Lebenssituationen älterer Menschen: Beschreibung und Prognose aus interdisziplinärer Sicht [1 ed.] 9783428487646, 9783428087648

Die Überalterung moderner Industriegesellschaften wird die künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität grund

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Lebenssituationen älterer Menschen: Beschreibung und Prognose aus interdisziplinärer Sicht [1 ed.]
 9783428487646, 9783428087648

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D. FARNY I P. LÜTKE.BORNEFELD I G. ZELLENBERG (Hrsg.)

Lebenssituationen älterer Menschen

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 32

Lebenssituationen älterer Menschen Beschreibung und Prognose aus interdisziplinärer Sicht

Herausgegeben von

Dieter Farny, Peter Lütke-Bornefeld und Gertrud Zellenberg

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CW-Einheitsaufnahme Lebenssituationen älterer Menschen : Beschreibung und Prognose aus interdisziplinärer Sicht / hrsg. von Dieter Famy ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Sozialwissenschaftliche Schriften ; H. 32) ISBN 3-428-08764-X NE: Famy, Dieter [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-08764-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort und Danksagung Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen des stetig wachsenden Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung sind Gegenstand kontroverser Diskussionen. Insbesondere hinsichtlich der zu erwartenden Konsequenzen für die Lebensumstände der Altengenerationen nach der Jahrtausendwende gehen die Meinungen auseinander. Zukünftige Gestaltungsspielräume hängen jedoch in erheblichem Maße von heute zu treffenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ab, weshalb unseres Erachtens großer Bedarf an zuverlässigen Informationen über die gegenwärtige Lage älterer Menschen in unserer Gesellschaft und über deren zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten besteht. Das Alter bzw. der Altemsprozeß findet sich zwar in den Forschungsplänen vieler wissenschaftlicher Disziplinen wieder, die Betrachtung bleibt jedoch meist auf einzelne, sehr spezifische Fragestellungen beschränkt. So tendieren z. B. manche Bereiche der Wirtschaftswissenschaften dazu, die Betrachtung des Alters auf Fragen des Konsums in dieser Lebensphase zu beschränken oder Bereiche der Medizin dazu, altersspezifische Erkrankungen lediglich unter kurativen Gesichtspunkten zu erforschen und Aspekte des weiteren Lebensumfeldes auszuklammern. Die komplexen Wechselwirkungen ökonomischer, soziologischer, medizinischer und psychologischer Einflußfaktoren, denen das Alter als eigenständige Lebensphase unterliegt, bleiben folglich weitgehend unbeachtet und Risiken - vor allem jedoch Chancen - unerkannt. Als Entscheidungsgrundlage rur eine gezielte Beeinflussung im Sinne einer Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation älterer Menschen sind diese Ergebnisse deshalb nur bedingt geeignet. In Anbetracht dieser Tatsache hat der Vorstand der Kölnischen Rück im Jahre 1991 beschlossen, diesen besonderen Problembereich im Rahmen eines eigenen, interdisziplinären Forschungsprojektes zu bearbeiten, um die integrative wissenschaftliche Perspektive zu fördern. Das erklärte Ziel war es dabei, die Erkenntnisse unterschiedlicher Forschungsrichtungen zu verbinden sowie auch bereits vorliegende Einzelstudien um eine ganzheitliche Darstellung der Sachlage zu ergänzen. Die Vielfalt der Wirkungsfaktoren, die auf die Lebensumstände älterer Menschen Einfluß nehmen, sollte dokumentiert wer-

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VOIWort und Danksagung

den. Weiter sollte neben reinem Fach- auch unmittelbar umsetzbares Handlungswissen aufgebaut und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Forschungstätigkeit ist nach nunmehr fast vier Jahren abgeschlossen und die Ergebnisse in dieser Schrift zusammengefaßt. Sie richtet sich sowohl an Fachleute aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik als auch an die grundsätzlich an Alters- und gesellschaftspolitischen Fragen interessierte Leserschaft. Das vorliegende Werk setzt sich aus einzelnen, eigenständigen, untereinander jedoch teilweise vernetzten Beiträgen zusammen. Die Autoren untersuchen darin die Wirkung unterschiedlicher Einflußgrößen auf die Stabilität der Lebenssituation älterer Menschen. Ihre Ergebnisse unterstreichen, daß der Lebensabschnitt des Alters nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern der Lebenszyklus vielmehr als Ganzes zu sehen ist. Nicht nur aktuelle Entschlüsse bestimmen folglich die Fähigkeit zur Bewältigung der neuen Herausforderungen im Alter, sondern auch die, die in bereits durchlaufenen Lebensphasen gefaßt wurden und bis heute nachwirken. Neben der wissenschaftlichen Grundlagenforschung auf ökonomischem, sozial psychologischem, soziologischem und medizinischem Gebiet wird auch Erhebungen zur gesellschaftlich-wirtschaftlichen Realität Raum gegeben. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die jeweils reale Ausprägung z. B. individueller Krisensituationen, des Angebotes an institutionellen Hilfen sowie privatwirtschaftlicher Initiative zu untersuchen. Integrative Perspektiven und Entwicklungspotentiale werden abschließend in einem gemeinschaftlich verfaßten Beitrag des die einzelnen Arbeiten koordinierenden wissenschaftlichen Beirates aufgezeigt. Die Endphase des Forschungsprojektes traf zeitlich - für uns nicht vorhersehbar - auf die Abschlußdebatten und nachfolgend auf die Einführung der Pflegeversicherung. Wir sind der Ansicht, daß unsere Ergebnisse bei gänzlicher Vernachlässigung dieses wichtigen Sachverhaltes unvollständig wären und haben deshalb bewußt den Versuch unternommen, einige wesentliche Aspekte dieses wichtigen Themas aufzugreifen und zu beleuchten. In diesem Sinne wurde der Inhalt des vorliegenden Bandes um drei Gastkommentare aus Lehre und Praxis ergänzt, in welchen die Autoren aus unterschiedlicher Perspektive zur Problematik und den möglichen Konsequenzen der Pflegeversicherung Stellung beziehen. Wir sind uns darüber im klaren, daß diese Kurzanalysen keine umfassende Sicht bieten können, meinen aber, daß die weitgehenden Konsequenzen der Pflegeversicherung für die Alters- und auch Erwerbsgeneration die gewählte Vorgangsweise rechtfertigen. Wir hoffen, daß die vorliegende Schrift dazu anregt, das Alter nicht auf einzelne Aspekte zu reduzieren, sondern ganzheitlich als Lebensabschnitt mit Risiken und Chancen zu begreifen. Sollte sie dadurch in weiterer Folge ein erhöhtes Verständnis für die Bedürfnisse älterer Menschen und damit einher-

Vorwort und Danksagung

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gehend eine Optimierung der Gestaltungsmöglichkeiten im Alter bewirken, so hat sie ihr Ziel erreicht. Es verbleibt uns nun, allen jenen, die uns bei der Realisierung unseres Forschungsvorhabens unterstützt haben, zu danken. An erster Stelle möchten wir hier dem wissenschaftlichen Beirat, dem neben dem Mitherausgeber Herrn Prof. Dr. Dieter Farny (Köln), Herr Professor Dr. Andreas Kruse (Greifswald), Herr Professor Dr. Winfried Schmähl (Bremen) und Frau Professor Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen (Berlin) angehörten, unseren Dank aussprechen. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz und ihr konsequentes Festhalten an der interdisziplinären Zielsetzung hätte dieses Forschungsvorhaben nicht verwirklicht werden können. Ebenso gilt unser Dank allen Autorinnen und Autoren als den Trägem dieser Veröffentlichung ftir ihr Engagement und Durchhaltevermögen; insbesondere jedoch ftir ihre Bereitschaft, durch aktive Beschäftigung mit "fachfremder" Materie und angeregte Diskussionen eine Brücke zwischen den Disziplinen zu schlagen. In bezug auf die Studie "Morbidität im Alter" danken wir auch ftir die freundliche Unterstützung und die hilfreichen Bemühungen der Mitglieder der Geschäftsftihrung der AOK Berlin (Herrn Schirmer) und der AOK Rheinland, der Regionaldirektion Oberberg in Gummersbach (Herrn Kowalski) sowie aller nicht namentlich genannter Mitarbeiter des Bereiches Controlling und anderer Abteilungen der AOK in bezug auf die Bereitstellung anonymisierter Daten älterer Versicherter. Die Erhebung der den Beiträgen von Frau Dr. Stengel-Güttner zugrundeliegenden Fälle wurde durch das Institut der Stiftung ftir empirische Sozialforschung Prof. Dr. R. Bergler unterstützt, dessen Mitarbeitern an dieser Stelle ebenfalls gedankt sei. Die Bestandsaufnahme institutioneller Hilfsangebote wurde beim Institut ftir empirische Sozialforschung in Nürnberg in Auftrag gegeben - auch hier möchten wir dem Autor und seinen Mitarbeitern unseren Dank aussprechen. Im Vorfeld der Projektdurchftihrung wurden unter anderem zwei Expertisen erstellt, die die Projektkonzeption und später auch die Verfeinerung der Betrachtung im Rahmen einzelner Studien in hohem Maß unterstützt haben. In diesem Zusammenhang danken wir Herrn Störtzbach, Frau Gärtner und Herrn Dorbritz vom Bundesinstitut ftir Bevölkerungsforschung, Wiesbaden ftir ihre Modellrechnung zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2030; sowie Herrn Dr. Wilbers von der Caritas Trägergesellschaft Trier e. V. ftir seine Darstellung künftiger Angebotsformen der institutionellen Altenhilfe.

Vorwort und Danksagung

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Darüber hinaus gilt unser Dank auch allen nicht namentlich genannten, an der Realisierung der einzelnen Teilprojekte direkt oder indirekt beteiligten Personen für ihre Kooperation und Unterstützung. Abschließend möchten wir noch Herrn Dr. Fähnrich, der das Forschungsvorhaben seitens der Kölnischen Rück von der Projektidee bis zur Implementierung betreut hat, unseren besonderen Dank aussprechen. Krankheitsbedingt konnte er an der Erstellung des vorliegenden Bandes nicht mehr mitwirken, die einzelnen Studien und deren Ergebnisse wären jedoch ohne seinen Einsatz für das Projekt nicht zustandegekommen.

Köln, im Dezember 1995 Dieter Farny Peter Lütke-Bornefeld Gertrud Zellenberg

Inhaltsverzeichnis Dieter Farny, Peter Liitke-Borne/eld und Gertrod Zel/enberg, Köln Vorwort und Danksagung ......................................................................... 5 Peler Liilke-Borne/eld und Gertrud Zel/enberg, K61n Einleitende Standortbestimmung und Projektkonzeption ......................... 11 Fred Wagner, K61n Der Umgang mit Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen .................................................................................... 21 Lorenz Fischer und Horst Miil/er, K61n Der Umgang mit Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen aus sozialpsychologischer Sicht.. ............................................ 57 Lorenz Fischer, Horst Miil/er und Fred Wagner, K61n Der Umgang mit Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen - Fazit und Ausblick aus ökonomischer und sozialpsychologischer Sicht ........................................................................................ 85 Winfried Schmähl und Uwe Fachinger, Bremen Einkommen und Vermögen älterer Haushalte. Anmerkungen zur heutigen Situation und zur künftigen Entwicklung ................................. 93 Hermann Brandenburg, Heidelberg, und Eric SchmUt, Greifswald Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter........................................................................ 125 Rolf Nieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Berlin Morbidität im Alter ............................................................................... 161

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Inhaltsverzeichnis

Dieter Farny, Köln Die Lebenssituationen älterer Menschen: Beiträge der Privatversicherung zum Risk Management und Krisen-Management.. ................ 203 Wolfgang Droste und Johannes Lörper, Köln Entwicklungstendenzen in Personenversicherungsmärkten alternder Gesellschaften ....................................................................................... 225 Gisela Stengel-Güttner, Mailand Krisen im Leben älterer Menschen. Psychologische Fallstudien zum Eintritt in den Ruhestapd, Krankheit und Partnertod ............................. 245 Gisela Stengel-Güttner, Mailand Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration: Einfluß auf das Vorsorgeverhalten ...................................... 273 Hendrik Faßmann, Nürnberg Institutionelle Hilfsangebote rur ältere Menschen außerhalb der primären ambulanten und stationären medizinischen Versorgung. Eine Bestandsaufnahme ........................................................................ 299 Dieter Farny, Köln, Andreas Kruse, Greifswald, Winfried Schmähl, Bremen, und Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Berlin Haushalte mit älteren Menschen: Situationen und Entwicklungen ......... 331 Inge Lutter, Bonn Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht ................................ 347 Eckart Bomsdorf, Köln Die demographische Entwicklung in Deutschland und deren mögliche Konsequenzen fiir die Pflegeversicherung ....................................... 359 Joachim Wilbers, Trier Die Pflegeversicherung aus der Sicht der Anbieter von Pflegeleistungen ............................................................................................. 371 Verzeichnis der Autoren............................................................................ 381

Einleitende Standortbestimmung und Projektkonzeption Von Peter Lütke-Bornefeld und Gertrud Zellenberg, Köln Die steigende individuelle Lebenserwartung, begleitet von fallenden Geburtenraten, ist zum Kennzeichen moderner Industriegesellschaften geworden. Als sichtbarer Ausdruck eines weitläufigen Wandlungsprozesses, der beginnt, die Struktur unserer Gesellschaft nachhaltig zu verändern, gerät sie zunehmend in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung und stellt Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vor neue Herausforderungen. Diese verlangen neben der umfassenden und frühzeitigen Analyse des gesamten Problemfeldes die Erstellung tragfähiger Konzepte sowie die Ergreifung praktikabler Maßnahmen, um vorhandene Gestaltungsspielräume erschließen und erhalten zu können. Dies erscheint umso dringlicher, als die Trägheit des demographischen Prozesses vielfach über die Brisanz der Entwicklung hinwegzutäuschen droht. Zwar sind Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung nicht unproblematisch, doch läßt sich eine grundsätzliche Veränderung der Alterszusammensetzung nicht leugnen - und speziell dieser Trend ist fiir die nachfolgenden Betrachtungen von Belang. Auswirkungen einer veränderten Altersverteilung sind auf alle Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens denkbar. Sie können sich z. B. im Verhältnis der politischen Kräfte und in den Systemen der sozialen Sicherung niederschlagen, aber auch auf dem Arbeitsmarkt, in der Entwicklung einzelner Branchen, dem privaten Konsum oder ganz allgemein im Umgang und Zusammenleben der Menschen untereinander. Der beobachtete Wandlungsprozeß hat folglich nicht nur eine demographische und soziale, sondern auch eine ökonomische und insbesondere eine verteilungspolitische Dimension. In diesem Zusammenhang wird die weitere wirtschaftliche Entwicklung eine Schlüsselrolle einnehmen, da die Erzielung realer Zuwächse Widerstände, zum Beispiel gegen sozialpolitische Kursänderungen, erwiesenermaßen abschwächen kann. Die gegenwärtige Lage ist allerdings durch eine Strukturkrise geprägt: Das traditionelle wirtschaftliche Gefüge ist im Umbruch begriffen; einzelne Unternehmen, aber auch ganze Branchen müssen sich neu orientieren. Erste Verschiebungen, wie z. B. ein Rückgang der Primärindustrie, Produktionsverlagerungen und -einstellungen sowie Umschich-

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Peter LOtke-Bomefeld und Gertrud Zellenberg

tungen hin zum Dienstleistungssektor sind heute bereits Wirklichkeit - und ein Abschluß dieses Prozesses ist noch nicht abzusehen, was den zur Verfugung stehenden Handlungsspielraum erheblich einschränkt. Deutlich wird dies zum einen durch die laufende Diskussion zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland, zum anderen durch die bislang wenig beachtete, hemmende Wirkung der sogenannten kompensatorischen Kosten, die die ökonomische Wertschöpfung mindern und die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums aufzeigen. Gemeint sind hier jene laufend steigenden Kosten, die aufzubringen sind, um unsere Wirtschafts- und Lebensgrundlage zu erhalten, das heißt, um Schäden an Umwelt und Lebensqualität zu vermeiden oder - sofern diese bereits eingetreten sind - zu beheben. Sie können sich in vielfältiger Weise bemerkbar machen, beispielsweise durch eine gesteigerte Ausgabenlast im Gesundheitswesen als Folge der Notwendigkeit immer zahlreicher auftretende allergische Erkrankungen zu behandeln. Um zu verhindern, daß positive Effekte aus der Erschließung neuer Wirtschafts- und Wachstumspotentiale auf diese Weise wieder verlorengehen, wird diesem Faktor künftig besondere Beachtung zu schenken sein. Die Verschiebung der gesellschaftlichen Altersstruktur sollte jedoch nicht nur als Belastung oder gar Risiko gesehen werden, denn aus dem demographischen Prozeß selbst entspringen - auf verschiedenen Ebenen - neue Impulse für Wirtschaft und Gesellschaft. Betrachtet man beispielsweise den Dienstlt':istungssektor, so reicht die Palette der auf die ältere Bevölkerungsgruppe spezialisierten Anbieter mittlerweile von Reiseveranstaltern bis hin zu Pflegediensten und verspricht auch weiterhin gute Entwicklungsmöglichkeiten. Auf einer anderen als der einzelwirtschaftlichen Ebene bedingt eine veränderte Alterszusammensetzung die Notwendigkeit, etablierte wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen zu überprüfen und den Anforderungen der veränderten Situation flexibel anzupassen, also allgemein die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu modernisieren. Dies stellt Individuen, gesellschaftliche Institutionen, die Wirtschaft und den Staat vor nicht unerhebliche Gestaltungsaufgaben, die bei Vernachlässigung überdies die Gefahr in sich bergen, zu Gestaltungszwängen zu mutieren. Die Tatsache, daß die nächsten Jahre unter demographischen Gesichtspunkten noch relativ spannungsfrei verlaufen werden, sollte deshalb nicht dazu verfuhren, eventuell unpopuläre Diskussionen und Entscheidungen aufzuschieben. Der Wunsch, eine weitgehende persönliche Sicherung der Existenz des einzelnen in allen Lebensphasen zu gewährleisten, hat dazu geführt, daß die Aufgaben der Sozialpolitik im Zeitablauf stark angewachsen sind. Die Komplexität ihrer Organisation hat sich entsprechend vergrößert und auch ihr Verständnis durch den Bürger hat insofern einen Wandel durchgemacht, als individuelle Verantwortung zunehmend an staatliche Einrichtungen abgetre-

