit hat die Entwicklung der Suchtkrankenhilfe auch nach dem Urteil von 1968 ganz wesentlich geprägt. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, insbesondere in der Suchtkrankenhilfe, Professionalisierung zu forcieren. In den Arbeitsfeldern Beratung (->Suchtberatung), in der ambulanten Suchtkrankenhilfe (-»-Ambulante Einrichtungen), Sozialtherapie, •(Niedrigschwellige Angebote), niedrigschwellige Arbeit und -»Prävention gibt es entsprechende Ansätze, die Entwicklung in Richtung Professionalisierung voran zu treiben. Einen besonders weitgehenden Versuch stellt die Sozialtherapie dar, in der Sozialarbeiter in einer eigens dafür konzipierten, von den Leistungsträgern anerkannten Weiterbildung für therapeutische Aufgaben in der Suchtkrankenhilfe qualifiziert werden. Dennoch muß auch dieser Versuch als „unvollendete Professionalisierung" bezeichnet werden. Die so qualifizierten Sozialarbeiter arbeiten zwar faktisch eigenständig, leistungs- und sozialrechtlich sind sie nicht berechtigt, diese therapeuti453

Professionalisierung

sehe Arbeit eigenständig auszuüben. Es kommt hinzu, daß diese Weiterbildung nicht spezifisch für Sozialarbeiter angeboten wird, sondern auch den anderen in der Suchtkrankenhilfe tätigen Berufsgruppen, wie Medizinern und Psychologen. Gemessen an den Merkmalen der Professionalisierung bedeutet dies, daß die sozialarbeiterische Qualifikation nur eine neben anderen Qualifikationen darstellt und damit ein wesentliches Erfordernis der Professionalisierung, die Spezialbildung, nicht erfüllt ist. Interessanterweise stellt diese Frage auch in den entsprechenden Veröffentlichungen in der Suchtkrankenhilfe kein Thema dar (vgl. DHS (Hrsg.): 1994, 1995, 1996, 1997a; DHS (Hrsg.): 1997b). 3. Welches sind die Gründe für die „unvollendete Professionalisierung" der Sozialarbeit in der Suchtkrankenhilfe? Das Thema Professionalisierung stellt sich für die in der Suchtkrankenhilfe tätigen Ärzte und Psychologen nicht, da bei den Ärzten der Prozeß der Professionalisierung vollendet ist, bei den Psychologen insbesondere durch das Psychotherapeutengesetz dieser Prozeß sehr weit vorangeschritten ist. Der Sozialarbeit, einschließlich der Sozialarbeitswissenschaft sowie der Sozialpädagogik, ist es bisher nicht gelungen, entsprechende akademische Anerkennung zu finden, die eine wesentliche Voraussetzung für den Professionalisierungsprozeß darstellt. Das gilt für den Gegenstand, die Theorie, die Ausbildungsstandards und die Methodik. Auch innerhalb der Suchtkrankenhilfe hat die Sozialarbeit, wie schon festgestellt, es nicht vermocht, diese Defizite zu beseitigen. Dies hat mit der bereits schon erwähnten Entstehungsgeschichte der Suchtkrankenhilfe zu tun, die sich über Jahrzehnte hinweg außerhalb des medizinischen Versorgungssystems und im wesentlichen konfessionell geprägt entwickelt hat und bei der es lange strittig war, ob 454

Professionalisierung

Sucht eine Krankheit war oder moralisches Versagen darstellte. Spezifisch für die berufliche Praxis der Sozialarbeit ist die ungewöhnliche Einsatzbreite in vielen unterschiedlichen Bereichen, wie Jugend, Soziales, Rehabilitation, Beratung etc. Damit wird aber das berufliche Profil der Sozialarbeit nicht klarer, sondern diffuser und steht der Professionalisierung entgegen. Denn die Breite des Einsatzes ist - anders als bei Juristen und Medizinern z.B. - mit jeweils anderen Inhalten, Tätigkeitsprofilen, Methoden und Zielgruppen verbunden, ohne eine anderen Professionen vergleichbare Definitionsmacht, Verantwortlichkeit, Problemlösungskompetenz und mit vergleichweise niedrigem beruflichen Status. Typisch für die berufliche Praxis der Sozialarbeit ist - neben dieser Allzuständigkeit für soziale Probleme in der modernen Industriegesellschaft - ein häufig anzutreffendes „Helfersyndrom". Damit ist eine umfassend verstandene Zuständigkeit der Sozialarbeit für alle Probleme eines Klienten gemeint, auch dann, wenn wie z.B. in der Suchtkrankenhilfe „nur" die Sucht Gegenstand der sozialarbeiterischen Tätigkeit ist. Die unklaren Grenzen sozialarbeiterischer Praxis behindern ebenfalls die Entwicklung von Professionalität. Hinzu kommt, daß die Suchtkrankenhilfe eine Reihe von Besonderheiten aufwies, die der Entwicklung von Professionalisierung entgegen standen. Lange Zeit war es unklar, wer die primäre fachliche Zuständigkeit für die Behandlung (-•Entzug, -»-Entwöhnung) und -»Rehabilitation der Abhängigkeitskranken hatte. Erst 1968 durch das Urteil des Bundessozialgerichtes ist Sucht als Krankheit anerkannt worden. Damit aber ist eine Vorentscheidung darüber getroffen worden, daß Ärzte und vermehrt in den letzten Jahren auch Psychologen die primäre fachliche Verantwortung für die Behandlung und Rehabilitation übernahmen. Sucht als -»Krankheit war auch in der Öffentlich-

Professionalisierung

keit lange nicht anerkannt, so daß die dort tätigen Mitarbeiter, insbesondere vor dem BSG-Urteil von 1968, nicht als Teil des medizinischen Versorgungssystems begriffen wurden. Diese Probleme finden auch heute noch ihren Ausdruck in den unklaren Finanzierungszuständigkeiten (-•Finanzierung) der Suchtkrankenhilfe, deren Leistungen durch die Krankenversicherer und Rentenversicherer, aber auch wesentlich und systemwidrig, durch den Sozialhilfeträger finanziert werden. Analog zu den unklaren Finanzierungszuständigkeiten gibt es unklare Leistungszuständigkeiten für die medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation, wobei insbesondere die soziale Rehabilitation leistungsrechtlich nicht abgesichert ist, obwohl diese Leistungsart im Rahmen der Rehabilitation von Abhängigkeitskranken von großer Bedeutung ist. Soziale Rehabilitation gilt bis heute nicht als eigenständiges Rehabilitationsangebot, deren Finanzierung entsprechend gesichert ist. Seit der -»Psychiatrie-Enquete ist die Versorgung der Suchtkranken im Rahmen der sozialpsychiatrischen Diskussion, zunächst sehr langsam, dann intensiver, zum Gegenstand der psychiatrischen Fachdiskussionen geworden. Insbesondere mit dem Expertenbericht der Bundesregierung (vgl. Expertenbericht 1988) und in einer Reihe von Modellvorhaben (vgl. Engler u. a. 1997) sowie durch die Rezeption ausländischer Erfahrungen hat eine Entwicklung eingesetzt, durch die die Versorgung von Suchtkranken zunehmend zu einem Aufgabenbereich der psychiatrischen Versorgung wird. Diese Entwicklung ist im letzten Jahr durch eine weitere Entwicklung verstärkt worden, in der die Rolle des somatisch-medizinischen Versorgungssystems für die Versorgung von Abhängigkeitskranken thematisiert worden ist. Daran anknüpfend wurden eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet, auf welche Weise dieses System für die Ver-

Professionalisierung

sorgung dieser Patientengruppe genutzt werden kann. Nicht zuletzt spielt die Stärke der Selbsthilfebewegung (-»Selbsthilfe) eine große Rolle, die über Jahrzehnte neben den früheren Trinkerheilanstalten die Versorgung der Abhängigkeitskranken entscheidend geprägt hat. Sie ist heute noch ein wesentlicher Bestandteil der Suchtkrankenhilfe und hat ihren Anteil an der unvollendeten Professionalisierung der Sozialarbeit in der Suchtkrankenhilfe. Die Suchtkrankenhilfe hat es durch ihre besondere Situation außerhalb des medizinischen Versorgungssystems, durch ihre konfessionelle Prägung sowie ihre Beschreibung der nach medizinischem Verständnis Kranken als moralische Hilfebedürftige auch nicht vermocht, eine eigenständige Forschungstradition zu entwickeln, so daß es auch auf diesem Wege nicht gelang, Beiträge zur Professionalisierung der in der Suchtkrankenhilfe tätigen Berufsgruppen zu leisten. Erst in den letzten 10 bis vielleicht 15 Jahren ist eine Entwicklung in der -»•Suchtforschung festzustellen, die aber im wesentlichen durch Universitäten und andere Forschungseinrichtungen sowie die Rezeption ausländischer Forschungsergebnisse und durch das somatisch-medizinische und psychiatrische Versorgungssystem initiiert und getragen wurde, also gerade nicht durch die Berufsgruppe der Sozialarbeiter. 4. Auch absehbare zukünftige Entwicklungen lassen vermuten, daß es der Sozialarbeit in der Suchtkrankenhilfe nicht gelingen wird, sich weiter zu professionalisieren. So hat die Entwicklung der Sozialarbeit außerhalb der Suchtkrankenhilfe es bisher nicht vermocht, die akademischen Defizite der Disziplin abzubauen. Die verstärkte Einbeziehung der Ärzte in die Versorgung der Suchtkranken wird zu einer zunehmenden Dominanz der Ärzte in der Suchtkrankenversorgung führen. Das schon genannte Psychotherapeutengesetz wird 455

Professionalisierung

seinerseits die Rolle der nichtärztlichen Psychotherapeuten insgesamt und damit auch innerhalb der Suchtkrankenhilfe verstärken. Die Sozialleistungsträger werden vermutlich keine Entwicklung zulassen, durch die eine dritte Berufsgruppe nach den Ärzten und Psychologen die Möglichkeit einer eigenständigen Berufsausübung und Leistungabrechnung gegenüber den Sozialleistungsträgern hätte. Ausdruck dieser Entwicklung ist das verstärkte Interesse, das die Psychiatrie, die niedergelassenen Arzte, mitunter schon durch die Schwerpunktpraxen, der Versorgung dieser Patientengruppe widmen (vgl. BMJFFG 1998; BMG 1996, Engler u. a. 1997). Ebenso wird die Forderung nach einer Erweiterung der Zulassung von Institutsambulanzen an psychiatrischen Abteilungen zu einer verstärkten Versorgungsfunktion der Psychiatrie führen. Die im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform und der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens angestellten Überlegungen bewegen sich - soweit die Sucht Gegenstand dieser Überlegungen ist - ausschließlich im Rahmen des Krankenversicherungsrechts. Dies bedeutet eine weitere Stärkung der Berufsgruppe der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten. Diese Beschreibung gilt in analoger Weise für die Reformüberlegungen im Bereich der medizinischen Rehabilitation des Rentenversicherungsrechts. Eine weitere Entwicklung ist vermutlich bedeutungsvoll für die Frage zukünftiger Professionalisierung. Die europäische Entwicklung mit ihrer starken Betonung des freien Verkehrs von Waren und Dienstleistungen wird dazu führen, daß die dominante Rolle der Freien Wohlfahrtspflege nicht nur in der Versorgung der Abhängigkeitskranken in der Bundesrepublik stark relativiert werden wird. So wie im Bereich der Entwöhnungskliniken bereits ein nennenswerter Prozentsatz privater Träger existiert, wird sich insgesamt die Struktur von Anbietern sozialer Dienstleistungen 456

Professionalisierung

europäisieren, das bedeutet im wesentlichen, die Zahl der privatrechtlich organisiert erwerbsorientierten Anbieter wird sich vergrößern. Das Pflegeversicherungsgesetz und der § 93 Bundessozialhilfegesetz, nach denen zukünftig nicht mehr Pflegesätze, sondern Leistungen vergütet werden, für die ein bestimmter Preis gezahlt wird, werden den ökonomischen Druck auf die Effizienz und auch die Effektivität der sozialen Dienstleistungen erhöhen. Hinzu kommt die allgemeine Knappheit der Mittel in den Sozialversicherungssystemen, die ebenfalls die Ökonomisierung verstärken wird. Dies wird den Verteilungskampf um die knapper werdenden Ressourcen verschärfen. In diesem Verteilungskampf werden die Ärzte und Psychologen sich wesentlich besser durchsetzen können. Hier könnten sogar die erreichten Ansätze der Professionalisierung und Qualifizierung der Sozialarbeit in der Suchtkrankenhilfe in Gefahr geraten, zwischen den Interessen der Ärzte und der Psychologen an der Versorgung dieser Patientengruppe und dem ökonomischen Druck effizienter Leistungserbringung verloren gehen. Auch die weiter wahrzunehmende Sachwalterfunktion der in der Suchtkrankenhilfe tätigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei der Durchsetzung der bestehenden sozialrechtlichen Ansprüche der Abhängigkeitskranken wird die Professionalisierung nicht vollenden. Es kommt - ähnlich wie in der allgemeinen Psychiatrie - in diesem Zusammenhang mehr darauf an, regionale auf Integration und Rehabilitation zielende Versorgungskonzepte politisch durchzusetzen. Die dafür notwendigen Aktivitäten sind aber professionspolitisch für die Berufsgruppen der Sozialarbeiter ohne Relevanz. Lit.: Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (Hrsg.), Prävalenz und Sekundärprävention von Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen Versorgung, Baden-Baden, 1996; Bun-

Prozessuale Einstellungsmöglichkeit

Prohibition desministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG) (Hrsg.), Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutischen/ psychosomatischen Bereich, Bonn, 1988; Boudou, Raymond, Bourricand, Francois, Soziologische Stichworte, Opladen, 1992; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr (Hrsg.), Jahrbuch Sucht, Geesthacht, 1994, 1995, 1996, 1997a; drs. (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe in Deutschland, Freiburg, 1997b; Engler, Udo, Schianstedt, Günter, Onera, Hans, Weiterentwicklung von Hilfen für Alkoholkranke und Menschen mit Alkoholproblemen, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheitsund Sozialbereich, Köln, 1997; Grigoleit, Hans-Peter, Wenig, Manfred, Hüllinghorst, Rolf, Handbuch Sucht, Sankt Augustin, 1998; Harfiel, Günter, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 3 1982; Lehmann, Knut, Suchtkrankenhilfe in der Bundesrepublik, in: Gastpar, Mann, Rommelspacher (Hrsg.), Stoffliche Suchterkrankungen, Stuttgart, 1999; Prognos AG, Freie Wohlfahrtspflege im zukünftigen Europa, Köln, 1991. Knut Lehmann, Halle Prohibition P. bezeichnet das staatliche Verbot bezüglich Herstellung, Verbreitung/Transport und Verkauf von Alkoholika. Ein solches Verbot ist historisch mit den im 19. Jahrhundert insbesondere in England und den USA starken Temperenzbewegungen verbunden (-•Abstinenzbewegungen). Damit einher gingen dann Bemühungen einiger Länder, der rapiden Zunahme von Alkoholkonsum restriktive Grenzen zu setzen, insbesondere durch hohe Strafen bei Zuwiderhandlung (-•Kriminalisierung). Besonders populär ist die Zeit der Prohibition in den USA (1919-1933) geworden („Al Capone"), was u. a. seinen Niederschlag in zahlreichen Filmen gefunden hat, wobei Mythen und Fakten hier stark

vermengt wurden. Trotz großer Anstrengungen war der Erfolg gering, die Bemühungen wurden immer wieder unterlaufen (Schwarzbrennereien, Schmuggel, organisierte Kriminalität). Ähnliche Erfahrungen wurden in Norwegen (1919-1926) und in Finnland (19191932) gemacht. Das totale Verbot der Alkoholherstellung und -Verbreitung gibt es heute in westlichen Ländern nicht mehr, es sind aber noch partielle Ansätze durch Kontingentierung, Verkauf nur in speziellen Läden wie z.B. in Skandinavien, hohe Besteuerung u. a. vorhanden. Die Diskussion um den Sinn solcher Maßnahmen ist geteilt: Die Befürworter einer totalen P. argumentieren u. a. volkswirtschaftlich, indem sie die hohe Anzahl und die damit verbundenen Kosten der -•Alkoholfolgekrankheiten anführen. Gegner werfen ihnen vor, daß sie durch eine P. nur eine -•Kriminalisierung der Konsumenten erreichen und einen illegalen Markt mit ζ. T. enorm großen Gewinnspannen verursachen würden. Die Befürworter einer partiellen P. weisen auf den präventiven Aspekt (-•Prävention) durch die erschwerte Erreichbarkeit von hochprozentigen Alkoholika hin. Kritisch wird dagegen eingewendet, daß Jugendlichen damit die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit diesem Alkoholkonsum und seiner rituellen Einbindung als Genußmittel fehlt, womit u. U. ein ungekonnter Umgang damit einschließlich des Mißbrauchs gegeben wäre. Die Gegner jeglicher P. weisen darauf hin, daß es zu allen Zeiten immer Möglichkeiten und Formen von Alkoholbeschaffung und -konsum gegeben hätte und die Maßnahmen der P. ihr Ziel immer verfehlt hätten. Versuche der P. habe es auch bei den Genußmitteln und „Alltagsdrogen" Tabak (-•Geschichte des Tabaks) und Tee und Kaffee (-•Geschichte des Tees und des Kaffees) gegeben. Prozessuale Einstellungsmöglichkeit -•Drogenrecht 457

Psychiatrie

Psychiatrie (von psyche gr. Hauch, Atem, Seele und iatros gr. Arzt) Psychiatrie ist die Lehre von den Geisteskrankheiten und deren Behandlung. In Deutschland war die stationäre Versorgung psychisch kranker Menschen ursprünglich Aufgabe der Länder (Landeskrankenhaus). Das ändert sich zur Zeit. Ein zunehmender Anteil der stationären Behandlung wird von „psychiatrischen Fachabteilungen" an Allgemeinkrankenhäusern übernommen. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, da nur durch viele kleine Abteilungen eine psychiatrische Behandlung in Heimatnähe möglich ist (Angehörigenarbeit, Einbeziehung des sozialen Umfelds in die Behandlung und Rehabilitation). Traditionell ist die Suchtkrankenbehandlung ein Teil der Psychiatrie. Das ist auch sinnvoll, denn die Rauschmittel können eine exogene -»-Psychose verursachen. Auch das -»-Entzugsdelir ist eine psychotische Störung - allerdings mit oft schweren lebensgefährlichen somatischen Begleitsymptomen. Ein Delir kann nur stationär behandelt werden, gelegentlich ist eine intensivmedizinische Therapie unverzichtbar. Auch einige wichtige Suchtfolgeerkrankungen sind nur sinnvoll in einem psychiatrischen Krankenhaus zu therapieren. ( •Korsakow-Syndrom, alkoholischer Eifersuchtswahn, Alkoholhalluzinose, drogeninduzierte Psychosen). Erstes Ziel ärztlichen Handelns ist grundsätzlich und immer auf den Erhalt des Lebens gerichtet (Behandlung von Delirien und Intoxikationen). Erst danach gilt es, einen möglichst guten Gesundheitszustand herzustellen. Im Bereich der Suchtkrankheiten bedeutet es, den Abhängigen so zu unterstützen, daß er ein rauschmittelfreies Leben führen kann. Der erste Schritt wird als Entgiftung (-»Entzug) bezeichnet, dann folgt die •Entwöhnungsbehandlung. Die Grenze zwischen den Therapieschritten ist unscharf und es versteht sich von selbst, daß auch schon während der Ent458

Psychiatrie

giftung für ein rauschmittelfreies Leben geworben wird. Der Verzicht auf Drogen (Alkohol) ist eine erhebliche Einschränkung. Es kann und darf nicht erwartet werden, daß der Abhängige diesen Verzicht gerne leistet. Er muß in vielen therapeutischen Gesprächen dazu motiviert werden. Eine solche Motivation ist Ziel der Behandlung, nicht die Voraussetzung! Bei der Entgiftung im psychiatrischen Krankenhaus wird nicht nur eine körperliche Behandlung durchgeführt. Gleichzeitig beginnt die „Motivationsarbeit", die zunächst das Ziel hat, den Patienten für ein rauschmittelfreies Leben zu aktivieren (-»-Qualifizierte Entgiftung). Noch bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wurde die Alkoholabhängigkeit nur „im fortgeschrittenen" oder „erheblichen Grade" als -»Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) anerkannt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einem entscheidenden Urteil vom 18. Juni 1968 festgestellt, daß schon der -"-Kontrollverlust beim Trinken von Alkohol für die Feststellung einer Krankheit ausreiche. Damit war die Behandlung der Abhängigkeitskranken finanziell durch die gesetzlichen Krankenkassen abgesichert. Da durch eine Behandlung auch die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt wird, waren auch die Rentenversicherungsträger mit in der Verantwortung. Am 20. November 1978 kam es zu einer folgenschweren Absprache zwischen Krankenkassen und Rentenversicherung (Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abängigkeitskranker Suchtvereinbarung). Die Entgiftung wurde als Leistung der Krankenkassen festgelegt, die Entwöhnung sollte als Rehabilitationsleistung von der Rentenversicherung finanziert werden. Die Entwöhnung wird seitdem zunehmend in eigenen Einrichtungen der Rentenversicherung durchgeführt. Die kon-

Psychiatrie-Enquete tinuierliche Behandlung einer psychischen Störung wurde zerrissen. Eine wohnortnahe Therapie ist nicht mehr möglich. Die Kranken müssen an einem entscheidenden Punkt ihrer Behandlung einen Therapeutenwechsel hinnehmen. Zusätzlich liegen zwischen Entgiftung und Entwöhnung meist mehrere Wochen, in denen gerade die schwer Erkrankten häufig rückfällig werden. Suchterkrankungen treten besonders häufig auf, wenn primär schon schwerwiegende psychische Erkrankungen oder Störungen vorliegen. Die Behandlung dieser Menschen kann nur sinnvoll in einem psychiatrischen Krankenhaus durchgeführt werden. -»•Chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker; -»-Komorbidität; -»-Psychose Jürgen Lotze, Lüneburg Psychiatrie-Enquete 1. Eine Enquete ist eine Untersuchung oder Erhebung mit dem Zweck, durch eine möglichst umfassende Befragung für bestimmte Lebens- und Gesellschaftsbereiche eine verläßliche Übersicht über deren gegenwärtigen Stand zu erhalten. Diese Absicht verfolgte der Deutsche Bundestag, als er im März 1970 eine Sachverständigen-Kommission mit der Erstattung eines Berichtes über die psychiatrische und psychotherapeutisch-psychosomative Versorgung der Bevölkerung beauftragte. Die Untersuchung sollte sich auf die stationären und ambulanten Dienste für psychisch Kranke, auf die Situation frei praktizierender Nervenärzte und auf besondere Problembereiche wie Suchtkrankheiten beziehen. Die Versorgung aller Suchtkranken ist mit der Umsetzung der PE (ab 1975) im Rahmen gemeindepsychiatrischer Ansätze, zuerst nur sehr langsam, dann intensiver, in der psychiatrischen Fachdiskussion zentraler geworden. Das primäre Ziel einer gemeindenahen -»•Suchtkrankenhilfe ist es, den betroffenen Menschen eine abstinente Lebensweise bei bestmöglicher familiärer, be-

Psychiatrie-Enquete ruflicher und sozialer Integration zu ermöglichen. Die Leitlinien einer so verstandenen Suchtkrankenhilfe wurden in der PE formuliert. Die Aufgaben eines solchen Versorgungssystems beziehen sich auch auf das Bedingungsgefüge der -»•Genese von Suchterkrankungen. Das Aufgabenspektrum erstreckt sich damit von der -»Prävention über die •Suchtberatung und Behandlung ( »Entgiftung, -»Entwöhnung) bis zur -»Nachsorge. 2. Inhalte der PE. Im November 1975 leitete der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit den Abschlußbericht der Enquete-Kommission dem Bundestag zu. Es wurde von diesem als Drucksache 7/4200 in die Parlamentsarbeit aufgenommen. Auf 426 Seiten sowie in einem Ergänzungsband (Drucksache 7/4201) wurden in 8 Hauptabschnitten zum gegenwärtigen Versorgungsstand, zur Neuordnung der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter, zur Aus-, Weiter- und Fortbildung, zu rechtlichen Problemen, zu Fragen der Primärprävention, zu Problemen der Forschung, zum Personalbedarf und zu Prioritäten umfassend Stellung genommen. Nach einer mühevollen Bestandsanalyse und auf Grund der von der Sachverständigen-Kommission erarbeiteten Empfehlungen wurden „die Beseitigung grober, inhumaner Mißstände" als höchste Priorität gewertet, die „jeder Neuordnung der Versorgung vorauszugehen" habe. Als unverzichtbare Rahmenbedingungen seien dabei zu berücksichtigen „das Prinzip der gemeindenahen Versorgung, das Prinzip der bedarfsgerechten und umfassenden Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, das Prinzip der Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken". Zu deren Verwirklichung wurden Prioritäten wie folgt gesetzt: ,,a) Aus- und Aufbau komplementärer Dienste (Heimsektor), b) Ausbau- und Aufbau der ambulanten Dienste, 459

Psychiatrie-Enquete

c) der Aufbau von Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern, d) Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung, e) vorrangige Verbesserung der Versorgung - von psychisch auffälligen, gestörten und behinderten Kindern und Jugendlichen, - von Suchtkranken, insbesondere Alkoholikern, f) Entwicklung von Modellversorgungsgebieten in städtischen wie ländlichen Regionen". Bereits während der Erarbeitung der Grundlagen und der daraus erwachsenen Empfehlungen der PE, an der zeitweise bis zu 200 Mitarbeiter tätig waren, entwickelten sich vor allem auf der Ebene der Länder und Kommunen beachtliche entsprechende Initiativen. Der endlich einsetzende gesellschaftspolitische Bewußtseinswandel verschaffte den psychisch Kranken allmählich die geforderte rechtliche und soziale Gleichstellung. Jedoch vollzogen sich derartige Schritte bei den psychisch Kranken teilweise langsamer als etwa bei der Integration geistig Behinderter (Lebenshilfe für geistig Behinderte, Werkstätten etc.). Wesentliche Verdienste der PE aber waren die von ihr ausgehenden Initiativen der Veränderung von einer überwiegend verwahrend beschützend - ausgrenzenden zu einer aktiv - therapeutischen und rehabilitativen Psychiatrie. Neue therapeutische Aktivitäten erforderten mehr Mitarbeiter aus Berufsgruppen, die bisher außerhalb der psychiatrischen Krankenhausbehandlung standen bzw. ohne die der Aufbau und Ausbau ambulanter bzw. komplementärer Dienste nicht möglich gewesen wäre (Sozialarbeiter, Dipl.-Psychologen, Heilerziehungsschwestern bzw. Pfleger usw.) (->Professionalisierung). Die Zielsetzungen der modifizierten Gesetzgebung für die unfreiwillige Unterbringung psychisch Kranker betonten deren vorrangig therapeutischen Zweck, ebenso wie die 460

Psychiatrie-Enquete

neueren gesetzlichen Grundlagen der Handhabung des sog. Maßregelvollzuges für psychisch kranke Straftäter. Trotz der im kommunalen Bereich vielerorts fixierten Auffassung, „Gemeindeintegration" gelte nicht oder allenfalls nur erheblich eingeschränkt für psychisch Kranke, spielte auch hier die Enquete die Rolle einer Initialzündung. Viele andere Versorgungsbereiche erfuhren durch die PE neue, weit über das bisher Vorhandene hinausgehende Impulse, vielfach ausgelöst durch Aktivitäten von Mitarbeitern, die von der Universitäts- in die Landeskrankenhauspsychiatrie gewechselt waren. 3. Der Bericht der Expertenkommission. In der Nachfolge der Psychiatrie-Enquete kommt der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch / psychosomatischen Bereich eine weitere wichtige Rolle zu. Ihre Aufgabenstellung, ihre Entwicklung, ihre personelle Zusammensetzung sowie die Erarbeitung ihrer 13 Jahre nach Abschluß der Psychiatrie-Enquete am 11. November 1988 vorgelegten Empfehlungen spiegeln vielfältige Probleme einer föderalen, auf die Verantwortung der einzelnen Bundesländer bezogenen Psychiatrie-Politik und Differenzen wider, die sich nur teilweise bei der Klärung von Zuständigkeitsfragen zwischen Bund und Ländern befriedigend regeln ließen. Bezeichnend war, daß die Absicht der Bundesregierung, ein aus den Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete erwachsenes, die materielle Förderung des Bundes einschließendes Modellprogramm zu realisieren, im Januar 1980 auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken der Finanzministerkonferenz stieß. So lehnten 5 der damaligen 11 Bundesländer ihre Beteiligung ab. Ebenso problematisch erwies sich auch zumindest in der Anfangsphase die Einbeziehung der niedergelassenen Nervenärzte in die KommissionsArbeit.

Psychiatrie-Enquete

Dennoch gelang es der Sachverständigen-Kommission, in einem 712 Seiten umfassenden Bericht nahezu für alle psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen ambulanten, teil- und vollstationären Versorgungsbereiche eine große Anzahl von Grundsatz- bzw. Einzelempfehlungen zu erarbeiten. Nicht nur sollte der Prozeß der Psychiatrie-Reform 13 Jahre nach Abschluß der Psychiatrie-Enquete kritisch überprüft, sondern vor allem seine Weiterentwicklung markiert werden. Dabei wurden ein Modellprogramm der Bundesregierung und eines Modellverbundes mit zahlreichen Einzelvorhaben wie auch verschiedene Länderprogramme und die Ergebnisse von Reformen außerhalb der Grenzen der damaligen Bundesrepublik in die Analyse und ihre Schlußfolgerungen einbezogen. Zahlreiche Experten und auch die Bundesländer waren beteiligt. Eine am 3. Dezember 1979 berufene, anfangs aus 20, später aus 27 Mitgliedern bestehende Beraterkommission wurde im Februar 1987 unter Hinzuziehung weiterer Mitglieder in eine Expertenkommission umgeformt und die Arbeit für einzelne Problembereiche durch zusätzliche Sachverständige verstärkt. Die Zusammenfassung der erarbeiteten Grundsätze und Empfehlungen konnte von der in der Praxis bewährten Übernahme der vier Grundprinzipien der Psychiatrie-Enquete ausgehen: gemeindenahe Versorgung, bedarfsgerecht und umfassend für alle psychisch Kranken und Behinderten, Koordination aller Versorgungsdienste und Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken. In mehr als 50 Einzelkapiteln wurden im Bericht der Expertenkommission eingehende Ausführungen zum Umfang der Probleme zu Grundsätzen gemeindepsychiatrischer und zu Bausteinen allgemeinpsychiatrischer Versorgung (mit 10 Einzeldarstellungen einschließlich der Rolle der niedergelassenen Nervenärzte) gemacht. Über die Feststellungen und Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete

Psychiatrie-Enquete

hinausgehend wurden Aspekte der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher, psychisch kranker alter Menschen, Abhängigkeitskranker und neurotisch und psychosomatisch Kranker in die Arbeit der Expertenkommission einbezogen. Ein weiterer Abschnitt befaßte sich mit den personellen, administrativen und legislativen Grundlagen der Aus-, Weiter- und Fortbildung, der Bemessung des Personalbedarfs im außerstationären Bereich sowie mit den Problemen Enthospitalisierung, d. h. der Rückführung von Langzeitpatienten in die Gemeinde, ferner mit legislativen Änderungsempfehlungen insbesondere das Gesundheitsreformgesetz, das Bundessozialhilfegesetz und das Arbeitsförderungsgesetz betreffend. Im letzten Berichtsabschnitt wurde unter Berücksichtigung der sich mehr und mehr abzeichnenden finanziellen Engpässe besonders Wert auf den Aus- und Aufbau des Gemeindepsychiatrischen Verbundes im Hinblick auf seine besondere Wichtigkeit für die ambulante Versorgung chronisch psychisch Kranker und Behinderter gelegt. Einbezogen wurde der Prozeß einer „therapeutisch indizierten und sorgfältig vorbereiteten" Enthospitalisierung einschließlich eines Aufbaus beschützter Wohnangebote (auch für chronisch Abhängigkeitskranke) im Rahmen eines auf örtlicher Ebene abgestimmten Gesamtprogramms. 4. Resümee. Psychiatrie-Enquete und Expertenkommission sind Fixpunkte in der Entwicklung der Psychiatrie im Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Bei weitgehender Übereinstimmung der nach Sterilisationsgesetzgebung und Euthanasie-Aktion in beiden deutschen Teilstaaten herrschenden menschenunwürdigen Verhältnisse haben beide Aktionen endlich zu einem zwar langsameren, aber tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel der Einstellung gegenüber dem psychisch Kranken und den seelisch oder geistig Behinderten geführt und zur Umsetzung humaner

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PsychKG

Grundforderungen beigetragen. Wesentlich war dabei die Bereitschaft, in einer umfassenden gemeindenahen Versorgungskonzeption unterschiedliche, bis dahin ζ. T. kontroverse Ausgangspositionen kritisch zu überdenken und in einem noch andauernden Anpassungsprozeß den übergeordneten Grundsätzen von der unteilbaren Würde des einzelnen Menschen ebenso unterzuordnen. Ebenso mußte eine die Entwicklung der Psychiatrie, der Psychotherapie und Psychosomatik hemmenden wissenschaftstheoretischen und praxis- bzw. versorgungsstrategischen Aufsplitterungen begegnet werden. Auch unter soziologischen und sozialpädagogischen Aspekten waren Zusammenarbeit (und Erfolgszwang!) unterschiedlicher Berufsgruppen für das Gelingen der beiden miteinander verbundenen Arbeitsaufträge hilfreich und letztlich unverzichtbar. Unabhängig von der unterschiedlichen Wertung von Einzelkomponenten wird sich als Richtschnur der biologisch-psychologisch-soziale Ansatz in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation bei psychisch Kranken, seelisch oder geistig Behinderten durchsetzen. Ebenso werden die zahlreichen noch offenen Problembereiche wie die der Versorgung intensiv behandlungsbedürftiger chronisch psychisch Kranker, der Alterskranken, der schwer verhaltensgestörten Kinder und Jugendlichen, psychisch kranker Straftäter oder der Abhängigkeitskranken nur in einer multidisziplinären Zusammenarbeit auf der Grundlage eines mehrdimensionalen Ansatzes verbessert oder langfristig gelöst werden können. Insoweit weist der verbundene somatisch-psychologisch-soziale Ansatz auch der Sozialpädagogik eine wesentliche und zukunftsbezogene Aufgabe zu. •Professionalisierung; •Suchtkrankenhilfe Lit.: Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200 Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - zur psychiatri462

PsychKG

schen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung, Alleinvertrieb: Verlag Dr. Hans Heger, Goethestraße 56, Bonn-Bad Godesberg mit Anhang (BT-Drucksache 7 (4201) (1975); Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigen-Kommission (BT-Drucksache 8 (2565) (1979); Materialsammlung I zur Enquete über die Lage der Psychiatrie in der BRD, Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Band 9, Verlag Hans Kohlhammer, Stuttgart (1973), ISBN 3-17001717-6; Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung, Bonn, 1988; PROGNOS AG Modellprogramm Psychiatrie, Berichte 1-5 (1980, 1983, 1995, 1996, z.T. Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Stuttgart, 1986); Kulenkampff, C., Picard, W., Fortschritte und Veränderungen in der Versorgung psychisch Kranker. Ein internationaler Vergleich, Rheinland-Verlag, Köln (1989), ISBN 3-7927-1093-5; Finzen, Α., Das Ende der Anstalt. Vom mühsamen Alltag der Reformpsychiatrie, PsychiatrieVerlag, Bonn (1985), ISBN 3-88414061-2; Finzen, Α., Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. Bonn (Ed. Das Narrenschiff, Sozialpsychiatrische Texte, 1), PsychiatrieVerlag, Bonn, 1998, ISBN 3-88414287-9; Degkwitz, R., Hoffmann, s. o.; Kindt, H., Psychisch krank - Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium, Verlag Urban und Schwarzenberg (1982), ISBN 3-541-09911-9. Hans Heinze, Wunstorf PsychKG

In den „Gesetzen über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten" (PsychKG) werden im

Psychoaktive Substanzen Rahmen von Ländergesetzen u. a. Einweisungen psychisch Kranker in eine geschlossene psychiatrische Klinik geregelt. Die einzelnen Ländergesetze unterliegen der Kontrolle durch den Artikel 104 GG (Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug). Im Gegensatz zu früheren Gesetzen, bei denen der Sicherheitsaspekt im Vordergrund stand, geht es primär nicht mehr nur um Verwahrung, sondern neben Schutz und Ordnung auch um die Fürsorge für die betroffenen Menschen. Die jeweiligen Gesetze formulieren u. a. - Hilfen für die betroffenen Menschen, - den Anspruch auf präventive und rehablitative Hilfen, - Einweisung als Schutzmaßnahme im Rahmen dieser Hilfen und - die Rechte von psychisch kranken Menschen. Ein wichtiger Inhalt ist die -•Unterbringung eines Menschen in der Psychiatrie ohne seine Zustimmung oder sogar gegen seinen Willen. Danach muß eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegen, um eine Zwangseinweisung zu rechtfertigen. Die Zwangsmaßnahme muß in jedem Fall durch einen Richter angeordnet und in regelmäßigen Abständen überprüft werden. -»Chronisch mehrfachgeschädigte Alkoholiker; -•Psychiatrie Psychoaktive Substanzen Unter P. S. wird eine Gruppe von Stoffen verstanden, die die psychische Befindlichkeit zu ändern vermögen. Hierzu zählen: -»-Alkohol, schlafinduzierende und angstmindernde Substanzen (wie -•Barbiturate, -^Benzodiazepine), -•Opioide (wie ->Kodein, ->Heroin, -•Morphin), -•Psychostimulanzien (wie -•Amphetamine), -•Halluzinogene (wie -•LSD) und -•psychotrope Substanzen (wie -•Antidepressiva). -•Drogenabhängigkeit; -•Medikamentenabhängigkeit Psychoanalyse 1. Die Psychoanalyse ist in erster Linie als psychotherapeutische Behandlungs-

Psychoanalyse methode zu verstehen, bei der in intensiver Therapie mit drei bis fünf Wochenstunden auf der Couch angestrebt wird, unbewußte Ursachen einer Erkrankung bewußt zu machen. Krankheitssymptome werden dabei als Kompromißbildungen im Konflikt zwischen Anforderungen der Außenwelt und inneren Triebwünschen angesehen. Der Analysand berichtet mittels „freier Assoziation" alle seine Gedanken und Gefühle, die der verbal zurückhaltende, abstinente Analytiker mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit" registriert. Diese Situation führt zur „Regression" des Patienten auf frühere Entwicklungszustände (Erinnern), wobei der Analysand mittels „Übertragung" und der auf Seiten des Analytikers folgenden „Gegenübertragung" psychisch relevante Erlebnisse in der analytischen Situation reinszeniert (Wiederholen) und damit der Bearbeitung (Durcharbeiten) - trotz seiner „Widerstände" gegen die Behandlung zugänglich macht. Der Analytiker stellt durch „Deutungen" genetische und aktuelle Zusammenhänge her und ermöglicht es so dem Patienten, verfestigte Verhaltensweisen und Symptome nach deren Durcharbeitung aufzugeben und sich damit gesünder zu entwickeln. Psychoanalyse definiert sich also als ein psychogenetisches Verfahren mit einer kausal, auf die Krankheitsursachen bezogenen Therapie. Die psychoanalytische Methode, unbewußte Bedeutungen aufzudecken, erfuhr bereits bei S. Freud über den klinischen Rahmen hinaus als Methode der Erkenntnisgewinnung Anwendung auf Träume, alltägliche Fehlleistungen, Literatur, Kunst, Religion, und nicht zuletzt auf Kultur und Gesellschaft insgesamt. Theoretisch überbaut ist das klinische Modell durch die psychoanalytische Metapsychologie. Unter den heute etablierten psychologischen Theorien und Behandlungsverfahren ist die Psychoanalyse die älteste. Sie wurde von Sigmund Freud (1856-1939) zusammen mit Joseph Breuer in Wien entwickelt. Ausgangspunkt der Methode 463

Psychoanalyse war eine neue Behandlungstechnik bei Hysterikerinnen, deren Symptome von Freud als Ausdruck tieferliegender, verdrängter Konflikte (ursprünglich: sexuelle Traumatisierungen) ernstgenommen, und in der später als „Talkingcure" bezeichneten Methode im Gespräch mit dem Arzt behandelt wurden. Als Anfang der Psychoanalyse können Freuds Schriften zur Sexualität (ab 1895) gelten, deren erster Höhepunkt die 1900 erschienene Traumdeutung war. Freud war von seiner Ausbildung her Neurologe (u. a. bei Charcot in Paris) und arbeitete auf dem wissenschaftlichen Hintergrund des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So war sein Anliegen durchaus nicht die Entwicklung einer Psychologie, sondern die Integration seiner Modelle in eine eher mechanistisch verstandene Naturwissenschaft. Diese von der Theorie und Technik der Behandlung zu unterscheidenden metatheoretischen Modelle wurden bereits zu Freuds Lebzeiten einem mehrfachen Paradigmenwechsel unterworfen. Schon 1895 schrieb er den ersten „Entwurf einer Psychologie", dem später das „topographische Modell" der Psyche mit den Ebenen des Bewußten, Vorbewußten und Unbewußten folgte. Im „Ich und das Es" (1923) leitete Freud schließlich einen erneuten Paradigmenwechsel ein und definierte drei psychische Instanzen: Es, Ich und Überich, womit er das psychoanalytische Strukturmodell, aus dem sich die Ichpsychologie entwikkelte, begründete. Ursachen von Neurosen waren für ihn weiterhin verdrängte Triebkonflikte aus der oralen, analen und genitalen Phase und insbesondere dem „Ödipuskomplex", der beginnenden „Triangulierung", wenn neben der Mutter der Vater als Liebesobjekt und Rivale vom Kind entdeckt wird. Freud selbst bemühte sich nie um eine stringente Integration seiner metatheoretischen Modelle, die weiterhin nebeneinander Verwendung fanden und so auch Ausgangspunkt für unterschiedliche psychoanalytische Erklärungen zur 464

Psychoanalyse Ursache von Sucht wurden. Es ist darauf hinzuweisen, daß von einer einheitlichen psychoanalytischen Theorie nicht gesprochen werden kann. Dies gilt nicht allein für den theoretischen Überbau der „Metatheorie", sondern auch für die Theorie der psychogenetischen Entwicklung, die psychoanalytische Krankheitslehre, die Persönlichkeitstheorie wie die Behandlungstechnik, die im Laufe der mehr als hundertjährigen Geschichte der Psychoanalyse unterschiedliche Ausprägungen und Entwicklungen erfuhren. 2.1 Dies führte zu verschiedenen Richtungen und Schulen innerhalb der Psychoanalyse, aber auch zu Abspaltungen. Die ersten dieser Abspaltungen entstanden durch Freuds „Lieblingsschüler" Alfred Adler („Individualpsychologie") und C. G. Jung („Analytische Psychologie"), die eigene therapeutische Schulen begründeten, wobei sie sich besonders gegen Freuds Primat der sexuellen Konflikte wendeten. Diesen folgten in den kommenden Jahrzehnten eine Vielzahl von „Dissidenten", zu deren prominentesten Wilhelm Reich, Erich Fromm, Karen Horney, Otto Rank, Harald Schultz-Hencke und eine Vielzahl anderer gehörten. 2.2 In totalitären Systemen wie Nationalsozialismus und Kommunismus war die Psychoanalyse als eine Wissenschaft der Aufklärung, die den Menschen von unbeherrschbaren Triebkräften bestimmt sah und nicht als „Herr im eigenen Hause" akzeptierte, massiven Verfolgungen ausgesetzt. Hierfür war wohl auch verantwortlich, daß sich die Psychoanalyse Freuds nicht als reine Behandlungstechnik, sondern als eine allgemeine Methode der Erkenntnisgewinnung sah, die kritisch auf Kultur und Gesellschaft insgesamt angewendet wurde (psychoanalytische Sozialpsychologie, Gesellschaftstheorie, Kultur- und Religionskritik etc.). Daher wurde die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Theorie seit den dreißiger Jahren durch ihre Vertreibung aus dem deutsch-

Psychoanalyse sprachigen in den angelsächsischen R a u m mitbestimmt. Erst in den fünfziger Jahren kehrte die Psychoanalyse zunächst zögernd in den deutschen Kulturraum zurück, besonders durch Alexander Mitscherlich und seine Schriften getragen, und erfuhr erst seit den sechziger Jahren im Gefolge der „antiautoritären B e w e g u n g " national wie international eine Renaissance. Seitdem hat sich die Zahl der Psychoanalytiker in Deutschland wie weltweit vervielfacht; zugleich haben ihre Anwendungsbereiche zugen o m m e n . Die psychoanalytische Persönlichkeits· und Krankheitstheorie wie die Theorie und Technik der Behandlungen haben eine sprunghafte Entwicklung angenommen und sich gegenüber der ursprünglichen Behandlungstechnik differenziert und spezifiziert. 2.3 Seit der Emigration der Psychoanalyse aus Mitteleuropa in den dreißiger Jahren und dem Tode Sigmund Freuds 1939 haben sich innerhalb der wissenschaftlichen Psychoanalyse vor allem die folgenden Konzeptionen weiterentwickelt: 2.3.1 Die auf der „klassischen F r e u d ' schen Triebpsychologie" und dem „topographischen Modell" basierenden Konzepte, wonach Neurosen und andere Störungen ihre Ursache in verdrängten Triebkonflikten haben, besitzen weiterhin ihre Berechtigung, befinden sich jedoch insgesamt gesehen auf dem Rückzug. 2.3.2 Besonders im „amerikanischen Exil" wurde die Ichpsychologie zur vorherrschenden Konzeption der Psychoanalyse (Heinz Hartmann). Hiernach begreift man viele Störungen und insbesondere solche, die über die „klassischen Neurosen" hinausgehen, als Resultat von Entwicklungsdefiziten, die zu einer Schwäche des Ichs gegenüber „Es" und „Überich" führen und in der Behandlung durch eine Stärkung und Reifung des Ichs zu bearbeiten sind. 2.3.3 Seit den sechziger Jahren entwikkelte sich in kritischer Abgrenzung zur Ichpsychologie, die als zu anpassungs-

Psychoanalyse orientiert und mechanistisch gesehen wurde, die durch Heinz Kohut initiierte Selbstpsychologie, deren Vertreter in jüngerer Zeit häufiger auf moderne Verfahren der Säuglingsforschung zurückgreifen. 2.3.4 Bereits in den dreißiger Jahren entwickelte sich im englischen Exil durch Melanie Klein und W. R. D. Fairbairn die „Objektbeziehungstheorie", auch „Britische Schule" der Psychoanalyse genannt. Besonders diese Richtung erforschte die sog. „frühen" bzw. schweren psychischen Erkrankungen (Borderlinestörungen und Psychosen) und sah deren Ursache in Spaltungsprozessen in den ersten Phasen frühkindlicher Entwicklung. Hier fanden maligne Prozesse, die Freud in der später (seit 1920) entwickelten Theorie vom „Todestrieb" zu erfassen suchte, Berücksichtigung in der psychoanalytischen Theorie und Behandlung. 3. Die verschiedenen theoretischen Konzepte der Psychoanalyse wurden auch auf die "-Sucht angewandt. Freud selbst hat, obwohl er auf dem Boden seiner unterschiedlichen theoretischen Ansätze immer wieder Stellung dazu bezog, der Sucht niemals eine eigenständige Arbeit gewidmet. Dies blieb als erstem Karl Abraham 1908 vorbehalten, der in dieser Pionierarbeit auf dem Boden der früheren Psychoanalyse im Alkoholismus eine „Störung der männlichen Sexualfunktion" sah. Während diese Arbeit heute allenfalls noch historischen Wert hat, fand ein diffuses Konzept von „Oralität" Eingang in psychoanalytische wie populäre Auffassungen von Sucht, da Suchtmittel j a überwiegend auf „oralem Wege" eingenommen werden. Danach sollen Süchtige passivorale, dependente Persönlichkeiten sein, die auf der „oralen Stufe" fixiert geblieben sind. Bereits der ungarische Psychoanalytiker Sandor Rado erkannte in seinen Arbeiten von 1926 und 1934 die Grenzen dieses Konzeptes und leitete für die psychoanalytische Suchttheorie

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den Paradigmenwechsel zur Ichpsychologie ein, indem er den Suchtmittelmißbrauch als einen - zum Scheitern verurteilten - Selbstheilungsversuch eines schwachen Ich definierte. Dieser Ansatz wurde zum Ausgangspunkt lange Zeit vorherrschender Konzepte, die besonders in den USA durch Krystal und Raskin (1970) weiterentwickelt wurden. Hiernach verfügen Süchtige aufgrund von Defiziten in ihrer kindlichen Entwicklung nur über ein schwaches Ich mit ungenügenden Grenzen nach Außen - gegenüber den Anforderungen der Umwelt - wie nach Innen, den eigenen Affekten und Triebwünschen gegenüber. Weiterhin sind die Ichfunktionen der Affektdifferenzierung, der Affektund Frustrationstoleranz, sowie der Realitätsprüfung gestört. Das Suchtmittel wird im Versuch eines Selbstheilungsprozesses zur Stabilisierung dieses schwachen Ichs eingesetzt, „stärkt" dessen Grenzen, dämpft und reguliert die Affekte (Reizschutzfunktion), und läßt die gesamte Welt in einem „rosigeren Licht" erscheinen. Im süchtigen Zirkel gibt das Ich des Abhängigen immer mehr psychische Funktionen auf und geht zu der bereits von Rado beschriebenen „pharmakothymen Steuerung des Ichs" über, die irgendwann unweigerlich zusammenbricht. Die Droge wird zum zentralen Bezugsobjekt des Süchtigen, da sie zwischenmenschliche Beziehungen ersetzt, jederzeit verfügbar ist, und in ihren Funktionen für den Süchtigen oft überdeterminiert ist. Einigen Autoren fiel auf, daß die destruktiven und autodestruktiven Mechanismen, die der Sucht meist innewohnen, in diesem Modell wenig Berücksichtigung finden. Ebenfalls seit den dreißiger Jahren nutzten Simmel, Glover, Rosenfeld und andere daher die Theorien Melanie Kleins zur Erklärung der Sucht. Als Ursache sehen sie eine frühe psychische Spaltung, wobei sich der Süchtige mit einem überwiegend malignen Objekt (der „bösen" Brust) identifiziert hat, das von ihm verinner466

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licht wurde und nun mittels eines heftigen, destruktiven Suchtmittelabusus (Alkohol, Heroin, aber auch Eßstörungen) zu „vergiften" versucht wird, um es damit loszuwerden. Aufgrund der festen Introjektion des bösen Objektes kann am Ende nur die Zerstörung der eigenen Person stehen (Sucht als Selbstzerstörung). Daher kann resümiert werden, daß die Psychoanalyse auf dem Hintergrund unterschiedlicher theoretischer Konzepte verschiedene, in ihrer Schwere differenzierte Formen von Sucht beschreiben kann. Diese sind zusammengefaßt: 3.1.1 Sucht als Folge unbewältigter Triebkonflikte (Neurosen, ödipale Identifikationen mit einem süchtigen Elternteil, auch: Trinken aus Schuldgefühl). 3.1.2 Sucht als Ausdruck einer primären Ichschwäche (strukturelle Ichstörungen, Persönlichkeitsstörungen). 3.1.3 Sucht als autodestruktiver Prozeß infolge der Introjektion eines malignen Objektes (schwere Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typus). 3.2 Je nach Art und Schwere dieser Grundstörungen sind unterschiedliche Behandlungstechniken erforderlich. Während Triebkonflikte („Neurosen") in einer ambulanten, aufdeckenden, eher „klassischen Behandlung" zu bearbeiten sind, bedarf die ichschwache Persönlichkeit zunächst des stützenden Rahmens einer stationären Behandlung sowie der Ichstärkung. Hierzu ist eine stärker begrenzende, strukturierende und direktive Behandlung notwendig. Besonders problematisch sind die Anforderungen an die Behandlungstechnik bei Suchterkrankungen auf autodestruktiver Basis. Hier ist mit einem Symptomwechsel (besonders auch Suizidalität) zu rechnen, und oft wird eine Änderung des Behandlungssettings notwendig. Dabei muß der Therapeut die bisher in der Sucht gebundene und jetzt freiwerdende Aggression aushalten und über „Containing" zur Verinnerlichung gesünderer Objekte beitragen. Insgesamt ist in diesen Fällen mit einer lang-

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jährigen Therapie und einem mehrfachen Wechsel stationärer und ambulanter Behandlungsphasen zu rechnen. Allen Modellen gemein ist der Gedanke, daß die Sucht lediglich das Symptom einer tieferliegenden Erkrankung ist, so daß die Abstinenz von der Droge nur der erste, aber überlebensnotwendige Schritt eines längeren Behandlungsweges ist, in dem erst die eigentlichen Ursachen der Sucht bearbeitet werden können. Nach psychoanalytischer Auffassung ist Sucht in der Mehrzahl der Fälle Ausdruck einer eher schweren, tiefgreifenden „Grundstörung", die über die klassischen Neurosen hinausgeht und daher einer anderen Behandlungstechnik bedarf. 3.3 Durch ihre Persönlichkeitstheorie und ihre Krankheitslehre verfügt die Psychoanalyse wie kein anderes Verfahren über ein breites Instrumentarium zu einer differenzierten Diagnostik jedes einzelnen Patienten und damit auch zur Erstellung eines individuellen Therapieplanes. Dabei zeigt sich immer wieder, daß die Sucht nur ein Symptom unter anderen, „die Spitze des Eisberges" ist, wobei es gerade unter der Bedingung der Abstinenz von der Droge zu immer neuen Symptomverschiebungen kommen kann. Die psychoanalytische Konzeption erfüllt damit alle Bedingungen einer modernen, ursachenbezogenen und differentiellen Diagnostik als Grundlage der Suchtbehandlung mit der Festlegung von Zielen und Grenzen. Die Psychoanalyse ermöglicht eine weitere Professionalisierung der Suchtarbeit. 4. Es muß eingeräumt werden, daß Psychoanalytiker Süchtige oft stiefmütterlich behandeln und sich heute nur wenige namhafte Analytiker praktisch wie theoretisch mit Sucht befassen (Ausnahme: Wurmser 1997). Dennoch hat das psychoanalytische Vorgehen in stationären wie ambulanten Behandlungseinrichtungen in Deutschland seit den siebziger Jahren zunehmende Verbrei-

Psychoanalyse

tung erfahren und gehört zu den von den Kostenträgern anerkannten Weiterbildungsverfahren. Grenzen findet der psychoanalytische Ansatz in der therapeutischen Praxis mit Süchtigen. Das sogenannte klassische Setting mit therapeutischer Abstinenz, der Couch, und drei bis fünf Wochenstunden im Liegen ist für Süchtige kontraindiziert. Eine aktivere Technik ist erforderlich, wobei eine längerfristige therapeutische Begleitung anzustreben ist. Ein zu intensives und regressionsförderndes Arbeiten birgt die Gefahr von Rückfällen. Für die ambulante Arbeit scheint daher ein langfristig angelegtes Setting mit ein, höchstens zwei Behandlungsstunden pro Woche, face-to-face angezeigt, wobei sich der Therapeut aktiv und strukturierend, wenn erforderlich supportiv, Gefühle spiegelnd und benennend einbringen muß. Eine solche Behandlungstechnik ist u. a. von A. Heigl-Evers entwickelt und beschrieben worden und findet im Weiterbildungsgang für analytisch orientierte Sozialtherpaie (Bilitza u. a. 1993) Anwendung. Der Therapeut muß sich als ein stabiles, zuverlässiges Objekt anbieten. Aufgrund der starken Bedeutung des Objektes „Droge" sollte dessen Entzug unter dem Schutz eines stationären Rahmens erfolgen. Wünschenswert wäre aber eine bessere Integration und Verzahnung der Behandlungseinrichtungen; optimalerweise sollte der gleiche Therapeut den Patienten sogar stationär wie ambulant behandeln können (Objektkonstanz). In der Behandlungstechnik sind die Grenzen zwischen dem psychoanalytischen und anderen Verfahren fließend, da die klassische Analysetechnik zumindest in den ersten Jahren der Suchtmittelabstinenz nicht indiziert ist. Von einer eigenständigen psychoanalytischen Behandlungstechnik für Süchtige kann daher nur bedingt gesprochen werden. Wie keine andere Theorie vermag jedoch die Psychoanalyse den Blick auf den Gesamtzusammenhang des Sym467

Psychodrama

Psychologische Konzepte

ptoms „Sucht" für die ganze Gesellschaft wie für einen individuellen Fall zu öffnen und damit dazu verhelfen, Diagnostik wie Behandlung auf eine breitere wie differenziertere Grundlage zu stellen. Damit wird die Psychoanalyse auf längere Sicht ermöglichen, die zum Scheitern verurteilten rein symptom· und anpassungsorientierten Techniken überwinden zu helfen. -•Psychotherapie Lit.: Abraham, K., Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus. Zeitschrift für Sexualwissenschaft 8 (1908), 4 4 9 ^ 5 8 ; Arlow, J. Α., Brenner, Ch., Grundbegriffe der Psychoanalyse, Reinbek b. Hamburg, 1976; Bilitza, K. W. (Hrsg.), Suchttherapie und Sozialtherapie, Psychoanalytisches Grundwissen für die Praxis. Göttingen-Zürich, 1993; Freud, S., Ges. Werke in 18 Bänden. London-Frankfurt, 1952-1968; Glover, E„ Zur Ätiologie der Sucht. Int. Z. Psa. 19 (1933), 170197; Krystal, H„ Raskin, Η. Α., DrugDependence - Aspects of Ego Function, Detroit, 1970. Dt.: Drogensucht. Aspekte der Ichfunktion, Göttingen, 1983; Laplanche, J., Pontalis, J.-B., Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt, 1972; Rado, S., Psychoanalyse der Pharmakothymie. Int. Z. Psa. 20 (1934), 360-376; Rost, W.-D., Psychoanalyse des Alkoholismus. Theorie, Diagnostik, Behandlung. Stuttgart, 1987; Sandler, J„ Dare, Ch., Holder, Α., Die Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie, Stuttgart, 1973; Simmel, E., Alcoholism and Addiction, Psychoanalytic Quarterly 17 (1948), 6-31. Dt.: Alkoholismus und Sucht. In: Simmel, E., Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Frankfurt 1993; Wurmser, L., Die verborgene Dimension. Psychodynamik des Drogenzwangs, Göttingen, 1997. Wolf-Detlef Rost, Gießen Psychodrama -•Psychotherapie, -•Humanistische Psychologie 468

Psychologie Die P. ist heute ein komplexes Wissenschaftsgebiet mit verschiedenen Fachrichtungen und Schulen. Im Fokus der P. stehen die subjektiven Lebensvorgänge in Korrelation mit deren Ursachen und Wirkungen. Die P. hat mit ihrem Einfluß in der Wissenschaftsgeschichte viel dazu beigetragen, daß neben somatischen (medizinischen) auch psychische und soziale Aspekte bei der Genese von Sucht berücksichtigt werden. -»Genese; -•Psychologische Konzepte Psychologische Konzepte 1. Sucht. Der Begriff Sucht (engl, addiction) ist im alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch international fest verwurzelt. Fachzeitschriften wie Addiction oder Sucht, Institutionen wie z.B. die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren oder die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie haben den Begriff in ihre Namensgebung integriert. In der Literatur findet sich keine einheitliche Definition des Begriffes Sucht. Die definitorischen Probleme haben die Weltgesundheitsorganisation 1964 zu dem Vorschlag veranlaßt, im Zusammenhang mit der Einnahme von Substanzen auf den Begriff Sucht zu verzichten. Diagnostische Klassifikationssysteme wie das ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) oder DSM-IV (American Psychiatric Association (APA), 1995) folgten dieser Auffassung und verwendeten nur noch die Begriffe Abhängigkeit oder Mißbrauch bzw. schädlicher Gebrauch. In der klinischen Psychologie werden Süchte von Zwangsstörungen und der Anorexia sowie Bulimia abgegrenzt. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe Magersucht und Eß-Brechsucht eher irreführend. Bei vielen anderen Störungen, wie z.B. pathologisches Spielen, pathologisches Stehlen oder Kaufen besteht eine ätiologische und phänomenologische Nähe zu substanzgebundenen Süchten. Sie werden daher

Psychologische Konzepte

oft auch als nicht-substanzgebundene Süchte bezeichnet. Die Entstehungsbedingungen (~>Genese) und der Verlauf von Suchterkrankungen sind komplex und vielgestaltig. Multikonditionale Modelle , die Interaktionen zwischen der (1) Wirkung des Suchtmittels, (2) angeborenen sowie erworbenen individuellen Dispositionen des Suchtmittelkonsumenten und (3) die sozio-kulturelle Umwelt berücksichtigen, haben den höchsten Erklärungswert. Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Sucht ist die physiologische und psychologische Gewöhnung an ein Suchtmittel, in deren Folge eine Toleranzbildung auftreten kann. Hierbei werden für eine Intoxikation oder andere angestrebte Effekte immer größere Mengen der Substanz benötigt, und bei gleichbleibender Konsummenge treten immer geringere Effekte auf. Süchte sind von Gewohnheiten abzugrenzen. Eine Sucht beinhaltet im Gegensatz zu einer Gewohnheit eine erhebliche Bedürfnisspannung. Die Ausprägung und Schwere einer Sucht gilt als entscheidende Wirkkomponente bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Substanzabhängigkeiten. Psychologische Suchttheorien beruhen überwiegend auf bekannten Modellen der Psychopathologie und Psychotherapie. Lerntheoretische, kognitiv-behaviorale und psychoanalytische Konzepte haben die Theorie- und Modellbildung am nachhaltigsten geprägt. Konzepte der -•Humanistischen Psychologie haben zwar einen relativ hohen Stellenwert in der Beratung und Behandlung von Süchten ( •Motivational Interviewing), ihr Beitrag zur Theoriebildung ist jedoch eher gering. Aus diesem Grunde wird auf die Darstellung humanistischer Störungskonzepte verzichtet. Auf psychoanalytische Sucht-Theorien wird im folgenden Text ebenfalls nicht eingegangen, weil sie bereits unter dem Stichwort -»Psychoanalyse behandelt werden.

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Die meisten Befunde der psychologischen Suchtforschung basieren auf Untersuchungen zu Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit. Sie lassen sich nicht uneingeschränkt auf andere Substanzen übertragen. 2. Lerntheoretische Modelle. Auf Basis von Tierexperimenten wurde die Beeinflussung des Alkoholkonsums durch Prozesse der klassischen und operanten Konditionierung mehrfach untersucht. Von zentraler Bedeutung war hierbei die angst- oder spannungsreduzierte Wirkung von Alkohol. In Tierversuchen konnte gezeigt werden, daß experimentell herbeigeführte Streßreaktionen durch die Gabe von Alkohol gegenüber Kontrolltieren reduziert werden und Versuchstiere unter Streßbedingungen eine Präferenz für Alkohol entwickeln. Masserman und Yum (1946) hatten ζ. B. Katzen während des Fressens einem kalten Luftstrom ausgesetzt, mit der Folge, daß sie abmagerten und an Dominanz gegenüber einer Kontrollgruppe verloren. Gleichzeitig hatten die Katzen der Experimentalgruppe eine Präferenz für Milch, die mit Alkohol versetzt war, während die Kontrollgruppe reiner Milch den Vorzug gab. Weiter untermauert wurde die Angst- oder Spannungs-Reduktions-Hypothese durch Untersuchungen, in denen Versuchspersonen auf experimentell induzierte Streßerfahrung mit verstärktem Alkoholkonsum reagierten. Aufgrund des breiten Wirkspektrums von Alkohol können verschiedene Annahmen der Lerntheorie als Erklärung für den fortgesetzten Konsum eines Suchtmittels herangezogen werden. In der Regel werden Suchtmittel zunächst einmal konsumiert, weil sie angenehme Empfindungen steigern oder initiieren können. Suchtmittel werden aber auch eingenommen, um subjektiv negative physische oder psychische Empfindungen, die z.B. bei Angst oder Streß auftreten können, abzumildern. Situationen, in denen solche negativen Empfin-

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düngen konkret auftreten oder erwartet werden, wird dann zunehmend mit Konsum des Suchtmittels begegnet. Das Verlangen, das Suchtmittel zu konsumieren, wird also durch die subjektiv empfundene angenehme Wirkung und zusätzlich durch die Verhinderung unangenehmer Empfindungen im Sinne der Lerntheorie verstärkt und führt auf diese Weise allmählich zur Sucht. Experimentell induziertes „süchtiges" Verhalten bei Versuchstieren ist reversibel. Es baut sich ab, wenn die positiven Wirkungen des Substanzkonsums ausbleiben oder negative Folgen überwiegen. Im Gegensatz dazu wird süchtiges Verhalten von vielen Menschen auch bei erheblichen negativen Konsequenzen oder dem Ausbleiben positiver Konsequenzen aufrecht erhalten. Dieses steht im Widerspruch zu den Annahmen der Lerntheorie. Eine Erklärung dieser Löschungresistenz wird darin gesehen, daß die Wirksamkeit von Belohnung und Bestrafung eines Verhaltens über die Zeit abnimmt. Eine zeitlich unmittelbare Angst- oder Spannungsreduktion durch den Substanzkonsum wirkt somit stärker als schwerwiegende Folgen, die erst später eintreten und somit weniger Einfluß auf das aktuelle Verhalten haben. 3 - Kognitiv-behaviorale Modelle. Kognitiv-behaviorale Modelle entwickelten sich auf Basis lern theoretischer Konzepte, die durch die Grundannahme des Einflusses kognitiver Prozesse auf das Verhalten erweitert wurden. Der Begriff Kognition umfaßt die Prozesse des Wahrnehmens, Erkennens, Begreifens, Urteilens und Schließens. Es handelt sich hierbei um aktive Interpretationsprozesse, die das Verhalten maßgeblich beeinflussen. Hull (1981) spezifizierte die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Spannungsreduktions-Theorie. Aufgrund experimenteller Befunde herabgesetzter Selbstaufmerksamkeit unter Alkoholeinfluß sowie der Beobachtung eines gesteigerten Alkoholkonsums bei 470

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induzierter Frustration vermutete er, daß die spannungsreduzierende Wirkung auf eine herabgesetzte Selbstaufmerksamkeit unter Alkoholeinfluß zurückzuführen ist. Negative Gedanken über das eigene Ich werden durch den Alkohol sozusagen weggespült. Ellis formulierte vor dem Hintergrund seines rational-emotiven Therapiekonzepts die sogenannte ABC-Theorie psychischer Störungen (Ellis, Mclnerney, DiGiuseppe, & Yeager, 1988). Er postulierte, daß Ereignisse (A = activating experience or events) auf kognitiver Ebene durch bestimmte Überzeugungen, Einstellungen und Bewertungen (B = beliefs, attitudes, thoughts, self-statements) mehr oder weniger adäquat interpretiert werden. Die emotionalen Reaktionen und das Verhalten (C = consequences, emotional and behavioral) werden im wesentlichen durch diese Überzeugungen determiniert. Irrationale Überzeugungen liegen dann vor, wenn sie von einer rational nachvollziehbaren Interpretation der Ereignisse abweichen. Ellis geht davon aus, daß im wesentlichen irrationale Überzeugungen für die Entwicklung und Chronifizierung von situationsunangemessenen emotionalen Störungen und Ängsten verantwortlich sind. Die irrationalen Überzeugungen veranlassen den Betroffenen zu persistierenden negativen Selbstwahrnehmungen. Eine Herabsetzung der Selbstaufmerksamkeit durch Alkoholkonsum im Sinne von Hull (s. o.), kann den Betroffenen jedoch von seinen negativen Selbstwahrnehmungen entlasten. Eine Chronifizierung des Alkoholkonsums wäre wahrscheinlich, weil die irrationalen Überzeugungen als relativ stabile Merkmale angesehen werden. Ellis geht davon aus, daß irrationale Überzeugungen die Frustrationstoleranz erheblich herabsetzen und einen affektiven Zustand herbeiführen, den er als discomfort anxiety oder discomfort disturbance bezeichnet (Ellis et al„ 1988, S. 24). Hiermit ist eine Emotion gemeint, die auftritt, wenn Schmerzen, Beschwerden

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oder Unannehmlichkeiten antizipiert werden. Der Alkoholkonsum dient dabei im wesentlichen der Pufferung dieser negativen Emotion. Die Entstehung und Aufrechterhaltung von Substanzabhängigkeit wird durch die unmittelbare Wirksamkeit einer Droge gefördert. „The reason addictions are too easy to create and maintain is that no cognitive or behavioral strategy can eliminate the discomfort anxiety as quickly and as effortlessly as chemicals" (S. 27). In verschiedenen Untersuchungen unterschieden sich rückfällige von nicht rückfälligen Alkoholabhängigen, sowohl im Ausmaß allgemeiner irrationaler Überzeugungen als auch alkoholspezifischer irrationaler Überzeugungen. In sozialpsychologischen Experimenten wurde der Zusammenhang von Alkoholkonsum und kognitiver Dissonanz untersucht. Unter Dissonanz wird ein unangenehmer Zustand psychischer Anspannung verstanden. Die Kognitive Dissonanztheorie besagt, daß eine Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten Dissonanz induziert. Der Abbau von Dissonanz wird als wesentlicher Impetus der Änderung von Einstellung oder Verhalten angesehen. Es konnte gezeigt werden, daß Alkoholkonsum bei experimentell induzierter Dissonanz ansteigt und Einstellungsänderungen bei Alkoholkonsum weniger wahrscheinlich sind. Diese experimentellen Befunde stimmen überein mit der Beobachtung, daß viele Substanzabhängige für sie im Grunde nicht mehr akzeptable Wohn-, Arbeits- oder Lebensumstände sowie Partnerschaftsbeziehungen aufrechterhalten und erst nach Beendigung des Substanzkonsums aktiv verändern. Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1975) geht davon aus, daß objektiver und/oder subjektiv erlebter Mangel an Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu der verallgemeinerten Überzeugung führt, seine Probleme nicht beeinflussen zu können. In der Depressionsforschung wurde die er-

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lernte Hilflosigkeit als eine Ursache für das höhere Depressionsniveau bei Frauen angesehen. Das Konzept wurde auch zur Interpretation von Geschlechtsunterschieden bei der Entstehung des Alkoholismus herangezogen. Es konnte gezeigt werden, daß Alkoholikerinnen sich überdurchschnittlich häufig den Forderungen anderer fügten und Schwierigkeiten aus dem Weg gingen (Mantek, 1979). Später wurde das Konzept der erlernten Hilflosigkeit zu einer attributionsorientierten Fassung revidiert (Abramson, Seligman & Teasdale, 1978; Peterson & Seligman, 1984). Zentraler Bestandteil des revidierten und erweiterten Konzeptes der erlernten Hilflosigkeit ist ein Attributionsschema, das eine Einteilung von Mißerfolgsattributionen erlaubt. Unterschieden wird hierbei zwischen interner versus externer, stabiler versus unstabiler und umfassender versus spezifischer Mißerfolgsattributionen, insbesondere eine interne, stabile und umfassende Attribution wird als prognostisch ungünstiges Merkmal im Verlauf von Substanzabhängigkeit angesehen (DeJong-Meyer & Heyden, 1993; Marlatt & Gordon, 1985). Die beschriebenen theoretischen Ansätze implizieren, daß insbesondere negative Aspekte des Denkens und Empfindens unter Alkoholeinfluß einer reduzierten Wahrnehmung unterliegen. Nach Scherer und Scherer (1994) bedarf es einer differenzierteren Betrachtung der Beziehung zwischen Alkohol und Emotion. Drei wesentliche Fragen gilt es in diesem Zusammenhang zu beantworten: (1) Welche Auswirkungen hat der Alkoholkonsum auf die Emotionslage des Individuums? (2) Wie wirkt sich die Emotionslage des Individuums auf den Alkoholkonsum aus? (3) Führen Unterschiede in der emotionalen Reagibilität zu Unterschieden im Alkoholkonsum? Die Auswirkung des Alkohols auf die Emotionslage ist zwar evident, aber bisher nicht eindeutig bestimmbar. Es besteht eine erhebliche interindividuelle 471

Psychologische Konzepte Varianz, die durch biologische, psychologische, biographische und situative Faktoren beeinflußt wird. Scherer und Scherer sehen emotionale Reagibilität als wesentliche Voraussetzungen für Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit an. Sie definieren sie in Anlehnung an Tarter (Tarter, 1988; Tarter, Alterman, & Edwards, 1985; Tarter & Edwards, 1987), als Instabilität im Sinne einer Disposition, leicht und schnell affektiv zu reagieren, verstärkt durch eine verlangsamte Rückkehr zu einem beruhigten und ausgeglichenen Zustand. Der Substanzkonsum dient der Bewältigung von Affektlagen. In Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß Personen, die eine positive Wirkung von Alkohol erwarteten, insbesondere in Bezug auf sein Potential zur Streßreduktion, eher zum Mißbrauch von Alkohol neigen als Menschen, die diese Erwartung nicht haben. Eine Reihe von Arbeiten im Bereich der kognitiv-behavioral orientierten Coping-Forschung hat den Mangel an Coping-Fertigkeiten als wesentliche Bedingung der Entwicklung und Aufrechterhaltung von süchtigem Verhalten bestimmt. Marlatt (1976, 1979) fand fünf spezifische Situations- und Personenmerkmale, die Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit exzessiven Alkoholkonsums haben: (1) Die Intensität der subjektiv erlebten Belastung; (2) die Wahrnehmung individueller Kontrollmöglichkeiten; (3) die Verfügbarkeit alternativer Coping-Fertigkeiten und die Ausprägung dazugehöriger Kompetenzüberzeugungen; (4) die Erwartung eines alkoholspezifischen Effektes (z.B. Entspannung); (5) die Verfügbarkeit von Alkohol und sozial erwarteter Alkoholkonsum. Krampen (1987) verbindet in seinem hierarchischen, handlungstheoretischen Partialmodell der Persönlichkeit differenzierte, erwartungswert-theoretische Modellvorstellungen mit persönlichkeitspsychologischen Konstrukten. Der Situationswahrnehmung und -struktu472

Psychologische Konzepte rierung wird hierbei eine entscheidende Rolle für das Verhalten zugewiesen (Krampen & Fischer, 1988): Auf der untersten Stufe des Modells werden situationsspezifische Erwartungen lokalisiert, die auf der zweiten Stufe zu bereichsspezifischen Erwartungshaltungen generalisiert werden. Eine dritte Ebene enthält Erwartungshaltungen, die über alle Lebensbereiche verallgemeinert werden und schließlich auf der obersten Ebene, als generalisierte Erwartungshaltungen, Persönlichkeitsmerkmale repräsentieren. Scheller und Lemke (1994) ergänzten Marlatts Modell der Prädiktion von exzessivem Alkoholkonsum durch die Modellbildung von Krampen. Hierbei steht die Überlegung im Vordergrund, daß sich aus den ersten vier der fünf situationsspezifischen Variablen durch Generalisierungslernen übergreifende handlungstheoretische Persönlichkeitsmerkmale ausbilden können: 1. Unterschiedliche Situationen, denen das Erleben von Streß gemeinsam ist, werden von einer Person als gleichartig wahrgenommen. Sie aktivieren daher auch funktional ähnliche Handlungen (Coping-Strategien). 2. Die Wahrnehmung eigener Kontrollmöglichkeiten in spezifischen Streßsituationen wird zur bereichsspezifischen Kontrollüberzeugung für die Klasse der belastenden Situationen generalisiert. Diese bereichsspezifische Kontrollüberzeugung beeinflußt die Ausbildung der allgemeinen Kontrollüberzeugung. 3. Die Verfügbarkeit unterschiedlicher Bewältigungsfertigkeiten steht in enger Beziehung zum Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1982; Maddux, 1991). Die Selbstwirksamkeitserwartung in bestimmten Streßsituationen wird zum Selbstkonzept eigener Problemlösefähigkeit verallgemeinert. Diese Fähigkeit trägt zusammen mit anderen bereichsspezifischen Erwartungen zur Ausbildung des Selbstkonzepts eige-

Psychologische Konzepte ner Fähigkeiten bei (Kompetenzüberzeugung). 4. Die Erwartung, daß Substanzkonsum Spannungen zu lösen vermag, wird auf die gesamte Klasse der streßinduzierenden Situationen bezogen. Die Annahmen von Scheller und Lemke implizieren keine von vornherein vorliegenden prämorbiden Persönlichkeitsstrukturen mit entsprechend fehlangepaßten Coping-Strategien. Sie gehen vielmehr davon aus, daß sich die Persönlichkeitsmerkmale, die eine Entstehung von süchtigem Verhalten begünstigen, erst durch entsprechende Lernerfahrungen im Umgang mit Alkohol herausbilden. Die Relevanz von biologischen, sozialen und Umweltbedingungen werden von den kognitiv-behavioralen Modellen nicht negiert, sondern als zusätzliche Einflußgröße integriert. Sucht wird nicht als unbeeinflußbare Krankheit gesehen, sondern als potentiell reversible Störung. Substanzkonsum, der einer vermeintlichen Bewältigung von Problemen diente, kann durch adäquatere Bewältigungsstrategien ersetzt werden und hierdurch eine Uberwindung der Sucht unterstützen. -»Psychoanalyse; -»Soziologische Konzepte; -»-Verhaltenstherapie Lit.: Abramson, L. Y., Seligman, Μ. E. P., Teasdale, J. D. (1978), Learned helplessness in humans. Critique and reformulation. Journal of Abnormal Psychology, 87, 49-74; American Psychiatric Association (APA) (Hrsg.), (1995), Diagnostic and statistical manual of mental disorders, DSM-IV (4. Aufl.), APA; Bandura, A. (1982), Self-Efficacy Mechanism in Human Agency. American Psychologist, 37, 122-147; DeJongMeyer, R„ Heyden, Τ. (Hrsg.), (1993), Rückfälle bei Alkoholabhängigen, München, Gerhard Roettger Verlag; Dilling, H„ Mombour, W„ Schmidt, Μ. H. (1991), Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F), Bern, Huber; Ellis, Α., Mclner-

Psychologische Konzepte ney, J. F., DiGiuseppe, R., Yeager, R. J. (1988), Rational emotive therapy with alcoholics and substance abusers, New York, Pergamon Press; Hull, J. G. (1981), A self-awareness model of the causes and effects of alcohol consumption. Journal of Abnormaly Psychology, 90, 586-600; Krampen, G. (1987), Handlungstheoretische Persönlichkeitspsychologie. Konzeptuelle und empirische Beiträge zu Konstrukterhellung, Göttingen, Hogrefe; Krampen, G., Fischer, M. (1988), Meßansätze für Kontrollorientierungen von Alkoholikern. Literaturübersicht, theoretische Bezüge und erste Befunde zu einem neuen Meßmodell. Trierer Psychologische Berichte, 15, Heft 1; Maddux, I. Ε. (1991), Self-efficacy. In: C. R. Snyder, D. R. Forsyth (Hrsg.), Handbook of social and clinical psychology (S. 57-78), New York, Pergamon Press; Mantek, M. (1979), Frauen-Alkoholismus, München; Marlatt, G. A. (1976), Alcohol, stress and cognitive controll. In: I. G. Sarason, C. D. Spielberger (Hrsg.), Stress and anxiety (S. 271-296), New York, John Wiley & Sons; Marlatt, G. A. (1979), Alcohol use and problem drinking: A cognitive-behavioral analysis. In: P. C. Kendall, S. D. Hollop (Hrsg.), Cognitive-behavioral interventions. Theory, research, and procedures (pp. 319-355), New York, Academic Press; Marlatt, G. Α., Gordon, J. R. (Hrsg.), (1985), Relapse prevention. Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors, New York, Guilford Press; Masserman, J. H., Yum, K. S. (1946), An analysis of the influence of alcohol on experimental neuroses in cats. Psychosom. Med., 8, 36; Peterson, C. & Seligman, Μ. E. P. (1984), Causal explanations as a risk factor for depression: Theorie and evidence. Psychological Review, 91, 357-374; Scheller, R„ Lemke, P. (1994), Streßbewältigung, Kontroll- und Kompetenzüberzeugungen von Alkoholikern, SUCHT, 4, 2 3 2 243; Scherer, U„ Scherer, K. (1994), Emotionale Reagibilität, Bewältigungs473

Psychopharmaka

Psychose

Strategien und Alkoholismus. In: E. Heim, M. Perret (Eds.), Krankheitsverarbeitung, Göttingen, Hogrefe; Seligman, Μ. Ε. P. (1975), Erlernte Hilflosigkeit, (3. Aufl.), München, Weinheim, Psychologie Verlags Union; Tarter, R. E. (1988), Are there inherited behavioral traits that predispose to substance abuse? Journal of Consulting and Clinical Psychology, 56, 189-196; Tarter, R. E„ Alterman, A. I. & Edwards, K. L. (1985), Vulnerability to alcoholism in men: A behavior-genetic approach. Journal of Studies on Alcohol, 46, 3 2 9 356; Tarter, R. E„ Edwards, K. L. (1987), Vulnerability to alcohol and drug abuse: a behaviour-genetic view, Journal on Drug Issues, 17, 67-81. Ulfert Hapke, Greifswald Psychopharmaka P. beeinflussen die Aktivitäten des Zentralen Nervensystems (ZNS) und wirken auf Stimmung und Emotionalität ein. Psychopharmaka werden in folgende Gruppen unterteilt: -»Antidepressiva, - •Neuroleptika, Transquilizer. I.w.S. gehören auch Lithium, Schlafmittel und Sedativa dazu. P. werden zur Behandlung psychischer Krankheiten eingesetzt. Ein Abhängigkeitspotential haben -»Tranquilizer, -»Benzodiazepine und die -»Psychostimulanzien (-»Amphetamine, Appetitzügler). Bei Lithium, Neuroleptika und Antidepressiva wurden bisher keine Abhängigkeiten beobachtet. Tranquilizer sind die zur Zeit meistverordneten Psychopharmaka. -»Iatrogene Sucht; -»Medikamentenabhängigkeit; -»Psychopharmakologie Psychopharmakologie Die P. ist Teil der Pharmakologie, der Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und lebenden Organismen. In der Psychopharmakologie geht es wesentlich um die Wechselwirkung zwischen Arzneimitteln und Hirnfunktionen wie Stimmung, Emotionalität, -»Wahrnehmung und 474

Verhalten. Zu den wichtigsten Entdekkungen gehörten die Wirkungsweisen von -»Alkohol, -»Koffein, -»Nikotin, -»Kokain und Opium (-»Geschichte des Opiums) und die Entwicklung von Anwendungsbereichen wie Schmerzbetäubung oder Stimulation. Eine besondere Problemstellung der P. sind die Nebenwirkungen von Psychopharmaka. Ein Medikament, das symptomatisch und psychoaktiv wirkt, hat in der Regel unerwünschte Nebenwirkungen, so daß häufig großen Entdeckungen, wie die der -»Amphetamine, -»Barbiturate, -»Anti-Depressiva, Tranquilizer u.a.m. die ebenso große Ernüchterung folgte: ein nicht geringer Teil der Psychopharmaka hat ein erhebliches Suchtpotential. -•Medikamentenabhängigkeit Psychose 1. Definition. P.n haben im Kontext eines schädlichen Konsums -»psychotroper Substanzen vor allem unter zwei Aspekten Bedeutung: 1. als direkte oder indirekte Folge des Konsums verschiedener Substanzen insbesondere in der Form eines Delirs und 2. als -»Komorbidität beispielsweise von schizophrenen P.n und Sucht. Die Diagnose des Delirs erfolgt a) durch den Nachweis eines organisch bedingten psychischen Syndroms, z.B. einer Intoxikation und b) durch den Nachweis eines bestimmten organischen Faktors, z.B. des Suchtmittels. Diese Syndrome zeigen eine große Variabilität bei verschiedenen Personen bzw. bei derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten. Es könnte gleichzeitig mehr als ein organisch bedingtes Psychosyndrom bei einer Person bestehen (z.B. Delir auf Grundlage einer Demenz), und ein organisch bedingtes psychisches Syndrom kann auf ein anderes folgen (z.B. Delir bei Thiaminmangel, Wernicke-Encephalopathie, gefolgt von einer alkoholbedingten amnestischen Störung, Korsakow-Syndrom, zum großen Teil psychische Krankheiten infolge langjährigen Alkoholkonsums).

Psychose Als allgemeine Hauptmerkmale des Delirs, unabhängig von der zugrundeliegenden Noxe, werden im ->ICD-10 wie im -•DSM-III-R genannt: verminderte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gegenüber äußeren Reizen aufrecht zu erhalten oder in angemessener Weise auf neu auftretende Außenreize zu richten, Denkstörungen wie Weitschweifigkeit und belanglose, inkohärente Sprache, Verminderung der Bewußtseinsklarheit, Wahrnehmungsstörungen und Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Dazu kommen psychomotorische Überaktivität, Desorientierung und Gedächtnisstörungen. Nach plötzlichem Beginn ist der Verlauf typischerweise stark schwankend und kurz. Früher wurde das Delir als sog. exogene P. interpretiert. Eine spezielle eigene Kategorie wurde im ICD-10 (Dilling 1993) für substanzinduzierte psychotische Störungen eingeführt, d. h. ein psychotischer Zustand, der während oder unmittelbar nach der Einnahme einer Substanz auftritt und in der Regel innerhalb eines Monats zumindest teilweise und innerhalb von 6 Monaten vollständig zurückgeht. Diese Einordnung soll vorherige Kategorien wie Alkoholhalluzinose, alkoholischer Eifersuchtswahn und Alkoholpsychose ersetzen. Differentialdiagnostisch ist das Delir und andere psychotische Syndrome als Folge von Konsum abzugrenzen von schizophrenen Syndromen. Die bei beiden Störungen auftretenden Symptome sind in der Regel beim Delir zusammenhanglos, zufällig und ohne Zeichen einer Systematisierung. Der Verlauf schwankt stärker, und die Aufmerksamkeitsstörungen sind deutlicher ausgeprägt. Die Delir-Patienten sind außerdem im Durchschnitt 10 Jahre älter und haben eine sehr viel ausgeprägtere Suchtanamnese mit höheren Konsummengen. Die Schizophrenien sind eine der großen Gruppen psychischer Störungen, beschrieben im Kapitel F2 der ICD-10 (Dilling 1993). Die für die Diagnose entscheidenden Symptome ersten Ran-

Psychose ges oder Leitsymptome sind z.B. das Hören von Stimmen in Rede und Gegenrede, das Gefühl des Gemachten und Beeinflußten und die typischen Denkstörungen, wie Gedankenabreißen, Gedankenblock oder Gedankenentzug. Tritt eine Schizophrenie als größte und klinisch bedeutsamste Gruppe der P.n zusammen mit einem schädlichen Konsum psychotroper Substanzen auf, spricht man von -•Komorbidität im Sinne der deskriptiven Psychopathologie. Generell wird dem Kliniker in den heutigen modernen diagnostischen Systemen, entsprechend dem Komorbiditätsprinzip empfohlen, „so viele Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des klinischen Bildes notwendig" (Dilling 1993: 24). 2. Theoretische Konzepte, Schulen, Forschungsansätze - Drogeninduktion Das Konzept der Drogeninduktion von P.n wurde vor allem in den siebziger und achtziger Jahren diskutiert. Die größte Untersuchung im deutschsprachigen Raum wurde von Täschner (Täschner 1983) vorgelegt. Durch sie sollte überprüft werden, ob sich P.n bei Drogenkonsumenten anhand des psychopathologischen Querschnittbildes als eigene abgrenzbare Krankheitsbilder darstellen und ob eine psychopathologische Abgrenzung von endogen schizophrenen Bildern möglich sei. Nach der Untersuchung von insgesamt 237 Patienten mit der kombinierten Diagnose Drogenabhängigkeit und P., die er mit einer Kontrollgruppe von 219 schizophrenen Patienten des gleichen Behandlungszeitraumes verglich, kam er zu dem Ergebnis, „daß die Symptomatik beider Krankheitsbilder weitgehend übereinstimmt", und er faßte zusammen: „Nach dem Ergebnis unserer Untersuchung muß davon ausgegangen werden, daß eine eigene Krankheitseinheit ,Cannabisp.' ebensowe475

Psychose nig existiert wie eine eigene Krankheitseinheit .drogeninduzierte P.' " (S. 235). Einen besonderen Forschungsansatz stellten Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die Untersuchungen zur experimentellen Auslösung psychotischer Symptomatik durch sensorische Deprivation oder durch LSD-Konsum dar (Hebb 1955; Leuner 1962). Leuner subsummiert seine Ergebnisse in der Auffassung, daß sogenannte endogene von sogenannten exogenen P.n anhand der Symptomatik nicht klar voneinander zu trennen seien: „Der nosologische Unterschied zwischen endogenen und körperlich begründbaren P.n im Sinne von Kurt Schneider erscheint zwar von der Kenntnis der Ursache der letzten her begründet, nicht aber grundsätzlich von der Phänomenologie ihrer Erscheinungsbilder" (Leuner 1962). Zusammenfassend kann aus diesem Forschungsbereich für die Wechselwirkung von schizophrener P. und stofflichem Mißbrauch festgestellt werden, daß es häufig zu einem gemeinsamen Auftreten insbesondere von Cannabis- und Amphetaminabusus und psychotischer Symptomatik kommt. Zwischen den in diesem Zusammenhang auftretenden klinischen Bildern und einer „reinen" schizophrenen Symptomatologie gibt es keinen prinzipiellen Unterschied, kein Symptom tritt nur in einem Zusammenhang auf. Eine eigene nosologische Krankheitseinheit „drogeninduzierte P." ist nicht nachzuweisen. Es besteht die begründete Annahme, daß es sich in diesen Fällen i.d.R. bei längeren Verläufen um eine Komorbidität im obigen Sinne handelt. - Selbstmedikation Eine verbreitete Interpretation des sehr hohen Prozentsatzes von Patienten mit einer schizophrenen P., die auch einen schädlichen Konsum psy476

Psychose chotroper Substanzen betreiben, ist die Vermutung, daß diese damit versuchen, im Sinne einer Selbstmedikation die eigene psychische, besonders die affektive Situation zu beeinflussen. Angesichts der hohen Rate von verschiedenen Nebenwirkungen der traditionellen Neuroleptika, wollen die Patienten diesen entgehen, gleichzeitig aber die eigene emotionale Situation stabilisieren (Khantzian in Krausz & Müller-Thomsen 1994). - Verlaufsforschung Eines der wichtigsten Ergebnisse von Langzeitstudien über den Verlauf schizophrener P.n und die Bedeutung von Ko- und Multimorbidität ist eine erhöhte Chronifizierungstendenz, eine Entwicklung, die bei dem Aufeinandertreffen zweier in der Regel chronischer Prozesse naheliegt, aber in ihrem Ausmaß und Wechselverhältnis bisher kaum untersucht ist. Ein anfangs teilweise funktioneller Konsum im Sinne einer emotional beruhigenden Wirkung schlägt im Verlauf in ein zusätzliches Chronifizierungsrisiko um. 3. Stellenwert für die Praxis der Suchtprävention, und -therapie. In epidemiologischen Studien wurde das Ausmaß der Komorbidität von Abhängigkeitserkrankungen und einer großen Zahl weiterer psychiatrischer Erkrankungen belegt. Danach haben Patienten mit einer schizophrenen P. je nach regionalen Besonderheiten ein ca. zehnmal höheres Risiko zur Entwicklung von Alkoholabusus und ein achtmal höheres Risiko zur Entwicklung von Drogenabusus als Nichtschizophrene. Bei ca. 50% der Klienten mit der Diagnose einer schizophrenen oder schizophreniformen P. waren in der Anamnese zumindest die Kriterien für eine Form von stofflichem Mißbrauch erfüllt. Insbesondere in den Einrichtungen psychiatrischer Akutbehandlung wurden bei über 50% der Patienten sowohl eine schwere psychiatri-

Psychose sehe Erkrankung als auch ein stofflicher Mißbrauch festgestellt. Insbesondere in den achtziger Jahren sind mehrere Studien in den U S A dem Zusammenhang zwischen schwerer psychiatrischer Erkrankung und schädlichem Gebrauch psychotroper Substanzen nachgegangen. Die Autoren versuchten, die in der psychiatrischen Praxis vermehrt auftretenden Probleme der Zunahme von Abusus, insbesondere bei stationären Patienten, die primär wegen einer anderen schweren psychiatrischen Erkrankung behandelt wurden, zu quantifizieren und Anknüpfungspunkte für die Verbesserung des Therapieangebotes zu finden. Spätestens seit der großen epidemiologischen Feldstudie von Regier ( 1 9 8 8 ) und seiner Arbeitsgruppe am N I M H (National Institute o f Mental Health) an über 2 0 0 0 0 stationären psychiatrischen Patienten konnte eindrucksvoll bestätigt werden, wie weitgehend Komorbidität das klinische Bild heute prägt. Regier fand z . B . 4 7 , 5 % F l - D i a g n o s e n nach I C D - 1 0 bei den stationär behandlungsbedürftigen Schizophrenen, eine Größenordnung, die für den deutschen Sprachraum in einer Studie bestätigt werden konnte (Krausz in press. „Stofflicher Mißbrauch von Schizophrenen" Springer). Zusammenfassend bilden Patienten, die an einer Schizophrenie leiden und stofflichen Mißbrauch betreiben, eine psychopathologisch oft schwerer gestörte Untergruppe der schizophrenen P.n, die sich von den organischen P.n und den Schizophrenen, die keinen stofflichen Mißbrauch betreiben, deutlich unterscheiden läßt. Die klinische Erfahrung mit Doppeldiagnosepatienten hat stark zugenommen, und die bestehenden administrativen und therapeutischen Systeme beginnen sich darauf einzustellen, diesem Problem aktiv zu begegnen. Spannend sind insbesondere die Begegnungen zwischen den verschiedenen Behandlungsphilosophien und psychiatrischen Erfah-

Psychose rangen der Suchtkrankenversorgung einerseits und der psychiatrisch-klinischen Behandlung andererseits. Die Behandlung deliranter Zustände bei Suchtpatienten gehört nach wie vor zu den wichtigsten psychiatrischen Notfallsituationen, die unbedingt unter klinischen Bedingungen von erfahrenem Personal durchgeführt werden sollte. Mit den heutigen Therapiemethoden konnte die hohe Mortalität der immer noch sehr gefährlichen Komplikationen auf 0 - 0 , 4 % von vormals ca. 1 0 % gesenkt werden. 4. Ausblick. In den letzten Jahren sind einige spezifische Angebote für sogenannte Doppeldiagnosepatienten im deutschsprachigen Raum entstanden. Auch die Allgemeinpsychiatrie beginnt sich mit der Erweiterung ihres Angebotes darauf einzustellen. Die gezielte Evaluation dieser spezifischen Therapieangebote im Spannungsfeld von Psychiatrie und Suchtkrankenhilfe kann dazu beitragen, auch die einzelnen Interventionsformen und B e handlungssettings weiterzuentwickeln. Das gilt sowohl für die Psychopharmakotherapie mit nebenwirkungsarmen Neuroleptika (Krausz & Naber 1998 „Psychopharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen" Karger Verlag Freiburg) als auch für andere therapeutische Ansätze. Auch in der Drogenhilfe entstehen sowohl im Bereich der Akutwie der Langzeittherapien neue Angebote. In der Forschung ist darüber hinaus nach wie vor der Zusammenhang zwischen dem Konsum bestimmter Substanzen, wie z . B . Ecstasy oder andere Amphetamine oder weiterhin auch Cannabis, und psychotischen Störungen umstritten und Gegenstand weiterer Untersuchungen. Sichere empirische Belege gibt es bisher nicht, und es wäre wichtig, die Gefahr einer psychotischen Erkrankung nicht als Argument in der Diskussion um Konsum psychotroper Substanzen insgesamt zu mißbrauchen.

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Psychosoziale Faktoren Lit.: Dilling, Η., Mombour, W., Schmidt, Μ. H. (Eds.) (1993), Weltgesundheitsorganisation. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, Bern, Hans Huber; Hebb, D. O. (1955), Drives and the CNS (conceptual nervous system). Psychol Rev, 62, 243-250; Khantzian, E. (1996), Die Selbstmedikationshypothese. In: M. Krausz & T. MiillerThomsen (Eds), Komorbidität (pp. 126-135), Freiburg, Lambertus; Krausz, M., Stofflicher Mißbrauch bei Schizophrenen, Berlin, Heidelberg, New York, Springer; Krausz, M., Naber, D. (1998), Psychopharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen, Freiburg, Karger; Leuner, H. (1962), Die experimentelle Psychose, Berlin, Heidelberg, New York, Springer; Täschner, K. L. (1983), Zur Psychopathologie und Differentialdiagnose sogenannter Cannabispsychosen. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 51,235-248. Michael Krausz, Hamburg Psychosoziale Faktoren Das Zusammenspiel von individuellen Faktoren und korrespondierenden Aspekten von Umwelt und Mitmenschen wird zusammenfassend als P. bezeichnet. (-•Sozialisation) Neben den pharmakologischen Eigenschaften der verschiedenen Substanzen spielen psychosoziale Faktoren bei der ->Genese und Aufrechterhaltung von Abhängigkeit als kulminierende Risikofaktorenbündel eine wichtige Rolle oder in der -•Prävention als Schutzfaktoren. Eine Droge entfaltet nicht einfach objektiv ihre pharmakologischen Eigenschaften, sondern wirkt je nach der biographischen und situativ geprägten persönlichen -•Wahrnehmung und Verarbeitung unterschiedlich. -•Erziehung; -•Familie; -•Jugend; -»Kinder von suchtkranken Eltern; -»Kindheit; -•Persönlichkeit und Suchtverhalten 478

Psychotherapie Psychotherapie 1. Allgemeines. Mit dem Begriff Psychotherapie sind hier alle therapeutischen Interventionen gemeint, die zielorientiert und systematisch mit Methoden der verbalen und nonverbalen Kommunikation durchgeführt werden. In Abgrenzung zu soziotherapeutischen Maßnahmen steht die Beeinflussung des Betroffenen selbst im Vordergrund, nicht die strukturelle Veränderung seines sozialen Umfeldes. Der Begriff psychosoziale Intervention umfaßt als Oberbegriff auch soziotherapeutische Maßnahmen. Zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie gibt es keine klare inhaltliche und methodische Abgrenzung. Formal setzt Psychotherapie eine Störung mit Krankheitswert voraus sowie die Durchführung durch entsprechend ausgebildete Psychotherapeuten. Psychotherapie läßt sich beschreiben durch Ziele, den psychotherapeutischen Methoden (bestehend aus einzelnen Strategien und Interventionen) und den Störungen, die damit behandelt werden sollen. Behandlungsprogramme im Suchtbereich sind meist komplex strukturiert und umfassen zahlreiche Behandlungsmethoden und Behandlungsphasen. Die Durchführung eines Behandlungsprogramms läßt sich durch Anwendung therapeutischer Strategien (Ziele und Therapiemethoden) sowie durch die einzelnen therapeutischen Interventionen als Handlungseinheiten beschreiben. Grundsätzliche Fragen der Anwendung psychotherapeutischer Verfahren auf den Suchtbereich beziehen sich einmal auf das Problem der Spezifität psychotherapeutischer Interventionen für das Suchtverhalten (z.B. Förderung der Abstinenzmotivation, Rückfallprophylaxe u. a.) im Vergleich zu einer allgemeinen Problem-, Konflikt- oder Streßbearbeitung. Eine weitere Grundsatzfrage bezieht sich auf die Individualisierung des Therapiekonzeptes im Vergleich zu einem Standardprogramm für alle Abhängigen. Besonders in der Anfangs-

Psychotherapie phase der Therapie von Abhängigen erscheint ein suchtspezifischer Ansatz wichtig. Wahrscheinlich ist auch ein individualisiertes Vorgehen erfolgreicher, auch wenn dafür bislang keine klaren B e f u n d e vorliegen. Hinsichtlich allgemeiner Wirkfaktoren werden von G r a w e (1995) 4 Aspekte angeführt: 1. Problemaktivierung, 2. Ressourcenaktivierung, 3. Motivationsklärung und 4. aktive Hilfe. Diese Faktoren dürften bei allen psychotherapeutischen Interventionen eine bedeutsame Rolle spielen. Die verschiedenen psychotherapeutischen Schulrichtungen sind nicht aus der Behandlungspraxis mit Suchtmittelabhängigen entstanden. Das bedeutet, daß die Grundprinzipien der verschiedenen therapeutischen Schulen erst nach deren Entwicklung auch auf den Bereich der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen übertragen wurden und häufig, zumindest in der Anfangsphase, die Spezifität der Suchtmittelabhängigkeit nicht ausreichend berücksichtigt wurde. In der Regel gehen in ein Gesamtkonzept der Suchtbehandlung eine Fülle von suchtspezifischen und unspezifischen Interventionen aus den verschiedensten psychotherapeutischen Schulen ein. 2. Frühintervention, Motivationsbehandlung, Kurztherapien. Mit Frühinterventionen, z . B . in allgemeinen Krankenhäusern, soll versucht werden, chronische Verläufe abzukürzen, wiederholte Behandlungen zu vermeiden und schneller das Fernziel der Alkoholabstinenz zu erreichen. Außerdem erfaßt man damit Süchtige, die sonst kaum oder erst viel später einer Suchtbehandlung zugeführt werden können. Als Frühinterventionen werden sehr unterschiedliche Formen bezeichnet, wie Ratschläge oder ein kurzes Gespräch, aber auch eine Folge von einigen wenigen Gesprächen oder ein kurzer stationärer Aufenthalt bis zu 3 Wochen. Wesentliche Komponenten sind Motivationsentwicklung und Rückfallprophylaxe, wobei Rück-

Psychotherapie fälle als häufig und üblich angenommen werden. Zur Förderung der Motivation wurden eine Reihe therapeutischer Interventionen als wirksam herausgearbeitet, die durch das Akronym F R A M E S zusammengefaßt werden können (Miller & Sanchez, 1993): - Feedback (Rückmeldung bezüglich negativer Folgen), - Responsibility (Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen), - Advice (Beratung hinsichtlich Ziele und Vorgehensweise), - Menue (Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Therapieformen), - Empathy (einfühlendes Verstehen) und - Self efficiency (Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung bezüglich Veränderungen) Das Konzept des -•„Motivational Interviewing" nach Miller & Rollnick (1991) basiert auf Prinzipien der nondirektiven Therapie und eines lösungsorientierten Vorgehens (s. Berg & Miller, 1993). Außerdem wurden im Z u s a m m e n h a n g mit der Diskussion über ein kontrolliertes Trinken als Therapieziel auch Kurztherapien für nichtabhängige Problemtrinker (definiert durch Probleme infolge des Alkoholkonsums) entwickelt. Bei Abhängigen hat sich ein kontrolliertes Trinken nicht bewährt. Ein weiterer Entwicklungstrend der Kurztherapie ergibt sich aus der Erweiterung und Intensivierung der Entzugsbehandlung über eine qualifizierte Entgiftung hinaus. Zentrale Komponenten dabei sind Informationsvermittlung, Motivationsentwicklung und Rückfallprophylaxe (s. Veltrup, 1995). 3. Einzeltherapie. Im Gegensatz zum therapeutischen Gespräch als Basismethode ist mit Einzeltherapie die regelmäßige Anwendung von Einzelgesprächen als eigenständige Methode gemeint, die allerdings auch neben anderen Methoden zum Beispiel im Rahmen eines stationären Therapieprogramms eingesetzt 479

Psychotherapie

werden kann. Im Vergleich zu Gruppenverfahren werden Einzelgespräche als stärker stützend erlebt und sind stärker individuell auf den einzelnen Patienten bezogen. Für hilfreiche Erfahrungen in Gruppen ist eine größere Stabilität und Selbstsicherheit in sozialen Beziehungen erforderlich. Bezüglich der Grundprinzipien wird meist auf die Methoden verwiesen, die die Gesprächspsychotherapie (nach Rogers, 1977) entwickelt hat (-•Humanistische Psychologie). Dabei stehen im Vordergrund das Bemühen um Selbstexploration des Patienten, die Basisvariablen der Gesprächsführung (Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte, Wärme und Echtheit des Therapeuten) sowie der Verzicht auf direkte Ratschläge und analytische Deutungen. Im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse empfehlen verschiedene Autoren ein mehr aktives Vorgehen mit weniger Konfrontation und stärkerer Unterstützung der Ich-Fähigkeiten (vgl. Bilitzka, 1993). Die Einzeltherapie kann in größerem Maße als Gruppenverfahren auf die spezielle Situation des Abhängigen eingehen, sie setzt keine so großen sozialen Kompetenzen des Abhängigen voraus wie eine Gruppenbehandlung und kann dabei stärker stützend wirken, wenn der Therapeut in seiner helfenden Funktion akzeptiert wird. Entscheidend erscheint das Prinzip: so wenig Konfrontation als möglich. Außerdem erscheint als Ergänzung zu einer Problem- und Störungsorientierung, die allgemein üblich ist, eine stärkere Lösungsorientierung, das heißt Zielorientierung unter Einbeziehung der positiven Ressourcen des Patienten hilfreich. In der behavioralen Einzeltherapie kann eine breite Palette von Techniken eingesetzt werden. Insbesondere bei der Behandlung von Drogenabhängigen ist die Akzeptanz psychotherapeutischer Maßnahmen umstritten. Damit Psychotherapie optimal wirksam werden kann, muß die Rolle des Hilfebedürftigen akzeptiert sein. 480

Psychotherapie

Damit verbunden ist i.d.R. eine Konfrontation mit eigenen Defiziten und Problemen sowie mit dem gesamten Lebensstil von Drogenabhängigen. Suchtspezifisch wurden vor allem Programme der ->Rückfallprophylaxe entwickelt, die das Rückfallgeschehen genau analysieren und Wege zur Rückfallvermeidung aufzeigen. 4. Gruppentherapie. Vor allem bei stationärer Behandlung stellen gruppentherapeutische Aktivitäten die zentrale Therapiemethode dar. Nach Yalom (1974) werden 9 Heilfaktoren in der Gruppentherapie unterschieden: 1. Aufklärung über Ziele und Ablauf der Gruppe; 2. Entwicklung von Hoffnung und positiven Erwartungen; 3. „Universalität des Leidens": Auch andere haben gleiche oder ähnliche Probleme und dies erleichtert die Akzeptanz und Bewältigung der eigenen; 4. Altruismus: Es wird die Erfahrung gemacht, von anderen gebraucht zu werden und für andere wichtig zu sein. Dies stärkt das eigene Selbstwertgefühl; 5. Die korrigierende Wiederholung der primären Familiengruppe; 6. Erlernen sozialer Kompetenzen; 7. Beobachtungslernen; 8. Interpersonales Lernen: Bewältigung von Konflikten in der Gruppe; 9. Gruppenkohäsion: Durch die Bindung an die Gruppe erfolgt die Übernahme der Gruppenregeln und Normen. Für die Suchtbehandlung besonders wichtig erscheinen die Identifizierungsmöglichkeiten, mit der Rolle eines abstinenten Abhängigen und ein Rollenwechsel zwischen Hilfe bekommen und Hilfe geben. Analytische Gruppenpsychotherapie ist durch eine, im Vergleich zu anderen Therapieformen, minimale Strukturierung charakterisiert. Im Göttinger Modell von Heigl, Evers und Heigl (vgl. Heigl et al. 1993) wird versucht, sozial-

Psychotherapie psychologische Aspekte und - • P s y c h o analyse stärker zu integrieren. Auf der interaktionalen Ebene entspricht die freie Interaktionsregel der freien Assoziation in der Einzeltherapie. In der analytisch-interaktionellen Therapie soll das Deuten durch das Prinzip Antwort mit einer stärker supportiven Wirkung ergänzt werden. Die Gruppe wird als Modell der Primärfamilie betrachtet, so daß verschiedene Arten von Übertragungsbeziehungen (Elternübertragung, Geschwisterübertragung) im Gruppenprozess auftreten und bearbeitet werden können. Auf der Ebene der Persönlichkeit sind vor allem Identifizierungsprozesse zur Übernahme von Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen hilfreich. Verhaltenstherapeutische Gruppen werden häufig als Umfeld betrachtet, in denen die verschiedensten Techniken der Einzeltherapie zur Anwendung kommen (-»Verhaltenstherapie). Im Rollenspiel und d e m Modellernen werden auch Charakteristika des M e d i u m s Gruppe systematisch genutzt. Praktischökonomische Gründe der Durchführung einzelner Verfahren sind oft ausschlaggebend für die A n w e n d u n g in Gruppen. Die gestalttherapeutische Gruppenarbeit (Perls, 1975) (-»Humanistische Psychologie) geht von der Psychoanalyse, der Existenzialanalyse und der Gestaltpsychologie aus. Als das zentrale Konzept lassen sich eine Bewußtseinshaltung (awareness), das heißt bewußte Wahrnehmung der eigenen Gedanken, Gefühle und Fantasien und die der anderen, sowie das Streben nach Gleichgewicht im Sinne einer Selbstverwirklichung bezeichnen. Ziel der Therapie ist es, die gestörte Bewußtheit, die Entfremdung aufzuheben und ungelöste Konflikte aufzulösen sowie die Verantwortung für die eigenen Reaktionen dafür zu übernehmen. Schwerpunkt therapeutischer Interventionen sind die Arbeit im Hier und Jetzt, die Wahrnehmung des augenblicklichen Geschehens, die Beachtung der Körpergefühle, die Identifizierung

Psychotherapie mit Symptomen, die Arbeit am Widerstand und an Abwehrmechanismen, die Traumarbeit und die Arbeit auf dem heißen Stuhl (Boylin, 1975). Auch das Psychodrama (-»Humanistische Psychologie) nach Moreno wurde im Bereich der Suchtbehandlung eingesetzt (Petzold, 1970, Weiner 1965). Störungen und Symptome werden hauptsächlich als Ausdruck von Rollendefiziten in sozialen Beziehungen verstanden. Für die Entstehung der Sucht ist die Beziehungskonstellation von entscheidender Bedeutung. Im Psychodrama wird Innerpsychisches erlebbar gemacht und neu gestaltet. Die Gruppenprozesse werden aktiv gestaltet. Die Psychodramatherapie vollzieht sich in einer „semirealen Welt", in der die Auseinandersetzung mit traumatisierenden Vergangenheitserfahrungen und mit problematischen Bezugspersonen auf realitätsnahe und erlebnisstarke Art und Weise möglich ist. Der Protagonist soll im Psychodrama in karthatischer Weise eine Freisetzung seiner Affekte erfahren und in gespielten Schlüsselsituationen agieren. Das bloße Verbalisieren von intrapsychischen Konflikten und Sozialkonflikten tritt zurück, das aktive Handeln in psychodramatischen Szenen steht dagegen im Vordergrund. Dadurch wird eine Bewußtseinserweiterung und eine stärkere Rollenflexibilität erwirkt. Das Psychodrama wurde verschiedentlich modifiziert, u. a. von Petzold (1970), der es mit Elementen der Verhaltenstherapie anreicherte (Behaviour Drama), außerdem wurde es mit Hypnose, mit Signalbildern und mit d e m katathymen Bilderleben nach Leuner (1985) kombiniert (Symboldrama). (Zur Praxis: Stimmer 1993). In den meisten stationären und auch ambulanten Behandlungsprogrammen werden mehrere der genannten Methoden kombiniert bzw. integriert, wobei oft besonderer Wert auf die Förderung von Aktivität und Selbstverantwortung sowie auf die Verwirklichung einer Zu481

Psychotherapie sammenarbeit von Therapeut und Patient gelegt wird. 5. Partner- und Familientherapie. B e i der Behandlung von Suchtpatienten wird meist routinemäßig versucht, mindestens eine Bezugsperson mit in die Behandlung einzubeziehen. Die Wirksamkeit einer darüber hinausgehenden, umfassenderen Partner- und -•Familientherapie ist jedoch vom Einzelfall und vor allem vermutlich von der jeweiligen Behandlungsphase des Patienten abhängig. Eine generelle Wirksamkeit der Partner- und Familientherapie ist dagegen umstritten (vgl. Küfner, 1997). Unabhängig von einer Partner- oder Familientherapie kann es erforderlich sein, daß die Partner von Suchtpatienten eine unabhängige Betreuung und Unterstützung erfahren ( z . B . auch durch Selbsthilfeorganisationen wie „Al-Anon", „Alateen" und „Al-Afam"). In systemischen Therapieansätzen hat man ebenfalls versucht, die Familie als Ganzes in die Therapie mit einzubeziehen. Grundprinzipien dabei sind: 1.) die Familie als System, 2.) das Konzept der Homöostase, 3.) das Konzept des identifizierten Patienten oder Sündenbocks, 4 . ) die Erfassung spezifischer Kommunikationsmuster, 5.) der Verhaltenskontext des Suchtmittelkonsums und 6.) die Grenzen des Systems Familie. In einem Literaturüberblick (O'Farell, 1 9 9 5 ) wurde gezeigt, daß behaviorale Partner- bzw. Familientherapien, die sowohl das Suchtverhalten als auch das allgemeine Beziehungsverhalten zum Ziel haben, am erfolgreichsten sind. Der am weitesten verbreitetste systemische Ansatz sei bislang kaum empirisch gesichert. 6. Verhaltenstherapie. Die Verhaltenstherapie läßt sich durch folgende Merkmale charakterisieren: Ihre Therapiekonzepte sind klar und konkret zu definieren und empirischwissenschaftlich zu evaluieren. - Sie erklärt Verhalten (= Handeln,

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Psychotherapie Denken, Gefühle) aus Persönlichkeits- und aus Umfeldvariablen sowie deren Interaktionen. - Fehlangepaßtes Verhalten ist zum großen Teil erlernt und kann daher auch wieder verlernt werden. - Sie folgt für die Modifikation des gestörten Verhaltens den Lernprinzipien und den Konzepten der Selbstregulation. - Sie legt klar definierte, spezifische Behandlungsziele fest. - Sie paßt sich in ihren Methoden den jeweiligen Problemen und Ressourcen des Patienten an. - Sie konzentriert sich auf Veränderungen der aufrechterhaltenen Bedingungen, wobei sie ihr Vorgehen in einzelne Teilkomponenten aufgliedert, die operational definiert werden. Nach Hautzinger ( 1 9 9 3 ) lassen sich folgende Hauptschritte einer Verhaltensanalyse unterscheiden: 1. Die Analyse der symptomatischen Verhaltensweisen Für jedes symptomatische Verhalten wird nach dem S O R K C - M o d e l l (Stimulus, Organismus, Reaktionen, Konsequenzen, Kontingenzen) ein Bedingungsmodell erstellt und miteinander in Zusammenhang gebracht. 2. Zielanalyse Ausgehend von der Lebenssituation werden Ziele in verschiedenen Verhaltensbereichen festgelegt und die Auswirkungen ihrer Realisierung mit dem Patienten und seinen Bezugspersonen besprochen. 3. Therapieplanung Aufgrund der Bedingungsanalyse und des Änderungswissens (Therapietechniken und deren Indikation) werden die einzelnen Therapieschritte geplant. Die Erfolgskriterien ergeben sich aus der Zielbestimmung. Bei der Anwendung der Verhaltenstherapie auf den Suchtbereich wurden sehr viele Techniken eingesetzt. Man unterscheidet Aversionstherapien (Einsatz von aversiv wirkenden alkoholsensibilisierenden Medikamenten, z . B . Antabus,

Psychotherapie

Selbstkonfrontation des Alkoholikers mit seinem eigenen Fehlverhalten, Therapie der aversiven Vorstellung von negativen Bildern und Gedanken), soziales Kompetenztraining, Expositionsverfahren (z.B. Aufsuchen früherer Trinksituationen), Kontingenzverfahren wie z.B. Münz- bzw. Punktebelohnungsverfahren, Techniken der Selbstkontrolle und des Selbstmanagements (s. Kanfer et al., 1992) und kognitive Therapieansätze (Becketal., 1997). 7. Analytische Psychotherapie. Der Mißbrauch des Suchtmittels wird als Ausdruck und Symptom zugrundeliegender Konflikte, Defizite und Persönlichkeitsstörungen angesehen. Im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse werden bei der Anwendung analytischer Psychotherapie bei Suchtmittelabhängigen verstärkt supportive Techniken eingesetzt, um die defizitären Ich-Funktionen zu stützen sowie die Frustrationstoleranz und die emotionale Reife zu stärken. Nach Rost (1994) werden drei süchtige Grundstörungen unterschieden: 1. Eine neurotische Grundstörung: Die zugrundeliegenden Konflikte entstehen auf einem ödipalen Niveau (Konflikte zwischen drei Personen), das eine relativ gute Bewältigung vorhergehender Entwicklungsphasen voraussetzt. 2. Eine Ich-schwache Persönlichkeit als Grundstörung: Ich-Defizite können als mangelnde Affekt- und Frustrationstoleranz und als ungenügende Problemlösefähigkeit verstanden werden. Der Mißbrauch von Suchtmitteln wird als Selbstheilungsversuch verstanden. 3. Eine Tendenz zur Selbstzerstörung auf dem Boderline-Niveau: Der Suchtmittelmißbrauch wird als Ausdruck einer selbstdestruktiven Tendenz verstanden. Wichtige Impulse für die Entwicklung von Psychotherapiekonzepten bei Suchtpatienten stammen zum Beispiel von Krystal und Raskin (1970), Wurm-

Psychotherapie

ser (1972), Heigl-Evers und SchultzeDierbach (1981), Rost (1987), Bilitzka (1993). Ausgehend von den Ich-Störungen der Suchtkranken wurde empfohlen, daß der Therapeut quasi eine Hilfs-IchFunktion übernehmen solle, um die Wahrnehmung von Eigen- und Fremdaffekten zu fördern sowie Realitätsprüfungen und Urteilskorrekturen einzuleiten. Neben dem Prinzip Deuten wurde das Prinzip Antworten entwickelt. Dabei bringt der Therapeut auch Kenntnisse, Bewertungen und Affekte in gezielter Weise in den Therapieprozeß ein. Nach wie vor bedeutsam ist die Bewältigung der Probleme von Übertragung und Gegenübertragung. Entscheidend für den Therapieerfolg ist die Frage, in wieweit auch suchtmittelspezifische Probleme z.B. der konkrete Umgang mit Rückfällen in die psychoanalytische Therapie integriert werden können. Ambulante analytische Einzeltherapie ist eher selten und erscheint nur bei stabiler Abstinenz erfolgreich durchführbar (vgl. Rost, 1987). -»-Psychoanalyse Lit.: Beck, Α. T„ Wright, F. D„ Neuman, C. F. und Liese, B. S. (1997), Kognitive Therapie der Sucht, Weinheim, Psychologie Verlags Union; Berg, I. K., Miller, S. D. (1993), Kurzzeittherapie bei Alkoholproblemen, Heidelberg: Carl Auer; Bilitza, K. W. (1993), Suchttherapie und Sozialtherapie, Göttingen, Zürich, Vandenhoeck & Ruprecht; Boylin, E. R. (1975), Gestalt encounter in the treatment of hospitalized alcoholic patients, American Journal of Psychotherapy, 29, 524; Feuerlein, W., Küfner, Η. und Soyka, Μ. (1998), Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit, V. Auflage, Stuttgart, Thieme; Grawe, K. (1995), Grundriß einer Allgemeinen Psychotherapie, Psychotherapeut, 40, 130-145; Hautzinger, M. (1993), Verhaltens- und Problemanalyse, In: M. Linden und M. Hautzinger (Hrsg.), Verhaltenstherapie, Berlin, Springer; Heigl, F., SchultzeDierbach, E. und Heigl-Evers, A. (1993), Die Bedeutung des psychoana483

Purple hearts

Psychotrope Substanzen

lytisch-interaktionellen Prinzips für die Sozialisation von Suchtkranken. In: K. W. Bilitza (Hrsg.), Suchttherapie und Sozialtherapie (S. 230-249), Göttingen, Zürich, Vandenhoeck & Ruprecht; Heigl-Evers, A. und Schultze Dierbach, E. (1981), Therapeut-Patient-Beziehung. In: E. Knischewski (Hrsg.), Alkoholismus-Therapie. Vermittlung von Erfahrungsfeldem im stationären Bereich, Kassel, Nicol; Kanfer, F. H., Reinecker, H„ Schmelzer, D. (1991), Selbstmanagement-Therapie, Berlin, Springer; Krystal, H„ Raskin, Η. Α. (1970), Drug Dependence, Detroit, Wayne; Küfner, H. (1997), Behandlungsfaktoren bei Alkohol- und Drogenabhängigen. In: Watzl, H., Rockstroh, B. (Hrsg.), Abängigkeit und Mißbrauch von Alkohol und Drogen (S. 201-228), Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Hogrefe-Verlag; Leuner, H. (1985), Lehrbuch des Katathymen Bilderlebens, Bern, Huber; Miller, W. R„ Rollnik, S. (1991), Motivational Interviewing, New York, Guiford, Press; Miller, W. R„ Sanchez, V. C. (1993), Motivating young adults for treatment and lifestyle change. In: G. Howard (Hrsg.), Issues in alcohol use and misuse by young adults, Notre Dame, University of Notre Dames Press; O'Farell, T. J. (1995), Marital and Family Therapy. In: R. K. Hester, W. R. Miller (Hrsg.), Handbook of alcoholism treatment approaches (S. 195-220), Boston, London, Toronto, Sydney, Tokyo, Singapure, Allyn and Bacon; Perls, F. (1975), Grundlagen der Gestalt-Therapie, München, Pfeiffer; Petzold, H. (1970), Psychodramatische Techniken in der Therapie mit Alkoholikern, Zeitschrift für praktische Psychologie, 8, 387; Rogers, C. R. (1977), Therapeut und Klient, München, Kindler; Rost, W.-D. (1987), Psychoanalyse des Alkoholismus

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Qualifizierte Entgiftung

Qualifizierte Entgiftung

£ Qualifizierte Entgiftung Pro Jahr wird ungefähr jeder 4. alkoholkranke Mensch in Deutschland während eines Aufenthaltes im Allgemeinkrankenhaus entgiftet. Nur ein Bruchteil der Entgiftungsbehandlungen (ca. 10%) erfolgt in einem psychiatrischen Krankenhaus (Wienberg 1997). Ca. 17,5% aller Patienten medizinischer und chirurgischer Abteilungen sind alkoholabhängig ( J o h n e t a l . 1996). Die Behandlung von Alkoholikern auf somatischen Stationen ist jedoch suchttherapeutisch nutzlos oder sogar kontraproduktiv. Denn die betroffenen Patienten können sich (oft in heimlicher Allianz mit ihren Ärzten) hinter einer somatischen Diagnose verstecken, gut gemeinte Ratschläge oder strenge Ermahnungen führen nur zu einer Zunahme von Selbstvorwürfen und in der Folge zu einer Reihe von inneren Abwehrvorgängen und einer Erhöhung des inneren Widerstandes, um das schwache Selbstbewußtsein zu schützen. Nicht zuletzt erfahren Alkoholiker im somatischen Krankenhaus als „Drehtürpatient", als „hoffnungsloser Fall" oder als jemand, der seine Krankheit scheinbar selbst verursacht hat, offene Ablehnung. Dadurch weist der rein körperliche Entzug Alkoholkranker ohne Motivationsarbeit eine hohe Rückfallrate auf und mündet nur in wenigen Fällen in eine weiterführende Behandlung (Mundle 1997). Motivationsarbeit heißt hierbei, die Krankheitseinsicht des Betroffenen zu fördern und den Wunsch nach einem abstinenten Leben und seine Bereitschaft zur Veränderung dahin zu wekken. Für diese Arbeit, die in hierfür spezialisierten Stationen psychiatischer Krankenhäuser (seltener in psychiatrischen Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern) durchgeführt wird, hat sich seit Beginn der 90er Jahre der Begriff der qualifizierten Entgiftung eingebürgert (Kuhlmann et al. 1994 I + II).

Die qualifizierte Entgiftung versteht sich also als ein Bindeglied zwischen der körperlichen Entgiftung einerseits und der weiterführenden Behandlung andererseits. Die weiterführende Behandlung kann z.B. der Besuch einer Selbsthilfegruppe, die Anbindung an eine Suchtberatungsstelle oder die Weiterbetreuung durch einen sozialpsychiatrischen Dienst sein; möglichst sollte jedoch das Ziel die Vermittlung in eine -•Entwöhnungstherapie sein. Die Entwöhnungstherapie ist die angemessene „Medizin" einer Suchterkrankung; die Erfolgsquote hierbei liegt bei 50% (Süß 1995). Die enge Einbindung in ein regionales Hilfssystem für Abhängigkeitskranke stellt also ein weiteres wesentliches Kennzeichen der qualifizierten Entgiftung dar. Ein weiteres wesentliches Kennzeichen der qualifizierten Entgiftung ist die Haltung, mit der das - meist multiprofessionelle - Behandlungsteam dem Suchtkranken begegnet. Der Patient muß sich trotz seiner Suchterkrankung akzeptiert fühlen, um sich zu öffnen und dann weitere Schritte wagen zu können. Die Haltung aller Mitarbeiter einer Station für qualifizierte Entgiftung ist also zugewandt, empathisch und akzeptierend; gleichzeitig jedoch ist das Team in der Lage, auch Grenzen zu setzen und die Regeln der Station (z.B. die Einhaltung der Abstinenz und der Gewaltfreiheit auf der Station) zu schützen. Dies erfordert ständige Reflexion über das Stationsgeschehen im Team und Supervision von außen. In der Regel werden von den Krankenkassen für die qualifizierte Entgiftung 2 - 3 Wochen zugebilligt. Die qualifizierte Entgiftung besteht aus folgenden Elementen: - Körperliche Entgiftung: Diese dauert meist 2 - 5 Tage und umfaßt auch die notwendige Diagnostik und Behandlung körperlicher Begleiterkrankungen. Lediglich bei schwersten

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Qualifizierte Entgiftung

Verläufen einer Entgiftung wird die Verlegung auf die Intensivstation einer somatischen Abteilung notwendig. - Information über die Suchterkrankung: Mittels Gruppenunterricht, Eigenarbeit an Skripten oder ggf. Einzelgesprächen haben die Betroffenen Gelegenheit, sich kognitiv über die Symptome, die Kennzeichen (z.B. Kontrollverlust), den Verlauf und die körperlichen Folgen der Alkoholerkrankung, aber auch ihrer Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Viele Betroffene werden während der Behandlung das erste Mal mit ihrer Alkoholproblematik konfrontiert; die Auseinandersetzung mit der Tatsache, daß sie von der Suchterkrankung selber betroffen sind und was daraus für ihre weitere Lebensplanung folgt, stellt einen wesentlichen Bestandteil der qualifizierten Entgiftung dar. - Erste psychotherapeutische Erfahrungen: In der Regel erfolgt die Aufnahme zur Entgiftung, ob aufgrund des Drucks von Angehörigen oder aus eigenem Antrieb des Betroffenen, in einer schweren Lebenskrise oder Konfliktsituation. Deren Behandlung ist Aufgabe der qualifizierten Entgiftung. Gelingt es, in Einzel- oder Gruppengesprächen den Betroffenen emotional zu berühren, z.B. durch eine vorsichtige Konfrontation in akzeptierender Atmosphäre, kann der Betroffene also z.B. erstmals das Gefühl von Wut oder Trauer, das hinter der Sucht steht, selber spüren, so ist damit oft die Bereitschaft geweckt, eine weitere psychotherapeutische Behandlung zu akzeptieren (Wetterling et al. 1997). Wesentlich unterstützt werden kann diese Arbeit durch Begleittherapien, wie z.B. ausdruckszentrierte Beschäftigungstherapie (Scheiber 1989) oder auf die Körperwahrnehmung gerichtete Sporttherapie. Die Behandlung der Fehlhaltung, der Neurose oder Persönlichkeitsstörung, 486

Qualifizierte Entgiftung

die zur Sucht geführt hat, ist nicht Aufgabe der qualifizierten Entgiftung, sondern der Entwöhnungstherapie. Allerdings sind die Fachkrankenhäuser für Entwöhnungstherapien überfordert in der Behandlung von Menschen, die neben ihrer Suchterkrankung schwerste Persönlichkeitsstörungen oder andere schwere psychische Erkrankungen, z.B. als posttraumatische Belastungsreaktion, aufweisen! Hierfür etablieren sich zunehmend spezialisierte Stationen in psychiatrischen Krankenhäusern. - Motivation zur weiterführenden Therapie: Früher wurde Motivation eher als eine Persönlichkeitseigenschaft gesehen, im Sinne eines langanhaltenden Persönlichkeitszuges („trait"). In jüngerer Zeit jedoch rückt ein dynamisches Konzept von Motivation als einem veränderbaren Persönlichkeitszustand („State") in den Vordergrund (Mann et al. 1995). Dies bedeutet für die praktische Arbeit in der qualifizierten Entgiftung, daß die neu entstandene Bereitschaft des Patienten, etwas an sich zu verändern, aktiv aufgegriffen wird: Konkrete Kontaktaufnahme mit der zuständigen Suchtberatungsstelle (möglichst noch Erstgespräch während der Entgiftungszeit), erste Besuche von Selbsthilfegruppen während der Entgiftungszeit (meist in den Konzepten für die Patienten verpflichtend vorgeschrieben) oder das Stellen des Therapieantrages während der Entgiftung. Selten gelingt - was suchttherapeutisch sinnvoll wäre - die direkte Verlegung von der qualifizierten Entgiftung in die Entwöhnungstherapie - ein häufig kritisiertes Ergebnis der Suchtvereinbarung von 1978 mit Aufspaltung der Kostenträgerschaft von Entgiftung (Krankenkasse) und Entwöhnungstherapie (Rentenkassen) (^Finanzierung). Katamnestische Untersuchungen sprechen für die Wirksamkeit der qualifizierten Entgiftung. Bis zu 50% nicht vormotivierter Patienten treten hierdurch eine

Qualitätssicherung

Qualifizierter Entzug weiterführende Behandlung an (Mann et al. 1995; Setter et al. 1997). Der Begriff „qualifizierte Entgiftung" läßt allerdings mitschwingen, fachkundig durchgeführte, aber nur wenige Tage andauernde Krisenintervention bei Suchtkranken sei nicht „qualifiziert". Vielleicht sollte daher eher von einer „vertieft motivierenden Entgiftungsbehandlung" gesprochen werden. Lit.: John, Hapke, Rumpf, Hill, Dilling, Prävalenz und Sekundärprävention von Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen Versorgung, Herausgeber: Das Gesundheitsministerium für Gesundheit, Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1996; Kuhlman, Hasse, Sawalies, Die qualifizierte stationäre Akutbehandlung Drogenabhängiger in NordrheinWestfalen, Psych. Praxis 1/94, 13-18; Kuhlmann, Hasse, Sawalies, Harm Reduction und niederschwellige Drogenhilfe in Nordrhein-Westfalen - über die Anforderungen an eine qualifizierte Behandlung Drogenabhängiger, Sucht 1/94, 50-56; Mann, Stetter, Günther, Buchkremer, Qualitätsverbesserung in der Entzugsbehandlung von Alkoholabhängigen, Deutsches Ärzteblatt 92, 45 (10. 11. 1995), 2217-2220; Mundle, Aktuelle Entwicklungen in der Suchttherapie, Sucht 4/1997, S. 283-297; Scheiber, Ergotherapie in der Psychiatrie, Bardtenschlager-Verlag, München, 1989, S. 219-222; Setter, Mann, Zum Krankheitsverlauf Alkoholabhängiger nach einer stationären Entgiftungs- und Motivationsbehandlung, Der Nervenarzt 7/97, S. 574-581; Süß, Zur Wirksamkeit der Therapie bei Alkoholabhängigen. Ergebnisse einer MegaAnalyse, Psychologische Rundschau 1995, 46, 248-266; Wetterling, Veltrup, Diagnostik und Therapie von Alkoholproblemen, Springer-Verlag, 1997, S. 79-91; Wienberg, Struktur und Dynamik der Suchtkrankenversorgung in der Bundesrepublik - ein Versuch, die Realität vollständig wahrzunehmen. In: Wienberg (Hrsg.), Die ver-

gessene Mehrheit, 1992.