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ten wurde. Den von einer nicht nur zahlen-, sondern auch anteilsmäßig wachsenden Bevölkerungsgruppe immer häufiger gestellten Ansprüchen nach einer verbesserten Gestaltbarkeit und Erftillung des Alters wird man jedoch auf diesem Wege wahrscheinlich nicht mehr gerecht werden können. Die in dieser Hinsicht bestehende Unsicherheit zeigt sich nicht zuletzt auf seiten der Beitragszahier zu den sozialen Sicherungssystemen durch Rufe nach einer neuen Setzung von sozialpolitischen Prioritäten, der Wiederherstellung intergenerationeller Gerechtigkeit und einem Umbau des Sozialstaates. Unabhängig von der Form, in welcher staatliche und gesellschaftliche Kräfte auf diese Aufforderungen und die demographische Herausforderung an sich reagieren werden, ist anzunehmen, daß künftig verstärkt auf das verantwortungsvolle Handeln und Verhalten jedes einzelnen abzustellen sein wird; wobei sich dieses nicht nur auf eine intensivere ökonomische Vorsorge beschränken darf, sondern darüber hinaus - in höherem Maße als bisher - auch die eigenverantwortliche gesundheitliche und soziale Prävention einschließen muß. Dies setzt allerdings eine grundlegende Neuorientierung des Individuums voraus, denn das bloße Hinnehmen gegebener Umstände muß dann durch eine bewußte, aus eigener Initiative erfolgende Gestaltung des Alters mit einem planmäßigen Abwägen von Chancen und Risiken verschiedener Handlungsaltemativen abgelöst werden. Innerhalb der Bevölkerung hat die intensiv geführte öffentliche Diskussion der sozialpolitischen Komponente zunehmender Hochaltrigkeit bereits eine Grundsensibilisierung bewirkt, bezüglich der tatsächlich vorhandenen Vorsorgeoptionen und deren Umsetzung herrscht jedoch noch weitgehende Orientierungslosigkeit. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Unter anderen Ursachen läßt sich die unterschiedliche Beurteilung der Sachlage durch die Politik - die Bandbreite der Meinungen reicht von der Vorhersage des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der sozialen Sicherungssysteme bis zur völligen Entwarnung - herausgreifen, ebenso die Komplexität und gleichzeitig relativ geringe Variabilität vorhandener Vorsorgeprodukte und Dienstleistungen verschiedener Anbieter. Hinzu kommt als vielleicht wichtigster Faktor die Langfristigkeit des Planungshorizontes, die zum einen die Verdrängung des Problems ermöglicht, und zum anderen zur Befürchtung Anlaß gibt, daß Schwankungen der Märkte oder der gesellschaftlichen Normen im Zeitablauf die getroffenen Maßnahmen beeinflussen und die bestehenden Erwartungen hinsichtlich ihrer Ergebnisse enttäuschen. Sie alle stehen einer aktiven Risikohandhabung entgegen. Es gilt folglich, den einzelnen bei der Planung und Durchführung individueller Vorsorgeaktivitäten vermehrt zu unterstützen. In Anbetracht der Tatsache, daß durch heute getroffene Entscheidungen sowohl die gegenwärtige Lage älterer Menschen als auch die - für die Betroffenen vorerst noch weit entfernt scheinenden - zukünftigen Lebensumstände der jetzt jüngeren Gene-

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ration positiv beeinflußt werden können, sollte dies ein zentrales Anliegen sein. In diesem Zusammenhang kommt der Herstellung von Planungssicherheit und der Prüfung der Bedarfsgerechtheit und Leistungsfähigkeit des Angebotes an Vorsorgeoptionen eine besondere Bedeutung zu. Staatliche und gesellschaftliche Kräfte sowie die anbietende Wirtschaft - darunter insbesondere Versicherungsunternehmen, deren originäres Tätigkeitsfeld die Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen darstellt - sind hier gleichermaßen angesprochen, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten an der Erarbeitung geeigneter Lösungen für die prognostizierten Problemlagen des Alters mitzuwirken. Erste Ansätze für eine vorausschauende Produkt- und Dienstleistungsentwicklung sind bereits in verschiedenen Bereichen zu erkennen: Auf dem Sektor der Altenpflege etablieren sich zum Beispiel zunehmend mobile private Pflegedienste. Darüber hinaus beginnen Berufsgruppen des medizinischpflegerischen Dienstes, ihre Tätigkeiten zu vernetzen, um in Form multiprofessioneller Teams eine umfassende Versorgung kranker oder behinderter älterer Menschen zu gewährleisten. Zugleich arbeiten Produktionsunternehmen verstärkt an der Verbesserung technischer Hilfsmittel, während die Finanzwirtschaft im Bereich der Banken und Versicherungen durch eine Anpassung ihrer Produkte danach strebt, der veränderten Bedürfnislage älterer Menschen gerecht zu werden. Angesichts der sehr differenzierten Lebensumstände und Erwartungen älterer Menschen setzt diese Produkt- und Leistungsentwicklung eine sehr genaue Kenntnis der einzelnen Bedürfnisse, ihrer Dringlichkeit und auch ihrer jeweiligen Begleitumstände voraus. Die umfassende Analyse des Alters und des Alterns wird jedoch durch eben diese Vielfalt der Lebensformen, die sich zwischen den Extremen der aktiven neuen Alten und der hilfebedürftigen Pflegefälle finden lassen, erschwert. Zwar ist eine große Zahl wissenschaftlicher Disziplinen mit der Untersuchung der einzelnen Facetten des Alters befaßt - als gleichzeitig körperliches, psychisches, soziales und gesellschaftliches Phänomen erfordert sein grundlegendes Verständnis jedoch eine erfolgreiche Zusammenfiihrung der jeweils erzielten Einzelergebnisse. Diese Verbindung von Inhalten bedarf einer besonderen, Institutionen und Fachgebiete überschreitenden Anstrengung, die auch die verstärkte Integration von Wissenschaft und Wirtschaftspraxis einschließt. In diesem Bewußtsein hat sich die Kölnische Rück anläßlich ihres 150jährigen Bestehens das Ziel gesetzt, die Erforschung dieses aktuellen, gesellschaftlich so bedeutenden Wandlungsprozesses und seiner Konsequenzen in einem größeren Rahmen zu unterstützen. Zu diesem Zweck wurde 1991 das Forschungsprojekt "Lebenssituationen älterer Menschen" unter der Ägide

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eines vierköpfigen wissenschaftlichen Beirates, bestehend aus Herrn Professor Dr. Dieter Farny (Köln), Herrn Professor Dr. Andreas Kruse (Greifswald), Herrn Professor Dr. Winfried Schmähl (Bremen) und Frau Professor Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen (Berlin), ins Leben gerufen. Die Absicht, verschiedenen Fachrichtungen innerhalb eines gemeinsamen Forschungsrahmens die Gelegenheit zu geben, den Alternsprozeß und seine verschiedenen Phasen zu beleuchten, gab den Ausschlag für die Wahl einer sehr weitgefaßten Altersdefinition: als "ältere Menschen" im Sinne der Vorgabe wurden demnach alle jene angesehen, die aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und deren Einkünfte überwiegend aus Alterssicherungssystemen stammen - und zwar unabhängig von ihrer tatsächlichen Vitalität und Selbsteinschätzung. Von diesem gemeinsamen Startpunkt aus sollten die auseinanderstrebenden Forschungslinien der Medizin, Biologie, Ökonomie, Statistik, Rechtswissenschaften, Soziologie, Gerontologie und Psychologie verflochten werden, um eine ganzheitliche Sichtweise und damit ein verbessertes Verständnis der so bedeutenden Lebensphase des Alters zu erreichen. Das Spektrum der wissenschaftlichen Beiträge reicht dabei von der theoretischen Grundlagenforschung an Universitätsinstituten im Bundesgebiet über die Erhebung psychologischer Fallstudien und einer Bestandsaufnahme des Angebotes an institutionellen Hilfen - beide mit der Unterstützung externer Forschungseinrichtungen - zu einer Analyse der Sachlage aus Sicht der Versicherungstheorie und -praxis. Den Abschluß bildet ein gemeinschaftlicher Beitrag des wissenschaftlichen Beirates, der auf Basis der erarbeiteten Ergebnisse die aktuelle Situation rekapituliert und die weitere Entwicklung zentraler Einflußgrößen auf die Lebenssituation älterer Menschen prognostiziert. Die Einführung der Pflegeversicherung als Teil der Sozialversicherung erfolgte zu einern Zeitpunkt, zu welchem eine umfassende Behandlung ihrer Auswirkungen auf die Lebenssituation älterer Menschen im Rahmen einer separaten Teilstudie nicht mehr möglich war. Um diese wichtige Neuerung jedoch nicht gänzlich zu vernachlässigen, wurde sie in Form dreier eigenständiger Kurzanalysen in den Projektrahmen integriert. Innerhalb der vorliegenden Schrift sind diese den umfangreicheren Teilstudien nachgeordnet. Die Verwirklichung solch einer fächerübergreifenden Zusammenarbeit setzt ein starkes Fundament seitens der beteiligten Einzeldisziplinen voraus, da diese ihr Selbstverständnis und ihre Eigenart im Verlauf des Forschungsund Erkenntnisprozesses nicht verlieren dürfen. Im Zuge der Methodenreflexion soll vielmehr eine Weiterentwicklung stattfinden und die eigentliche Analyse auf einer höheren Ebene, d. h. im Bereich der systemischen Vernetzungen und Wechselwirkungen ansetzen; denn erst dadurch wird der Übergang zur echten interdisziplinären Forschung dokumentiert.

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Für die Erreichung dieses Zieles ist die Wahl eines geeigneten methodischen Zuganges von grundlegender Bedeutung. In Anbetracht der Komplexität und Heterogenität des Forschungsgegenstandes war es nicht möglich, im Rahmen des Projektes ein umfassendes, in allen Aspekten durchformuliertes und empirisch überprüfbares Modell zu entwickeln. Folglich wurde eine Möglichkeit gesucht, die Vielfalt von individuellen Erscheinungen ganzheitlich zu verstehen, ohne dabei die kausalanalytische Betrachtung zu vernachlässigen. Diese Zielsetzung findet ihre methodische Abbildung in der typisierenden Betrachtung Max Webers, die dem Forschungsprojekt auch als wissenschaftlicher Leitgedanke zugrundegelegt wurde. Als heuristische Methode bietet sie eine Verständnishilfe im Erkenntnisprozeß, deren zentraler Gedanke die Definition einer im logischen Sinne idealen Lage ist. Durch die Benennung und Kombination wesentlicher Merkmale des Erkenntnisgegenstandes erlaubt dieses Konstrukt zunächst die Verdichtung des vorhandenen empirischen Datenmaterials. In weiterer Folge bildet es dann den Maßstab, anband dessen das reale, von der idealen Vorgabe abweichende Verhalten zu erkennen und zu beurteilen ist. Für die wissenschaftliche Einordnung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache von Bedeutung, daß der Idealtypus in seiner Funktion als heuristisches Hilfsmittel keinen Hypothesencharakter aufweist und folglich auch nicht falsifiziert werden kann. Eine mangelnde Adäquanz hinsichtlich der verfolgten Erkenntnisabsicht oder empirisch erhobener Sachverhalte verlangt deshalb jeweils die Anpassung des Konstruktes oder seine gänzliche Neuformulierung. Die nähere Betrachtung des älteren Menschen zeigt, daß er nicht unabhängig im Sinne eines homo oeconomicus agiert. Vielmehr weist er Bindungen unterschiedlicher Intensität an einen Haushalt sowie eventuell andere darin und in seiner weiteren Umwelt lebende Individuen auf. Aufgrund der allgemeinen Gültigkeit dieses Haushaltsbezuges wurde entschieden, den Erkenntnisgegenstand in weiterer Folge über das Aggregat des "privaten Haushaltes älterer Menschen" zu erschließen. In einem ersten Schritt wurden deshalb die bestimmenden Charakteristika dieses "privaten Haushaltes älterer Menschen" identifiziert und dieser zugleich als Idealtypus definiert. Das konstituierende Merkmal eines Haushaltes dieser Art ist zunächst der Eintritt seiner Mitglieder in den Ruhestand. Der nunmehr "ältere Mensch" im Sinne der Definition sieht sich dadurch Herausforderungen gegenüber, die im Vergleich zu jenen früherer Lebensphasen gänzlich neu oder zumindest von unterschiedlicher persönlicher Bedeutung sind. Vor diesen veränderten Rahmenbedingungen verbleibt - neben anderen - das grundlegende, bewußt gesetzte Ziel des Haushaltes, seine Autonomie und Selbständigkeit auch künftig so weit wie möglich zu wahren.

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Die Wahrscheinlichkeit, mit welcher ältere Menschen die durch ihre neuen Lebensumstände gestellten Anforderungen bewältigen können, bestimmt die Stabilität, die ein solcher "privater Haushalt älterer Menschen" aufweist. Ist der Haushalt in der Lage, seine Lebensqualität trotz unausweichlicher Veränderungen und eventuell eintretender Krisen zu erhalten, wenn nicht sogar durch die Nutzung sich bietender Chancen zu verbessern, ist er stabil; muß er auf diesem Sektor hingegen deutliche Einbrüche hinnehmen, so wird er als instabil bezeichnet. Die Fähigkeit des privaten Haushaltes älterer Menschen, auf Veränderungen zu reagieren und Krisen zu bewältigen, wird im Rahmen dieses Forschungsdesigns auf die Ausprägung und das Zusammenspiel von vier Grundparametern zurückgeführt: Die Einkommens- und Vermögenssituation des privaten Haushaltes gestattet oder beschränkt die Gestaltung der jeweiligen Lebenssituation im weitesten Sinne, da das gesamte Risiko- und Chancenmanagement des Haushaltes älterer Menschen der Restriktion ausreichender finanzieller Mittel unterliegt. Die an die jeweilige Lebenssituation gestellten Ansprüche werden in erheblichem Maße durch die im Lebensablauf geformten individuellen Einstellungen und Werte bestimmt und nehmen gemeinsam mit der sozialen Integration des älteren Menschen Einfluß auf das Erleben und die Bewältigung der jeweiligen Situation. Hinzu tritt die aufgrund der steigenden Lebenserwartung erhöhte Wahrscheinlichkeit an einem Altersleiden zu erkranken, die die Morbidität im Alter zu einem weiteren bestimmenden Faktor für die Stabilität eines Haushaltes älterer Menschen erhebt. Unter Bezugnahme auf die Ausprägung dieser Merkmale im idealtypischen "privaten Haushalt älterer Menschen" läßt sich der Grad der erreichten Stabilität für das einzelne Aggregat bestimmen, wobei der Kombination und Wechselwirkung der einzelnen Faktoren grundlegende Bedeutung zukommt. So können Einschränkungen in einem Bereich durch die verstärkte Wirkung eines anderen unter Umständen wettgemacht werden: zum Beispiel kann ein Defizit im finanziellen Bereich durch die Hilfe von Angehörigen ausgeglichen werden, sei es durch einen intrafamiliären Transfer oder eine Sachleistung, wie z. B. die Gewährung einer kostenlosen Wohnmöglichkeit. Darüber hinaus können - wiederum in Abhängigkeit von der Ausprägung der vier genannten Basisvariablen - Substitute oder zusätzliche Faktoren zur Erhaltung der Stabilität des privaten Haushaltes älterer Menschen herangezogen werden. Zum Beispiel ist es möglich, bei ausreichender finanzieller Ausstattung, aber nicht vorhandenen Bezugspersonen, den Verbleib in der eigenen Wohnung durch die Beschäftigung von Pflegepersonal zu sichern; sind Bezugspersonen vorhanden, können diese die notwendige Hilfe aber nicht im erforderlichen Ausmaß leisten, kann Pflegepersonal als zusätzlicher Faktor zur Sicherung des Haushaltes herangezogen werden. Das zuvor angespro2 Farny u. a.