Psychiatrie-Verlag,

Reinhard Dübgen, Lüneburg Qualifizierter Entzug -•Entzug; -•Qualifizierte Entgiftung Qualitätssicherung Qualitätssicherung (QS) ist im Gesundheits- und Sozialwesen, und damit auch in der Suchtkrankenhilfe, zu einem wichtigen, aber auch umstrittenen Thema geworden. Zunehmend findet auch der Begriff „Qualitätsmanagement" Verwendung. QS hat mittlerweile einen so hohen Stellenwert erlangt, daß alle Bereiche und Disziplinen des Gesundheits- und Sozialwesens sich den daraus resultierenden Anforderungen stellen müssen. Es wird sogar von einer „Qualitätssicherungsoffensive" gesprochen. Auch die alltägliche Sprache scheint sich diesem Trend anzupassen. Viele sprechen heute nicht mehr von Supervision oder Teambesprechung, sondern von Qualitätszirkeln. Was heute unter dem Thema QS diskutiert wird, ist nichts prinzipiell Neues, Suchtberater und Suchttherapeuten haben sich immer um Qualität bemüht und versucht, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Wissenschaftliche Begleitforschung, Programmevaluation, Dokumentation und Katamnestik sind auch keine neuen Themen. Neu ist aber die Stringenz und Systematik, mit der dieses Thema angegangen wird, vielleicht auch die Radikalität, mit der der Nutzen der Suchtkrankenhilfe von einigen hinterfragt wird. Von den Beteiligten am Gesundheitsund Sozialwesen - Leistungserbringern, Leistungsnehmem und Kostenträgern wird QS ihren unterschiedlichen Interessen entsprechend aufgenommen und bewertet. Viele betrachten Qualitätssicherung als eine selbstverständliche Aufgabe, anderen erscheint es als Zumutung und als Bedrohung von Bestand und Routine und wieder andere sehen QS als vielversprechendes Instrument zur Kostendämpfung. 487

Qualitätssicherung

1. Begriffsbestimmung. Der Begriff „QS" stammt aus der Industrie und wird zunehmend auch im Dienstleistungsbereich angewandt. Bezogen auf den Dienstleistungsbereich verbirgt sich hinter diesem Begriff der Versuch, Qualität nicht nur zu evaluieren und zu kontrollieren, sondern in allen Phasen der Dienstleistung - von der Entwicklung bis zur Durchführung - gezielt Maßnahmen zur Sicherung und Verbesserung der Qualität der Arbeit zu unternehmen. Ziel der QS in der Suchtkrankenhilfe ist es, 1. die Transparenz in der Beratung und Behandlung Suchtkranker zu erhöhen, 2. die Wirksamkeit der angewandten Maßnahmen weiterzuentwickeln und 3. die Wirtschaftlichkeit der erbrachten Leistungen zu gewährleisten. „Qualitätsmanagement" verweist viel stärker als „QS" darauf, daß QS eine Führungsaufgabe ist, in die alle Mitarbeiter z.B. einer Einrichtung oder Arbeitseinheit einzubeziehen sind, und daß alle Planungen und Aktivitäten dem Bestreben nach Qualität zu unterwerfen sind. Unter Qualität versteht man ganz allgemein die Beschaffenheit oder Güte einer Sache oder einer Dienstleistung. Nach DIN 55350 wird Qualität definiert als „die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produkts oder einer Dienstleistung, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung festgesetzter und vorausgesetzter Erfordernisse bezieht." Bei der Bestimmung von Qualität geht es um das Verhältnis von realisierter Beschaffenheit (Ist-Zustand) und geforderter Beschaffenheit (Soll-Zustand). Dabei kann Qualität nie als Ganzes erfaßt werden, sondern nur ausschnittweise über unterschiedliche Kriterien bzw. Indikatoren. Qualität ist kein formaler, sondern ein inhaltlicher Begriff, er setzt benennbare qualitative und quantitative Zielsetzungen voraus. Während im Bereich industriell gefertigter Güter Qualitätsdefinitionen und Messungen vergleichsweise einfach sind, sind sie im Bereich des Gesund488

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heits- und Sozialwesens jedoch mit vielfältigen Schwierigkeiten verbunden. QS beinhaltet hauptsächlich die folgenden drei Aufgaben: 1. Zunächst einmal ist es erforderlich, die Kriterien bzw. Indikatoren für die Qualität einer bestimmten Dienstleistung zu definieren bzw. festzulegen. Besteht über die Kriterien bzw. Indikatoren Einigkeit und sind sie genügend ausdifferenziert, spricht man von Qualitätsstandards. 2. Im Anschluß daran sind Instrumente zu entwickeln, mit denen diese Kriterien bzw. Indikatoren erfaßt werden können. 3. Die zentrale Aufgabe der QS besteht dann darin, die Dienstleistungen so zu verändern, daß sie den definierten Kriterien, Anforderungen und Zielsetzungen entspricht. Bei der QS handelt es sich um ein prozessuales Geschehen, das in der Regel mit der Feststellung von Mängeln, Schwachstellen und Defiziten beginnt (Problemerkennung). Dazu ist es notwendig, die erbrachte Leistung zu erfassen und mit Kriterien, Standards, Anforderungen und Zielsetzungen zu vergleichen. Dem folgt eine Analyse der festgestellten Auffälligkeiten und die Suche nach möglichen Ursachen (Problemanalyse). Die wichtigste Aufgabe der QS besteht dann in der Beseitigung der gefundenen Mängel, Schwachstellen und Defizite (Problemlösung). Zum Schluß wird überprüft, ob die festgestellten Probleme auch tatsächlich beseitigt wurden (-•Evaluation der Problemlösung). Die QS kann von den Leistungserbringern selbst durchgeführt werden, in diesem Fall spricht man von interner QS, oder von außen auferlegt, durchgeführt und überwacht werden (externe QS). Nach den bisherigen Erfahrungen scheint die interne QS der externen überlegen zu sein, insbesondere dann, wenn externe QS sich in Qualitätskontrolle erschöpft und nicht primär auf Qualitätsförderung zielt. Qualität im Gesundheits- und Sozialbereich läßt sich nach den Aspekten Struk-

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turqualität, Prozeß- bzw. Behandlungsqualität und Ergebnisqualität beurteilen. Diese Unterscheidung erleichtert und strukturiert die Formulierung von Qualitätskriterien und Qualitätsstandards. Unter Strukturqualität werden die Voraussetzungen für die Leistungserbringung verstanden (z.B. die Ausstattung und Organisation der Institution und die Qualifikation der dort tätigen Mitarbeiter), unter Prozeß bzw. Behandlungsqualität die Qualität des leistungserbringenden Handelns selbst (z.B. die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen) und unter Ergebnisqualität das Resultat bzw. der Erfolg der durchgeführten Leistung. QS zielt letzten Endes auf die Ergebnisqualität. Das Konzept der QS basiert auf der Annahme, daß bessere Strukturen zu besseren Prozessen und bessere Prozesse zu besseren Ergebnissen führen. In der -•Suchtkrankenhilfe sind übergeordnete und für jeden Tätigkeitsbereich spezifische Qualitätskriterien bzw. Qualitätsstandards zu formulieren. Es müssen z.B. die folgenden Fragen beantwortet werden: Was versteht man unter Qualität in der Suchtkrankenhilfe, und welche Möglichkeiten gibt es, Qualität zu erfassen? Über welche Qualifikationen müssen die einzelnen Mitarbeiter verfügen? Was ist eine angemessene räumliche, technische und sächliche Ausstattung? Welchen Einfluß haben die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen? Welche Anamnese- und Diagnoseverfahren sind erforderlich? Wie sieht eine qualitativ gute Behandlung aus? Was sind die Kennzeichen von Behandlungen, die man als „regelhaft" oder dem „Stand der Kunst" entsprechend bezeichnen kann? Welche Kriterien sind zur Einschätzung von Behandlungsmaßnahmen und zur Bewertung der Behandlungsresultate sinnvoll? Was ist ein Behandlungserfolg? Welche Merkmale kennzeichnen ein qualitativ gutes Versorgungssystem? Wie sieht eine problemadäquate Vernetzung aus? Diese und weitere Fragen machen deut-

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lich, wie schwierig es ist, hier objektive und verbindliche Maßstäbe für Qualität zu entwickeln. Zum Teil gibt es gesetzliche Vorgaben, zum Teil Richtlinien von Kostenträgern und Berufsverbänden, wieder andere Maßstäbe resultieren aus Erfahrungswerten oder aus den Befunden der empirischen Wissenschaften. Immer wieder müssen aber Wertentscheidungen getroffen werden, in denen weltanschauliche und moralisch-ethische Positionen zum Tragen kommen. Leistungserbringer, Leistungsnehmer, Kostenträger, Wissenschaftler und im politischen Raum Handelnde müssen sich auf der Basis gesicherten oder zumindest konsensorientierten Wissens auf gemeinsame Kriterien einigen. Qualitätsstandards lassen sich nur aushandeln und durch die Vermittlung unterschiedlicher Interessen definieren. Dasselbe gilt natürlich auch für die Qualitätsbeurteilung. QS ist ein kommunikativer Prozeß, an dem diejenigen partizipieren müssen, die für eine qualifizierte Behandlung verantwortlich sind. Dies gilt vor allem für diejenigen, die „vor Ort" tätig sind, denn QS wird nur dann erfolgreich sein, wenn diese Mitarbeiter in der QS einen Sinn sehen und die zusätzlichen Aufgaben nicht als Belastung oder gar Zumutung begreifen. Da zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit in der Suchtkrankenhilfe kaum verbindliche Kriterien existieren, und es nur wenig wirklich gesichertes Wissen gibt, besteht die Gefahr, daß die Diskussionen weniger auf der Grundlage von Fachlichkeit geführt werden und vom Willen zum Konsens bestimmt sind, sondern in erheblichem Maße von Vorurteilen, Polemik und Ideologien beeinflußt werden. Eine solche Situation macht das System der Suchtkrankenhilfe besonders anfällig für Eingriffe durch die aktuelle Politik. Aus diesem Grunde ist es erforderlich und liegt es im ureigensten Interesse der Suchtkrankenhilfe, selbst Qualitätsstandards und Verfahren zur QS zu entwickeln, die eine hinreichende Wirksamkeitskon489

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trolle und kontinuierliche Qualitätsverbesserung ermöglichen. 2. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und gesetzlicher Hintergrund. Suchtkrankenhilfe kann im Rahmen des Gesundheits- und Sozialsystems als eine spezifische Dienstleistung betrachtet werden, die - wie andere Maßnahmen und Behandlungen auch - mit Kosten verbunden ist. Angesichts der enormen Kosten, die unser Gesundheits- und Sozialsystem verursacht, darf es nicht verwundern, daß im Zuge knapper werdender Mittel die Notwendigkeit einer sinnvollen Verwendung von Geldern - nicht nur in der Suchtkrankenhilfe - als dringend notwendig erachtet wird. Fragen nach der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit von Behandlungsmaßnahmen sind deshalb legitim. Die Suchtkrankenhilfe gerät - wie andere Dienstleistungsbereiche auch unter verstärkten Legitimationsdruck. Zunehmend werden kritische Fragen gestellt. Immer häufiger hört man von Bürgern und Politikern die Frage, was denn die Verstärkung der Suchtkrankenhilfe, z.B. durch die Etablierung niedrigschwelliger Angebote für jugendliche Drogenabhängige, angesichts des fortbestehenden Elends eigentlich bewirkt habe, was denn eine mehrmonatige Behandlung tauge, wenn der Rückfall der Normalfall ist. Aber nicht nur das Gesundheits- und Sozialwesen, unser gesamtes Dienstleistungssystem ist in den letzten Jahren unter erheblichen Kostenund Qualitätsdruck geraten. Es gibt in unserer Gesellschaft immer weniger Nischen, die nicht von diesen Anforderungen betroffen sind. Die gegenwärtigen Initiativen zur Einrichtung neuer Steuerungsinstrumente im Dienstleistungsbereich - und dazu gehören außer der Änderung der Finanzierungsmodalitäten (z.B. Einführung leistungsbezogener Entgelte anstelle von Zuwendungen) QS und Qualitätsmanagement - sind nur vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher und 490

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wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu verstehen. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich, wie die meisten anderen Industrieländer auch, nicht nur in einer konjunkturellen Talsohle, sondern in einer Strukturkrise, hervorgerufen auch und vor allem - aber nicht nur - durch die Globalisierung der Weltmärkte. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit und Armut, Verringerung der Nettorealeinkommen und eine ungleiche Vermögensverteilung. Zunehmend wird bezweifelt, ob diese Folgen wirklich mit Hilfe des Neoliberalismus reduziert werden können und ob das amerikanische Modell wirklich so nachahmenswert ist. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits 1984 in ihrem Programm „Gesundheit 2000" die Forderung nach QS im Gesundheitssystem erhoben und das Ziel formuliert, daß bis zum Jahre 1990 jeder Mitgliedsstaat im Gesundheitssystem Verfahren der QS eingefühlt haben soll. Für die gesetzliche Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland wurde die QS 1989 im Sozialgesetzbuch §§ 135 bis 139 SGB V festgeschrieben. Vor dem Hintergrund dieses Gesetzes hat z.B. die Kassenärztliche Bundesvereinigung für den Bereich der ambulanten kassenärztlichen Versorgung 1993 entsprechende Richtlinien erlassen. Für die gesetzliche Rentenversicherung bestehen diese Regelungen nicht explizit, sondern sind nur implizit durch den § 13 SGB VI vorgegeben. 1993 hat die gesetzliche Rentenversicherung aber ein Programm zur QS in der stationären medizinischen Rehabilitation beschlossen. Für das Sozialwesen finden sich Hinweise zu Qualitätsstandards und zur QS bei Sozialleistungen im Bundessozialhilfegesetz § 93 BSHG. 3. Übergeordnete Qualitätskriterien und Qualitätsanforderungen. Die Beschreibung von objektiven und verbindlichen Qualitätskriterien und Qualitätsanforderungen ist eine der Hauptaufgaben jeder QS. Dabei orientiert sich QS in der

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Suchtkrankenhilfe nicht nur an fachlichen, sondern berücksichtigt gleichermaßen berufsethische und wirtschaftliche Kriterien. Die folgenden übergeordneten Qualitätskriterien und Qualitätsanforderungen gelten für alle Bereiche der Suchtkrankenhilfe: 1. Soziale Verantwortung. Der Suchtberater und Suchttherapeut hat nicht nur die Aufgabe, seine Methoden dem fachlichen Standard entsprechend anzuwenden. Genauso wichtig ist, daß er bei seiner Arbeit die Würde und Integrität seines Patienten/Klienten achtet und ihn in seiner Individualität wahrnimmt und respektiert ( >Ethik). Dazu gehört auch, daß er auf die kulturellen, religiösen und persönlichen Besonderheiten seines Patienten/ Klienten Rücksicht nimmt. 2. Fachliche Kompetenz. Verantwortliches berufliches Handeln erfordert fachliche Kompetenz. Diese wird durch eine qualifizierte Aus-, -»-Fortund Weiterbildung erworben und durch ständige Reflexion und Supervision der eigenen Tätigkeit sichergestellt. Der in der Suchtkrankenhilfe Tätige hat sein berufliches Handeln an den geltenden Standards und an den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten. Für die einzelnen Tätigkeitsfelder und Berufsgruppen sind spezifische Tätigkeitsprofile mit den entsprechenden Anforderungen zu entwickeln. 3. Wirksamkeit. Die erbrachte Dienstleistung muß wirksam sein. Um die Wirksamkeit überhaupt erfassen zu können, ist es erforderlich, die Zielsetzung der Leistung zu definieren und dann das erzielte Ergebnis mit dem zuvor definierten Ziel zu vergleichen. In der Suchtkrankenhilfe besteht die Gefahr, daß von allen Beteiligten - Kostenträgern, Beratern/Therapeuten und Patienten/Klienten - unrealistische Ziele gesetzt werden. 4. Wirtschaftlichkeit. Die Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe sind finanziell so auszustatten, daß sie die notwendi-

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gen und geeigneten Leistungen erbringen können. Wirtschaftlichkeit bedeutet, daß die vorhandenen Mittel sinnvoll einzusetzen sind, d. h. mit dem geringstmöglichen Aufwand ein bestimmtes Resultat zu erzielen oder mit den verfügbaren Mitteln ein bestmögliches Resultat zu erreichen. 5. Kundenzufriedenheit. Die erbrachte Leistung muß nicht nur wirksam und wirtschaftlich sein, darüber hinaus muß der Kunde bzw. der Auftraggeber auch mit der Leistung und den Leistungserbringern zufrieden sein. Dabei ist zu beachten, daß die verschiedenen Kunden und Auftraggeber oft sehr unterschiedliche Ziele und Interesse haben (z.B. Patienten/Klienten, Kostenträger, Arbeitgeber, Behörden). 6. Transparenz. Die Leistung muß durchschaubar, nachvollziehbar und berechenbar sein. Die Transparenz bezieht sich ζ. B. auf die Qualifikation der Mitarbeiter, das diagnostische und therapeutische Vorgehen und die Zielsetzung der Leistung. 7. Rechtssicherheit. Das berufliche Handeln erfolgt auf der Basis der geltenden Gesetze. In einem zweiten Schritt ist es erforderlich, diese Kriterien und Anforderungen in den einzelnen Tätigkeitsbereichen auszugestalten und auszudifferenzieren. Der in der Suchtkrankenhilfe Tätige muß diese Kriterien und Anforderungen dann in einem weiteren Schritt, jedenfalls soweit sie auf ihn bezogen sind, in seiner konkreten Praxis anwenden und dabei den Besonderheiten des Einzelfalles gerecht werden. In dem Maße, in dem keine verbindlichen Kriterien und Anforderungen existieren oder zwischen den einzelnen Kriterien und Anforderungen Widersprüche bestehen, gewinnen Erfahrung und Verantwortung an Gewicht. Besonders deutlich macht sich dieser Einfluß in sogenannten Grenzsituationen bemerkbar, mit denen sich Suchtberater und Suchttherapeuten immer wieder konfrontiert sehen. 491

Qualitätssicherung 4. Qualitätssichernde M a ß n a h m e n in der Suchtkrankenhilfe. Zu den am häufigsten eingesetzten Methoden der Q S in der Suchtkrankenhilfe zählen die Aufstellung von Qualitätskriterien, Qualitätsanforderungen und Qualitätsstandards, die Überprüfung von Einrichtungsmerkmalen, Behandlungskonzepten und Behandlungsplänen, Einzelfallüberprüfungen, Patienten- bzw. Klientenbefragungen, katamnestische Untersuchungen und Qualitätszirkel. Das vermutlich am besten ausformulierte Konzept der Q S in der Suchtkrankenhilfe stammt vom Verband der Rentenversicherungsträger und bezieht sich auf die Qualität der stationären Entwöhnungsbehandlung. Ziel dieses extern initiierten und gesteuerten Programms, an dem sich die Rehabilitationskliniken beteiligen müssen, ist es, den einzelnen Kliniken umfassende Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sie darauf aufbauend gezielt Veränderungen vornehmen können. Das Programm beinhaltet die folgenden Maßnahmen: 1. Zur Erfassung der Strukturqualität werden die Kliniken aufgefordert, Angaben zur Ausstattung (personell, räumlich, apparativ), zu den Indikationen, dem diagnostischen und therapeutischen Leistungsspektrum, den internen Kommunikationsstrukturen und der Vernetzung mit anderen Behandlungseinrichtungen zu machen (Klinikkonzept). 2. Die zweite M a ß n a h m e beinhaltet die Darstellung von repräsentativen Therapieverläufen und dient der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Art, dem U m f a n g und der zeitlichen Abfolge der Leistungen unter Berücksichtigung der Behandlungsziele. Der Behandlungsprozeß wird durch eine möglichst vollständige Erhebung von Einzelleistungen abgebildet. 3. In einem dritten Schritt werden in einem sogenannten „Qualitäts-Screening" drei Prozent der Einzelfälle per Zufall ausgewählt und von externen Experten mit Hilfe einer Checkliste 492

Qualitätssicherung hinsichtlich der Angemessenheit der Behandlung, der Regelhaftigkeit des Behandlungsverlaufs und der individuellen Zielerreichung beurteilt. 4. Mit Hilfe von Patientenbefragungen wird ermittelt, wie zufrieden die Patienten mit der Behandlung waren und zu welchen Ergebnissen die Behandlung aus ihrer Sicht geführt hat. 5. In klinikinternen, interdisziplinär besetzten Qualitätszirkeln sollen auf der Grundlage der Ergebnissen der Maßnahmen 1 bis 4 Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden. Der Verband Deutscher Rentenversicherer hat mit dieser Systematisierung sicher vorbildliche Arbeit geleistet. Die Probleme liegen vor allem im Detail. Allgemein stellt sich die Frage, ob man mit einem einheitlichen Programm der recht differenzierten Suchtbehandlung überhaupt gerecht werden kann. Offen ist auch, wie die vielen Daten auf sinnvolle Art und Weise verknüpft und bewertet werden sollen. Läßt sich mit dieser Reglementierung wirklich eine Verbesserung der Behandlung erreichen? Oder laufen diese M a ß n a h m e n nur auf eine Verstärkung von Kontrolle hinaus? Eine Alternative zum System der Rentenversicherungsträger stellt die DIN E N ISO 9000 ff. dar. Es handelt sich dabei u m eine Systemnorm, die in 20 Einzelschritten bewährte Elemente zusammenfaßt und systematisiert. Ein weiteres Beispiel, das die Suchtkrankenbehandlung in den psychiatrischen Krankenhäusern nachhaltig beeinflußt hat, ist die Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV), in der Standards für die Personalbemessung aufgestellt wurden, die sich an definierten Leistungen orientieren. 5. Chancen und Risiken. QS beinhaltet eine Vielzahl von Chancen, aber auch Risiken. QS wird nur dann zu Verbesserungen in der Suchtkrankenhilfe führen, wenn - Q S nicht auf Qualitätskontrolle reduziert wird, denn mit Maßnahmen der

Qualitätssicherung Qualitätskontrolle sollen lediglich Mängel, Schwachstellen und Probleme aufgedeckt werden, entscheidend aber ist deren Behebung bzw. Lösung, -

Q S keinen Projektcharakter hat, sondern langfristig angelegt und als kontinuierlicher Prozeß verstanden wird, auf dem Vorhandenen aufbaut und dieses organisch weiterentwickelt,

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Q S nicht „von o b e n " verordnet wird, sondern alle Beteiligten, insbesondere aber die Leistungsbringer „vor Ort" in den Prozeß der Q S einbezieht, Q S so angelegt sind, daß sie einer Nivellierung unterschiedlicher Behandlungs- und Beratungsangebote keinen Vorschub leistet, sondern Innovation und Vielfalt fördert.

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B e i der Q S handelt es sich um einen Prozeß des Aushandelns. Dabei ist stets zu berücksichtigen, daß Suchtkrankenhilfe ein sehr komplexes System ist, was zur Folge hat, daß an das Urteilsvermögen und die Planungs- und Entscheidungskompetenzen große Anforderungen gestellt werden müssen. Gute Absichten reichen nicht. Alle Beteiligten müssen sich darüber im Klaren sein, -

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daß Suchtkrankenhilfe aus vielen interagierenden Elementen und Teilsystemen besteht, die in ständiger Entwicklung begriffen sind, daß vieles von dem, was sie beobachten möchten, einfach nicht sichtbar ist, daß sie beim Planen nicht nur das Nächstliegende berücksichtigen wollten, sondern auch die Neben- und Fernwirkungen ihrer Entscheidung, daß sie sich beim Planen mit Ungefahrlösungen zufrieden geben müssen und darauf verzichten sollten, alle Informationen, die sie vielleicht bekommen könnten, auch zu sammeln, da die Vollständigkeit der Informationssammlung mit dem Zwang zum Handeln unter Zeitdruck kollidiert,

Qualitätssicherung - daß ihr Wissen und ihre Vorstellungen von einem Sachverhalt richtig oder falsch sein können, vollständig oder unvollständig. Häufig dürften sie sowohl unvollständig als auch falsch sein, daher tun alle Beteiligten gut daran, sich auf diese Möglichkeit einzustellen. -»-Evaluation; -»Finanzierung; -»-Kosten-Nutzen-Analyse Lit.: Beutel, M., DIN E N I S O 9 0 0 0 f f . Ein Modell zur Qualitätssicherung in der Suchtkrankenhilfe. In: Sucht 4 2 ( 1 9 9 6 ) 1, 5 5 - 6 1 ; Fachverband Sucht e. V. (Hrsg.), Qualitätssicherung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker, Geesthacht, 1995; Fach verband Sucht e. V., Stellungnahme des Fachverbandes Sucht e. V. zur aktuellen Diskussion des Qualitätssicherungsprogramms der Rentenversicherungsträger. In: Sucht 4 2 ( 1 9 9 6 ) , 1, 4 5 - 5 3 ; Hamburgische Landesstelle gegen die Suchtgefahren e. V. (Hrsg.), Qualitätssicherung in der ambulanten Suchtkrankenhilfe, Geesthacht, 1996; Kunze, H „ Kaltenbach, L. (Hrsg.), Psychiatrie-Personalverordnung, Stuttgart 2 1 9 9 4 ; Meinhold, M., Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau, 1996; Nienhaus, R., Schreiner-Kürten, K „ Wilker, F.-W., Qualitätssicherung für Psychologen, Bonn, 1997; Schmidt, J., Nübling, R „ Qualitätssicherung in der Psychologie. Teil 1: Grundlagen, Hintergründe und Probleme. In: G w G Zeitschrift 2 5 ( 1 9 9 4 ) , 96, 1 5 - 2 5 ; Schmidt, J „ Nübling, R., Qualitätssicherung in der Psychologie. Teil 1: Realisierungsvorschläge, Modellprojekte und bereits laufende Projekte. In: G w G Zeitschrift 2 6 ( 1 9 9 6 ) , 9 9 , 4 2 - 5 3 ; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, ( 1 9 9 4 ) : Das RehaQualitätssicherungsprogramm der gesetzlichen Rentenversicherung - Perspektiven und Ziele. In: Deutsche Rentenversicherung ( 1 9 9 4 ) , 11, 7 4 5 - 7 5 0 . Wolfgang Schulz, Braunschweig

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Rauchen

Rauschgiftspürhunde

R Rauchen Unter R. wird die Inhalation in die Lunge verstanden, wodurch die im Tabak oder anderen rauchbaren Stoffen, wie Marihuana, Haschisch oder Opium enthaltenen Wirkstoffe über chemisch sehr komplexe Vorgänge über die Atemwege in den Blutkreislauf gelangen und physiologisch wirksam werden. Durch die Gewöhnung wird die natürliche Abwehrreaktion des Körpers gegenüber dem Rauch durch Husten zunehmend ausgeschaltet. -•Cannabis; -»•Geschichte des Tabaks; --•Nikotin; -•Opiate Rausch Mit R. wird ein Zustand beschrieben, der von starken Veränderungen von Erleben und Gefühlen gekennzeichnet ist und mit oder ohne Substanzgebrauch erreicht werden kann. R. kann sehr ambivalent erlebt werden: Symptome dafür sind Dämmerzustand, Angst, Unruhe, Wut, Delir und Halluzinationen (nach Substanzgebrauch) aber auch euphorische Stimmung bzw. Glücksgefühle wie Freudenrausch oder Siegesrausch (mit und ohne Substanzgebrauch). Während der sog. einfache oder gewöhnliche R. fast jedem Menschen im Laufe seines Lebens begegnet (Veränderung von Stimmung, Antrieb, Hemmungsvermögen, Bewußtsein, Denken, Gedächtnisfunktionen und motorische Funktionen), tritt der sog. pathologische oder atypische R. vergleichsweise selten auf. Er unterscheidet sich hauptsächlich hinsichtlich Qualität und Quantität vom einfachen R. Kennzeichnend sind Erregungs- und Dämmerzustände, die auch gelegentlich in (schwere) Gewalttaten münden. Rauschdrogen R. sind •psychoaktive Substanzen, die einen -•Rausch hervorrufen. Rauschgift R. ist ein gängiger Begriff für illegale 494

-•Drogen. Er wird sowohl in der Bevölkerung wie auch innerhalb der Polizei und Justiz mit dem Bedeutungsschwerpunkt „Gift" benutzt. Eine Aussage hinsichtlich der volksgesundheitlichen Relevanz wird häufig implizit transportiert, dennoch hat der Begriff eher eine Aussagebedeutung in Hinblick auf eine gesellschaftlich nicht akzeptierte und verbotene Substanz. Im •Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan wird der Begriff synonym für psychoaktive Substanzen gebraucht. •Drogenpolitik; -•Drogenrecht; -•Kriminalisierung Rauschgiftbekämpfung Seit dem Aufkommen des Konsums gesellschaftlich nicht akzeptierter Substanzen werden alle Maßnahmen gegen Hersteller, Verkäufer und Konsumenten häufig unter dem Begriff der R. zusammengefaßt. So gibt es sowohl einen -•Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan, in dem sehr unterschiedliche Maßnahmen und Zuständigkeiten zusammengefaßt sind, wie auch internationale Abkommen und Gremien. •Drogenpolitik; •Drogenrecht; -•Multinationale Rauschgiftbekämpfungsgremien Rauschgiftdetektion Sammelbezeichnung für die verschiedenen Arten, verstecktes Rauschgift auf dem Weg zu den Konsumenten aufzuspüren. Neben dem Einsatz von -•Rauschgiftspürhunden zählen dazu z.B. stationäre und mobile Röntgengeräte, die auf Flughäfen und großen Grenzübergängen eingesetzt werden. Um die Seewege zu kontrollieren, wurde eine Container-Röntgenanlage entwickelt. Rauschgiftspttrhunde R. werden auch als Zollhunde bezeichnet. Diese werden in speziellen Ausbildungsstätten darauf trainiert, verstecktes Rauschgift zu erschnüffeln. Dabei sind die Hunde aufgrund ihres hoch entwik-

Rehabilitation kelten Geruchssinns in der Lage, den Säuregeruch des Hydrochlorids wahrzunehmen, der bei der Aufbereitung der Rohstoffe zu konsumierfähigen Rauschmitteln entsteht. Rehabilitation 1. Allgemeines. R. gilt allgemein als Bezeichnung für die Wiedereingliederung Behinderter oder von Behinderung bedrohter chronisch Kranker in die Gesellschaft, insbesondere in Arbeit und Beruf. Dieser Begriff bezeichnet sowohl das anzustrebende Ziel als auch sämtliche Leistungen, Maßnahmen und Verfahren, die diesem Ziel dienen. Auch bei Maßnahmen für Behinderte o. a., die noch nie im o.g.S. eingegliedert waren, spricht man von R. Theoretische Konzepte und praktische, klinische Maßnahmen zur R. sind seit vorchristlicher Zeitrechnung u. a. aus Griechenland, Ägypten, China bekannt. Die Tradition der R. reicht bis in die Antike zurück und läßt sich durch das Mittelalter bis in die Neuzeit verfolgen. 2. Zur Begriffsgeschichte. Das spätlateinische rehabilitatio wurde seit dem 13. Jhdt. von Mönchen mit dem Begriffsinhalt der Wiedereingliederung in die volle Rechtsstellung in der Gemeinschaft verwendet. Rehabilitiere i. S. von Wiederherstellen und Eingliedern ist seit dem 16. Jhdt. nachweisbar. Es ist wahrscheinlich zusammengesetzt aus re- und habilitiere, letzteres entlehnt aus dem mittellateinischen habilitare, d. h. fähig machen, dieses gebildet zu habilis, d. h. leicht zu handhaben, fähig, tüchtig; eine Ableitung von habere, haben oder beherrschen. Um 1770 wurde z . B . in der Schweiz, u. a. für orthopädisch Kranke, Institutionen mit ausdrücklich rehabilitativer Zielsetzung gegründet. Rehabiliter i. S. der gesellschaftlichen Verpflichtung zur Wiedereingliederung in eine geeignete Tätigkeit fand Eingang in die französische Verfassung von 1793. Ab 1820 entstanden in Deutschland erste Krüppelheime, in denen bis zu 9 0 % der

Rehabilitation Behinderten die Erwerbsfähigkeit erlangten. Im Zusammenhang mit Problemen der Industrialisierung wurde der Begriff R. 1843 als Forderung zur Wiedereinsetzung der Armen in den Stand der Würde, von Ritter F. J. von Büß ( 1 8 0 3 - 7 8 ) im badischen Landtag verwendet und damit praktisch in die deutsche Sprache eingeführt. Im Laufe der Zeit gewinnt die R. neben ihrem juristischen Sinn (Straf- u. Zivilrecht) zunehmend eine sozialfürsorgerische und -politische Bedeutung. Das erste R.-Zentrum mit multiprofessionellem Ansatz wird 1872 in Kopenhagen errichtet. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches ab 1880 wird zu einer wesentlichen Bedingung der R. und stellt eine Zäsur in der Geschichte der R. und in die der Medizin in Deutschland dar. Die gesetzliche Krankenversicherung ( K V ) ab 1884; die gesetzliche Unfallversicherung ( U V ) ab 1885 und die gesetzliche Invaliditäts- u. Altersversicherung (RV) ab 1891 bilden hierfür die Basis. Die gesetzliche Rentenversicherung (RV) übernimmt seitdem Heilverfahren, sofern als Folge einer Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu befürchten ist, die zu Invalidität führt. Ab 1904 entstehen spezielle Heilstätten der Versicherungsträger u. a. für den Indikationsbereich Tuberkulose, die sich von den Akutkliniken bereits erheblich unterscheiden. Nach dem Ersten Weltkrieg setzt international eine Flut von Publikationen zur R. ein; es werden zahlreiche Gesellschaften, ζ. B. die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge gegründet, die sich die R. zur Aufgabe auserkoren haben. Schon um 1900, vor allem aber in der Zeit des 3. Reiches, standen sozial-darwinistische Ideen und rassistische Ideologien der R. der vorgenannten Art entgegen. Andererseits erlangten die integrierten Bemühungen der R., z . B . Hirnverletzter im Zweiten Weltkrieg, einen fachlich hohen Stand. In Deutschland wird in den 50er Jahren

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der Begriff R. offiziell in die Medizin übernommen. Damit erhält der als bis dahin eher sozialfürsorgerisch gefaßte Begriff eine sozialmedizinische Schwerpunktbedeutung mit zunehmender Abgrenzung von der Akut- u. Kurmedizin. R.-Klinken werden vermehrt eingerichtet. International gesehen geht die Bundesrepublik mit der R. einen Sonderweg. Die medizinische R. hat sich hier als dritter Versorgungsbereich herausgebildet, neben der stationären kurativen Krankenhausbehandlung und der ambulanten Versorgung durch das Hausarztsystem. Von der medizinischen R. ist „Kur" strikt zu unterscheiden! Sie zielt lediglich auf eine Stärkung der Gesundheit ab, z.B. durch unspezifische Reize wie Orts- und Milieuwechsel und durch den passiven Einsatz sog. natürlicher Heilmittel des Bodens, des Meeres und des Klimas. Eine gezielte Arbeit an den Krankheitsfolgen findet hierbei nicht statt. In der deutschen Gesetzessprache erscheint die R. als Begriff erst 1961, in § 22 des Schwerbeschädigtengesetzes. Die Begriffsentwicklung entspricht der parallelen Veränderung im -•Sozialrecht. 3. Neuere sozialrechtliche u. a. Entwicklungen. Mit der Neuregelung der RV durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz von 1957 rückten die Leistungen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als R.-Maßnahmen an die erste Stelle ihrer Regelleistungen. Einen wesentlichen Schritt zur Weiterentwicklung des R.Rechts bedeutete das R.-Angleichsgesetz von 1974, mit dem für die Sozialleistungsträger z.B. der Grundsatz „Reha vor Rente" festgeschrieben und eine einheitliche Angleichung der Rechtsvorschriften und Leistungen im gegliederten System der Sozialversicherung erzielt wurde. Mit dem ersten (1970) und zweiten (1980) „Aktionsprogramm R." hat die Bundesregierung den Ausbau der R. programmatisch zusammengefaßt.

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Die Sucht-R. erhielt ihren entscheidenden Impuls durch das Urteil des BSG von 1968, in dem Alkoholkrankheit als Krankheit i. S. der damals noch geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO) ausdrücklich anerkannt wurde. In Folge dessen entwickelten sich, mit der zunehmenden Bewilligung von R.Leistungen durch die RV, die bis dahin bestehenden Heilstätten zu R.-Einrichtungen mit fachklinischem Qualitätsanspruch. 4. Neuere Auffassungen zum R.-Begriff. Im deutschen Sozialleistungssystem sind die allgemeinen Ziele der R.-Trägergruppen jeweils spezifisch präzisiert. Für die RV z.B. gilt, daß sie Leistungen zur R. erbringt, um den Auswirkungen der Folgen nachteilsbelasteter Gesundheitsstörungen auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen ihrer Erwerbsfähigkeit zu verhindern oder um ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Frühberentung) zu verhindern bzw. sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern. Leistungen zur R. nach dem Recht des SGB (Sozialgesetzbuch) wenden sich also einerseits an Menschen, die im Anschluß an akute Ereignisse, deren einschränkende Folgen prinzipiell reversibel sind (z.B. Unfälle), einer umfassenden Behandlung bedürfen, andererseits vor allem an Menschen, die mit gleichbleibenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben müssen. Diese Vorschriften scheinen in ihrer Reichweite und Zielvorstellungen allein auf das Individuum abzuzielen, beispielsweise wenn die Mitwirkungspflicht der Versicherten betont wird. Dagegen definiert die W H O den R.-Begriff folgendermaßen: R. umfaßt alle Maßnahmen, die das Ziel haben, ein Einfluß von Bedingungen, die zur Einschränkung oder Benachteiligung führen, abzuschwächen und die eingeschränkten und benachteiligten

Rehabilitation

Rehabilitation

In der RV gilt zunehmend die internationale Klassifikation von Schädigungen, Fähigkeiten, Störungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) als Konzept zum Verständnis medizinischer R. chronischer Erkrankungen. Es berücksichtigt die durch Krankheit eingetretenen Schadensbilder (Impairments), die Betroffene in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, z . B . ihre Rollen im Erwerbsleben aufrecht zu erhalten, funktionell einschränken (Disabilities), was wiederum Störungen der Integration im Familien-, Erwerbs- oder Gesellschaftsleben bewirken kann (Handicaps). Dieses Modell der Krankheitsfolgen berücksichtigt damit eine Vielzahl von persönlichen und gesellschaftlichen Interaktionsprozessen.

von den Versicherten und den Arbeitgebern paritätisch besetzt, in Selbstverwaltungsorganen ausgeübt. Von den o. g. Sozialversicherungsträgern nicht erbrachte Sozialleistungen (z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt) werden aus staatlichen Steuermitteln finanziert und von staatlichen Behörden erbracht. Leistungsansprüche bestehen hier unabhängig von einer Mitgliedschaft für alle Personen, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen. Die Sozialversicherungsträger haben sich zur Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben jeweils für ihren Zuständigkeitsbereich zu Verbänden zusammengeschlossen. Die RV-Träger z . B . zum Dachverband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR). R.-Leistungen werden nach dem Prinzip der Risikozuordnung erbracht, d. h. es ist der Träger zuständig, der das finanzielle Risiko eines Scheiterns der Leistung tragen müßte. Er hat i. d. Regel ein besonderes Interesse, eine R.-Maßnahme erfolgreich abzuschließen, um weitere Leistungsansprüche, z . B . eine Rente abzuwenden.

5. Das gegliederte System der Rehabilitation. Leistungen zur medizinischen, beruflichen und sozialen R. können in Deutschland von verschiedenen Sozialversicherungsträgern erbracht werden. Die Sozialversicherung umfaßt die Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, letztere (die AV) wird von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) geleistet. Die Sozialversicherung weist einige wesentliche Merkmale auf: Sie wird durch Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber finanziert. Ihre Leistungen setzen grundsätzlich eine Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit voraus und die Sozialversicherungen sind Körperschaften des Öffentlichen Rechtes, d. h. sie unterliegen als ausgegliederte Staatsverwaltung der staatlichen Rechtsaufsicht mit Selbstverwaltung. Eine Fachaufsicht durch die Aufsichtsbehörde besteht nicht. Die Selbstverwaltung wird,

6. Gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation. Wesentliche Teile des Deutschen Sozialrechtes sind im Sozialgesetzbuch (SGB I - S G B XI) geregelt. Im Sozialgesetzbuch werden alle sozialen Rechte und Pflichten zusammengefaßt. Allgemeine Vorschriften für die R. befinden sich im SGB I und IV. Spezielle R.-Vorschriften für die KV sind im SGB V und für die RV im S G B VI enthalten, für die B A ergeben sie sich aus d e m Arbeitsförderungsgesetz und für die Sozialhilfe aus dem B S H G . Die R. gehört zu den sozialen Rechten gem. § 10, Abs. 1 SGB I. Daraus begründet sich jedoch kein Anspruch auf R.-Leistungen z . B . der RV, da diese gem. § 9, Abs. 2 SGB VI Ermessensleistungen sind. Auf pflichtgemäße Ausübung dieses Ermessens besteht jedoch ein Anspruch seitens des Versicherten.

Personen zu befähigen, eine soziale Integration zu erreichen. R. zielt nicht nur darauf ab, eingeschränkte und benachteiligte Personen zu befähigen, sich ihrer Umwelt anzupassen, sondern auch darauf, sie in ihre unmittelbare U m g e b u n g und die Gesellschaft als Ganzes einzugliedern, um ihre soziale Integration zu erleichtern.

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Die Leistungen an den Schnittstellen der Zuständigkeit werden durch das R.-Angleichungsgesetz von 1974 koordiniert. Es enthält allgemeine Vorschriften über Leistungen zur R., über die Einleitung der Maßnahmen, die Zusammenarbeit der Träger, Auskunft und Beratung, Vorrang der R. vor Rente und Durchführungsbestimmungen. 6.1 R.-Vorschriften im spezifischen Leistungsrecht der einzelnen Sozialversicherungsträger. Es handelt sich vor allem um Vorschriften über Voraussetzungen, Art, Dauer und Umfang der R.Leistungen. Für die KV gilt das SGB V, es unterscheidet zwischen Akutbehandlung und R. Die Bestimmungen für die Krankenbehandlung, einschließlich der medizinischen und ergänzenden Leistung zur R. sind in den §§27-51 SGB V enthalten. § 40 SGB V enthält spezielle Bestimmungen zur medizinischen R. Die Reha-Vorschriften für die RV ergeben sich aus den §§9-32, 111 u. 116 SGB VI. Für die BA ist die berufliche R. in den §§ 56-62 des AFG geregelt. Für die Sozialhilfe gilt, daß deren Leistungen zur R. als Eingliederungshilfe nach den Leistungsvorschriften der §§ 39-47 BSHG gewährt werden. Die Zuständigkeit der Träger ergeben sich grundsätzlich aus den Gesetzen. Ergänzend wurden zwischen den Trägem Vereinbarungen geschlossen. 7. Die Bedeutung der RV für die Rehabilitation. Unter allen Sozialleistungsträgern erbringt die RV in Deutschland den bedeutendsten Beitrag an Leistungen für die R. Das gilt sowohl für die Anzahl der Maßnahmen als auch für die aufgebrachten Kosten und für deren inhaltliche Entwicklung. So wurden 1996 von den Trägern der RV für 1 133500 abgeschlossene R.-Leistungen (davon 1021600 medizinische Leistungen und 119000 Leistungen zur beruflichen R.) 10,41 Mrd. DM aufgewendet. Im Bereich der Sucht wurden seitens RV 1996 351000 Entwöhnungsbehandlun498

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gen durchgeführt, hierfür wurden 940 Mill. DM aufgewendet. Der Schwerpunkt lag bei den Leistungen für Alkoholabhängige, die 78% aller Suchtleistungen ausmachten. Die KV'en als zweitgrößter Sozialversicherungsträger im Bereich der R. gaben dagegen weniger als Ά der o. g. Aufwendungen für die R. aus! Es soll daher in erster Linie von der R. im Rahmen der RV-Träger (Arbeiterrentenversicherung und Angestelltenrentenversicherung, Knappschaft u. a.) die Rede sein. 8. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen für die medizinische R. in der RV. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen ergeben sich aus § 11 Abs. 1-3 SGB VI und sind erfüllt, wenn einer der folgenden Tatbestände vorliegen: 1. Die Wartezeit (Beitrags- u. Ersatzzeiten) von 15 Jahren ist erfüllt. 2. Der Versicherte bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit. 3. In den letzten 2 Jahren vor Antragstellung sind 6 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt. 4. Innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung wurde eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit aufgenommen und bis zum Antrag ausgeübt bzw. nach einer solchen Beschäftigung oder Tätigkeit bestand bis zum Antrag Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit. 5. Der Versicherte ist vermindert erwerbstätig und hat die allgemeine Wartezeit (5 Jahre Beitragszeit einschließlich Ersatzzeiten) erfüllt. 6. Verminderte Erwerbsfähigkeit ist in absehbarer Zeit zu erwarten, die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren ist erfüllt. 7. Der Antragsteller ist der überlebende Ehegatte des Versicherten und hat Anspruch auf große Witwen-/ Witwerrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. 9. Persönliche Voraussetzung für R.Leistungen in der RV. Das R.-Ziel der RV ist die Eingliederung in das Erwerbsleben. Bevor Maßnahmen bewilligt werden ist von der RV zu prüfen, ob

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es erforderlich und möglich ist, die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu erhalten, wesentlich zu bessern oder wiederherzustellen. Es müssen daher kumulativ folgende, persönliche Voraussetzungen vorliegen (§ 10 SGB VI): Es muß eine Krankheit oder eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung vorliegen und ursächlich sein für eine erhebliche Gefährdung oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit. Ist dies der Fall, so muß durch die R. voraussichtlich ihre Minderung abgewendet werden können. Ist die Erwerbsfähigkeit bereits gemindert, so muß diese durch die R. voraussichtlich wesentlich gebessert oder vollständig wieder hergestellt werden können oder der Eintritt von Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden können. Für R.-Leistungen für HIV-positive bzw. an AIDS erkrankte Versicherte gilt nach den Verfahrensempfehlungen des VDR: Die Tatsache einer HIV-Infektion schließt R.-Leistungen nicht aus, auch wenn z.B. ein Lymphadenopathiesyndrom vorliegt, weil ein temporärer Heilerfolg i. S. des SGB VI nicht sicher ausgeschlossen werden kann. ( +Aids). Diese Voraussetzungen werden bei der RV von deren sozialmedizinischen Diensten geprüft. 10. Ausschluß von Leistungen. § 12 SGB VI bestimmt den Personenkreis, für den Leistungen nicht erbracht werden: Versicherte, die eine Altersrente von mehr als zwei Dritteln der Vollrente beziehen oder diese beantragt haben; Personen, bei denen eine beamtenrechtliche oder vergleichbare Anwartschaft auf Versorgungsleistungen besteht; Versicherte, die eine Leistung beziehen, die bis zum Beginn der Altersrente gezahlt wird oder die sich im Haft- oder Maßregelvollzug befinden. Für Versicherte im Haftvollzug gilt: Ist vom erkennenden Gericht Strafaussetzung bzw. Haftverschonung gem. § 35 BtMG zu erwarten, kann, sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, die

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grundsätzliche Kostenübernahme für eine R. ausgesprochen werden, wenn die zu belegende Einrichtung gem. § 35 BtMG staatlich anerkannt ist. 11. Art und Umfang der medizinischen Leistungen zur R. Medizinische Leistungen zur R. aller Träger umfassen: Behandlung durch Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht und auf ärztliche Anordnung durchgeführt werden, einschließlich der Anleitung der Versicherten, eigene Abwehr- und Heilungskräfte zu entwickeln. Diese Leistungen können stationär, teilstationär und ambulant erbracht werden. Die RV bestimmt im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen sowie die R.-Einrichtung nach pflichtgemäßen Ermessen, meist in Einrichtungen, mit denen sie ein Vertrag o. ä. bindet und die überwiegend von den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege betrieben werden. In den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige stehen in der BRD ca. 11 000 Betten und für Drogenabhängige ca. 5000 Betten zur Verfügung. 12. Vereinbarungen zur R. von Abhängigkeitskranken. Schon um die Jahrhundertwende haben einzelne LVA'en (z.B. LVA Hannover 1892) im Rahmen ihrer Kann-Leistungen vereinzelt Kosten für die Behandlung ihrer Versicherten in sog. Trinkerheilanstalten übernommen. Seitdem das BSHG 1968 die Suchtstoffabhängigkeit ohne weitere Voraussetzung als Krankheit i. S. der Sozialgesetze bewertet hat, sind die Sozialversicherungsträger in die R. einbezogen. Die Spitzenverbände der RV und KV haben hierüber 3 wesentliche Vereinbarungen getroffen: 12.1 Suchtvereinbarung von 1978. In ihr haben sich die Spitzenverbände der RV und KV auf eine Leistungsabgrenzung zwischen der stationären Entzugs- bzw.

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Rehabilitation Entgiftungs- und der Entwöhnungsbehandlung geeinigt. Demnach ist der Entzug als Akutbehandlung anzusehen und damit Sache der KV. Die Entwöhnung stellt eine medizinische R.-Leistung dar, f ü r die vorrangig die RV zuständig ist. Werden während der Entwöhnung Entgiftungserfordernisse festgestellt, übernimmt die zuständige RV hierfür die Kosten. Das Verfahren erfolgt i.d.R. auf Antrag des Versicherten auf der Grundlage eines sozialmedizinischen Gutachtens und eines von einer Suchtberatungsstelle erstellten Sozialberichtes (beides nach Formblatt). Ferner sind in der Suchtvereinbarung die Anforderungskriterien für Entwöhnungseinrichtungen definiert. Diese müssen über ein wissenschaftlich begründetes Therapiekonzept verfügen, das Aussagen zur Indikation, zur Anfangsdiagnostik, zum Behandlungsplan, zur Epikrise und zur Effektivitätsüberp r ü f u n g der Gesamtbehandlung macht. Zur personellen Ausstattung ist festgelegt, daß qualifizierte und erfahrene Ärzte, Dipl.-Psychologen, Sozialarbeiter/Sozialpädagogen, Arbeits- u. Beschäftigungstherapeuten mit geeigneter Zusatzausbildung zur Verfügung stehen müssen, die in der Lage sind, die konzeptionellen Grundlagen in Therapiepraxis umzusetzen. 12.2 Gesamtkonzept zur R. von Abhängigkeitskranken von 1985. Hiernach werden grundsätzlich 4 Behandlungsphasen voneinander unterschieden: 1. Die Kontakt- u. Beratungsphase, in der Krankheitseinsicht, Erstmotivation zur Behandlung sowie eine erste, umfassende Diagnose erarbeitet wird. 2. Die Entzugs- oder Entgiftungsphase, die in Akutkrankenhäusern oder in speziellen Entzugsstationen der psychiatrischen Kliniken erfolgt, ζ. T. mit Konzepten zur qualifizierten Entgiftung. 3. Die Entwöhnungsphase erfolgt entweder stationär in speziell d a f ü r ausgewiesenen Entwöhnungseinrichtungen, zu denen mittlerweile eine Adaptionsphase gehört, teilstationär oder ambulant. 4. Die Nach-

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Rehabilitation sorgephase dient der Sicherstellung der Ergebnisse der vorangegangenen Entwöhnung. 12.3 Vereinbarung über ambulante Entwöhnungsbehandlung EVARS. In ihr wurden 1991 die Voraussetzungen für ambulante Leistungen festgelegt. Sie sind gegeben, wenn aufgrund des Krankheitsverlaufes und der sozialen Situation eines Versicherten eine stationäre Entwöhnung nicht indiziert oder letztere soweit fortgeschritten ist, daß sie nicht mehr stationär erfolgen muß. Bereitschaft und Fähigkeit zur Abstinenz und zur aktiven Mitarbeit und regelmäßiger Teilnahme m u ß gegeben sein. Kontraindikationen sind schwere Störungen auf seelischem, körperlichem oder sozialen Gebiet. Als Anforderung an die Behandlungsstelle ist festgelegt, daß ein wissenschaftlich begründetes Therapiekonzept vorliegen muß, mit Aussagen zur Indikation, zum diagnostischen und therapeutischen Vorgehen, zu den Leistungen, Zielen und zur Leistungsdauer. Die Einrichtung m u ß über ein integriertes Programm zur Betreuung Abhängiger verfügen. In ihr müssen auf dem Gebiet der Suchtkrankenhilfe qualifizierte Ärzte, Dipl.-Psychologen und Sozialarbeiter/Sozialpädagogen regelmäßig und verantwortlich mitarbeiten. Mindestens 3 Therapeuten müssen hauptamtlich tätig sein und über eine geeignete Zusatzausbildung verfügen. Ambulante Leistungen werden für maximal 18 Monate erbracht, in denen bis zu 120 Einzel- und/oder Gruppengespräche abgerechnet werden können. Die EVARS wurde Ende 1996 überarbeitet, die überarbeitete Fassung ist seit dem 1. 1. 1997 in Kraft. Die sog. nicht stoffgebundenen Abhängigkeitsformen, die nach Auffassung der RV - z.B. bei den Eßstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimie - zu den Verhaltensauffälligkeiten gehören oder das pathologische Spielen, das zu den Störungen der Impulskontrolle gehört, können z.B. in psychosomatischen Fachkliniken behandelt werden.

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13. Einleitungs-, Begutachtungs- und Bewilligungsverfahren. In der RV werden R.-Leistungen grundsätzlich auf Antrag erbracht. Antragsaufnehmende Stellen sind alle Leistungsträger, Auskunfts- u. Beratungsstellen, Versichertenälteste, Versicherungsämter, Orts- u. Gemeindebehörden und deutsche Konsulate. Im Begutachtungsverfahren beurteilt der ärztliche Dienst der RV die Reha-Bedürftigkeit aus sozialmedizinischer Sicht. Im Bewilligungsverfahren wird über den R.-Antrag entschieden. Grundlage sind die o. g. sozialmedizinischen Voraussetzungen und eine Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Dem Versicherten wird ein Bewilligungsbescheid erteilt. Die o. g. Verfahren erfolgen in der Regel besonders rasch und unverzüglich. Im Rahmen der medizinischen R. können auch Übergangsgeld, Fahrtkosten und andere Leistungen bezahlt werden, erforderlichenfalls sind im Anschluß auch Leistungen zur beruflichen R. möglich. 14. Qualitätssicherung (QS) in der R. QS- und -managementprogramme sind mittlerweile wichtiger Bestandteil des Gesundheitssystems. Der VDR hat 1995 ein umfangreiches Programm zur internen und externen QS in der R. begonnen. Mit ihm sollen effektive Strukturen und Instrumente zur kontinuierlichen QS-Entwicklung in den Dimensionen Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität mit den Zielen: Gewährleistung einer bedarfs- und patientengerechten R.-Versorgung, Verbesserung der Wirksamkeit der Leistungen und höhere Transparenz der Leistungserstellung geschaffen werden. Das Programm umfaßt 5 Schwerpunkte: Erfassung der Strukturqualität, Therapiepläne, Qualitätsscreening, Patientenbefragung und Qualitätszirkel. Die Struktur- und Ergebnisqualität werden bereits routinemäßig gemessen, die Analyse der Prozeßqualität wird derzeit mit dem Verfahren des „Peer review" er-

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probt. Erste Ergebnisse liegen bereits vor. (-»Qualitätssicherung) 15. R.-Forschung. Die R.-Forschung ist ebenfalls ein Mittel zur QS-Sicherung. Die RV hat daher 1996 mit dem B M B F den Förderschwerpunkt Rehabilitationswissenschaften ausgeschrieben mit den Zielen, eine Infrastruktur der R.-Forschung an den Universitäten aufzubauen und zu stärken und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die medizinische R. wirksamer und wirtschaftlicher gestaltet werden kann. Mittlerweile sind regionale Forschungsverbünde unter Einbindung von Hochschulinstitutionen und R.-Einrichtungen entstanden. Zunächst unabhängig davon beteiligt sich die RV projektbezogen auch an wissenschaftlichen evaluierten Modellvorhaben im Suchtbereich, z.B. am Modellprojekt Methadon in NRW. (-•Evaluation) 16. Ausblicke. In den letzten Jahren haben sich die R.-orientierten stationären und ambulanten Entwöhnungssettings inhaltlich diversifiziert, Behandlungszeiten werden zunehmend individualisiert und flexibel eingesetzt, Behandlungsverbünde zwischen stationären und ambulanten Formen und deren Kombination sind etabliert, tagesklinische Angebote kommen hinzu, die Möglichkeiten genauerer Diagnostik und Indikationsstellung entwickeln sich. Die traditionelle Struktur der Suchtkrankenhilfe verschiebt sich in Richtung größerer Realitätsnähe, Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung der Patienten, Kompetenztraining, Lösungsstatt Problemorientierung, größere Zielgerichtetheit im Sinne der gesetzlichen Ziele und Erwartungen der Leistungsträger. Hierzu werden hochwirksam gestaltete Kooperationen mit der Wirtschaft, der Arbeitsverwaltung und Anbietern aus dem komplementären Bereich gehören, um die Integration in Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu erhöhen und zu verbessern. 501

Release

Risikogruppe

Mit dem Rentenreformgesetz 1999 sind die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorgegeben, daß die RV auch künftig ihren R.-Auftrag erfüllen können. -•Evaluation; -»-Qualitätssicherung; -»Sozialrecht Lit.: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg.), Kommentar zum Sozialgesetzbuch VI, Bd. I, 9 - 1 5 , Frankfurt a. M „ 1997; Delbrück, H„ Haupt, E. (Hrsg.), Rehabilitationsmedizin, Therapie- und Betreuungskonzepte bei chronischen Krankheiten, München u. a., 1996; Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe in Deutschland, Geschichte Strukturen - Perspektiven, Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren, Bd. 40, Freiburg im Breisgau, 1997; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg.), VDR - Info 5/97; V.Engelhardt, Prof. Dr. (Hrsg.), 100 Jahre Rehabilitation, Deutsche Rentenversicherung 9-10/1990, S. 572-88. Georg Wiegand, Hannover Release Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige, die sich aus Drogenkonsumenten, ehemaligen Süchtigen und Fachkräften mit pädagogischen Ausbildungen zusammensetzten. Anlaß zur Gründung 1970 in Hamburg waren die massiven staatlichen Sanktionsbemühungen gegen Drogenhandel und -konsum sowie gegen die - »Konsumenten. Da nach Auffassung von R. dem Staat jegliches Verständnis für Drogenkonsumenten und deren spezifische Bedürfnisse und Nöte fehlt, wollte R. hier ein Gegengewicht zu den repressiven Maßnahmen bilden und den Drogenkonsumenten im Sinne einer akzeptierenden Hilfe Unterstützung für ein Leben ohne Sucht und Kriminalität geben. Durch interne Meinungsverschiedenheiten über Arten der Hilfe für Drogenkonsumenten und welche Haltung gegenüber Staat und Administration einzunehmen sei, zerbrach diese Bewegung 502

schließlich oder entwickelte sich weiter, indem Konzepte aus den USA übernommen wurden, was schließlich z.B. zur Gründung von -»Synanon führte. - • A k zeptierende Drogenarbeit Religion -•Geschichte des Alkohols, -•Geschichte der Opiate, -•Geschichte des Tees und des Kaffees; -»Soziologische Konzepte Rentenversicherung -•Kostenträger Rezeptoren -•Neurobiologe Risikogruppe Bez. für eine Gruppe von Personen, die aufgrund bestimmter Merkmale bestimmten Risiken in besonderem Maße ausgesetzt sind. In der -»Prävention und -•Suchtkrankenhilfe wurde R. inzwischen überwiegend durch die Begriffe der Risikofaktoren und Risikobereiche ersetzt, da Untersuchungen eine Signifikanz hinsichtlich besonderer Personengruppen nicht nachweisen konnten. Darüber hinaus führte der Begriff zu einer problematischen Stigmatisierung einzelner Gruppen. Sinnvoller und weniger stigmatisierend ist es, von Zielgruppen für einzelne präventive Maßnahmen oder Kampagnen zu sprechen. Ausnahmen bilden im Bereich der -•Sekundärprävention die Gruppe der i. v. Drogenkonsumenten, die aufgrund ihrer Lebensumstände das Spritzbesteck gemeinsam benutzen und damit im besonderen Maße dem Risiko einer ->HIVoder »Hepatitisinfektion ausgesetzt sind; Konsumenten mit bereits schädlichem oder riskantem Gebrauch im Hinblick auf eine Abhängigkeitsentwicklung und die Gruppe der 18-2 ljährigen jungen Männer in Hinblick auf das Unfallgeschehen im Straßenverkehr unter Substanzeinfluß. Auch für die hier genannten Gruppen wäre es sinnvoller, sie als Zielgruppe zu beschreiben. - • G e nese; -»Prävention

Rituale

Rituale Solange der Konsum psychoaktiver Substanzen in kulturelle oder religiöse Rituale oder Zeremonien eingebettet war oder ist, scheint es wenig Probleme in Hinblick auf einen schädlichen Gebrauch oder eine Abhängigkeitsentwicklung bei Menschen zu geben. Rituale setzen einen Rahmen, in dem es einen Konsens in Hinblick auf die Konsummenge und/oder -häufigkeit und die Bedeutung des Konsums bei den an dem Ritual Teilnehmenden gibt. So hatte das Rauchen der Friedenspfeife bei den amerikanischen Indianern eine soziokulturelle und der Konsum bestimmter psychoaktiver Substanzen bei Schamanen eine religiöse Bedeutung. Durch die industrielle Herstellung von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen und der damit verbundenen größeren -•Verfügbarkeit wurde der Konsum aus bestimmten Konsumanlässen und den damit verbundenen Ritualen herausgelöst und psychoaktive Substanzen konnten zu Alltagsdrogen werden, deren Konsum nur durch gesetzliche Beschränkungen eingegrenzt wird. -•Geschichte des Alkohols; -*Geschichte der Opiate; -»Geschichte des Tees und des Kaffees; --•Soziologische Konzepte

Rückfall

Romilar® Medikament, das in den 60er und 70er Jahren als Ersatz für LSD angewendet wurde. -»Geschichte der Opiate

nach jeglicher erneute Suchtmittelkonsum als „(nasser) Rückfall" gilt. Mit dem früheren Trinkverhalten korrelierte Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen (z.B. „Großspurigkeit") werden als „trockener Rückfall" bezeichnet. In der Forschung geht man meist über die gängige Dichotomisierung (erneuter Konsum: ja/nein) hinaus und differenziert z.B. nach „abstinent", „abstinent nach Rückfall", „mäßiger Konsum" usw. Eine wichtige Rolle spielt inzwischen die Unterscheidung zwischen geringfügigem, einmaligem bzw. kurzzeitigem Konsum (Ausrutscher, slip, lapse, episodischer Rückfall) und der Rückkehr zum früheren Konsumniveau (schwerer Rückfall, relapse). Lassen sich Nachweise erbringen, daß die Art der Beziehungsgestaltung (bzw. der Versuch, diese zu ändern) den erneuten Suchtmittelkonsum begünstigt, wird von „systemischem Rückfall" gesprochen. „Iatrogener Rückfall" bedeutet, daß die ärztliche Verordnung bzw. Einnahme eines Pharmakons (v.a. alkoholhaltiger bzw. stimmungsverändernder Medikamente) einen Suchtmittelrückfall induziert. Die Sichtweise des Konsumenten, ab wann er selbst von einem Rückfall spricht („subjektive Rückfalldefinition"), bleibt in empirischen Studien meist unberücksichtigt, obwohl ihr für die Selbststeuerung des Verhaltens eine wichtige Bedeutung zukommt (s.u. „Abstinenz-Verletzungs-Effekt"; vgl. zu Rückfalldefinitionen Körkel und Lauer 1995).

Rückfall 1. Rückfall-Begriff. Rückfälle von Menschen mit Suchtproblemen gelten nach landläufiger Auffassung als der Indikator schlechthin für Versagen von Berater/Therapeut, Klient und Behandlung. In diesem Sinne werden Verläufe von Suchterkrankungen oftmals als „Entweder-Oder-Phänomene" betrachtet: Entweder abstinent („Jetzt ist es geschafft!") oder rückfällig (= „Alles war vergeblich!"). Ganz in diesem traditionellen Sinne herrscht in der Suchthilfe eine „enge Rückfalldefinition" vor, wo-

2. Rückfalltheorien. Eine Vielzahl von Theorien zur Erklärung, Vorhersage und gezielten Beeinflussung des Rückfallgeschehens existiert inzwischen (vgl. Körkel und Lauer 1995). Den größten Einfluß auf Forschung und Praxis übt die Theorie von Alan Marlatt (1985), dem Begründer der psycho-sozialen Rückfallforschung, aus; sie ist auch diejenige, die empirisch am besten gestützt ist. Nach Marlatt wird der Wiederkonsum nach einer Abstinenzphase durch vier Bedingungen begünstigt: 1. einen un-

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ausgewogenen Lebensstil (zu viele Verpflichtungen, zu wenige Regenerationsmöglichkeiten); 2. Risikosituationen (z.B. belastende emotionale Zustände, Aufforderungen zum Mitkonsum, kritische Lebensereignisse u.a.m.); 3. unzureichende Verhaltenskompetenzen (z.B. nicht konsequent „nein" zu sagen); 4. ungünstige emotionale und kognitive Prozesse. Zum System problematischer kognitiver Muster gehören v.a. die zu geringe (oder überoptimistische) Zuversicht, Risikosituationen bewältigen zu können („Selbstwirksamkeitserwartungen"), positive Erwartungen an die Wirkungen des Konsums („Konsumfolgeerwartungen") und die Überzeugung, nach dem ersten erneuten Konsum des Suchtmittels („Ausrutscher") dem weiteren Konsum hilflos ausgeliefert zu sein. Diese Vorstellung, nach der der „erste Schluck" (bzw. erste „Druck", erste Zigarette, erste Eßanfall usw.; allgemein: „Ausrutscher") aufgrund autonomer körperlicher Prozesse zum Kontrollverlust führt („Schnapspralinenmythos"), wird von Marlatt auf der Basis eigener Experimente als eine sich selbsterfüllende Prophezeiung eingestuft: Prinzipiell vorhandene Steuerungsfähigkeit wird aufgegeben, weil man den Wiederkonsum auf eine globale, relativ stabile eigene Abstinenzunfähigkeit (z.B. Willensschwäche) zurückführt, dementsprechend den weiteren Konsum für nicht mehr kontrollierbar hält und zusätzlich durch unangenehme Gefühle (z.B. Scham- bzw. Schuldgefühle) belastet wird. Dieses Phänomen, daß ein Ausrutscher aufgrund seiner ungünstigen kognitiv-emotionalen Verarbeitung (statt „krankheitsbedingter" biochemischer Prozesse) in der Rückkehr zu alten Konsummustern endet, wird von Marlatt als „Abstinenz-Verletzungs-Effekt" bezeichnet. Andere, empirisch zum Teil kaum abgesicherte Theorien rücken einzelne Bestandteile des Marlatt'schen Modelle (z.B. Annis: Selbstwirksamkeitserwartungen) oder andere Vorläufer des Rück-

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fallgeschehens in den Vordergrund: ein konditioniertes Suchtmittelverlangen, das durch interne Zustände oder Situationen, die früher mit Konsum gekoppelt waren, ausgelöst wird (Ludwig, Wickler u.a.); eine tiefgreifende Störung des Selbstwertgefühls (Wohlfarth), das Erleben von Bedrohlichkeit im familiären System angesichts konfliktträchtiger Wirkungen der Abstinenz (Schmidt), das Wirken hochautomatisierter Handlungsrouten (Tiffany), biochemische Bahnungsprozesse (Littleton) u.a.m. 3. Stand der Rückfallforschung 3.1 Rückfallhäufigkeiten. Für unterschiedlichste Sucht- (Nikotin-, Alkohol-, Medikamenten-, Drogenabhängigkeit) und Behandlungsformen (Psycho-, Sozio-, Pharmakotherapie; ambulante und stationäre Behandlung) läßt sich immer wieder der gleiche Befund replizieren: Etwa ein Drittel der Behandelten hat ein halbes Jahr nach Behandlungsende erneut „sein" Suchtmittel konsumiert, nach l'/2 bis spätestens 4 Jahren sind es mehr als die Hälfte. Das Rückfallrisiko ist etwas höher bei Frauen und deutlich erhöht bei Therapieabbrechern; l - 3 w ö c h i g e Entgiftungs-/Motivationsbehandlungen führen wesentlich rascher zum Rückfall als eine mehrmonatige Entwöhnungsbehandlung; auch schon während einer Behandlung kommen Rückfälle in nennenswertem Ausmaß vor; äußerer Druck zur Aufnahme einer Behandlung (durch Partner, Arbeitgeber, Gericht usw.) sagt wenig über die Veränderungsprozesse und den Verbleib in der Behandlung und auch nicht über die Höhe der späteren Rückfallquoten aus. Diese auf den ersten Blick entmutigend klingenden Ergebnisse erhalten jedoch im größeren Kontext betrachtet eine positivere Konnotation: Bei Nutzung des deutschen Suchthilfesystems (-•Suchtkrankenhilfe) kommt es nämlich zu bedeutsam weniger Rückfällen als etwa in den USA, Großbritannien und Skandinavien. Beispielsweise sind gemäß der größten US-amerikanischen

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Studie von Polich, Armor und Braiker aus dem Jahr 1981 („Rand-Report") 4 Jahre nach Abschluß einer stationären Alkoholentwöhnungsbehandlung 93% rückfällig (Deutschland: 54%; „MEATStudie, Küfner, Feuerlein und Huber 1988). Und: Rückfälligkeit tritt mindestens genauso häufig über das gesamte Spektrum psychiatrischer und psychosomatischer Erkrankungen hinweg (ζ. B. Schizophrenie, Depressionen, Panikattacken), aber auch bei delinquentem Verhalten und anderen psycho-sozialen Auffälligkeiten auf. Der Suchtrückfall ist somit in keinster Weise ein „exotisches Phänomen" und sollte dementsprechend nüchtern, entmystifiziert und relational betrachtet werden. 3.2 Rückfallzeitpunkte. In der Rückfallforschung wurde für die verschiedenen psychotropen Substanzen (inklusive Nikotin) einheitlich aufgezeigt, daß die ersten 3 - 6 Monate nach Behandlungsende die Zeit des größten Erstrückfallrisikos darstellen. Man kann sich dementsprechend darauf einstellen, daß Rückfälle nach Abschluß einer Behandlung bzw. beim Übergang zwischen Behandlungssystemen (z.B. zwischen stationärer Therapie und Nachsorge) besonders wahrscheinlich sind. 3.3 Rückfallverläufe. Rückfälligkeit ist kein statisches Phänomen, sondern ein dynamischer Prozeß: Befragt man z.B. Alkoholabhängige zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach ihrer stationären Therapie (etwa nach 6 Monaten, 18 Monaten, 4 Jahren, 7 Jahren oder 10 Jahren), ob sie im Halbjahr vor der Befragung Alkohol getrunken hatten, stößt man nur auf ca. 33-42% Alkoholkonsumenten, wohingegen es bei kumulativer Betrachtung (d. h. über den gesamten Nacherhebungszeitraum hinweg) deutlich mehr sind (s. o.). Mit anderen Worten: Mit der Zeit wird ein Teil der Rückfälligen abstinent, ein Teil der Abfälligen rückfällig. Langfristig am stabilsten sind diejenigen Ex-Patienten, die die ersten Monate nach einer Behandlung ihre Absti-

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nenz bewahrten, wie bundesdeutsche, schweizer und US-amerikanische Katamnesestudien demonstrieren. Beispielsweise behielten in einer Tübinger 10-Jahres-Alkoholkatamnese von Längle und Schied aus dem Jahr 1990 von den nach zwei Katamnesejahren Abstinenten 86% auch die folgenden acht Jahre diesen Status bei. Ausrutscher gehen - wenn überhaupt meist nicht abrupt in schwere Rückfälle über. So hatten zum Beispiel in der multizentrischen deutschen Studie von Küfner et al. (1988; „MEAT-Studie") 53,5% aller Alkoholrückfälligen im Zeitraum von 18 Monaten nach der stationären Therapie nur einen Ausrutscher von maximal drei Tagen Dauer, und in der vergleichbaren Schweizer Studie von Maffli et al. waren selbst über einen 7-Jahres-Zeitraum hinweg lange anhaltende Rückfälle nicht die Regel: Fast die Hälfte (45%) der in den 7 Jahren Rückfälligen hatte eine Gesamtrückfalldauer von unter 3 Monaten. Bei Drogenabhängigen stellte Gossop in einer durch Urinproben validierten Studie fest, daß 16% der zuvor dreiwöchig entgifteten Drogenabhängigen über den anschließenden sechsmonatigen Beobachtungszeitraum hinweg einen nicht-täglichen Opiatgebrauch („occasional/less-than-daily use") ohne körperliche Abhängigkeitssymptome praktizierten. Von manchen Abhängigen kann der Suchtmittelgebrauch nach erneutem Konsumbeginn auf einem geringen Niveau gehalten werden, so daß von „moderatem" oder „kontrolliertem" Konsum zu sprechen ist. In diesem Sinne wurden in der multizentrischen deutschen Studie von Küfner et al. (1988) 2,6% der Entwöhnungsbehandelten in den 4 Katamnesejahren als gebessert eingestuft, im amerikanischen „Rand-Report" 12% und in der Schweizer 7-Jahres-Katamnese 21,5%. Nicht zu ignorieren sind die Folgen von schwerer Rückfälligkeit. Vermutlich tragen zu der bis zu zehnfachen Übermortalität von Alkohol- und Drogenabhän-

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gigen die dauerhaft schwer Rückfälligen in besonderem Maße bei. Weiterhin steigt in Familien Rückfälliger die vom rückfälligen Partner ausgehende Gewalt nachweislich an. Empirisch nachgewiesen ist auch, daß Klientelrückfälle für Mitarbeiter der Suchthilfe zu Belastungen führen, insbesondere dann, wenn bei ihnen nur die Dauerabstinenz als Ziel zählt, sie nicht mit Rückfällen rechnen und sie sich eine Beteiligung an der Rückfallverursachung zuschreiben. Zur Prozeßhaftigkeit des Suchtgeschehens bleibt festzuhalten: Menschen „wachsen" offenbar nicht nur über längere Zeit „in die Sucht hinein", sondern sie bedürfen i.d.R. auch mehrerer Anläufe und längerer Zeiträume, um sich ihr wieder - mit Ausrutschern oder Rückfällen - zu entledigen. Prochaska, Norcross und DiClemente (1997) haben dies in ihrem in der Suchtforschung einflußreichen „Stufen-der-VeränderungModell" berücksichtigt, in dem der Rückfall eine von sechs Etappen bei der Veränderung des Suchtverhaltens darstellt. Ausrutscher/Rückfälle sind demnach auch in diesem „stages-of-changemodel" ein normaler Bestandteil des Ausstiegs aus der Sucht, wenngleich nicht gerade ein erwünschter, manchmal tödlich verlaufender, für Behandler stellenweise Verdruß und für Freunde und Angehörige viel Leid bringender.

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3.4 Rückfallvorläufer/-ursachen(Abb. 1) Den wichtigsten Faktor in der Rückfallentstehung bilden als unangenehm und nicht steuerbar erlebte Affekte, die von ihrer Ausprägung her häufig den Rang einer starken psychischen Beeinträchtigung („komorbiden Störung", -•Komorbidität) einnehmen und die die abhängige Person im Sinne eines „Reizschutzes" zu mildern bzw. zu beseitigen sucht (Selbstmedikations-Hypothese). Derartige Affekte können sein: schwere Ängste oder depressive Störungen, abrupte Stimmungsschwankungen, Gefühle innerer Leere und fragiler Identität (wie etwa bei Borderline-Störungen), Verlusterlebnisse nach Trennung/Tod/ Kündigung, aufkommende Wahnsymptome, unangenehme Nebenwirkungen von Psychopharmaka und viele andere mehr. Im extremsten Fall kann ein Rückfall auch einen Suizid verhindern, wenn der Zustand der Abstinenz als quälend und zermürbend erlebt wird (z.B. bei schweren Depressionen oder Borderline-Störungen). In diesem Sinne bedeutet der Eintritt der Abstinenz „nicht nur die Erlösung von den quälenden Krankheitssymptomen der Sucht, sondern auch den schmerzhaften Verzicht auf eine Substanz, die eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Affekten, der Abwehr von Kränkungen und der Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls gespielt hat" (Wohlfarth 1992: 159). Außer Affekten können auch spezifische Kognitionen rückfall begünstigend sein, wie etwa keine klare Selbstverpflichtung zur Abstinenz, Unterschätzungen des Rückfallrisikos in umschriebenen Situationen oder eine Überschätzung der eigenen Kompetenzen, derartige Risiken suchtmittelfrei bewältigen zu können. Ein rein „krankheitsbedingtes", biologisches Suchtmittelverlangen per se ist nach den vorliegenden Studien demgegenüber keine maßgebliche Rückfallursache. Neben intrapsychischen spielen soziale Faktoren wie das Fehlen eines sozialen Netzwerkes (Partnerschaft, Freundes-

Rückfall

Rückfall

kreis, Anschluß an Freizeit- und Selbsthilfegruppen) als Rückfallvorläufer eine gewichtige Rolle. Schließlich ist zu bedenken, daß das Behandlungssystem selbst zur „Rückfallanheizung" beitragen kann. Ein schwerer Rückfallverlauf wird u.a. durch die fehlende Vorbereitung auf den Umgang mit Ausrutschern (siehe oben: „Abstinenz· Verletzungs-Effekt"), hohe Zugangsschwellen für Wiederbehandlungen (z.B. „abschreckende Entgiftungen", etwa in der Form: „Sie brauchen hier so schnell nicht wieder auftauchen!"), Fehlplazierungen (z.B. Wahl einer stationären Kurzzeitbehandlung bei Abhängigen mit von vornherein ungünstiger Prognose) und pauschale „disziplinarische" Entlassung nach Wiederkonsum begünstigt.

fassende sozialarbeiterische Nachsorge am Wohnort positiv beeinflußt werden.

3.5 Rückfallprävention. Empirisch belegt ist, daß die regelmäßige Teilnahme an Nachsorgemaßnahmen (Selbsthilfegruppen, Beratung oder Psychotherapie) im Anschluß an eine stationäre Behandlung dem erstmaligen Auftreten von Ausrutschern vorbeugt (primäre Rückfallprävention). Nachsorgemaßnahmen erweisen sich dann als äußerst rückfallpräventiv, wenn sie direkt nach Behandlungsende beginnen und über einen Zeitraum von mindestens 6 - 1 2 Monaten durchgeführt werden. Damit kontrastiert die Tatsache, daß in Deutschland z.B. über die Hälfte der Alkoholabhängigen nach der Entwöhnungsbehandlung keine Nachsorgeangebote in Anspruch nimmt (Frauen noch deutlich seltener als Männer); z.B. suchen 34% der Abhängigen niemals eine Selbsthilfegruppe und 80% niemals eine Beratungsstelle auf. Ist es nach einer stationären Behandlung zu einem Ausrutscher gekommen, so können dessen Dauer, Intensität und Folgewirkungen i.S.d. sekundären Rückfallprävention wiederum durch Nachsorgemaßnahmen (z.B. Selbsthilfegruppenbesuche), aber auch durch ambulant oder stationär durchgeführte Rückfallpräventionstrainings und eine um-

4.2 Vernetzung. Interventionen müssen frühzeitig und gezielt ansetzen, um die Schwere und Dynamik von Ausrutschern/Rückfällen günstig zu beeinflussen. Dies erfordert die kooperative Zusammenarbeit verschiedenster Teile des Suchthilfesystems (Suchtberatungsstellen, Gesundheitsamt, Allgemeinkrankenhäuser, Psychiatrische Kliniken, Selbsthilfegruppen, niedergelassene Hausärzte und Therapeuten, Suchtfachkliniken u.a.m.) und daraus hervorgehende Behandlungsvereinbarungen (Zuständigkeitsabsprachen für die einzelnen Hilfebereiche). Dies wiederum setzt die vermehrte Bereitschaft voraus, sich mit den Arbeits- und Sichtweisen anderer Professionen auseinanderzusetzen.

4. Folgerungen für die Suchthilfe 4.1 Überdenken des eigenen Rückfallverständnisses (vgl. Abb. 2). Da der Ausstieg aus dem meist langjährig erworbenen und verfestigten Suchtverhalten kein „Einmalgeschäft" darstellt, ist es wichtig, sich auf einen längerfristigen Prozeß des Ausstiegs bzw. der Besserung einzustellen und einen Ausrutscher/Rückfall nicht mit einem Scheitern der ganzen Behandlungsbemühungen gleichzusetzen. Gelassenheit und der Vorsatz, „kleine Brötchen zu bakken", sind gleichermaßen für die eigene Psychohygiene wie die Genesung der Klienten förderlich.

4.3 Kontakthalten. Ein regelmäßiges, längerfristiges Kontakthalten gerade auch zu „trockenen/cleanen" Ex-Konsumenten erweist sich als sinnvoll, um sich anbahnende Ausrutscher frühzeitig erkennen und ihnen gegensteuern zu können. Da belastende Gefühlszustände, soziale Konflikte und Einladungen zum Mitkonsum die zentralen Rückfallursachen bilden, sollten diese Bereiche immer wieder thematisiert und ggf. bearbeitet werden.