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chene Wohnumfeld sowie das Angebot an institutionellen und nicht-institutionellen Hilfsleistungen steht hier stellvertretend rur die große Zahl an substituierenden oder zusätzlichen Faktoren, die den privaten Haushalt älterer Menschen hinsichtlich seiner Stabilität beeinflussen können. Entsprechend diesen Abhängigkeitsbeziehungen lassen sich auch die einzelnen Forschungsarbeiten in ihrem Kern jeweils wieder auf die vier zentralen Größen zurückfUhren. Wie methodisch vorgesehen, wurden diese Angelpunkte des idealen Konstruktes innerhalb der einzelnen Untersuchungen weiterentwickelt und die Fragestellung verfeinert, um der Vielfalt der Wechselwirkungen, denen die Lebenssituation älterer Menschen unterliegt, gerecht zu werden. Nach Abschluß der einzelnen Teilstudien wurden die vier Basisvariablen zu drei Realtypen komprimiert, die im gemeinsamen abschließenden Beitrag des wissenschaftlichen Beirates hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Entwicklungspotentials gewürdigt werden. Da die jeweils erfaßten Handlungs- und Verhaltensweisen teilweise den einzelnen im Haushalt lebenden Individuen, teilweise aber auch dem Haushalt an sich zuzurechnen sind, schwankt die Darstellung jeweils in Abhängigkeit von der gewählten Sichtweise zwischen einer Individual- und Aggregatbetrachtung. Es wird ersichtlich, daß der Haushalt älterer Menschen zur Statik tendiert, d. h., sich auch an objektiv vorhandene Unzulänglichkeiten anpaßt und auf dieser Ebene gleichsam versteinert, so daß die aktuelle Befindlichkeit immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der Palette der Gestaltungsmöglichkeiten zeigt, die dem älteren Menschen in bezug auf seine unmittelbaren Lebensumstände prinzipiell zugänglich sind. Das Alter zeigt sich also "richtungsoffen", das heißt, es enthält das Potential ftir positive und negative Änderungen - in der Terminologie der in diesem Band zusammengefaßten Untersuchungen Chancen und Risiken. Die subjektiv und objektiv sehr hohe Schwankungsbreite der Lebenssituationen älterer Menschen läßt das Alter überdies als wenig optimierte Lebensphase erscheinen. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, daß bislang nur vereinzelt Interventionsforschung betrieben wird, die es ermöglichen würde, die Handlungs- und Entwicklungsreserven des Alters mit einiger Sicherheit zu beurteilen. Es beginnen jedoch immer mehr Disziplinen, das Alter und dessen latente Potentiale zu untersuchen sowie die Frage aufzuwerfen, wie das künftige Erscheinungsbild des Alters bzw. des Alternsprozesses in einer älter werdenden Gesellschaft aussehen könnte. Gesucht wird nach Erkenntnissen, die es erlauben, Lösungsansätze rur eine Optimierung dieser Lebensphase zu formulieren bzw. die auch die Gesellschaft anregen, eine gewisse "Alters- und Alternskultur" zu entwickeln. Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Betrachtung meh-

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rere Ebenen einschließt - die des Altemsprozesses des Individuums und die der Alterung der Bevölkerung in ihrer Gesamtheit. Die von der Wissenschaft unterbreiteten Vorschläge und Handlungsempfehlungen rur ein verbessertes Altem richten sich folglich zum einen an das Individuum und seine Umwelt, zum anderen an die Politik, die diese durch Aufklärungsmaßnahmen einer größeren Anzahl von Adressaten zugänglich machen kann und darüber hinaus die Möglichkeit - und die Pflicht - hat, die Rahmenbedingungen des Alters auf einer höheren Ebene mitzugestalten. So wird der einzelne Haushalt dazu aufgerufen, Prävention im weitesten Sinne zu betreiben; seine eigene Altersphase also bestmöglich zu planen und zu gestalten. Der Sozialpolitik weist die Forschung die Aufgabe zu, die Leistungsflihigkeit der öffentlichen und privaten Sicherungssysteme zu gewährleisten, d.h. die hierfiir erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen bzw. zu erhalten. Öffentliche Einrichtungen und private Unternehmen sehen sich in diesem Zusammenhang ebenfalls aufgefordert, durch das Angebot und die Weiterentwicklung von Produkten und Dienstleistungen die Handhabung von Risiken und Chancen in der Altersphase zu unterstützen; und nicht zuletzt ist es die weitere Aufgabe der Wissenschaft selbst, den Alternsprozeß und die die Befindlichkeit des älteren Menschen in seinem jeweiligen Lebensumfeld prägenden Faktoren in größerer Tiefe zu erforschen. Der rur die vorliegende Forschungsarbeit herangezogene interdisziplinäre Ansatz erscheint hierzu als zweckmäßiger und auch bereits erprobter Weg. Die erforderliche Aufgeschlossenheit gegenüber den jeweils anderen Disziplinen fördert die Sensibilität rur die komplexen Wirkungszusammenhänge, die letztlich den Ausschlag dafiir geben, wie die eigenen Lebensumstände durch den älteren Menschen selbst erlebt werden. Die stete Notwendigkeit einer Einigung, der Abstimmung von Inhalten, Perspektiven und Prioritäten, um die angestrebte integrative Perspektive zu erlangen, hat sich auch unseres Erachtens als sehr fruchtbar erwiesen; auch wenn der eine oder andere Dissens unter Umständen nicht restlos beseitigt werden konnte, oder mancher Autor vielleicht gelegentlich gerne andere Schwerpunkte gesetzt hätte. Doch wie der Alternsforscher James E. Birren bereits vor längerer Zeit zum Ausdruck brachte, sind "das Alter und das Altwerden zu wichtig, als daß man ihre Behandlung einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen überlassen sollte". Vor diesem Hintergrund sei nochmals angemerkt, daß "der" alte Mensch nicht existiert, weshalb auch das vorliegende Forschungsprojekt nur bedingt als abgeschlossen betrachtet werden kann. Die Vielfalt der Wechselwirkungen und Einflußfaktoren, die bei einer interdisziplinären Betrachtung besonders deutlich wird, stellt aus wissenschaftlicher Sicht eine große Herausforderung dar; hinzu treten noch die rasche Weiterentwicklung des untersuchten Phä-

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nomens selbst und die Tatsache, daß die methodische Aufarbeitung im ganzheitlichen Sinne erst an ihrem Anfang steht. Die Verfeinerung der Methode und die Suche nach einer systemischen Integration bedarf folglich der weiteren Unterstützung und Förderung; denn die genaue Kenntnis der wirkenden Mechanismen ist die Voraussetzung für die Benennung einzelner Stör- und Auffangvariablen, die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens und eine Quantifizierung des erwarteten Ausmaßes ihrer Konsequenzen. Erst das genaue Wissen um die bestehenden Zusammenhänge erlaubt es, auch Möglichkeiten und Erscheinungsfonnen des Alters zu erkunden, die über die heute gelebte Wirklichkeit hinausgehen. Bis dahin werden die Prognosen noch von sehr hoher Unsicherheit bestimmt sein. Dennoch sind die Herausgeber und die Autoren der Überzeugung, daß bereits durch die Ableitung von Wenn-Dann-Aussagen aus den gewonnenen Ergebnissen eine Eingrenzung der zukünftigen Realität möglich wird, die es erlaubt, eine zumindest verbesserte Weichenstellung für das Alter vorzunehmen. Die im vorliegenden Band - und in umfangreicherer Fonn im Rahmen der Schriftenreihe der Kölnischen Rück - festgehaltenen Ergebnisse des Forschungsprojektes "Lebenssituationen älterer Menschen" sollen unsere Erfahrungen und Erkenntnisse dokumentieren. Es ist unser erklärtes Anliegen, damit einen fruchtbaren Anstoß für eine weiterführende Erforschung von Altersfragen zu geben und die aktuelle Diskussion zur Veränderung der gesellschaftlichen Altersstruktur und der darin enthaltenen Risiken und Chancen voranzutreiben. Als Unternehmen sind wir darüber hinaus der Ansicht, daß sich auch der Markt künftig verstärkt mit dieser Entwicklung auseinandersetzen muß und dies auch tun wird. Vor diesem Hintergrund erwägen wir, weitere eigene Forschungsprojekte zu initiieren, aber auch andere Arbeiten zum Themenbereich zu fördern, deren Ziel es ist, fundiertes Wissen zu erlangen und zum Wohle älterer Menschen in die Praxis zu übertragen.

Der Umgang mit Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen Von Fred Wagner, Köln

J. Einführung Die vorliegende Schrift faßt die wesentlichen Ergebnisse von ökonomisch ausgerichteten Überlegungen über den "Umgang mit Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen" zusammen.! Vorgestellt wird zunächst ein Modell für die grundlegenden Lebenszusammenhänge in den Haushalten älterer Menschen. Daraus werden Risiken und Chancen abgeleitet, die im Alltag und die in besonderen Krisensituationen bestehen. Der Umgang mit Krisensituationen bzw. ein dafür entwickeltes Verhaltensmodell des "Krisenmanagements" bildet anschließend den zentralen Bestandteil dieser Arbeit. Die nachfolgenden Aussagen betonen die Hypothese von rationalem Verhalten in den Haushalten älterer Menschen nach logischen Verhaltensregeln. Damit wird von der Vorstellung privater Haushalte ausgegangen, in denen die älteren Menschen dem "homo oeconomicus" ähnlich sind und ihre überwiegend bewußt gesetzten Ziele durch davon bestimmte Mittel und Methoden zu erreichen versuchen. Diese Version von Haushalten älterer Menschen deckt sich vermutlich oftmals nicht mit den empirisch beobachtbaren Verhaltensweisen. Ausdrücklich und bewußt wird mithin eine etwas idealtypische Sicht eingenommen. In einem gesonderten, an diese Schrift anschließenden Bericht werden relativierend die wesentlichen Ergebnisse einer sozialpsychologisch ausgerichteten Untersuchung präsentiert (siehe dazu Fischer I Müller in diesem Band). Die Sozialpsychologen haben darin die AufgabensteIlung formuliert, den 1 Siehe tiefergehend den vollständigen Bericht des Autors in einer eigenen Veröffentlichung unter dem gleichnamigen Titel in der Schriftenreihe der Kölnischen Rück, hg. von H. Reutersberg et al., Köln 1996. Dort sind die verwendeten und verarbeiteten Quellen angegeben und dort ist auch eine ausfiihrliche Literaturliste angehängt.

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Fred Wagner

Realitätsbezug der ökonomischen Modelle zu prüfen und psychologische sowie praktische Konsequenzen zu diskutieren. Insbesondere soll dort auf die Frage eingegangen werden, ob und inwieweit das Krisenmanagement in Haushalten älterer Menschen typischerweise vom Modellverhalten abweicht, nach welchen Mechanismen dies geschieht und welche Ursachen dafür vorliegen. Dies soll zugleich die Chance bieten, eventuelle Verhaltens"fehler" aufzudecken und gegebenenfalls Handlungsanweisungen zur Verbesserung des praktischen Krisenmanagements zu formulieren.

11. Definition und Abgrenzung des Betrachtungsgegenstands Der Betrachtungsgegenstand "Haushalte älterer Menschen" ist in zweifacher Hinsicht zu definieren und abzugrenzen: Als konstituierendes Merkmal für den "älteren Menschen" gilt der Eintritt in den altersbedingten Ruhestand. Angesichts der flexiblen Altersgrenze wird damit nicht auf eine fest definierte Mindestanzahl an Lebensjahren abgestellt. Nach den in Deutschland vorherrschenden Regelungen beginnt der altersbedingte Ruhestand üblicherweise in einem Lebensalter zwischen 55 und 67 Jahren. Der Haushalt älterer Menschen besteht aus den darin befindlichen Individuen, die zusammen das Aggregat "Haushalt" bilden. Die Verhaltensweisen im Haushalt und damit die nach innen und außen gerichteten Handlungen betreffen teilweise schwerpunktmäßig die Individuen (Aktivitäten einzelner Haushaltsmitglieder, z. B. Hobbies) und teilweise unmittelbar das Aggregat (z. B. Standortverhalten); die damit verbundenen Entscheidungen gehen ebenfalls - aber nicht zwingend deckungsgleich - eher auf die Individuen oder auf das Aggregat zurück. Je nach der im einzelnen vorliegenden Fragestellung werden deshalb abwechselnd einzelne ältere Menschen (Individualbetrachtungen) oder ihre in einem Haushalt verbundene Gemeinschaft (Aggregatbetrachtungen) im Vordergrund stehen.

Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen

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Irr. Zusammenhänge der Lebenssituation in Haushalten älterer Menschen

1. Überblick: Ein ökonomisches Grundmodell Die Lebenssituation in Haushalten älterer Menschen ist durch eine unübersehbare Vielzahl an Parametern bestimmt, die wechselseitig abhängig sind. Die komplexe Realität ist letztlich nicht genau darstellbar. Hilfsweise wird dafür ein vereinfachtes Abbild im Sinne eines entscheidungstheoretisch geprägten Grundmodells erstellt, das vorwiegend den ökonomischen Blickwinkel widerspiegelt und ergänzend schon einige sozialpsychologische Elemente enthält (vgl. Abbildung I). Im Modell kommt das Zusammenspiel zwischen den Rahmenbedingungen und dem Handeln bzw. Verhalten als Bestimmungsgrößen für die Lebenssituation in Haushalten älterer Menschen zum Ausdruck. Die Rahmenbedingungen sind die externen und internen Gegebenheiten, die die Möglichkeiten und Grenzen für das Handeln bzw. Verhalten festlegen. Das Handeln bzw. Verhalten ist die Gesamtheit der Lebensfiihrung von Haushalten älterer Menschen. Unter den Begriff "Handeln" fallen in einem engeren Sinne die aktiven Zielsetzungen, die Programme und die damr angewandten Verfahren; zusätzlich sind hier die Bewertungen von Zielerfiillungen aufgenommen. Damit ist nur das eigentliche Tun der Haushalte älterer Menschen erklärt. Der weiter gefaßte Begriff des "Verhaltens" schließt auch das Unterlassen mit ein.

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Externe Rahmenbedingungen

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Abbildung I: Ein Grundmodell der Lebenszusammenhänge

Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen

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2. Die Rahmenbedingungen für Haushalte älterer Menschen Die Rahmenbedingungen sind die für die einzelnen Haushalte älterer Menschen mehr oder weniger unabänderlichen Gegebenheiten, die mit ihren Zuständen maßgeblich auf die Verhaltensmöglichkeiten und -grenzen einwirken. Die externen Rahmenbedingungen sind von außerhalb gesetzt, d. h. sie gehen auf die verschiedenen Umwelten der Haushalte älterer Menschen zu. rück. 2 Die "natürliche" Umwelt ist für das Verhalten insbesondere mit ihren Gesetzmäßigkeiten über den Ablauf des Lebens maßgeblich. Wichtige Einflußfaktoren sind die altersspezifische Lebenserwartung resp. Sterblichkeit (Mortalität), die altersspezifische Volksgesundheit resp. der Krankheitsstand (Morbidität; siehe dazu ausführlich Nieczaj / Henße / Steinhagen-Thiessen in diesem Band) sowie die altersspezifische Leistungsfahigkeit, gemessen an den im allgemeinen vorhandenen körperlichen und/oder geistigen Potentialen der älteren Menschen. Hervorzuheben sind die typischen Krankheiten und Behinderungen mit ihren Beschränkungen für die Verhaltensspielräume. Die Umweltbereiche "Politik" und "Recht" sind nicht voneinander zu trennen; denn die politische Willensbildung und die Entscheidungen der politischen Instanzen münden schließlich in der Rechtsetzung. Von wichtiger Bedeutung für Haushalte älterer Menschen sind die von der Sozialpolitik ausgehenden und im Sozialrecht umgesetzten Rahmenbedingungen mit den Feldern Soziale Sicherung, Sozialhilfe, Gesundheitspolitik, Familienpolitik und Altenhilfe, Wohnungspolitik sowie ergänzend Arbeitsmarktpolitik - diese sind teilweise eng miteinander verwoben. Den Kern der Sozialen Sicherung bilden die Sozialversicherungssysteme. Für Haushalte älterer Menschen sind daraus vor allem die Regelungen über die Gesetzliche Krankenversicherung, die Gesetzliche Rentenversicherung und die Gesetzliche Pflegeversicherung maßgebend (siehe zur Pflegeversicherung in diesem Band auch die Gastkommentare von Lutter aus sozialpolitischer Sicht, von Bomsdorf aus demographisch/statistischer Sicht und von Wilbers aus der Sicht der Anbieter von Pflegeleistungen). Die Sozialhilfe mit ihren beiden wesentlichen Leistungskategorien "laufende Hilfe zum Lebensunterhalt" durch Transferleistungen und "Hilfe in besonderen Lebenslagen" (Krankenhilfe, Eingliederungshilfe für Behinderte, Hilfe zur Pflege, vorübergehende Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, Altenhilfe) betrifft auch Haushalte älterer Menschen. Die Gesundheitspolitik ist in weiten Teilen in das System der Sozialen Sicherung (z. B. als 2 Im folgenden wird in aller Kürze versucht, einen Überblick über die maßgeblichen Bereiche der Umwelten von Haushalten älterer Menschen zu vermitteln. Dabei kann es vorkommen, daß die verwendeten Begriffe und deren Abgrenzungen nicht exakt mit der Nomenklatur in den jeweiligen Fachdisziplinen übereinstimmen. Wichtig erscheinende Ausschnitte von Umweltbereichen werden hervorgehoben und andere, die vom kundigen Leser unter Umständen vermißt werden, vernachlilssigt.

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Gesetzliche Krankenversicherung) und der Sozialhilfe (z. B. als Krankenhilfe) eingebunden. Zusätzlich erwähnenswert ist der öffentliche Gesundheitsdienst. Dieser erstreckt sich in erster Linie auf die Aufgaben und Tätigkeiten der Gesundheitsämter, etwa im Zusammenhang mit der Fürsorge fiir Behinderte, der Beaufsichtigung von Krankenanstalten und von Altenwohnund -pflegeheimen. Die Zusammenhänge zwischen der Familienpolitik und den anderen Feldern der Sozialpolitik sind eng. In bezug auf die Haushalte älterer Menschen geht es insbesondere wieder darum, soziale Sicherungsfunktionen wahrzunehmen - z. B. durch Witwen- und Witwerrenten in der Gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung - und/oder um Wohnförderung. Die Altenhilfe soll im höheren Lebensalter die Erhaltung einer selbständigen und unabhängigen Lebensfiihrung fördern. Dazu gehören insbesondere altersgerechte Wohnungsangebote einschließlich der Einrichtung und Unterhaltung von Altenwohn- und -pflegeheimen und der Einsatz "häuslicher Dienste", z. B. in Form von persönlichen Pflegeleistungen, hauswirtschaftlichen Hilfen und/oder Mittagstischen an nahegelegenen festen (Tagesstätten) oder mobilen (Essen auf Rädern) Standorten. Aspekte der Wohnungspolitik sind bereits mehrfach angeklungen. Dazu gehören die Förderung altersgerechter Wohnungsangebote, der soziale Wohnungsbau sowie die Wohnförderung durch Wohngelder und Mieterschutz. Die Arbeitsmarktpolitik ist fiir Haushalte älterer Menschen mit ihren Regelungen über das Ende des Erwerbslebens von konstitutiver Bedeutung. Im übrigen beeinflußt die Arbeitsmarktpolitik die Möglichkeiten von Zusatz- und Weiterbeschäftigungen. Die "technische" Umwelt ist mit ihren Verhaltenseinflüssen derart facettenreich und komplex, daß ein umfassender Einblick kaum möglich ist. Nur exemplarisch und stichwortartig seien einige Segmente genannt. Die automatisierte Informations- und Kommunikationstechnik und ihr zunehmender Einsatz fiir die "Dinge des täglichen Lebens" (z. B. im Zahlungsverkehr und bei Verwaltungsangelegenheiten) vermindern einerseits die sozialen Kontakte der älteren Menschen mit Dritten. Problematisch ist zudem oftmals die wenig altengerechte Bedienung, die ggf. Gefiihle von Hilflosigkeit und Abhängigkeit begründet. Nur beispielhaft sei dazu auf die Ausgestaltung von Benutzeroberflächen (Schriftgröße, Sprache) und von Menüsteuerungen beim Einsatz von Computerprogrammen hingewiesen. Andererseits eröffnet die moderne Informations- und Kommunikationstechnik aber auch neue Freiräume (z. B. die Audio-, Video- und Teletechnik mit den von Mobilitätsbarrieren unabhängigen Möglichkeiten der Informationsversorgung und der Aufrechterhaltung von Außenbeziehungen). Für die räumliche Mobilität von älteren Menschen ist der Zustand der Verkehrstechnik eine wichtige Rahmenbedingung. Von überragender Bedeutung fiir das tatsächliche oder potentielle Verhalten ist die Medizintechnik einschließlich der Rehabilitationstechnik. Gerade die geriatrische Medizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf die

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"natürlichen" Rahmenbedingungen für ältere Menschen, konkret auf die Mortalität und Morbidität, in günstiger Weise Einfluß zu nehmen. Ihre Mittel dafür liegen in den spezifischen diagnostischen und therapeutischen Methoden sowie in der Rehabilitation. Die "wirtschaftliche" Umwelt beeinflußt die Verhaltensmöglichkeiten vor allem über die mit ihren Zuständen verbundenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Die gesamtwirtschaftliche Lage ist wegen der damit möglichen oder tatsächlich gewährten Versorgungs- und Fürsorgeleistungen gegenüber Haushalten älterer Menschen mittelbar von Belang. Unmittelbar maßgebend sind die Verhältnisse in der Gruppe von Haushalten älterer Menschen selbst, d. h. deren spezifische Einkommens- und Vermögenssituation (siehe dazu ausführlich Schmähl! Fachinger in diesem Band). Die Vermögenssituation ist dabei nicht allein durch das Geld- und Kapitalvermögen, sondern zudem durch das Realvermögen geprägt - z. B. durch Immobilieneigentum. Innerhalb der "Sozialfakten" repräsentiert die Demographie das Volumen und die Strukturen, besonders nach Alter, Geschlecht und Standorten, einer Bevölkerung. Deren Wirkungen sind vielfältig. Beispielsweise bestehen Zusammenhänge mit den Altersstrukturen einer Gesellschaft, die die fortdauernde Mitwirkung älterer Menschen in der Arbeitswelt erzwingen, befürworten, tolerieren oder ablehnen lassen. In der Gruppe älterer Menschen ist die Geschlechterverteilung, bedingt durch geschlechtsspezifische Sterblichkeiten, eine plausible Befindlichkeits- und Verhaltensdeterminante. Die Standorte der Bevölkerung oder von Bevölkerungsteilen, z. B. von Familien, haben Einfluß auf deren Zusammenleben. Meist wohnen die Mitglieder von Familien mit älteren Menschen in größeren oder kleineren räumlichen Abständen verstreut. Gerade in Städten leben ältere Menschen oft mehr oder weniger allein in Ein- oder Zweipersonenhaushalten - mit einhergehenden Verhaltensauswirkungen. Die ethisch, moralisch oder religiös motivierten Werte und Normen begründen typologisiertes Handeln bzw. Unterlassen entweder seitens "der Gesellschaft" gegenüber älteren Menschen, die daraufhin bestimmte Befindlichkeiten und/oder Verhaltensreaktionen aufweisen, oder seitens der älteren Menschen selbst. Das Sozialsystem ist als ein Ausfluß der gesamtgesellschaftlichen Einstellungen und Verhaltensweisen (hier) gegenüber den Haushalten älterer Menschen anzusehen. Dessen Kern bilden die oben bereits angesprochenen Zustände der Sozialen Sicherung und der Sozialhilfe. Wichtige Ergänzungen sind die Tätigkeiten und Aufgabenerfüllungen der Kirchen und der als Selbsthilfeorganisationen gegründeten Wohlfahrtsverbände. Diese Einrichtungen gewähren nicht nur soziale Hilfe, sondern sind zugleich Stätten der sozialen Integration. Dafür sind im übrigen auch die üblichen Muster der familiären und/oder geselligen Beziehungen mit sowie zwischen den Haushalten älterer Menschen bedeutsam. Soweit außer den vorgenannten institutionellen Hilfsangeboten solche von privaten Anbie-

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tern mit übeIWiegend gewerblichen Interessen bestehen, sind diese weniger der sozialen als vielmehr der wirtschaftlichen Sphäre zuzurechnen. (Einen umfassenden Überblick über die derzeit bestehenden institutionellen Hilfsangebote liefert Faßmann in diesem Band) Die internen Rahmenbedingungen sind haushaltsindividuell ausgeprägt. Sie sind über die Zeit von den jeweiligen Zuständen der verschiedenen Umwelten (externe Rahmenbedingungen, s.o.) beeinflußt worden und im übrigen u. a. das Ergebnis des bisherigen Verhaltens der einzelnen älteren Menschen bzw. der durch sie gebildeten Haushaltsgemeinschaften. Die "Haushaltsressourcen" sind als die gegebene Ausstattung der Haushalte älterer Menschen zu verstehen. Unter der wirtschaftlichen Ausstattung sind die Verfiigbarkeiten von Nominal- und Realgütern zusammengefaßt. Die Nominalgüterausstattung besteht aus den Einkommensströmen und aus dem Vermögensbestand - jeweils in Geldeinheiten ausgedrückt. Die Realgüterausstattung ist die Gesamtheit aller vOIWiegend materiellen (z. B. HausIWohnung, Automobil) Verfiigbarkeiten. Diese erhalten vor allem durch ihre typischen VeIWendungsmöglichkeiten den Charakter von Verhaltensdeterminanten. Die physische Ausstattung ist der Gesundheitszustand und die körperliche Leistungsfähigkeit, die durch Krankheiten und Behinderungen im Alter beschränkt sein können. Verhaltensbestimmend sind besonders die körperliche Beweglichkeit (Mobilität) sowie die sinnliche Wahrnehmungsfahigkeit, darunter vor allem die Seh- und Hörkraft. Hervorzuheben sind weiter die begrenzenden Einflüsse etwaiger wiederkehrender oder dauerhafter Schmerzzustände. Als die psychische Basis für das Verhalten älterer Menschen sind vor allem ihre geistige Flexibilität (Offenheit) und die Fähigkeit, Belastungen zu verarbeiten, von Gewicht. Die sozialen Ressourcen sind in erster Linie durch die Integration in soziale Gruppen bestimmt. (Siehe dazu tiefergehend Brandenburg / Schmitt in diesem Band) Die verschiedenen familiären oder außerfamiliären Integrationsgruppen bilden rur die Haushalte älterer Menschen zugleich eine wichtige Quelle für Unterstützungspotentiale. Die praktisch-technische Ausstattung umfaßt die Verfiigbarkeiten über technische Hilfsmittel sowie die praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten rur ihre zweckgerichtete Nutzung. Beispiele reichen von typischen Altershilfen zur ÜbeIWindung von Behinderungen, etwa Mobilitäts-, Seh- und Hörhilfen, bis hin zu technischen Unterstützungen des allgemeinen Lebenskomforts, etwa durch Haushaltsgeräte oder ein Automobil. Die "Haushaltskultur" ist durch die Geistesart der im Haushalt lebenden Menschen bestimmt. Sie wird durch ein wechselseitig abhängiges Gemisch aus dem Wertesystem, der Lebenserfahrung und von Wahrnehmungsmerkmalen geprägt. Das Wertesystem ist das Geruge der geistig-ideellen Beurteilungen von Tatbeständen und Vorgängen innerhalb und außerhalb (Umwelten) der Haushalte älterer Menschen. Die Wertigkeiten wirken mittelbar oder

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unmittelbar auf das Verhalten, d. h. auf die Zielsetzungen sowie die Programm- und Verfahrenswahl. Die Lebenserfahrung ist die Summe des durch Anschauung, Wahrnehmung oder Empfindung im bisherigen Leben gewonnenen Wissens. Sie bildet eine Determinante für das Wertesystem. Die Wahrnehmung ist die sinnliche Aufnahme der auf die älteren Menschen wirkenden Eindrücke. Sie ist nicht objektiv, weil darin immer Deutungen eingehen. Das Wahrnehmungsverhalten führt zu individuellen Ausprägungen der Information und der Informationsverarbeitung einschließlich der Verdrängung resp. Akzentuierung von sinnlich wahrgenommenen Eindrücken. Teilweise finden auch Scheinwahrnehmungen (Fiktionen) statt, die die objektive Realität erweitern. Die Wahrnehmung ist von Natur aus Voraussetzung und eine Bestimmungsgröße für die Entwicklung und Ausprägung eines Wertesystems und der Lebenserfahrung. Umgekehrt werden das Wertesystem und die Lebenserfahrung tendenziell mehr und mehr zu einer Determinante für die intellektuell und psychisch gesteuerte Wahrnehmung mit den Prozessen von Verdrängungen, Akzentuierungen und Fiktionen.

3. Die Ziele von Haushalten älterer Menschen Die Ziele sind die angestrebten Zustände der Wirklichkeit. Sie sind zukunftsbezogen und leiten annahmegemäß das Handeln bzw. Verhalten in den Haushalten älterer Menschen. Für die bestehenden Ziele gilt, daß sie sehr individuell ausgeprägt und deshalb nicht allgemeingültig zu beschreiben sind; allenfalls mit abstrakten Begriffen wie "Lebenszufriedenheit" oder "Wohlbefinden" kann hinter ihnen eine einheitliche Leitidee formuliert werden. Dazu steht es aber nicht im Widerspruch, konkrete Einzelziele, die für Haushalte älterer Menschen typisch sind, zu benennen und systematisch einzuordnen. Hierfür wird nachfolgend in materielle und immaterielle Ziele unterschieden, deren Gewichtungen untereinander offen und die teilweise wechselseitig miteinander verbunden sind. Den materiellen Zielen läßt sich ein vorwiegend wirtschaftlicher Charakter zuschreiben. Die nominellen Ziele beziehen sich auf das Einkommen (einschließlich der damit möglichen Ausgaben) und auf das Vermögen, jeweils gemessen in Geldeinheiten. Auf reale Güter gerichtete Ziele können sehr vielfältig sein. Besonders erwähnenswert sind die Verfügbarkeiten über ein Haus oder eine Wohnung, ggf. einschließlich Garten, am Wohn- oder Ferienort und/oder über ein Automobil. In Haushalten älterer Menschen wird dabei überwiegend nicht der Erwerb im Vordergrund stehen, sondern eher der fortdauernde Besitz und dessen Nutzbarkeit. Als ein übergeordnetes immaterielles Ziel in Haushalten älterer Menschen ist die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit typisch. Im übrigen lassen sich

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natürlich/physische, psychische, soziale und programmatische Ziele untergliedern. Die natürlichen/physischen Ziele beziehen sich auf "Leib und Leben" der älteren Menschen. Konkret sind hiermit die angestrebten Lebensdauern, Gesundheitszustände und körperlichen Leistungsfahigkeiten angesprochen. Als psychisches Ziel kommt besonders die seelische Stabilität in Betracht. Zudem ist ggf. die geistige Flexibilität als eigenständige Zielgröße bedeutsam. Den sozialen Zielen ist das Streben nach Akzeptanz und Integration in der Umgebung zuzurechnen. Einerseits streben Haushalte älterer Menschen nach Verftigbarkeiten von Unterstützungsleistungen von Dritten; andererseits möchten sie sich selbst als Quelle von Unterstützungsleistungen für Dritte ansehen können, um daraus eigenes Wohlbefinden ableiten zu können, konkret etwa das Gefühl, gebraucht zu werden. Die programmatischen - oder Sachziele betreffen verschiedene Aktivitäten älterer Menschen, mit denen nicht (nur) dahinterstehende Ziele erftillt werden sollen, sondern die (auch) um ihrer selbst willen betrieben werden. Sie schlagen sich in Ausdrücken wie Alltagsbewältigung, Nutzung neuer Freiräume oder Ausfüllen neuer Rollen nieder.

4. Die Programme und Verfahren von Haushalten älterer Menschen Die Programme sind die Summe der Aktivitäten von Haushalten älterer Menschen. Sie bestehen aus individuellen Ausprägungen und Zusammenstellungen von Alltagsroutinen, von quasi- oder nachberuflichen Aktivitäten und von Freizeitaktivitäten, die in sozialen Gemeinschaften oder als Individuen betrieben werden. Einen besonderen Bereich bilden die projektbezogenen Aktivitäten. Unter die Alltagsroutinen fallen sämtliche Tätigkeiten des täglichen Lebens, soweit sie von den älteren Menschen noch selbst erledigt werden. Als quasi- und nachberujliche Aktivitäten sind regelmäßige Beschäftigungen aufzufassen, denen ein Erwerbscharakter zuzuschreiben ist - ohne das hierin das vordergründige Interesse der Beschäftigten liegen muß. Die Bandbreite reicht von nahezu unveränderten Fortführungen der erlernten bzw. ausgeübten Berufe im Rentenalter bis hin zu gelegentlichen und geringfügigen Tätigkeiten in völlig berufsfremden Umgebungen. Davon sind die Freizeitaktivitäten nicht immer trennscharf abzugrenzen. Sie reichen von festen Engagements in sozialen Gemeinschaften mit hohem Organisationsgrad (z. B. Vereine, kirchliche und/oder karitative Einrichtungen) über gelegentliche Treffs in kleinen privaten Gruppen (z. B. "Kaffeekränzchen") bis hin zu den als Individuen betriebenen Freizeitaktivitäten (z. B. Hobbies). Die projektbezogenen Aktivitäten sind als Sonderpunkt genannt, weil sie nur über einen begrenzten Zeitraum - dann aber meist sehr intensiv - betrieben werden. Als Beispiele unter vielen anderen seien der Haus- und Garten(aus)bau sowie Reisen über längere Dauern und/oder in fernere Länder genannt.

Risiken und Chancen in Haushalten älterer Menschen

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Jeder Programmteil bzw. jede Aktivität wird durch bestimmte Verfahren realisiert; meist besteht dafur eine ganze Reihe von unterschiedlichen Verfahrensmöglichkeiten. Deren Gesamtheit ist in Anbetracht aller denkbaren Aktivitäten von Haushalten älterer Menschen zu vielfältig, um ein umfassendes Bild zu zeichnen. Nur beispielhaft sei auf die Alltagsroutinen, konkret auf die Aufgabenerfüllung des "Kochens" abgestellt. Die unterschiedlichen Verfahrensmöglichkeiten betreffen hier die Verwendung von Lebensmitteln ("Produktionsfaktoren") und von Techniken fur die Speisenrubereitung ("Faktorkombination"). Als Lebensmittel können etwa Frischwaren oder Konserven verwendet werden. Daraus können am eigenen Herd selbst die Mahlzeiten zubereitet werden oder die Mahlzeiten können von Dritten essensbereit angeliefert werden. Analoge Betrachtungen lassen sich fur sämtliche anderen Alltagsroutinen und fur die quasi- und nachberuflichen Aktivitäten, die Freizeitaktivitäten sowie schließlich die projektbezogenen Aktivitäten anstellen. Das banale Kochbeispiel gibt nicht nur einen Hinweis auf die Fülle an bestehenden Verfahrensmöglichkeiten, sondern zugleich auch auf die Abhängigkeit ihrer Nutzungen von den verfügbaren Haushaltsressourcen und von der gegebenen Haushaltskultur, im Beispiel besonders vom Wertesystem in den Haushalten älterer Menschen.

5. Die Bewertungen der Zielerfüllungen in Haushalten älterer Menschen An die Zielsetzungen und darauf folgend die Programm- und Verfahrenswahl schließen sich sachlogisch die Bewertungen der Zielerfullungen in den Haushalten älterer Menschen an. Damit werden zwei Absichten verfolgt, die aufeinander aufbauen: Erstens sollen vergangenheitsbezogen die Programme und Verfahren gemessen an ihren Zielerfüllungswirkungen beurteilt werden bzw. sollen umgekehrt die Angemessenheiten der Zielsetzungen vor dem Hintergrund der Programm- und Verfahrensmöglichkeiten geprüft werden. Zweitens sollen daraus zukunftsbezogen die Konsequenzen fur das weitere Handeln bzw. Verhalten gezogen werden. Die möglichen Ergebnisse sind in einer Abbildung zusammengefaßt:

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Fred Wagner

Zielsetzungen

abschließende

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(noch) nicht erfulltl verfehlt

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(Fall a)

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60

~ 'S '" c.::: ca ... 0 "' ~------~--------------------~------~------~ ... 0 -..... 33 ·39 6,. "'.S< 60 ·64 Altersklassen - - - EP: Kohorten - ...... - EP: Kohorten ... ~.. EP: Kohorten 1914 bis 1918 1919 bis 1923 1924 bis 1928 - - ZP: Kohorten - 1914 bio 1918

- ZP: Kohorten ...•.. ZP: Kohorten 1919 bis 1923 1924 bis 1928

QueUe: Fachinger (1996).