507

Rückfall

Rückfall Altes Denken

Rückfälle sind Ausdruck schlechter Behandlung und eigenen Versagens. Bei Rückfälligkeit war die ganze Behandlung vergeblich. Rückfälle sind Katastrophen. Rückfälle sind ein weiterer Schritt auf dem Wege der Selbstzerstörung. Rückfälle sind autonome Prozesse, „da kann man nichts machen". Rückfälle sind Ausdruck von Gleichgültigkeit, fehlendem Abstinenzwillen und Uneinsichtigkeit. Der Rückfall endet im Siechtum. Rückfälle sind Ausdruck einer „klaren Entscheidung zum Weitertrinken". Die wesentliche Rückfallursache ist das Verlangen nach Alkohol. Das erste Glas endet im Kontrollverlust.

Neues Denken Rückfälle sind Bestandteil jeder Entwicklung. Oft zeigen gerade Rückfälle, daß Verkrustetes aufbricht. Rückfälle sind die Regel und nicht die Ausnahme. Rückfälle sind Entwicklungschancen. Rückfälle sind als aktive Gestaltungsversuche zur Bewältigung eigener Lebensprobleme zu respektieren. Rückfälle sind sinnhafte Handlungen (wie das Suchtverhalten per se). Rückfälle sind als Widerstand positiv zu würdigen. Rückfälle sind Selbstheilungsversuche (z.B. Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls). Rückfälle sind erklärbar - sie fallen nicht vom Himmel. Abstinenz ist nicht der zentrale Gradmesser für die Beurteilung einer Behandlung. Der Weg aus der Sucht braucht Zeit.

τ

Rückfall ist nicht gleich Rückfall.

τ

Abb. 2

4.4 Offene Thematisierung des erneuten Konsums. Die Empfehlung, daß der gänzliche Verzicht auf die vorherigen Problemdrogen (Alkohol, illegale Drogen, Zigaretten usw.) die beste Gewähr für eine umfassende Genesung darstellt, ist genauso sinnvoll wie diejenige, Risikosituationen (Bierzeltfeste, Szenekontakte, „Kneipenbesuche" usw.) gerade in 508

der Anfangszeit der Abstinenz möglichst zu meiden. Gleichwohl sollte die Möglichkeit eines Ausrutschers/Rückfalls inklusive des Wunsches nach kontrolliertem Konsum von Seiten der Behandler in ruhiger, gelassener und undogmatischer Form thematisiert und dabei darauf verzichtet werden, den als sich selbsterfüllende Prophezeiung

Riickfall

Rückfall wirksamen Mythos weiterzugeben, daß es nach dem ersten Wiederkonsum unweigerlich zum „totalen Absturz" kommen müsse. Hilfreich können der Einsatz von schriftlichen Informationen über Rückfall und Rückfallvorbeugung (Körkel 1996a), das gemeinsame Durchgehen gefährdender Situationen anhand von Checklisten u . a . m . sein. Handlungsaktivierende Möglichkeiten, das eigene Gleichgewicht nach einem Ausrutscher zurückzufinden, sollten erörtert werden ( z . B . „Ausrutscher-Vertrag", der regelt, an welche Hilfeperson sich der/die Abhängige nach einem Ausrutscher wenden und wie diese Person unterstützend tätig werden kann). 4.5 Bedachtes Vorgehen nach Ausrutschern/Rückfällen. Nach eingetretenen Ausrutschern/Rückfällen ist es hilfreich, Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen mit einer emotional ruhigen, interessierten und lösungsorientierten Haltung zu begegnen. Durch eine spürbare Akzeptanz der rückfälligen Person, durch gemeinsame Besprechung des angemessenen nächsten Behandlungsschrittes (Entgiftung? Regelmäßige Selbsthilfegruppengespräche? Psychotherapeuti-

sche Einzel- oder Paargespräche? Ambulante Rehabilitation in einer Suchtberatungsstelle oder stationäre Rehabilitation in einer Suchtfachklinik? Psychopharmakotherapeutische Begleitbehandlung?) und durch Analyse von Rückfallvorläufern und Bewältigungsressourcen ( z . B . „Wie gelang es Ihnen, nach dem ,ersten Schluck' eine Woche lang gar keinen Alkohol mehr zu trinken?" „Wie haben S i e es geschafft, trotz mancher Schuldgefühle so rasch Kontakt zu mir aufzunehmen?" u. a. m.) kann ein qualitativ neuer Schritt im Genesungsprozeß erreicht werden, der den zurückliegenden Rückfall möglicherweise sogar als Chance erscheinen läßt („Den Rückfall habe ich gebraucht!"). Realistischerweise sollte man sich darauf einstellen, daß bei einer Subgruppe der physisch, psychisch und sozial schwer geschädigten Suchtmittelabhängigen auf Dauer vermutlich nicht die Abstinenz-, sondern die Konsumepisoden überwiegen werden. S o bringen psychotrope Substanzen manchen sozial entwurzelten, langjährig abhängigen Menschen ein Minimum an Abstand vom trostlosen Alltag und einem als per-

Sicherung des Überlebens Abb. 3

509

Rückfall

spektivlos empfundenen Leben. Andere Personen (z.B. mit „frühen, präödipalen Störungen"), die öfter in existentielle Krisen geraten, greifen in Zeiten bedrohlicher Angst, Leere oder Verzweiflung zum Suchtmittel, dem aus ihrer Sicht nur die Alternative des Suizids gegenüberstünde. Dauerabstinenz sollte deshalb nicht unhinterfragt für alle abhängigen Personen unabhängig von deren eigenen Zielvorstellungen, ihrem psychischen Befinden und ihrer sozialen Lebensituation zum Behandlungsziel deklariert, sondern durch eine abgestufte Zielpalette ersetzt werden, die von der Sicherung des Überlebens (z.B. bei akuten drogenbedingten medizinischen Notfällen) über risikoärmeren Konsum bis zur dauerhaften Suchtmittelfreiheit reicht. Auf allen Zielebenen sollte die subjektive Lebenszufriedenheit bzw. -Qualität den Orientierungsrahmen darstellen (vgl. Abbildung 3 sowie Körkel und Kruse 1997). 4.6 Einbeziehung des sozialen Umfeldes. In rückfallpräventive Gespräche sollte die engste Bezugsperson - meist Partnerin - einbezogen werden, um offen über die vorhandenen Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen sprechen, gegenseitige Unterstützungsmöglichkeiten vor/nach einem Ausrutscher erarbeiten und nicht zuletzt für die Partnerin Verhaltensorientierungen für Krisensituationen entwickeln zu können (z.B. sich und die Kinder nach einem mit Gewalt einhergehenden schweren Rückfall des Partners in Sicherheit zu bringen: „Notfallplan"). 4.7 Eigene Psychohygiene fördern. Da Rückfälle auch für Suchthilfemitarbeiter notorische Belastungsquellen darstellen, sollte deren Psychohygieneförderung als Voraussetzung wirksamer Arbeitsfähigkeit und -motivation berücksichtigt werden. Empfohlen werden in diesem Sinne unter anderem: Mit Kollegen über die Rückfallthematik im Gespräch bleiben und diese dadurch enttabuisieren; bei jedem Klienten die Möglichkeit eines Ausrutschers/Rückfalls als eher 510

Rückfall

wahrscheinliches Phänomen in seinen Erwartungshorizont einbeziehen; mit jedem Klienten explizit das für ihn realistische nächste Ziel vereinbaren - und das muß nicht immer heißen: sofortige und lebenslange Abstinenz; sich immer wieder klarmachen: ein Ausrutscher oder ein Rückfall bedeutet nicht, daß die vorherige Behandlung nutzlos gewesen wäre; übertriebene Eifrigkeit im Helfen („Rettertendenzen") hinterfragen und Abstand gewinnen zur Illusion, völlige Kontrolle über und Verantwortung für das Verhalten anderer Menschen übernehmen zu können. Lit.: Körkel, J. (Hrsg.), Rückfall muß keine Katastrophe sein, Wuppertal 3 1996a; Körkel, J., Neuere Ergebnisse der Katamneseforschung. Folgerungen für die Rückfallprävention, in: Abhängigkeiten 2 (1996b), 39-60; Körkel, J. (Hrsg.), Praxis der Rückfallbehandlung. Ein Leitfaden für Berater, Therapeuten und ehrenamtliche Helfer, Wuppertal 2 1998; Körkel, J„ Der Rückfall von Drogenabhängigen: Eine Übersicht, in: Abhängigkeiten 3 (1999), 2 4 ^ 5 ; Körkel, J., Kruse, G., Mit dem Rückfall leben. Abstinenz als Allheilmittel? Bonn 3 1997; Körkel, J„ Lauer, G„ Rückfälle Alkoholabhängiger: Ein Überblick über neuere Forschungsergebnisse und trends, in: Körkel, J., Lauer, G., Scheller, R. (Hrsg.), Sucht und Rückfall. Brennpunkte deutscher Rückfallforschung, Stuttgart 1995, 158-185; Körkel, J„ Lauer, G „ Scheller, R. (Hrsg.), Sucht und Rückfall. Brennpunkte deutscher Rückfallforschung, Stuttgart 1995; Küfner, H„ Feuerlein, W„ Huber, M., Die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen: Ergebnisse der 4-Jahreskatamnesen, mögliche Konsequenzen für Indikationsstellung und Behandlung, in: Suchtgefahren 34 (1988), 157272; Marlatt, G. Α., Gordon, J. R. (eds.), Relapse prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors, New York 1985; Prochaska, J. O., Norcross, J. C., DiClemente, C. C., Jetzt

Rückfallprophylaxe fange ich neu an. Das revolutionäre Sechs-Schritte-Programm für ein dauerhaft suchtfreies Leben, München 1997; Wohlfarth, R „ Sucht und Rückfall als Ausdruck narzißtischer Störungen, in: Körkel, J. (Hrsg.), Der Rückfall des

Rückfallprophylaxe Suchtkranken - Flucht in die Sucht? Berlin 1992, 149-172. Joachim Körkel, Nürnberg Rückfallprophylaxe -•Nachsorge; -»Rückfall

511

Safer Sex

Schnüffelstoffe

s Safer Sex Ziel der Safer-Sex-Kampagnen der deutschen -"-AIDS-Hilfen ist die Reduzierung der HIV-Infektionen z.B. durch den Gebrauch von Kondomen beim heterosexuellen Verkehr und zusätzlich weniger riskantes sexuelles Verhalten beim gleichgeschlechtlichen Verkehr. -»•Aids Safer Use Parallel zur »-Safer-Sex-Kampagne erfolgte für Drogenkonsumenten die Safer-Use-Kampagne. Durch den gemeinsamen Gebrauch eines Spritzbestecks (-»Needle-sharing) findet ein u.U. gefährdender Blutkontakt statt, wobei nicht nur -»Aids, sondern auch -•Hepatitisviren und Syphilis übertragen werden kann. Die im Zuge der Safer-Use-Kampagne erfolgte Ausgabe von Spritzen oder das Aufstellen von Spritzenautomaten hat zum Ziel, die komplementär zum Drogenkonsum potentiellen (gravierenden) Erkrankungen zu vermeiden. 'Aids Schlafmittel Medikamentenabhängigkeit Schmerzmittel -•Medikamentenabhängigkeit Schnüffelstoffe 1. Begriffsdefinition. Der zweckentfremdete Gebrauch lösungsmittelhaltiger und anderer potentiell rauscherzeugender Haushalts- und Industrieprodukte hat sich weltweit zu einem gesundheitspolitischen Problem von außerordentlicher Tragweite entwickelt. Angesichts des ganzen Ausmaßes körperlicher, seelischer und sozialer Folgeschäden, die bis heute durch die beabsichtigte Inhalation von organischen Lösungsmitteln, Aerosolen, Anaesthetika und flüchtigen Nitriten verursacht wurden, muß man schlußfolgern, daß der Suchtgefahr des „Schnüffeins" über lange Zeit zu wenig Bedeutung beige512

messen wurde. Von Beginn an ist der Inhalantienmißbrauch, der erstmalig Mitte der sechziger Jahre bei Kindern und Jugendlichen in nordamerikanischen Großstädten und Ballungszentren beobachtet wurde, in den Industrieländern als ein „Kinderspiel" bagatellisiert worden. Eine bislang ungewohnte Aufmerksamkeit wurde dem Mißbrauch flüchtiger Substanzen in der aktuellen Diskussion um die Straßenkinder-Problematik zuteil. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (1993) hat ergeben, daß Sch. für Straßenkinder weltweit die Droge Nummer eins sind. Die meisten Straßenkinder leben in den Großstädten der Entwicklungsländer. Betroffen sind aber auch Südostasien, Osteuropa und die Industrieländer. Aus den Ergebnissen deutscher Repräsentativerhebungen geht hervor, daß in den achtziger Jahren in der Altersgruppe der 10- bis 25jährigen ein bis zehn Prozent Erfahrung mit der Inhalation von Sch. hatten (Lebenszeitprävalenz). Als aktuelle Konsumenten gaben sich zwischen 0,1 und 1 Prozent zu erkennen. In England bestätigten zwischen 10 und 30 Prozent aller Adoleszenten, die rauscherzeugende Wirkung von Sch. zu kennen. In den USA waren Sch. in den achtziger Jahren sogar die einzigen Rauschmittel, deren Konsum permanent zugenommen hatte. Jeder fünfte Jugendliche hatte Sch. mißbraucht; in den letzten 12 Monaten vor dem Untersuchungszeitpunkt (Jahresprävalenz) waren dies sieben Prozent aller Jugendlichen (Thomasius 1991). Ergebnisse aus Repräsentativbefragungen der 90er Jahre sprechen für einen rückläufigen Trend. In der bundesweiten Repräsentativerhebung zum „Konsum und Mißbrauch von illegalen Drogen, alkoholischen Getränken, Medikamenten und Tabakwaren" wurde die Lebenszeitprävalenz für Sch. im Jahre 1990 für Westdeutschland mit 1,3 Prozent (1994:

SchnüffelstofTe

Schnüffelstoffe 0,9%) und für Ostdeutschland mit 1,0 Prozent (1994: 0,4%) angegeben. In englischen Schülerbefragungen ist der Anteil „schnüffelnder" Jugendlicher ebenfalls rückläufig. In den Entwicklungsländern sind Repräsentativuntersuchungen nicht durchgeführt worden. Es wurden aber umschriebene Stichproben zum Suchtmittelgebrauch befragt - beispielsweise auf der Straße arbeitende Kinder in MexikoStadt. 49 Prozent der Kinder gaben in dieser U m f r a g e den Mißbrauch flüchtiger Substanzen zu (gelegentlicher Mißbrauch in 27% und täglicher Mißbrauch in 22%); die durchschnittliche Dauer des Gebrauchs betrug rückblickend 4,5 Jahre (Medina-Mora et al. 1982). In anderen Untersuchungen lagen die Prävalenzraten zwischen 5 und 30 Prozent. Im

Gegensatz zu den aktuellen Trends in den Industrieländern gibt es keinen Anhalt für die Annahme, daß die Verbreitung des „Schnüffeins" in den Entwicklungsländern zurückgegangen ist (Thomasius 1995). 2. Stoffe, Anwendung und psychotrope Wirkung. Zur Rauscherzeugung werden ganz unterschiedliche Mittel benutzt. Es handelt sich um Stoffe, die in j e d e m Haushalt vorhanden und in Warenhäusern, Drogerien, Schreibwaren- und Farbgeschäften frei erhältlich sind. Die meisten Produkte enthalten Ketone, aliphatische oder Fluor- und Chlorkohlenwasserstoffe. Zu unterscheiden sind vier Gruppen von Sch. (siehe Tabelle): Flüchtige Lösungsmittel sind in Kontaktklebstoffen, Klebstoffverdünnern,

Produkte

Toxische Wirkstoffe

Plastik-Polystyrolkleber Haushaltskleber

Aceton, Hexan Aceton, Methyläthyl-Methylisobutylketon, Isopropylalkohol, Toluol Alkohol, Aceton, Toluol, Butylacetat

Klebstoffverdünner Farben Farbenverdünner Lacke Lackverdünner Abbeizer Nitroverdünner

Alkohol, Aceton, Tuluol, Butylacetat

Nagellack Nagellackentferner Fleckenentferner

Butylacetat Aceton, Alkohol Butylacetat, Benzin, Dichlormethan, Trichloräthylen, Tetrachlorkohlenstoff Dichlormethan, Trichloräthylen, Perchloräthylen Butylacetat, Trichloräthylen

Schnellreinigungsmittel Schuhreinigungsmittel

Alkohol, Aceton, Toluol, Butylacetat Aceton, Dichlormethan Alkohol, Aceton, Toluol, Butylacetat

Feuerzeugbenzin Waschbenzin Kfz-Benzin

Aliphatische Kohlenwasserstoffe, Alkane, Hexan

Haarspray Möbelpoliturspray Fensterreinigungsspray Deodorantien Wundspray

Trichlorfluormethan, Dichlorfluormethan, Chlordifluormethan, Dichlortetrafluormethan, n-Butan

Narkosemittel

Äther, Chloroform, Lachgas (Stickoxydul), Halothan

Nitride

Amylnitrit, Butylnitrit

Tabelle: Mißbrauchte Handelsprodukte und toxische Wirkungstoffgruppen

513

Schnüffelstoffe

Farben, Lacken, Farbverdünnern, Feuerzeug-, Wasch- und Kraftfahrzeugbenzin, Schnellreinigungsmitteln, Fleckenentfernern, Korrekturflüssigkeiten, Faserschreibern, Kosmetika und vielen anderen Haushalts- und Industrieprodukten enthalten; Aerosole sind als Treibmittel in Haar-, Möbelpolitur-, Wund-, Lack-, Raumluft- und Reinigungssprays sowie Deodorantien und vielen ähnlichen Produkten zugesetzt; Anästhetika wie beispielsweise Äther, Chloroform, Lachgas etc. eignen sich ebenfalls zur Rauscherzeugung; flüchtige Nitritverbindungen wie Amyl-Nitrit und Isobutyl-Nitrit haben bei Kindern eine untergeordnete Bedeutung. Obwohl die verschiedenen Sch. in ihrer chemischen Struktur voneinander abweichen, üben sie auf das zentrale Nervensystem einen fast identischen Effekt aus. Sch. haben eine bewußtseinseinengende und euphorisierende Wirkung, sie entfalten Erhabenheits- und Allmachtsgefühle und rufen anfänglich illusionäre Verkennungen sowie optische, akustische und szenische Halluzinationen hervor. Eine Ausnahme machen in gewisser Hinsicht die Nitritverbindungen, welche von den Konsumenten gezielt zur Steigerung sexueller Funktionen verwendet werden. Meistens werden die benutzten Produkte zur Herbeiführung des Rauschzustandes portionsweise in eine kleinere Tüte abgefüllt. Die Öffnung wird fest über Mund- und Nasenpartie gedrückt. So lassen sich die vom Grund des Beutels aufsteigenden Dämpfe tief inhalieren. Aerosole und Gase werden ebenfalls mit Hilfe eines Beutels eingeatmet oder sie werden direkt in den Rachen gesprüht. Während des Rausches entsteht nicht selten für Außenstehende fälschlicherweise der Eindruck, die Betroffenen seien volltrunken. Ähnlich dem Alkoholrausch ist nämlich der Bewegungsablauf gestört, der Gang taumelnd, die Sprache verwaschen. Zuckende Bewegungen und wilde Gestikulationen schießen einstweilen in die Koordina514

Schniiffelstoffe

tion ein. Je nach Intensität der akuten Vergiftung kann die zeitliche, örtliche und persönliche Orientierung verschwommen, im Extremfall sogar aufgehoben sein. Immer ist die Reaktionsgeschwindigkeit verlangsamt und das Konzentrationsvermögen herabgesetzt. Mitgetragene Utensilien, wie zum Beispiel Plastiktüten, Klebstoffe, Verdünner etc. können einen Hinweis auf den Mißbrauch geben. Auffälliger und stets richtungsweisend ist allerdings der aromatische Geruch des Lösungsmittels in der Atemluft und in der Kleidung, der noch längere Zeit nach der Exposition anhält. 3. Konsumenten. Grundsätzlich sind drei Konsumentengruppen zu unterscheiden: inhalantienabhängige Jugendliche und Jungerwachsene, Polytoxikomane und sog. Experimentierer (Oetting et al. 1988, Thomasius 1988, 1995). Inhalantienabhängige Jugendliche und junge Erwachsene sind schwerst beeinträchtigte chronisch Suchtkranke. Ihre Alkohol- und Drogenanamnese reicht weit zurück. Im Verlauf der Suchtentwicklung sind Sch. zum Mittel der ersten Wahl geworden. Die Intoxikation geschieht regelmäßig und extensiv. Einige berauschen sich ohne Unterbrechung mehr als 8 Stunden täglich. Wenngleich die Einnahme anderer Suchtmittel nicht ausgeschlossen ist, werden Sch. wegen ihrer unkomplizierten und kostengünstigen Erreichbarkeit bevorzugt. Weitere Gründe sind das sekundenschnelle Anfluten des Rausches, dessen beliebig lange Ausdehnbarkeit und die exakt dosierbare Intensität - je nach Inhalationstiefe und Expositionsdauer. In der Regel ist das soziale Umfeld inhalantienabhängiger Jugendlicher und Jungerwachsener desolat. Sie sind häufig langzeitarbeitslos, nicht selten kriminalitätsbelastet, tragfähige Beziehungen fehlen. Sucht und soziales Umfeld haben sich über Jahre hinweg gegenseitig im Sinne eines verhängnisvollen Kreislaufs beeinflußt. Am Ende stehen psychische und körperliche Ver-

Schnüffelstoffe wahrlosung. Außerdem sind vornehmlich die langjährig Abhängigen von der Toxizität der flüchtigen Substanzen bedroht (Altenkirch 1982, Ives 1991). Die zweite Gruppe bilden polytoxikomane Jugendliche. Sch. sind für sie selten die präferierte Droge. Sie können aber ein Mittel unter anderen sein. Cannabis, Stimulantien, Tranquilizer, Barbiturate und Alkohol werden außerdem verwendet, je nach Beschaffbarkeit und j e nach erwünschter Einflußnahme auf die aktuelle Befindlichkeit. Polytoxikomane, die in ihrem Konsummuster Sch. aufweisen, nehmen eine breitere Palette an diversen Suchtmitteln ein, intoxizieren sich häufiger und sind kriminalitätsbelasteter als jene Drogenkonsumenten, die nicht schnüffeln. Ihre Drogenkarriere haben sie früher begonnen. Inhalantienabhängig im engeren Sinne werden diese Jugendlichen und Jungerwachsenen nicht mehrheitlich, denn im Laufe ihrer Suchtkarriere gehen sie zum Gebrauch „härterer" Drogen über (Evans u. Rainstrick 1987, Zank 1988). In den Industrieländern beginnt der Einstieg in den Suchtmittelkonsum im Alter zwischen 12 und 14 Jahren. Experimentierender Umgang mit Tabak und Alkohol, gemeinsam mit Freunden, manchmal im Elternhaus, ist normales und zugleich notwendiges (Probier-)Verhalten in einer Gesellschaft, die den verantwortungsvollen Umgang mit diesen Suchtstoffen voraussetzt. Einige Kinder erweitern ihr Suchtmittelrepertoire und Experimentierfeld um Sch. Es sind dies die sog. Experimentierer, die die dritte Gruppe subsumieren. Gute Erreichbarkeit und niedrige Anschaffungskosten erweisen sich wiederum als förderlich: Lösungsmittel sind auch für Kinder überall zu haben. Sie sind billig und gegebenenfalls einfach zu stehlen. Der Durchschnittshaushalt verfügt über ca. 20 Produkte, die flüchtige Substanzen enthalten. Ein wichtiger Einflußfaktor ist die Gleichaltrigengruppe. Der ihr immanente Anpassungsdruck führt zur Über-

Schnüffelstoffe nähme des Mißbrauchs - und eventuell zu einer endemischen Verbreitung - sobald ein einziges Kind Klebstoffe oder Verdünner inhaliert. Die meisten befriedigen ihre Neugier. Sie geben das „Schnüffeln" sehr bald wieder auf und wechseln auf eine andere Aktivität nicht zuletzt wegen der unangenehmen Nebenwirkungen. Kinder und Jugendliche, für die das „Schnüffeln" eine sporadische Aktivität bleibt, machen den weitaus größten Teil der Inhalantienerfahrenen aus (Thomasius 1988, Watson 1986). Gleichwohl haben die „Experimentierer" in einem frühen Lebensalter ein potentielles Suchtmittel kennengelernt, das Befindlichkeit und Freizeit gestaltet. Laufen sie deshalb Gefahr, zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Entwicklung auf Drogen zurückzugreifen? In zahlreichen Fallbeschreibungen ist bei ehemaligen „Schnüfflern" eine Progression bis hin zum Opiatgebrauch beschrieben worden. Auch in der retrospektiven Befragung Opiatabhängiger ist der Anteil ehemaliger Inhalantiengebraucher deutlich erhöht und variiert zwischen 10 und 40 Prozent. Neuere Untersuchungen haben belegt, daß „Schnüffler" (gemessen an der Lebenszeitprävalenz) mit einer bis zu 10 fach höheren Wahrscheinlichkeit (OR) als jene, die Sch. nie verwendeten, Cannabinoide, Halluzinogene und Opiate einnehmen. Insofern sind Sch. auch als Einstiegsdroge von besonderer Bedeutung (Dinwiddie 1996, Thomasius 1996). 4. Gesundheitliche Risiken. Todesfälle, die im Zusammenhang mit dem Mißbrauch von Sch. stehen und selbst nach einem kurzfristigen Abusus auftreten können, sind auf diverse Ursachen zurückzuführen: In England sind mehr als 50% aller Todesfälle, die durch Sch. verursacht wurden, durch direkte toxische Effekte bedingt („sudden sniffing death"). Diese Todesfälle haben sich als nicht voraussagbar erwiesen, sie sind weder durch besondere Inhalationstech515

Schnüffelstoffe niken noch durch moderate Gebrauchsmuster zu verhindern und sie sprechen nur im Ausnahmefall auf eine Behandlung an. Vorausgegangene, unspektakuläre Episoden des Konsums sind kein wirksamer Schutz. Bis heute ist der zugrundeliegende Pathomechanismus nicht vollständig geklärt. Diskutiert werden herzmuskeltoxische Effekte der mißbrauchten Substanzen ebenso wie Arrhythmien, die in erster Linie auf toxisch bedingte Sensibilisierungsphänomene des Herzmuskels (Myokard) zurückgeführt werden. Adrenalin kann (bereits in physiologischen Konzentrationen) den Herzmuskeln stimulierend beeinflussen und Arrhythmien auslösen. Wegen ihrer hohen Fettlöslichkeit bleiben die flüchtigen Stoffe längere Zeit nach der Exposition im Myokard wirksam. Aus diesem Grund ist der Konsument auch noch Stunden nach dem Rausch gefährdet. Desweiteren kann der Tod infolge erregungsbedingter Überanstrengung eintreten, etwa wenn angstauslösende Halluzinationen durch die Inhalantien provoziert werden und zu einer überschießenden Stimulation des autonomen Nervensystems beitragen. Tierexperimentelle Untersuchungen und Kasuistiken beweisen, daß in seltenen Fällen der Tod aber auch durch einen zentralen Atemstillstand herbeigeführt werden kann, und zwar vornehmlich bei sehr extensiven Gebrauchsmustern. Der vagal bedingte Herzstillstand kann durch einen Reflexbogen ausgelöst werden, in den der Kehlkopf (Larynx) zwischengeschaltet ist. Die intensive und plötzliche Abkühlung des Rachens durch direktes Einsprühen von Butangasen oder Aerosolen kann bradykarde Episoden auslösen und schlimmstenfalls zum Herzstillstand führen. Von den erwähnten direkten, akuten Todesfällen sind indirekte, akute Todesfälle abzugrenzen. Die Aspiration von Mageninhalt ist die häufigste indirekte Todesursache. Im tiefen Rauschzustand ist die Muskulatur entspannt (Magenein516

Schnüffelstoffe trittspforte) und Reflexe fallen aus (Kehlkopfdeckel). Mageninhalt, der in die Speiseröhre gelangt, kann deshalb in die Luftröhre geraten und zum Ersticken führen. Darüber hinaus können fatale Inhalationstechniken zum Ersticken führen. M a n c h e Konsumenten ziehen eine zweite Tüte über den Kopf, um eine intensive Anreicherung der Komponenten zu erzielen. Durch die hohe Konzentration der Substanzen kann dann ein Bewußtseinsverlust eintreten. Diese Konsumenten ersticken im Rausch. Der Tod tritt infolge einer zentralen Atemdepression nach Überdosierung des Mittels ein oder infolge eines akuten Sauerstoffmangels. Nicht selten sind Unfälle bei „Schnüfflern", die tödlich enden. Explosionen von Lösungsmittel- oder Gasbehältern, Verkehrsunfälle und Fensterstürze aus großer Höhe sind wiederholt beschrieben worden. In England versterben jedes Jahr etwa 100 Jugendliche und Jungerwachsene an den Folgen des Mißbrauchs von Sch. Die meisten sind jünger als 21 Jahre. Zu annähernd gleichen Teilen werden die Todesfälle durch Gase (zumeist Butan), Klebstoffe (zumeist Toluol) und Flüssigkeiten (zumeist Trichloräthan) verursacht (Anderson et al. 1986). Darüber hinaus sind in der wissenschaftlichen Literatur in den vergangenen drei Dekaden zahlreiche Kasuistiken und Ergebnisse klinischer Studien veröffentlicht worden, die sich mit Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems bei Konsumenten von Sch. beschäftigen. Flüchtige Substanzen, insbesondere Toluol, Trichloräthylen und Kombinationen von n-Hexan und Butanon sowie Methyl-n-Butylketon ( M B K ) und Butanon sind starke Neurotoxine. Verantwortlich ist der hohe Lipidanteil neuronaler Membranen, in die sich die lipophilen Substanzen einlagern. Durch eine ganze Reihe fundierter Studien konnte belegt werden, daß der langfristige Mißbrauch flüchtiger Sub-

Schniiffelstoffe stanzen kognitive Leistungen dauerhaft beeinträchtigen kann. Nachzuweisen sind in diesen Fällen Störungen der Aufmerksamkeit und der Gedächtnisleistung sowie des Reaktions- und visuell-motorischen Diskriminationsvermögens. Die meisten von einer demenziellen Entwicklung betroffenen Konsumenten weisen schwere, langjährige Konsummuster auf. Betroffen sind vornehmlich Toluol-inhalierende „Schnüffler". Über Hirnnervenstörungen bei chronischen Konsumenten vornehmlich Toluol-haltiger Substanzen ist in Kasuistiken berichtet worden. Mitte der 70er Jahre beobachtete man in den meisten Industrieländern Klebstoffund Verdünner-inhalierende Jugendliche, die die Symptome einer peripheren Nervenschädigung entwickelt hatten. Die Patienten wiesen Sensibilitätsausfälle an den Extremitäten auf, das Gangbild war verändert, die Extremitätenmuskulatur atrophisch. In besonders schweren Fällen traten Extremitätenlähmungen (Tetraplegien) auf. Die Symptomatik besserte sich bei einem Teil der Konsumenten, sobald der Mißbrauch dauerhaft aufgegeben wurde. In anderen Fällen blieben jedoch Residuen zurück, selten waren dies schwere plegische Zustandsbilder. Nachfolgende Untersuchungen hatten zum Ergebnis, daß das neurotoxische Potential vor allem auf das n-Hexan, das Methyl-n-Butylketon ( M B K ) und das Toluol zurückzuführen ist. In tierexperimentellen Studien konnte darüber hinaus nachgewiesen werden, daß sich der neurotoxische Effekt des n-Hexan durch die Kombination mit M B K potenziert. Auch bei den peripheren Nervenschädigungen wird der Kenntnisstand durch mehrere Umstände limitiert. Die meisten Berichte haben kasuistischen Charakter oder es wurden symptomatische und zahlenmäßig kleine Stichproben untersucht. D a die Konsumenten Produkte mißbrauchen, die sich aus mehreren neurotoxischen Komponenten zusam-

Schnüffelstoffe mensetzen, welche zudem in unbekannter Art und Weise interferieren, sind Aussagen über Inzidenz und Dosiswirkungsbeziehungen nicht möglich. Gleichwohl darf man resümieren, daß sich die Störungen im Bereich des peripheren Nervensystems ganz überwiegend nur nach einem schweren, über Monate und oftmals Jahre anhaltenden Mißbrauch flüchtiger Substanzen entwickeln. Verglichen mit den schweren gesundheitlichen Auswirkungen auf das zentrale und periphere Nervensystem, sind Folgeerkrankungen durch Sch. im Bereich der inneren Organe vergleichsweise selten. Trotzdem mehren sich Hinweise, daß die chronische und exzessive Inhalation Toluol-, 1,1,1-Trichloräthan- und Trichloräthylen-haltiger Produkte ernsthafte und lebensbedrohliche Leber- und Nierenschäden herbeiführen kann. Relativ häufig werden bei den Konsumenten flüchtiger Substanzen umschriebene Hautläsionen an Nase und Mund gefunden, die auf Reizerscheinungen des Mittels zurückzuführen sind und Entzündungsreaktionen an den Kontaktstellen hervorrufen. Außerdem werden durch die Inhalation die Schleimhäute gereizt. Entzündungen der Luftröhre und des Nasenrachenraums sowie der Augenbindehäute sind deshalb keine Seltenheit. Verbrennungsverletzungen entstehen durch Explosionen Lösungsmitteloder gashaltiger Kanister, Dosen und Beutel. Bei benzininhalierenden Kindern und Jugendlichen sind Veränderungen einzelner Blutbestandteile beschrieben worden. Die toxische Wirkung wird auf das Blei zurückgeführt (Thomasius 1998). 5. Konsequenzen für Prävention und Behandlung. Die Ernsthaftigkeit dieser Folgen steht in einem krassen Mißverhältnis zu den wenigen Maßnahmen, die der Erkennung, B e k ä m p f u n g und Vorbeugung des Inhalantienmißbrauchs dienen. In den Industrieländern werden 517

Schnüffelstoffe „Schnüffler" nur selten in Statistiken über den Suchtmittelgebrauch erwähnt. Inhalantienmißbrauch findet wenig Beachtung in einschlägigen Lehrbüchern, Drogenbekämpfungsplänen, Präventionsprogrammen sowie in Industrie und Handel. Im Netz der europäischen Suchtkrankenhilfe fallen Heranwachsende, die eine Abhängigkeit von lösungsmittelhaltigen Produkten entwikkelt haben, noch immer durch alle Maschen. Sofern überhaupt ein Therapieangebot vermittelt werden kann, sind vorzeitige Behandlungsabbrüche die Regel. Bereits in den siebziger Jahren versuchte man in Kanada, den USA, England und Schweden, durch Gesetzesvorschriften den Verkauf lösungsmittelhaltiger Produkte an Minderjährige zu unterbinden. Konzepte dieser Art scheiterten gleich in mehrfacher Hinsicht: Eine der größten Schwierigkeiten, mit denen Legislative und Judikative konfrontiert sind, besteht darin, daß die Bandbreite und Erreichbarkeit von Haushalts- und Industrieprodukten, die flüchtige Substanzen enthalten, fast unerschöpflich ist. Wenn beispielsweise die Abgabe von Klebstoffen eingeschränkt wird, dann benutzen „Schnüffler" Nagellackentferner, Schuhputzmittel, Benzin oder eines der anderen vielen hundert Produkte, die zu unserem täglichen Leben gehören. In den U S A und England führten Gesetzesvorschriften sogar dazu, daß die klebstoff-„schnüffelnden" Kinder und Jugendlichen auf hochtoxische Aerosole wechselten, um ihre Sucht zu befriedigen. Von einem gesundheitspolitischen Standpunkt aus betrachtet, trug die Legislative somit zu einer Verschärfung des Problems bei. Eine weitere Zuspitzung der Situation ergab sich infolge der internationalen Übereinkommen zur Beschränkung von Fluorkohlenwasserstoffen (FCKW). Hersteller waren durch die neuen Vorschriften angehalten, alternative Treibmittel zu verwenden. In vielen Fällen füllte das Butangas die Lücke. Auf den Markt kam gleich eine ganze Reihe 518

Schnüffelstoffe neuer Produkte, die sich mißbräuchlich verwenden lassen. Beispielsweise bestehen manche Haar- und Frischluftsprays heute zu 99 Prozent aus Butangas, welches sich zur Rauscherzeugung bestens eignet. Zukünftig, so ist zu fordern, dürfen Industrie und Handel nicht mehr von ihrer Verantwortung entbunden werden, sich an einer wirklich sinnvollen Prävention zu beteiligen. Ihr Argument, Produktveränderung ändere nichts an der sozialen und ökonomischen Not, die die Kinder auf die Straße schickt, ist zwar richtig - in der Schlußfolgerung aber unzulässig. Denn nur ein vielgestaltiger Ansatz kann weiterhelfen. Gesetzesbestimmungen etwa machen nur dann einen Sinn, wenn sie mit anderen Präventionsmaßnahmen sinnvoll verknüpft werden und wenn sie dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft für die Gefahren des Inhalantienmißbrauchs zu schärfen. Rückblickend haben sich herstellereigene Aufklärungskampagnien bewährt, die sich an das Personal in Handel und Vertrieb wenden und dort überhaupt erst einmal ein Problembewußtsein schaffen. Eine U m f r a g e an 300 englischen Handelsgeschäften zeigte, daß nicht einmal die Hälfte der Angestellten über die mißbräuchliche Anwendbarkeit ihrer Ware informiert waren (Re-Solv 1990). Noch krasser ist die Situation in den Entwicklungsländern: In den bestehenden Gesundheitseinrichtungen Lateinamerikas etwa, ist die junge Bevölkerung stark unterrepräsentiert. Viele Einrichtungen der Gesundheits- und Wohlfahrtspflege schließen die Behandlung Minderjähriger kategorisch aus. Wichtig ist hier, daß die Ressourcen bestehender Straßenkinder-Projekte und anderer Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge für die speziellen Belange „schnüffelnder" Straßenkinder noch besser genutzt werden. Geeignete Interventionsmethoden, die sich an den regionalen Voraussetzungen orientieren, müssen erarbeitet, erprobt und evaluiert werden. Modellhaft

Schuldnerberatung werden diese Ziele jüngst im Rahmen des „Programms gegen den Suchtmittelmißbrauch" (PSA) der Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) in verschiedenen Entwicklungsländern erprobt. Lit.: Altenkirch, H., Schnüffelsucht und Schnüfflerneuropathie. Sozialdaten, Praktiken, klinische und neurologische Komplikationen sowie experimentelle B e f u n d e des Lösungsmittelmißbrauchs. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1982; Anderson, H. R „ Macnair, R. S„ Ramsey, J. D., Recent trends in mortality associated with abuse of volatile substandes in the UK. Br. Med. J. 293 (1986) 1472-1473; Dinwiddie, S. H „ Volatile substances. In: Rommelspacher, H „ Schuckit, M. A. (Hrsg.), Bailliers's Clinical Psychiatry: Drugs of abuse. Bailiiere Tindall, London Philadelphia Sydney Tokyo Toronto (1996) 5 0 1 - 5 1 6 ; Evans, A. C., Raistrick, D., Patterns of use and related harm with toluene-based adhaesives and butane gas. Br. J. Psychiatry 150 (1987) 7 7 3 - 7 7 6 ; Ives, R„ Long terms misuse of solvents. Fact Sheet 1. Re-Solv, Staffordshire, 1991; Medina-Mora, E., Ortiz, Α., Caudillo, C., Lopez, S., Inhalacion deliberada de disolventes en un grupo de menores mexicanos. Salud Mental 5 (1982) 7 7 - 8 6 ; Oetting, E. R., Ewards, R. W., Beauvais, F., Social and psychological factors underlying inhalant abuse. N I D A Res. Monogr. 85 (1988) 172-203; Re-Solv, Re-Sol ν Newsletter 12. Re-Solv, Staffordshire, 1990; Thomasius, R., Lösungsmittelmißbrauch bei Kindern und Jugendlichen. Forschungsstand und praktische Hilfen, Freiburg, Lambertus, 1988; Thomasius, R., Mißbrauch flüchtiger Substanzen. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 1992, Geesthacht, Neuland (1991) 8 2 - 9 3 ; Thomasius, R., Schnüffelstoffe. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 1996, Geesthacht, Neuland (1995) 178-190; Thomasius, R„ Familiendiagnostik bei Drogenabhän-

Schuldnerberatung gigkeit. Eine Querschnittstudie zur Detailanalyse von Familien mit opiatabhängigen Jungerwachsenen, Berlin, Heidelberg, New York, Springer, 1996; Thomasius, R., Folgeerkrankungen der Schnüffelstoffe. In: Gölz, J. (Hrsg.), Moderne Suchtmedizin, Stuttgart, Thieme (1998) C4.3, 1 - 6 ; Watson, J. M., Solvent abuse: the adolescent epidemic? London Sydney Wolfeboro, Croom Helm, 1986; World Health Organization: Programme on substance abuse. Report on phase I of the street children project, Geneva, W H O , 1993; Zank, S., Zur Entwicklung des Lösungsmittelschnüffelns bei Jugendlichen und Jungerwachsenen, Berlin, Berlin Forschung 19, 1988. Rainer Thomasius, Hamburg Schuldnerberatung S. leistet Beratung und Hilfestellung bei Überschuldung von Privathaushalten (z.B. durch bestehende Kredite, laufende Ratenzahlungen etc.). A u f g a b e der S. ist die Erfassung der gesamten Schulden eines Klienten, die mit dem Klienten gemeinsame Erstellung eines Schuldentilgungsplans, Verhandlungen mit den Gläubigern und die Begleitung der Schuldentilgung. Die legislative Grundlage dafür ist in § 14 SGBI und in § 8 B S H G geregelt. Schuldnerberatungsstellen befinden sich hauptsächlich in Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden. Überschuldung ist nicht selten eine Begleiterscheinung von Abhängigkeit und damit kommt der S. innerhalb der -»Rehabilitation eine besondere Bedeutung zu: die fehlende wirtschaftliche Perspektive kann mit ausschlaggebend für Therapieabbrüche sein und spielt eine möglicherweise bisher unterschätzte Rolle - bei der Aufrechterhaltung der -»•Therapiemotivation und der sozialen und beruflichen Integration nach der Behandlung. Im -»Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan wurde die Bedeutung der S. bereits 1990 festgeschrieben: „Eine wichtige Voraussetzung für die 519

Schule Existenzgründung bei Drogenabhängigen ist, ihnen zu helfen, die während ihrer Drogenabhängigkeit entstandenen Schulden abzutragen." Waren im Rauschgiftbekämpfungsplan noch die Gruppe der Abhängigen von illegalen Drogen die Zielgruppe der S., wurde inzwischen deutlich, das eine S. als ein integraler Bestandteil der - »Suchtkrankenhilfe zu betrachten ist. Im Rahmen der Fort- und Weiterbildung für die Mitarbeiter der Suchtkrankenhilfe findet dies inzwischen ihren Niederschlag. -•Nachsorge; --•Stiftung Integrationshilfe für ehemals Drogenabhängige e.V. Schule 1. Situation und Entwicklung. Auf den ersten Blick scheint die Bildungsinstitution S., eine Einrichtung zur Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten, mit Sucht oder Abhängigkeit nichts zu tun haben. Bei näherem Hinschauen allerdings gibt es vielfältige Berührungspunkte, die sich sogar zu erheblichen Belastungen, Problemen, Konflikten und auch finanziellen Folgeschäden entwickeln können. Das gilt für alle S., die es in Deutschland in einer bunten Vielfalt in staatlicher, freigemeinütziger und privater Trägerschaft gibt. Zu den allgemeinbildenden S. zählen Grund-, Haupt-, Real-, Gesamt· und Sonderschulen sowie G y m n a sien, in einigen Bundesländern Orientierungsstufen. Zu den Berufsbildenden S. gehören u.a. gewerbliche und kaufmännische Berufsschulen sowie Berufsfachschulen, Fachschulen und Fachgymnasien. Mindestens 12 Jahre gehen Schüler in die S. (Schulpflicht). So werden alle Kinder und Jugendlichen über einen langen Zeitraum in der Regel von 6 bis 18 Jahren mit dem Bildungsund Erziehungsauftrag der S. erreicht, wie er in den Schulgesetzen der Länder, die die Bildungshoheit haben, verankert ist. A m Ende der Schulzeit erwerben erfolgreiche Schüler Qualifikationen, die sie berechtigen, weiterführende S. oder Hochschulen zu besuchen oder bestimmte Berufsausbildungen zu begin-

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Schule nen. Im Zentrum der S. steht der Unterricht in unterschiedlichsten Fächern mathematisch-naturwissenschaftlicher, sprachlicher, sportlicher, musischer, sozialer und religiöser Art. S. haben die Aufgaben, die Jugend auf das Leben in Gesellschaft und Staat sowie auf die Zukunft vorzubereiten. Da sich die Gesellschaft in ihrer Vielfalt, z . B . in der Arbeits- und Freizeitwelt, in jüngster Zeit immer schneller und intensiver wandelt, verändern sich die Aufgaben und Erwartungen an die S. ebenfalls kontinuierlich. Die verantwortlichen Kultusministerien versuchen durch Überprüfungen, Ergänzungen, Änderungen und Reformen, S. den gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen. Bei dieser Fortentwicklung kommt es immer wieder zu Problemen und Konflikten zwischen allen Beteiligten, z.B. Politikern, Lehrern, Eltern und Verbänden. In hochentwikkelten Ländern, wie in Westeuropa und den USA, ist das Konfliktpotential aufgrund der ausgiebigen Differenzierung des Schulwesens erheblich, insbesondere wenn es um bestimmte Fächer, Schulformen, Anforderungen, Beurteilungen und Finanzen geht. Über die Pflichtschulen hinaus gibt es eine Vielzahl ebenfalls bedeutender freiwilliger S. wie z . B . Volkshochschulen oder S. für besondere Fertigkeiten wie Fahr-, Tanz-, Sport-, Mal- und Musikschulen. Insgesamt verfügt das Schulsystem in Deutschland über ein ausgesprochen vielfältiges Spektrum, das für den einzelnen Bürger kaum über- und durchschaubar ist. 1.1 Abhängigkeit und Mißbrauch bei Schülern. Bei der Abhängigkeit in weiterem Sinne, bei der nicht nur Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin, Medikamente und illegale Drogen, sondern auch Tätigkeiten und Verhaltensweisen wie Essen, Spielen, Arbeiten eine Rolle spielen, sind Schüler gelegentlich betroffen. Exakte Zahlen und Materialien liegen dazu nicht vor, doch lassen Untersuchungen (Kolip u.a. 1995) und Jugendforschungsergebnisse verschiede-

Schule ner Institute darauf schließen •Jugend), daß bereits Schüler abhängig sind, z . B . mehrheitlich Jungen von Nikotin, Alkohol und Drogen, und Mädchen insbesondere von 'Eßstörungcn wie Mager-, Fettsucht und Bulimie. Diese mit zunehmender Tendenz auftauchenden Symptome decken sich mit Einzelerfahrungen, daß z.B. vor allem im Drogenbereich Schüler vermehrt mit der Polizei zu tun haben und daß aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und Leistungsabfall ein Mißbrauch von Drogen - auch gleichzeitig von anderen Suchtmitteln - vermutet wird. Das quantitativ größte Problem ist Nikotin, das an vielen S. wieder zwischen allen Beteiligten diskutiert wird (Raucherzimmer und -ecke). Doch nicht die -»Abhängigkeit von Schülern ist das Hauptproblem an S., sondern eher der -»Mißbrauch von legalen Suchtmitteln und der Gebrauch illegaler Drogen, in jüngster Zeit zunehmend •Designerdrogen wie -»Ecstasy (XTC), die bei Techno-Veranstaltungen von vielen jungen Teilnehmer konsumiert werden. Sorgen und Probleme bereitet es Eltern und Lehrern, wenn es zu erheblichen Auffälligkeiten kommt, z . B . Konsum von Suchtmitteln von jüngeren Schülern, die aufgrund gesetzlicher und schulinterner Regelungen weder rauchen noch alkoholische Getränke zu sich nehmen dürfen. Wenn das ohne M a ß geschieht und erste Ausfälle bis hin zu gewalttätigen Ausschreitungen bei Klassen- und Schulfesten bereits zur Regel werden, es zu Polizei- und Notarzteinsätzen aufgrund von Alkoholvergiftungen kommt, dann ergibt sich daraus ein erheblicher Handlungsbedarf. Das gilt auch aufgrund der Sorge um Eskalation und Gefährdungen, wenn Schüler allein oder in Gruppen haschen, schnüffeln (-»Schnüffelstoffe), Alkohol mißbrauchen oder gar mit illegalen Drogen Handel treiben (dealen). Bei all dem k o m m t es gelegentlich zu Verhaftungen, schweren Erkrankungen und Todesfällen.

Schule Wenn auch solche Situationen nur Ausnahmeerscheinungen sind, besteht die Gefahr, daß es sich um die Spitze eines Eisbergs handelt, denn die in Deutschland steigenden Zahlen von drogenauffälligen Straftätern und Erstkonsumenten bestehen zu einem großen Teil aus Schülern. Diese und viel unauffälliger beginnende Auffälligkeiten, die oft mit problematischem Verhalten wie Aggressivität, Lustlosigkeit und Leistungsabfall einhergehen, bereiten Lehrern und Eltern zunehmend große Sorgen, die allerdings oft aus Unsicherheits-, Angstund Ohnmachtsgefühlen verdrängt werden. Nicht selten werden solche Unannehmlichkeiten „unter den Teppich gekehrt". Wie bei der zunehmenden Gewaltbereitschaft öffnen sich aber immer mehr Verantwortliche, um sich zu informieren und wirksam reagieren zu können. Insgesamt sind Lehrer - von Land zu Land sicherlich unterschiedlich - auf diese Probleme der Schüler von heute und morgen unzureichend vorbereitet das gilt sowohl für Interventionen bei Vorkommnissen als auch für -»Beratungen, vor allem aber für die -»Prävention (Struck 1997). Lehrer müssen dringend bezüglich dieser Probleme aus- und fortgebildet werden, und zwar im Interesse der Schüler und im eigenen Interesse; denn diese Überforderungen verkraften viele nicht. Sie ziehen sich zurück und werden krank. 1.2 Abhängigkeit und Mißbrauch bei Lehrern. Aufgrund von Überforderungen, unzureichender Lehrerbildung und fehlender Beratung und Hilfe k o m m t es zu negativen Erscheinungen, wenn Lehrer Suchtmittel mißbrauchen, gelegentlich z . B . auf Klassenfahrten sogar mit Schülern, vor allem aber wenn sie abhängig sind. Oft ist co-alkoholisches (->Co-Abhängigkeit) Verhalten von Kollegen und Schulleitern festzustellen, die helfen wollen, aber aufgrund mangelnder Kenntnisse die Situation der Betroffenen und damit zusätzlich - und das ist tragisch - ihre eigene Situation, die 521

Schule d e r S c h ü l e r und d e r K o l l e g e n n u r verschlimmern. K e i n e s w e g s h a n d e l t es sich bei d e m P h ä n o m e n der suchtkranken Lehrer um eine kleine Zahl. Die Deutsche Hauptstelle g e g e n die S u c h t g e f a h r e n schätzt den Anteil der Suchtkranken unter Arb e i t n e h m e r n auf ca. 5%. F ü r N i e d e r s a c h s e n w ä r e n das bei ca. 7 5 0 0 0 L e h rern f a s t 4 0 0 0 , d. h., im D u r c h s c h n i t t ist in j e d e r S. einer, d e r d r i n g e n d B e r a t u n g u n d richtiger H i l f e b e d a r f . A u c h das P e r s o n a l , mit d e m S c h ü l e r zu tun h a b e n , wie Sekretärin, Hausmeister und Busf a h r e r , ist in d i e s e s H i l f e s y s t e m e i n z u beziehen. O h n e ein s o l c h e s S y s t e m u n d o h n e K e n n t n i s s e auf d i e s e m G e b i e t g e r a t e n nicht n u r B e t r o f f e n e s o n d e r n a u c h K o l l e g e n u n d vor a l l e m Vorgesetzte in erh e b l i c h e S c h w i e r i g k e i t e n , weil sie z . B . f a l s c h „ h e l f e n " , i n d e m sie das F e h l v e r halten v o n K o l l e g e n d e c k e n u n d b a g a tellisiert h a b e n . A u s d i e s e m T e u f e l s k r e i s k ö n n e n sie k a u m n o c h a u s s t e i g e n . D a B e l a s t u n g e n u n d D r u c k u. a. d u r c h F e h l verhalten immer größer werden, werden die Reaktionen ebenfalls intensiver und v e r s c h l i m m e r n d i e S i t u a t i o n , die nicht selten in F r ü h p e n s i o n i e r u n g e n e n d e n . (-•Betriebliche Suchprävention). 1.3 A b h ä n g i g k e i t u n d M i ß b r a u c h bei Eltern. F a m i l i e n m i t g l i e d e r w e r d e n i m m e r d u r c h A b h ä n g i g e in d e r e i g e n e n F a m i l i e b e l a s t e t u n d leiden darunter, s o a u c h Schüler. W e n n L e h r e r d i e s b e z ü g l i c h a u s g e b i l d e t , i n f o r m i e r t u n d sensibel sind, sind sie e h e r in d e r L a g e , Verhaltensauffälligkeiten, die sehr unters c h i e d l i c h sein k ö n n e n - v o n A g g r e s sion ü b e r D e s i n t e r e s s e bis zur R e g r e s sion - , zu e r k e n n e n u n d e n t s p r e c h e n d zu reagieren, verständnisvolle Gespräche zu f ü h r e n , zu b e r a t e n und zu h e l f e n . Schulpsychologen und Beratungslehrer k ö n n e n d i e s e A r b e i t - allein - nicht leisten. H i e r sind alle L e h r e r g e f o r d e r t . Sie haben gute Möglichkeiten der Hilfe, des A u f b a u s nachhaltig wirkender Beziehungen zur Verhinderung negativer S c h u l - u n d B e r u f s k a r r i e r e n u n d evtl.

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Schule a u c h v o n K a t a s t r o p h e n . In d e r L e h r e r b i l d u n g ist u. a. a u c h aus d i e s e m G r u n d d i e E l t e r n a r b e i t zu t h e m a t i s i e r e n , d i e d o r t b i s h e r fast g a r nicht v o r h a n d e n ist. E s gibt B e i s p i e l e p o s i t i v e r E n t w i c k l u n g e n bei s u c h t b e l a s t e t e n Eltern d u r c h eng a g i e r t e ( B e r a t u n g s - ) L e h r e r , u n d nicht n u r bei d i e s e n , s o n d e r n a u c h bei F a m i lien, d i e d u r c h a n d e r e A u f f ä l l i g k e i t e n g e f ä h r d e t sind w i e G e w a l t , s e x u e l l e r M i ß b r a u c h u n d S u i z i d . H ä u f i g sind bei intensivem K ü m m e r n gleichzeitig mehrere S y m p t o m e festzustellen. Kinder u n d E r w a c h s e n e aus d i e s e m M i l i e u sind nicht voll l e i s t u n g s f ä h i g , und s c h o n allein d e s w e g e n ist h i e r die S. g e f r a g t , w e n n sie ihren E r z i e h u n g s - u n d Bildungsauftrag ernst nimmt. Durch solche überfälligen M a ß n a h m e n kann Familien wirksam geholfen werden, werden S c h ü l e r e r f o l g r e i c h e r sein in S. u n d B e r u f , w e r d e n M i ß e r f o l g e , Dissozialität, Kriminalität und auch Abhängigkeit v e r h i n d e r t . Ein g r o ß e r Vorteil ist z u s ä t z lich, d a ß s o l c h e M a ß n a h m e n e r h e b l i c h e K o s t e n b e i s p i e l s w e i s e in d e r Strafr e c h t s p f l e g e u n d in d e r T h e r a p i e e i n sparen. 2. H i l f e n f ü r G e f ä h r d e t e u n d A b h ä n g i g e . A l l e n i r g e n d w i e an S. B e t e i l i g t e n k a n n bei S u c h t p r o b l e m e n - intern - d u r c h ents p r e c h e n d aus- u n d f o r t g e b i l d e t e u n d f ü r diese Aufgaben teilweise freigestellte Lehrer geholfen werden (-•Suchtkrank e n h e l f e r ) . G ü n s t i g ist, w e n n alle L e h r e r d i e s b e z ü g l i c h e G r u n d k e n n t n i s s e hätten, d a m i t sie z u m i n d e s t in k r i t i s c h e n S i t u a tionen b e i m U m g a n g mit G e f ä h r d e t e n nichts falsch machen und w e n n Helfer für weitergehende Fragen und Kriseninterventionen zur Verfügung stehen. Die Schulverwaltung k o m m t u m den konsequenten und flächendeckenden A u f b a u e i n e r S u c h t k r a n k e n h i l f e mit eig e n e m P e r s o n a l nicht u m h i n , d a m i t bei B e d a r f in S. u n d S.-Verwaltungen d i e W e i c h e n richtig gestellt w e r d e n . D i e f ü r diese Arbeit sorgfältig auszuwählenden u n d w e i t e r z u b i l d e n d e n Lehrer, die z . B . A b h ä n g i g k e i t selbst o d e r mit A n g e h ö r i -

Schule gen erfahren haben, haben keine therapeutischen Aufgaben, sondern sind eigentlich Fachleute für Sucht und Suchtkrankenhilfe, damit sie beraten, vermitteln und Richtiges gemeinsam mit Fachinstitutionen in die Wege leiten können. Überall da, wo eine solche Hilfe geleistet wird, ist sie überaus wirksam. Notwendig dazu sind ,Dienstvereinbarungen" über die Vorgehensweise zwischen Dienstherrn und Personalrat. Sie enthalten u.a. Zielsetzungen und einzelne Schritte der notwendigen Maßnahmen. Es gibt bereits Ansätze dieser Bemühungen, die allerdings überall nur mit Schwierigkeiten durchzusetzen sind, u.a. weil sich die Institutionen dann zur Existenz der Suchtprobleme bekennen müßten. In Niedersachsen z.B. hat die Landesregierung bereits 1985 diese Zielsetzung in ihr Suchthilfeprogramm aufgenommen, ohne daß bisher trotz weiterer Absichtserklärungen und Bemühungen nennenswerte Ergebnisse zu verzeichnen sind. Mit einer Gefährdetenhilfe für suchtkranke Lehrkräfte - ähnlich der Betrieblichen Suchtkrankenhilfe (-•Betriebliche Suchtprävention) - könnte den Gefährdeten und Abhängigen frühzeitig durch Offenheit und Konsequenz fachgerecht geholfen werden. In vielen Betrieben und Verwaltungen hat man damit gute Erfolge bewirkt, so daß ein weiteres Abgleiten in Fehlverhalten und weitergehende Krankheiten vermieden wird, ebenso auch die frühzeitige Entlassung. Genau wie für andere Bedienstete des Staates und Mitarbeiter in der freien Wirtschaft ist für Lehrer dringend ein Beratungs- und Hilfesystem erforderlich. Damit würde der Dienstherr seiner Fürsorgepflicht entsprechen und viele qualitative und quantitative Ausfälle unterschiedlichster Art wie Unterrichtsausfall, Entlassungen, Ärger und vor allem die immense Dauerbelastung von Kollegen vermeiden. Eine qualitativ gut ausgestattete Gefährdetenhilfe für suchtkranke Lehrkräfte würde zu einem posi-

Schule tiven Image der S. beitragen. Dazu gehört eine spezielle Schulung der Lehrer, insbesondere der Schulleiter und Schulverwaltungsbeamten, u. a. mit dem Ziel, Fehler zu vermeiden und anders und wirksam zu helfen und Psychohygiene zu pflegen. ( •Betriebsspezifische Aspekte) 3. ->·Prävention und -•Gesundheitsförderung. Angesichts der aktuellen Situation und der erheblichen Wandlungsprozesse bei Kindheit, Jugend, Familien, Medien, Freizeitverhalten, Werten und Konsum ist die Prävention Hauptaufgabe der S., die auch als besondere Chance gesehen werden kann. Junge Menschen sind alle über einen relativ langen Zeitraum in der S., den es unter diesen Aspekten im Rahmen sowohl von -•Erziehung als auch von Bildung optimal zu nutzen gilt. Das ist auch - zumindest punktuell - seit langem getan worden, und zwar mit unterschiedlichen, vor allem mit negativen Methoden, bei der Abschreckung sowie Krankheitsverminderungs- und -früherkennungsstrategien die Hauptrolle spielten. In den 80er Jahren wurde der Schwerpunkt mehr auf Aufklärung und Information - auch über illegale Suchtmittel u.a. mit dem Drogenkoffer gelegt, die ebenfalls nicht die gewünschten Erfolge erbrachten. In jüngster Zeit erst wurden Konzepte entwickelt, die sich nicht an Drogen orientieren sondern an Menschen und an der •OttawaCharta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1986, die Gesundheit sehr weit als körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden definiert und gesundheitsförderliche Lebenswelten schaffen will, also u.a. auch eine gesundheitsfördernde S. Dabei gilt es, Schüler stark zu machen, persönliche Kompetenzen zu fördern, zu befähigen und ermöglichen, zu vermitteln und zu vernetzen, alles Aufgaben, die zur Erziehung und Bildung in der S. zählen. So sind diese Bemühungen auch als Teil der Erziehung zu verstehen, bei der die

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Schule Entwicklung des Selbstwertgefühls und der Persönlichkeit im Mittelpunkt steht. Dieser umfassende - multifaktorielle Ansatz geht ursachenorientiert, ganzheitlich, gesamtgesellschaftlich und positiv vor. Das bedeutet z . B . im einzelnen, daß nicht an Symptomen kuriert wird, sondern Bedingungsfaktoren wie z . B . fehlende Geborgenheit, Überforderung und Verwahrlosung erkundet und angegangen werden, wie es im Slogan der drobs Hannover zum Ausdruck kommt: „Schafft mehr gute Gründe, keine Drogen zu nehmen". Obwohl sich viele zur ganzheitlichen Vorgehensweise bekennen, weil die ursächlichen Faktoren dafür weitgehend identisch sind, wie vergleichende Studien belegen, praktizieren die meisten aber spezifische Prävention, z . B . gegen Drogen oder Kriminalität, statt alle Formen der Dissozialität eben ganzheitlich anzugehen. Die Ganzheitlichkeit erfordert auch, den ganzen Menschen zu sehen, nicht nur seine negativen, sondern vor allem auch die positiven Seiten, seine Schwächen und Stärken also. M e h r und mehr macht sich die Erkenntnis breit, daß das Vorgehen einzelner Personen, z . B . Eltern und Ärzte, und auch Institutionen, z.B. S. und Polizei, nicht zum Erfolg führt, daß vielmehr möglichst viele Bürger, Institutionen und Verantwortliche mitwirken. U m wirksam vorzubeugen, m u ß gesamtgesellschaftlich oder systemisch vorgegangen werden. Diese Vorgehensweise zeigt erstaunlich gute Ergebnisse (z.B. Servais 1992). Besonders erfolgversprechend ist, Jugendliche als Agenten der Prävention zu gewinnen. Wichtig ist eine positive Vorgehensweise, die aus der Flut der Informationen und Entwicklungen gute heraushebt und fördert, denn die ausschließliche Darstellung negativer Erscheinungen in Bildern und Zahlen wirkt nicht vorbeugend. Vielmehr sind reizvolle - z . B . erlebnisorientierte und sinnerfüllende - Alternativen und Äquivalente zum dissozialen Verhalten gefragt. Damit werden auch die

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Schule meisten jungen Menschen angesprochen und begeistert, z . B . durch Sport, Musik und politisches sowie soziales oder kirchliches Engagement. In den U S A fördert man die Widerstandsfähigkeit (reciliancy) in der Schule u.a. mit der Vermittlung von Erfolgserlebnissen, mit hohen Anforderungen, mit der Pflege von Beziehungen, mit Kümmern und Wertschätzung sowie mit Partizipation. Dabei geht es im Kern um die Förderung von Begabungen zu einer verantwortungs- und selbstbewußten Lebensgestaltung sowie um Mündigkeit und Konfliktfähigkeit, schließlich um die Reduzierung von Risikofaktoren und die Entwicklung von Protektivfaktoren. D.h., daß nicht nur die Änderung des Verhaltens, sondern auch der Verhältnisse nötig ist. S. kann dies nicht allein leisten, sondern es bedarf der Unterstützung zumindest der Eltern und im Sinne der ganzheitlichen und gesamtgesellschaftlichen Vorbeugung auch der Polizei, der Krankenkassen und vieler anderer Verantwortlicher, nicht zuletzt der Politiker, die d a f ü r Grundlagen schaffen müssen wie gute S. und Lehrer. Das weiterhin praktizierte gegenseitige Zuschieben der Verantwortung bringt nichts, es ist eher schädlich. Gute Präventionskonzepte liegen vor, entscheidend ist, daß sie auch von allen dafür Verantwortlichen in die Praxis umgesetzt werden. Das gleiche gilt für die ^ S e k u n d ä r - und •Tertiärprävention, also für Beratung, Therapie und Nachsorge einschließlich Rückfallverhinderung. Wirksame Vorbeugung setzt an vielen Stellen an, möglichst früh bereits, wenn sich bei Kindern Einstellungen prägen, also im Kindergarten ( »Elementarbereich). Entscheidend aber ist die Kleinkindphase in der - • F a milie (^-Kindheit). Deswegen ist wichtig, daß bereits Eltern diesbezüglich ausund fortgebildet werden, was durchaus auch mit Lehrern und anderen Erziehern durch gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen erreicht werden kann. Schulinterne Lehrerfortbildungen ( „ S c h i l f )

Screening sind z . B . dafür gute Möglichkeiten. Daraus kann eine intensive Z u s a m m e n arbeit für eine konsistente Erziehung entstehen, die für Schüler und Erfolge und für die Entwicklung einer guten Schule wichtig ist. Dort engagieren sich alle Beteiligten - ohne Ängste u. Diffamierungen - partnerschaftlich und fühlen sich aufgrund von Freiräumen und Wertschätzung wohl. So werden die Schüler gut auf das Leben vorbereitet. Da gibt es noch viel zu tun, aber in einem solchen Schulprofil liegen große Chancen. Eine weitere Möglichkeit ist es, an S. Arbeitsgruppen für Prävention zu bilden. Insgesamt werden die Chancen einer wirksamen Vorbeugung weder von zuständigen Ministerien noch von S. ausreichend genutzt. Es fehlt allzu oft an Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit und Vorbildverhalten. Deutschland ist bezüglich Prävention Entwicklungsland. Oft werden erst diesbezügliche Aktivitäten entwickelt, wenn etwas vorgefallen oder wenn es sehr spät oder gar zu spät ist. Da das alles auch für anderes dissoziales Verhalten gilt, ist eben eine ganzheitliche und kontinuierliche Prävention angezeigt, die sich nicht auf allzu beliebte Einmalaktionen (Strohfeuer) und auf spezifische Vorgehensweisen beschränken darf, schon gar nicht nur auf Papier. Vielmehr ist eine personale Prävention erforderlich, die Beziehungen aufbaut und pflegt und durch Offenheit, sowie der Vermittlung von Selbstwertgefühl, Sinn und Werten Effizienz erhält. „Kinder stark m a c h e n " ist die entscheidende Formel ( •Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA)). Das aber können nur starke Eltern, Lehrer und Erzieher. D a f ü r sorgen können Verantwortliche, die so stark sind, daß sie die Ausstattung f ü r eine effektive Prävention nachhaltig durchsetzen. Wie in den letzten Jahrzehnten im Umweltschutz durch engagiertes Vorgehen sehr viel erreicht wurde, so ist das bei der Gesundheitsförderung und Prävention

Screening ebenso möglich, also durch Innenweltschutz. •Elementarbereich; -»Familie; -•Jugend Lit.: Bäuerle, S., Sucht- u. Drogenprävention in der Schule, München 1996; Barkholt/Homfeldt, Gesundheitsförderung im schulischen Alltag, Weinheim 1994; Bartsch/Knigge-Illner (Hg.), Sucht und Erziehung, 2 Bd., Weinheim 1995; Bönsch, M., Schule verbessern, Hannover 1990; Buscaglia, L., Leben, Lieben, Lernen, München -M989; D H S (Hg., Jahrbuch Sucht 98, Geesthacht 1997; Golemann, D., Emotionale Intelligenz, M ü n c h e n 3 1 9 9 7 ; Hesse, S., Suchtprävention in der Schule, Opladen 1993; Kaufmann, H., Suchtvorbeugung in der Praxis, Weinheim 1997; Kirschner, G., Die Kinder stark machen, Lichtenau 1997; Kolip/Hurrelmann/Schnabel (Hg.), Jugend und Gesundheit, Weinheim 1995; Kollehn, K.-H., Der drogengefährdete Schüler, Düsseldorf 1991; Paulus, P. (Hg.), Prävention und Gesundheitsförderung, Köln 1992; Servais, E., Bevor es zu spät ist, Eupen 2 1992; Schmitt-Kilian, J„ Ecstasy & more, Drogenprävention praktisch, Düsseldorf 1997; Struck, P., Erziehung von gestern, Schüler von heute, Schule von morgen, München 1997; Supe, E., Lebenlernen in Beziehungen und Freiräumen. Wie muß Schule sein, um suchtpräventiv zu wirken? In; Jugend & Gesellschaft, 1994/3 S . 9 - I 3 ; Täschner, K. L., Drogen, Rausch und Sucht, Stuttgart 1994; Waibel, Ε. M., Erziehung zum Selbstwert, Donauwörth 1994. Elmar Supe, Vechta Screening S. bezeichnet Reihen-Untersuchungsmethoden zur Erfassung von Krankheiten bzw. die Untersuchung einer Substanz im Hinblick auf ihre Wirksubstanzen. Als Drogenscreening wird z.B. die Untersuchung des Urins in Hinblick auf das Vorhandensein von Spuren einer gesuchten ( i . d . R . verbotenen) Substanz bezeichnet. Urinuntersuchungen werden z . B . bei Urinkontrollen zum Nachweis der Abstinenz beim -»Entzug oder im 525

Sedativa Rahmen der -'•Substitution im Zusammenhang mit Beikonsum durchgeführt. -•Suchtstoffanalysen Sedativa S. ist die Sammelbezeichnung für Psychopharmaka, die eine d ä m p f e n d e Wirkung auf die Funktionen des Zentralen Nervensystems (ZNS) haben; umgangssprachlich werden sie als Beruhigungsmittel bezeichnet. Dazu gehören z.B. Schlafmittel, Tranquilizer und -»Barbiturate. -•Medikamentenabhängigkeit SEDOS Das stationäre einrichtungsbezogene Dokumentationssystem (SEDOS) besteht seit 1994 und wurde für stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe als Behandlungsdokumentationssystem konzipiert. S E D O S wird von der SEDOS-Arbeitsgemeinschaft getragen, ihr gehören an: der »Deutsche Caritasverband e.V., der •Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V., der ^Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V., der »Fachverband Sucht e.V., der Fachverband freier Einrichtungen in der Suchtarbeit, die -»Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) und das -•Institut für Therapieforschung (IFT). Die Geschäftsforschung liegt bei der DHS, die Bundesauswertung der in den beteiligten Einrichtungen erhobenen Daten beim IFT. Etwa ein Drittel aller stationären Einrichtungen beteiligten sich an SEDOS. Die Erhebung dient der fortlaufenden Beschreibung der Patienten und der Behandlung. Für die ambulanten Einrichtungen werden die Daten mit -•EBIS erhoben. Sekundärprävention S. ist Teil der Gesamtprävention, deren Ziele eine möglichst frühzeitige - • B e r a tung und Behandlung (Therapie) und eine kurze Dauer der Behandlung sind. S. und Beratung/Behandlung sind in der Praxis schwer voneinander zu trennen,