Abbildung 2: Ausgabetahige Einkommen und Einnahmen von Einpersonen- [EP] und Zweipersonenhaushalten [ZP]

So kann z. B. für die abhängig Beschäftigten insgesamt nicht von einer typischen Einkommens- und Vermögensentwicklung im Lebensablauf gesprochen werden. Für homogene Gruppen zeigt sich aber, daß insbesondere die Entwicklung der (Erwerbs-) Einkommen im Zeitablauf einer Systematik unterliegt, die für die Gruppen allerdings stark voneinander abweichende Züge aufweist. Dies ist in Abbildung 3 für die Gruppen von Zweipersonenhaushalten mit einer männlichen, verheirateten Bezugsperson, differenziert nach der Stellung im Beruf, exemplarisch dargestellt. Die Zeitverlaufs- und Längsschnittanalysen der Entwicklung spezifischer Einkunftsarten weisen auf die Bedeutung soziodemographischer Faktoren hin. Dies betrifft u. a. die Haushaltsstruktur. So ist der Familienstatus bzw. die jeweilige Form des (Zusammen-) Lebens - eheliche sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften, Alleinlebende oder Alleinerziehende - wichtig für die materielle Situation älterer Haushalte. Des weiteren ist die Form der Erwerbstätigkeit mitentscheidend. Dies verdeutlichen die Untersuchungen, in denen eine relativ einfache Schichtung nach der Stellung im Beruf zwischen dem Status Arbeiter(in), Angestellte(r) sowie Beamtin/er vorgenommen wurde. Spezifische Lebensereignisse sind aber auch zu berücksichtigen. Hierzu gehören beispielsweise die Änderung des Haushaltstyps durch die Geburt eines Kindes oder die häusliche Pflege von Bedürftigen, Arbeitslosigkeit sowie gesundheitliche Beeinträchtigungen.

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Einkommen und Vennögen älterer Haushalte

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..... - .. .... --~~.~._.~-----

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Jahr - - AR: Kohorten ---- AR: Kohorten ... ., .. AR: Kohorten

1914 bis 1918

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1914 bis 1918

1919bis 1923

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1924 bis 1928

AN: Kohorten ...•.. AN: Kohorten

1919bis 1923

1924 bis 1928

Quelle: Fachinger (1996).

Abbildung 3: Einkommen von Zweipersonenhaushalten aus unselbständiger Arbeit [Bezugsperson ,,männlich", Familienstand "verheiratet", Stellung im Beruf ,,Arbeiter" (AR) und ,,Angestellter" (AN)]

Sowohl die Ergebnisse aus Querschnittsanalysen als auch die der Kohortenanalyse zeigen, daß im Alter die Einkommen aus öffentlichen Alterssicherungssystemen die dominierende Einkunftsart sind. Dagegen haben die Einkünfte aus einer betrieblichen Altersversorgung oder aus Vermögen ergänzenden Charakter. Wie die Daten der Infratest-Studien ASID '86 und ASID '92 zeigen, hat sich zwar im Vergleich von 1986 zu 1992 der Anteil an Personen, die diese zusätzlichen Alterseinkünfte erzielen, erhöht, dennoch erhält nur eine Minderheit von älteren Haushalten derartige Einkünfte. Die materielle Situation älterer Haushalte bleibt aber während der AItersphase nicht unverändert. So ist mit dem Eintreten typischer krisenauslösender Ereignisse, wie sie von Wagner exemplarisch aufgeführt werden (siehe Wagner in diesem Band), häufig auch eine Änderung der materiellen Lage verbunden. Hier sei auf zwei Aspekte kurz hingewiesen. So liefert die Analyse von Fachinger und Faik Indizien dafür, daß mit der Verwitwung für Frauen eine erhebliche Verringerung der Wohlstandsposition einhergeht. Gerade die Reduzierung von Einkünften bei älteren Haushalten kann von diesen schlecht kompensiert werden, da sie nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit haben, zusätzliche Einkünfte zu erzielen. Andererseits bindet die Pflegebedürftigkeit eines Haushaltsmitgliedes z. T. erhebliche Ressourcen des Haushalts, um die Sonderbedarfe zu decken. Dies kann dazu führen, daß zur Deckung der sonstigen Bedarfe nicht mehr ausreichend materielle Ressourcen zur Verfügung

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Winfiied Schmäh! und Uwe Fachinger

stehen, so daß Sozialhilfeabhängigkeit entsteht. Zur Zeit tritt dies insbesondere bei einer Heimunterbringung auf. 20 In welchem Ausmaß dies durch die neue Pflegeversicherung vermieden wird, bleibt abzuwarten. 21 Neben den soziodemographischen Faktoren ist auf einen weiteren Aspekt im Hinblick auf ein Aufrechterhalten des Lebenshaltungsniveaus hinzuweisen. Dies ist die Zusammensetzung der Alterseinkünfte. So zeigen die Analysen auf der Grundlage der ASID '86 und ASID '92, daß die relative Bedeutung der Einkünfte aus staatlichen Alterssicherungssystemen am Haushaltseinkommen - abgesehen von den Beamtinnen und Beamten - vor allem bei Personen mit hohen Alterseinkommen zurückgeht und die betriebliche und private Zusatzsicherung zur Aufrechterhaltung des Lebenshaltungsniveaus wesentlich beiträgt.22 Wichtig ist auch für diese Einkunftsarten deren Sicherheit sowie deren Anpassung im Zeitablauf. Hier kann zum einen der teilweise oder vollständige Verlust von "unsicheren" Kapitalanlagen zu einer Veränderung der materiellen Situation führen. Zum anderen kann eine allmähliche "Entwertung" z. B. durch die Inflation erfolgen, falls die Leistungen nicht adäquat angepaßt werden. Allerdings liegen zu diesem Bereich noch keine verläßlichen empirischen Ergebnisse vor. Der Tatbestand, daß je nach Zusammensetzung des Einkommens aus Einkunftsarten mit unterschiedlicher Dynamisierung im Zeitablauf beträchtliche absolute und relative Einkommensveränderungen auftreten können, wird aber immer noch recht wenig beachtet: Auch solche Veränderungen können ältere Haushalten selbst nur sehr bedingt ausgleichen. Aussagen für die Gesamtheit aller älteren Haushalte sind folglich wenig aussagekräftig. Es ist erforderlich, möglichst homogene Gruppen zu bilden, wobei die Differenzierung nach soziodemographischen Merkmalen wichtig ist. So ist neben der Klassifizierung nach dem Geschlecht auch eine Gliederung innerhalb dieser Gruppen erforderlich, z. B. nach spezifischen Ausprägungen des Haushaltstyps, in dem sie leben, oder nach der (früheren) Stellung im Beruf. 23 Bei der Ableitung von Aussagen über die künftige Einkommensund Vermögensstruktur älterer Haushalte kommt es somit auch auf die spezifische Konstellation und Veränderung soziodemographischer Merkmale innerhalb der Gesellschaft an.

Siehe z. B. Allemeyer. Siehe hierzu die Erörterungen in Fachinger et al. 22 Ein Grund hierfUr ist die Beitragsbemessungsgrenze in der GRV, die es rur Personen mit Erwerbseinkünften oberhalb dieser Grenze notwendig macht, zur Aufrechterhaltung ihres Lebenshaltungsniveaus im Alter eine zusätzliche Absicherung vorzunehmen. 23 Im Rahmen der sich abzeichnenden Zunahme von Zuwanderern in Deutschland betrifft dies auch die "Herkunft" bzw. das Geburtsland der Personen. 20

21

Einkommen und Vennögen älterer Haushalte

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IV. Ableitung von Aussagen über die zukünftige Entwicklung 1. Vorbemerkungen Die künftige Entwicklung der Einkommens- und Vermögenssituation älterer Haushalte wird maßgeblich von dem während der Erwerbsfahigkeitsphase zur Verfügung stehenden Einkommen determiniert. Sie hängt somit auch von der Belastung der Bruttoeinkommen insbesondere durch direkte Steuern und Sozialabgaben ab. Dies wiederum wird sehr stark von der Entwicklung der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Der Entwicklung der Abgabenbelastung kommt deshalb erhebliche Bedeutung fiir die Abschätzung der Entwicklung der materiellen Situation älterer Haushalte zu. Wichtig sind aber auch die Reaktionen der privaten Haushalte auf derartige Änderungen, insbesondere hinsichtlich ihrer Sparfähigkeit und Sparbereitschaft. Durch Erhöhung der Sozialabgaben aber steigt nicht nur die Belastung der Einkommen der Erwerbstätigen, sondern gleichzeitig wird ceteris paribus auch eine Verteuerung des Faktors Arbeit bewirkt, da durch die Steigerung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung die Lohnnebenkosten steigen. Mit der Zunahme der Abgabenbelastung öffnet sich die Schere zwischen Lohnkosten, die für die Arbeitsnachfrage der Unternehmen wichtig sind, und Netto-Arbeitsentgelten der Haushalte immer weiter. Dies kann u. a. zu vermehrten Ausweichreaktionen der Arbeitsanbieter führen (Abwanderung in die Schattenwirtschaft). Solche Aspekte werden auch unter dem Stichwort "Zukunftssicherung des Standortes Deutschland,,24 im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Wirtschaft seit einiger Zeit intensiv diskutiert. 25

2. Optionen Derzeit werden in Deutschland - aber auch in anderen Ländern - verschiedene Optionen erörtert, die insbesondere zur Entlastung der Arbeitgeber bei den Lohnkosten dienen sollen. Außerdem geht es um Gewichtsverlagerungen zwischen verschiedenen Elementen des Systems sozialer Sicherung - privater und staatlicher Regelungen und Einrichtungen, Vorsorge und Versorgung. Dies wird besonders intensiv im Hinblick auf die Alterssicherung diskutiert, z. T. verbunden mit der Vorstellung, durch geeignete Ausgestaltung solche

24 2j

Siehe hierzu Presse- und Infonnationsarnt der Bundesregierung. Vg1. hierzu als Überblick Sclunähl (199 5b).

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Winfried Schmähl und Uwe Fachinger

Systeme weitgehend gegen demographische Veränderungen zu "immunisieren".26 Als eine Handlungsoption wird die Gewichtsverlagerung in der Absicherung sozialer Tatbestände hin zu ergänzenden Sicherungssystemen, d. h. der betrieblichen und der privaten Absicherung, diskutiert. Anhaltspunkte für das Potential, das sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung für Kapitaleinkünfte abzeichnet, zeigt das Prognos-Gutachten. Nimmt man die Bruttoeinkommen der privaten Haushalte aus Vermögen in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als groben Indikator für die private Absicherung - dieser Wert sagt allerdings nichts über die personelle Verteilung aus -, so werden sich diese Einkünfte in der Zukunft allerdings nicht wesentlich stärker entwickeln als die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit. In den Prognos-Simulationsberechnungen wird jedoch von einer konstanten Sparquote ausgegangen. Angesichts der derzeitigen Diskussion über die Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik Deutschland ist diese Annahme jedoch mit hoher Unsicherheit behaftet. So könnte sich die Sparbereitschaft durch die Diskussion insbesondere über die Umgestaltung der GRV deutlich ändem/7 indem es zu ihrer Erhöhung kommt, was ceteris paribus ein stärkeres Wachstum der Ersparnis und ein geringeres Wachstum des Verbrauchs zur Folge hätte. 28 Im Endeffekt hätte dies dann, bei unverändertem Leistungsrecht, eine bessere materielle Absi26 Verschiedene Optionen werden skizziert in Schmäh) (1995d). Für einen Überblick zur Diskussion über die weitere Entwicklung der Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland siehe Schmäh) (1994a). Zur Diskussion über die Art des Finanzierungsverfahrens (Umlage- versus kapitalfundierte Verfahren) und den Zusammenhang mit demographischen Veränderungen vgl. die unterschiedlichen Positionen von Schmähl (1995c), Krupp und Walter. 27 Fischer I Müller (in diesem Band) verweisen auf den hohen Stellenwert, der der GRV im Hinblick auf die fmanzielle Absicherung von der Bevölkerung zugewiesen wird. Zudem sei auf das Beispiel Schweden verwiesen, wo eine Zunahme der Sparquote in Folge der Reduzierung der Leistungen aus sozialen Sicherungssystemen - insbesondere der Alterssicherung - sowie einer Erhöhung der Unsicherheit bezüglich der Leistungsfllhigkeit der staatlichen Systeme zu verzeichnen ist, hervorgerufen auch durch das Staatsdefizit; Lindbeck, S. 385. 28 Eine Erhöhung der Sparbereitschaft könnte als ein aktives Krisen- bzw. Chancenmanagement gewertet werden, das präventiv den Eintritt einer Krisensituation vermeiden helfen soll. Notwendig hierfiir wäre aber eine Verhaltensänderung (Problembewußtsein gegenüber der nicht zur Absicherung des Lebenshaltungsniveaus ausreichenden Leistungen der staatlichen A1terssicherungssysteme), die dazu fUhrt, daß die sich abzeichnende Entwicklung zu vermehrter Eigenvorsorge fUhrt (Chancenmanagement), aber auch eine Änderung hinsichtlich der Einschätzung eigener zukünftiger Bedürfnisse auslöst. Dabei besteht u. a. das Problem, daß eigene Erfahrungen bezüglich einer adäquaten eigenen Altersvorsorge fehlen, im Gegensatz zu den Generationen, die die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen sowie die des Zweiten Weltkrieges auf die eigene Altersvorsorge bzw. die der Eltern erlebt haben. Damit ein erfolgreiches Chancenmanagement betrieben wird, wäre somit eine Informationsvermittlung bzw. Aufklärung über die Möglichkeiten u. a. hinsichtlich der langfristigen Sicherheit alternativer Anlageformen und über die Möglichkeit der Lebensstandardsicherung erforderlich. Vgl. zu den Problemen des präventiven Risikomanagements, die aus einem "Routineverfahren" entstehen können, auch die AusfUhrungen von Fischer I Müller in diesem Band.

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cherung älterer Haushalte durch zusätzliche Einkünfte aus der privaten Alterssicherung zur Folge. Ob es bei steigenden (direkten) Abgaben zu einer Erhöhung der Sparquote der privaten Haushalte für Zwecke der Absicherung und Versorgung im Alter kommt, hängt also von Entwicklungen hinsichtlich der Präferenzen der Einkommensverwendung für Vorsorge im Vergleich zu anderen Zwecken ab. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion werden aber auch vielfach Vorschläge unterbreitet, bei denen das Niveau staatlicher Alterssicherung drastisch reduziert werden soll. Dieses ist ebenfalls mit der Vorstellung verbunden, daß dann die private ergänzende Vorsorge "die Lücke" füllt, also es zu einer vermehrten privaten Ersparnisbildung kommt. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß über Jahrzehnte die bisher in den staatlichen Alterssicherungssystemen erworbenen Ansprüche weiterhin zu finanzieren sind - also nur allmählich eine Reduktion der dafür erforderlichen Abgaben einträte - während andererseits für diejenigen, die solche "alten Ansprüche" zu finanzieren haben, kein Anspruch auf eine Absicherung im Alter auf dem gegenwärtigen Niveau erfolgt. Wie hierauf in der Erwerbsphase hinsichtlich Erwerbsverhalten und Einkommensverwendung reagiert wird, ist nicht eindeutig zu beantworten, da dies stark von der institutionellen Ausgestaltung der Regelungen abhängt. Zumindest würde über eine längere Zeit für künftige Kohorten das Aufrechterhalten des bisherigen Absicherungsniveaus im Alter eine erhöhte einkommensmäßige Belastung durch Abgaben und private ergänzende Vorsorge erfordern. Auch hier wird wieder deutlich, daß eine kohortenspezifische Betrachtung von Auswirkungen institutioneller Veränderungen erforderlich ist. Im Zusammenhang mit Vorschlägen zur Verlagerung von Leistungen aus den sozialen Sicherungssystemen in den Privatsektor wird auch eine Ausdehnung der betrieblichen Altersversorgung als ergänzendes System befürwortet. Um für einen Ausgleich von Leistungsminderungen in der gesetzlichen Alterssicherung zu sorgen, müßte die betriebliche Altersversorgung allerdings im Vergleich zur gegenwärtigen Situation mindestens zweierlei gewährleisten: Zum einen müßte eine Ausdehnung des von ihr erfaßten Personenkreises erfolgen. Zum anderen müßte eine ausreichende Leistungsanpassung gewährleistet werden, um dem Ziel der Lebensstandardsicherung zu entsprechen. So wird die materielle Situation älterer Haushalte nicht nur durch die bei der Aufgabe der Erwerbstätigkeit und beim Übergang in den Ruhestand (Rentenzugang) erreichte Einkommenshöhe im Vergleich zur vorangegangenen letzten Phase des Erwerbslebens geprägt (Einkommensersatzrate), sondern auch von der Einkommensstruktur und damit auch von der weiteren Entwicklung der verschiedenen Einkunftsarten im Zeitablauf, also inwieweit eine Anpassung von Rentenzahlungen an die Entwicklung von Preisen oder Löhnen erfolgt.