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Selbsthilfe ein theoretisches Unterscheidungsmerkmal liegt in der Intention der Intervention. Zielgruppen der S. sind abhängigkeitsgefährdete Personen oder Personen bei beginnender oder kurzer Abhängigkeit, bevor sich behandlungsbedürftige Symptome entwickeln (-•Einstieg in den Drogenkonsum). Ihnen sollen die Hilfen angeboten werden, die ihnen eine weitere produktive Lebensgestaltung möglich machen. Da erfahrungsgemäß für diese Zielgruppe die Schwelle zu einer -•Beratungsstelle sehr hoch ist, ist die Zusammenarbeit von Jugendpflege, Jugendhilfe und Beratungsstelle von eminenter Bedeutung. Gemeinsam können geeignete Handlungsfelder wohnortnah und spezifisch erarbeitet und Interventionsmöglichkeiten in Kooperation durchgeführt werden. ->Primärprävention, -•Prävention, -•Tertiärprävention Selbstaussteiger Als S. werden Drogenkonsumenten bezeichnet, die ihren Drogenkonsum ohne therapeutische/professionelle Hilfen beendet haben. Die Motivation dazu kann individuell sehr unterschiedlich sein. Verläßliche Zahlen über den U m f a n g an S. liegen nicht vor. In der Regel sind damit ehemalige Heroinkonsumenten gemeint, grundsätzlich ist der Begriff auf alle Drogen anwendbar. •Maturingout Selbsthilfe 1. Definition. „Selbsthilfe" bezeichnet eine - in nach dem Subsidiaritätsprinzip organisierten Sozialstaaten konstitutive - Erwartung, nach der eigene Probleme aus eigener Kraft gelöst werden sollen. Dort, wo individuelle Ressourcen und/ oder Kompetenzen nicht ausreichen, um eine das Gewohnte sprengende Lebenskrise zu bewältigen, ist der jeweils primäre Lebenskreis (z.B. die Familie) dazu aufgerufen, die erforderliche Unterstützung im Sinne „primärer Selbsthilfe" zu gewährleisten. Auf höheren Ebenen gesellschaftlicher Organisation haben sich Menschen historisch schon

Selbsthilfe

sehr früh als ständische und genossenschaftliche Hilfsgemeinschaften, z.B. in den verschiedenen Formen der Handwerkergilden und der Sozialversicherungen, zusammengeschlossen, um gemeinsame Probleme in gemeinsamer Anstrengung zu bewältigen. Aufgrund der Größenordnungen und der für den einzelnen nicht mehr durchschaubaren bzw. übersehbaren Organisationsformen solidarischer Sicherungssysteme in modernen Gesellschaften werden diese Formen „organisierter Selbsthilfe" heute vielfach als „Fremdhilfe" erlebt, von denen sich die neueren Selbsthilfezusammenschlüsse in ihrem Selbstverständnis abzugrenzen suchen. „Selbsthilfegruppen", als solche neueren Formen organisierter Selbsthilfe, reagieren auf die Folgen der weiter fortschreitenden Individualisierung von Lebenslagen in modernen Gesellschaften und die damit verbundene Überforderung bzw. den Ausfall primärer sozialer Netze, indem sie die Bearbeitung gleichartiger Problemlagen außerhalb primärer Lebensbezüge mit anderen Betroffenen in eigenen sozialen Netzwerken quasi informell „institutionalisieren". (Vgl. Pankoke 1997 sowie Hey 1991) 2. Selbsthilfegruppen. Spätestens seit Beginn der 80er Jahre treten Selbsthilfegruppen verstärkt auf, um als geringgradig organisierte Zusammenschlüsse von Menschen ihre Aktivitäten auf die gemeinsame Bewältigung sozialer, psychischer oder gesundheitlicher Probleme zu richten. Sie wollen auf diesem Wege ihre persönlichen Lebensumstände verändern und/oder in das politische und soziale Umfeld hineinwirken (vgl. DAGSHG, 1986). Moeller hat die Bandbreite der Zielbereiche und Arbeitsformen wie folgt differenziert: 1. psychologisch-therapeutische Selbsthilfegruppen (z.B. AA und andere Anonymous Gruppen), 2. medizinische Selbsthilfegruppen (z.B. Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, Deutsche Rheumaliga,

Selbsthilfe

Deutsche Multiple-Sklerose Gesellschaft), 3. bewußtseinsverändernde Selbsthilfegruppen (z.B. Frauengruppen), 4. lebensgestaltende Selbsthilfegruppen (z.B. Produktionskooperativen, „Synanon"), 5. arbeitsorientierte Selbsthilfegruppen (z.B. alternative Läden, Praxen, Werkstätten), 6. lernbzw. ausbildungsorientierte Selbsthilfegruppen (z.B. Selbstunterricht, selbst organisierte Kontrollgruppen von Sozialarbeitern oder Psychologen etc.), 7. Bürgerinitiativen (vgl. Moeller 1978: 84 ff.). Obwohl in der öffentlichen und professionellen Diskussion über lange Zeit vor allem die psychologisch-therapeutischen Gesprächsgruppen im Mittelpunkt des Interesses standen, ist nur ein relativ kleiner Teil diesem Typus zuzurechnen (vgl. Trojan u.a. 1986: 32). Für die hier besonders interessierenden „Gesundheitsselbsthilfegruppen", zu denen im allgemeinen auch die sich mit Suchtproblemen befassenden gerechnet werden, ließen sich in einer groß angelegten Untersuchung folgende Kriterien für das Selbstverständnis von Selbsthilfegruppen als besonders kennzeichnend ermitteln: (1) Betroffenheit durch ein gemeinsames Problem, (2) keine oder geringe Mitwirkung professioneller Helfer, (3) keine Gewinnorientierung, (4) gemeinsames Ziel: Selbst- und/oder Sozial Veränderung, (5) Arbeitsweise: Betonung gleichberechtigter Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe (vgl. Winkelvoss u.a. 1981: 134). Während die drei zuerst genannten Kriterien als charakteristisch für den größten Teil der untersuchten Gruppen gelten können, fanden sich relativ wenige Belege für eine Wirkung auf soziale Rahmenbedingungen (4). Und auch die Ergebnisse für die Arbeitsweise (5) brachten Differenzen zum Selbstverständnis zu Tage: selbst die Hälfte der nicht von Professionellen geleiteten Gruppen (bei denen fraglich ist, 527

Selbsthilfe

ob sie als Selbsthilfegruppen im engeren Sinne anzusehen sind) hatten eine Leitungsfigur. Auch hinsichtlich der Gegenseitigkeit der Hilfe ließ sich eine Differenzierung zwischen den Gruppenmitgliedern als relativ typisch beobachten: Es gibt demnach in Gesundheitsselbsthilfegruppen ausgeprägte Helferfiguren, denen die anderen vor allem dadurch „helfen" indem sie sich als „Hilfebedürftige" anbieten (vgl. Trojan u.a. 1986: 33f.). Der Übergang zwischen Selbsthilfegruppen und professionell geleiteten Gruppen dürfte in der Praxis eher fließend sein. Strotzka hat den teilweise beobachtbaren Trend zu einer durch Aus- bzw. Fortbildung von Selbsthilfegruppen-Angehörigen führenden (Semi-)Professionalisierung in einer - natürlich „fiktiven" - Geschichte der Professionalisierung des vormaligen Selbsthelfers und späteren Doktors, Professors und Ordensträgers „Anselm" heiter-satirisch überhöht vorgeführt (Strotzka 1979). Zudem sollte auch in Selbsthilfegruppen die Problematik eines von starken gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten - und in professionellen Arbeitszusammenhängen hinreichend bekannten - „Helfersyndroms" zwischen jeweils unterschiedlich motivierten Mitgliedern von Selbsthilfegruppen nicht übersehen werden. Neuere, empirisch gestützte Publikationen (insb. Braun, Opielka 1992) differenzieren Selbsthilfegruppen nach drei Typen: (1) Selbsthilfegruppen von Betroffenen sind innenorientiert und klein, sie haben meist bis zu 15 Mitgliedern und stellen ca. die Hälfte aller Selbsthilfegruppen, jedoch nur ca. ein Viertel aller in Selbsthilfegruppen aktiven Menschen (z.B. Angehörigengruppen psychisch Kranker). (2) Außenorientierte Selbsthilfegruppen sind nicht nur auf sich selbst orientiert, sondern wenden sich auch an von gleichen Problemen betroffene Nichtmitglieder. Sie haben meist mehr als 15 und teilweise über 50 Mitglieder, die sich meist in Untergruppen organisieren. Ca. 40% dieser Grup528

Selbsthilfe

pen verfügen über eigene Geschäftsstellen, die wiederum ca. zur Hälfte Mitarbeiterinnen für Routinearbeiten und Präsenzfunktionen angestellt haben (z.B. Rheumaliga). (3) Selbsthilfeinitiativen sind stärker sozialpolitisch orientiert. In ihnen organisieren sich Betroffene oder mit ihnen solidarische Menschen, die sich für eine Verbesserung der sozialen und gesundheitlichen Situation einsetzen. Sie zielen als außenorientierte Gruppen auf das soziale Umfeld und die Beeinflussung von Gesellschafts- und Sozialpolitik (z.B. Kinderschutzbund). Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten sind häufig Defizite in den Leistungen und Strukturen professioneller Einrichtungen. Selbsthilfegruppen insgesamt zielen auf eine breite Palette sehr verschiedener Themen. Braun und Opielka zufolge befassen sich Selbsthilfegruppen mit folgenden Problembereichen: 27% mit chronischen Erkrankungen, 12% mit psychosozialen Problemen und seelischer Gesundheit, 11% mit Behinderung, je 10% mit Sucht/Abhängigkeit und Eltern-/Kind-Selbsthilfe, je 9% mit Frauen und besonderen sozialen Problemen (z.B. Arbeitslosigkeit), 7% mit Alter und Nachbarschaft sowie 5% mit Kultur und Ökologie. Über Größenordnungen ist auch im Hinblick auf die lebensproblem- und krankheitsbezogene Selbsthilfegruppen empirisch nur wenig bekannt. In absoluten Zahlen ausgedrückt gehen Fachleute davon aus, daß heute in 6 0 0 0 0 bis 7 0 0 0 0 Selbsthilfegruppen ca. 2 bis 2,7 Millionen Menschen aktiv sind, was ca. 3% der Gesamtbevölkerung ausmachen würde (vgl.Waller 1997: 105 sowie NAKOS 9.97). Selbsthilfegruppen finden insbesondere dort eine größere Resonanz, wo besonders schwerwiegende Probleme zu bewältigen sind. So ließen sich in verschiedenen Untersuchungen bezogen auf die spezifischen Problemgruppen wie z.B. bei Alkoholikern zwischen 2% und 6%, bei Cöliakie-Patienten und bei krebskranken Frauen ca. 3 ^ t % , bei alleinerziehenden Eltern ca.

Selbsthilfe

Selbsthilfe

7 - 8 % als aktive Teilnehmerinnen an Selbsthilfegruppen errechnen (vgl. Hey 1991: 171 f.). Zur häufig diskutierten Frage der Schichtzugehörigkeit von Mitgliedern der Selbsthilfegruppen ist z.T. Kontroverses zu erfahren. Einige Untersucherinnen teilen Ergebnisse mit, nach denen „es keine signifikanten Unterschiede zwischen SHG-Mitgliedern und NichtMitgliedern gibt", während andere von einer eindeutigen Mittelschichtüberrepräsentation sprechen. Trojan u. a. erklären die Diskrepanz in diesen Ergebnissen mit einer weiten Spannweite von Verteilungen der Schichten in den verschiedenen Gruppentypen und skizzieren dies wie unten dargestellt. An anderer Stelle verweisen sie auf ein scheinbares Paradoxon, nach dem die Selbsthilfegruppenmitglieder einerseits eine Elite darstellten, andererseits aber zu den Benachteiligten der Gesellschaft gehören. Beide Sichtweisen lassen sich plausibel begründen. Die Selbsthilfegruppenmitglieder zeigten durch Krankheiten und Behinderungen einerseits Merkmale, die mit gesellschaftlichen Benachteiligungen verbunden sind. Andererseits seien sie aber, im Vergleich mit anderen Betroffenen, sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Stellung und ihren ausbildungsmäßigen Voraussetzungen, als auch durch ihre Fähigkeit, sich trotz Benachteiligungen zu einer Gruppe zusammenzuschließen, relativ privilegiert (vgl. Trojan u.a. 1986: 35ff. sowie 67 ff.). Auch die regionale Verteilung der Gruppen variiert stark. Für die neuen Bundesländer geht man von ca. 7000 Gruppen aus, also eine Gruppe auf 2000 Einwohner, in den alten Ländern von ca. einer

Angehörige von Kranken

Körperlich Kranke

Gruppe auf 1000 Einwohner. Außerdem ist die Gruppendichte in Städten größer als im ländlichen Raum (vgl. Braun, Greiwe 1989). Eine nicht zu unterschätzende Frage ist die nach einer möglichen Konkurrenz zwischen Professionellen und Selbsthilfegruppen bezüglich der Inanspruchnahme durch Hilfesuchende. Im Hintergrund stehen auf Seiten der Professionellen Befürchtungen, daß einerseits ein zunehmender Einfluß von Selbsthilfegruppen für sie zu ökonomischen Einbußen führen und andererseits Selbsthilfegruppen zum sozialpolitischen Vehikel zur Durchsetzung von „Sparmaßnahmen" werden könnten. Trotzdem zeigten sich in Befragungen nur wenige Professionelle nicht zu einer Zusammenarbeit bereit. Insgesamt scheinen heute Professionelle eine Sichtweise zu bevorzugen, in der Selbsthilfegruppen eine komplementäre Funktion zu professionellen Unterstützungsprogrammen zugebilligt wird. Vor dem Hintergrund zunehmender Finanzierungsprobleme des Sozial- und Gesundheitssystems ist die Sozialpolitik dazu übergegangen, Selbsthilfegruppen stärker zu fördern. Insbesondere Selbsthilfekontaktstellen bilden ein wirksames Instrument, indem sie Selbsthilfegruppen, ihre Mitglieder und Interessentinnen beraten, Kooperationen mit Fachleuten vermitteln sowie die Arbeit der Gruppen selbst mit Öffentlichkeitsarbeit sowie Organisations- und Dokumentationshilfen unterstützen (vgl. Wohlfahrt, Breitkopf 1995). In den alten Bundesländern sind diese - meist mit hauptamtlichen Sozialarbeiterinnen besetzten Kontaktstellen im Anschluß an Forschungsprogramme (Moeller, Trojan) in

Psychisch Beeinträchtigte

Behinderte

Angehörige von Behinderten



4 Hoher Mittelschichtsanteil/ geringe Verbreitung

Geringer Mittelschichtsanteil/ stärkere Verbreitung

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Selbsthilfe den 80er Jahren entstanden, als bereits eine größere Anzahl von Gruppen aktiv waren. Dagegen wurde in den neuen Bundesländern ein Netz von Kontaktstellen aufgebaut, um die Gründung von Gruppen zu initiieren. 1997 gab es in den neuen Ländern immerhin 73 Kontaktstellen gegenüber 186 in den alten Ländern ( N A K O S 9.97). Neuere Untersuchungen lassen hinsichtlich der Gruppenzusammensetzungen in den neuen Ländern erkennen, daß 7 0 % der Mitglieder Frauen und 30% Männer sind. Die mittleren Bildungsabschlüsse überwiegen hier deutlich, allerdings sind überdurchschnittlich viele der Mitglieder arbeitslos bzw. nicht erwerbstätig (vgl. Braun u.a. 1996: 87). Die vom Ansatz her auf die ganze Bandbreite von Selbsthilfegruppen zielenden Kontaktstellen waren bisher im Problembereich stoffgebundener Süchte (Alkoholismus, Drogensucht) nur wenig aktiv. In letzter Zeit kommt es aber häufiger zu Kooperationen auch in diesem Sektor (vgl. Arenz-Greiving, Balke 1997: 45 ff.). 3. Selbsthilfegruppen im Suchtbereich. Selbsthilfegruppen für Süchtige und ihre Angehörigen gelten unter Fachleuten mittlerweile als unverzichtbarer Teil des Versorgungssystems für Süchtige, so daß sie wie selbstverständlich als Teil der Gesamtversorgung Süchtiger verstanden werden. Schätzungen zufolge dürften in über 8000 Gruppen zwischen 100000 und 2 0 0 0 0 0 Menschen jährlich Hilfe suchen. Dabei handelt es sich nur zum Teil um Personen, die auch im professionellen Versorgungssystem der Beratungsstellen, Entgiftungsstationen und Entwöhnungskliniken auftauchen (vgl. Holz, Leune 1998 sowie Braun 1996 die große Spannweite der Schätzung der Mitgliederzahlen von Suchtselbsthilfegruppen resultiert aus unterschiedlichen Untersuchungsansätzen). Ein großer Teil der heute aktiven und in bundes- und z.T. weltweit organisierten Dachverbänden angeschlossenen

530

Selbsthilfe Selbsthilfegruppen kann auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. So können z.B. die 1935 in den U S A gegründeten und seit 1953 in Deutschland aktiven Anonymen Alkoholiker geradezu als Prototyp dessen gelten, was heute unter Selbsthilfegruppe verstanden wird. Demgegenüber verweisen die dem Deutschen Guttempler-Orden, dem Kreuzbund oder dem Blauen Kreuz angeschlossenen Gruppen eher auf eine über einhundertjährige Tradition im Rahmen der * Abstinenzbewegung. Als weitere wichtige Gruppierungen können z . B . die Freundeskreise der Suchtkrankenhilfe, die Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher, „Cinderella" als Aktionskreis Eßund Magersucht gelten, die noch um zahlreiche nur regional aktive Gruppen, wie z . B . Synanon, zu ergänzen wären. Das Angebot an Gruppen ist innerhalb der verschiedenen Dachverbände z.T. sehr weit und unterschiedlich nach Zielgruppen wie z.B. Betroffenen, Angehörigen oder Kindern ausdifferenziert. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge und der damit verbundenen Leitideen finden sich in den einzelnen Verbänden für die ihnen angeschlossenen Gruppen auch erhebliche Differenzen in ihren Arbeitsweisen. Während die Anonymen Alkoholiker in der Tendenz professionellen Hilfen eher kritisch gegenüberstehen und auch eine von allen gesellschaftlichen Strukturen unabhängige sowie ausschließlich aus Spenden der Mitglieder finanzierte und eher lockere Organisationsstruktur unterhalten, lehnen sich die der Tradition der Abstinenzbewegung verpflichteten Gruppen z.T. stärker wie z.B. der Kreuzbund und das Blaue Kreuz - an kirchliche Strukturen an und unterhalten über ihre Dachverbände teilweise sogar eigene professionell arbeitende Versorgungseinrichtungen. Trotz dieser mittlerweile konsolidierten Kooperationszusammenhänge zwischen professionellen Hilfen und einem großen Teil der Selbsthilfegruppen konnten

Selbsthilfe

noch nicht alle Fehleinschätzungen der Leistungspotentiale des jeweils anderen Teils der Versorgungsstruktur durch angemessenere ersetzt werden. Dies betrifft z.B. eine zu Anfang der 80er Jahre von einigen professionellen Propagandisten der Selbsthilfegruppen in die Diskussion eingeführte Behauptung, nach der Selbsthilfegruppen hinsichtlich der erzielten Abstinenzraten effektiver arbeiten würden als professionelle Einrichtungen. Diese Behauptung steht als Beispiel für die in wissenschaftlichen bzw. professionellen Kontexten immer wieder anzutreffenden Legendenbildungen, die, ohne daß sie jemals auf ihre Konsistenz geprüft werden, das Denken und Handeln einer ganzen Professionellengeneration prägen. In diesem Fall kam Moeller zu dem Schluß, „Ein Alkoholiker kann sich für die Entziehungsklinik oder die AA entscheiden und hat statistisch bessere Chancen in der Gruppenselbstbehandlung" (Moeller 1981:187). Er bezog sich dabei auf eine Feststellung von Knischewski, der wiederum eine Katamnese einer Fachklinik zitierte, derzufolge „diejenigen Patienten, die sich nach Abschluß ihrer stationären Heilbehandlung einer Selbsthilfegruppe angeschlossen hatten, zu 75,4% dauern abstinent blieben, während von den entlassenen Patienten, die sich keiner Gruppe anschlossen, nur 9,3% dauernd abstinent geblieben sind" (Knischewski 1976: 424). Ein Fehler in Moellers Schlußfolgerungen liegt offensichtlich darin, daß die beiden von ihm als alternativ deklarierten Wirkungszusammenhänge sinnvoll nur als komplementäre interpretiert werden können. Als zulässiger Schluß bleibt immerhin die Feststellung, daß die Teilnahme an Selbsthilfegruppen vermutlich als stabilisierender Beitrag zum Gesamtbehandlungsergebnis gelten kann. Projeziert man die Beiträge der Selbsthilfegruppen auf das idealtypisch skizzierte „therapeutische Netz", dann würde man sie vor allem im Bereich der Eingangs- und Motivationsphase sowie in der Nachsorge ansiedeln können.

Selbsthilfe

Zu problematisieren ist weiterhin die unter Professionellen durchaus verbreitete Einschätzung, daß Nicht-Teilnahme von Alkoholikern als mangelnde Veränderungs- und Behandlungsmotivation zu bewerten sei. Obwohl Alkoholiker insbesondere unter dem Eindruck entsprechender Forderungen in klinischen Behandlungen - auf Befragung hin angeben, daß sie bereit seien, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen (ca. 75%), findet nach Abschluß einer Entwöhnungsbehandlung nur ca. ein Viertel von ihnen den Weg in eine Gruppe. Für dieses Verhalten können neben infrastrukturellen Aspekten (z.B. Gruppendichte in ländlichen Regionen) und ein Nachlassen des Konformitätsdrucks nach der Entwöhnungsbehandlung noch andere Gründe geltend gemacht werden. Entscheidender für die aus Sicht von Professionellen unbefriedigende Akzeptanz von Selbsthilfegruppen dürfte vielmehr die in der Fachliteratur mehrfach angeführte eingeschränkte oder fehlende Gruppenfähigkeit vieler Alkoholiker sein (vgl. Feuerlein 1984: 192f. sowie Hey 1991: 178 ff.). Gerade hier läßt sich die Problematik der vielfach zitierten und entsprechend praxisprägenden (Fehl-)Interpretation Moeliers verdeutlichen, denn sie legitimiert implizit eine mit mangelnder Motivation begründete Positiv-Selektion von Alkoholikern durch professionelle Hilfsinstitutionen und leistet gleichzeitig einer Verlagerung professioneller Verantwortung für Unterstützungsprozesse auf die Selbsthilfegruppen Vorschub bzw. führt zu einer Verweigerung problemangemessener Hilfen für besonders schwer belastete Hilfesuchende. Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist der Aufforderung Hüllinghorsts an Selbsthilfegruppen, sich nicht vom Versorgungssystem vereinnahmen zu lassen unbedingt zuzustimmen: „Sie sollten sich wehren, wenn man ihnen Zuständigkeiten überträgt und sie quasi , Pflichtaufgaben' erfüllen" (Hüllinghorst 1993: 30). Sie sollten weder Kon531

Selbstmord trollfunktionen für Betriebe und Führerscheinstellen übernehmen indem sie Bescheinigungen für Gruppenbesuche ausstellen, noch sollten sie sich in die Leistungsverpflichtungen der Rentenversicherungsträger integrieren lassen. Insgesamt ist als Trend auf Seiten der „Selbsthelferinnen" zu beobachten, daß sich ein Teil von ihnen über Weiterbildungskurse zum „Suchtkrankenhelfer" in ihrem Kenntnisstand und in ihrer kommunikativen Kompetenz in Richtung auf einen semiprofessionellen Status zubewegt. Die entscheidende Leistung von Selbsthilfegruppen bleibt jedoch, daß sich ihre Teilnehmerinnen solidarisch in der Bewältigung ihrer kaum zu überschätzenden Lebensprobleme unterstützen und sie sich darüber hinaus einen sozialen Raum schaffen, in dem sie ihr Leben ihren Bedürfnissen entsprechend entfalten können. Damit bieten sie etwas, was Professionelle nicht zu leisten vermögen. Hier liegt ihre Stärke. -»Suchtkrankenhilfe Lit.: Arenz-Greiving, I., Balke, K. 1997, „Zur Zusammenarbeit von SuchtSelbsthilfegruppen und SelbsthilfeKontaktstellen" - Ergebnisse einer Tagung, in: Selbsthilfegruppen Nachrichten 1997; Braun, J. 1996, Selbsthilfepotentiale in den alten und neuen Bundesländern und ihrer Aktivierung durch Selbsthilfekontaktstellen, in: ISAB (Hrsg.), Selbsthilfe 2000, Köln; Braun, J., Greiwe, A. 1996, Kontaktstellen und Selbsthilfe, Köln; Braun, J., Opielka, M. 1992, Selbsthilfeförderung durch Selbsthilfekontaktstellen, Stuttgart; DAGSHG (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.) 1986, Orientierungsrahmen zum Thema Selbsthilfegruppenunterstützung; Feuerlein, W. 1984, Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit (3. Auflage), Stuttgart; Grunow, D. u.. 1983, Gesundheitsselbsthilfe im Alltag, Stuttgart; Hey, G. 1991, Beiträge zur Theorie und Methodik psychoanalytisch orientierter Sozialtherapie, Egelsbach; Holz, Α., 532

Sexsucht Leune, J. 1998, Zur Versorgung Suchtkranker in Deutschland, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht '99, Geesthacht; Hüllinghorst, R. 1995, Zur Versorgung der Suchtkranken in Deutschland, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Jahrbuch Sucht '95, Geesthacht; Knischewski, E. 1976, Probleme der Selbsthilfe bei Alkoholgefährdeten, in: Petersen (Hrsg.), Selbsthilfe und ihre Aktivierung durch die soziale Arbeit, Frankfurt am Main; Moeller, M. L. 1978, Selbsthilfegruppen, Reinbek; NAKOS (Nationale Kontaktund Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) 1997, NAKOS Info 52, 9.97, Berlin; Pankoke, E. 1997, Selbsthilfe, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main; Strotzka, H. 1979, Professionalisierung im psychosozialen Bereich, in: Psychosozial 2/79, S. 6-11; Trojan, Α., Deneke, Ch„ Behrendt, J.-U., Itzwerth, R. 1986, Die Ohnmacht ist nicht total. Persönliches und Politisches über die Selbsthilfegruppen und ihre Entstehung, in Trojan, A. (Hrsg.), Wissen ist Macht, Frankfurt am Main; Waller, H. 1997, Sozialmedizin. Grundlagen und Praxis (4., überarbeitete und erweiterte Auflage), Stuttgart; Winkelvoss, H., Itzwerth, R., Trojan, A. 1982, Zur Definition und Verbreitung von Gesundheitsselbsthilfegruppen, in: Trojan, Α., Kickbusch, I. (Hrsg.), Gemeinsam sind wir stärker, Frankfurt am Main; Wohlfahrt, N., Breitkopf, H. 1995, Selbsthilfegruppen und Soziale Arbeit. Eine Einführung für Soziale Berufe, Freiburg im Breisgau. Christiane Deneke und Georg Hey, Lüneburg Selbstmord -•Suizid Sexsucht Unter S. werden hetero- und homosexuelle Verhaltensweisen von Männern und

Sexualität und Suchtmittel

Frauen zusammengefaßt, die einen zwanghaft-süchtigen Charakter bei ihren sexuellen Aktivitäten aufweisen, wie das ständige Wechseln von Sexualpartnern oder quantitativ-exzessive sexuelle Anforderungen an den festen Partner oder auch Porno-, Peep-Showund Onanieexzesse. Bei den meisten dieser Verhaltensweisen ist das sexuelle Lusterlebnis sekundär, manchmal sogar gestört, auch in der Form, daß eine mögliche sexuelle Befriedigung mit dem Akt der Befriedigung selbst schon wieder aufgehoben ist und einer weiteren Zufuhr bedarf, eines Immer-mehr-desselben bedarf, um dem „Kater", der depressiven Verstimmung zu entgehen. Im Vordergrund dieser Aktivitäten steht das Bedürfnis, darüber Gefühlen der Leere, der Minderwertigkeit, der Sinnlosigkeit und Langeweile zu entgehen, immer aber mit der quälenden Erfahrung, daß dies, wenn überhaupt, nur kurzfristig möglich wird. ->Neue Süchte; -»•Stoffungebundene Süchte Sexualität und Suchtmittel

1. Gesellschaftlich/kulturelle Verknüpfungen von Sexualität und Süchtigkeit. Rauschmittel- / Suchtmittelkonsumation bzw. -abhängigkeit gelten auch heute noch weitverbreitet als Laster und werden in diesem Sinne der sexuellen Abweichung gleichgestellt. Beispiele für diesen Umstand lassen sich in der Berichterstattung populärer Medien ebenso finden wie in der Produktion von Bestsellerautoren der erotischen Literatur und in der ,Hard Core'-Pornographie. Dieser Trend besteht seit den 20er Jahren. Dabei muß eingeräumt werden, daß damals und heute bei einzelnen populären Persönlichkeiten eine Verbindung von sexueller Abweichung und Rauschmittelkonsum deutlich wurde und dies von dem Skandalbedürfnis der Öffentlichkeit aufgegriffen wird (Anita Berber, Allster Crowley, die Andy Warhol-Factory). Von Wissenschaftlern wurde das Auftreten sexueller Dysfunktionen, ausgepräg-

Sexualität und Suchtmittel

ter Triebreduktionen und somatischer Störungen des Sexualbereiches bei der Beschreibung des klinischen Bildes von Sucht und Abhängigkeit oftmals dargestellt. Trotzdem gilt von Anbeginn das medizinische und psychologische Interesse - allerdings in eher anekdotischer Form - vorwiegend dem Aspekt der sexuellen Abweichungen, die bei Abhängigkeit zu beobachten seien, wie A. Springer (1977) beschreibt. 2. Definition von Sexualität. Wir können davon ausgehen, daß Sexualität nicht allein jene Aktivitäten und die Lust, die vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen, umfaßt, sondern eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine Lust verschaffen, die auch aus der Befriedigung der Bedürfnisse nach Nähe, Intimität und Zärtlichkeit resultiert, also nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses wie Atmung, Hunger, Ausscheidungsfunktion, reduzierbar ist. Diese finden sich später als Komponenten in der sogenannten normalen Form der sexuellen Liebe. Die Art und Weise, wie mit Erregungen, dem Bedürfnis nach Nähe, Intimität und Zärtlichkeit in der frühen Kindheit umgegangen wurde, beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur. Unter psychischer Struktur versteht man die über längere Zeiträume hin stabilen Konfigurationen psychischer Prozesse. Gerade bei der Frage der Ätiologie sind die Meinungen über zugrundeliegende psychische Strukturen sehr kontrovers. Wie der Diskussion über -»Komorbidität bei Suchtkranken zu entnehmen ist, kann Süchtigkeit in Zusammenhang mit unterschiedlichen psychischen Strukturen und Störungen existieren: Neurosen, Charakterstörungen, Borderline-Zuständen, funktionell psychotischen Symptomen wie dem manisch-depressiven Krankheitsbild, schizophrenen oder paranoiden Psychosen. Hirnorganische Syndrome hingegen repräsentieren bei dem Mißbrauch mancher Substanzen 533

Sexualität und Suchtmittel

eher nicht die primäre Basisstruktur, sondern sind meistens als Folgeschäden zu betrachten. Es ist grundsätzlich naheliegend, daß ein Suchtkranker, der eine problematische Persönlichkeitsstruktur aufweist, auch Probleme mit seiner Sexualität hat. In der Regel manifestieren sich diese Probleme als Störungen der sexuellen Funktion, als Ausdruck einer Hemmung. Es wurde aber auch ein Bezug zwischen Drogengebrauch und Entkoppelung sexuell abweichender Bedürfnisse und Verhaltensweisen hergestellt. Besonders psychoanalytische Autoren (-•Psychoanalyse) haben sich mit diesem Thema befaßt (Abraham, 1908; Hartmann, 1925 zu Cocain; Glover 1932; Süchtige Entwicklung als Ausdruck einer noch bestehenden Abwehr homosexueller Tendenzen; Rado 1926; Der genitale Orgasmus werde durch den pharmakotoxischen ersetzt, der wiederum dem alimentären oralen Orgasmus nahestünde, und dadurch würden sekundäre orale Tendenzen belebt). 3. Sexualität als Sucht. Die deutsche anthropologische Richtung der Psychiatrie, vertreten von Gebsattel (1932), beeinflußte die Sexualforschung bei Giese (1962), in dessen Konzept sexuelle Abweichung bzw. Perversion durch eine Überdehnung des Suchtbegriffes mit Süchtigkeit gleichgesetzt werden konnte. Perversion wurde definiert als „süchtige Entgleisung der sexuellen Motivation", charakterisiert durch Verfall an die Sinnlichkeit, zunehmende Frequenz des Verkehrs bei abnehmender Satisfaktion, Promiskuität und Anonymität, Ausbau von Phantasie, Praktik und Raffinement, sowie süchtiges Erleben. Ähnlichen Interpretationen folgt der aktuelle Diskurs über •„Sexsucht". 4. Der Einfluß psychotroper Substanzen auf sexuelle Motivation, sexuelles Verhalten und Empfinden. Entsprechend der Komplexität menschlichen Sexual534

Sexualität und Suchtmittel

Verhaltens muß jede Betrachtung sexueller Probleme biologische Faktoren, wie die zentrale Sexualsteuerung und peripheren Reflexablauf, ebenso berücksichtigen wie psychologische Prozesse. Motivation, Erfahrung, Lernen, Erwartung sowie tiefenpsychologische Erkenntnisse über Konfliktbereiche müssen einbezogen werden. Schließlich muß noch das individuelle Sexualverhalten in den Dimensionen Werbung, Appetenz und direkte sexuelle Aktivität ebenso in Betracht gezogen werden, wie man auch den Umstand berücksichtigen muß, daß sexuelles Verhalten nicht isoliert gesehen werden kann von dem sozialen Feld, in dem es sich abspielt. 4.1 Zur Phänomenologie der Substanzeffekte auf das Geschlechtsleben. Bei chronischer Einnahme von -»-Alkohol, -•Morphin, -»Amphetamin, -»Kokain, -•Cannabis und -•Barbituraten ist die sexuelle Motivation reduziert und die sexuelle Funktion gestört, oft sind auch biologische Abläufe verändert, so z.B. der menstruelle Zyklus. Bei akutem Gebrauch von Alkohol, Cannabis, Amphetamin, anderen synthetischen Stimulantien und Kokain kann die Motivation erhöht und die Ejakulation verzögert sein. Die Mehrzahl der bekannten psychotropen Substanzen sind also als Reduktoren der sexuellen Motivation bezeichenbar und viele bedingen auch Störungen der sexuellen Funktion. Eine aphrodisische Wirkung wird lediglich den zentralen -•Stimulantien zugeschrieben. Daneben bestehen Substanzen, deren Effekt nicht eindeutig klar beschrieben wird oder wo sich zumindest zwischen dem akuten und chronischen Gebrauch Unterschiede ergeben; das ist der Fall bei Alkohol, Cannabis sowie Halluzinogenen. Unter Psychopharmaka/TranquilizerEinnahme ist die Motivation eher reduziert, die Funktion und der menstruelle Zyklus können gestört sein. Diesen Substanzen kommt große Bedeutung zu, weil sie einerseits selbst mißbräuchlich konsumiert werden, andererseits die

Sexualität und Suchtmittel

Symptomatik Abhängiger besonders während des Entzugs durch die Einnahme verschriebener Psychopharmaka modifiziert, also -»-iatrogen verändert wird. Störungen der sexuellen Funktion Süchtiger können also einerseits Substanzeffekte sein; andererseits können aber unabhängig von der Süchtigkeit sexuelle Funktionsstörungen bestehen. Es kann aber eine Komorbidität von sexuellen Funktionsstörungen und Süchtigkeit vorliegen. 4.2 Die zentrale Sexualsteuerung. Synthese und Ausschüttung der Gonodotropine erfolgt unter dem Einfluß der „Releasing Factors" des Hypothalamus. Das Hypothalamus-Hypophysen-System ist wiederum dem Hypophysen-Nebennieren- bzw. Gonadensystem übergeordnet. Diese Achse wird nach kybernetischen Prinzipien gesteuert. Außerdem besteht ein Feedback-Regulationsmechanismus zwischen dem limbischen System, insbesondere dem Hippocampus und dem Hypothalamus, der ebenfalls die HPACAchse steuert. Es wird angenommen, daß die Aufrechterhaltung eines bestimmten Spiegels an Sexualhormonen wesentlich ist für den erotischen Tonus des Organismus. Es besteht jedoch noch eine weitere Steuerung dieses Grundtonus zentralnervöser Art. Diese läuft über die biogenen Amine ab. Es gibt Hinweise darauf, daß Konzentrationsverschiebungen der Transmitter-Substanzen im Gehirn, die durch die psychoaktiven Substanzen verursacht werden, eventuell die Kontrolle des sexuellen Verhaltens stören können. 4.3 Beeinflussung der Achse Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden durch Substanzen vom Morphin- und EndorphinTyp, Alkohol und Cannabis. -•Morphin: übt im ZNS sowohl hemmende wie enthemmende Einflüsse aus; diese ambivalente Potenz spiegelt sich auch in der Beeinflussung der endokrinen Prozesse wider. Es scheint auf die Ausschüttung der Gonodotropine einen spezifisch hemmenden Einfluß auszu-

Sexualität und Suchtmittel

üben. Hinsichtlich der Ausschüttung des LH wirken Einzeldosen stimulierend, chronische Applikation wirkt hingegen hemmend. Diese aus der Wirkungsforschung an Opiaten und der Beobachtung von Morphinkranken gewonnenen Erkenntnisse werden durch Befunde der Endorphinforschung bestätigt und verdeutlicht. -•Endorphine: J. Huber betont die Bedeutung der Endorphine im weiblichen Lebenszyklus: Sie werden während der fertilen Lebensphase der Frau in der 2. Zyklushälfte in hoher Konzentration gebildet und steuern die Gonadotropin-Sekretion der Hypophyse derart, daß das Ovar tatsächlich nur Progesteron bildet und die Ausbildung eines neuen Follikels verhindert. Eine Überproduktion dieser Endorphine führt zu endokrinen Störungen, die tatsächlich eine Verbindung zwischen Psyche und Hormonen nahelegen: körperliche Anstrengung, Hunger, Abmagerung aber auch Streß setzen nicht nur in der 2. Zyklushälfte sondern kontinuierlich hohe Mengen an Endorphinen frei, die im Übermaß produziert, ähnlich wie das Melatonin, die Eierstöcke ruhigstellen können (1989). Dieser Effekt kann auch bei Opiatabhängigkeit beobachtet werden. -•Äthanol (-•Alkohol): Trotz geringer Forschungsergebnisse kann gesagt werden, daß die Tätigkeit der HPAC-Achse auf jeden Fall beeinflußt ist, da ein von Dosis und Konsumdauer abhängiger Effekt auf die Ausschüttung von ACTH besteht (Äthanol wirkt direkt auf die ACTH-Ausschüttung in der Hypophyse und damit auf die hypothalami sehe Ausschüttung des „Releasing Factors"). Absinken der Testosteron-Konzentration im Serum nach Konsumation von Äthanol ist nachgewiesen (Mendelssohn und Hello, 1974). -•Cannabis: hemmt die Hormonaufnahme im Hippocampus und damit das hemmende Feedback, wodurch ein Anstieg der ACTH-Konzentration im Serum bewirkt wird. Andere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß eventu535

Shit

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ell Metapoliten des THC die Funktion falscher Hormone besitzen und Hippocampus und Hypothalamus in Antagonismus zu den echten Hormonen, insbesondere Cortikoiden und Sexualhormonen, treten. Intensiver chronischer Cannabis-Konsum führt eventuell zu einer Reduktion des Testosteron-Spiegels. Alle diese Forschungsergebnisse sprechen klar dafür, daß psychoaktive Substanzen tatsächlich eine pharmakologische Wirkung auf das Geschlechtsleben der Abhängigen haben müssen. Lit.: Abraham, F., Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus. Int. Z. f. Sex. Wissenschaft, Berlin, 1908; Gebsattel, V. E„ Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. Monschr. Psych. Nervenkr. 82, 113, 1932; Giese, H„ Psychopathologie der Sexualität. Stuttgart, Enke, 1962; Glover, Ε., On the etiology of drug addiction. Int. J. PsA. 13, 298, 1932; Hartmann, Η., Kokainismus und Homosexualität. Ζ. ges. Neurol. Psych., 79, 1925; Huber, J., Hormone und Lebenszyklus. In: Ringler, M., U. Fennesz, M. Springer-Kremser (Hrsg.): Frauen„Krankheiten". Universitätsverlag, Wien, 1992; Rado, S., Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte, Int. Z. PsA. 9, 2, 204, 1926; Springer, Α., Zur Sexualpathologie Suchtkranker. In: Springer, A. (Hrsg.): Suchtverhalten und Geschlechtlichkeit. Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Institutes für Suchtforschung, Band 3, Hollinek, Wr. Neudorf, 1977. Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer, Wien Shit S. ist eine jargonhafte Bezeichnung für Haschisch. Sozialarbeit -•Soziale Arbeit Soziale Arbeit Hilfe für Süchtige wird neben den Angeboten einer vielfältigen Palette ehren536

amtlicher Arbeitsformen in -•Selbsthilfe- und Abstinenzorganisationen (-•Abstinenzbewegungen) vor allem von Angehörigen personenbezogener Dienstleistungsberufe wie Ärztinnen, Psychologinnen, Pädagoginnen, Sozialpädagoglnnen und Sozialarbeiterinnen geleistet. Den größten Anteil dieser professionellen Helferinnen stellen Berufe, die der Sozialen Arbeit zuzurechnen sind und für die heute eine Hochschulausbildung zu absolvieren ist: DiplomSozialarbeiterln und Diplom-Sozialpädagogln (überwiegend FachhochschulAbschluß) sowie Diplom-Pädagogln (Universitäts-Abschluß mit sozialarbeiterisch-sozialpädagogischem Ausbildungsschwerpunkt). Dies läßt sich z.B. an einer Hochrechnung der für 470 Beratungsstellen genannten Besetzungsziffern belegen, nach der ca. 59% der Mitarbeiterinnen von Diplom-Sozialarbeiterlnnen bzw. Diplom-Sozialpädagoglnnen mit Fachhochschulabschluß und noch ein weiterer nicht genau quantifizierbarer Anteil von Diplom-Pädagoglnnen gestellt werden (EBIS 1996). Waller schätzt die Zahl der in den 1200 Beratungsstellen beschäftigten Sozialarbeiterinnen auf ca. 4000 (1997: 76). Vergleichbar hochzurechnende Zahlen liegen aus dem Bereich stationärer Hilfen nicht vor, doch dürften auch hier die Mitarbeiterinnen aus sozialen Berufen die bei weitem größte Gruppe der Beschäftigten stellen. Trotz der allein schon unter quantitativen Aspekten besonderen Bedeutung der Sozialen Arbeit in der „Versorgung" Süchtiger herrscht vor allem bei Angehörigen anderer - insb. medizinischer und psychologischer - Berufe häufig Unklarheit über die Funktion der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und die Vielfalt ihrer konkreten Aufgaben in der Arbeit mit Süchtigen im Besonderen. Die vor allem außerhalb der Spezialeinrichtungen anzutreffenden Erwartungen an die Soziale Arbeit richten sich häufig einseitig auf die Erbringung sozialadministrativ zu realisierender Unsterstüt-

Soziale Arbeit

Zungsleistungen, während die dort Tätigen ihre berufliche Identität gelegentlich ebenso einseitig über eine Rolle als „(Psycho-)Therapeutlnnen" definieren. Beide Positionen beschreiben jedoch nur Teilaspekte professioneller Sozialer Arbeit, die je nach den Anforderungen im konkreten Arbeitszusammenhang unterschiedlich zu akzentuieren und durch weitere Handlungskonzepte zu ergänzen sind. 1. Soziale Arbeit als professionelle personenbezogene Dienstleistung. Die stetig wachsende gesellschaftliche Bedeutung der Sozialen Arbeit läßt sich u.a. auch an den Beschäftigtenzahlen ablesen: die Zahl der in sozialen Berufen Beschäftigten hat sich seit 1925 von 30000 auf ca. 500000 bis 1990 mindestens um das 16 fache erhöht (Rauschenbach 1990). Diese quantitative Expansion professioneller Sozialer Arbeit begründet sich vor allem in der Ausdifferenzierung ihrer Aufgaben: Die für Soziale Arbeit in ihrer Entstehungszeit charakteristische Ausrichtung auf die soziale Not unterprivilegierter Schichten in der Armen- und Gesundheitsfürsorge, sowie auf außerschulische Sozialisationsaufgaben insbes. in der Jugendhilfe ist heute durch eine weitgehende „Normalisierung" in einer kaum noch überschaubaren Vielfalt von Tätigkeitsbereichen abgelöst. In der Folge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, der daraus resultierenden sozialen Risiken und der Institutionalisierung notwendiger Unterstützungsleistungen ist potentiell jedes Mitglied einer modernen Gesellschaft Abnehmerin professioneller sozialer Dienstleistungen. Die der professionellen Sozialen Arbeit zuzurechnenden Berufe werden in der international abgestimmten berufskundlichen Systematik unter den Sozial- und Erziehungsberufen geführt und sind damit hinsichtlich ihrer Funktionen und den sich daraus ableitenden Rechten und Pflichten gegen die anderen im Suchtbereich tätigen Dienstleistungsberufe -

Soziale Arbeit

wie ζ. B. den zu den Gesundheitsberufen zu rechnenden Ärztinnen - eindeutig abzugrenzen. Soziale Arbeit entwickelte sich vor allem in industrialisierten Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des ^.Jahrhunderts innerhalb der organisatorischen Rahmenbedingungen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu einer Profession moderner Prägung und zu einem funktional autonomen Teilsystem innerhalb unserer Gesellschaft, das sich insbesondere durch seine Integration in Organisationen sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsbereiche auszeichnet. In den letzten Jahren erhöht sich allerdings auch der Anteil der freiberuflich tätigen Sozialarbeiterinnen kontinuierlich. Berufsständische Organisationsstrukturen sind für die Soziale Arbeit erst im Entstehen begriffen und beruhen derzeit noch vollständig auf der Freiwilligkeit ihrer Mitglieder. Wenn Badura (1994) die Medizin als Management somatischer Risiken identifiziert, richtet sich die Funktion Sozialer Arbeit analog dazu auf das Management sozialer Risiken. Eine funktionale Autonomie professioneller Sozialer Arbeit gegenüber anderen personenbezogenen Dienstleistungsberufen, wie z.B. der Medizin, ist aus ihrer Orientierung auf die Bewältigung sozialer Integrationsprobleme abzuleiten. Ihre professionelle Spezifität liegt in der sozialen Integrationsfunktion, die von anderen personenbezogenen Dienstleistungsberufen nicht erbracht wird. Eine besondere Betonung erfährt in Zieldefinitionen Sozialer Arbeit immer auch die prinzipiell intendierte Autonomisierung der Lebenspraxis ihrer Klientel. Wenn also Soziale Arbeit in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilsystemen bzw. deren institutionellen Strukturen vorzufinden ist, dann ist dies „geradezu ein Indikator für ihre eigene, teilsystematische Autonomie", da sie innerhalb dieser gesellschaftlichen Teilsysteme ihre eigene gesamtgesellschaftliche sozialintegrative Funktion erfüllt (Merten 1997). 537

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Aufgrund neuerer empirischer Erkenntnisse aus der Armutsforschung lassen sich Grundmuster sozialer Integrationsprobleme u. a. anhand ihrer Ausprägung und ihrer zeitlichen Dimension unterscheiden. Als soziale Deprivation läßt sich danach vielfach die Lebenslage traditioneller Bezugsgruppen Sozialer Arbeit bezeichnen, die z.B. durch dauerhafte Armut, depravierende Sozialisationsbedingungen und allgemein geringe gesellschaftliche Teilhabechancen gekennzeichnet ist. Sie sind bei etwa 10% der Bevölkerung in den „klassischen" Armutspopulationen bzw. „Randgruppen" zu beobachten. Von mittelfristigen, häufig lebensphasenspezifischen sozialen Integrationsproblemen im Sinne von Individualisierungsfolgen sind ca. 15% der Bevölkerung betroffen, z.B. in mehrjährigen Armutsphasen aufgrund der familiären Situation von Alleinerziehenden, länger andauernder Arbeitslosigkeit. Kurzfristige soziale Integrationsprobleme, wie ζ. B. soziale Krisen im Übergang zum Erwachsenenalter, psychosoziale und/oder ökonomische Krisen infolge akuter Erkrankungen, Partnerschaftskrisen, und die Komplexität der zu ihrer Bewältigung gesellschaftlich vorgehaltenen Unterstützungsprogramme betreffen als Institutionalisierungsfolgen potentiell alle Angehörigen moderner Gesellschaften. In der Folge dieser allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung ist professionelle Soziale Arbeit - vergleichbar mit der Medizin zu einer für alle Mitglieder einer Gesellschaft relevanten personenbezogenen Dienstleistung geworden. Entsprechend komplex fällt eine Praxeologie Sozialer Arbeit aus. Staub-Bernasconi führt als „Arbeitsweisen Sozialer Arbeit" folgende an: Ressourcenmobilisiserung, Bewußtseinsbildung, Modellveränderung, Handlungstraining, Sozialkompetenztraining, Soziale Vernetzung, Neuorganisation der sozialen Anordnung von Menschen und Teilsystemen sowie Öffentlichkeits- und Kriterienarbeit (1986). Damit lassen sich 538

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sowohl die seit den sechziger Jahren gängigen Standardmethoden Sozialer Arbeit (Soziale Fallarbeit, Soziale Gruppenarbeit, Soziale Gemeinwesenarbeit) als auch neuere Entwicklungen wie Case Management, Care Management oder Sozialtherapie als einander ergänzende und flexibel auf die Anforderungen der jeweiligen Problemlage abzustimmende Handlungskonzepte Sozialer Arbeit konzeptionell integrieren. Aufgrund der mit diesen Aufgaben verbundenen Anforderungen an die Soziale Arbeit wurde die Ausbildung seit Beginn der 70er Jahre in eigenen Studiengängen überwiegend an Fachhochschulen, aber auch an Universitäten und Berufsakademien (als Sonderfall in BadenWürttemberg) als akademische etabliert. Die vorerst letzte Stufe disziplinarer Identitätsentwicklung Sozialer Arbeit wurde seit Anfang der 90er Jahre eingeleitet, indem - überwiegend aus den Fachhochschulen - eine Diskussion zur Sozialarbeitswissenschaft initiiert wurde. Der Diskurs zwischen „Sozialpädagoglnnen" und „Sozialarbeitswissenschaftlerlnnen" hat nach anfänglich harten Kontroversen mittlerweile einen Stand kritisch-konstruktiver Kooperation erreicht, der vor allem einer sich in den letzten Jahren ständig ausweitenden empirischen Forschung zugute kommen dürfte (vgl. Puhl 1996). Mit dem „Bundeskongreß Soziale Arbeit" (1992 Lüneburg, 1995 Tübingen, 1998 Dresden) konnte außerdem ein Forum etabliert werden, das der Sozialen Arbeit eine Möglichkeit gibt, ihrer fachlich-sozialpolitischen Verantwortung gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen öffentlichkeitswirksam gerecht zu werden. (Zu Einzelheiten des Berufsbildes vgl. Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.), Rothschuh, M. (Redaktion) 1997 Druckschrift 2 - IV A 30). 2. Soziale Arbeit mit Süchtigen und Suchtgefährdeten. Mit der Verortung Sozialer Arbeit in den unterschiedlichsten institutionellen Strukturen wie der

Soziale Arbeit freien Wohlfahrtspflege, Kommunalverwaltungen, Gesundheitswesen, Rechtspflege etc. gehören Sozialarbeiterinnen/ Sozialpädagoglnnen zu den Berufsgruppen, die aufgrund der mit zahlreichen sozialen Problemen eng verbundenen Suchtgefährdung bzw. Manifestierungen von Sucht auch außerhalb der Spezialdienste frühzeitig Kontakte zu entsprechendem Klientel haben. Ihnen kommt damit ein hoher Stellenwert sowohl für die personenbezogene (sekundäre) Prävention als auch für die Orientierung der jeweiligen Klientinnen auf suchtspezifische Interventionen zu. In den Spezialdiensten selbst, wie Suchtberatungs- und -behandlungsstellen, Rehabilitations- und Nachsorgeeinrichtungen etc. stellt die Soziale Arbeit deutlich mehr als die Hälfte der dort professionell Tätigen. In der Folge der seit 1969 durch die Rechtsprechung des Bundessozialgericht erfolgte Medikalisierung der psychosozialen Versorgung Süchtiger (->Krankheit) setzte in den stationären und neuerdings auch in den ambulanten Rehabilitationseinrichtungen eine erst hierarchische, später zunehmend auch konzeptionelle Dominanz der Ärzteschaft ein. Im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Stellenwert wurde die Soziale Arbeit über den § 4 der zwischen Krankenversicherungen und Rentenversicherungen getroffenen Empfehlungsvereinbarung zur stationären Rehabilitation strukturell wenigstens in der Tendenz insofern angemessen berücksichtigt, als die Sozialarbeit im Leitungsteam der Einrichtungen als Fachbereich vertreten sein muß und die ärztlichen, psychologischen und sozialarbeiterischen Therapeuten im Team gleichberechtigt zusammenarbeiten sollen. Die weiterhin problematische Situation der Sozialen Arbeit in den „Versorgungsstrukturen" für Süchtige mag an zwei Beispielen charakterisiert werden: Die Leistungsträger für Rehabilitationsmaßnahmen konnten sich bisher nicht dazu entschließen, eine eindeutige fachliche Anbindung des Sozialberichtes -

Soziale Arbeit analog zum ärztlichen Gutachten - an eine entsprechende fachliche Qualifikation der Berichterstatterinnen festzuschreiben. Weiterhin verbleibt aufgrund der derzeitigen Sozialrechtsprechung die Letztverantwortung für die Rehabilitationsleistungen selbst dort bei Ärztinnen, wo deren Dienstleistungen aus fachlichen Gründen kontraindiziert sind (Urteil Bundessozialgericht vom 1 2 . 8 . 8 2 - A z . 11 R A 62/81). Eine andere zu problematisierende Folge für die Soziale Arbeit im Suchtbereich resultiert aus der einseitig psychotherapeutischen Orientierung der von allen in ambulanten und stationären Rehabilitationseinrichtungen tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoglnnen erwarteten Zusatzqualifikationen als „Suchtkrankentherapeuten", „Sozialtherapeuten" o. ä. Sie führt über die in Ausbildungen durchaus sinnvollen Identifikationsprozesse mit den jeweiligen Ausbildungsinhalten und Ausbilderinnen in vielen Fällen zu einer subjektiv als höherwertig empfundenen „Psychotherapeutisierung" der beruflichen Identität und zur Übernahme eines entsprechenden Habitus. In der sinnfälligeren Adaption psychotherapeutischer Ansätze (also ihrer Übernahme und Modifikation für die eigenen Aufgaben) liegt zweifellos noch eine von der Sozialen Arbeit in Praxis, Forschung und Ausbildung und zwar über die Soziale Arbeit mit Süchtigen hinaus - zu bewältigende Aufgabe. Doch bereits heute läßt sich auch die therapeutisch orientierte Soziale Arbeit mit Süchtigen praktisch vollständig anhand sozialarbeitswissenschaftlicher Erklärungsmuster beschreiben. Dies soll hier kurz am Beispiel der Beratung und Behandlung von Alkoholabhängigen veranschaulicht werden. Das Kernproblem des durchschnittlichen Alkoholikers kristallisiert sich um einen Autonomieverlust in den Bewältigungsmodi von Konflikten, die aus der Interaktion mit der Umwelt resultieren. Alkoholismus manifestiert sich also re-

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gelmäßig in einem zunehmenden Verlust an Handlungskompetenz (-»-„Kontrollverlust"), der dazu führt, daß der Betroffene nicht mehr entscheiden kann, ob er die Droge einnimmt oder ob er auf eine Einnahme verzichtet. Für die weitere Entwicklung der Sucht ist von diesem Punkt an nur noch bedingt erheblich, ob als auslösende Faktoren eher umweltinduzierte soziale Komponenten oder personeninduzierte Komponenten der Erlebnisverarbeitung bzw. des Sozialverhaltens angesehen werden müssen. Um das Symptom des chronischen Alkoholmißbrauchs bzw. des „Kontrollverlustes" gruppiert sich oft eine Vielfalt weiterer symptomatisch relevanter Phänomene wie eine zunehmende Einengung des Erlebens und Verhaltens, eine fortschreitende soziale Deprivation und in aller Regel auch zunehmende Anzeichen somatischer Schädigungen. Auch am Beispiel des für die heutige Suchtarbeit zentralen Theorems des -•„Co-Alkoholismus" läßt sich die zentrale Bedeutung psychosozialer Faktoren, insbesondere der familialen Beziehungsdynamik und Verhaltensmuster, für die Konstitution und Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens leicht nachvollziehen. Vor diesem sozialarbeitswissenschaftlichen Hintergrund lassen sich die für die Soziale Arbeit relevanten Interventionen wie folgt skizzieren: Soweit nicht aufgrund einer massiven Intoxikation bzw. anderer kritischer somatischer Symptome, wie z.B. eines beginnenden Delirs, lebensrettende medizinische Maßnahmen einzuleiten sind und damit aus Sicht der Sozialen Arbeit instrumenteile Ressourcen zu mobilisieren sind, stehen im Rahmen des Motivierungsprozesses unter methodischen Aspekten zuerst Schritte in Richtung auf eine Bewußtseinsbildung und Modellveränderung an. Wenn sich in der Folge dieser Interventionen bei den Betroffenen und/oder Angehörigen Einstellungsänderungen abzeichnen und sie sich zu Veränderungen ihres Verhaltens entschließen, gilt

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es, sie bei der Erschließung der für eine Rehabilitationsmaßnahme und ihre existentielle Absicherung notwendigen Ressourcen beratend und in manchen Fällen auch stellvertretend-handelnd zu unterstützen. Bewußtseins- und modellverändernde Interventionsformen im Rahmen sozialtherapeutischer Verfahren, Handlungs- bzw. Sozialkompetenztraining zur Einübung eines angemessenen sozialen Erlebens und Verhaltens, sowie eine soziale Vernetzung mit den örtlichen Selbsthilfegruppen sind und bleiben Aufgaben sozialarbeiterischer bzw. sozialpädagogischer Intervention sowohl im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung als auch der Nachsorge. Die in der Regel von Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen verfaßten Sozialberichte, die Unterstützung der Klientinnen bei der Durchführung der Antragsverfahren für eine Entwöhnungsbehandlung oder auf Wiedereingliederungshilfe zeigen, daß die zentralen Aufgaben der Sozialen Arbeit in einer Beratung und/ oder sachverständigen Begutachtung der Betroffenen liegen. Die Antragstellung liegt jedoch weiterhin in der Verantwortung der Klientinnen selbst, die Entscheidung über die Anträge wird in Administrationen wie z.B. den Rentenversicherungsträgern getroffen. Insofern werden von der Sozialen Arbeit zwar zu Recht besondere Kenntnisse hinsichtlich sozialadministrativ regulierter Ressourcen und der damit verbundenen Zugangsverfahren erwartet, die eigentliche administrative Tätigkeit liegt jedoch weiterhin in den Händen von Angehörigen der Verwaltungsberufe. Aber auch außerhalb des engeren Bereiches der Sozialen Arbeit mit Süchtigen geben Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoglnnen in den Kontaktstellen für Selbsthilfegruppen Anstöße zur Initiation (bisher vor allem für Gruppen nichtstoffgebundener Suchtformen) von Selbsthilfegruppen und unterstützen diese im Aufbau ihrer Infrastruktur (vgl. Wohlfahrt, Breitkopf 1995).

Soziale Arbeit

3. Akzeptierende und niedrigschwellige Drogenarbeit. In der Auseinandersetzung mit der „Sucht als •Krankheit"Konzeption (und durchaus auch in Konkurrenz zu ihr) hat die Soziale Arbeit in einigen Arbeitsbereichen mit der stark sozialwissenschaftlich bzw. sozialpädagogisch beeinflußten akzeptierenden oder niedrigschwelligen Arbeit ( -•Akzeptierende Drogenarbeit) insbesondere mit Konsumentinnen illegaler Drogen eine ursprünglich von Betroffenengruppen (z.B. -»„Release") praktizierte Alternative zur sozialtherapeutischen Konzeption aufgegriffen und weiterentwikkelt. Charakteristisch für diese Ansätze ist eine Abkehr von als aufgenötigt bzw. fremdbestimmt erlebten Therapiezielen isb. dem Abstinenzpostulat. Die Selbstbestimmung der Drogenkonsumentlnnen und die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit sind entscheidende Prämissen für diese Ansätze. Methodisch basieren sie auf bedürfnisadäquaten Hilfeleistungen, der Mobilisierung von „Selbsthilfekräften", Gemeindenähe und den Drogenkonsum tolerierenden, gesundheitsfördernden Angeboten (vgl. Bader, Hey, Stöver 1997). Eng verbunden sind diese Ansätze mit Forderungen nach rechtspolitischen Veränderungen in Richtung auf eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums. Zwischen den beiden hier skizzierten Ansätzen sind grundsätzliche Unterschiede vor allem dort zu erkennen, wo es um die Bewertung des Drogenkonsums und die Art professioneller Interventionen geht. Im Kontext des stark medikal geprägten „therapeutischen" Konzepts bleibt Abstinenz - über eine differenzierte Zielhierarchie abgestuft zentrales Interventionsziel. Demgegenüber eröffnet die „akzeptierende Drogenarbeit" Perspektiven für eine revidierte Bewertung des Drogenkonsums. Beide Konzepte plädieren für einen flexibleren Umgang mit Drogenkonsumentlnnen, sie tun es aber aus unterschiedlichen Gründen. Bei den „Therapeutinnen" stehen eher interventions-

Soziale Arbeit

strategische Überlegungen im Vordergrund. Die „akzeptierende Drogenarbeit" rückt eher Fragen nach der Autonomie der Lebensführung und der Handlungskompetenz der Drogenkonsumentlnnen in den Mittelpunkt. Gleichwohl ist in der Suchtarbeit mittlerweile ein pragmatischer Umgang mit dem Potential beider Ansätze zu beobachten. Letztlich sind also Abstinenz und Akzeptanz keine notwendig gegenläufigen Orientierungen, sondern sie ergänzen sich. In der professionellen Sozialen Arbeit mit Süchtigen geht es zukünftig vor allem darum, über eine engere Verzahnung beider Ansätze eine effektive, an den Bedürfnissen der Hilfesuchenden orientierte Unterstützungspraxis, Beratung und Rehabilitation, in der sie sich gleichermaßen an den realen Lebensbedingungen der Süchtigen wie auch an den ethischen und qualitativen Standards der eigenen Profession orientiert. Dazu setzt sie die ganze Bandbreite ihrer Handlungskompetenz in verschiedensten Tätigkeitsbereichen ein: psychosoziale (->Suchtberatung) Beratung, -»•Prävention, -•Streetwork, ambulante und stationäre Sozialtherapie, Arbeit in Justizvollzugsanstalten, psychosoziale Begleitung zur Drogensubstitution (-•Substitution), -•AIDS- und Prostituiertenarbeit, betriebliche Suchtarbeit (-•Betriebliche Suchtprävention), -•Rehabilitation und -•Nachsorge, Unterstützung von „Selbsthilfe"-Aktivitäten, Sozialmanagement sowie und nicht zuletzt Öffentlichkeitsarbeit und Mitwirkung in politischen Prozessen. (Vgl. Bathen u.a., o. J. Eine umfassende und differenzierte Beschreibung der Tätigkeiten von Diplom-Sozialarbeiterlnnen/PädagogInnen in Rehabilitationsmaßnahmen findet sich in LVA Hannover 1998.) Spätestens hier wird deutlich, daß aus dem Blickwinkel der Sozialen Arbeit die derzeit sozialrechtlich gültige Definition stoffgebundener Süchte als Krankheit nur hinsichtlich der ökonomischen Sicherstellung der fallbezogenen 541

Sozialisation

Suchtarbeit bzw. -hilfe ein vorläufig akzeptables Konzept ist. Denn Sucht bzw. Abhängigkeit ist als allgemeines Phänomen und in jedem einzelnen Fall entscheidend durch soziale Faktoren determiniert bzw. nimmt vor allem auf soziale Aspekte der Lebenswelt der Betroffenen Einfluß. Besonders deutlich wird dies im Kontext nicht-stoffgebundener Süchte (z.B. Spielsucht). Selbst dort, wo psychiatrisch relevante Präbzw. Ko-Morbidität festzustellen ist, haben soziale Probleme zumindest als sucht-auslösende Faktoren einen hohen Stellenwert. Plausibler wäre demnach ein Konzept, das jegliche Sucht als multiple personale Funktionsstörung auffaßt, die primär von psychosozialen Faktoren determiniert bzw. ausgelöst wird und aus der Krankheiten (im medizinischen Sinne) auch und vor allem als Folgen resultieren. Der derzeit beobachtbare Trend zur weiteren Medikalisierung des Hilfesystems verstärkt insbesondere die Gefahr, daß sozialwissenschaftlich begründete Interventionskonzepte sich nur dort entfalten können, wo sie sich widerspruchsfrei den medikalen Versorgungskonzepten unter- oder zuordnen lassen. Aufgrund der damit verbundenen Orientierung auf den einzelnen Fall und vor allem den jeweils bei ihm zu beobachtenden Defiziten geraten die für Präventions- und Interventionskonzepte zentralen sozialen Faktoren bei vielen sozialpolitischen Entscheidungsträgerinnen schnell aus dem Blick. Sie verweisen im Zuge allgemeiner, letztlich jedoch vordergründiger, „Sparzwänge" auf die Zuständigkeit von Sozialversicherungen und fahren die von anderen Teilsystemen sozialer Sicherung, wie z.B. von der Sozialhilfe, zu erbringenden Leistungen weitgehend zurück. Die soziale Arbeit wird auf die problematischen Folgen dieser Entwicklung verstärkt öffentlich hinzuweisen haben und dort, wo sie konzeptionell Einfluß gewinnen kann, auf Veränderung hinwirken müssen. -•Suchtkrankenhilfe 542

Sozialisation

Lit.: Bader, Th„ Hey, G„ Stöver, H. 1997, Aktuelle Trends in der sozialen Drogenarbeit und Drogenpolitik, in: Müller, S„ Reinl, H. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Konkurrenzgesellschaft, Neuwied; Bathen, R. u. a. o. J., Sozialarbeit im Bereich der ambulanten und stationären Suchtkrankenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland, Sonderdruck des Landschaftsverbandes WestfalenLippe; Hey, G., 1994, Einige Grundsätzliche Überlegungen zur Funktion der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen, in: Akademie für Sozialarbeit und Sozialpolitik e.V. (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit, Bielefeld; Landesversicherungsanstalt Hannover (Hrsg.), 1998, Ambulante Suchtbehandlungen; Merten, R., 1997, Autonomie der Sozialen Arbeit, Weinheim; Puhl, R. (Hrsg.), 1996, Sozialarbeitswissenschaft, Weinheim; Rauschenbach, Th., 1990, Jugendhilfe als Arbeitsmarkt, in: Sachverständigenkommission 8. Jugendbericht (Hrsg.), Jugendhilfe - Historischer Rückblick und neuere Entwicklungen. Materialien zum 8. Jugendbericht. Band 1. Weinheim; Staub-Bernasconi, S. 1986, Soziale Arbeit als eine besondere Art des Umganges mit Menschen, Dingen und Ideen - Zur Entwicklung einer handlungstheoretischen Wissensbasis Sozialer Arbeit, in: Sozialarbeit 18. Jahrgang; Wohlfahrt, N„ Breitkopf, H„ 1995, Selbsthilfegruppen und Soziale Arbeit, Freiburg im Breisgau Georg Hey, Lüneburg Sozialisation

Unter S. werden komplexe Lernprozesse verstanden, durch die Gesellschaftsmitglieder mehr oder weniger ausgeprägt in das Werte- und Normensystem ihrer sozialen Bezugsgruppen, und im weiteren Sinne ihrer -»Kultur und Gesellschaft, hineinwachsen, wobei dieser Prozeß in modernen Gesellschaften lebenslang verläuft, wenn auch die frühkindliche primäre S. sicher weichenstellend ist. Um sozial handlungsfähig zu werden bzw. unter den sich stets

Sozialpädagogik

wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen zu bleiben, sind erhebliche psychische Anpassungsprozesse notwendig, wie es andererseits großer Bemühungen bedarf, auch die Werte und Normen des sozialen Umfeldes den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten so anzugleichen, daß man mit ihnen leben kann. In den Prozessen der S. wird somit Kommunikationsfähigkeit und Identität erworben. Im Suchtbereich gibt es viele Erfahrungen und Forschungsergebnisse, die nachdrücklich darauf verweisen, daß bei abhängigen Menschen in ihrem Sozialisationsprozeß Störungen aufgetreten sind, die in vielen Fällen die eigentlichen oder zumindest wesentliche Ursachen der Suchtentwicklung sind (-•Alkoholabhängigkeit; »Genese, ^Persönlichkeit und Suchtentwicklung, ^-Psychologische Aspekte der Sucht, -»Soziologische Aspekte der Sucht). Der Umgang mit -»legalen Drogen ist Teil der S. in der -»Familie (-»Kindheit). Das Erlernen des Konsums von -»illegalen Drogen findet, zusätzlich zur weiteren alkoholspezifischen Sozialisation, in jugendlichen Gleichaltrigengruppen (-»Jugend) statt (zumindest von -»Cannabis, -»Designerdrogen) und in den Drogenszenen bzw. in szenenahen Gruppierungen. In vielen Sozialisationsinstanzen ist aber gleichzeitig auch die Möglichkeit zur -»Prävention und zur -»Gesundheitsförderung angelegt: -»Betriebliche Suchtprävention, -»Elementarbereich, -»Familie, -»Kindheit und -»Schule. Sozialpädagogik -»Soziale Arbeit Sozialpolitik Alle Gesetze und politischen Vorhaben, deren Gegenstand die Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen sind, werden zusammenfassend als S. bezeichnet. Öffentliche S. ist teils Bundes·, teils Ländersache und umfaßt u.a. die Bereiche Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik, -»Drogenpolitik, Jugendpo-