8 Farny u. a.

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In bezug auf die Betriebsrenten zeigt sich fUr die Vergangenheit, daß ihre Anpassung weit hinter der von Leistungen z. B. aus der GRV zurückblieb. Auch wenn die bisherigen wenigen statistischen Angaben noch manche Frage offen lassen, besteht aus Sicht der Beschäftigten hier ein Defizit. Eine Verbesserung dieser Situation zeichnet sich derzeit nicht ab. Weder dürfte der Personenkreis erheblich ausgeweitet werden, noch dürften die Leistungshöhen bzw. deren Anpassung im Zeitablauf spürbar verbessert werden. Eine Reduzierung des Leistungsniveaus in der GRV könnte somit nicht kompensiert werden. Dies hätte zur Folge, daß die Haushalte im Vergleich zur gegenwärtigen Lage verstärkt auf private Vorsorge angewiesen wären, wenn sie das zum Ende der Erwerbstätigkeit erreichte Lebenshaltungsniveau auch in der Nacherwerbsphase aufrecht erhalten wollen. . An diesem Beispiel zeigt sich auch, daß die Entwicklung der materiellen Situation älterer Haushalte wesentlich davon abhängt, wie die Zusammensetzung der Alterseinkünfte gestaltet ist. So bewirkt die unterschiedliche Anpassung von Leistungen aus staatlichen Alterssicherungssystemen, der betrieblichen Altersvorsorge und privaten Sicherungsformen eine Differenzierung der materiellen Situation zwischen älteren Haushalten im Zeitablauf. Für die Haushalte, deren Leistungen aus Altersvorsorgesystemen nicht oder nur eingeschränkt im Zeitablauf erhöht werden und somit nicht der Preis- bzw. der Lohn- und Gehaltsentwicklung angepaßt werden, käme es zu einer relativen Verschlechterung, da sie nur teilweise an der mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergehenden allgemeinen Wohlfahrtssteigerung partizipieren bzw. ihr Realeinkommen sinkt. Dies kann dann zu gravierenden Problemen hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Lebensstandards fUhren, die nicht mehr durch individuelles Verhalten, z. B. in bezug auf das Arbeitsangebot oder die Ersparnisbildung, gelöst werden können. Als weitere Handlungsoption zur Begrenzung der Beitragssatzentwicklung, der Belastung der Arbeitgeber und auch der Haushalte der Gebietskörperschaften zeichnet sich derzeit ab, daß in Folge einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik und des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität immer mehr Leistungen teilweise oder ganz aus den sozialen Sicherungssystemen herausgenommen werden, um den zu erwartenden weiteren Ausgabenanstieg zu begrenzen und den Anstieg des Beitragssatzes zu reduzieren. Diese Reformoption wird vor allem im Rahmen der Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) diskutiert,29 ist aber auch fiir die neu eingefUhrte GPV bedeutsam. 30

29 Siehe hierzu das Gutachten des Sachverständigenrates rur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1995) 30 So Rothgang; siehe rur eine ausfilhrliche Darstellung Rothgang / Schmähl (1995).

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Die Strategien einer Ausgabenbegrenzung führen zu einer Erhöhung der "Eigenbeteiligung" erstens durch die zusätzliche Absicherung sozialer Risiken im privaten Sektor, falls das Absicherungsniveau aufrechterhalten bleiben soll, und/oder zweitens durch die stärkere finanzielle Belastung bei Eintritt eines sozialen Risikos, insbesondere der Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Unterstellt, es kommt zu einer Erhöhung der Sparbereitschaft, so könnte dieser Effekt im Hinblick auf die Ersparnisbildung durch eine Reduzierung der Sparfahigkeit in Folge des zweiten Aspektes konterkariert werden. Eine weitere Handlungsoption ist die Stärkung des Versicherungsgedankens im Bereich sozialer Sicherung. Dies betrifft neben der zusätzlichen privaten Vorsorge auch die Sozialversicherung und hierbei eine Änderung ihrer Finanzierungsstruktur, d. h. eine Verlagerung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung. 31 So wird vorgeschlagen, allgemeine Umverteilungsmaßnahmen, die derzeit noch aus lohnbezogenen Abgaben finanziert werden, zukünftig aus allgemeinen Haushaltsmitteln der Gebietskörperschaften zu bestreiten. Dies hätte zwar eine Entlastung des Faktors "Arbeit" und der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit zur FOlge,32 von dieser "Umfinanzierung" gehen jedoch auch direkte und indirekte Effekte nicht nur auf die Lohnkosten, sondern auch auf den Staatshaushalt und das gesamte soziale Sicherungssystem infolge der Interdependenz der einzelnen Zweige aus. Aufgrund der Verflechtung der einzelnen institutionellen Träger der sozialen Sicherung sind die allokativen und distributiven Wirkungen einer solchen Änderung schwer abschätzbar. 33 Neben der Verlagerung von einer Beitrags- auf eine Steuerfinanzierung wird eine weitere Form der Umstellung der Finanzierung als Argument vorgetragen. Bisher wurden die Beiträge für die Sozialversicherungssysteme in der Regel zu gleichen Teilen von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gezahlt. 34 Hier soll nun künftig eine vollständige Beitragszahlung durch die Arbeitnehmer erfolgen. 35 Allerdings werden diese Vorschläge zunächst nicht 31 Dies wird in Deutschland z. Zt. insbesondere filr den Bereich der Arbeitslosenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung diskutiert, betrifft aber alle Sozialversicherungszweige; siehe dazu ausfilhrlich Schmähl (1995e). 32 Schmähl hat filr das Jahr 1992 ein Finanzvolumen von etwa 100 Mrd. DM errechnet; siehe Schmähl (1994b), S. 370 f. 33 Siehe zu den mit der Einfilhrung der gesetzlichen Pflegeversicherung verbundenen Effekten auf die institutionelle Verteilung Gawel. 34 Lediglich in der gesetzlichen Unfallversicherung zahlen die Arbeitgeber den gesamten Beitrag. Mit der Feststellung, wer den Beitrag zahlt, ist aber noch nichts darüber ausgesagt, wer die Zahlungen zu tragen hat. So kann es zu Vor- und Rückwälzungen der Beitragslast kommen. In der GPV zahlen zwar die Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beiträge je hälftig (eine Ausnahme gilt im Bundesland Sachsen), durch die gesetzlich normierte Kompensation in Folge des Wegfalls eines Feiertages wird die Beitragslast jedoch faktisch vollständig von den Arbeitnehmern getragen (in Sachsen wurde kein Feiertag abgeschafft, so daß dort die Arbeitnehmer den vollen Beitrag zahlen). 35 Dieser Vorschlag wird immer wieder in Wissenschaft und Politik vorgetragen.

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im Hinblick auf eine Reduzierung des Beitragssatzanstiegs vorgebracht, sondern hinsichtlich einer Verlagerung der "Kosten" hin zu einer stärkeren "Eigenbeteiligung" bzw. "Eigenverantwortung" der Versicherten. Welche Konsequenzen dies für die Einkommenssituation der Haushalte hat, ist schwer vorhersagbar, da sie von vielen Anpassungsreaktionen abhängen. Eine andere Reformoption, die z. Zt. diskutiert wird, zielt darauf ab, die Beitragssätze der Arbeitgeber festzuschreiben und die weiteren erforderlichen Beitragssatzsteigerungen ausschließlich von den Arbeitnehmern zahlen zu lassen. 36 Zugleich soll damit der Beitragssatzanstieg gebremst wefden. Dies hat zwei Effekte zur Folge. Erstens würde hierdurch die Belastung der Arbeitnehmereinkommen steigen, so daß die Sparfähigkeit im Hinblick auf eine private Vorsorge eingeschränkt würde. Zweitens implizieren insgesamt geringere Beitragszahlungen geringere Leistungen, sofern man nicht von hohen "Rationalisierungsreserven" (insbesondere in GKV und GPV) ausgeht. Angesichts der kurz dargestellten für die Zukunft möglicherweise zu erwartenden Änderungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme gestalten sich Aussagen über die Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung der Einkommens- und Vermögenssituation älterer Haushalte sehr schwierig. Dies hat einen Grund auch darin, daß Änderungen in einem Bereich u. U. erhebliche Folgewirkungen für einen anderen haben. So ist beispielsweise die steuerpolitische Strategie - ob vermehrt direkte oder indirekte Steuern eingesetzt werden - u. a. von Bedeutung für die gesetzliche Rentenversicherung, da dort die Anpassung der Renten an die Entwicklung des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts gekoppelt ist. 37 Folglich führt ein vermehrter Einsatz von indirekten Steuern im Vergleich zu direkten Steuern ceteris paribus zu einem höheren Nettoarbeitsentgelt und damit höheren Rentenanpassungen und Rentenausgaben sowie vermehrtem Finanzbedarf. Leistungsrechtsänderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit können wiederum Konsequenzen für die Alterssicherung der Leistungsempfänger selbst wie auch für die Finanzlage der Rentenversicherung haben, da Beiträge von der Bundesanstalt an die Rentenversicherung gezahlt werden. Diese wenigen Beispiele illustrieren, in wie vielfaItiger Weise die personelle Verteilungssituation in verschiedenen Lebensphasen (u. a. abhängig davon, wann z. B. institutionelle Änderungen eintreten) durch politische Entscheidungen und institutionelle Regelungen beeinflußt werden kann. Zu berücksichtigen ist auch, daß die oben erwähnten vorgeschlagenen Einschränkungen nicht nur für das dominierende soziale Alterssicherungssystem, die GRV, diskutiert werden, sondern ebenfalls für die anderen Regelsysteme 36 Siehe hierzu z. B. die Meldung im Handelsblatt vom 26.127. Mai 1995, S. 4: "Wirtschaftsrat fordert Reform des Sozialstaats. " 37 Siehe hierzu u. a. Sclnnähl (1990) sowie Fachinger (1994b), S. 94 ff.

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wie insbesondere die Beamtenversorgung. Denn auch für andere Systeme (neben der Beamtenversorgung die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes oder die landwirtschaftliche Altershilfe) deuten sich erhebliche Ausgabensteigerungen an, die insbesondere die Haushalte der Gebietskörperschaften betreffen werden. 38 Alles in allem ist angesichts der derzeitigen Diskussionslage mit Einschränkungen der Leistungen aus den Regelalterssicherungssysternen zu rechnen, mit der Folge eines im Vergleich zu heute niedrigeren Absicherungsniveaus für ältere Haushalte. Die Frage ist, in welchem Ausmaß und in welcher Weise die Senkungen des Leistungsniveaus stattfinden und in welchem Maße dennoch Abgabenerhöhungen erforderlich werden. So könnte die Situation eintreten, daß auf der einen Seite die Haushalte in der Zukunft zur Absicherung ihres Lebenshaltungsniveaus verstärkt auf zusätzliche Quellen werden zurückgreifen müssen. Auf der anderen Seite könnte diesen Haushalten durch den trotzdem erfolgenden Belastungsanstieg oder durch eine für sie ungünstige ökonomische Situation aber auch relativ weniger Einkommen zur Verfügung stehen, so daß eine im Vergleich zu heute stärkere Vermögensbildung, die bei einer Einschränkung der Leistungen in den öffentlichen Systemen zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards notwendig wäre, während der Erwerbstätigkeit nur bedingt möglich sein würde. Allerdings würde eine Präferenzänderung, bei der die Haushalte der Vorsorge größere Bedeutung zumessen, die Bewältigung der u. a. mit dem demographischen Wandel verbundenen Auswirkungen auf die Einkommenssituation im Alter erleichtern. Unter Verwendung der Forschungsergebnisse aus Theorie und Empiriedas heißt bei einer Zusammenschau der Ergebnisse aus der Kohortenanalyse und aus den Querschnittsuntersuchungen unter Beachtung der theoretischen Erklärungsansätze - seien die im folgenden skizzierten Hypothesen formuliert.

3. Hypothesen Nach derzeitigem Kenntnisstand bleibt es bei der überragenden Bedeutung, die den Leistungen aus den Regelsicherungssystemen zur Absicherung des Lebenshaltungsniveaus älterer Haushalte zukommt. Da aber für die Zukunft im Vergleich zu heute nicht mit im Durchschnitt höheren Ansprüchen ge38 So werden die Ausgaben ftlr die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes gemäß den Modellrechnungen von Prognos von 13,0 Mrd. DM im Jahre 1992 bis zum Jahre 2040 auf 163,3 Mrd. DM (unteres Szenario) bzw. auf236,7 Mrd. DM (oberes Szenario) ansteigen; Prognos (1995), S. 189. Die Zahlungen von öffentlichen Pensionen werden sich im gleichen Zeitraum von 38,2 Mrd. DM auf 452,9 Mrd DM; (unteres Szenario) bzw. auf 670,0 Mrd. DM (oberes Szenario) erhöhen; Prognos (1995), S. 210.

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rechnet werden kann und die Anpassung der Leistungen sich z. B. in der GRVan der Nettolohnentwicklung orientiert, werden in Zukunft die älteren Haushalte aus diesen Einkunftsquellen materiell nicht besser gestellt sein als die heutigen älteren Haushalte - eher ist zu vennuten, daß sich ihre relative Position im Vergleich zu den Erwerbstätigen verschlechtert. Die Vermögensentwicklung wird aller Voraussicht nach zwar mittelfristig zu einer absoluten Zunahme der Geldvennögen führen, allerdings wird sich dies relativ - bezogen z. B. auf das monatlich verfügbare Einkommen - nicht stark auswirken. Ein solch ausgeprägter Vennögensaufbau, wie er in der Bundesrepublik Deutschland für eine breitere Bevölkerungsschicht in den sechziger und siebziger Jahren in Folge der wirtschaftlichen Prosperität bis zur ersten "Erdölkrise" möglich war, ist in der Zukunft nicht mehr zu erwarten. Allerdings ist inzwischen ein beträchtlicher, wenngleich recht ungleich verteilter, Vennögensbestand akkumuliert, der zum erheblichen Teil (insbesondere durch Vererbung) auf nachfolgende Kohorten übertragen wird. Wie diese dann mit ihrer eigenen Sparentscheidung reagieren, bleibt abzuwarten. Nicht unplausibel ist die Hypothese, daß die Ersparnisbildung dadurch eher rückläufig wird. Es ist sogar zu vennuten, daß zumindest bei den älteren Haushalten im Vergleich zu heute langfristig ein Vennögensabbau stattfinden wird, da zur Aufrechterhaltung des Lebenshaltungsniveaus und zum Ankauf von Gütern und Dienstleistungen im Falle von Krankheit und ggf. Pflegebedürftigkeit vennehrt Leistungen privat zu finanzieren sein werden. 39 Es wird zu einer stärkeren Einkommensdifferenzierung innerhalb der älteren Bevölkerung kommen, da eine größere Zahl als in der Vergangenheit für die Absicherung im Alter nicht genügend "Vorleistungen" erbringen kannsei dies durch den Erwerb von Ansprüchen in der GRV, von Betriebsrenten oder durch den Aufbau von Vennögen. Ursächlich hierfür ist zum einen die Arbeitsmarktentwicklung, für die sich bis zum Jahre 2010 keine merkliche Entlastung gemäß den Modellrechnungen abzeichnet. Zum anderen könnte dies auch durch die Zunahme instabiler Lebensgemeinschaften bewirkt werden. 40 Als Folge zeichnet sich damit eine Zunahme von Risikogruppen ab,

39 Zwar wird des öfteren erwähnt, daß durch die Einfiihrung der GPV eine Umverteilung von unten nach oben erfolgt mit dem Hinweis, daß durch das nicht bedürftigkeitsgeprüfte Zurverfilgungstellen von Leistungen Vermögen "geschützt" würden. Dies gilt jedoch allenfalls rur die Einfiihrung)!phase, da den späteren Leistungen Beitragszahlungen gegenüberstehen. Darüber hinaus sind die Leistungen plafoniert und nicht bedarfsorientiert gestaltet; Rothgang. Dies hat zur Folge, daß bei einem Pflegebedarf, dessen Kosten nicht von der GPV vollständig getragen werden, auf eigene Einkünfte zurückgegriffen werden muß; siehe allgemein zu den Wirkungen der gesetzlichen Pflegeversicherung Fachinger / Rothgang. 40 Die relative Häufigkeit des Sozialhilfebezug)! ist bei geschiedenen Frauen am höchsten; siehe zur Diskussion Schmähl (1993), S. 14 ff

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deren materielle Absicherung im Alter als unbefriedigend zu bezeichnen wäre. 41 Hiermit ist allerdings erst eine grobe Tendenz beschrieben. So differenziert, wie die empirischen Ergebnisse für die einzelnen Gruppen sind, so differenziert gestaltet sich auch die zukünftige Entwicklung der Einkommensund Vermögensstruktur. Exemplarisch sei abschließend auf folgende Gruppen hingewiesen. Die Frauen, die u. a. aufgrund des sich ändernden Erwerbsverhaltens in Verbindung mit der Änderung der Wirtschaftsstruktur längere Erwerbsphasen aufweisen, werden im Vergleich zu heute über eine bessere eigene Absicherung verfügen. Eine vergleichsweise gute Position werden die gut bzw. adäquat ausgebildeten Frauen und Männer haben, da diese von den strukturellen wirtschaftlichen Änderungen nicht negativ betroffen werden, somit durch ihre Erwerbstätigkeit Ansprüche im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme akkumulieren können und über ausreichende Einkommen verfügen, um zusätzlich eine private Absicherung zu finanzieren. Zur Problemgruppe werden vor allem Arbeitslose mit längeren Phasen der Erwerbslosigkeit zählen. Allerdings handelt es sich hierbei z. T. um eine Art von Kohorteneffekt, da insbesondere die Personen davon betroffen werden können, deren Hauptteil der Erwerbsfahigkeitsphase in die Zeit bis zum Jahre 2010 fallt. Insbesondere Personen, die nicht adäquat ausgebildet sind bzw. die nicht flexibel genug reagieren (können) und im Rahmen der Strukturänderungen der Wirtschaft keine Ausbildung, Weiterbildung oder Umschulung durchführen (können), werden ebenfalls nicht in der Lage sein, eine ausreichende Vorsorge im Hinblick auf die Einkommen und Vermögen im Alter zu betreiben. 42 Aber auch manche der "neuen Formen" von Selbständigkeit (Scheinselbständigkeit) können Versorgungsprobleme im Alter zur Folge haben, wenn aus dem Einkommen nicht freiwillig vorgesorgt wird und wenn diese Formen der Selbständigkeit längere Phasen im Lebensablauf ausmachen. 43 Zu einer weiteren Problemgruppe dürften vergleichsweise viele Personen mit instabilen Lebensgemeinschaften gehören. Hierbei könnten besonders Frauen betroffen werden, die nach "klassischem" Verhaltensmuster beispielsweise Erwerbstätigkeit als Hinzuverdienst ausüben (z. B. auch als sozialversicherungsfreie Beschäftigung) oder aufgmnd der Geburt eines Kindes ihre So auch Deutscher Bundestag. S. 319 ff. Ein besonderer Aspekt, der in diesem Beitrag nicht erörtert werden konnte, steht im Zusammenhang mit internationalen Wanderungsbewegungen. Je nach der Struktur der Zuwandernden können sich nicht nur unterschiedliche Auswirkungen z. B. auf die Finanzlage sozialer Sicherungssysteme und damit auch der Abgaben ergeben, sondern auch Problemgruppen im Alter entstehen; vgl. filr einige damit verbundene Fragen Schmähl (1995f). 43 Vgl. Schmähl (l995a). 4\

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Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise aufgeben. Dies führt dann zu geringen eigenen Ansprüchen. Bei Trennung/Scheidung oder Tod des Partners können je nach Form der Lebensgemeinschaft unterschiedliche Folgen auch für ihre eigene Situation im Alter auftreten, z. B. bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften gibt es keinen Versorgungsausgleich und keine Hinterbliebenenrente. 44

4. Abschließende Anmerkungen Im Gutachten des Prognos-Instituts wurde abgeleitet, daß trotz erheblicher Belastungssteigerungen bei gegebenem Leistungsrecht im Bereich sozialer Sicherung in beiden dort zugrundegelegten Szenarien gesamtwirtschaftlich betrachtet das Realeinkommen weiter wachsen wird. Wenn dieses zutrifft, so ist damit auch eine recht wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz sozialer Sicherung geschaffen, nämlich, daß trotz steigender Abgaben die Netto-Einkommen der Erwerbstätigen weiter zunehmen. Inwieweit die älteren Haushalte an dieser Entwicklung in Zukunft auch partizipieren, hängt - wie oben stichwortartig dargestellt - von vielen Faktoren ab. Manches deutet allerdings darauf hin, daß ihre relative Position - verglichen mit den Haushalten mit erwerbstätigen Mitgliedern - im Vergleich zu heute zumindest nicht günstiger sein dürfte. Allerdings ist die Hypothese nicht unplausibel, daß sich die Differenzierung innerhalb der älteren Haushalte verstärkt. Dies wäre nicht nur ein Ergebnis unterschiedlicher Einkommensstrukturen und Einkunftsarten mit unterschiedlicher "Dynamisierung", sondern vermutlich auch Folge politischer Entscheidungen, bei denen keine pauschalen, generellen Änderungen des Leistungsrechts vorgenommen werden, sondern differenzierte Veränderungen. In die gleiche Richtung könnte ein Zurückführen interpersoneller Einkommensumverteilungselemente im Bereich sozialer Sicherung und eine stärker zielgerichtete Umverteilungspolitik wirken. Im Interesse einer regelmäßigen Beobachtung der Entwicklungstendenzen und damit auch eines "Frühwarnsystems" im Hinblick auf unerwünschte Entwicklungstendenzen wäre eine differenzierte Verteilungsberichterstattung, die insbesondere auch Kohortenunterschiede berücksichtigt und Längsschnittdaten verwendet, wünschenswert. Sie ist schon seit langem überfällig. Hiermit würden auch privaten Haushalten und Unternehmungen zusätzliche Informationen für ihre eigenen Entscheidungen zur Verfügung stehen, die für eine den jeweiligen Bedürfnissen entsprechende Ausgestaltung von Maßnahmen zur langfristig zu planenden Vorsorge und Absicherung im Alter wichtig wären. 44

Siehe beispielsweise Schmähl (1993), S. 14 f.

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Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter Von Hennann Brandenburg, Heidelberg, und Eric Schmitt, Greifswald

I. Einführung In der vorliegenden Arbeit werden zentrale Untersuchungsbefunde zur sozialen Integration, zur Haushaltsstruktur und zu unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter vorgestellt. In einem ersten Schritt werden Daten zum Hilfe- und Pflegebedarf in der Bundesrepublik dargestellt, die von INFRATEST (1992) erhoben wurden. Als Basis für sozialpolitische Entscheidungen, die auf die Verbesserung der Situation von hilfe- und pflegebedürftigen Personen und ihrer Pflegepersonen zielen, wurden repräsentative Daten über Ausmaß und Schweregrad von Hilfe- und Pflegebedarf, Fonnen und Ursachen des Hilfe- und Pflegebedarfs und Art und Umfang der Inanspruchnahme von Hilfeleistungen ermittelt. Diese werden durch vertiefende Analysen des Forschungsprojektes "Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung im Alter (MUGSLA)" (Olbrich et al. 1994) ergänzt. Bei der MUGSLA-Studie handelt es sich um eine interdisziplinäre Untersuchung zum Hilfe- und Pflegebedarf in der Bundesrepublik Deutschland, die im Jahre 1990 vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in Auftrag gegeben wurde. Im Rahmen medizinischer und psychologischer Intensiverhebungen an einer ausgewählten Stichprobe von hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen sind unterschiedliche Pflegesituationen und Merkmale der psychischen Auseinandersetzung und Verarbeitung von Konfliktsituationen analysiert worden. In einem weiteren Schritt werden zentrale Aspekte der sozialen Integration älterer Menschen behandelt. Daran anschließend werden die psychische Situation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen und Potentiale individueller Risikobewältigung diskutiert. Abschließend werden auf der Grundlage empirischer Forschungsergebnisse und vorliegender Prognosen zur Haushalts- und Versorgungssituation älterer Menschen bis zum Jahre 2030 Szenarien sozialer Integration für unterschiedliche Fonnen der Selbständigkeit im Alter entwickelt.

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Hermann Brandenburg und Eric Schmitt

11. Daten zum Hilfe- und Pflegebedarf in der Bundesrepublik 1. Selbständigkeit in der Ausführung von Alltagsaktivitäten Seit den klassischen Arbeiten von Katz et al. (1963) und Lawton / Brody (1969) wird die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung üblicherweise über basale und instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens operationalisiert (vgl. z. B. Wahl 1990a, 1990b, 1993; Fillenbaum 1985, Guralnik / Simonsick 1993). Die für die Bundesrepublik neuesten Repräsentativ," daten zu dieser Thematik wurden 1992 von INFRATEST vorgelegt (vgl. INFRATEST 1992; Schneekloth / Potthoff 1993). Auf einige wesentlichen Ergebnisse soll im folgenden kurz eingegangen werden: Im Bereich der Körperpflege und Hygiene bestehen die größten Beeinträchtigungen beim Baden. 8.9% der 65-79jährigen und 30.2% der über 80jährigen können diese Funktion nicht mehr ohne Hilfe einer Unterstützungsperson ausführen. Umgekehrt haben 90% der 65-79jährigen und 70% der über 80jährigen keine Schwierigkeiten beim Baden. Bei anderen körperbezogenen Aktivitäten (z. B. "Essen", "Anziehen", "Das Bett verlassen") sind Kompetenzeinschränkungen nur in wesentlich geringerem Umfang feststellbar. Einschränkungen bei der Toilettenbenutzung haben 2.4% der 6579jährigen und 10.8% der über 80jährigen. Im Gegensatz zu diesen basalen Aktivitäten des täglichen Lebens zeigen sich bei komplexeren Alltagsfunktionen deutlichere Einschränkungen. Bei einzelnen Verrichtungen der Haushaltsführung, wie z. B. "Wohnung sauber machen" oder "Lebensmittel einkaufen" haben etwa 12-13% der 65-79jährigen und knapp 40% der über 80jährigen Schwierigkeiten oder sind gar nicht mehr in der Lage, diese Tätigkeiten selbständig auszuführen. In ihrer außerhäuslichen Mobilität (z. B. "Treppensteigen", "öffentliche Verkehrsmittel nutzen") sind etwa 10% der 65-79jährigen und ein Drittel der über 80jährigen beeinträchtigt und benötigen Hilfe.

2. Hilfe- und Pflegebedarf in privaten Haushalten Für die Bestimmung des Hilfe- und Pflegebedarfs sind nach INFRATEST zwei Kriterien wichtig: die Anzahl und Schwere der Einschränkungen in der selbständigen Ausführung von Alltagsverrichtungen (ADLIIADL) sowie die Zeiträume, in denen Hilfe in den körperbezogenen Bereichen in Anspruch genommen werden muß (Pflegeintervalle). Die Definition von Hilfe- und Pflegebedarf beinhaltet, daß die Unterstützung in einer gewissen Regelmäßigkeit

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

127

erfolgen muß. Im Kontext der Bildung unterschiedlicher Pflegestufen differenziert INFRATEST zwischen "Regelmäßigem Pflegebedarf' sowie "Hauswirtschaftlichem Hilfebedarf' (INFRATEST 1992, S. 56 ff.). Wir betrachten zunächst das globale Ausmaß von Hilfe- und Pflegebedarf in der Gesamtbevölkerung und differenzieren anschließend nach Altersgruppen und Geschlecht: "Regelmäßiger Pflegebedarf' liegt den Ergebnissen von INFRATEST zufolge bei insgesamt 1.1 Millionen Menschen (1.4% der Gesamtbevölkerung) vor. Die Einstufung in die Gruppe mit "regelmäßigem Pflegebedarf' setzt mindestens voraus, daß körperbezogene alltägliche Verrichtungen (operationalisiert als ADLIIADL) im Bereich der Hygiene und der Mobilität bzw. Motorik nicht selbständig ausgeführt werden können. "Regelmäßiger Pflegebedarf' läßt sich in "ständigen Pflegebedarf', "täglichen Pflegebedarf' und "mehrfach wöchentlichen Pflegebedarf' differenzieren. "Ständiger Pflegebedarf' existiert bei ca. 190.000 Personen (0.2%), täglicher Pflegebedarfbei ca. 468.000 (0.6%), mehrfach wöchentlicher Pflegebedarfbei 465.000 (0.6%). "Hauswirtschaftlicher Hilfebedarf' existiert bei allen Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen oder sozial-kommmunikativen Aktivitäten, sofern diese Personen nicht pflegebedürftig sind. "Hauswirtschaftlicher Hilfebedarf' besteht bei ca. 2.1 Millionen Menschen (2.7%). Auch diese Kategorie kann weiter in "mehrfach täglicher/täglicher Bedarf' (858.000 oder 1.1%), "mehrfach wöchentlicher/wöchentlicher Bedarf' (784.000 oder 1.0%) und "geringer Bedarf' (424.000 oder 0.6%) differenziert werden. Hilfe- und Pflegedarf finden wir vor allem im höheren Lebensalter. Während der Anteil hilfe- und pflegebedürftiger Kinder bis 15 Jahre und der von Personen im Alter zwischen 16-39 Jahren - trotz aller Unterschiedlichkeit im Krankheitsspektrum - mit 0.2 bis 0.5% sehr gering ist, nimmt der Anteil hilfe- und pflegebedürftiger Personen mit dem Alter kontinuierlich zu. Absolut betrachtet sind 790.000 Personen im Alter von über 65 Jahren pflegebedürftig und weitere 1.47 Millionen Personen hilfebedürftig. Dies entspricht einem Anteil von 7.6% bzw. 12.5% bei Personen über 65 Jahren. Von den 80jährigen und älteren Menschen sind ca. 480.000 pflege- und 670.000 hilfebedürftig (16,4% bzw. 22.7% der genannten Altersgruppe). Beim Pflegebedarf sind Männer in der Altersgruppe zwischen 65 und 79 Jahren mit 4.2% gegenüber den Frauen in der gleichen Altersgruppe mit 3.1% stärker betroffen. Beim Hilfebedarf ist die Situation in dieser Altersgruppe umgekehrt. Insgesamt sind Frauen mit 9.3% tendenziell stärker eingeschränkt als Männer mit 8.6%. Bei den 80jährigen und älteren sind 17.8% der Frauen gegenüber 12.8% der Männer pflegebedürftig, und weitere 25.1% der Frauen gegenüber 16.5% der Männer sind hilfebedürftig.

128

Hennann Brandenburg und Erle Selunitt

111. Haushalts- und Versorgungssituation älterer Menschen 1. Haushaltsstrukturen älterer Menschen mit Hilfe- und Pfegebedarf

1991 gab es in Deutschland ca 35.000 Haushalte mit insgesamt 80 Millionen Haushaltsmitgliedern. Die durchschnittliche Haushaltsgröße lag bei 2.27 Personen. Etwa ein Drittel der Haushalte waren Einpersonenhaushalte. In diesen Zahlen drückt sich eine Tendenz zur "Singularisierung", d. h. zum Alleinleben, aus. Auch bei älteren Menschen ist dieses Phänomen zu beobachten (vgl. Rosenmayr 1983; Zapf 1987; Wilbers 1988). Dabei wird das Alleinleben im Alter in der gerontologischen Literatur bei einem erheblichen Anteil der Personen als Ausdruck einer Lebenseinstellung, die durch die Formel "innere Nähe durch äußere Distanz" bzw. "Intimität auf Abstand" (vgl. Tartler 1961, Hörl / Rosenmayr 1994) ausgedrückt werden kann, interpretiert. Zur Zeit leben 34.5% der 60jährigen und älteren Menschen in Einpersonenhaushalten und 14% der älteren Menschen mit ihren Kindern und/oder Enkelkindern in Mehrpersonenhaushalten. In Drei- und Mehrgenerationenhaushalten leben gegenwärtig 3% der Personen ab 60 Jahren. Die dominierende Haushaltsstruktur bilden die Zweipersonenhaushalte, in denen 51.8% der älteren Menschen leben, wobei auf deutliche Geschlechtsunterschiede (68.1% Männer, 41.4% Frauen) hinzuweisen ist. Der Anteil der in Drei- und Mehrpersonenhaushalten lebenden Älteren ist mit 13.8% relativ gering ausgeprägt. 17.8% der Männer und 11.3% der Frauen leben in solchen Haushaltsformen. Mit fortschreitendem Alter nimmt die Anzahl der Einpersonenhaushalte deutlich zu. Dieser Anteil liegt bei den Personen ab 75 Jahre bei 53.2%. In den Haushaltsstrukturen finden sich - wie schon angedeutet erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Während der Anteil alleinlebender Männer bei 14.1% liegt, leben 47.3% der Frauen ab 60 Jahre allein. Von den 85.9% der Männer ab 60 Jahre in Mehrpersonenhaushalten leben 65.2% in Eingenerationenhaushalten, 16% in Zweigenerationenhaushalten und 1.9% in Drei- und Mehrgenerationenhaushalten. Von den 52.7% der Frauen ab 60 Jahre in Mehrpersonenhaushalten leben 35.0% in Eingenerationenhaushalten, 12% in Zweigenerationenhaushalten und 3% in Dreiund Mehrgenerationenhaushalten. Von den Personen mit regelmäßigem Pflegebedarf leben 20% in Einpersonenhaushalten, 34% in Zweipersonenhaushalten und 46% in Drei- und Mehrpersonenhaushalten. Von den Personen mit hauswirtschaftlichem Hilfebedarfleben 42% in Einpersonenhaushalten, 35% in Zweipersonenhaushalten und 23% in Drei- und Mehrpersonenhaushalten.

Soziale mtegration bei unterschiedlichen Fonnen der SelbstAndigkeit im Alter

129

2. Versorgung hilfe- und pflegebedürftiger älterer Menschen In Übereinstimmung mit Ergebnissen gerontologischer Forschung (vgl. z. B. Lehr 1991, Rückert 1992, Brandt 1993, Brandenburg / Zimprich 1995) zeigen die vertiefenden Analysen der MUGSLA-Studie zur Lebenssituation von älteren Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf (vgl. Olbrich et al. 1994), daß nach wie vor eine hohe Unterstützungsleistung in pflegerischen und sozialen Betreuungsaufgaben durch die Familie erbracht wird: Drei Viertel der von uns befragten Älteren erhalten von Angehörigen Unterstützung im pflegerischen und hauswirtschaftlichem Versorgungsbereich. Dabei sind in 64% aller Fälle eine Person (Hauptpflegeperson) oder zwei Personen für die Versorgung der älteren Angehörigen verantwortlich. Das Spektrum der Hilfeleistungen reicht dabei von Hilfen bei der alltäglichen Haushaltsführung (Einkaufen, Kochen, Waschen und Putzen) über Betreuung bei der Körperpflege (Baden, Haare waschen) bis hin zu langjähriger Versorgung eines pflegebedürftigen Familienmitglieds. Die Unterstützungspersonen sind in der Regel Frauen (Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter). Erst dort, wo keine Familienangehörigen vorhanden sind bzw. weit entfernt wohnen, werden außerfamiliäre Helfer (z. B. Freunde, Bekannte, Nachbarn) oder soziale Hilfsdienste in Anspruch genommen. Bei 13% der von uns im Rahmen der MUGSLA-Studie untersuchten älteren Menschen sind außerfamiliäre Helfer in die Pflege und Betreuung eingebunden; 25% der Befragten nutzen einen oder mehrere ambulante sozialpflegerische Dienste. Dabei ist der reale Pflege- und Betreuungsbedarf nur ein wichtiges Kriterium für die Nutzung der Dienste. Daneben spielen finanzielle Gründe, die Motivation und die Infonnation über das Dienstleistungsspektrum einzelner Angebote eine entscheidende Rolle. Ein hohes Maß an Nutzung zeigt sich bei bestimmten Hilfsmitteln, wie z. B. bei Gehstützenl -hilfen, orthopädischen Hilfen oder Rollstühlen. Ein ungedeckter Bedarf besteht bei komplexeren und teuren Hilfsmitteln wie z. B. Hebehilfen, Treppenaufzügen oder Hausnotrufsystemen. Als Gründe für die Nichtverfügbarkeit benötigter Hilfsmittel stehen finanzielle Gesichtspunkte (21 %), Infonnationsmängel (13%) und subjektive Barrieren der Inanspruchnahme (12%) im Vordergrund.

IV. Formen der Selbständigkeit bei hilfebedürftigen älteren Menschen Nachdem im ersten Kapitel Daten zum Hilfe- und Pflegebedarf vorgestellt wurden und im zweiten Kapitel Infonnationen zur Haushalts- und Versorgungssituation gegeben wurden, soll im folgenden Kapitel auf differenzie9 Farny u. a.