Sozialrecht

litik, Gesundheitspolitik, Sozialversicherungspolitik, Sozialhilfepolitik. Sozialrecht 1. Allgemeines. Das Sozialrecht umfaßt unterschiedliche Leistungsbereiche, von denen die wichtigsten im SGB (Sozialgesetzbuch) zusammengefaßt sind. Das Sozialrecht stellt sozialgeschichtlich die Antwort auf individuelle und kollektive Notlagen und Bedürfnissituationen dar, die der Einzelne nicht mehr alleine bewältigen kann. Auf Suchtverhalten reagiert das Sozialrecht mit unterschiedlichen komplexen Leistungsangeboten. Sucht wird in der Rechtssprechung des BSG (Bundessozialgerichts) und in der Literatur als ein regelwidriger Körperund Geisteszustand, der sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der krankhaften Abhängigkeit vom Suchtmittel, im Nicht-mehr-aufhören-Können, verstanden (Krasney, S.46f.). Hierzu ist neben der -»Sucht nach Drogen auch die Spielsucht zu zählen. Dieses neuzeitliche Verständnis von Sucht findet sowohl im Recht der Kranken- wie der Rentenversicherung Anwendung, auch wenn kritische Einwände gegen einen solch weiten Suchtbegriff unter Hinweis auf die „Schuldproblematik" erhoben werden. Unter Sozialrecht soll hier das Sozialversicherungs-, das Arbeitsförderungs-, das Kinder- und Jugendhilfe-, das Sozialhilfe- sowie das Pflegeversicherungsrecht verstanden werden. Sämtliche Rechtsbereiche mit Ausnahme des BSHG (Bundessozialhilfegesetz) stellen einzelne Bücher des SGB dar. 2. Sozialversicherung: Die Sozialversicherung im weiteren Sinne umfaßt die Kranken-, die Unfall-, die Renten- und die Pflegeversicherung. 2.1 Krankenversicherung (SGB V). Versicherungspflichtig sind Arbeiter und Angestellte, deren regelmäßiger Verdienst 75% der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung (1997 = 73800 DM in den alten Bundesländern und 63900 in den neuen Bundes543

Sozialrecht

ländern) nicht übersteigt. Hinzu kommen noch Auszubildende, Praktikanten, Studierende sowie Leistungsempfänger der Arbeitslosenversicherung. Arbeitnehmer, deren Verdienst oberhalb dieser Grenze liegt sowie Beamte und Selbständige sind versicherungsfrei. Familienangehörige mit geringem Einkommen und Kinder bis zum 18. Lebensjahr sind mitversichert (Familienversicherung). Für Letztere gelten ab dem 18. Lebensjahr gestaffelte Versicherungsmöglichkeiten (§ 10 Abs. 2 SGB V). Ohne Altersgrenze sind Kinder versichert, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Die Leistungen der Krankenversicherung bestehen in 1. Förderung der Gesundheit, 2. der Verhütung von Krankheiten, 3. in der Friiherkennung von Krankheiten und 4. in der Behandlung einer Krankheit. Zu den Leistungen zählen auch solche der -•Rehabilitation, um einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen. Die Leistungsarten sind Sach-, Dienst- und weniger häufig Geldleistungen. Die Krankenkassen können Ermessensleistungen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten in ihrer jeweiligen Satzung vorsehen. Darüber hinaus können die Krankenkassen auch Selbsthilfegruppen und -Kontaktstellen mit gesundheitsfördernder oder rehabilitativer Zielsetzung fördern. Beide Male handelt es sich allerdings um Ermessensvorschriften, auf die kein Leistungsanspruch besteht. Die beiden Leistungsarten können aber eine entscheidende Rolle beim Aufbau suchtpräventiver Programme spielen. Solche präventiven Leistungen sind zur Verhütung von Zahnerkrankungen (§§ 21, 22 SGB V) und zur Verhinderung der Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, als Rechtsansprüche mit voller gerichtlicher Überprüfbarkeit als ambulante und ggf. sta544

Sozialrecht

tionäre Maßnahmen ausformuliert (§ 23 SGB V). Der Schwerpunkt der Leistungen nach SGB V liegt weiterhin in der Krankenbehandlung. Diese umfaßt ärztliche Behandlung (d.h. Diagnose, Therapie, Anordnung und Überwachung der Lebensweise), zahnärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arznei- und sonstigen medizinischen Hilfsmitteln. Streitig ist, ob Substitutionsmittel (->Substitution) zur Krankenbehandlung zählen (Methadonproblematik). Falls diese als erster Schritt einer langfristigen Behandlung aus der Sucht heraus angelegt sind, wird dies bejaht. Der Weg in die Legalität unter Beibehaltung der Abhängigkeit wird dagegen nicht als Behandlung verstanden, weil er an dem Krankheitsbild nichts ändert. Substitutionsbehandlung wird aber auch als ergänzende Leistungen zur Rehabilitation nach § 43 SGB V verstanden und von den Krankenkassen finanziert. Zur Behandlung durch die Ärzte können auch die Hilfeleistungen durch andere Personen, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm zu verantworten sind, zählen (§ 28 Abs. 1 SGB V). Dies gilt auch für nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen. Die Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztl. Behandlung die häusliche Pflege (§ 37 SGB V) sowie im Einzelfall die Bereitstellung einer Haushaltshilfe (§ 38 SGB V). Neben der ambulanten ärztl. Behandlung spielt bei Suchtkranken die Krankenhausbehandlung eine zentrale Rolle. Sie wird vollstationär, teilstationär, vorund nachstationär sowie ambulant erbracht. Ihr Wesensmerkmal ist die ärztl. und pflegerische Leistung. In § 107 Abs. 1 SGB V werden Krankenhäuser auf ihre fachlich-medizinische Hilfeleistung hin definiert, während Einrichtungen mit einem hohen psychotherapeutischen Behandlungsanteil als Kur- oder Spezialeinrichtungen unter den Begriff der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung (-•Rehabilitation) fallen. Im

Sozialrecht

Unterschied zu den Krankenhäusern geht es bei den Rehaeinrichtungen um die Beseitigung einer Schwächung der Gesundheit oder um der Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung entgegenzuwirken, eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern oder bereits erzielte ärztl. Behandlungserfolge zu sichern/zu festigen oder einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen. Auch die Rehaeinrichtungen müssen unter ständiger ärztl. Verantwortung stehen. Die Dauer der Krankenhausbehandlung bestimmt sich nach medizinischen Kriterien. Sie muß, wie alle Leistungen der Krankenversicherung, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 SGB V). Es gibt keine zeitliche Begrenzung. Wenn die Sucht allerdings keiner Behandlung mehr zugänglich ist, entfällt eine Leistungsverpflichtung für die Krankenkasse. Die Rechtsgrundlage für die Entwöhnungsbehandlung (-•Entwöhnung) für Suchtkranke erfolgt nach § 40 SGB V als Rehabilitationsmaßnahme. Für ambulante Rehabilitationsmaßnahmen erfolgt eine Gewährung für längstens vier Wochen (Soll-Leistung), während für stationäre Leistungen eine solche zeitliche Beschränkung nicht gilt. Während für Krankenhäuser gem. § 39 SGB V ein freies Wahlrecht nur noch sehr eingeschränkt existiert, ist ein solches für Rehaeinrichtungen nicht vorgesehen. Für die Klärung der Zuständigkeit zwischen den Krankenversicherungsträgern und den Rentenversicherungsträgern sind Empfehlungen getroffen worden. Generell kann gesagt werden, daß in der Regel der Krankenversicherungsträger für die Entzugsbehandlung (-»Entzug; -•körperliche Entgiftung; •Qualifizierte Entgiftung) der Rentenversicherungsträger für die Entwöhnungsbehandlung zuständig ist (Einzelheiten siehe Empfehlungsvereinbarung KV-RV

Sozial recht

über die Zusammenarbeit bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 20. Nov. 1977, abgedruckt in Krasney S. 231 ff. sowie Empfehlung KV-RV über die Zusammenarbeit und das Verfahren bei der Gewährung vorläufiger Leistungen für stationäre Entwöhnungsbehandlungen Drogenabhängiger vom 22. Okt. 1981, abgedruckt in Krasney S. 236ff.). Neben der häuslichen Krankenbehandlung gewinnt auch die häusliche Krankenpflege eine wichtige Rolle für die Abkürzung oder Vermeidung der Krankenhausbehandlung. Der Anspruch besteht auf bis zu vier Wochen je Krankheitsfall (§ 37 SGB V). Ist ein Kind unter 12 Jahren im Haushalt der erkrankten Person zu versorgen, dann besteht Anspruch auf eine Haushaltshilfe, wenn die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist (§ 38 SGB V). Diese Vorschrift ist insbesondere für alleinerziehende Elternteile von zentraler Bedeutung. Subsidiär zu dieser Vorschrift steht die Jugendhilfeleistung nach § 20 KJHG. Neben den unmittelbar krankheitsbezogenen Leistungen kommt noch als weitere Leistung Krankengeld in Betracht §§ 44 ff. SGB V). Der Anspruch auf Krankengeld besteht für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, längstens für 78 Wochen innerhalb von drei Jahren aus Anlaß derselben Krankheit. Wird Lohn oder Gehalt aus Anlaß der Krankheit fortgezahlt, ruht der Krankengeldanspruch. Auch im Lohnfortzahlungsgesetz gilt der gleiche Krankheitsbegriff. Die Arbeitsunfähigkeit muß hiernach aber ohne Verschulden sein. Die Fachwelt sieht ein solches Verschulden bei der Entstehung eines Suchtverhalten nicht als gegeben an, unter eng definierten Voraussetzungen beim Rückfall, während das BAG ein Verschulden für einen Rückfall dann als gegeben ansieht, wenn vorher eine entsprechende Therapie und Beratung bzw. Aufklärung stattgefunden hat. Die Lohnfortzahlung nach dem LFZG erfolgt für höchstens 6 Wochen. 545

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2.2 Unfallversicherung (SGB VII). Die Unfallversicherung ist im SGB VII geregelt und dient in erster Linie dem Schutz der Arbeitnehmer. In § 2 SGB VII werden unterschiedlichste Adressatengruppen der Versicherten definiert, für die eine Versicherungspflicht besteht. Sie erfaßt hauptsächlich abhängig Beschäftigte, Auszubildende (Schüler/ Studierende), Kinder und Jugendliche als Besucher von Erziehungseinrichtungen, sowie für Personen, die in der Gesundheits- oder Wohlfahrtspflege tätig sind. Versichert sind die Folgen eines Arbeitsunfalls, also ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis, das während einer versicherten Tätigkeit aufgetreten ist und das in einer Kausalität zu diesem Ereignis stehen muß. Gleichzeitig muß die Kausalität zu dem Schaden gegeben sein. Es kommt bei mehreren Ursachen auf die wesentliche an. Beruht die wesentliche Ursache des Unfalls auf dem Gebrauch von Suchtmitteln, so liegt kein Arbeitsunfall vor. Etwas anderes gilt nur, wenn es zwischen dem Suchtverhalten und der versicherten Tätigkeit einen zwingenden sachlichen Zusammenhang gibt, was höchst selten sein dürfte. Neben dem Arbeitsunfall kommt die Berufskrankheit als zweiter wichtiger Fall vor. Die einzelnen Berufskrankheiten werden von der Bundesregierung durch eine Rechtsverordnung als solche festgelegt. Sie umfassen solche Krankheiten, die Menschen mit einer bestimmen beruflichen Tätigkeit deutlich häufiger betreffen als andere Menschen. Nach Eintritt des Arbeitsunfalls wird Heilbehandlung nur von der Unfallversicherung gewährt. Leistungen der KV oder RV scheiden insoweit aus. Die Heilbehandlung umfaßt all die Möglichkeiten, wie sie bereits die KV vorsieht. Als zweite Leistung kommt Berufshilfe in Betracht (§§ 35 ff. SGB VII). Hierunter fallen insbesondere Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, Berufsvorbereitung, beruflichen Anpassung, Fortbildung, Umschulung, 546

Sozialrecht

Arbeitstraining in einer anerkannten Werkstatt für Behinderte. Die Leistungen umfassen auch solche für Arbeitgeber, etwa um eine befristete Probebeschäftigung, eine dauerhafte berufliche Eingliederung oder eine Ausbildung oder Umschulung in einem Betrieb zu ermöglichen. Das Gesetz sieht neben den berufsfördernden Rehabilitationsleistungen auch solche der sozialen Rehabilitation vor, die sich vor allem auf Kraftfahrzeughilfe, Wohnungshilfe und auf Beratung sowie sozialpädagogische bzw. psychosoziale Betreuung erstrecken (§ 39 SGB VII). Daneben gibt es Leistungen bei unfallbedingter Pflegebedürftigkeit in Form des Pflegegeldes, der Gestellung einer Pflegekraft oder der Gewährung einer Heimpflege (§ 44 SGB VII). Der unfallbedingte Verdienstausfall wird durch die Geldleistungen während der Heilbehandlung und der beruflichen Rehabilitation in Form des Verletztengeldes (§ 45 SGB VII) aufgefangen. Bei dauernder Minderung oder Verlust der Erwerbsfähigkeit erhält der Versicherte Verletztenrente (§56ff. SGB VII); im Todesfall erhalten der Ehegatte Witwenund die Kinder Waisenrente (§§63 ff. SGB VII). 2.3 Rentenversicherung (SGB VI). Die Rentenversicherung (RV) ist seit dem 1.1.1992 als SGB VI neu geregelt. Versichert sind generell alle Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. Daneben kommen noch eine Vielzahl weiterer Personen in Betracht, die in den Eingangsvorschriften des Gesetzes aufgezählt werden. Die Versicherungsfreiheit ist in § 5 SGB VI geregelt, die freiwillige Versicherung in § 7 SGB VI. Die Leistungen der RV sind Leistungen der Rehabilitation (medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen). Bei ihrer Gewährung spielt das Rehabilitationsangleichungsgesetz eine entscheidende Rolle. Das Gesetz regelt die Abstimmung unter den verschiedenen gesetzlichen Leistungsbereichen und den

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Leistungsträgern. Rehabilitation hat einen eindeutigen Vorrang vor der Rentenleistung. Rehaleistungen sollen die Erwerbfähigkeit, die durch Krankheit oder körperliche, geistige oder seelische Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist, wesentlich verbessern oder wiederherstellen. Eine Gewährung kommt erst nach einer Wartezeit innerhalb der Versicherungszeit von 15 Jahren oder wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezogen wird, in Betracht (§ 11 Abs. 1 SGB VI). Medizinische Leistungen zur Rehabilitation kommen aber nach Abs. 2 auch schon vorher in Betracht, wenn der Versicherte innerhalb der letzten zwei Jahre vor Antragstellung sechs Monate Pflichtbeiträge geleistet hat. Bedeutsam ist die Regelung für junge Menschen, die innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung ihrer Ausbildung eine versicherte Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit angenommen und ausgeübt haben oder nach einer solchen Tätigkeit bis zum Antrag arbeitsunfähig oder arbeitslos gewesen sind. Einbezogen sind auch Jugendliche, für die während ihrer Ausbildung noch keine Versicherungspflicht besteht. In den §§ 15 ff. SGB VI werden eine Vielzahl medizinischer und berufsfördemder Leistungen zur Rehabilitation im einzelnen festgelegt. 2.4 Pflegeversicherung (SGB XI). Als jüngster Teil (1994) der Sozialversicherung ist in SGB XI die Pflegebedürftigkeit als Risiko sozialrechtlich geregelt worden. In enger Anlehnung an das Recht der Krankenversicherung sind alle pflicht- oder freiwillig versicherten Personen auch durch die Pflegeversicherung erfaßt. Beitragsfrei erfaßt sind auch alle Familienangehörigen der Versicherten. Für privat Krankenversicherte besteht darüberhinaus die gesetzliche Pflicht, sich bei ihrer Krankenversicherung auch für das Risiko der Pflege zu versichern. Die grundsätzlichen Ziele der Pflege sind in § 2 genannt. Hierbei geht es um ein möglichst selbständiges

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und selbstbestimmtes Leben der versicherten Person. Hierbei wird der häuslichen Pflege ein Vorrang vor der teiloder vollstationären Pflege eingeräumt. Darüberhinaus sollen die Pflegekassen bei den zuständigen Leistungsträgern darauf hinwirken, daß Leistungen der Prävention und Rehabilitation vorrangig zur Vermeidung der Pflegebedürftigkeit gewährt werden. Das Gesetz geht von verschiedenen Stufen der Pflegebedürftigkeit aus, die in einem speziellen gesetzlich geregelten Verfahren festgestellt werden (§§ 14ff.). Regelleistung in der Pflegeversicherung ist die Sachleistung (§ 28). Im Falle selbst beschaffter Pflegehilfen kann auch Pflegegeld gewährt werden (§ 37). Die Leistungen sind nach den jeweiligen Pflegestufen begrenzt und gewähren keine volle Deckung des Pflegerisikos. Daher sind zusätzliche Absicherungen erforderlich. Kann dies privat nicht ermöglicht werden, erfolgt die Sicherung durch Sozialhilfe. 3. Arbeitsförderung (SGB III). Das Recht der Arbeitsförderung ist mit Wirkung zum 1.1.1998 als SGB III neu geregelt worden. Von den zahlreichen Leistungen nach dem SGB III, die auch für suchtkranke Menschen in Betracht kommen können, sind die Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe von herausragender Bedeutung. Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer arbeitslos ist, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat und die Anwartschaftszeit erfüllt hat (§117 SGB III). Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer dann, wenn er vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, aber eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht (§118 Abs. 1 SGB III). Eine Beschäftigung sucht jemand dann, wenn er alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (Verfügbar547

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keit). Die Verfügbarkeit wiederum ist abhängig davon, ob der Beschäftigungssuchende arbeitsfähig ist. Nach den Bestimmungen von § 119 Abs. 3 SGB III ist arbeitsfähig, wer eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben, an Maßnahmen der beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilnehmen und Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann. Der Arbeitslose muß dem Arbeitsmarkt objektiv und subjektiv zur Verfügung stehen. In § 119 Abs. 4 SGB III wird auch unter bestimmten Voraussetzungen bei einer Teilzeitbeschäftigung eine Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft angenommen. Neben der Beschäftigungssuche bestimmen die neuen Regelungen der Zumutbarkeit in §121 SGB III eine generelle Zumutbarkeit von Beschäftigungen, die seiner Arbeitsfähigkeit entsprechen, soweit nicht allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit entgegenstehen. Allgemeine Gründe beziehen sich auf gesetzliche, tarifliche oder in Betreibensvereinbarungen festgelegten Bestimmungen über Arbeitsbedingungen oder den Arbeitsschutz. Personenbezogene Gründe sind solche, die die Höhe des möglichen Arbeitsentgeltes oder die Entfernung zur Arbeitsstelle betreffen. Neben diesen allgemeinen Bestimmungen kennt das Gesetz auch noch Sonderformen des Arbeitslosengeldes, wenn die Leistungsfähigkeit des Arbeitssuchenden gemindert ist. Dies betrifft insbesondere solche Fälle, in denen eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit noch nicht gegeben ist. In solchen Fällen garantiert § 125 SGB 3 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die Dauer des Anspruchs bemißt sich nach der Dauer des Versicherungspflichtverhältnisses (§ 127 SGB III). Die Höhe des Anspruchs beträgt 60% des pauschalierten Nettoentgeltes, das der 548

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Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat, bei mindestens einem Kind sowie bei einem Ehegatten mit mindestens einem Kind 67% (erhöhter Leistungssatz). Die Neuregelung der Arbeitsförderung hat eine Erhöhung der Sperrzeit auf 12 Wochen gebracht (§ 144 SGB III). Eine solche Sperrzeit tritt regelmäßig insbesondere dann ein, wenn der Arbeitslose selbst das Beschäftigungsverhältnis vorsätzlich oder fahrlässig gelöst hat oder durch sein Verhalten Anlaß für eine Kündigung gegeben hat. Gerade dieser Fall tritt häufig bei Süchtigen auf. Sucht als Krankheit ist dem Süchtigen aber in der Regel nicht als vorsätzliches oder grobfahrlässiges Verhalten vorzuwerfen (Krasney S. 182 f.). Wenn kein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht, kann Arbeitslosenhilfe gezahlt werden, sofern die erforderlichen Voraussetzungen nach § 190 SGB III erfüllt sind: Der Arbeitnehmer muß arbeitslos sein, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet haben, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, weil die Anwartschaft nicht erfüllt ist, die besonderen Anspruchsvoraussetzungen nach § 191 SGB III erfüllen und bedürftig im Sinne von § 193 SGB III sein. Die Höhe der Arbeitslosenhilfe beträgt bei erhöhtem Leistungssatz 57% (Arbeitsloser mit mindestens einem Kind bzw. Ehegatte mit mindestens einem Kind), in allen übrigen Fällen 53% des Leistungsentgelts (§ 195 SGB III). Arbeitslosenhilfe wird für längstens 12 Monate gewährt (§ 197 SGB III). Erfolgt dannach keine Beschäftigung oder ist in dieser Zeit kein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden, tritt ggf. Sozialhilfe ein. 4. Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Die Kinder- und Jugendhilfe ist im SGB VIII geregelt und enthält eine Fülle von unterschiedlichen Leistungen, die Hilfen für die Familie, die Kinder- und Jugendlichen sowie die Erziehungsberechtigten, sowie seelisch behinderte Kinder

Sozialrecht und Jugendliche und junge Erwachsenen vorsehen. Das S G B VIII reagiert mit seinem Programmangebot in § 1 auf belastende Familiensituationen und setzt in den nachfolgenden Vorschriften auf die Autonomie und die Mitwirkungsbereitschaft von Eltem und Kindern. In seinem an den jungen Menschen orientierten Leistungen enthält das Gesetz Angebote für den präventiven Jugendschutz (§ 14 S G B VIII), aber auch Beratungsangebote in Konflikt· und Krisenfällen ohne Kenntnis der Eltern (§ 8 Abs. 3 S G B VIII). Suchtverhalten der Eltern kann Gefährdungen der Kinder und Zerstörungen des familiären Netzwerkes auslösen. In familiären Notfällen bei Ausfall eines Elternteils kann die Jugendhilfe familieninterne Hilfeangebote bereithalten, um die Haushaltsführung zu garantieren. Soweit es die weitere Vermeidung der Gefährdung der Kinder angeht, bieten die Hilfen zur Erziehung eine Fülle von unterschiedlich intensiven Hilfeformen an. Sie reichen von intensiver Beratung (auch Suchtberatung) bis hin zu familienbezogenen Betreuungsleistungen (Sozialpädagogische Familienhilfe) und ambulanten therapeutischen Angeboten für die ganze Familie. Entscheidend für das gelingende Zusammentreffen unterschiedlicher Hilfeformen ist die Verpflichtung durch § 36 S G B VIII, in solchen Fällen eine intensive Planung der Hilfen zur Erziehung mit allen Beteiligten zu betreiben, um die Wirksamkeit der getroffenen Absprachen zu garantieren. Suchtverhalten der Eltern oder auch der Kinder kann der Auslöser für schwere Familienkrisen bis hin zur Trennung und Scheidung sein. Auch für diese „Sekundarfolgen" von Sucht bietet das S G B VIII im Bereich der Trennung/Scheidung und dem U m g a n g mit den Kindern unterschiedlich intensive Hilfen an, um vor allem den Kindern im Umgang mit der Gesamtkonstellation in der Familie beistehen zu können. Kinder haben einen Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung, um im Falle der Tren-

Sozialrecht nung und Scheidung der Eltern, insbesondere bei der möglichen Neuregelung des elterlichen Sorgerechts und der Ausgestaltung des Umgangsrechts entsprechende Unterstützung durch die Jugendhilfe zu erfahren (§§ 17ff. S G B VIII). Grundsätzlich ist die Gewährung von Jugendhilfeleistungen davon abhängig, daß der Leistungsberechtigte diese bei d e m öffentlichen Träger (Stadt oder Landkreis) beantragt. Gerade hierin liegt aber bei suchtkranken Eltern ein Problem. Für den Fall einer möglichen Kindesgefährdung im Falle unterbleibender Antragsstellung bietet das K J H G in Form der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII eine Hilfeform an, die als Soforthilfe für das Kind zu verstehen ist. Ihre dauerhafte Bereitstellung hängt allerdings von der Zustimmung des Familiengerichts ab. Gleiches gilt in weniger akuten Fällen bei zu befürchtender Kindeswohlgefährdung oder Vernachlässigung. Hier kann nur ein Verfahren zur Sorgerechtseinschränkung oder Entziehung nach § 1666 B G B Abhilfe bringen. In den Z u s a m m e n f ü h r u n g e n von Leistungen nach SGB V (Krankenversicherung) sowie nach SGB VI (Rentenversicherung) ist immer stärker auch eine Verbindung zu den Hilfemöglichkeiten der Jugendhilfe zu sehen. Stationäre Beratungs- und Therapieangebote sind nicht nur für einzelne erwachsene Elternpersonen von Bedeutung, sie sind zunehmend auch als Gesamtangebot für die ganze Familie definiert, weil es eine unterschiedliche Betroffenheit sämtlicher Familienmitglieder zur Suchtproblematik gibt. Die Jugendhilfe kann mit ihrem spezifischen Leistungsangebot für Kinder sicherstellen, daß ambulante wie stationäre Formen der intensiven Betreuung als Hilfen nach § 35 a S G B VIII gewährt werden und damit neue Formen der intensiven Hilfen für die ganze Familie möglich sind. 5. Sozialhilfe. Leistungen nach d e m Sozialhilfegesetz (BSHG) sind subsidiär zu den vorstehend aufgeführten Sozial-

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Sozialrecht

leistungen, dennoch in der Praxis der Suchtkrankenhilfe von herausragender Bedeutung, weil in vielen Fällen die erst genannten Hilfen nach den jeweiligen gesetzlichen Leistungskriterien nicht zum Zuge kommen oder in ihrem Leistungsumfang nicht ausreichen, um der aufgetretenen Hilfesituation adäquat begegnen zu können. Die Sozialhilfe ist zudem weniger stark reglementiert und deckt mehr Lebensrisiken ab, als die unterschiedlichen Bereiche des Sozialversicherungsrechts im vorstehenden Sinn. Leistungen der Sozialhilfe unterscheiden sich in Hilfen zum Lebensunterhalt und Hilfen in besonderen Lebenslagen. Art, Form und Leistungsmaß der Sozialhilfe richten sich nach dem jeweiligen Einzelfall. Die zentrale Leistungsvoraussetzung für die Hilfe zum Lebensunterhalt setzt voraus, daß ein Hilfesuchender seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten kann. Die Hilfe zum Lebensunterhalt ist als einklagbarer Rechtsanspruch formuliert. In Art und Ausmaß ist sie geeignet, den Lebensunterhalt des Hilfesuchenden und seiner Familie sicherzustellen. Hierzu zählen vor allem die Kosten für die Ernährung, Bekleidung, Wohnung, Hausrat, persönliche Bedürfnisse und, was für Suchtkranke und ihre Angehörigen von besonderer Bedeutung ist, die Übernahme der Kosten zur Weiterversicherung in der Krankenversicherung. Solche Leistungen werden laufend gewährt, im Gegensatz dazu stehen einmalige Leistungen, die ebenfalls gewährt werden können. Hilfe in besonderen Lebenslagen soll spezielle Notsituationen auffangen helfen, ohne daß solche Hilfesituationen abschließend im Gesetz geregelt sind. Die Schwerpunkte dieser Hilfen bilden Krankenhilfe sowie Eingliederungshilfen für Behinderte. Auch wenn das BSHG nicht den Begriff der Krankheit definiert, gelten hier die gleichen Kriterien wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für die Praxis der Suchtkran550

Sozialrecht

kenhilfe bedeutet dies, daß auch die gleichen ärztlichen und zahnärztlichen Hilfen zu leisten sind. Herauszustellen ist auch hier das Recht auf freie Wahl eines Kankenhauses und auf freie Arztwahl, das nur durch die Besorgnis unvertretbarer Mehrkosten nach § 3 Abs. 2 BSHG eingeschränkt wird. Neben den Hilfen für die suchtkranke Person kommen auch solche für Familienangehörige dann in Betracht, wenn die Sucht zu Sekundärfolgen bei den Familienmitgliedern geführt hat, die durch die vorrangigen Hilfen nach dem SGB nicht aufgefangen werden konnten. Die Eingliederungshilfe soll eine drohende Behinderung verhüten oder eine vorhandene Behinderung bzw. deren Folgen beseitigen oder mildern und die behinderte Person in die Gesellschaft eingliedern. Eingliederungshilfe wird solange gewährt, wie Aussicht besteht, daß ihre Aufgabe erfüllt werden kann. Die unterschiedlichen Arten der verschiedenen Eingliederungshilfen sind im Gesetz nicht abschließend geregelt. Gleiches gilt für die Eingliederungshilfeverordnung. Eine Suchterkrankung führt in der Regel auch zu Schwierigkeiten bei der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Deshalb gehen Maßnahmen der Eingliederungshilfe solchen der Krankenhilfe nach dem BSGH vor. Sie sind darüberhinaus umfassender und näher an den Erfordernissen des Einzelfalles ausgerichtet. Eingliederungshilfen für körperlich oder geistig behinderte Jugendliche oder junge Volljährige gehen Leistungen der Jugendhilfe vor (§10 Abs. 2 KJHG). Dies gilt aber nicht für seelisch behinderte junge Menschen oder junge Volljährige. Hier sind die Leistungen des BSHG subidiär. Im Unterschied zu der Gewährung der Krankenhilfe ist für die Leistung der Eingliederungshilfe der überörtliche Sozialhilfeträger dann zuständig, wenn eine stationäre Hilfe geboten ist.

Soziologie

Sozialversicherung 6. Beratung, Vorläufige Leistungen und weitere allgemeine Grundsätze für das Sozialleistungsrecht. Die Vielzahl der im SGB und im BSHG verankerten Leistungen und Hilfen können nur dann für Suchtkranke erfolgreich eingesetzt werden, wenn die einzelnen Leistungsträger nach dem SGB den Hilfesuchenden umfassend über die denkbaren Hilfen beraten. Die Beratungspflicht ist von den Leistungsträgern zu erfüllen, die im Einzelnen in §.§ 18 ff. SGB I genannt werden. Da aber die Zuständigkeit der einzelnen Leistungsträger im Einzelfall unklar sein kann, hat der Gesetzgeber in § 15 SGB I eine zusätzliche Auskunftspflicht vereinbart, um sicherzustellen, daß Hilfesuchende ihre Anträge an die zuständige Stelle richten können. Nichtsdestotrotz sind aber Anträge auf Sozialleistungen auch dann entgegenzunehmen, wenn sie bei der nichtzuständigen Stelle gestellt werden. Sie sind dann von dieser an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Damit soll verhindert werden, daß unklare oder streitige Zuständigkeiten zu einer Benachteiligung des Hilfesuchenden führen. § 17 SGB I verpflichtet alle Sozialleistungsträger, zustehende Sozialleistungen schnell, umfassend und in zeitgemäßer Weise zu erbringen und die erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung zu stellen sowie den Zugang zu Sozialleistungen möglichst einfach zu gestalten. Gleichzeitig werden die öffentlichen Leistungsträger verpflichtet, mit den gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen zusammenzuarbeiten. Eine gewichtige Stellung im Gesamtbereich des SGB nimmt auch der Datenschutz ein ( § 3 5 SGB I und § § 6 7 f f . SGB X). Für alle unterschiedlichen Gesetzesbereiche werden einheitlich geltende Regelungen mit einem hohen Standard der Schutz der Person und der Individualität des einzelnen Hilfesuchenden prakti-

ziert. Damit ist gleichzeitig garantiert, daß eine gute Ausgangsbasis für vertrauensvolle helfende Beziehungen möglich ist. Letztendlich sorgt aber auch der garantierte Rechtsweg zu den einzelnen Gerichten (in der Regel den Verwaltungsgerichten) dafür, daß die in den einzelnen Gesetzen verankerten Rechtsund Leistungsansprüche von den Gerichten geprüft und entweder verworfen oder durchgesetzt werden. Damit ist nicht nur eine hohe rechtsdogmatische, sondern auch eine sozialpolitische Absicherung und Verantwortung erzielt worden, die gerade im Falle fehlender öffentlicher Gelder neu verteidigt werden muß. -»Rehabilitation; -»•Suchtkrankenhilfe Lit.: Brühl, Albrecht, Drogenrecht, 1. Aufl., 1992; Krasney, Otto Ernst, Sozialrechtliche Vorschriften bei der Betreuung Suchtkranker, 7. Auflage 1992 Hubertus Lauer, Lüneburg Sozialversicherung -•Sozialrecht; -•Kostenträger Soziologie S. ist die Wissenschaft von der Erforschung des sozialen Handelns sowie der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse. Soziales Handeln und gesellschaftliche Strukturen stehen in Wechselwirkung zueinander (-•Sozialisation). Ebenso wie die -»Psychologie ist die S. heute in eine Vielzahl verschiedener Unterdisziplinen und Forschungsrichtungen differenziert. Da der Suchtmittelkonsum und •stoffungebundene Süchte stets in einem gesellschaftlichen Kontext praktiziert werden bzw. gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zur -•Genese, Aufrechterhaltung und Verschärfung von Suchtproblemen beitragen können (wie natürlich auch zur -•Prävention), sind die Erkenntnisse der S. auch für diesen Bereich relevant. -•Soziologische Konzepte 551

Soziologische Konzepte

Soziologische Konzepte 1. Die Entstehung von süchtigem Verhalten, noch dazu in den unterschiedlichen Ausprägungsformen läßt sich weder monokausal erklären, noch von den Konzepten nur einer Wissenschaft her verstehen. Suchtgenese ist multifaktoriell und kann nur multiperspektivisch verstanden werden (-•Genese). So sind es dann neben individuellen Faktoren (-•Genetik, -»Persönlichkeit und Suchtverhalten, -»-Psychologische Konzepte) und neben der speziell „gewählten" Droge bzw. Verhaltensweise die besondere Art der Lebenswelten und der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, die ins Blickfeld geraten. Letztere müssen als Erklärungsmuster mit herangezogen werden, um die Entstehungsbedingungen und damit auch die Präventionsbedingungen •stoffgebundenen und •nichtstoffgebundenen süchtigen Verhaltens differenzierter und angemessener zu erforschen. Natürlich bestehen zwischen diesen drei Faktorenbündel diffizile Wechselwirkungen, hier interessieren nur, analytisch getrennt, ausgewählte soziologische Aspekte. Da es sich auch hierbei um hochkomplexe dynamische Prozesse handelt, muß die überwältigende Vielfalt des Lebens reduziert werden, um bei der Betrachtung nicht hoffnungslos überfordert zu werden. Eine Möglichkeit ist die Konstruktion von Idealtypen, wo einige Aspekte überdeutlich formuliert werden, aber immer klar sein muß, daß in der Realität die wahrnehmbaren Erscheinungen und die Verhaltensweisen von Menschen immer nur mehr oder weniger sich diesen Modellen annähern, aber nie, außer vielleicht in extremsten Fällen, mit ihnen zusammenfallen. Viele -•Klassifikationen sind solche typologischen Konstruktionen. Die Fragestellungen sind zudem verallgemeinernd weiter begrenzt auf homogene Aspekte, von denen angenommen wird, daß sie einen weiten Gültigkeitsbereich haben (Was ist gleich oder ähnlich?). Spezifische Differenzierungen nach Art der 552

Soziologische Konzepte

Drogen oder Verhaltensweisen (Was ist unterschiedlich?) werden nicht vorgenommen. 2. Ausgewählte soziologische Ansätze. Der Drogenkonsum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen war und ist ein globales Phänomen. Manche Drogen wie Alkohol (-»-Geschichte des Alkohols), Tee, Kaffee (-»Geschichte des Tees und des Kaffees) und Tabak (-•Geschichte des Tabaks) sind heute weltweit verbreitet, andere wie -»Betel oder -•Khat sind regional begrenzt, wiederum andere haben im wesentlichen nur noch historische Bedeutung, wie das -•Mutterkorn oder das -•Bilsenkraut. Ethologische Untersuchungen haben sehr eindrücklich nachgewiesen, daß selbst Tiere unter bestimmten Voraussetzungen zum Drogenkonsum neigen (-•Animalalkoholismus). Neben einem kulturintegrierten und rituell eingebundenen Drogenkonsum - Tabakrauchen bei den Indianern, Kawa als Nationalgetränk in Polynesien, das Opiumrauchen in Persien, das Met-Trinken bei den Germanen - kam und kommt es in vielen Kulturen immer wieder zu einer problematischen Drogenverwendung. Soziologische Konzepte tragen zum Verständnis dieser Prozesse wesentlich bei. Viele dieser durchaus relevanten Konzepte, die im Drogenkonsum und im Drogenmißbrauch ein Symptom spezifischer gesellschaftlicher Situationen und Herkunftsmilieus sehen und zum Teil auch kulturelle Veränderungen und gesellschaftspolitische Fakten mit einbeziehen, reduzieren dann aber etwas kurzatmig auf einige wenige Inhalte wie „repressive vs. permissive Erziehung", „sozio-ökonomischer Status", „Bürokratisierung", „Anonymität" oder „Konsummoloch". Differenziertere Ansätze beziehen sich meist auf die Genese von Alkoholmißbrauch (vgl. dazu auch -•Psychologische Konzepte), ihre Grundaussagen lassen sich aber weitgehend auf andere süchtige Verhaltensweisen übertragen, was im folgenden verall-

Soziologische Konzepte

gemeinernd auch gemacht wird. Diese Ansätze lassen sich subsumieren unter - eine kulturanthropologische und soziokulturelle Perspektive, - eine soziostrukturelle Perspektive, - soziofunktionale Perspektive und - eine intentionale Perspektive. Die akulturanthropologischen Untersuchungen (in den 40er und 50er Jahren) von D. Horton (sozioökonomische Gegebenheiten =>existentielle Angst =>Angstminderung durch Drogenkonsum) und P. B. Field (höherer gesellschaftlicher Organisationsgrad ^ s t ä r kere Strukturierung des sozialen Lebens und soziale Kontrolle =>Angstminderung =>geringerer Drogenmißbrauch) sind zwar für moderne Gesellschaften nicht direkt übertragbar, aber ihr Grundanliegen, nämlich die Ursachen für die gesellschaftliche Funktion von Drogenkonsum in den sozioökonomischen und soziokulturellen Strukturen einer Gesellschaft zu suchen, war richtungsweisend. So hat R. F. Bales (in den 40er Jahren) in soziokultureller-soziostruktureller Perspektive den Versuch unternommen, das Ausmaß des Drogenkonsums (Alkohol) durch die vorherrschenden Einstellungen (prohibitive, rituelle, konviviale und utilitaristische) in verschiedenen Kulturen und Subgruppierungen abzuleiten. Dieses Konzept ist Teil der Abbildung 3 und wird dort weiter diskutiert. Soziostrukturelle Untersuchungen sind beliebt und unüberschaubar geworden. Dabei wird die Wirklichkeit auf wenige Variablen reduziert und Teile der Sozialstruktur verabsolutiert und in ihrer Wirkung auf die Genese von Drogenmißbrauch beobachtet und statistisch ausgewertet. Drogenabhängigkeit wird dann zu einer abhängigen Variable einer oder weniger berechenbarer unabhängiger Variablen. Beliebte, im Sinne dieser Untersuchungen, unabhängige Variablen waren und sind: Alter und Geschlecht, Stadt-Land-Unterschiede, Schichtzugehörigkeit, Herkunftsfamilie (Brokenhome, Stellung in der Geschwisterreihe,

Soziologische Konzepte

Erziehungsstile) u.a. Diese Variablen haben durchaus Bedeutung, aber nur dann, wenn sie einem theoretischen Konzept zugeordnet werden können und nicht nur unverbunden nebeneinander stehen. Im Gegensatz zu den soziostrukturellen Ansätzen bauen die soziofunktionalen Ansätze auf den komplexen theoretischen Rahmen des Strukturfunktionalismus auf und haben besonders für die allgemeinen Trinksitten interessante Ergebnisse erbracht. R. F. Bales führt bei seinem Versuch, die unterschiedlichen Alkoholismusraten in verschiedenen Kulturen zu erklären, neben den schon erwähnten Einstellungen gegenüber dem Alkoholismus zwei weitere Faktoren ein, die in einem komplizierten Interdependenzverhältnis die jeweiligen Alkoholismusraten - f ü r andere Drogen könnte nach dem selben Modell verfahren werden - klären sollen: die inneren Spannungen und Anpassungsbedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder und die Angebote von „funktionalen Äquivalenten" (R. K. Merton), also Kompensationsmöglichkeiten, um die Spannungen und Ängste zu meistern. Bales nennt u.a. das Gebet, das Sich-inTrance-Versetzen und weitere Drogen außer Alkohol. Als solche Substitute kommen in modernen Gesellschaften dann außer Alkoholkonsum grundsätzlich auch alle '•stoffgebundenen und »stoffungebundenen süchtige Verhaltensweisen ( + Arbeitssucht, -»-Drogenabhängigkeit, »Eßsucht, -»-Medikamentenabhängigkeit, -»Neue Süchte) in Frage. Die -»Drogenfreigabe als legalisierte Erweiterung der funktionalen Äquivalente bekommt in diesem Zusammenhang ihre besondere Bedeutung. Gleichzeitig ist zu bedenken, daß die Abstinenzforderung ohne ein Angebot an sinnvollen Äquivalenten Psychotherapie alleine kann es nicht sein - »Rückfälle geradezu zwangsweise nach sich zieht. Süchtiges Verhalten ist dann zu verstehen als eine Funktion aus den Einstellungen gegenüber 553

Soziologische Konzepte

dem Konsum von unterschiedlichen Drogen bzw. Verhaltensweisen und dem Grad der inneren Spannungen und gleichzeitigen Anpassungsbedürfnisse und dem Angebot an funktionalen Äquivalenten. S. D. Bacon betont die integrative Funktion von Drogen (Alkohol), zumindest im Rahmen ritualisierten Konsums, was gesamtgesellschaftlich für die Kulturdroge Alkohol sicher zutrifft, daneben aber auch für illegale Drogen subkulturell Bedeutung hat. P. Park geht noch einen Schritt weiter, indem er zwar die Alkoholabhängigkeit als dysfunktional bewertet, aber andererseits selbst dem Alkoholmißbrauch - andere Drogen können hier mit einbezogen werden eine positive Funktion zuweist, weil dadurch notwendige gesellschaftliche Zwänge erträglicher gemacht werden. Der gesellschaftlich geförderte Drogenkonsum wird hier zu einem Medium der sozialen Kontrolle. Die Verwendung in diesem Sinne (Konsum und Mißbrauch) führt im Normalfall nicht zur Abhängigkeit. Erst dann, wenn Spannungen durch eine Droge bewältigt werden sollen, die aufgrund von Abweichungen von den allgemein anerkannten Rollenerwartungen entstehen, die also in ihrem Kern gesellschaftsgefährdend sind, bestünde die Gefahr einer Abhängigkeit. Dies dadurch, daß Etikettierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Stigmata, die zunächst auf den Drogenkonsum bezogen sind und die in Wechselwirkung dazu von den Stigmatisierten, bei Zunahme sozialer Zwänge und Spannungen, angenommen werden, werden im Endeffekt auf die gesamte Person ausgedehnt, so daß es zu einer verheerenden Rollendeprivation kommt. Dieses Konzept könnte zumindest anregen, darüber nachzudenken, inwieweit beispielsweise bei Jugendlichen, die nicht so ganz „ins Bild passen" und die etwa Haschisch rauchen, durch Illegalisierung und Stigmatisierung (-•Kriminalisierung) Suchtkarriereprozesse verstärkend in Gang 554

Soziologische Konzepte

gesetzt werden und mögliche Entwicklungschancen verhindert werden. Die intentionale Perspektive (Wüthrich 1974, Stimmer 1978), die theoretisch der Verstehenden Soziologie (M. Weber) und der Theorie der Symbolischen Interaktion (G. H. Mead) verpflichtet ist, bezieht das Individuum mit seinen Intentionen und Sinngebungen zentral in die Überlegungen mit ein. Die Bedeutungserteilungen, etwa dem Haschischkonsum oder dem freiwilligen Hungern bei Eßstörungen gegenüber, entwickeln sich aus sozialen Interaktionen und werden in einem interpretativen Prozeß verfestigt oder modifiziert. Die Situationsdefinitionen (W. I. Thomas) lenken das Handeln von Menschen. So sind auch die Reaktionen gegenüber Konsumenten illegaler Drogen nicht „objektiv", sondern spiegeln die individuellen und kollektiven Definitionen wider, Situationsdefinitionen, die teilweise von den Konsumenten über Sozialisations- und Stigmatisierungsprozesse angenommen werden oder denen andere Situationsdefinitionen entgegengestellt werden. Drogenabhängigkeit als Ausdruck von Sünde, als Symptom einer Krankheit, als Phänomen kapitalistischer Gesellschaften, als Zeichen einer kriminellen Persönlichkeit, als Folge zerstörter Kindheit, all dies sind Situationsdefinitionen mit unterschiedlichen Folgen für Drogenabhängige. Im Rahmen der intentionalen Perspektive wird versucht, zumindest den Wechselwirkungen zwischen dem Grad der individuellen Handlungskompetenzen, dem Grad des gesellschaftlichen Konfliktpotentials und den unterschiedlichen Situationsdefinitionen bezüglich des Drogenkonsums, unter Einbeziehung von Teilaspekten der vorher genannten Perspektiven, nachzugehen. Im folgenden wird aus dieser Perspektive heraus argumentiert. 3. Bedingungsgeflecht Gesellschaft Individuum - Sucht. Die auf die Suchtgenese fokussierte These, die weiter dif-

Soziologische Konzepte

Soziologische Konzepte

wichtige Aspekte, die diese drei Ebenen kennzeichnen. In ihnen sind Risiken aber auch Chancen angelegt, so daß sie sehr umfangreich für die -»Genese, die -•Behandlung, die -»Nachsorge und die -•Prävention (-»Gesundheitsförderung) relevant sind. Die Probleme äußerer Not sind in modernen Industriegesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten bewältigt worden, wie es nie in der Geschichte zuvor der Fall war, die Probleme innerer Not dagegen sind vehement gegenwärtig. So ist es ein schwieriges Unternehmen geworden, bei der Vielfalt sich teilweise widersprechender Wertvorstellungen in allen Lebensbereichen, bei fehlenden verbindlichen religiösen Orientierungen, bei einer hoch ausgeprägten individualistischen bis egozentrischen Ethik, bei einer hochgradigen sozialen Dynamik, die heute oft Abstieg statt Aufstieg bedeutet und bei all den globalen Verflechtungen stabilisierende Orientierungen zu finden und im Sozialisationsprozeß an die nächsten Generationen zu vermitteln. David Riesman hat in den 50er Jahren in seinem Buch „Die einsame Masse" eine bildliche Darstellung

ferenziert werden soll, lautet, daß moderne gesellschaftliche Entwicklungen, die in der lebenslangen Sozialisation gefiltert über die lebensweltlichen Gruppierungen und den in ihnen angelegten Chancen und Risiken, vermittelt werden, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß diese Prozesse zu Interaktionsstörungen und damit zu Identitäts- und Selbstwertkrisen führen, die dann einen süchtigen Lebensstil nahelegen, wenn von der gleichen Gesellschaft oder in Subgruppierungen ein hohes soziales Entgegenkommen dafür besteht und Alternativen fehlen. Diese problematischen Zusammenhänge zeigen aber zugleich auch, wo Chancen für die -•Gesundheitsförderung und für die ->• Prävention liegen. Abbildung 1 verdeutlicht diese Zusammenhänge. 3.1 Gesellschaft - Sozialisation - Interaktionsgestörtheit. Es geht jetzt zunächst um die linke Seite der Abbildung 1. Die soziologische Betrachtung von Strukturen und Prozessen bezieht sich auf die Ebenen Gesellschaft, Lebenswelten und Lebensstile und ihre Wechselwirkungen. Die Abbildung 2 gibt zunächst einen Überblick über

Gesellschaft

/

\

verursacht bietet an Leistungsbzw. Erfolgszwang Individualistische Ethik

ί

Familie Schule

Drogenspezifische 4 Sozialstation Gleich altrige Beruf

Weiträumige Verflechtungen bzw. Abhängigkeiten

Drogenmißbrauch

Einstellungen gegenüber Drogenkonsum

Industrielle Herstellung/Vertrieb von Drogen

Werbung

Abb. 1: Bedingungsgeflecht des Drogenmißbrauchs

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Soziologische Konzepte Gesellschaft

Soziologische Konzepte Lebenswelten

Lebensstile

Lebenschancen/Lebensrisiken (standardisierte und außergewöhnliche) in: Ökonomischer Umwelt Arbeitsmarkt Wohnungsmarkt Gütermarkt Dienstleistungsmarkt Individualistische Ethik Bürokratisierung Technologisierung Wertepluralismus Soziale Mobilität Wohlstand vs. Armut Rechtssystem Sozialstaatlichkeit

Sozio-kultureller Umwelt Wohnung Arbeitsplatz Kulturelles Milieu Freizeitmöglichkeiten Infrastruktur: Erziehung, Medizin, Soziale Arbeit, Selbsthilfe...

Strategien der Lebensbewältigung Wertvorstellungen Normvorstellungen Handlungsmuster Konsummuster Identitätsentwicklung Ideologien Vorurteile

Psvchsozialer Umwelt Familie Partnerschaft Freunde/Nachbarschaft

Abb. 2: Gesellschaft, Lebenswelten, Lebensstile

formuliert, die diese Situation treffend wiedergibt. Nach der Auflösung der Orientierung an der Tradition, ist die Orientierung des Menschen, teilweise bis zur Mitte unseres Jahrhunderts mit einem Kompaß zu vergleichen. Es existiert eine klare, eindeutige Ausrichtung, die aber nicht mehr über Traditionen erzwungen wird, sondern über verinnerlichte Weitorientierungen bezüglich Partnerbeziehungen, Ehe, Familie, Elternschaft, Geschlechtsrollen, Arbeitsbeziehungen usw. Natürlich wurde davon abgewichen, aber diese Abweichungen waren zumindest bewußt und eine Rückkehr möglich. Für unsere Zeit bringt er das Bild eines Radargeräts, bei dem immer wieder neue Orientierungspunkte auftauchen, die kaum erreicht, sich schon wieder auflösen und von verlockenden neuen Punkten abgelöst werden. Um sich hier zurechtzufinden, zu lernen, einen eigenen Standpunkt einzunehmen, bedarf es eines hohen Grades sozialer Kompetenzen. Mit der Ent556

wicklung von einer Kollektivethik hin zu einer individualistischen Ethik ist eine Befreiung des Individuums aus rigiden Zwangsbindungen an Familie, Sippe, Gutsherrschaft und Zünfte verbunden, aber ebenso ein Verlust an Bindungen und intensiven und selbstwertstabilisierenden sozialen Bezügen. Die Prozesse der Modernisierung haben in den Worten von Peter Berger zu einer „seelischen Qual ganz eigener Art" geführt, nämlich zu einer strukturell begründeten „permanenten Identitätskrise", die durch pyschische Grundmuster von Heimatlosigkeit, Entfremdung, Orientierungslosigkeit, Unsicherheit, fehlender Geborgenheit, Gefühlen von Minderwertigkeit, Leere und Sinnlosigkeit gekennzeichnet ist. All dies sind Symptome, die von der gesellschaftlichen Basis über die Lebenswelten an die Individuen vermittelt werden, die zu Interaktions- und Identitätsgestörtheiten führen und darüber die Lebensstile prägen und die in den Suchtkarrieren regel-

Soziologische Konzepte

Soziologische Konzepte

mäßig feststellbar sind. Bei den Transformationsprozessen Gesellschaft ο Individuum spielen die unterschiedlichen Lebenswelten mit ihren verschiedenen standardisierten und außergewöhnlichen Lebensrisiken (-»-Krise) aber eben auch Lebenschancen die tragende Rolle (-•Armut, ->Elemcntarbereich, -•Familie, -»-Kindheit, -»-Jugend, -•Schule). 3.2 Gesellschaft - Suchtspezifische Sozialisation - Sucht. Eine im Endeffekt gesellschaftlich verursachte Interaktionsgestörtheit alleine führt nicht zu Drogenmißbrauch und Drogenabhängigkeit oder zu anderen süchtigen Verhaltensweisen. Es muß auch ein entsprechendes legalisiertes oder illegalisiertes Angebot vorhanden sein. Erst das Zusammentreffen dieser beiden Stränge ermöglicht Sucht. Es geht hier jetzt um die Frage der kollektiven Situationsdefinitionen, um die vorherrschenden Einstellungen bezüglich des Konsums und Mißbrauchs von Drogen und bezüglich süchtiger Verhaltensweisen und es geht um die

Vermittlung dieser Einstellungen in den Sozialisationsprozessen. So wie die allgemeine Sozialisation dauerhafte oder situationsspezifische soziale Kompetenz oder Interaktionsgestörtheit zur Folge hat, so führt auch die drogenspezifische Sozialisation zu einem genußvollen und/ oder rituellen und/oder medizinisch indizierten Gebrauch legaler Drogen oder aber zu einem kompensatorischen Konsum legaler und illegaler Drogen. In der Abbildung 3 werden verschiedene Aspekte von soziokulturellen Bedeutungen von Drogen, einschließlich der zugehörigen Sanktionen, vorgestellt. Die Einstellungen dem Drogenkonsum gegenüber - das gleiche gilt weitgehend auch für Verhaltensweisen, wie sie unter dem Begriff -•Neue Süchte subsumiert werden - sind kulturell geprägt und haben in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedene symbolische Bedeutung und erfüllen dadurch jeweils andere gesellschaftliche Funktionen. Durch diese Sinngebung, die im Verlauf

Kultur-Typ (Pittman)

Vorherrschende Einstellung (Bales)

Vorherrschende Funktion (Wieser)

Grad der Verbindlichkeit (Dahrendorf)

Art der San ktionen

Abstinenzkultur

Prohibitive (Rituelle)

Machtausübung Kontrolle Religiöse Lenkung

MußErwartungen

Ambivalenzkultur

Prohibitive (Rituelle) Konviviale Utilitaristische

Subkulturell stark unterschiedlich

Gesamtgesellschaftlich: KannErwartungen Subkulturell: Muß-, Sollund KannErwartungen

Unterschiedlich, je nach subkulturellen Erwartungen

Permissivkultur

Konviviale

Sozialzeremonielle Nahrungsmittel

SollErwartungen

Soziale Anerkennung

Permissivfunktionsgestörte Kultur

Utilitaristische Konviviale

Psychopharmakologische Medizinisch-magische Sozial-zeremonielle Nahrungsmittel

KannErwartungen

Bejahung Soziale Anerkennung

positiv

negativ (gerichtliche) Bestrafung

Sozialer Ausschluß

Abb. 3: Soziokulturelle Bedeutungen des Drogenkonsums in verschiedenen Kulturen.

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Soziologische Konzepte der Sozialisation und Erziehung weitergegeben wird, ist für die Mitglieder der Gesellschaft bestimmt, ob und in welchem Zusammenhang wer und auf welche Weise Drogen konsumieren darf. Diese Definitionen sind für manche Gruppen, wie z . B . Jugendliche, sehr weit gefaßt, für andere, wie z . B . stillende Mütter, sehr eng begrenzt. Die soziale und gesellschaftliche Bedeutung von Drogen steht nicht für sich alleine, sondern kann nur im Rahmen der allgemeingültigen Werte einer Gesellschaft und in Wechselwirkung mit ihnen gesehen und verstanden werden. Wenn in einer Gesellschaft der Sinn des Lebens in einem Streben nach einem ausgeprägten Lustgewinn gesucht wird, wenn gleichzeitig Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung die angestrebten höchsten Erziehungsziele sind und all dies mit einer expansiven Freizeitund Konsumorientierung verbunden ist, ist leicht vorstellbar, daß die Bedeutung des Drogenkonsums eine völlig andere ist als in einer lustfeindlichen, kollektivorientierten und ökonomisch unterentwickelten Gemeinschaft. Die Abbildung 3 verbindet wesentliche Aspekte der unterschiedlichen Bedeutungen von Drogen in verschiedenen Kulturen, wobei die Arbeiten von D. J. Pittman, R . F. Bales und St. Wieser sich auf Alkohol beziehen, sie werden hier aber verallgemeinert. Nach Pittman können vier Kulturtypen entsprechend ihrer Einstellung gegenüber dem Drogenkonsum unterschieden werden: -

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B e i den sog. Abstinenzkulturen ist der Konsum aller oder nur bestimmter Drogen strengstens verboten oder nur im Rahmen religiöser Riten erlaubt. In islamisch und hinduistisch geprägten Kulturen etwa lebt die Gesellschaft bezüglich Alkohol enthaltsam; jeglicher Alkoholkonsum ist streng verboten und teilweise unter sehr drastische Strafandrohungen gestellt, was aber nicht heißt, daß nicht andere Drogen durchaus zugelassen und kon-

Soziologische Konzepte sumiert werden dürfen. ( - » L e g a l e versus -»illegale Drogen). - In den sog. Ambivalenzkulturen herrschen zwiespältige Einstellungen vor, es gibt also keine eindeutige und übergreifende Vorstellung, die alle Gesellschaftsmitglieder verbindet. Dagegen gibt es bezogen auf die Gesamtgesellschaft widersprüchliche Regelungen in unterschiedlichen Teilgesellschaften und Subkulturen, die aber eben nur in diesen Gültigkeit haben. In den U S A beispielsweise ist dies besonders deutlich ausgeprägt, wo beispielsweise Einflüsse des calvinistischen Protestantismus mit einer sehr asketisch-puritanischen Lebensauffassung auf Lebenswelten prallen, wie etwa dem Party-Leben in New York, wo eine konträr entgegengesetzte Lebensweise vertreten wird. Für Jugendliche, die in der einen Welt aufwachsen und in die andere hineingeraten, führt dies u. U. zu schweren Identitätsbrüchen, die mit gefühlsmäßiger und innerer Zerrissenheit und Orientierungsschwierigkeiten einhergehen und manchmal nur schwer bewältigt werden können. -

In den sog. Permissivkulturen herrscht ein relativ stark ausgeprägtes Gewährenlassen vor. Die Einhaltung von Konsumnormen wird nur relativ kontrolliert. Legale Drogen wie Alkohol und Tabak sind also grundsätzlich erlaubt, dies aber nicht grenzenlos. S o wird Trunkenheit (ζ. B . im B e ruf, Straßenverkehr) abgelehnt und es werden durchaus auch Grenzen für den Alkoholkonsum festgelegt ( z . B . Jugendschutzgesetz). Oder das Rauchen wird aus bestimmten Orten verbannt und es werden Empfehlungen ausgesprochen bezüglich der Menge oder bestimmter Lebenssituationen (Schwangerschaft, Krankheiten). Dies ist eine Einstellung, die modernen Gesellschaften mit ihrer Betonung der individuellen Selbstbestimmung („mündiger Bürger") entspricht.

Speed - Wenn auch Exzesse geduldet und gefördert werden, ist der Übergang zu einem Kulturtyp vollzogen, der in der Realität bisher nur angenähert in Erscheinung tritt, nämlich der sog. permissiv-funktionsgestörten Typ, wo neben dem großzügigen Gewährenlassen bezüglich des Konsums legaler Drogen auch der Mißbrauch Anerkennung findet, was bezüglich Alkohol im Fasching oder bei Starkbierfesten durchaus der Fall ist. Auch die duldsame Vergrößerung des Drogenangebots (-•Drogenfreigabe) und die Halb-Legalisierungen von eigentlich illegalen Drogen wie Haschisch gehören hierher. In der Abbildung 3 werden die vorherrschenden Einstellungen bezüglich des Drogenkonsums über Umschreibungen von Bales weiter verdeutlicht. Diese prägenden Einstellungen werden im Privatbereich natürlich teilweise auch unterlaufen. Die Aufstellung macht aber klar, in welchen Mischungsverhältnissen das rituell in Zeremonien eingebundene Konsumieren, der Konsum im Rahmen geselliger Zusammenkünfte (konviviale Einstellung) und der kompensatorische Konsum (utilitaristische Einstellung) nebeneinander und in unterschiedlicher Zusammensetzung bestehen und welche gesellschaftlichen Funktionen damit verbunden sind. Diese Funktionen reichen von der religiösen Lenkung und Kontrolle, über die sozial-zeremoniellen und über die psycho-pharmakologischen Funktionen (Anregung oder Beruhigung) bis hin, zumindest bei bestimmten Alkoholika, zur Funktion als Nahrungsmittel. Ergänzt werden die Kulturtypen und die vorherrschenden Einstellungen und Funktionen durch den Grad der Verbindlichkeit bzw. der Art der Sanktionen, der Maßnahmen, die bei Regelverletzungen von Seiten der Gesellschaft eingeleitet werden und die von der gerichtlichen Bestrafung bis hin zur positiven Sank-

Spielsucht tion der sozialen Anerkennung reichen können. -•Geschichte des Alkohols; -»Geschichte des Tabaks; -»Geschichte des Tees und des Kaffees Lit.: Blätter, Α., Kulturelle Ausprägungen und Funktionen des Drogengebrauchs, Hamburg 1990; Stimmer, F., Jugendalkoholismus, Berlin 1978; Stimmer, F., Narzißmus, Berlin 1987; Stimmer, F. und Müller-Teusler, S., Jugend und Alkohol, Wuppertal 1999; Völger, G., Weck, K. von (Hrsg.), Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich, Reinbeck 1982, 3 Bde.; Wüthrich, P., Zur Soziogenese des chronischen Alkoholismus, Basel 1974; Zu den im Beitrag genannten Autoren siehe Stimmer 1978 und 1987. Franz Stimmer, Lüneburg Speed Slang für Aufputschmittel (-»Amphetamine) Spielsucht 1. Definition. Der im allgemeinen Sprachgebrauch verankerte Begriff Spielsucht impliziert, daß süchtiges Verhalten im Kontext des Spiels generell auftritt. Klinische Relevanz besitzt jedoch nur eine bestimmte Form des Spiel Verhaltens: die Teilnahme am Glücksspiel. Die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Störungen (-»ICD-10 und -»DSM-IV) haben dementsprechend das „pathological gambling" als behandlungsbedürftige Erkrankung aufgenommen, wobei „gambling" für das Spielen um Geld, die Beteiligung an Glücksspielen steht. Obwohl die Diskussion, ob es sich beim pathologischen Glücksspiel um eine Zwangsstörung, eine Suchterkrankung (-»Sucht) oder ein gelerntes Abwehrverhalten handelt, noch nicht abgeschlossen ist, betrachten es die meisten Therapeuten und Wissenschaftler, die damit arbeiten, als ein Suchtverhalten (Rosenthal und Lesieur, 1996). Das Er559

Spielsucht scheinungsbild, die Entstehungsbedingungen und Mechanismen der Aufrechterhaltung ähneln sehr stark denen stoffgebundener Suchtformen. In den Klassifikationssystemen ist das pathologische Spielen unter „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle" (ICD-10) bzw. „Störungen der Impulskontrolle" (DSM-IV) eingeordnet. Nach dem ICD-10 besteht die Störung in häufig wiederholtem episodenhaftem Glücksspiel, das die Lebensführung der betroffenen Personen beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt. Differenziertere diagnostische Kriterien sind im DSM-IV aufgeführt. Die Diagnose ist bei andauernd und wiederkehrend fehlangepaßtem Spielverhalten zu stellen, was sich in mindestens fünf der folgenden Merkmale ausdrückt: 1. Ist stark eingenommen vom Glücksspiel (z.B. starkes Beschäftigtsein mit gedanklichem Nacherleben vergangener Spielerfahrungen, mit Verhindern oder Planen der nächsten Spielunternehmungen, Nachdenken über Wege, Geld zum Spielen zu beschaffen), 2. m u ß mit immer höheren Einsätzen spielen, um die gewünschte Erregung zu erreichen, 3. hat wiederholt erfolglose Versuche unternommen, das Spielen zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben, 4. ist unruhig und gereizt beim Versuch, das Spielen einzuschränken oder aufzugeben, 5. spielt, um Problemen zu entkommen oder um eine dysphorische Stimmung (ζ. B. G e f ü h l e von Hilflosigkeit, Schuld, Angst, Depression) zu erleichtern, 6. kehrt, nachdem er beim Glücksspiel Geld verloren hat, oft am nächsten Tag zurück, um den Verlust a b z u gleichen (dem Verlust „hinterherjagen"),

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Spielsucht 7. belügt Familienmitglieder, den Therapeuten oder andere, um das Ausm a ß seiner Verstrickung in das Spielen zu vertuschen, 8. hat illegale Handlungen wie Fälschung, Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung begangen, um das Spielen zu finanzieren, 9. hat eine wichtige Beziehung, seinen Arbeitsplatz, Ausbildungsoder Aufstiegschancen wegen des Spielens gefährdet oder verloren, 10. verläßt sich darauf, daß andere ihm Geld bereitstellen, um die durch das Spielen verursachte hoffnungslose finanzielle Situation zu überwinden. 2. Theoretische Konzepte. Die verschiedenen Erklärungsmodelle stellen j e nach wissenschaftlicher Ausrichtung biologische, psychodynamische, lerntheoretische, kognitive oder soziale Aspekte in den Vordergrund. Integrative Modelle beziehen bisher lediglich Teilaspekte mit ein (vgl. Überblick bei Meyer und Bachmann, 1999). Wie bei allen Suchtformen wird eine multifaktorielle Betrachtungsweise den komplexen Ursachen der Entstehung und Aufrechterhaltung am ehesten gerecht (-»Genese). Die süchtige Bindung an das Glücksspiel ist demnach das Ergebnis eines vielschichtigen Bedingungsgefüges, in dem glücksspielspezifische, individuelle und soziale Faktoren in intensiver Wechselbeziehung miteinander stehen. Auch wenn es sich bisher weitgehend um einen diffus-additiven Mehrfaktorenansatz handelt, liefern diese Modellvorstellungen noch immer eine der Hauptorientierungen der Suchtforschung wie der Erfahrungswissenschaften allgemein. Von einem übergreifenden Konzept, das die verschiedenen Bedingungsfaktoren in einen widerspruchsfreien theoretischen Erklärungszusammenhang stellt, ist die Wissenschaft noch weit entfernt. Die Verlockungen des Glücksspiels bestehen zunächst in dem möglichen Gewinn von Geld, d e m M a ß aller Dinge in

Spielsucht unserer Gesellschaft. Es reizt die „schnelle Mark", die Mehrung des Wohlstandes durch Glück statt durch Arbeit. Auf Dauer sind beim Glücksspiel allerdings zwangsläufig Verluste zu beklagen. Diese Tatsache wird von manchem Spieler bedingt durch irrationale Erwartungen und illusionäre Kontrollüberzeugungen nur verzerrt wahrgen o m m e n . Sie sind davon überzeugt, daß sie selbst besonders befähigt sind, durch Ausdauer, Wissen und Geschicklichkeit beim Glücksspiel - trotz zwischenzeitlicher Rückschläge - letztendlich zu gewinnen (Walker, 1992). Das Motiv, verlorenes Geld zurückzugewinnen, kann schließlich zur treibenden Kraft werden und den Spieler über ständig wachsende Verpflichtungen, die in seinen Augen nur durch eine Fortführung des Glücksspiels zu begleichen sind, in den Ruin führen (Lesieur, 1984). Glücksspiele können sich darüber hinaus unmittelbar auf die physiologische, emotionale und mentale Verfassung des Spielers auswirken. Der Einsatz von Geld, das Eingehen von Risiken und die H o f f n u n g auf bzw. tatsächliche Gewinne vermitteln Stimulation und Erregung, Wohlbefinden und Euphoriegefühle, Machtphantasien und Erfolgserlebnisse. Die lustbetonte Auseinandersetzung mit dem Glücksspiel verdrängt problembehaftete Gedanken, baut Spannungen ab, mindert oder vermeidet depressive Stimmungen, Angst- und Minderwertigkeitsgefühle, Unlust und Langeweile. Die größte Wirkung erzielen Glücksspiele mit einer raschen Spielabfolge (wie Roulette oder Spielautomaten), die erst eine längerfristige Veränderung des inneren Zustandes gewährleistet. A u f k o m m e n d e Mißstimmungen infolge von Verlusten sind nur von kurzer Dauer, wenn sofort das nächste Spiel begonnen werden kann. Die Art und Weise der Integration dieser psychotropen Wirkung in den „psychischen Haushalt", der beigemessene Bedeutungsgehalt und die Funktionen, die das Glücksspiel für den Spieler erfüllt,

Spielsucht entscheiden dann über die Manifestation der Sucht. Aus der Disposition und Entwicklung lassen sich Risikofaktoren ableiten, nach denen einige Spieler eher als andere gefährdet erscheinen, spielsüchtig zu werden. Bereits die Betrachtung des Glücksspiels als Einnahmequelle, das Fehlen alternativer Stimulationsquellen oder vorübergehende schwierige Lebenssituationen können j e d o c h Grundlage der Suchtentwicklung sein. Zu der Gruppe gefährdeter Personen gehören sowohl Menschen, die eher risikobereit sind, Reize suchen, um sich wohlzufühlen (Sensationslust) oder für ihre Lebenssituation eher äußere Kräfte und Einflüsse verantwortlich machen (externale Kontrollüberzeugung) als auch diejenigen mit impulsiven, dissozialen oder narzißtischen Persönlichkeitszügen. Ihren speziellen Bedürfnissen kommt das Spiel um Geld entgegen. Stehen keine adäquaten Bewältigungsstrategien für Streßsituationen wie Lebenskrisen, Partnerkonflikte und Mißerfolgserlebnisse zur Verfügung, steigt ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, verstärkt zum Glücksspiel zu greifen, das Entlastung verspricht. Depressive, ängstliche oder kontaktgestörte Menschen können das Glücksspiel benutzen, um Depressionen zu lindern, Ängste abzubauen oder Kontaktproblemen auszuweichen. In einzelnen Fällen tritt ein exzessives Spielverhalten auch im Rahmen psychiatrischer Krankheitsbilder wie Psychosen auf. Schließlich liegen Hinweise auf genetische Bedingungen einer veränderten Funktionsweise des dopaminergen Belohnungssystems und funktionelle Störungen des noradrenergen oder serotoninergen Systems als potentielle individuelle Grundbedingungen vor. Die Entdeckung von Belohnungssystemen im Gehirn, die mit ihren biochemischen Überträgersubstanzen Stimmungen und Verstimmungen regulieren, führt zu der Annahme, daß sich mit Hilfe des Glücksspiels die Ausschüttung körpereigener Substanzen aktivieren

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Spielsucht läßt, die eine Belohnung (Lustempfinden) übermitteln (-»Neurobiologie). Besonders Menschen, die unter Mißstimmungen leiden, sind demnach bestrebt, einen Stimmungsumschwung durch eine erhöhte Aktivierung dieser Systeme herbeizuführen. Nach psychoanalytischen Hypothesen (-•Psychoanalyse) liegen der Spielsucht frühkindliche Störungen, insbesondere der Libidoentwicklung, und damit zusammenhängende unbewußte Motive zugrunde (Freud, 1917/1977). Ungelöste, vor allem ödipale Konflikte verursachen demnach selbstzerstörerische Schuldgefühle, die als unbewußte Strafbedürfnisse zum Spielen motivieren: der Süchtige spielt, um zu verlieren. Aber auch neurotische Allmachtsphantasien, der Drang nach Besitz und Macht, die Abwehr gegen Depressionen, der Schutz vor Gefühlen von Minderwertigkeit und innerer Leere, die zu Verlusten „als nicht erwünschte Konsequenz" f ü h ren, dienen der Erklärung. Vielfach sind narzißtische Persönlichkeitsstörungen ( •Narzißmus) oder einzelne Symptome Ausgangspunkt psychoanalytischer Deutungsversuche. Diese nur individuelle Betrachtungsweise vernachlässigt jedoch, daß der Spieler in einem sozialen G e f ü g e lebt, das mit seinen Bedingungen in mannigfaltiger Weise die individuelle Entwicklung beeinflußt. Der hohe Stellenwert des Geldes, die Akzeptanz und Verfügbarkeit des Glücksspiels in unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft, die auf sofortige und apersonale Befriedigung von Bedürfnissen setzt und soziale Konfliktlagen (Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung) schafft, die Inkonsistenz gesellschaftlicher Normen und Etikettierungsprozesse sind hier ebenso als Einflußgrößen zu nennen, wie die Griffnähe des Glücksspiels im Familien- und Freundeskreis, familiäre Belastungen durch „broken home"-Situationen und Suchterkrankungen sowie konfliktbeladene Partnerbeziehungen. Das Glücksspiel bietet sich als Alternative zu der Routine

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Spielsucht und Monotonie, d e m „Gefühlseinerlei" des tristen Alltags, an und kann eine Ventilfunktion für materielle und psychische Depravation einnehmen. ( - • S o ziologische Konzepte) Die sozial-kognitive Lerntheorie bezieht einige der aufgezeigten Aspekte mit ein. Sie erklärt die Entstehung des pathologischen Glücksspiels durch die Prinzipien der Verstärkung. Das Spielen wird gefördert (verstärkt) durch finanzielle Gewinne und die Vermittlung lustbetonter Gefühle und Erwartungen sowie den Abbau von Spannungen. Der gegenteilige Effekt von Verlusten (als bestrafende Konsequenz) ist begrenzt. Sie können sogar das Spielverhalten fördern, wenn kognitive Fehleinschätzungen, wie die Akzeptanz von Verlusten auf der Basis zukünftiger Gewinnerwartungen das Spiel bestimmen. Erfährt der Spieler nach anfänglicher Einführung durch Freunde/Familienmitglieder (die als Modelle fungieren) die positive Wirkung des Glücksspiels, benutzt er es in Zukunft nur dann zunehmend häufiger, wenn ihm andere Quellen der Verstärkung mit vergleichbarer Wirkung (wie beispielsweise eine sinnerfüllte Lebensführung) nicht zur Verfügung stehen. Die zwangsläufig eintretenden Verluste rufen Probleme in anderen Lebensbereichen hervor (Veringerung des Selbstwertgefühls, Partnerkonflikte), die wiederum die Verfügbarkeit effektiver Bewältigungsstrategien reduzieren und zur Fortführung des Glücksspiels motivieren, das eine unmittelbare Belohnung (Aufhebung unangenehmer Gefühle) verspricht (Meyer und Bachmann, 1999). (-»Psychologische Konzepte; -•Verhaltenstherapie) Integrative Modelle erklären die Suchtentwicklung als einen Prozeß zunehmender Verstrickung, der durch kurzfristige Gewinne motiviert ist. Durch die langfristigen negativen Konsequenzen (Verschuldung, soziale Isolierung) entsteht eine zunehmende Einschränkung der Verhaltenskontrolle, die subjektiv als Unfähigkeit erlebt wird, aus diesem

Spielsucht Teufelskreis anwachsender Probleme und der Steigerung des Suchtverhaltens auszusteigen (Oxford, 1985; McMurran, 1994). 3. Stellenwert für die Praxis der Suchtprävention, -therapie. D e m Gesetzgeber ist das Gefahrenpotential von Glücksspielen durchaus bekannt. In Deutschland dürfen sie gegenwärtig nur unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle durchgeführt werden (§ 284 StGB). Das Glücksspielmonopol des Staates soll nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes dem Zweck dienen, die wirtschaftliche Ausbeutung der Spielleidenschaft des Publikums unter staatliche Kontrolle und Zügelung zu nehmen. Mit Zügelung hat die Entwicklung der letzten Jahre allerdings nichts mehr zu tun. Ein ständig steigendes Angebot ist vielmehr auf eine Markterweiterung ausgerichtet. Die Veranstalter betreiben Werbung für Glücksspiele, wecken Bedürfnisse zum Spielen. Die Umsätze auf d e m legalen Glücksspiel-Markt (ohne Soziallotterien und Börsenspekulationen) beliefen sich in 1998 auf mehr als 47 Mrd. D M . Die Einnahmen des Staates über Rennwett- und Lotteriesteuer, Gewinnablieferung verschiedener Lotterien und Spielbankabgabe betrugen 6,824 Mrd. D M (in 1997). Den Aufstellern von Geldspielautomaten verblieb ein Brutto-Spielertrag von 4,195 Mrd. D M (Meyer, 1999; eine Fortschreibung der Umsatz- und Ertragszahlen sowie Angaben zur Therapienachfrage von pathologischen Spielern erfolgen jedes Jahr im „Jahrbuch Sucht" der „Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren"). Für die meisten Spieler bleibt die Verlockung des Geldgewinns, der Reiz des Risikos überschaubar und unproblematisch. Sie nutzen das Glücksspiel als anregende Form der Unterhaltung und lustbetontes Freizeitvergnügen. Bei einigen Spielern entwickelt sich jedoch ein beratungs- und behandlungsbedürftiges Spielverhalten. Grobe Schät-

Spielsucht zungen gehen von 9 0 0 0 0 bis 150000 betroffenen Spielern in Deutschland aus. Dies entspricht einem Anteil in der Bevölkerung von 0,11 bis 0,19%. In Ländern mit einem vergleichbaren Glücksspiel-Angebot wie Spanien, Neuseeland, Australien, Kanada und U S A liegen die Prävalenzraten zwischen 0,1 und 3,4%, so daß die angegebene Rate für Deutschland eher die untere Grenze darstellen dürfte. Den Betroffenen steht ein breites Spektrum sich ergänzender Behandlungsangebote zur Verfügung: vom niedrigschwelligen Angebot der Selbsthilfegruppen „Anonyme Spieler" über ambulante Suchtberatung und -behandlung bis hin zur stationären Therapie. Die „Anonymen Spieler" orientieren sich in ihrem Genesungsprogramm an den „12 Schritten" und „12 Traditionen" der „Anonymen Alkoholiker". Die Spielsucht wird als progressive Krankheit betrachtet, die nicht geheilt, aber zum Stillstand gebracht werden kann. Die Akzeptanz der Krankheit ist der erste Schritt auf d e m Weg der Genesung und eine wichtige Voraussetzung für eine konsequente Abstinenz vom Glücksspiel. Zu den schwierigen Aufgaben der ambulanten Beratungsstellen gehört es, die Klienten nach der ersten Kontaktaufnahme zu einer umfassenden Therapie zu motivieren und sie in der Abstinenzrealisierung zu unterstützen. Die Abbruchquote ist mit rd. 50% relativ hoch. Im Falle des Scheiterns ambulanter Behandlungsversuche, ausgeprägter psychischer Störungen, der Krisenintervention (Suizidgefahr) und sozialer Notlagen sind stationäre Maßnahmen angezeigt. Die Behandlung süchtiger Spieler erfolgt in der Regel gemeinsam mit Alkoholabhängigen, ohne dabei spielerspezifische Probleme wie illusionäre Kontrollüberzeugungen, Verschuldung und illegale Geldbeschaffung aus den Augen zu verlieren (Meyer und Bachmann, 1999; Petry, 1996). Aus dem Blickwinkel der Suchtprävention stellen staatliche Eingriffe in die 563

Spielsucht

Spielstruktur (beispielsweise bei Spielautomaten) eine effektive vorbeugende Maßnahme dar. Auf Glücksspiele und deren Verfügbarkeit kann der Staat direkt Einfluß nehmen, während individuelle und soziale Risikofaktoren pathologischen Spielverhaltens und dessen Folgen sehr viel schwerer - wenn überhaupt nur über langfristige Strategien - erreichbar sind. Gesundheitspolitische Lenkungsziele lassen sich auch über die Erhebung von Steuern realisieren. Wie erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ist die Auswahl des Steuergegenstandes für die Spielautomatensteuer durch das Ziel gerechtfertigt, der Verbreitung der Spielsucht entgegenzuwirken. Das Lenkungsziel besteht dabei in dem Bemühen, ein Verhalten, das Folgekosten für die Gemeinschaft verursachen kann, unattraktiv zu machen. Maßnahmen, die den Zugang zu Glücksspielen beeinflussen, können einen wichtigen Beitrag zur Prävention von Glücksspielproblemen leisten. Aufklärungs- und Erziehungskampagnen oder Werbebeschränkungen stellen ergänzende Strategien dar. 4. Kritik/Ausblick/Thesen. Die Analyse der Suchtprobleme hat lange Zeit unter der Überbewertung der physischen und pharmakologischen Aspekte gelitten. Das pathologische Spielverhalten bietet die Gelegenheit, das Wesen süchtigen Verhaltens in seiner Reinform zu studieren, da es keine Interferenzen durch körperliche Abhängigkeit (mit vielfältigen und weitgreifenden Stoffwechselvorgängen) oder hirnorganisch bedingte psychische Veränderungen gibt. Ein süchtiger Mensch strebt nicht den Konsum eines Suchtmittels bzw. einer Droge um ihrer Selbst willen an, sondern den durch den Stoff erzeugten psychischen Zustand - vor allem Entspannung, Rausch und Betäubung. Das eigentliche Suchtpotential besteht in der sofortigen stimmungsdämpfenden, stimulierenden oder halluzinogenen Wirkung der Mittel. Sie ermöglichen eine 564

Spielsucht

kurzfristige Befriedigung entsprechender Bedürfnisse, sind aber langfristig mit schädlichen Auswirkungen verbunden. Nicht anders verhält es sich mit dem Glücksspiel. Die Eigenschaften, unmittelbar intensive Lustgefühle, einen erregenden, euphorischen Zustand zu erzeugen oder Mißstimmungen, seien sie glücksspielbedingt oder unabhängig entstanden, sofort zu vertreiben, bilden die Grundlagen des Suchtpotentials. Über den Geldeinsatz beim Glücksspiel (die Vornahme einer Handlung) läßt sich ebenso zuverlässig und effektiv der Erlebniszustand in die angestrebte Richtung verändern. Eine Ausweitung des Suchtbegriffs auf nicht-stoffgebundene Suchtformen ist von Vertretern der klassischen Drogenarbeit kritisiert worden, die - berechtigterweise - vor einem inflationären Gebrauch des Suchtbegriffs warnen, der zur Bedeutungslosigkeit führt sowie zu der Gefahr, daß klassische Abhängigkeiten verharmlost und „neue" stigmatisiert werden. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Erkenntnisse sowie nicht zuletzt der individuell- und sozialschädlichen Folgen des süchtigen Spielverhaltens (wie auch der Beschaffungskriminalität, vgl. Meyer, Althoff und Stadler, 1998) erscheint eine Beschränkung auf stoffgebundene Abhängigkeiten allerdings nicht sachgerecht. Lit.: Freud, S., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalysis, Frankfurt a.M. 1917/1977; Lesieur, H. R„ The Chase: Career of the Compulsive Gambler, Rochester 1984; McMurran, M., The Psychology of Addiction, London 1994; Meyer, G., Glücksspiel - Zahlen und Fakten, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht '2000, Geesthacht 1999 in Druck; Meyer, G., Bachmann, M., Spielsucht Ursachen und Behandlung, Berlin 1999; Meyer, G., Althoff, M„ Stadler, M., Glücksspiel und Delinquenz, Frankfurt a.M. 1998; Orford, J., Excessive Appetites. A Psychological View of Addic-

Stoffgebundene Süchte

Sprache der Drogenszene tion, Chichester 1985; Petry, J., Psychotherapie der Glücksspielsucht, Weinheim 1996; Rosenthal, R. J., Lesieur, H. R., Pathological gambling and criminal behavior, in: L. B. Schlesinger (ed.), Explorations in Criminal Psychopathology, Springfield 1996: 149-169; Walker, M. B., The Psychology of Gambling, Oxford 1992. Gerhard Meyer, Bremen Sprache der Drogenszene Ebenso wie in anderen Lebenswelten gibt es in der Drogenszene einen eigenen Sprachcode, der teils zur Verkürzung genutzt wird („H" für Heroin) oder anglizistisch geprägt ist („Speed", Shit"). Wie auch anderen Sprachstilen unterliegt der drogenspezifische Jargon modischen Einflüssen und Wandlungen. Spritzentausch -"•Druckraum; -•Needle-sharing; -•Niedrigschwellige Angebote Stationäre Einrichtungen -•Entwöhnung; --•Fachklinik; -•Suchtkrankenhilfe Stechapfel Pflanze aus der Gruppe der -•Nachtschattengewächse, die -•Alkaloide enthält. Die Pflanze wird zur Gewinnung von Reinalkaloiden genutzt, deren Substanzen pharmakologisch bei Bronchialasthma und Keuchhusten verwendet werden, birgt aber ein hohes Mißbrauchs- und Abhängigkeitspotential. Ihre Wirkungen sind schmerzlindernd, krampflösend und betäubend. -•Drogenpflanzen; -•Magische Pflanzen Stiftung Integrationshilfe für ehemals Drogenabhängige e.V. - Marianne von Weizsäcker-Fonds Die Stiftung Integrationshilfe für ehemalige Drogenabhängige e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, ehemals abhängige Personen von illegalen Drogen, von Alkohol oder Medikamenten, die eine Therapie bereits abgeschlossen haben und deren Lebensumstände ein drogenfreies Leben erwarten lassen, finanzielle Un-

terstützung zu gewähren. Die Hilfe erfolgt in der Regel durch Gewährung von Darlehen, Übernahme von Bürgschaften zur Tilgung von Schulden ehemals Abhängiger sowie durch Gewährung von Darlehen zur beruflichen Existenzsicherung bzw. beruflichen Wiedereingliederung. Vorrangig werden verzinste Darlehen bis zur Höhe von max. 10000,- D M über die Hausbank der Stiftung vergeben. Desweiteren können zinsgünstige Darlehen bis maximal 5000,- DM zur beruflichen Wiedereingliederung oder zur Existenzgründung gewährt werden. In Ausnahmefällen, vorrangig bei Familien, ist die Gewährung eines zinslosen Darlehens möglich. Die Hilfesuchenden können sich nur dann an die Stiftung wenden, wenn sie die Unterstützung durch eine Beratungsstelle vor Ort wahrnehmen. Beratungsstelle kann eine Suchtberatungsstelle, eine Therapiebzw. Nachsorgeeinrichtung, eine Schuldnerberatung, die Bewährungshilfe etc. sein. Die Stiftung kann nur dann Hilfe gewähren, wenn vorrangig alle regionalen Hilfsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Anschrift: Grünstr. 99, 59063 Hamm, Tel.: 0 2 3 8 1 / 2 1 0 0 6 , Fax: 0 2 3 8 1 / 2 1 0 0 8 Stigmatisierung -•Drogenpolitik Stimulanzien -•Psychostimulanzien Stoffgebundene Süchte Stoffgebundene S. sind an die Zufuhr von Suchtmittel wie Alkohol, Medikamente oder illegale Drogen gebunden. Dieser Begriff dient auch der Abgrenzung gegenüber Suchtformen, die ohne den Konsum einer psychotropen Substanz gelebt werden (-•Stoffungebundene Süchte) wie •Arbeitssucht, -•Eßsucht oder -•Spielsucht. Bei manchen Eßsüchten sind allerdings nicht psychotrop wirkende „Stoffe" wie -•Diuretika und -•Laxantien notwendige Mittel der Wahl. -•Medikamentenabhängigkeit; -»Sucht

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Stoffungebundene Süchte Stoffungebundene Süchte Stoffungebundene S. werden meist synonym mit nicht-substanzgebundene S. oder •Neue Süchte verwendet, wobei der Suchtbegriff in diesem Zusammenhang zum Teil umstritten ist. Unter die Kategorie stoffungebundene S. werden heute meist gerechnet die •Spielsucht, die -»EBsucht, die •Arbeitsucht, die -•Konsumsucht, die »Sexsucht sowie bildschirmbezogene Formen (Fernsehen, Videofilme, Videospiele, Computer, Internet-Surfen) zum Teil aber auch Liebes- bzw. Eifersucht, Kleptomanie und die Sucht nach Extremsituationen (S-Bahn-Surfen oder Bungee-Springen). Diese Verhaltensweisen müssen, wie auch bei den •stoffgebundenen Süchten, bezüglich ihres süchtigen Charakters den Kriterien von •Sucht bzw. -•Abhängigkeit entsprechen, um nicht in eine moralisierende Stigmatisierungsfalle zu geraten und auch um einer Inflation der Verwendung des Suchtbegriffs zu begegnen. Sie müssen daher auch abgegrenzt werden von -•Gewöhnung im Sinne einer möglichen Vorstufe der Abhängigkeit und von •Mißbrauch bzw. -•schädlichem Gebrauch. Dabei ist auch zu beachten, daß das soziale Entgegenkommen für manchen dieser Verhaltensweisen ausgedehnt ist, daß sie gefördert werden und daß sie gleichzeitig ökonomisch genutzt werden, wie dies bei der Konsumsucht besonders deutlich ist. Im Zusammenhang mit einigen dieser stoffungebundenen S., besonders ausgeprägt bei der Sucht nach Extremsituationen, ist auch der Frage nach der Bedeutung der »Endorphinausschüttung und dem damit einhergehenden Glücksgefühl nachzugehen (-»Kick/Thrill; -»Körpereigene Drogen). Aufgrund der Forschungsergebnisse der -»Neurobiologie und der Neuropharmakologie ist bekannt, daß der menschliche Körper durch das Bewältigen besonderer Situationen (Uberwindung von Angst und Schmerz, Angst-Lust) über die Ausschüttung von Endorphinen Gefühle wie Wohlbefinden, Glück und Lust erlebt. 566

Straßenverkehr und Substanzgebrauch Insofern ist der Begriff stoffungebundene S. nicht ganz richtig, denn es geht ja gerade darum, die Ausschüttung eines Stoffes, wenn vielleicht meist auch nur unbewußt, immer wieder zu bewirken. Strafvollzug und Drogen Der Konsum von Drogen - legalen wie illegalen - ist in allen Haftanstalten mehr oder weniger verbreitet. Fachleute vermuten, daß mehr als ein Drittel aller Inhaftierten Konsumenten illegaler Drogen sind. Die Unterbringung von Drogenabhängigen und die gesetzlich vorgeschriebene Drogenbekämpfung im Strafvollzug zieht verschärfte Kontrollen, Beschränkungen der Haftraumausstattung sowie Belastungen des Zusammenlebens durch Beschaffungskriminalität nach sich. Es muß festgestellt werden, daß die Situation für Drogenabhängigkeit im Strafvollzug, gleich aus welchem primären Grund sie sich in Haft befinden, unbefriedigend ist. Von Anfang an stellt sich das Problem der Unvereinbarkeit von Vollstreckung der Strafe, Resozialisierungsauftrag und einer notwendigen Krankenbehandlung. Da eine therapeutische Behandlung Freiwilligkeit, Vertrauen und Akzeptanz voraussetzt, hat die Haft nur unter sehr speziellen Bedingungen eine therapiefördernde Wirkung. Inzwischen reagiert der Strafvollzug zumindest mit besonderen Angeboten, arbeitet mit externen Suchtberatern zusammen und im Stadium einzelner Modellversuche Substitution und Spritzentausch. •Orogenpolitik, •Drogenrecht, -»Kriminalisierung; -»Sucht und Kriminalität Straßenverkehr und Substanzgebrauch Der Alkoholkonsum als Unfallursache liegt in Deutschland unter den bei den Kraftfahrzeugfahrern liegenden Ursachen an fünfter Stelle und an zweiter Stelle der Unfälle mit Getöteten oder Schwerverletzten. In der offiziellen Straßenverkehrsunfallstatistik werden nur die Unfälle erfaßt, die von der Polizei

Streetwork/Aufsuchende Arbeit a u f g e n o m m e n werden, deshalb m u ß mit einer möglicherweise hohen Dunkelziffer gerechnet werden. Dennoch gilt das Fahren unter Alkoholeinfluß, obwohl strafrechtlich verfolgt, als Kavaliersdelikt. Eine besondere Risikogruppe im deutschen Straßenverkehr sind j u n g e Männer zwischen 18 und 24 Jahren. Die hohe Risikobereitschaft in Hinblick auf den Konsum von Substanzen und in Hinblick auf das Auto fahren selbst und die noch geringe Fahrpraxis führen zu einer überproportionalen Beteiligung am Unfallgeschehen. Etwa die Hälfte aller Führerscheininhaber fährt immer nüchtern, ihnen gelingt es, den Konsum von Alkohol und das Fahren eines Kraftfahrzeugs zu trennen. 4 5 % aller Fahrer trinken mehr als der Durchschnitt und fühlen sich nach vermeintlich geringen Mengen Alkohol in der Lage, Auto zu fahren, sind es aber nicht, da die Fahrtüchtigkeit bereits durch geringe Mengen Alkohol erheblich herabgesetzt werden kann. 5% aller Führerscheininhaber fahren regelmäßig mit hohen Promillewerten (-•Blutalkoholkonzentration). Im Rahmen der deutschen Gesetzgebung wird das Fahren unter Alkoholeinfluß als sozial schädlich bewertet und mit einschneidenden Sanktionen geahndet. Der Alkoholkonsum ist ein Straftatbestand bei Fahrlässigkeit, Gefährdungstatbeständen und Rauschtaten oder wird als Ordnungswidrigkeit geahndet. Bis August 1998 waren Fahrer, die unter dem Einfluß von Cannabis, Heroin, Morphin, Kokain, Amphetaminen und Amphetaminderivaten ein Fahrzeug führten, gegenüber denjenigen, die eine -»-Blutalkoholkonzentration von über 0,8 Promille und mehr hatten, bevorzugt. Seit August 1998 kann die Polizei bei Verdacht auf Konsum der genannten Substanzen (die Liste der berauschenden Mittel und Substanzen kann geändert oder ergänzt werden, wenn dies nach wissenschaftlicher Erkenntnis, vor allem in Hinblick auf die

Streetwork/Aufsuchende Arbeit Sicherheit im Straßenverkehr, erforderlich ist) eine Blutprobe anordnen. Eine Ordnungswidrigkeit liegt bereits bei einem positiven Nachweis vor. Grenzwerte werden nicht genannt. Eine Ausnahme bilden diejenigen, denen von einem Arzt ein Medikament, z.B. im Rahmen einer Schmerztherapie, verschrieben wurde, das eine der oben genannten Wirksubstanzen enthält. Streetwork/Aufsuchende Arbeit 1. Suchtmittelkonsumenten als Zielgruppe aufsuchender sozialer Arbeit. Streetwork als aufsuchende soziale Arbeit mit Suchtmittelkonsumenten im System sozialer Arbeit ist vor allem in zwei Sektoren verortet, nämlich - in der Drogenhilfe mit dem Zielgruppenfocus auf Konsumenten illegaler Drogen und - in der Wohnungslosenhilfe, denn in diesem Praxisbereich steht die Problematik übermäßigen oder süchtigen Alkoholkonsums häufig mit im Zentrum der Veränderungsbemühungen von milieuverankerten Sozialarbeitern. Während Streetwork in der Drogenszene sich in den letzten 20 Jahren fachlich fundiert und als anerkanntes Arbeitsfeld im Verbundsystem der Drogenhilfe etabliert hat, steht die aufsuchende Arbeit in der Wohnungslosenhilfe eher am Rande des ambulanten und stationären Hilfssystems. Lebensweltzentrierte Kontakt- und Interventionsstrategien haben dort allenfalls randständige Bedeutung im Vorfeld einrichtungsgebundener ambulanter Hilfen. Das professionelle Handeln konzentriert sich weniger auf „ w a r m e " verständnisvolle oder motivierende Gespräche „auf der Straße", sondern aus nachvollziehbaren Gründen zunächst auf die existentielle Grundversorgung von Wohnungslosen (Übernachtungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten, medizinische Grundversorgung, Wohnprojekte etc.). D e m fachlichen Entwicklungsstand und der praktischen Bedeutung angemessen liegt bei der fol567

Streetwork/Aufsuchende Arbeit

genden Darstellung von lebensweltzentrierter Arbeit mit Suchtmittelkonsumenten deshalb der Schwerpunkt auf dem Arbeitsfeld „Drogenszene" (vgl. zu Streetwork mit Wohnungslosen vertiefend Sweeney-Riethmüller 1989; Kiebel 1988, 1997). 2. Praxisausformungen von Streetwork und aufsuchender Sozialarbeit. Aufsuchen von Suchtmittelkonsumenten bedeutet zunächst nichts mehr als das angestammte institutionelle Terrain (in der Regel eine Beratungsstelle, ein Kontaktladen) zu verlassen und sich in die Lebensfelder der jeweils anvisierten Zielgruppe zu begeben. Die aufgesuchten Lebensfelder können variieren: Schnüffelnde Jugendliche an einer Straßenecke können genauso Zielgruppe sein wie Heroinuser in der offenen Szene, in Justizvollzugsanstalten oder in der Psychiatrie, aber auch Ecstasykonsumenten auf einem Rave. Mobile Suchtprävention, die vielerorts ebenfalls unter dem konzeptionellen Dach von aufsuchender Sozialarbeit bzw. Streetwork verhandelt wird, dehnt die Perspektive weiter aus bis hin zum Aufsuchen von Jugendlichen in Schulen im Rahmen von Präventionsveranstaltungen oder dem Auftreten vor Eltern von Kindergartenkindern. Diese inhaltsdiffuse Ausuferung geschieht vor allem in jüngster Zeit vor folgendem Hintergrund: Immer noch gelten Streetwork und das Aufsuchen von „Drogengefährdeten" sowie Drogenabhängigen als innovative betroffenennahe Arbeitsweisen. Mit dem bisweilen praktizierten Überstülpen dieser modischen Etiketten über traditionelle, herkömmliche Arbeitsformen verbindet sich das Bestreben, sich als fortschrittlich und klientenorientiert zu zeigen. „Mitnahmeeffekte" begünstigen ab und zu diese Entwicklungstendenz: Mitte/ Ende der 80er Jahre setzte eine vergleichsweise breite Modellförderung lebensweltnaher Handlungskonzepte ein u.a. in den Bundesmodellprogrammen „AIDS und Streetwork" (vgl. Aufsu568

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chende soziale Arbeit 1993) und „Aufsuchende Sozialarbeit für langjährig Drogenabhängige" (vgl. Modellprogramm 1993). Mancherorts erfolgte das symbolische Umetikettieren von im Kern einrichtungsgebundenen Angeboten, um Vergabekriterien zu erfüllen und in Zeiten restriktiver öffentlicher Zuwendungen in den Genuß zusätzlicher Fördermittel zu kommen. Von Seiten lebensweltverankerter Praktiker erfolgt zunehmende Kritik an diesen „Auswüchsen", verbunden mit dem Bestreben, fachliche Standards für das Arbeitsgebiet zu formulieren und durchzusetzen, um einer imageheischenden und akquisitionsinduzierten Inflationierung sowie beliebigkeitsfördernden Aushöhlung von Konzepten aufsuchender sozialer Arbeit vorzubeugen. Jenseits ausgeprägter konzeptioneller und methodischer Differenzen besteht demnach der zentrale Grundkonsens darin (vgl. Ausobsky 1997), daß Streetwork in den angestammten, alltäglichen, „natürlichen" Lebensfeldern der Zielgruppe stattzufinden hat. Streetworker, die beispielsweise die Arbeit mit Konsumenten illegaler Drogen als Handlungsfeld definieren, sind demnach bevorzugt in der Szene unterwegs und nicht „auf Besuch" bei Usern in Justizvollzugsanstalten, Entzugsstationen, Psychiatrien etc. Entlang dieses Diskussionsstranges um die Verortung (Wo?) und die zeitliche Quantität der Szenearbeit (Wie oft? Wie lange?) drängt sich eine Abgrenzung auf in Anlehnung an die Jugendhilfe: Konzeptionell findet dort eine Unterscheidung statt zwischen „Hinausreichender Jugendarbeit" und Straßensozialarbeit bzw. Mobiler Jugendarbeit. Streetworker und mobile Jugendarbeiter agieren demnach vorwiegend in lebensweltlichen Zusammenhängen bis hin zur gelegentlichen Ablehnung einer institutionellen Basis aus der realen Befürchtung heraus, durch das personal- und zeitintensive Handling einer Institution (Einhalten von Öffnungszeiten etc.) sowie das drohende „Überschwemmen"

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einer niedrigschwelligen StützpunktEinrichtung (Kontaktladen etc.) an die Einrichtung gekettet und damit immobil zu werden mit der problematischen Konsequenz, den Kontakt zu Zielgruppensegmenten zu verlieren, die einrichtungsgebundene Angebote meiden. Hinausreichende Jugendarbeit baut dagegen auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Einbindung in eine Institution. Die Arbeit reicht über die Einrichtung insofern hinaus, als punktuell oder aktionsbezogen Außenkontakte stattfinden. Jugendarbeiter gehen bisweilen regelmäßig mit vergleichsweise niedrigen Stundenbudget in die jugendliche Lebenswelt (z.B. an informelle Treffpunkte), aber auch in jugendzentrale Institutionen (wie z.B. Schulen). Auf den Sektor der Drogenhilfe übertragen läge der Schwerpunkt von Streetwork demnach in der zeitlich ausgedehnten Arbeit in den natürlichen angestammten Lebenszusammenhängen von Drogenkonsumenten: Hinausreichende (oder aufsuchende) Drogenarbeit als übergreifendes Konzept würde dagegen prinzipiell all die Aktivitäten umfassen, die über die Kerninstitution der „ambulanten Beratungsstelle" hinaus evtl. auch nur punktuell an Szenetreffpunkten oder in Institutionen wie Psychiatrie, Justizvollzugsanstalten etc. stattfinden. Im übrigen deckt sich dieses konzeptionelle Raster zumindest im Ansatz mit dem anglo-amerikanischen Strang der Fachdiskussion (vgl. etwa Southwell 1997): Outreach Work als über die Grenzen der eigenen Institutionen „hinausreichende Arbeit" differenziert sich demnach in - detached work (Arbeit im natürlichen angestammten Lebensfeld der Szene, d. h. auf Straßen und Plätzen, in Kneipen und Diskotheken etc.), - domiciliary work (Arbeit in den „homes", d. h. in der Privatszene) und - peripatetic work („agency-based services", d. h. einrichtungsgebundene Arbeit in ,,Host"-/„Satelliten"-Organisationen wie Justizvollzugsanstalten, Psychiatrien etc.).

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3. Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen. Streetworker berufen sich im allgemeinen auf das Paradigma akzeptierender Drogenarbeit. Es waren nicht zuletzt auch lebensweltlich arbeitende Praktiker, die ab Mitte der 80er Jahre dieser Grundphilosophie mit zum Durchbruch verhalfen. Die Hochschwelligkeit und cleanfixierte Eindimensionalität vieler Einrichtungen der Drogenarbeit vor Augen kam damals aus StreetworkerKreisen angesichts der täglichen hautnahen Konfrontation mit den existenziellen Notlagen der Zielgruppe vehement die Forderung, verstärkt niedrigschwellige oder gar schwellenlose Angebote der „harm-reduction" auszubauen wie z.B. Notschlafstellen, Kontaktläden, medizinische Basisversorgung, Spritzenvergabe, Substitution, Heroinvergabe oder auch medikamentengestützte Entzugsmöglichkeiten ohne Langzeittherapieverpflichtung. In einem in diese Richtung gehenden institutionellen Zuschnitt ambulanter Drogenhilfe sehen Streetworker noch heute eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß ihre Bemühungen um Kontaktaufnahme und Vertrauenserwerb im Szenemilieu nicht wirkungslos auf der bloßen Gesprächsebene verpuffen. Es hat sich die Grundposition durchgesetzt, daß Streetwork ohne institutionelle Absicherung auch durch cleananspruchsfreie, niedrigschwellige Hindergrund-/Komplementärangebote nur wenig Sinn macht. Über diese konzeptionell-pragmatische Grundpositionen hinaus prägen jenseits projektspezifischer Detailvariationen folgende sechs Leitsätze das Selbstverständnis vieler Streetworker (vgl. Steffan 1988, 1989): - Aufsuchende lebensweltnahe Drogenarbeit ist ausgerichtet auf eine niederschwellig angelegte begleitende Stützung unter Verzicht auf unmittelbare Drogenfreiheitsansprüche und Leidensdruckideologie. - Die Szenearbeit kann als wichtiges Lernfeld gesehen werden, in dem sich die Drogenberater über die sehr be569

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schränkten Möglichkeiten von Ausbildung, (therapeutischer) Zusatzausbildung für eine Arbeit mit Drogenkonsumenten qualifizieren. Über Ansätze aufsuchender Beratung wird das System der Drogenarbeit mit der Lebenswelt der Drogenkonsumenten rückgekoppelt. Streetwork trägt die Erkenntnisse über szenedominante Problemlagen in das System der Drogenhilfe und forciert dessen problemlagenangemessene Weiterentwicklung. Streetwork ist ein bewußter Schritt in Richtung Machtabbau, d.h. zur Aufgabe von einseitigen, herkömmlicherweise auf Seiten des Drogenberaters liegenden Machtpositionen. Die Definitionsmacht über das Arrangement, in d e m Beratung stattfindet, liegt dabei weitgehend in Händen der Drogenkonsumenten. Streetwork eröffnet die Chance zu einer veränderten Beziehungsqualität im Verhältnis zwischen Drogenberater und Drogenkonsument. Der Verzicht auf angestammte Machtpositionen und Erwartungshaltungen fördert das Entstehen von offenen und mehr durch Gegenseitigkeit geprägten Vertrauensbeziehungen. Streetwork ist eine wichtige Strategie, um auf Seiten der Drogenkonsumenten die Akzeptanz von professionellen Hilfsangeboten mit und ohne Cleanorientierung zu steigern.

4. Handlungsebenen und Tätigkeitsschwerpunkte. Die deutsche Übersetzung des Wortes Streetwork in Straßensozialarbeit legt bei oberflächlicher Betrachtung die A n n a h m e eines Hauptbetätigungsfeldes nahe, das nicht den realen Anforderungen und dem fachlichen Konsens entspricht: Streetworker agieren keineswegs immer oder auch nur überwiegend in dem Sozialraum der Straße. Zu ihrem Aktionsfeld zählen ebenso halböffentliche Räume mit Zugangsschranken formeller (Clubausweise o. ä.) oder informeller Art („anrü-

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Streetwork/Aufsuchende Arbeit chiges", „feindseliges" Milieu etc.). Je nach U m f a n g der örtlichen Wohnungsszene kann aufsuchendes Arbeiten außerdem bedeuten, zu Drogenkonsumenten in deren privatem Lebensfeld Kontakte aufzubauen und zu pflegen. In die beschriebenen Formen lebensweltzentrierten Handelns fließen in der Praxis allerdings kaum mehr als 3 0 - 4 0 % des Arbeitszeitbudgets. Der Tätigkeitsbereich von Streetworkern umfaßt darüber hinaus - Hintergrundeinrichtungen (Kontaktladen, Beratungsstelle etc.), - Institutionen, in denen sich Drogenkonsumenten (zwangsweise) aufhalten (wie z . B . Justizvollzugsanstalten, Psychiatrie, Entzugsstationen) und - das politisch-administrative U m f e l d (fachliche Vernetzung, politische Gremien usw.). Die Vielzahl streetworktypischer Einzelaktivitäten in der Szene und im institutionellen Umfeld läßt sich in folgende vier Tätigkeitsschwerpunkte bündeln: a) Basisaktivitäten: Kontakt- und Beziehungsarbeit in der Lebenswelt: Identifizierung und Ortung von Zielgruppen-Teilmilieus Annäherung an die Milieustrukturen Vertrautmachen mit milieudominanten Verhaltensorientierungen und Handlungsmustem Kontaktaufnahme mit Einzelpersonen und/oder Gruppen Vertrauenserwerb und Aufbau tragfähiger Beziehungen Pflege und Erweiterung des Kontaktnetzes im Milieu b) Zielgruppen-/klienten- und problemlagenbezogenes Handeln: Begleitende psychosoziale Unterstützung im Einzelfall wie z.B. - Sozialberatung - Krisenintervention - Notfallhilfe - Substitutionsbegleitung - Vermittlung im Kontakt mit Polizei und Justiz usw. Arbeit mit Cliquen/Gruppen etwa mit der Ausrichtung auf

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- Erlebnis-/Freizeitpädagogik Weitervermittlung und Weiterbetreuung z.B. in - Entzug - Arbeitsprojekte - Therapie Prävention durch - personalkommunikative Gespräche, Beratung) - massenkommunikative (Flyer, Plakate etc.) oder - sachorientierte, materielle Maßnahmen (Spritzen-/Kondomvergabe) Selbsthilfeaktivierung und Selbsthilfeunterstützung - Peer support/peer education - Junkie-Bund bzw. lokale JES-Gruppen c) Arbeit im institutionellen Umfeld: Vernetzung, Verbund, Akquisition von Hilfsressourcen wie z.B. - Entzugsmöglichkeiten - Schuldnerberatung - Arbeits-/Beschäftigungsmöglichkeiten d) Aktivitäten im kommunalen, politischen, administrativen Kontext: Initiierung und Durchsetzung problemlagenangemessener Hintergrund-/Komplementärangebote wie etwa - niedrigschwellige medizinische bzw. materielle Grundversorgung - Substitution - Arbeits-/Beschäftigungsangebote Interessenvertretung, Einmischung, Lobbyarbeit ζ. B. zur - Verhinderung tendenziöser Berichterstattung, - Beeinflussung von Verfolgungsdruck, - Veränderung von ausgrenzenden Substitutionskriterien etc. 5. Leistungsfähigkeit. Wenn es auch Schwierigkeiten bereitet, „harte" quantitative Indikatoren für die Wirksamkeit von Streetwork zu finden, so deuten doch die dokumentierten Erfahrungen von Praktikern sowie die Ergebnisse selbstevaluativer (vgl. etwa Steffan 1988, 1989) und praxisbegleitender Studien (vgl. Aufsuchende soziale Arbeit

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1993, Bundesmodellprogramm 1993) auf die besondere Leistungsfähigkeit der Szenearbeit hin und zwar insbesondere in folgenden Bereichen: a) Erweiterung des Kontaktnetzes und b) Intensivierung von Unterstützungs- und Veränderungsprozessen. a) Erweiterung des Kontaktnetzes. Das Hinausgehen von Drogenberatem in die Szene erhöht die Kontaktchancen nicht nur ganz allgemein, sondern gerade zu jenen Subgruppen im Szenegefüge, bei denen die Distanz zu präventiven und rehabilitativen Angeboten der Drogenarbeit besonders stark ausgeprägt ist wie beispielsweise Migranten, junge User, ,Altfixer' oder Jugendliche aus der Techno-Szene mit ausgeprägtem Extasy-Konsum. Weiterhin kann der Kontakt zu rückfälligen, wieder langsam in die Szene hineinwachsenden Usern und zu Therapieabbrechern über Streetwork vergleichsweise früh aufgenommen werden. Der Grund für die außerordentliche Kontaktleistung milieuzentrierter Arbeit liegt darin, daß der natürliche soziale Kontext der Szene eine Fülle differentieller Kontaktchancen bietet, die sowohl von Streetworkem als auch von Szeneangehörigen aufgegriffen werden können: - Die Kontaktchancen steigen schon allein deshalb, weil durch das Hinausgehen in die Szene die räumliche Distanz zwischen den potentiellen Interaktionspartner schrumpft. Bei regelmäßiger Präsenz in Szenezusammenhängen entstehen beim „Über-denWeg-Laufen" zwischen Drogenberater und Szeneangehörigen leichter Kontakte als beim „Warten" in Beratungsstellen. - Dem Drogenkonsumenten fällt es aus der lebensweltlichen Sicherheit seiner sozialen Heimat heraus leichter, auf eine „fremde Person" (d.h. den Streetworker) zuzugehen, als den Kontakt zu einer „fremden Person" (d. h. zu dem Drogenberater) in einem fremden sozialen Setting (d.h. in einer Beratungsstelle) aufzunehmen. 571

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Die gewohnten, nach eigenen Normen gestalteten und sicherheitsgewährenden lebensweltlichen Zusammenhänge lassen User nicht nur in der Phase der Kontaktaufnahme, sondern erfahrungsgemäß auch im weiteren Verlauf des Beratungsprozesses unbefangener agieren. - Interaktionsstrukturen und Interaktionsthemen sind weniger begrenzt, also offener und vielfältiger. Die potentiellen Interaktionspartner bleiben nicht auf beratungsstellentypische Rollenmuster festgelegt. Eine erste Kommunikation kann z.B. über Jokes' oder Provokationen Zustandekommen, d.h. unter Rückgriff auf eingeübtes, alltagsangepaßtes Verhalten. Während Beratungsstellenkontakte zumeist in dyadischer Form ablaufen (Berater-User), kann in der Szene im Rahmen von Gruppeninteraktionen, die stimulierend, sicherheitsgebend und damit schwellenangstreduzierend wirken, ein Kontakt entstehen. - Die Interaktionspartner können in der Phase des Annäherns Intensität, Verbindlichkeit und Tiefe des Kontaktes je nach individuellen Präferenzen variieren. Es ist möglich, sich über verschiedene Formen verbaler und nonverbaler Kommunikation langsam aneinander heranzutasten. Kontakthemmende Ängste und Unsicherheiten können in einer ,Anwärmphase' genauso abgebaut werden wie Ignoranz oder Aggression. Bei einer beratungsstellenfixierten Arbeit entstehen derart vielfältige, auf den verschiedenen Interaktionsebenen liegende Kontaktchancen überhaupt nicht. Sie können deshalb auch nicht produktiv für die Kontaktaufnahme, für die Entwicklung von Beratungsbeziehungen und für präventive Aktivitäten genutzt werden. Freilich können die Kontaktchancen, die in der Streetwork liegen, nur dann zum Tragen kommen, wenn die Streetworker milieuadäquate Interaktionskompetenzen besitzen und nicht 572

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zu sehr unter Ängsten und Verhaltensunsicherheiten im Umgang mit authentischen Drogenkonsumenten leiden. Sonst ergibt sich eine paradoxe Situation: Einerseits würde mit Ansätzen gearbeitet, die entscheidend zum Abbau der Kontakthemmungen und damit letztendlich auch der Distanz zwischen professioneller Drogenarbeit und den Drogenkonsumenten beitragen könnten. Andererseits wären aber die Szenenarbeiter - herausgerissen aus der schützenden Machtposition der Beratungsstelle und verunsichert durch die unmittelbare Konfrontation mit den Drogenkonsumenten in deren Lebenswelt nicht in der Lage, die Kontaktchancen zu nutzen. b) Intensivierung von Unterstützungsund Veränderungsprozessen. In der frühen Literatur zu Streetwork findet sich häufig die Einschätzung, in der Szenearbeit würden - im Gegensatz zur ambulanten einrichtungsgebundenen Betreuung - typischerweise die kurzfristigen, ständig wechselnden Betreuungsverhältnisse dominieren. Die Szenearbeit ließe sich von einer Beratungsstellenarbeit demnach vor allem durch ihren unverbindlichen Charakter sowie die Dominanz von oberflächlichen und kurzfristigen Betreuungsverhältnissen abgrenzen. Im Gegensatz zu diesen Einschätzungen legen Praxiserfahrungen den Schluß nahe, daß die Intensität von Streetworkkontakten keineswegs hinter der von beratungsstellenfixierten Beziehungen zurücksteht. - Es findet zum einen eine Intensivierung in quantitativer Hinsicht statt. Im Rahmen der Szenearbeit kommt es, verglichen mit einer einrichtungsgebundenen Arbeit, in der Regel häufiger und über einen längeren Zeitraum zu Kontakten mit denselben Drogenkonsumenten. Schon in der Anfangsphase läßt sich der für eine Beratungsstellenarbeit nicht untypische Beziehungsabbruch nach einem oder wenigen Kontakten verhindern. Unsicherheiten, Mißtrauen, Vorurteile und

Streetwork/Aufsuchende Arbeit

Ängste, die oft zu einer Stagnation oder gar zu einem schnellen Ende der Beziehung führen, lassen sich in der Szenenarbeit besser abbauen. - Auch im Hinblick auf die Möglichkeiten einer mittel- und längerfristigen Kontaktsicherung erweist sich die Szenenarbeit einer einrichtungsgebundenen Beratung keineswegs unterlegen: Es entstehen selbst im Verlaufe vertrauen sgeprägter Betreuungsprozesse immer wieder Beziehungskrisen, in denen die Drogenkonsumenten dazu tendieren, sich aus dem Kontakt mit dem Berater zurückzuziehen. Die Anlässe für solche Reaktionen variieren: Enttäuschte Hilfserwartungen oder Beziehungshoffnungen, aber auch konfrontatives Handeln des Drogenberaters (das manchmal durchaus angebracht sein kann), können ebenso dahinter stehen wie eine Konsumintensivierung oder sonstige Veränderungen in der Motivationslage der Betreuten. Bei einer beratungsstellenzentrierten Interaktion ist ein Rückzug oft gleichbedeutend mit dem Abbruch der Beziehung: Die Betreuten kommen nicht mehr in die Beratungsstelle. Ein Vorteil der Szenearbeit liegt darin, daß es in Beziehungskrisen häufig nicht allzu schwer fällt, Kontakt zu halten. Die Beziehung zwischen Drogenberater und Drogenkonsument reißt nicht so schnell und so abrupt ab. Unterschiedliche Intensitätsstufen bis hin zum oberflächlichen lockeren Kontakt bei dem fast zwangsläufigen Zusammentreffen sind realisierbar. Aus dem lockeren Kontakt heraus entwikkeln sich erfahrungsgemäß oft wieder intensive Beziehungen. Es muß nicht erneut - wie beim vollständigen Kontaktabbruch - eine mißtrauensgeprägte, angstbesetzte und unter Umständen langdauernde Initialkontaktphase durchstanden werden. - Das Hinausgehen in die Szene wirkt nicht nur positiv auf Interaktionshäufigkeit, Interaktionsregelmäßig-

Streetwork/Aufsuchende Arbeit

keit und Interaktionskonstanz, sondern ferner auf die Inhalte der Beziehung wie zum Beispiel auf die Beziehungstiefe und die Qualität der Unterstützung. Quantitativ intensive, das heißt kontinuierliche, regelmäßige, längerfristige und häufige Kontakte bilden die Basis für die Entwicklung qualitativ intensiver Beziehungen. Der Aspekt der qualitativen Intensivierung der Betreuungsprozesse wiegt wohl noch schwerer als der Aspekt der quantitativen Intensivierung. - In der Szenearbeit liegen besondere Möglichkeiten zur Intervention und zur Vermittlung von Hilfsangeboten. Eine notwendige Unterstützung erfolgt bei täglichen Kontakten unmittelbar und schnell. Beim Auftreten neuartiger Problemlagen bietet der dauernde, vielleicht bloß lockere Kontakt die Chance, direkt zu intervenieren, ohne daß Drogenkonsumenten Schwellenängste überwinden und sich auf den Weg in eine Beratungsstelle machen müssen. Die Zuspitzung von Problemlagen läßt sich besser erkennen, da sich die Betreuten nicht nur ein- bis zweimal pro Woche in einem verhältnismäßig kurzen Beratungs- oder Therapiegespräch zeigen, sondern oft jeden Tag mehrfach mit Streetworkern zusammenkommen. Im alltäglichen Umgang fällt es leichter, notwendige und/oder günstige Interventionszeitpunkte abzuschätzen. Der zeitlich intensive Kontakt zwischen Streetworkern und Drogenkonsumenten führt schließlich dazu, daß Hilfs- und Stützungsprozesse beschleunigt ablaufen. - Streetwork wirkt sich weitergehend aus auf die Beziehungen zwischen Drogenkonsumenten und Mitarbeiter von Hintergrundeinrichtungen, die nicht in die Szene gehen. StreetworkKontakte haben in vielen Fällen den Charakter einer entlastenden, vorgeschobenen oder intensivierenden Beibetreuung. Kommunikationswege 573

Subkultur können verkürzt, Mißverständnisse aus dem Weg geräumt und Aggressionen abgeschwächt werden. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß Szenearbeit weit über ein unverbindliches, oberflächliches Agieren hinausgeht und auf mehreren Intensitätsstufen unterschiedlichste Form der Beratung und Stützung umfaßt wie: - Informationsvermittlung und Sozialberatung - Krisenintervention und Notfallhilfe oder - prozeßorientierte Intensivbetreuung z.B. in Form von präventiv wirkenden Verhaltensbeeinflussung (HIV, Hepatitis, sonstige Konsumrisiken) bzw. Stabilisierungs-, Konsumreduktions- oder Ausstiegsbegleitung. Lit.: Aufsuchende soziale Arbeit in der AIDS-Prävention. Baden-Baden 1993; Ausobsky, H., Streetwork in der Drogenszene, in: Klose, Α., Steffan, W. (Hrsg.), Streetwork und Mobile Jugendarbeit in Europa, Münster 1997: 161— 176; Kiebel, H., Auf der Suche nach frühen Spuren von „Streetwork" in Deutschland - Erste Ergebnisse einer Spurensicherung, in: STREETCORNER - Zeitschrift für aufsuchende soziale Arbeit Nr. 2/1988: 36-42; Kiebel, H., Streetwork mit Wohnungslosen, in: Klose, Α., Steffan, W. (Hrsg.), Streetwork und Mobile Jugendarbeit in Europa, Münster 1997: 220-239; Modellprogramm Aufsuchende Sozialarbeit für langjährige Drogenabhängige, BadenBaden 1993; Southwell, M „ Streetwork/ Outreachwork - Die englische Praxis, in: Klose, Α., Steffan, W. (Hrsg.), Streetwork und Mobile Jugendarbeit in Europa, Münster 1997: 259-292; Steffan, W., Streetwork in der Drogenszene Begründung und Leistungsfähigkeit, in: Steffan W. (Hrsg.), Straßensozialarbeit Eine Methode für heiße Praxisfelder. Weinheim 1989: 3 1 ^ 8 ; Steffan, W„ Streetwork in der Drogenszene, Freiburg 1988; Sweeney-Riethmüller, B., Streetwork in der Nichtseßhaftenhilfe,

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Substitution in: Steffan W. (Hrsg.), Straßensozialarbeit - Eine Methode für heiße Praxisfelder. Weinheim 1989: 48-55. Werner Steffan, Potsdam Subkultur S. ist ein soziologischer Begriff für eine Teilgruppe, die sich durch ihr Normenund Wertesystem, ihre spezielle Struktur und ihre Lebens- und Verhaltensweise von der Gesamtgesellschaft unterscheidet. Da die Drogenszene sich z.T. deutlich von der Gesamtgesellschaft unterscheidet, werden die Drogenkonsumenten und ihre Lebensweisen oft als Subkultur bezeichnet. Substitution 1. Ziele der Substitutionsbehandlung. Die Ziele der Substitutionsbehandlung Heroinabhängiger mit -•Opioiden sind vielfältig. Im Sinne einer für die Suchttherapie allgemeinen Zielhierarchie sind kurz- und langfristige Zielsetzungen mit der Substitutionsbehandlung verbunden. Diese reichen von der Sicherung des Überlebens, über Schadensminimierung („Harm Reduction"), körperliche und psychische Stabilisierung, soziale Integration und berufliche Rehabilitation bis hin zur vollständigen Abstinenz. Dabei ist die Grundidee der Substitutionsbehandlung, daß zu Therapiebeginn keine Abstinenz vorliegen muß, sondern diesem Behandlungsziel die persönliche und soziale Stabilisierung des Klienten vorangeht. Damit ist die Substitution generell eine auf Langfristigkeit angelegte Behandlung, die sich meistens über mehrere Jahre erstreckt. Der ebenfalls mögliche Einsatz von Substitutionsmitteln zur Entgiftungsbehandlung oder Überbrückungsbehandlung bleibt hier außer Betracht. 2. Wie funktioniert die Substitutionsbehandlung? Das Prinzip der Substitutionsbehandlung besteht darin, daß das illegale Heroin, dessen Wirkungsdauer bei den meisten Drogenabhängigen etwa 4 bis 6 Stunden anhält, durch ein anderes, die Entzugserscheinungen bekämp-

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fendes legales Opioid ersetzt wird. Hierzu wird in der Regel Methadon, das eine Wirkungsdauer von durchschnittlich 2 4 - 3 6 Stunden hat und kein Euphoriegefühl („Kick") erzeugt, eingesetzt. Es wird ärztlich verschrieben und unter kontrollierten Bedingungen ausgegeben und eingenommen. Durch die ausreichende Dosierung des Substitutionsmittels wird der sogenannte „Heroin-Hunger" gestillt, Entzugserscheinungen werden vermieden. Aufgrund der Sättigung der Opiatrezeptoren an den Nervenzellendigungen (Synopsen) ist - bei ausreichender Erhaltungdosis - der gleichzeitige Heroinkonsum wirkungslos. Dies erlaubt es dem Substituierten, sich von dem lebensdominierenden Zwang zur Beschaffung von Geld und Drogen zu lösen und der ständigen Gefahr polizeilicher Auffälligkeit und Haft zu entgehen. Darüber hinaus sinkt das Mortalitätsrisiko von Substituierten gegenüber nicht behandelten Opiatabhängigen um zwei Drittel (Raschke 1999). Da die Einnahme des Substitutionsmittels mit keinen bedeutsamen Einschränkungen der alltäglichen Lebensführung verbunden ist, gewinnt das Leben eine Normalität, die es dem Substituierten erlaubt, seine gesundheitlichen, psychischen und sozialen Probleme und Defizite aufzuarbeiten. Gut und relativ schnell gelingt dies bei der Verbesserung des somatischen Zustandes der Substituierten, selbst bei Drogenabhängigen mit langer „Drogenkarriere" und hoher Verelendung. Auch -•AIDS oder -•Hepatitis Erkrankte können angemessen behandelt werden. Zu Beginn der Behandlung befindet sich der Substituierte aber häufig in einer schlechten psychischen Situation mit erheblichen depressiven Verstimmungen und Angstzuständen und hoher Suizidgefährdung. Eine psychosoziale Betreuung ist daher bei den meisten Substituierten angebracht. Im Laufe der Behandlung treten deutliche Verbesserungen ein. Vor Therapiebeginn ist die soziale Situation der Substituierten von Ausgrenzung

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und Deklassierung bestimmt. Die Schritte zur sozialen Reintegration sind daher vielfältig und oft schwierig. Die Distanzierung von der Drogenszene und der Verzicht auf eine illegale Geldbeschaffung gelingt weitgehend. Der Aufbau neuer, nicht drogenbezogener Freundeskreise und Partnerbeziehungen erfordert besondere Anstrengungen und die berufliche Rehabilitation ist aufgrund erheblicher Qualifikationsdefizite, mangelnder Erfahrung regelmäßiger Arbeit und der ungünstigen Bedingungen des Arbeitsmarktes besonders schwer zu erreichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge der langen „Drogenkarriere" nur noch eingeschränkt vorhanden ist. Hat sich die gesundheitliche und psychische Erholung stabilisiert und ist die soziale und berufliche Rehabilitation dauerhaft, so ergeben sich zunehmend Ablösungsprozesse, die, über einen längeren Zeitraum hinweg, auch das Substitutionsmittel in kleinen Schritten reduzieren, bevor es schließlich abgesetzt wird (Abstinenz). 3. Substitutionsmittel. Prinzipiell sind verschiedene Opioide zur Substitutionsbehandlung geeignet. Diese unterscheiden sich in ihrer Pharmakokinetik und der daraus resultierenden Einnahmehäufigkeit sowie in ihren Nebenwirkungen. Die gebräuchlichsten Substitutionsmedikamente sind Methadon, Levomethadon und Codein- bzw. Dihydrocodeinpräparate. Als weitere Substitutionsmittel kommen Buprenorphin, LAAM (Levo-alpha-Azetylmethadol) und Morphinderivate zum Einsatz; diese sind allerdings wenig verbreitet oder befinden sich noch im Versuchsstadium. Schließlich wird in England von wenigen autorisierten Ärzten in Ausnahmefällen sowie seit 1994 in der Schweiz die Vergabe des „Originalstoffs" Heroin an Drogenabhängige praktiziert. - Methadon (Racemat aus rechts- und linksdrehendem Methadon). Methadon ist das weltweit verbreitetste und am häufigsten eingesetzte Substitutionsmit575

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tel. Die Bioverfügbarkeit bei oraler Applikation beträgt 70% bis 95%. Methadon hat eine Halbwertszeit von 15-60 Stunden. Daraus folgt, daß eine einmalige tägliche Einnahme in der Regel ausreicht, um die substituierende Wirkung zu erzielen (Gölz 1995). Die durchschnittliche tägliche Erhaltungsdosis liegt je nach Toleranz des Klienten zwischen 60 und 100 mg. Als Nebenwirkungen der Methadoneinnahme treten vor allem starkes Schwitzen, Obstipationen sowie etwas seltener dysphorische Stimmungen und Libido-Störungen auf. - Levomethadon (linksdrehendes Isomer des Methadons). Levomethadon ist etwa doppelt so wirksam wie Methadon und hat ebenfalls eine Halbwertszeit von 15-60 Stunden. Levomethadon ist die „bundesdeutsche Variante" des Methadons, da der Einsatz von Methadon zu Substitutionszwecken bis Februar 1994 betäubungsmittelrechtlich nicht zulässig war. Vor allem aufgrund des deutlich geringeren Preises von Methadon ist in den letzten Jahren ein Großteil der Klienten von Levomethadon auf Methadon umgestellt worden. Bei Levomethadon liegt die Tagesdosis in der Regel im Bereich zwischen 30 und 50 mg. Es hat die gleichen Wirkungen und Nebenwirkungen. - Codein/Dihydrocodein. Die Substitutionsbehandlung mit Codein/Dihydrocodein ist fast ausschließlich in der BRD verbreitet, was insbesondere mit der relativ späten Einführung der MethadonSubstitution zu erklären ist (siehe unten). Codein-/Dihydrocodeinpräparate fielen unter bestimmten Darreichungsformen und Konzentrationen bis Anfang 1998 nicht unter das BtMG, konnten somit auf Normalrezept verschrieben werden. Verwendet wird in der Regel Dihydrocodein (DHC), entweder in Tabletten- bzw. Kapselform oder als Saftzubereitung (Ulmer 1997). Die Substitutierende Wirkung wird hauptsächlich durch das im Intermediärstoffwechsel entstehende Dihydromorphin entfaltet. Die Halbwertszeit beträgt im Mittel nur etwa 3-4 Stunden, so daß 576

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eine mehrmals tägliche Einnahme erfolgen muß. Die Dosishöhe liegt bei den meisten Klienten zwischen 700 und 900 mg DHC-Base. Codein und Dihydrocodein rufen ähnliche Nebenwirkungen hervor wie Methadon und Levomethadon. Obstipationen treten allerdings häufiger auf, zudem scheinen Oberbauchbeschwerden mit der Einnahme von Codein-/Dihydrocodeinpräparaten im Zusammenhang zu stehen. - Buprenorphin. Buprenorphin ist ein partieller Opiat-Agonist, d.h. es hat neben der substituierenden auch eine antagonistische, also die Opiatrezeptoren blockierende Wirkung. Die Halbwertszeit beträgt etwa 5 Stunden. Erfahrungen mit Buprenorphin bestehen vor allem in Frankreich und USA. In Frankreich wurden damit 1996 ca. 16000 Drogenabhängige behandelt. Dies liegt vor allem darin begründet, daß in Frankreich erst Mitte der 90er Jahre die Methadonsubstitution eingeführt wurde. Buprenorphin ist in der BRD zur Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger bisher nicht zugelassen. - LAAM. LAAM ist inzwischen in der BRD zur Substitutionsbehandlung zugelassen. LAAM ist seit 1993 in der USA als Substitutionsmittel zugelassen. Es hat eine mittlere Halbwertszeit von etwa 72 Stunden, so daß eine dreimal wöchentliche Verabreichung dieser Substanz ausreicht. Nach Finkbeiner und Gastpar (1997) müssen aus medizinischer Sicht vier Anforderungen an ein Substitutionsmittel gestellt werden: 1. Biochemische Kompatibilität, 2. Fehlende Toxizität, 3. Fehlende psychotrope Wirkung und 4. Praktikabilität. Hinsichtlich dieser Merkmale schneiden bisher Methadon und Levomethadon am besten ab. Nach den Neuregelungen des BtMG, der seit 1. Februar 1998 in Kraft getretenen Zehnten Betäubungsmittelrechts-ÄnderungsVerordnung - 10. BtMÄndV, kommen Codein- und Dihydrocodeinpräparate nur noch als Substitutionsmittel zweiter Wahl in Frage.

Substitution 4. Indikation der Substitutionsbehandlung. International wie auch für die meisten substituierenden Ärzte in Deutschland ist die Substitutionsbehandlung eine geeignete Therapie der Heroinabhängigkeit (u.a. Leitlinien der Ärztek a m m e r Hamburg). Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hält dagegen in seinen 1991 erlassenen NUB-Richtlinien (Neue Behandlungsund Untersuchungsmethoden) fest: „die Drogensucht selbst stellt keine Indikation zur Drogensubstitution dar." Damit ist die Substitutionsbehandlung als solche auch nicht kassenärztlich abrechenbar und somit gerade für Heroinabhängige nicht erreichbar. Nur wenn eine andere Erkrankung vorliegt, die allein unter den Bedingungen der Substitution behandelbar ist, dann darf mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Für diese Fälle wurde ein sechsteiliger Positivkatalog erarbeitet - Lebensbedrohlicher Zustand im Entzug; Schwere konsumierende Erkrankung; Opiodpflichtiger Schmerzzustand; Bei AIDS-Kranken; Überbrückung bei akuter oder schwerer Erkrankung; In der Schwangerschaft, unter der Geburt und bis zu sechs Wochen nach der Geburt. Ferner kann einer Substitution bei einer vergleichbar schweren Erkrankung zugestimmt werden. Dies erfordert die Zustimmung einer jeweiligen Kommission der regionalen Kassenärztlichen Vereinigung. In der Praxis führte die A n w e n dung der NUB-Richtlinien zu einer außerordentlich heterogenen Zulassungspraxis in den einzelnen kassenärztlichen Gebieten, die sich nicht aus der regionalen Verteilung der Heroinkonsumenten oder aus deren spezifischen Krankheitsbildern erklären läßt, sondern in hohem M a ß e von der Zusammensetzung und den Ansichten der regionalen Zulassungskommissionen bestimmt ist. Es besteht weder eine Indikationsgleichheit noch Indikationssicherheit. Seit Mitte 1999 gelten für die Durchführung der Substitutionsbehandlung die „Anerkannten Untersuchungs- oder Behand-

Substitution lungsmethoden" (AUB-Richtlinien). Diese erleichtern die Substitutionstherapie für Opiatabhängige, halten jedoch an dem Grundsatz fest, „das alleinige Auswechseln des Opiats durch ein Substitutionsmittel stellt jedoch keine geeignete Behandlungsmethode dar . . . " Damit bleibt die Substitution eng mit dem Vorliegen einer anderen Erkrankung verbunden. Alledings besteht darüber hinaus die Möglichkeit dann zu substituieren, wenn eine drogenfreie Therapie aus medizinischen Gründen nicht durchgeführt werden kann oder nur so der Gesundheitszustand verbessert und stabilisiert werden kann. Dies eröffnet neue Interpretationsspielräume, deren Weite von den jeweiligen Zulassungskommissionen bestimmt werden wird. 5. Durchführung der Substitutionsbehandlung. Die Substitutionsbehandlung wird in der Regel ambulant durch niedergelassene Ärzte, Schwerpunktpraxen, Drogenambulanzen, medizinische (Spezial-)Kliniken oder an Kliniken angegliederte Spezialambulanzen durchgeführt. Für die Durchführung der Substitutionsbehandlung in der B R D sind von Ärztekammern und verschiedenen Organisationen Leitlinien herausgegeben worden, in denen Einzelheiten wie Anamnese, Dosierung, Umgang mit Beikonsum, Dokumentation, Abbruch und Beendigung geschildert werden (z.B. Bundesärztekammer 1997; D G D S 1996). Die Vergabe des Substitutionsmittels erfolgt in der Regel in der Arztpraxis oder in einer Drogenambulanz (in Hamburg sind die Apotheken maßgeblich beteiligt). Zu Beginn der Behandlung müssen die Klienten täglich erscheinen und ihr Substitutionsmittel unter Aufsicht einnehmen. Nach längerem Verbleib in der Behandlung oder bei ausreichender Stabilisierung des Klienten wird den Opiatabhängigen für mehrere Tage das Substitutionsmedikament in applikationsfertiger Form (z.B. als Saftzubereitung) mitgegeben - bei Methadon/Levomethadon für bis zu sieben 577

Substitution Tage, bei Dihydrocodein für den jeweils nächsten Tag. U m den Drogenkonsum der Klienten zu beobachten, werden regelmäßig Urinkontrollen durchgeführt, zu Beginn der Behandlung in der Regel wöchentlich. Je nach länderspezifischen Durchführungsbestimmungen wird für Substituierte das Angebot einer psychosozialen Betreuung vorgehalten. In einzelnen Substitutionsprogrammen ist die Teilnahme verpflichtend, überwiegend handelt es sich aber um ein fakultatives Angebot, daß allein aus zahlenmäßigen Gründen nicht von j e d e m Substituierten in Anspruch g e n o m m e n werden kann. Es besteht allerdings Einigkeit darüber, daß die Teilnahme an psychosozialen Begleitmaßnahmen zum Erfolg der Substitutionsbehandlung beiträgt (z.B. Joe et al. 1991; Ball, Ross 1991; McLellan et al. 1993; Vertheim 1995). 6. Entwicklung der Substitutionsbehandlung. - Ursprung. Die Substitutionstherapie wurde vom Pharmakologen Vincent Dole und der Psychiaterin Mary Nyswander entwickelt, die 1963 am New Yorker Rockefeiler Hospital begannen, Drogenabhängige mit Methadon zu behandeln (Dole und Nyswander 1965). Die Erfolge des Dole-Nsywander-Projekts führten 1970 in den U S A zur Anerkennung der Methadonbehandlung als eine zweckmäßige Behandlungsmethode. Seitdem breitete sich diese Therapieform in den U S A rasch aus, Ende 1997 befanden sich ca. 120000 Patienten in einer Methadonbehandlung. In Kanada, Australien und einigen asiatischen Ländern wie Laos und Hongkong gibt es ebenfalls schon seit den 70er Jahren strukturierte Methadonkonzepte. In Europa startete das erste Methadonprogramm 1966 in Schweden (Uppsala), welches eng an das Dole-NyswanderModell angelehnt war. In der Schweiz ist die Substitutionsbehandlung mit Methadon seit etwa 25 Jahren fester Bestandteil des Therapieangebots für Opi578

Substitution atabhängige. Auch in anderen europäischen Ländern, z . B . den Niederlanden, wurde im Laufe der 70er Jahre die Substitutionsbehandlung eingeführt. - Substitution in Europa. Seit A n f a n g der 90er Jahre hat die Bedeutung der Methadonsubstitution in allen europäischen Ländern zugenommen. Während einige Länder auf jahrzehntelange Erfahrungen mit dieser Behandlungsmethode zurückblicken können, ist sie in anderen Staaten erst dabei, sich zu einem festen Bestandteil des therapeutischen Angebots zu entwickeln. So werden in den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien schon seit den 70er Jahren Drogenabhängige mit Methadon behandelt, während beispielsweise die Substitutionstherapie in Frankreich noch in den Anfängen steckt. In den Niederlanden besteht ein differenziertes Angebot an Methadonprogrammen. Geschätzt wird, daß es 6 0 % aller Abhängigen erreicht - der höchste Anteil in Europa. Eine niederländische Besonderheit stellen die „Methadonbusse" in Amsterdam dar, die eine .szenenahe' Versorgung gewährleisten sollen. Auch in der Schweiz existiert ein flächendeckendes Methadonangebot, auch wenn es in den 26 Kantonen jeweils unterschiedliche Regelungen und Rahmenbedingungen für die insgesamt etwa 10000 Methadon-Patienten gibt. In Großbritannien liegt die Verantwortung für die Verschreibung von Substitutionsmitteln bei den Ärzten, es gibt nur wenige gesetzliche Vorgaben („British System"). Im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern erfolgt auf der Insel die Vergabe von Methadon größtenteils über die Apotheken. In Frankreich hat sich erst in den letzten 5 Jahren eine (eher restriktive) Substitutionspraxis entwickelt, die über spezielle Behandlungszentren erfolgt. Neben Griechenland dürfte Frankreich von allen EU-Ländern den geringsten Anteil von Methadon-Patienten gemessen an der Gesamtzahl der Drogenabhängigen haben. In Griechenland gibt es zwei M e -

Substitution thadon-Modellprojekte, in Athen und Thessaloniki. Außer diesen beiden Kliniken ist niemand in Griechenland berechtigt, Methadon zu verschreiben. Auch in den Skandinavischen Ländern werden mit A u s n a h m e von Dänemark Methadonbehandlungen eher zurückhaltend angeboten, obwohl das allererste Methadonprojekt auf europäischem Boden 1966 in Schweden stattfand. Nur sehr zögerlich zeichnet sich hier eine Entwicklung ab, die Methadonbehandlung zu einer Regelleistung im therapeutischen System zu machen. In Italien erhalten schätzungsweise 10% aller Drogenabhängigen eine Methadonbehandlung, die von ca. 600 Behandlungszentren, aber auch von niedergelassenen Ärzten durchgeführt wird. Eine ähnliche Versorgungsquote existiert auch in Spanien, w o in den letzten Jahren die Methadonsubstitution vor allem - wie in anderen europäischen Ländern - als HIV-präventive M a ß n a h m e forciert worden ist. In Portugal werden Methadonbehandlungen in staatlich anerkannten Zentren durchgeführt. In einigen dieser Zentren werden Patienten auch mit L A A M behandelt. Die Entwicklung der Methadonsubstitution in Österreich weist viele Parallelen mit Deutschland auf: die ersten Modellprogramme wurden zum Ende der 80er Jahre aufgelegt; es existieren eher hochschwellige Indikations- und Zulassungsrichtlinien; die konkrete Substitutionspraxis differiert aber von Bundesland zu Bundesland. In Osteuropa sind erst in einigen Ländern strukturierte Methadonangebote vorhanden. In Kroatien beispielsweise gibt es in den meisten größeren Städten Ärzte, die Methadonbehandlungen durchführen, aber auch in Polen existiert seit ein paar Jahren die Möglichkeit, mit Methadon behandelt zu werden. Insgesamt läßt sich festhalten, daß in den europäischen Staaten die Methadonpraxis sehr unterschiedlich ist manchmal sogar innerhalb eines Landes.

Substitution - Methadonprogramme der Bundesländer. Das erste Methadonprogramm in der Bundesrepublik Deutschland startete 1988 in Nordrhein-Westfalen. Dieser Modellversuch war wegen des politischen Widerstandes und der rechtlichen Probleme als ein hochschwelliges Staatsprogramm organisiert. Die Teilnehmerzahl war begrenzt, die Eingangsvoraussetzungen sehr restriktiv, das Zulassungsgremium beim Fachministerium angesiedelt und die medizinische Betreuung wurde größtenteils von staatlichen Gesundheitsämtern und Kliniken wahrgenommen (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW 1993). Ein halbes Jahr später lief das sogenannte „Hamburger Einzelfallkonzept" an, bei dem erstmalig in der Bundesrepublik die Kosten des medizinischen Teils der Methadontherapie (Medikamente, Urinkontrollen, medizinische Betreuung) von den Krankenkassen übernommen wurden. Nicht nur darin unterschied sich der „Hamburger Weg" vom NRW-Erprobungsvorhaben: es gab keine Begrenzung der Teilnehmerzahl; eine Substitutionsbehandlung war auch aus psychosozialen Gründen möglich; die medizinische Betreuung übernahmen die niedergelassenen Ärzte; die Abgabe des Substitutionsmittel erfolgte durch Apotheken; es wurden spezielle Hilfeeinrichtungen aufgebaut und multifunktionale Drogenambulanzen installiert (Raschke 1994). Das Hamburger Einzelfallkonzept besaß für viele andere Bundesländer Vorbildcharakter: In Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin und Hessen entstanden ähnliche Substitutionsmodelle mit einem einzelfallbezogenen Indikationskatalog, Sachverständigenkommission bei der Ärztekammer, medizinische Betreuung durch niedergelassene Ärzte und multifunktionalen Drogenambulanzen. Nur im Saarland wurde wie in N R W ein staatliches Erprobungsvorhaben durchgeführt. In verschiedenen Bundesländern wurden nach 1991 die NUB-Richtlinien in 579

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bestehende Rahmenkonzepte integriert bzw. sind Substitutionsmodelle installiert worden, die sich an ihnen orientieren (z.B. Bremen, Hessen, Berlin, Niedersachsen), aber landesspezifische Programmbesonderheiten aufweisen: So gibt es beispielsweise in Berlin abweichende Regelungen hinsichtlich des Beikonsums (weniger restriktiv als NUB) und der psychosozialen Begleitmaßnahmen (verbindlicher als NUB). In Bremen wird die NUB-Substitution durch staatliche Sonderprogramme für spezielle Gruppen ergänzt. Auch in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Schleswig-Holstein sind die Modellprojekte inzwischen ausgelaufen. Dort sind neue Rahmenvereinbarungen auf Grundlage der NUB-Richtlinien abgeschlossen worden. In NordrheinWestfalen wird seit 1995 ein Rehabilitationsprojekt unter Beteiligung der Rentenversicherungsträger durchgeführt. In den Bundesländern, die lange Zeit und teils bis heute der Methadonbehandlung Heroinabhängiger skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, werden nach den NUB-Richtlinien die Methadonbehandlungen durchgeführt, ohne daß es eine besondere landesspezifische Zuständigkeitsregelung gibt (Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz). Es besteht hinsichtlich der Verbreitung der Methadon-Substitution ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Die unterschiedliche Gestaltung der Länderprogramme schlägt sich in den Patienten-Zahlen nieder: Es gibt deutliche Behandlungsschwerpunkte in den Großstädten Hamburg, Bremen und Berlin, auf die zusammengenommen ca. 28% aller bundesdeutschen Substituierten entfallen, aber nur 9% der Bundesdeutschen leben (Weber 1996). Dieser hohe Anteil behandelter Patienten ist nicht nur auf die überproportional vielen Heroinabhängigen, sondern auch auf das frühe Engagement dieser Bundesländer in Sachen Methadon zurückzuführen. Insgesamt besteht bundesweit eine Tendenz in der Angleichung der Länder-

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praktiken. Die Methadonsubstitution wird zunehmend auf der Grundlage der NUB-Richtlinien und der neuen Betäubungsmittel· Verschreibungsverordnung gestaltet, wobei aber nach wie vor Besonderheiten in den Bundesländern existieren. -"-Drogenabhängigkeit; -•Drogenfreigabe; -•Medikamentenabhängigkeit Lit.: Ball, J. C., Ross, A. (1991), The Effectiveness of Methadone Maintenance Treatment, New York, Springer; Bundesärztekammer (1997), Leitlinien der Bundesärztekammer zur Substitutionstherapie Opiatabhängiger (15.November 1996), Deutsches Ärzteblatt 94, 312-314; Deutsche Gesellschaft für Drogen- und Suchtmedizin e.V. DGBS (1996), Leitlinien zur Behandlung der Heroinabhängigkeit mit Opiaten, Hamburg; Dole, V. P., Nyswander Μ. E. (1965), A medical treatment for diacetylmorphine (heroin-)addiction. Journal of the American Medical Association 193, 646-650; Finkbeiner, T„ Gastpar, M. (1997), Der aktuelle Stand in der Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger, Nervenheilkunde 16, 215-221; Raschke, P., Püschel, Κ., Heinemann, Α. (1999), Substitution und Drogentod, in: Krausz, M., Raschke, P., Drogen in der Metropole, Freiburg, Lambertus; Gearing, F. R. (1970), Evaluation of methadone maintenance treatment program. International Journal of the Addictions 5, 517-543; Gölz, J. (1995), Methadon-Substitution in der Arztpraxis. In: Gölz, J. (Hrsg.), Der drogenabhängige Patient, München, Urban & Schwarzenberg, S. 273-304; Joe, G. W., Simpson, D. D., Hubbard, R. L. (1991), Treatment predictors of tenure in methadone maintenance. Journal of Substance Abuse 3, 73-84; McLellan, A. T., Arndt, I. O., Metzger, D. S., Woody, G. E„ O'Brien C. P. (1993), The effects of psychosocial services in substance abuse treatment. Journal of the American Medical Association 269, 1953-1959; Gastpar, M„ Heinz, W„

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Poehlke, T h „ Raschke, P. (1998), Glossar: Substitutionstherapie bei Drogenabhängigkeit, Berlin Heidelberg Springer; Ulmer, A. (1997), Die Dihydrocodein-Substitution: Darstellung der Behandlungsmethode anhand von Fragen des Bundessozialgerichts und eines Entwurfs zur 8. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung, Stuttgart: Thieme; Verthein, U. (1995), Psychosoziale Betreuung Substituierter in H a m burg, in: Neue Praxis 25. Peter Raschke/Uwe Verthein, Hamburg Sucht 1. Definition und Klassifikation.Das Wort „Sucht"leitet sich aus dem germanischen „siech" ab und weist auf Siechtum und Krankheit hin. Begriffe wie Wassersucht, Gelbsucht oder Schwindsucht zeugen noch heute von dieser Herkunft. Vermutlich hat sich der Suchtbegriff erst im 19. Jahrhundert zu einem moralisch besetzten Begriff gewandelt. Unter Sucht versteht man ein unabweisbares, starkes Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Dieses Verlangen kann sich entweder auf verschiedene Drogen (z.B. Alkohol, Medikamente, Heroin) oder aber auf bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Spielen, Arbeiten, Fernsehen) beziehen. Man unterscheidet hier auch zwischen den •stoffgebundenen und den -•stoffungebundenen Süchten. Das süchtige Verhalten entzieht sich zunehmend der willentlichen Kontrolle und damit der Verantwortung des Betroffenen. Es m u ß immer wieder von neuem befriedigt werden, der Süchtige kann von seiner Sucht nicht lassen, und häufig kommt es zu DosisSteigerungen. Weiterhin sind schädigende Folgen im psychischen, sozialen und im körperlichen Bereich für süchtiges Verhalten charakteristisch. Diese Definition macht deutlich, daß alle menschlichen Strebungen „süchtig entarten" können. Die stoffungebundenen Süchte werden vielfach auch als - • „ n e u e Süchte" bezeichnet. Daß es sich bei den

meisten der stoffungebundenen Süchte nicht um neue Süchte handelt, zeigt ein Blick in die psychiatrische und psychoanalytische Literatur. Die verschiedenen stoffgebundenen und stoffungebundenen Süchte sind aber nicht völlig gleichartig und auch nicht gleich zu bewerten. In der Intensität und in der Dynamik, vor allem aber in den Auswirkungen gibt es natürlich erhebliche Unterschiede. Die Betonung der Gemeinsamkeiten der verschiedenen Süchte erleichtert allerdings effektives präventives Arbeiten und trägt auch zu einem besseren Verständnis der Süchtigen bei. Gegenüber dem von der Fachwelt häufig bevorzugten Begriff -»„Abhängigkeit" hat der Suchtbegriff den Vorteil, daß er allgemein verbreitet und verständlich ist und die stoffgebundenen und die stoffungebundenen Süchte gleichermaßen umfaßt. Die ganze Problematik süchtigen Verhaltens wird durch den Suchtbegriff besser erfaßt, auch die Betroffenen erleben ihn nicht als diskriminierend. 2. Geschichte und Bewertung. Sucht gehört vermutlich zum Wesen des Menschen, denn zu allen Zeiten und in allen Ländern waren Menschen davon betroffen. Immer versuchten Menschen, sich den Nöten, Qualen und M ü h e n des Alltags zu entziehen und in eine Euphorie zu entweichen, wenigstens für eine kurze Zeit. Die Menschen waren sich aber auch immer der damit verbundenen Gefahren und Risiken bewußt und warnten vor den Folgen. So läßt sich beispielsweise Alkoholmißbrauch schon in die vorchristlichen Kulturen des alten Mesopotamien, des Alten Ägypten und des alten China zurückverfolgen, auch das Alte Testament berichtet von Rausch und Unmäßigkeit. Wie süchtiges Verhalten in einer Gesellschaft bewertet wird, hängt zum einen von dem zugrundeliegenden Menschenbild, zum anderen von dem vorherrschenden Wertsystem ab. Für die Bewertung süchtigen Verhaltens in unserer Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung, daß erstens Sinn und Ziel 581

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menschlichen Lebens in unserer Gesellschaft im beruflichen Erfolg, und in der Karriere gesehen werden, im körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefinden und im Erwerb und der Anwendung verschiedener Konsummittel, und daß zweitens eindeutige Werte, auf die bezogen süchtiges Verhalten zweifelsfrei interpretiert werden kann, nicht existieren. Dies hat zum einen zur Folge, daß verschiedene Süchte in unserer Gesellschaft unterschiedlich bewertete werden: Arbeits- und Fernsehsucht z.B. sehr positiv, Alkohol- und Drogensucht sehr negativ, Medikamenten- und Nikotinsucht liegen irgendwo in der Mitte. Entscheidend ist, in welchem Umfang der Einzelne seinen Rollenverpflichtungen, insbesondere seiner Pflicht zu arbeiten, nachkommt. Zum anderen existiert in unserer Gesellschaft eine nicht zu leugnende Doppelmoral in bezug auf Süchte. So wird z.B. zwischen „legalen" und „illegalen" Drogen unterschieden, ohne daß diese Einteilung fachwissenschaftlichen Kriterien standhält; dasselbe gilt für die Trennung von angeblich „weichen" und „harten" Drogen. Weiterhin leben ganze Wirtschaftszweige von Süchten, die resultierenden Probleme werden von uns allen getragen und finanziert. Was der Staat an Steuern erhält, wiegt die Folgekosten bei weitem nicht auf. 3. Ursachen und Entstehungsbedingungen. Für die Entstehung süchtigen Verhaltens (-»-Genese) sind nach heutiger Auffassung Ursachenbündel verantwortlich, die verschiedenen individuellen und überindividuellen Bereichen entstammen und komplex zusammenwirken. Zu den möglichen Ursachen zählen individuelle körperliche, seelische, soziale und spirituelle Bedingungen ebenso wie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Gegebenheiten. Damit es zu einer Sucht kommt, muß bei den stoffgebundenen Süchten ein Stoff verfügbar sein, ein Anlaß für dessen Erstgebrauch (-»Einstieg in den Drogenkonsum) Gründe für den anhal582

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tenden Mißbrauch sowie begünstigende Faktoren. Vergleichbares gilt für die nicht-stoffbezogenen Süchte. Für jede Sucht und auch für jeden Einzelfall existieren jeweils andere Bedingungskonstellationen. Bei dieser heute vorherrschenden Auffassung wird allerdings zu wenig bedacht, daß das Individuum den einzelnen Ursachen und Bedingungen nicht nur hilflos ausgesetzt ist, sondern daß auch umgekehrt das Individuum diese Faktoren aktiv beeinflussen kann. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, vollzieht sich die Entwicklung zum süchtigen Verhalten in den meisten Fällen in drei Etappen: vom ausweichenden Verhalten über die Gewöhnung zum süchtigen Verhalten. Vereinfacht könnte man sagen, daß es in unserer Gesellschaft und in unserem Leben zahllose Probleme und Konflikte gibt; wir können nun entweder diese Probleme und Konflikte aktiv bewältigen oder aber versuchen, ihnen auszuweichen; von den vielfältigen Kompetenzen des Einzelnen hängt es nun aber ab, ob diese Probleme und Konflikte bewältigt werden oder nicht; je häufiger wir ihnen ausweichen und je mehr Erfolg wir damit haben, desto schneller werden wir uns an diese ausweichenden Verhaltensweisen gewöhnen. Die entscheidenden Unterschiede zwischen ausweichendem Verhalten, Gewöhnung und süchtigem Verhalten bestehen in der Zwanghaftigkeit, in der Intensität und Maßlosigkeit und darin, daß die Sucht eine Eigendynamik entwickelt, die die ursprünglichen Ursachen in den Hintergrund treten läßt. Daß Probleme und Konflikte und damit im Zusammenhang stehende ausweichende Verhaltensweisen für die Suchtentwicklung eine entscheidende Rolle spielen, ist unter Psychologen, Soziologen und Pädagogen ebenso unstrittig, wie die in unserer Gesellschaft vorhandene Doppelmoral in Bezug auf Süchte und die vielfältigen wirtschaftlichen Interessen (-»Psychologische Konzepte, -»Soziologische Konzepte).

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In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat vor allem die biologische Suchtforschung (-•Neurobiologie) einen erheblichen Aufschwung zu verzeichnen. Am faszinierendsten sind die Erkenntnisse der Neuropharmakologie. Diese Forschungsrichtung kam zu der Erkenntnis, daß der Mensch Substanzen produzieren kann, die den Morphinen biochemisch sehr ähnlich sind. Weil sie der Körper selbst produziert, wurden sie endogene Morphine, Endomorphine oder kurz Endorphine genannt. Bei den Endorphinen handelt es sich um Neurotransmitter; sie übertragen elektrische Impulse und regen Nervenzellen an oder bremsen sie. Sowohl die körpereigenen Endorphine als auch die von außen zugeführten Opiate werden vom Limbischen System aufgenommen und verarbeitet und wirken im Sinne eines „Belohnungssystems", sie mindern Angst und Schmerz und führen zu Wohlbefinden, Glück und Lust. Die Entwicklung der stoffgebundenen Süchte wird nun durch eine entweder genetisch bedingte oder erworbene verminderte Konzentration an Endorphinen erklärt. Für die stoffgebundenen Süchte ist nun entscheidend, daß derartige Prozesse nicht nur von außen durch chemische Stoffe beeinflußbar sind, sondern auch durch bestimmte als extrem zu charakterisierende - Verhaltensweisen. Damit wird auch die alte Debatte über körperliche und seelische Faktoren sinnlos, denn es gibt mittlerweile zahlreiche Beweise aus der Neuropsychologic, der Psychoimmunologie und der Psychoendokrinologie, daß psychische Faktoren die „Neurochemie des Gehirns" beeinflussen können. Das Problem des sozialwissenschaftlichen Ansatzes ist, daß es sich immer nur um potentielle Ursachen handelt und auch nur handeln kann. Aus bestimmten psychischen und/oder sozialen Bedingungen, die als förderlich für die Entstehung süchtigen Verhaltens angesehen werden, kann nicht zwingend im Sinne eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs abgeleitet werden, daß eine solche

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Gefährdung oder Erkrankung auch eintreten wird. Dies liegt aber nicht an einem Mangel an Erklärungssätzen, sondern an der Komplexität und Vielschichtigkeit des Problems Sucht selbst. Die Entwicklung des Menschen, auch die Entwicklung seiner Probleme und Konflikte ist nun einmal nicht durch objektivierbare Faktoren derart determiniert, daß ein bestimmtes Ergebnis unausweichlich eintreten wird. Vielmehr ist die menschliche Entwicklung sowohl von zufälligen Gegebenheiten als auch von der Fähigkeit zur Selbstreflexion und der damit verbundenen Möglichkeit, sich in jeder Situation auch anders entscheiden zu können, nicht unwesentlich beeinflußt. Bei den Erkenntnissen der modernen biologischen Suchtforschung handelt es sich hauptsächlich um Hypothesen, beim derzeitigen Kenntnisstand ist es kaum möglich, daraus verantwortbare Konsequenzen für die Prävention und für die Behandlung zu ziehen. 4. Epidemologie und Folgen. Während über die Verbreitung der stoffgebundenen Süchte relativ verläßliche Schätzungen vorliegen, gibt es über die meisten der stoffungebundenen Süchte entweder nur sehr vage oder überhaupt keine Angaben. Die folgenden Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland belegen, daß Sucht kein Randproblem und auch kein Problem von Minderheiten ist, es geht jeden an und jeder ist mehr oder weniger davon betroffen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind mindestens 2,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland alkoholabhängig, 1,4 Millionen medikamentenabhängig und 150000 drogenabhängig. Etwa 36% der Männer und 21% der Frauen sind Raucher, 5% der Erwachsenen gelten als arbeitssüchtig, und 28% sehen werktags über 2Ίι Stunden fern, an Wochenenden sind es mehr. Eßsucht, Kaufsucht oder verschiedenen Spielarten der Sexsucht scheinen ebenso zuzunehmen wie Geschwindigkeitssucht, süchtiges Joggen 583

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oder S-Bahn-Surfen. Die vielfältigen Folgen süchtigen Verhaltens haben aber nicht nur die Süchtigen zu tragen, ebenso betroffen sind deren Angehörige, vor allem Partner und Kinder, aber auch Eltern sowie im Arbeitsbereich deren Kollegen, Vorgesetzte und Untergebene (-»•Epidemiologie). 5. Prävention. Die entscheidende Aufgabe im Suchtbereich ist nicht, Süchte zu behandeln, sondern sie zu verhindern. Die vorhandenen Präventionskonzepte, die vor allem im Zusammenhang mit Alkohol und illegalen Drogen entwickelt und erprobt wurden, lassen sich unterteilen in suchtspezifische Ansätze, die wiederum jeweils person- oder systemorientiert wirken können. Es besteht allgemein der Konsens darüber, daß die unspezifischen Maßnahmen, sowohl person- als auch systemorientiert, den spezifischen vorzuziehen sind, da sie am umfassendsten und frühzeitigsten einer Sucht - welcher Art auch immer entgegenwirken können (-»Prävention). Unspezifisch systemorientierte Maßnahmen zielen auf die Schaffung allgemein gesundheitsfördernder Lebensverhältnisse ab, unspezifisch personenorientierte Maßnahmen setzen an den spezifischen Entwicklungsproblemen von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen an und sehen die Vermittlung allgemeiner Handlungs- und Konfliktbewältigungskompetenzen vor, um sie so gegen süchtiges Verhalten zu immunisieren (-»-Gesundheitsförderung). Die am häufigsten durchgeführten präventiven Maßnahmen setzen allerdings am Individuum an und sind suchtspezifisch ausgerichtet. Ausgehend von alten Theorien der Verhaltensänderung, nach denen Angst ein wirkungsvoller Motivationsfaktor für Verhaltensänderungen ist, und Information und Aufklärung ausreichen, um süchtiges Verhalten zu verändern, wurden vielfach Abschrekkungsmethoden eingesetzt. Diese mit erheblichem Aufwand und erheblichen Mitteln hergestellten Materialien führ584

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ten aber nicht zu den erwünschten Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Häufig wird das Ziel verfolgt, Kinder und Jugendliche aber auch Erwachsene zu einem Verzicht auf Suchtmittel zu bewegen. Es ist aber erstens fast unmöglich, Menschen zum Verzicht auf lustbringende Verhaltensweisen zu bewegen, auch wenn sie längerfristig schädlich sind, und zweitens bleibt dieser Appell so lange wirkungslos, so lange wichtige Bezugspersonen wie Eltern und Lehrer oder andere Vorbilder nicht ihrerseits verzichten. Leider kommt dieser Form der Suchtprävention häufig eine Alibifunktion zu, da die krankmachenden strukturellen Bedingungen nicht einbezogen und verändert werden. Spezifisch systemorientierte Maßnahmen hingegen schränken nicht nur die Freiheit des Einzelnen ein, sie führen auch dazu, daß eine Unzuständigkeit des Einzelnen für seine Lebensverhältnisse organisiert wird. Begreift man süchtiges Verhalten als Reaktion auf mangelnde Kompetenz, so scheint der Versuch einer Prävention mittels weiteren Kompetenzentzugs paradox. Angesichts der erforderlichen strukturellen Veränderungen ist eine einfache Negation staatlicher Maßnahmen ebenso unverantwortlich wie eine einfache Abgabe der Kompetenz an Dritte. Schnelle und spektakuläre Erfolge sind bei der Suchtprävention nicht zu erwarten. Mit Erfolgen kann aber dann aufgewartet werden, wenn Prävention vornehmlich nicht an den Symptomen, sondern an den Ursachen ansetzt. Wenn nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern alle Mitglieder unserer Gesellschaft gleichermaßen einbezogen werden, wenn es sich nicht um isolierte und kurzfristige Maßnahmen, sondern um aufeinander abgestimmte langfristig ausgerichtete Bündel von Interventionen handelt. Weiterhin setzt erfolgreiche Suchtprävention einen geeigneten Rahmen und ein entsprechendes Umfeld voraus.

Sucht im Alter

Wenn bestimmte individuelle Erlebnisse und Erfahrungen verhindert werden sollen, muß die Frage zugelassen werden, welche Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten dem Einzelnen auch damit genommen werden, und welche Auswirkungen dies angesichts der Notwendigkeit von Krisen einschließlich deren Bewältigung für persönliches Wachstum und menschliche Reife hat. 6. Perspektiven. Ziel künftiger Bemühungen muß es sein, auf der Grundlage empirischer Forschung und reflektierter Erfahrung die vorhandenen Präventionsund Behandlungskonzepte zu verbessern, um so wirksame, für den Einzelnen unschädliche und auch ethisch vertretbare Strategien zu entwickeln. Eine offene Frage ist, ob süchtiges Verhalten zugenommen hat, ob Sucht ein Kennzeichen unserer Gesellschaft ist, oder ob süchtiges Verhalten nicht vielmehr zum Wesen des Menschen gehört. -•Alkoholabhängigkeit; •Drogenabhängigkeit; -•Medikamentenabhängigkeit; -•Stoffungebundene Süchte; Lit.: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht, Hamburg (erscheint jährlich); Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Sucht. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis, Hamburg (erscheint sechs Mal im Jahr); Gross, W., Sucht ohne Drogen, Frankfurt, 1990; Poser, W., Poser, S., Arzneimittelabhängigkeit, Stuttgart, 1996; Scheerer, S., Vogt, I., Drogen und Drogenpolitik, Frankfurt am Main, 1989; Schmidt, L„ Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch, Stuttgart, 1997, 4. Auflage; Topel, H., Euphorie und Dysphorie. Zur Neurobiologie der Stimmungen und des Suchtverhaltens, Schriftenreihe des Fachverbandes Sucht e.V., Heft 5, Bonn, 1991. Wolfgang Schulz, Braunschweig Sucht im Alter 1. Definition. ->Sucht im Alter ist hier begrenzt auf die •Abhängigkeit von

Sucht im Alter

Medikamenten und/oder Alkohol bei Menschen über 65, die die Einnahme des Suchtmittels nicht beenden können ohne unangenehme körperliche und seelische Zustände zu erleben (Entzugssyndrom: -•körperliche Entgiftung, -•Entzug). 2. Für die Sucht im Alter gibt es kein einheitliches Konzept. Das in -»ICD 10 formulierte Abhängigkeitssyndrom ist auch im Alter wenig verändert: Das Substanzverlangen ist allerdings nicht so drängend, der -•Kontrollverlust nicht so absolut. Die -•Toleranzentwicklung und körperliche Entzugssymptome und deren Verminderung durch erneute Einnahme, werden bei alten Menschen infolge Stoffwechselveränderungen wichtiger als bei Jüngeren. Das Verhalten ist genauso eingeengt, bisherige Interessen werden eher vernachlässigt und der Konsum eher fortgesetzt trotz Einsicht in schwerwiegende gesundheitliche Folgen. 2.1 -»• Alkoholabhängigkeit im Alter. Von den über 60jährigen sind etwa 6% alkoholabhängig (Feuerlein, 1996), von den männlichen Heimbewohnern fast jeder 5. und von den weiblichen jede 10. Nach Schmitz-Moormann (1992) nimmt die Gefährdung im Alter nicht rapide ab, erst nach dem 75.Lebensjahr vermindert sich der Alkoholkonsum. Alte Menschen sind durch einen verlangsamten Stoffwechsel besonders gefährdet. Da die Sterblichkeit bei Alkoholkranken achtmal höher als in der Normalbevölkerung ist (Feuerlein, 1996), wurde Sucht im Alter über 75 bisher kaum untersucht. Die Neuerkrankungsrate ist nicht exakt bekannt. Alkoholismussymptome sind bei Alteren oft ausgeprägter: Alte Abhängige zittern öfter, gehen unsicherer, sie verschieben ihre zunehmende Vergeßlichkeit auf das Alter, werden gereizt, ängstlich-unruhig und depressiver und im Rausch aggressiver als Jüngere. Die Einsichtsfähigkeit schwindet stärker und sie vereinsamen und verwahrlosen eher als Jüngere. 585

Sucht im Alter Alte Alkoholkranke sind nach Jellinek meist alpha- oder Konflikttrinker, Delta- oder Gewohnheitstrinker, seltener gamma- oder süchtige (Problem-) Trinker. Nach Cloninger gehören sie zum Typ 1: über zunächst einen eher milden Alkoholabusus entwickelt sich eine psychische Abhängigkeit spät, die Persönlichkeit ist unauffällig mit geringen sozialen Problemen. ( - • Alkoholikertypologien). -•Alkohol-Folgekrankheiten sind bei Älteren häufiger: Bei Gangunsicherheit fallen sie leichter mit der Folge von Oberschenkelhals-, Arm- oder Rippenbrüchen; das Alkohol-Leber-Syndrom mit Fettleber, -»-Leberzirrhose nimmt zu; durch Blutdruckanstieg kommt es häufiger als bei Jüngeren zu Herzinfarkten und Schlaganfällen. Die chronische Alkoholgastritis endet öfter in einem Magenkrebs. Impotenz ist bei älteren Alkoholikern die Regel. Der Entzug von Alkohol z . B . bei Heim- oder Krankenhausaufnahme führt häufig zum -»-Delir mit Krampfanfällen. Alkoholismus fördert im Alter oft eine Polyneuritis mit chronischen Ischias- oder Schulterschmerzen. Infolge von Immunschwäche sind Infektanfälligkeiten häufig, ebenso Alkoholvergiftungen, oft zusammen mit Schlaftabletten in suizidaler Absicht (Suizide sind bei alten Männern fast 4mal so häufig wie es dem Durchschnitt aller Altersgruppen entspricht) und Eifersuchtswahn sowie Demenz, die bei Abstinenz allerdings zum Stillstand k o m m e n . A m häufigsten ist das Delir, das 2 bis 3 Tage nach Alkoholentzug auftreten kann: die Patienten sind verwirrt, ängstlich-unruhig, vergeßlich, fahrig mit Beschäftigungsdrang und ängstigenden Halluzinationen. Das Denken ist zerfahren, das Bewußtsein getrübt. Der alte Alkoholkranke m u ß wegen der hohen Sterblichkeitsrate (20%) in der Klinik mit -•Distraneurin-Infusionen behandelt werden. Bei wiederholtem Delir droht eine -"-Wernicke-Encephalopathie mit Verwirrtheit, Gangunsicherheit, Schie586

Sucht im Alter len und Denkstörungen oder e i n ' K o r sakow-Syndrom mit totalem Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Konfabulationen (der Kranke füllt seine Gedächtnislücken mit spontanen Einfällen). Soziale Folgen des Alkoholismus im Alter sind Vereinsamung nach Trennung oder Scheidung, auch familiäre Mißhandlung und Verschuldung bis zur Verarmung durch die Finanzierung des Alkoholkonsums aber auch durch die einer Pflegebedürftigkeit. 2.2 -•Medikamentenabhängigkeit im Alter. Sie ist die häufigste Sucht im Alter. In der B R D wird die Zahl der Medikamentenabhängigen auf 1,4 Mill, geschätzt, 1,2 Mill, sind abhängig von -•Benzodiazepinen (Gölz, 1998). Von den 60- bis 69jährigen Frauen sind 27% und von den gleichaltrigen Männern 20,3%, von den über 70jährigen Frauen 28,9% und von den gleichaltrigen Männern 22% abhängig von Tranquilizern (Gölz, 1998), 37% aller Tranquilizer und 4 5 % aller Schlafmittel werden länger als 3 Monate verordnet. Nach der Berliner Altersstudie (Mayer, Baltes, 1996) nehmen von den über 70Jährigen 13,2% Benzodiazepin-Angstlöser, 4,7% Benzodiazepin-Schlafmittel und 67,4% psychotrope Pharmaka (einschließlich der Beruhigungs- und Schmerzmittel). Psychopharmaka sind in vielen Altenund Pflegeheimen die am häufigsten verordneten Arzneimittel ( »latrogene Abhängigkeit). Ältere Arznei-Abhängige werden selten erkannt, weil sie infolge eines Informationsdefizits kein Selbstbewußtsein haben, bei Multimorbidität glauben, auf das Mittel angewiesen zu sein, weil es der Arzt verordnet hat. Die regelmäßige Einnahme verdeckt die Sucht und die Entzugserscheinungen. Ältere Arznei-Süchtige sind sozial unauffällig, j a angepaßt, haben keine Fahne, die Vorratshaltung von Tabletten ist einfach. Im Alter ist gefährdet, medikamentenabhängig zu werden (Risikogruppen), wer alkoholabhängig war, abhängige Angehörige hat, wer vielfach krank (multimorbid) ist, wer,

Sucht im Alter wie viele alte Frauen, vereinsamt und verarmt ist, sich nicht informiert, soziale Ängste hat, wer sich abgewertet fühlt oder bemitleidet wird, weil sie/er so krank ist, daß sie/er soviel einnehmen müsse (als Schutzbehauptung). Verdacht auf Medikamentenabhängigkeit besteht, wenn Ältere lallen, schwanken, häufig stürzen oder sich stoßen, trotz Schlafmittel schlecht schlafen, aufdringlich dasselbe Mittel verlangen, Ärzte wechseln, die Dosis steigern, Tabletten verstecken und die Abhängigkeit abstreiten. 2.3 Entstehungsbedingungen der Sucht im Alter. Zahlreiche Faktoren verstärken sich gegenseitig; Gefährdete Person Gift Rückfall gewertet und entsprechend dem jeweiligen Konzept sanktioniert. -••Suchtstoffanalysen

Verhaltenstherapie

Verband ambulanter Behandlungsstellen V Verband ambulanter Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige e.V. (VABS) Der Verband ambulanter Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige e.V. (VABS), gegründet 1971, ist im Deutschen Caritasverband der Zusammenschluß von Trägern ambulanter Hilfeeinrichtungen für Suchtkranke/ Drogenabhängige. Mitglieder des VABS sind Träger ambulanter Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige, die dem Deutschen Caritasverband oder einer Untergliederung angeschlossen sind. Zweck und Aufgaben des Verbandes sind: die ambulanten Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit zu fördern, zu koordinieren und die gemeinsamen Interessen nach außen zu vertreten; Sammlung, Austausch, Auswertung und Verbreitung von Forschungsprojekten, Erfahrungen und Arbeitsergebnissen; gemeinsame Fragen der Behandlung Suchtkranker/Drogenabhängiger zu klären und auf eine möglichst einheitliche Regelung derselben hinzuwirken, sowie auf dem Gebiet der Behandlung Suchtkranker/Drogenabhängiger Anregungen und Förderung zu geben. Eine weitere Aktivität des VABS besteht in der Information und Weitergabe von Materialien für die Bereiche Prävention, Beratung, Therapie und Nachsorge. Im Rahmen seiner satzungsmäßigen Aufgaben als Interessenvertretung ambulanter Behandlungsstellen nimmt der VABS auch öffentlich Stellung zu aktuellen Themen in Zusammenhang mit Beratung und Therapie Suchtkranker/Drogenabhängiger und läßt Gutachten zu Rechtsfragen erstellen, die damit in Zusammenhang stehen. Die Arbeit des VABS wird finanziert aus Mitgliedsbeiträgen und Zuwendungen über die -»Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS). Zudem führt der

VABS Tagungen zu ausgesuchten Schwerpunktthemen durch und bietet Seminare und Arbeitsgruppen sowie Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches zu verschiedenen Arbeitsbereichen und inhaltlichen Schwerpunkten an, an denen auch Mitarbeiterinnen teilnehmen können, die nicht dem VABS angehören. Anschrift: Karlstraße 40, 79104 Freiburg, Tel.: 0761/200-363, Fax: 0761/ 200350. Verelendung -•Armut; 'Wohnungslosigkeit Verfügbarkeit Bei der Genese von Suchterkrankungen spielt die Verfügbarkeit von Substanzen als Risikofaktor eine wesentliche Rolle: je verfügbarer eine Substanz mit Suchtpotential ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie auch konsumiert wird und Menschen davon seelisch und/ oder körperlich abhängig werden. Grenzen der V. werden durch gesetzliche Maßnahmen, wie dem Jugendschutzgesetz (Altersprohibition bei Alkohol und Tabak), dem -•Arzneimittelgesetz (frei verkäufliche und rezeptpflichtige Medikamente) und dem -»-Betäubungsmittelgesetz (verbotener Substanzgebrauch) gesetzt. Innerhalb der -»Prävention spielen Standfestigkeitstraining und Programme zur Förderung der Lebenskompetenzen eine große Rolle, damit Menschen die persönlichen und sozialen Fähigkeiten entwickeln, die ihnen Möglichkeiten eröffnen, trotz der Verfügbarkeit oder -»Griffnähe, sich in konkreten Situationen für oder gegen den Konsum zu entscheiden und die Verantwortung der sich daraus entwickelnden Folgen zu tragen. Verhaltenstherapie 1. Allgemeine Merkmale der V. Die V. hat ihren Ursprung in der Lernforschung, deren Ergebnisse Ärzte und 633

Verhaltenstherapie Psychologen auf Störungen im menschlichen Erleben und Verhalten anwendeten. In Deutschland gewann sie erst Anfang der siebziger Jahre nennenswert an Bedeutung. Heute ist ihre theoretische Basis breiter als der frühere Behaviorismus. Sie bezieht die empirisch fundierten Grundlagen aller Humanwissenschaften ein. Ihre Verfahren sind störungsspezifisch und häufig bis in Details manualisiert. Die konkrete individuelle Therapie liegt jedoch nicht mit der kategorialen Diagnose fest, sondern sie wird in jedem Einzelfall den spezifischen Bedingungen der Person und ihrer Umwelt angepaßt. Das Leiden oder die Störung wird also unter funktionalen Aspekten analysiert, inwieweit biologische, situative und kognitiv-emotionale Vorgänge auslösend, verstärkend oder modifizierend an dem Geschehen beteiligt sind. Die Ziele der Therapie werden gemeinsam mit dem Patienten und gegebenenfalls anderen Beteiligten geklärt und bestimmt. Im Sinne eines Problemlösungsprozesses werden dann geeignete Maßnahmen zur Verringerung des Unterschiedes zwischen Ausgangs- und Zielzustand gesucht. Die V. geht davon aus, daß therapeutische Gespräche allein nur wenig Änderungen im Erleben und Verhalten des Patienten bewirken. Kognitive Strukturen können dadurch zwar beeinflußt werden, aber relevanter sind konkrete Erfahrungen beziehungsweise sinnesspezifisch - lebhafte Vorstellungen. Maßnahmen der Motivierung zum Kontakt, zur Selbstbeobachtung und -reflexion, zum Handeln und zur Beibehaltung der Veränderung wird große Bedeutung beigemessen. Der Motivationsprozeß ist also nicht der Therapie vorangestellt, sondern verläuft als dynamisches Geschehen während der gesamten Behandlung weiter. Das Persönlichkeitsmodell der V. ist interaktionistisch. Verhalten ist danach reziprok determiniert, d. h. es wird einerseits von Personund Umweltfaktoren gesteuert, andererseits wirkt es aber auch aktiv auf diese ein. Deshalb bezieht die V. Personen und 634

Verhaltenstherapie Bedingungen der Umgebung des Patienten in die Planung und Durchführung der Therapie regelmäßig ein, insbesondere Familie, Freunde, Arbeit, Wohnung, Finanzen und Freizeit. 2. Entwicklung der V. im Suchtbereich. Bereits in den zwanziger und danach in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Arbeiten von Pawlow und Skinner für die Behandlung des Alkoholismus ausgewertet. Besonders das bis in die jüngste Zeit in Rußland als Standardtherapie übliche aversive Konditionieren von Alkohol mit chemisch hervorgerufenem Erbrechen hat das Bild der V. in der Öffentlichkeit lange Zeit negativ geprägt. Auch in vielen zeitgenössischen Lehrbüchern zur Sucht werden diese frühen Anfänge der V. noch immer unverhältnismäßig breit dargestellt. So wurde die bei uns am seltensten praktizierte Therapiemethode der V. zur am häufigsten erwähnten. Theoretische, empirische und ethische Gründe sprechen aber eindeutig für einen sehr begrenzten Indikationsbereich dieses Verfahrens. In dieser überholten Form haftete der V. der Ruf an, dogmatisch, technizistisch und oberflächlich zu sein. Tatsächlich ist die V. bestrebt, zur Messung des Erfolges beobachtbare und meßbare Kriterien zu verwenden, störungsspezifische Behandlungstechniken zu entwickeln, deren Anwendung weitgehend unabhängig von den Merkmalen des jeweiligen Therapeuten ist, und aus wissenschaftstheoretischen Gründen bei der Theoriebildung sparsam mit empirisch wenig abgesicherten Hypothesen umzugehen. In der Praxis und Forschung zeigt sich aber, daß bei strenger Einhaltung dieser Prinzipien die Grenzen zu eng gesteckt sind, so daß der Begriff des Verhaltens immer mehr ausgeweitet wurde und schließlich kognitive, emotionale und physiologische Prozesse umfaßte. Kanfer (1989) stellt als wichtigste theoretische Entwicklungsschritte in den Vordergrund:

Verhaltenstherapie

- von einem statischen, linearen Modell hin zu einem umfassenden Systemansatz, der biologische, psychologische und Umweltfaktoren einbezieht; - von einem einfachen Modell des Lernens hin zu einem umfassenden psychologischen Prozeßmodell; - von breiten, unikausalen Theorien hin zu multifaktoriellen Minitheorien. Als sich daraus ergebende praktische Konsequenzen, die auch im Bereich der Suchttherapie von entscheidender Bedeutung waren, nennt er: - die aktivere Teilnahme des Patienten; - die Integration kognitiver, physiologischer und emotionaler Prozesse; - die kognitiv geprägten Therapiemethoden und -Strategien; - die Betonung der Therapiemotivation und der Beziehung zum Therapeuten; - den Problemlöse- und Entscheidungsfindungsansatz bei der Diagnose und in der Therapie (anstelle ausschließlicher Symptombeseitigung); - die Betonung und Förderung der Selbstregulationsfähigkeiten des Patienten; - eine verhaltensmedizinische Perspektive, insbesondere auch bei den chronischen Erkrankungen; - fachübergreifende Forschungs- und Behandlungsansätze: v. a. Sozialarbeit, Psychologie, Medizin, Soziologie, Biologie. Therapiekonzepte mit diesen Merkmalen wurden auch in Deutschland für Alkohol- und Drogenabhängige bereits Ende der 70er Jahre ausgearbeitet (s. Vollmer & Kraemer 1982 und Schneider 1982). Den aktuellen Stand dieser Entwicklung geben am besten die Veröffentlichungen von Beck et al. (1997) und Petry (1993) wieder. In dieser Form hat die V. heute eine weite Verbreitung und Anerkennung gefunden. Sie ist im Psychotherapeutengesetz verankert und im Bereich der Suchtkrankenversorgung einer der anerkannten Weiterbildungsgänge, z.B. zum Sozialtherapeuten. Ihre Zielorientierung mit definierten Erfolgskriterien, deren

Verhaltenstherapie

Erreichen geprüft und dokumentiert wird, ihre wissenschaftliche Bestätigung durch universitäre Forschung und ihre pragmatische Grundhaltung, die es vielen Berufsgruppen ermöglicht, die Verfahren in ihre Alltagspraxis zu integrieren, waren wesentliche Grundlagen für ihren Erfolg. 3. Störungsverständnis von Sucht. Von ihrem wissenschaftlichen Anspruch her betrachtet die V. unbewiesene, aber gängige Lehrmeinungen als Mythos oder Dogma. So geschah es auch mit den Konzepten -•„Kontrollverlust", „Notwendigkeit der -»Abstinenz" und -•„Krankheit". Exzessives Trinken war für die V. zunächst gelernt wie jedes andere Verhalten und sie versuchte zu zeigen, daß das einfache medizinische Krankheitsmodell wissenschaftlich wenn auch nicht sozialpolitisch - auf schwachen Füßen stand. Zahlreiche Experimente zeigten denn auch, daß es sich bei der Veränderung der Selbstkontrollfähigkeit in Bezug auf den Drogenkonsum um einen sehr differenzierten Prozeß handelt, der nicht ausschließlich biologisch begründet und auch nicht für alle Drogen gleich ist. In der Folge wurden Therapieversuche mit dem Ziel des „kontrollierten Trinkens" in den USA (Sobell & Sobell 1973) und auch in Deutschland (Vollmer & Kraemer 1982) durchgeführt, deren Ergebnisse teils sehr kontrovers diskutiert wurden (s. Sobell & Sobell 1984). Aufgrund dieser Erfahrungen und der Ergebnisse der biologischen Forschung aus den letzten Jahren hat sich in der V. aber doch die Abstinenz als stabilstes und deshalb erstrebenswertes Ziel bei Abhängigkeit etabliert. Bei Mißbrauch, aber auch generell zur Erleichterung des Einstiegs in eine Suchttherapie, sollte zieloffen gearbeitet werden. Nicht das Idealziel „Abstinenz" ist für die einzelne Therapie handlungsbestimmend, sondern das individuelle, realistisch erreichbare Zwischenziel. Die Abhängigkeit von den meisten 635

Verhaltenstherapie -•psychoaktiven Substanzen ist im Gesundheitsversorgungssystem als Krankheit anerkannt. Sie zeigt alle Merkmale einer chronischen Krankheit: sie beginnt schleichend und unmerklich; sie beeinträchtigt die Ausübung sozialer A u f g a ben und Rollen; sie dauert unbegrenzt fort; das Therapieziel ist nicht Heilung i.e.S., sondern Nutzung und Erweiterung der Ressourcen für ein subjektiv zufriedenstellendes Leben; die Behandlungsergebnisse bilden sich erst langsam heraus und sie sind oft subjektiv kaum bemerkbar; die aktive Mitarbeit ist nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar für den Behandlungserfolg. Dementsprechend ist das Therapiekonzept zu gestalten: Aufmerksamkeitslenkung und Hilfen zur Selbstdiagnose; soziale Kompetenz und neue Routinen in der Ausgestaltung der bisherigen sozialen Rollen; Trauerarbeit beim Abschied von angenehmen Seiten der Störung und bei dem Sich-abfinden mit dem Unabänderlichen; euthyme Therapiemethoden und Erweiterung der Verhaltens- und Erlebensmöglichkeiten; individuell verschieden starke Unterstützung und Beschützung im Verlauf des Änderungsprozesses, solange die Motivation oder Kompetenz zur Beibehaltung der Abstinenz noch nicht tragfähig ist. Diese Konzeptualisierung verdeutlicht, daß die konkrete Ausgestaltung der Therapie bei jungen straffälligen Alkoholikern oder bei HIV-infizierten Drogenabhängigen ohne Berufsausbildung sehr viel anders aussehen m u ß als bei körperlich gesunden Alkoholikern mittleren Alters, die über einen befriedigenden Beruf, eine eigene Familie und Wohneigentum verfügen. Ohnehin sind die Erscheinungsformen der Störung, ihre Entstehungsbedingungen und ihre Verläufe interindividuell sehr verschieden, oft auch noch mit anderen Störungen verwoben. Das Ausm a ß der Determination durch Genetik, Stoffwechsel, Temperament, soziale Umgebung, erworbene Kompetenzen, kognitive Schemata und emotionale 636

Verhaltenstherapie Grundmuster ist zur Zeit noch nicht eindeutig differenzierbar. Die sozialkognitive Lerntheorie bezieht aber alle diese Aspekte mit ein. Darauf aufbauende Therapien können deshalb keine einfachen symptomorientierten Behandlungen sein. Das lerntheoretische Kernproblem bei der Befreiung von Süchten liegt in der Selbstkontrolle. Im Sinne des Modells von Kanfer heißt dies: Man muß auf kurzfristig Attraktives wegen langfristiger Nachteile verzichten und momentan negative Zustände aushalten, weil es sich langfristig günstig auswirkt. Alle therapeutischen Anstrengungen haben letztendlich das Ziel, diese Art von Konfliktlösungsfähigkeit in Bezug auf den Drogenkonsum zu verbessern. Und es braucht keinen Fachmann, um zu erkennen, daß - Personen mit allgemeinen Schwierigkeiten bei der Steuerung ihrer emotionalen Impulse sich damit schwerer tun als andere, - eine soziale Umgebung, die Selbstkontrolle als Wert an sich und insbesondere in Bezug auf den Drogenkonsum schätzt, nötig ist, - Sinnfragen („Wozu soll ich das tun") und Werte eine große Rolle dabei spielen. Zu diesen Werten zählen vor allem gute Beziehungen, die eigene Gesundheit, ein sicherer Arbeitsplatz, familiäre Bindung, Selbstachtung und alle Tugenden, die persönlich als wichtig erachtet werden. Diese Werte müssen in der Wahrnehmung des Betroffenen durch Abstinenz erreicht und bewahrt beziehungsweise durch Drogenkonsum gefährdet werden. Das Ausmaß der notwendigen Fremdkontrolle und des sinnvollen Schutzes gegen äußere Einflüsse ist von dem Vorhandensein dieser Faktoren abhängig. Das ideale Endziel bleibt für die V. aber die Selbststeuerung. Die wohl wichtigsten Beiträge zum Störungsverständnis der Sucht verdankt die V. in den letzten Jahren

Verhaltenstherapie a) den Arbeiten der Gruppe um Marlatt zum Themenkomplex -»Rückfall, b) Prochaska & Di Clemente mit ihrem transtheoretischen Modell v o m Prozeß der Befreiung von Süchten und c ) d e r biologisch orientierten Neurotransmitterforschung (-»-Neurobiologie). Die Variante der modernen Verhaltenstherapie, die diese Konzepte teilweise vorwegnahm und integrierte, ist die Selbstmanagementtherapie von Kanfer (Kanfer et al. 1996). 4. Diagnostik. Die V. hat stets eine operationalisierte, d . h . eine auf der Handlungsebene formulierte Diagnostik bevorzugt. Die neuen Diagnostiksysteme des ICD-10 und D S M - I V zur klassifikatorischen Zuordnung von Mißbrauch und Abhängigkeit sind deshalb begrüßt worden. Für die Therapieplanung sind diese und andere Screening-Instrumente aber nicht brauchbar. Und auch mehrdimensionale Fragebögen wie der TAI (Funke et al. 1987) oder das IDTS A (Lindenmeyer & Florin 1998) sind nur bedingt hilfreich, solange sie eine Zuweisung zu verschiedenen Behandlungsarten nur intuitiv oder nach klinischer Erfahrung erlauben. Das entscheidende diagnostische Instrument der V. ist die Verhaltensanalyse. In ihr werden Entstehung und Beschaffenheit des zu ändernden Verhaltens mitsamt aller möglichen Einflußfaktoren individuell erfaßt. Diagnostik und Therapie sind dabei nicht voneinander zu trennen. Die Aktivierung der Selbstaufmerksamkeit und der Selbstdiagnose sind ja wichtige Elemente im Behandlungsmodell der V. Gruppentherapeutische Verfahren von Petry (1995), der FFA von Schneider (1982) und die Materialien von Lindenmeyer (1996) wurden auf der Grundlage dieses Diagnostikverständnisses entwickelt. Die moderne Verhaltensanalyse (siehe Bartling et al. 1992) schließt systemtheoretische Fragestellungen zur beziehungsregulierenden Funktion des Drogengebrauchs,

Verhaltenstherapie zu den Folgen der Abstinenz und zu kognitiven Schemata, die unbewußt Risikosituation herbeiführen, mit ein (siehe dazu Beck et al. 1997). 5. Therapeutische Verfahren. Das Spektrum der zur Anwendung kommenden Maßnahmen ist breit gefächert. Es reicht von kognitiven Verfahren, die ursprünglich in der Therapie von Depressionen entwickelt wurden (Beck et al. 1997), über pädagogische Informationsvermittlung bis hin zur Verhaltensmedizin von körperlichen Krankheiten. Außer zu Forschungszwecken kommt heute aber nur selten ein einzelnes verhaltenstherapeutisches Verfahren isoliert zur Anwendung, obwohl die Minimalintervention ein wesentliches Prinzip der V. ist. Zwei Behandlungsschwerpunkte haben sich in der jüngeren V. herausgebildet: Motivierung und Rückfallprävention. D e m auf Miller zurückgehenden Konzept des motivationalen Interviews (Miller und Rollnick 1991) ( ^ M o t i v a tional Interviewing) ist in diesem Lexikon ein gesonderter Beitrag gewidmet, ebenso dem -»Rückfall, dessen verhaltenstherapeutische Behandlung am stärksten von Marlatt (Marlatt und Gordon 1985) beeinflußt wurde. Innerhalb des weiten Spektrums von Methoden ist die Wirksamkeit einiger Verfahren besonders gut nachgewiesen. Miller et al. (1995) zählen dazu die Kurzintervention, soziales Kompetenztraining, Motivationstherapie, P r o g r a m m e mit Einbeziehung der sozialen Umgebung, kognitive Therapie, Kontraktmanagement, Selbsthilfemanuale und in geringerem Maße Aversionstherapie. Außerdem gilt die Wirksamkeit der klientenzentrierten Therapie und der Partner- und Familientherapie als nachgewiesen. In der Meta-Analyse von Holder et al. (1991) wird außerdem noch das Selbstkontrolltraining als gut bestätigt gewertet. Solche Ergebnisse können zwar nicht einfach auf deutsche Verhältnisse übertragen werden, da unser Versorgungs637

Verhaltenstherapie system sich vom amerikanischen erheblich unterscheidet, aber auch deutsche Meta-Analysen zeigen in Bezug auf die V. ähnliche Ergebnisse (Süß 1995). Die heutige V. der Sucht besteht in individueller Gewichtung aus derartigen Elementen, die man als Breitbandtherapie bezeichnet, wenn es sich um viele Bausteine handelt. Ein gutes Beispiel für die ambulante Praxis der V. bei Alkoholabhängigkeit gibt Arend (1994). In der Praxis der stationären Behandlung kommen noch Teile der körper- und handlungsorientierten Therapien hinzu. In der Therapie mit rückfälligen Alkoholabhängigen hat sich in den letzten Jahren die Methode der Exposition in vivo besonders bewährt (Lindenmeyer 1995), bei der neben der Löschung der emotionalen Bedeutsamkeit der Auslöser auch neue Bewältigungsstrategien vermittelt werden. 6. Ausblick. Viele Fachleute betrachten die V. als gute Ausgangsbasis für die Entwicklung einer Allgemeinen oder Psychologischen Psychotherapie im Sinne von Grawe (1998). Manche befürchten jedoch, daß sie auf diesem Wege manche ihrer Stärken einbüßen könnte, die - auch im Gebiet der Suchtbehandlung - so gut dokumentiert sind. In der Praxis findet der Eklektizismus aber ohnehin statt, so daß eine wissenschaftlich bessere Untermauerung und verbindende Theorienbildung langfristig wohl allgemein begrüßt wird. In Deutschland ist der Bereich der Frühintervention (Veltrup 1995) und der Therapie von Problemtrinkern noch wenig entwickelt. Die V. verfügt hier über geeignete Konzepte, die in Forschung und Praxis aber weiter ausgeformt werden müßten. Auf Grund der zunehmenden biologischen Forschung ist zu erwarten, daß die Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie auch im Suchtbereich, in d e m der Einsatz von Medikamenten oftmals ideologisch vorbelastet ist, verstärkt thematisiert werden wird. Die V. 638

Verhaltenstherapie hat in anderen Indikationsbereichen in der Vergangenheit schon gute Ergebnisse mit kombinierten Behandlungen gemacht. Eine wissenschaftlich nachgewiesene Überlegenheit des Verfahrens ohne langfristige schädliche Nebenwirkung ist - wie in der V. üblich - Voraussetzung f ü r den Praxiseinsatz. -»Humanistische Psychologie; •Psychoanalyse; -•Psychotherapie. Lit.: Arend, H., Alkoholismus - Therapie und Rückfallprophylaxe, Weinheim 1994; Beck, Α. T„ Wright, F. D „ N e w m a n , F., Liese, B. S., Kognitive Therapie der Sucht, Weinheim 1997; Bartling, G., Echelmeyer, L., Engberding, M., Krause, R., Problemanalyse im therapeutischen Prozeß, Stuttgart 1992; Funke, W„ Funke, J., Klein, M., Scheller, R., Trierer Alkoholismusinventar TAI, Göttingen 1987; Grawe, K „ Psychologische Therapie, Göttingen 1998; Holder, H „ Longabaugh, R„ Miller, W. R., Rubonis, Α. V., The Cost Effectiveness of Treatment for Alcoholism: A First Approximation, in: Journal of Studies on Alcohol (1991) 52, 5 1 7 - 5 4 0 ; Kanfer, F. H., Basiskonzepte in der Verhaltenstherapie: Veränderungen während der letzten 30 Jahre, in: Hand, I. und Wittchen, H. U. (Hrsg.), Verhaltenstherapie in der Medizin, Berlin 1989, 1 13; Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D., Selbstmanagement-Therapie, Berlin 1996; Lindenmeyer, J., Führe Dich in Versuchung . . . Neue Wege der Rückfallbehandlung, in: Suchtreport (1995) 1, 38^13; Lindenmeyer, J„ Lieber schlau als blau, Weinheim 1996; Lindenmeyer, J. und Florin, I., Testgütekriterien einer deutschen Version des Inventory of Drug Taking Situations für Alkoholabhängige (IDTSA), in: Verhaltenstherapie 8 (1998), 1-11; Marlatt, G . A . und Gordon, J . R . (Eds.), Relapse Prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviours, New York 1985; Miller, W . R . und Rollnick, S. (Eds.), Motivational interviewing: Preparing people to change addic-

Verlage

Vulnerabilität

tive behaviours, New York 1991; Miller, W.R., Westerberg, V.S. Waldron, H.B., Evaluating alcohol problems in adults and adolescents, in: Hester, R.K. und Miller, W.R. (Eds.), Handbook of Alcoholism Treatment Approaches, Boston 1995, 61-88; Petry, J., Alkoholismustherapie, Weinheim 1993; Schneider, R:, Stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen, München 1982; Sobell, M.B. und Sobell, L.C., Individualized behaviour therapy for alcoholics, Behaviour Therapy (1973) 4, 4 9 72; Sobell, M . B . und Sobell, L.C., The aftermath of heresy: A response to Pendery et al.'s (1982) critique of „individualized behaviour therapy for alcoholics", Behaviour Research and Therapy (1984) 22, 413-440; Süß, H.-M., Zur Wirksamkeit der Therapie bei Alkoholabhängigen: Ergebnisse einer MetaAnalyse, in: Psychol. Rdsch. (1995) 46, 248-266; Veltrup, C., Strukturierte Motivationstherapie bei Alkoholabhängigen: das Lübecker Behandlungsmodell, in: Fleischmann, H. und Klein, H. (Hrsg.), Behandlungsmotivation - Motivationsbehandlung. Suchtkranke im Psychiatrischen Krankenhaus, Freiburg 1995, 2 9 ^ 2 ; Vollmer, H„ Kraemer, S„ Ambulante Behandlung junger Alkoholabhängiger, München 1992; Watzl, H., Überlegungen zur Verhaltenstherapie der Alkoholabhängigkeit - Vorurteile, Probleme, Lösungsversuche, in: Verhaltenstherapie (1991), 301-306; Ralf Schneider, Friedrichsdorf Verlage Fachverlage: - Blaukreuz-Verlag, 42289 Wuppertal, Freiligrathstraße 27

- Hoheneck-Verlag, 59071 Hamm, Ostenallee 80 - Lambertus-Verlag, 79104 Freiburg, Wölflinstraße 4 - Neuland-Verlag, 21502 Geesthacht, Markt 2 4 - 2 6 - Nicol-Verlag, 34117 Kassel, KurtSchumacher-Straße 2 - Synanon-Verlag, 10963, Berlin, Bernburgerstraße 10 Verschreibungspflicht Alle in Deutschland nicht frei verkäuflichen Medikamente unterliegen der Verschreibungspflicht durch Ärzte, was im Arzneimittelgesetz geregelt ist. Einer besonderen Verschreibungspflicht unterliegen substitutive Mittel (-»Methadon, Polamidon), die nur von bestimmten Ärzten unter Einhaltung bestimmter Formalien verschrieben werden dürfen (^Substitution). -•Betäubungsmittelgesetz Versorgung -•Suchtkrankenhilfe Vulnerabilität V. läßt sich am besten mit Verwundbarkeit, Anfälligkeit, Verletzlichkeit übersetzen. Das Konzept der V. meint, daß bestimmte genetische, organische, biochemische, psychische und soziale Faktoren (Disposition) die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Erkrankungen erhöhen. Ausgehend von der Life-event-Forschung (-»-Krise) wurde festgestellt, daß bei vergleichbaren Bedingungen Individuen auf ähnliche Belastungen sehr unterschiedlich reagieren, was zum einen sicher mit dem dafür erlernten Verhalten zu tun hat und andererseits aber auch durch die je individuelle Disposition bestimmt ist. -»Genese; •Gesundheitswissenschaften

639

Wahrnehmung

Wahrnehmung

w Wahrnehmung W. oder Perzeption ist ein komplexer psychologisch-physiologischer Prozeß, über den Menschen über spezielle Sinnesorgane (wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Gleichgewichtssinn, Schmerzsinn) die diversen Reize und Reizmuster der inneren und vor allem der äußeren U m w e l t ordnen, organisieren und interpretieren. Bedeutsam für die Suchtmittelthematik sind Untersuchungen, die die Beziehungen zwischen den „objektiven" Merkmalen des wahrgenommenen Reizes

W a h r n e h m u n g durch Reizleitung Reizgegenstand

I Reizaufnahme (über den Rezeptor)



Weiterleitung (über afferente N e r v e n b a h n e n )

Speicherung (wichtiger Informationen)

I Vergleich (mit bereits gespeicherten Informationen)

I Koordination - (mit Informationen aus gleichen oder anderen Wahrnehmungsbereichen)

Reagieren (in der Regel über Bewegung)

640

Herausfiltern (unwichtiger Informationen)

und den die W. begründenden physiologischen und psychologischen Prozessen zum Gegenstand haben (->Persönlichkeit und Suchtverhalten, -•Psychologische Konzepte). Desweiteren ist der Einfluß der W. auf das Verhalten und auf die psychologischen und erlebnismäßigen Prozesse bedeutsam. Suchtmittel führen, abhängig u.a. von der Dosis, dem Verlauf des Suchtprozesses und von der Konsumsituation, zu einer Veränderung der W., der Realitätsdeutungen, des Erlebens und des Verhaltens. Neben der Entwicklung einer körperlichen Abhängigkeit spielt bei einer Gesamtbetrachtung süchtigen Verhaltens, einschließlich der •stoffungebundenen Süchte, der Aspekt der Suche - nach den als lustvoll und selbstwertsteigernd wahrgenommenen Erlebnissen des Drogenkonsums bzw. bestimmter Tätigkeiten - eine herausragende Rolle. Dabei ist auch die Situation des Drogenkonsums, oder von Verhaltensweisen, die den stoffgebundenen Süchten zuzurechnen sind, zu beachten. Aus diversen Untersuchungen ist bekannt, daß Alkohol- oder Haschischkonsum in Laborversuchen vielfach eine euphorische Stimmung nicht a u f k o m m e n läßt. Im Verlauf von Suchtkarrieren ist es sicher so, daß sich auch weniger angenehme W. zu den lustvollen und selbstwertsteigernden gesellen, die vielleicht auch Anlaß werden, sich von der Droge zu befreien. Für die Therapie ist es dann allerdings wichtig, individuell gezielt, Kompensationen für den Verlust der positiven W. durch die Droge bzw. durch Verhaltensweisen zu finden. U m Konsumenten von Suchtmitteln zu verstehen reicht es bei weitem nicht aus, moralisierend ihr Verhalten und ihren Konsum zu beurteilen, sondern man m u ß sich auf die mit dem Konsum und ihrer >Lebenswelt verbundene Wahrnehmung einlassen. Je nach Suchtmittel sind die Wahrnehmungen sehr unter-

Werbung

Weckamine schiedlich, sie bergen aber auch eine Gemeinsamkeit: Abhängig von der konsumierten Dosis führen sie alle zu einer Veränderung der Wahrnehmung und der Realität. Unstrittig ist jedoch, daß bei jeglichem Suchtmittelkonsum die veränderte Wahrnehmung und damit auch die Realität erst einmal mit Lust besetzt ist und nach den Beschreibungen von Konsumenten (-»Drogen in der Literatur) ungekannte Aktivitäts- und Kreativpotentiale freisetzen, die es ohne den Konsum nicht gegeben hätte. Erst im Laufe des weiteren Konsums treten die Probleme auf, die den Konsum als so wichtiges gesellschaftspolitisches Thema ausmachen: Abhängigkeit, komplementäre Krankheiten, Finanzprobleme, Verelendung ect. Für therapeutische Bemühungen heißt das, zu versuchen, den Konsumenten eine andere •Lehenswelt anzubieten, die automatisch mit dem Verzicht dieser völlig anderen Wahrnehmungserfahrungen einher geht. Aus autobiographischen Zeugnissen von Konsumenten geht hervor, daß jeglicher weiterer Konsum eigentlich nur aus zwei Motivationen resultiert: Zum einen aus der Abhängigkeit und zum anderen aus der Suche nach der Wiederholung der anfänglich sehr angenehmen Erfahrungen und Erlebnissen, die bei richtiger Dosierung nach den ersten Konsumversuchen eingetreten sind. Die Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung spielt deshalb eine große Rolle, weil diese anfänglich angenehmen Erfahrungen durch nichts vergleichbares kompensiert werden können. -»Neurobiologie Weckamine W. bilden eine Untergruppe der Amphetamine und gehören zu den Stimulanzien. Aufgrund ihrer spezifischen Wirkung werden sie auch als -»Psychostimulanzien bezeichnet. Weiche Drogen -»Drogenabhängigkeit; -»Drogenpolitik

Weicher Entzug W.E. bezeichnet einen „ausschleichenden" Suchtmittelentzug, meist mit medikamentöser Hilfe. -»Entzug; -»Kalter Entzug; -»Körperliche Entgiftung; -»Qualifizierte Entgiftung Weiterbildung -»Fort- und Weiterbildung Weltgesundheitsorganisation (WHO) Die internationale Sonderorganisation der Vereinten Nationen wurde 1946 mit dem Hauptsitz in Genf gegründet. Im ersten Artikel der 1948 in Kraft getretenen Statuten wird das Hauptziel der W H O „in der Schaffung eines Höchstmaßes an Gesundheit für alle Völker" benannt. Der Begriff der Gesundheit wird hier weit gefaßt und schließt körperliche, geistige und soziale Aspekte ein. Die zentrale Aufgabe der W H O liegt in der Förderung der internationalen Zusammenarbeit, der Beratung und der technischen Hilfe in den unterschiedlichen Gesundheitsbereichen. Die W H O spielt in der Suchtkrankenhilfe eine wesentliche Rolle bei der Vereinheitlichung des Diagnosemanuals -»ICD 10, das einen epidemiologischen Ländervergleich der Abhängigkeitserkrankungen ermöglicht, in der -»Gesundheitsförderung und der -»Prävention. »Gesundheitswissenschaft; -»Ottawa-Charta Werbung Als W. kann die zwangfreie und planvolle Beeinflussung von Unternehmen bezeichnet werden, eine bestimmte Zielgruppe für ein bestimmtes Werbeziel zu gewinnen. In der Regel ist damit die Intention verbunden, den Absatz bestimmter Produkte zu erhöhen. Im Zeitalter der Massenkommunikationsmittel benötigen Menschen aufgrund der komplexen Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge der W. ein hohes Maß an Kompetenzen, sich der Einflüsse der W. zu entziehen. Dennoch sollte der Einfluß der W. bei Konsumbeginn nicht überschätzt werden: W. ist ein Risikofaktor (-»Genese), der erst im Zusammenhang mit an641

Wohlstandsalkoholismus deren Faktoren eine mögliche Wirkung entfaltet. Untersuchungen haben gezeigt, das die W. eher ein Faktor für die Entscheidung für ein bestimmtes Produkt ist (also eine bestimmte Marke), weil die W. für dieses Produkt mit der Bedürfnislage des potentiellen Konsumenten übereinstimmt. Geheime Wünsche nach Geborgenheit, Männlichkeit, Charme oder Zugehörigkeit sollen mit d e m Konsum befriedigt, Minderwertigkeits- oder Angstgefühle kompensiert werden. Der W. für Alkohol, Medikamente und Tabak sind durch Werbebeschränkungen gesetzliche Grenzen gesetzt, die W. für illegale Drogen (BtM) ist überhaupt verboten und strafbar. Für die Tabakwerbung ist europaweit eine Vereinheitlichung geplant, die ein generelles Werbeverbot, das Verbot der Gratisverteilung von Tabakwaren und das Verbot der Nutzung von Tabak-Handelsnamen zur Werbung in anderen Marktbereichen vorsieht. Wohlstandsalkoholismus W. ist ein Schlagwort für die Z u n a h m e des Alkoholkonsums aufgrund des Wohlstands einer Gesellschaft (im Gegensatz zu •Elendsalkoholismus). Neben der -»-Griffnähe zählen auch die finanziellen Ressourcen einer Gesellschaft (oder einzelner Gruppen) eine Rolle, besonders in Hinblick auf den Konsum teurer Alkoholika. Wohnungslosigkeit Das soziale Phänomen der Wohnungslosigkeit ist nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in den Industrienationen anzutreffen: es beschreibt das Fehlen, den Verlust und selten die Ablehnung einer eigenen Wohnung. Aus einem komplizierten Ursachenbündel, bei dem sich biografische (wie Trennung oder Scheidung), soziale (Arbeitsplatzverlust und Armut) und krankheitsbezogene (Alkoholproblematik, Entwicklung einer -»Psychose, Ablehnung einer psychiatrischen Behandlung) Faktoren zu einem komplexen Hintergrund verschränken.

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Wohnungslosigkeit Die Gesamtzahl wohnungsloser Menschen in Deutschland ist nicht bekannt, Schätzungen gehen von etwa 0,2% in der Gesamtbevölkerung oder ca. 9 2 0 0 0 0 Menschen aus. Wohnungslose alleinstehende Männer bilden die Kerngruppe, etwa 1 5 - 2 5 % der Wohnungslosen in großstädtischen Ballungsräumen sind Frauen. Die -»Prävalenz psychischer Erkrankungen unter alleinstehenden Wohnungslosen ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung um ein Vielfaches erhöht. In einer Studie von Fichter litten in einer Sechs-Monats-Prävalenzrate 81 % der wohnungslosen Männer an einer psychischen Störung, am häufigsten (71%) war der Mißbrauch und die Abhängigkeit von Alkohol. Der Anteil mit •Drogenabhängigkeit wird unter Wohnungslosen auf 1 5 - 2 7 % geschätzt. In einer Untersuchung von Reker und Eikelmann (1997) lag die Rate der Alkoholabhängigen bei 64%, die häufig durch internistische und neurologische Folgekrankheiten kompliziert wurde. Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe bieten Hilfen nach § 11 und § 72 des Bundessozialhilfegesetzes an, Ambulante und stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe nach den §§ 39, 40 B S H G . Nur innerhalb eines regionalen Behandlungsverbundes und mit realistischen Zielvorstellungen (Motivation zur Integration nicht an der Bereitschaft zur Abstinenz messen) können in Kooperation unterschiedlicher Berufsgruppen (niedergelassene Ärzte, Sozialpsychiatrische Dienste, Suchtkrankenhilfe, Wohnungslosenhilfe usw.) k o m m u n a l e Konzepte zur Verbesserung entwickelt und umgesetzt werden. Hier ist die Kooperation z.Z. vielfach unbefriedigend und nicht aufeinander abgestimmt. Die Wohnungslosigkeit von Kindern und Jugendlichen (Straßenkinder) stellt ein gesondertes Problem dar. Der sozialen Desintegration folgt häufig Drogenmißbrauch und Prostitution. Hier haben sich Aufsuchende Arbeit und -»Streetwork mit dem Angebot von Übernachtungsstellen bewährt. Armut; •Chro-

Workaholic nisch mehrfachgeschädigte ker; '•Drogenabhängigkeit; Arbeit

Workaholic Alkoholi-»Soziale

Workaholic W. ist eine synonyme Bezeichnung für „Arbeitssüchtige". Arbeitssucht

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Xanthine

Xanthine X

Xanthine X. bilden eine -•Suchtstoffgruppe, bei der heute nur die Untergruppe der koffeinhaltigen Mischanalgetika eine Rolle spielen. Medikamentenabhängigkeit

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Zeugnisverweigerungsrecht (ZVR)

Zwangseinweisung Ζ

Zeugnisverweigerungsrecht (ZVR) Das Z V R bezeichnet das Recht, entgegen der allgemeinen Zeugnispflicht, die Aussage zu verweigern. Es ist in allen Verfahrens- bzw. Prozessordnungen rechtlich verankert. Dieses kann aufgrund persönlicher Beziehungen zu einem Prozessbeteiligten (Verwandtschaft, Heirat usw.) oder zur Wahrung des Berufsgeheimnisses, z.B. bei Ärzten, Geistlichen und Anwälten geschehen. D e m Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen steht das Z V R generell nicht zu, wenn man von sehr eng begrenzten Ausnahmen im Öffentlichen Dienst absieht (zur Wahrung des Sozialgeheimnisses, falls der Dienstherr keine Aussagegenehmigung erteilt).

Das Z V R gemäß den §§ 53 ff. der Strafprozessordnung ermöglicht seit 1992 allen Beratern die Z V „für Fragen der BtM-Abhängigkeit in einer Beratungsstelle, die eine Behörde oder eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt oder bei sich eingerichtet hat, über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist." Berater müssen im Sinne der Z V nicht speziell ausgebildet sein, sondern eine Tätigkeit innerhalb einer Beratungsstelle ausüben, als Beratungsstellen zählen nicht nur die Drogenberatungsstellen, sondern auch niedrigschwellige Angebote. Zwangseinweisung -•Unterbringung

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