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Hermann Brandenburg und Eric Sclunitt

rende und erklärende Aspekte zur Selbständigkeit im Alter eingegangen werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Herausarbeitung unterschiedlicher Formen der selbständigen Lebensführung und ihrer genauen Beschreibung. Datengrundlage sind medizinische und psychologische Intensivuntersuchungen von 745 älteren Personen, die im Rahmen der Studie "Möglichkeiten und Grenzen der selbständigen Lebensführung im Alter" (MUGSLA) durchgeführt wurden. Die Differenzierung unterschiedlicher Formen selbständiger Lebensführung erfolgte auf der Grundlage hierarchischer Clusteranalysen (Ward-Algorithmus). Clusteranalysen sind "heuristische Verfahren zur systematischen Klassifizierung der Objekte einer gegebenen Objektmenge" (Bortz 1993, S. 522). Mit Hilfe von Clusteranalysen ist es möglich, auf empirischem Wege Personen zu Gruppen zusammenzufassen, wobei die Gruppenbildung auf Ähnlichkeit vs. Verschiedenartigkeit der Personen in den untersuchten Merkmalen beruht: Personen mit ähnlichen Merkmalsausprägungen werden zu einer Gruppe zusammengefaßt, die sich von den anderen Gruppen in diesen Merkmalsausprägungen möglichst stark unterscheidet. Die Entscheidung für die Anzahl zu unterscheidender Gruppen erfolgt auf der Grundlage der zunehmenden Fehlervarianz, die mit einem weiteren Fusionsschritt - das heißt: einer weiteren Zusammenfassung von Personengruppen zu umfassenderen Gruppen - verbunden ist. Der Grad selbständiger Lebensführung wurde in der vorliegenden Untersuchung mit Hilfe von 23 basalen und instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL/IADL) operationalisiert. Es wurde untersucht, inwieweit die befragten Personen jede dieser 23 Aktivitäten "ohne Schwierigkeiten" (= Skalenpunkt 1), nur "mit Schwierigkeiten" (= Skalenpunkt 2) oder "nicht mehr ohne Hilfe durch andere Personen" (= Skalenpunkt 3) ausüben konnten. Basale und instrumentelle Aktivitäten wurden nicht nur erfragt, sondern es wurde auch Wert darauf gelegt, die Untersuchungsteilnehmer bei der Ausführung einzelner Aktivitäten zu beobachten und dadurch die von ihnen getroffenen Aussagen über den Grad der selbständigen Ausführung wenigstens in Ansätzen durch eigene Beobachtung zu überprüfen. Die Clusteranalyse über die 23 basalen und instrumentellen Alltagsaktivitäten ergab drei gut voneinander abgrenzbare Personengruppen. Zur statistischen Überprüfung dieser Clusterlösung ermittelten wir zwei Diskriminanzfunktionen, welche insgesamt 94.9% der Varianz aufklärten. Dieser hohe Anteil korrekter Vorhersagen auf der Grundlage der beiden ermittelten Diskriminanzfunktionen spricht für eine statistisch zufriedenstellende Clusterlösung. Die Mittelwerte für die 23 Aktivitäten in den drei unterschiedenen Formen der Selbständigkeit sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben (zu genaueren Angaben vgl. Schmitt / Kruse /Olbrich 1994; Kruse / Schmitt 1995a, 1995b).

Soziale Integration bei untcmchiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

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Tabelle 1 Mittelwerte der 23 ADLIIADL in den drei Formen der Selbständigkeit (n= 745) C12: CIl: C13: N= 172 N=463 N= 110 1. Das Bett verlassen

1.56

1.13

2.20

2. Den Körper waschen oder duschen

1.95

1.10

2.56

3. KämmenlRasieren

1.21

1.05

2.30

4. Allein die Toilette benutzen

1.29

1.03

2.28

5. An- und ausziehen

1.76

1.13

2.55

6. Mahlzeiten und Getränke zu sich nehmen

1.13

1.01

1.71

7. Mahlzeiten zubereiten

2.25

1.42

2.86

8. Nahrungsmittel mit dem Messer schneiden

1.49

1.07

2.57

9. Auf einen Stuhl setzen/aufstehen

1.56

1.15

2.13

10. fu der Wohnung umhergehen

1.68

1.11

2.22

11. Treppen steigen

2.28

1.53

2.59

12. Wohnung sauber machen

2.76

1.92

2.90

13. Wäsche machen

2.66

1.78

2.91

14. Baden

2.72

1.52

2.86

15. Medikamente richten und einnehmen

1.52

1.07

2.87

16. Telefonieren

1.25

1.02

2.49

17. Die Wohnung heizen

1.33

1.04

2.63

18. Mehrere Stunden allein in der Wohnung bleiben

1.13

1.01

2.21

19. Finanzielle Angelegenheiten regeln

2.03

1.26

2.90

20. Lebensmittel einkaufen

2.77

1.69

2.95

21. Besuche machen

2.63

1.39

2.93

22. Öffentliche Verkehrsmittel benutzen

2.81

1.54

2.99

23. Sich außerhaIb der eigenen Wohnung zurechtfinden

1.75

1.08

2.65

9*

132

Hennann Brandenburg und Erie Sehmitt

1. Relative Selbständigkeit In Gruppe 1 sind 463 Personen zusammengefaßt, die die meisten Alltagsaktivitäten ohne Schwierigkeiten ausfUhren können. Wir bezeichnen diese Personen als "Gruppe mit relativer Selbständigkeit". In sechs von 23 Aktivitäten waren bei dieser Gruppe leichte Einschränkungen festzustellen. Es handelt sich dabei um: "Mahlzeiten zubereiten", "Treppen steigen", "Sich baden", "Finanzielle Angelegenheiten regeln", "Besuche machen" und "Öffentliche Verkehrsmittel nutzen". Bei vier dieser sechs ADLIIADL sind vor allem motorische Fähigkeiten betroffen. Diese Defizite führen zu einer vergleichsweise geringen Beeinträchtigung und in der Regel nicht zu einer dauerhaften Angewiesenheit auf fremde Hilfe. Bei den Aktivitäten "Wohnung sauber machen", "Wäsche machen" und "Lebensmittel -einkaufen" war ein mittleres Ausmaß an Einschränkungen zu beobachten. Bei diesen Aktivitäten handelt es sich überwiegend um hauswirtschaftliche Tätigkeiten, deren Durchführung bei der von uns untersuchten Personengruppe von der familiären Rollenverteilung abhängig war. Wir sehen diese Defizite weniger als einen Hinweis auf manifeste Einschränkungen in motorischen, sensorischen oder kognitiven Funktionen, hingegen eher als deutlichen Hinweis für rollen- und lebensstilspezifische Einflüsse. Diese Aktivitäten gehörten bei den meisten Männem nicht zu den regelmäßig ausgeführten Alltagstätigkeiten. Konsequenzen

Wir beobachteten in Gruppe 1 das ganze Spektrum von sehr guten bis völlig unzureichenden Wohnbedingungen, ebenso sehr verschiedenartige Grade sozialer Aktivität und Integration. Dabei wurde deutlich, daß geringe soziale Aktivität sowie Belastungen in den inner- und außerfamiliären Beziehungen mit höheren Gesamtbelastungswerten und niedrigeren Zufriedenheitswerten verbunden waren, so daß festzustellen ist: Geringe soziale Integration (die auch subjektiv mit Einsamkeitsgefühlen einhergeht) sowie als konflikthaft und belastet erlebte Beziehungen stellen auch in der Gruppe selbständig lebender Menschen ein Problem dar. Aus diesem Grunde ist der Ausbau der sozialen Angebote (zum Beispiel kulturelle und soziale Einrichtungen) sowie der kulturellen Angebote (zum Beispiel Bildungsangebote) als eine bedeutende Aufgabe praktischer Altenarbeit anzusehen. In diesem Zusammenhang sind auch die Verkehrsanbindungen vor Ort zu berücksichtigen. Ungefahr 20% der Personen aus Gruppe 1 berichteten, daß die Verkehrsbedingungen (vor allem die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr) unbefriedigend sei und den Besuch von Veranstaltungen (vor allem von Abendveranstaltungen) sowie von Behörden und Geschäften erheblich erschwere.

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

133

Objektiv einschränkende Wohnbedingungen gingen in dieser Gruppe hingegen nicht mit erhöhten Gesamtbelastungswerten und niedrigeren Zufriedenheitswerten einher. Es ist zu vermuten, daß sich der Großteil der unter einschränkenden Wohnbedingungen lebenden Menschen an die Mängel angepaßt hat und diese deswegen auch nicht als belastend oder einschränkend wahrnimmt. Weiterhin lagen in Gruppe 1 keine so starken Einschränkungen in den (instrumentellen) Aktivitäten vor, daß die einschränkenden Wohnbedingungen die Selbständigkeit erkennbar behinderten. Allerdings ließ sich bei ca. 20% der Personen aus Gruppe 1 die Feststellung treffen, daß die bestehenden Wohnbedingungen im Falle des Auftretens motorischer Behinderungen zu einem großen Problem für die Selbständigkeit im Alltag werden könnten.

2. Hilfebedarf Gruppe 2 bildet eine Risikogruppe von 172 Personen, bei der die Ausführung eines Teils der Alltagsaktivitäten nicht mehr selbständig möglich ist. Daher ist bei vielen Personen dieser Gruppe Unterstützung durch andere Personen unerläßlich. Wir bezeichnen diese Gruppe als "Gruppe mit Hilfebedarf'. Bei den Aktivitäten "Das Bett verlassen", "Den Körper waschen oder duschen", "Mahlzeiten/Getränke zu sich nehmen", "Nahrungsmittel mit dem Messer schneiden", "Sich auf einen Stuhl setzen/aufstehen", "In der Wohnung umhergehen", "Medikamente richten und einnehmen" und "Sich außerhalb der Wohnung zurechtfinden" war ein mittleres Ausmaß an Einschränkungen vorhanden. In diesem Bereich ist vor allem - ähnlich wie in Gruppe 1 - die Motorik angesprochen. Weiterhin kommen in Gruppe 2 Einschränkungen im Bereich der Feinmotorik hinzu. Hinzuweisen ist darauf, daß bei einer Reihe von Personen sensorische Beeinträchtigungen dazu führen, daß die Tätigkeiten "Medikamente richten und einnehmen" und "Sich außerhalb der Wohnung zurechtfinden" beeinträchtigt sind. Konsequenzen

Bei einer Analyse der (instrumentellen) Aktivitäten in Gruppe 2 fiel auf, daß vor allem in den motorisch gebundenen Tätigkeiten (z. B. "Treppen steigen", "Aus dem Bett aufstehen", "Öffentliche Verkehrsmittel benutzen") zum Teil starke Einbußen vorlagen. Die motorischen Einbußen waren vor allem durch degenerative Erkrankungen sowie durch Gehimerkrankungen (speziell durch Schlaganfall) bedingt. Weiterhin wurde deutlich, daß bei einem Teil dieser Gruppe 2 (ungefähr bei 30%) die Wohnbedingungen unzureichend waren (Beispiele: Barrieren im Flur, im Eingangsbereich; kleine Ein-

134

Hermann Brandenburg und Erie Schrnitt

gänge; geringe Bewegungsfläche in Küche, Bad, WC) und Hilfen, auf die speziell motorisch behinderte Menschen angewiesen sind (Beispiel: Handläufe), fehlten. Des weiteren lagen die Wohnungen oft relativ weit entfernt vom Ortskern und wiesen darüber hinaus nur eine ungenügende Verkehrsanbindung auf. Diese Mängel wirken sich negativ auf die Selbständigkeit im Alltag sowie auf das ausführbare Handlungs- und Interessensspektrum aus. Angehörige der Gruppe 2 sind - wie unsere Untersuchung ergab - in deutlich geringerem Maße als Mitglieder der Gruppe 1 in der Lage, unzureichende Wohnbedingungen durch besonderes Bemühen zu kompensieren. So ist es nicht überraschend, daß in dieser Gruppe objektiv bestehende Wohnungsmängel in vielen Fällen auch subjektiv als solche erlebt wurden. Des weiteren trugen in dieser Gruppe Wohnungsmängel zu höherer Gesamtbelastung und geringerer Zufriedenheit bei. Die Tatsache, daß in dieser Gruppe vor allem motorisch gebundene Tätigkeiten nur mit Schwierigkeiten ausgeführt werden konnten, weist auf die Notwendigkeit der Rehabilitation (sowie rehabilitativer Elemente in der Pflege) und auf Veränderungen in der Wohnung sowie im Wohnumfeld hin. Zu den letzteren sind vor allem die Beseitigung von Barrieren sowie der Einbau von Hilfen zu zählen, darüber hinaus ist auch Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr Aufmerksamkeit zu schenken. Durch diese Maßnahmen läßt sich auch eine größere Partizipation der zur Gruppe 2 gehörenden Menschen an sozialen und kulturellen Angeboten erreichen und damit das Ausmaß der sozialen Integration verbessern.

3. Pflegebedarf

In Gruppe 3 sind 110 Personen zusammengefaßt, die in nahezu allen Alltagstätigkeiten mittlere bis hohe Einschränkungen aufweisen. In den folgenden 13 Aktivitäten: "Bett verlassen", "Körper waschen oder duschen", "KämmenlRasieren", "Allein die Toilette benutzen", "Sich an- und ausziehen", "Nahrungsmittel mit dem Messer schneiden", "In der Wohnung umhergehen", "Treppen steigen", "Telefonieren", "Wohnung heizen", "Allein in der Wohnung bleiben", "Sich außerhalb der Wohung zurechtfinden", "Sich auf einen Stuhl setzen/aufstehen" bestand ein hohes Ausmaß an Einschränkungen. Folgende 9 ADLIIADL können von den Personen in Gruppe 3 nicht mehr ohne Hilfe anderer Personen ausgeführt werden: "Mahlzeiten zubereiten", "Wohnung sauber machen", "Wäsche machen", "Baden", "Medikamente richten und einnehmen", "Finanzielle Angelegenheiten regeln", "Besuche machen", "Öffentliche Verkehrsmittel benutzen".

Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der SelbsUindigkeit im Alter

135

Konsequenzen

Bei der Untersuchung der pflegebedürftigen Gruppe muß zunächst festgestellt werden, daß bei dieser gesundheitliche Belastungen und Einschränkungen in hohem Ausmaß vorhanden sind. Bei fast allen Personen wurden vom Hausarzt fünf bis acht Krankheiten diagnostiziert. Weiterhin finden wir bei 40% der Personen dieser Gruppe ein hohes Ausmaß an motorischen Beschwerden und bei 37% chronische Schmerzen. Es wäre jedoch falsch, Pflegebedürftigkeit allein aufgrund gesundheitlicher Aspekte (Krankheiten, Geriatrische Symptome, Beschwerden) erklären zu wollen, denn wir beobachten z. B. enge Zusammenhänge zwischen der Selbständigkeit und der häuslichen Wohnqualität bzw. dem Wohnumfeld (Anbindung der Wohnung an öffentliche Verkehrsmittel). In der Gruppe der Pflegebedürftigen ist die Wohnqualität deutlich schlechter als in den beiden anderen Gruppen. 43% der Untersuchungsteilnehmer aus dieser Gruppe leben unter ungünstigen oder sogar schlechten Wohnbedingungen, während dies in der Gruppe mit Hilfebedarf bei 31 % der Personen und in der Gruppe mit erhaltener Selbständigkeit bei 9.5% der Fall ist. Dies legt nahe, daß die Möglichkeiten, Einschränkungen in der Selbständigkeit durch eine Anpassung der Wohnung zu kompensieren, in der Gruppe der Pflegebedürftigen am wenigsten genutzt werden. Vor allem Hilfsmittel in der Wohnung, welche die Ausführung von Alltagsaktivitäten zum Teil wesentlich erleichtern oder erst wieder ermöglichen (z. B. Badewannensitz, Fußmatte, Haltegriffe, Hebehilfen, Treppenaufzug, etc.), fehlen. Aus diesen Befunden ergibt sich eindeutig folgende Konsequenz: "Durch eine Verbesserung der Wohnsituation können einerseits Einschränkungen in der Selbständigkeit kompensiert werden, andererseits kann Einschränkungen in der Selbständigkeit vorgebeugt werden" (Schmitt / Kruse / Olbrich 1994, S.397). In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls auf die Bedeutung der Technik im Alter, insbesondere der Gesundheits- und Pflegetechnik, hingewiesen werden (vgl. Kruse 1992, Hampei 1992). Durch eine stärkere Nutzung technischer Hilfsmittel kann ein Beitrag dazu geleistet werden, das klassische Hilfe-Schema, das darauf beruht, die funktionalen Defizite durch persönliche Dienstleistungen zu kompensieren, zu ergänzen.

V. Prognosen zur weiteren Entwicklung der Haushaltsund Versorgungssituation älterer Menschen Alle Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung (vgl. Zwischenbericht der Enquetekommission 1994) gehen davon aus, daß der absolute und relative Anteil älterer Menschen bis zum Jahre 2020/2030 ansteigen wird. Nach der aktuellen amtlichen Modellrechnung der statistischen Ämter des

136

Hennann Brandenburg und Erle Sehmitt

Bundes und der Länder wird der Anteil der 60jährigen und älteren Menschen in Deutschland von 20,4% im Jahr 1990 auf 33,6% im Jahr 2030 ansteigen. Nach den Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (vgl. Expertise des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, 1994) wird eine Zunahme der Personen über 75 Jahre um 70% bis zum Jahre 2030 erwartet; Die Zahl der 90jährigen und älteren wird sich in diesem Zeitraum mehr als verdreifachen (1992: 314393; 2030: 1 114853). Es ist unumstritten, daß mit zunehmendem Alter die Leistungsfähigkeit in verschiedenen Bereichen (z. B. Körperkraft, Reaktionsvermögen, visuelle und auditive Fähigkeiten) zurückgeht. Andererseits ist bekannt, daß für diese Defizite ein hohes Ausmaß an Kompensationsmöglichkeiten (z. B. Hilfsmitteln) besteht. Probleme der Hilfsund Pflegebedürftigkeit sind zwar nicht mit dem Altem gleichzusetzen, bekannt ist jedoch, daß mit zunehmendem Alter die Zahl der in ihrer Selbständigkeit eingeschränkten Personen zunimmt. Dies bedeutet, daß in Zukunft Fragen der Aufrechterhaltung einer selbständigen Lebensführung für immer mehr Menschen an Bedeutung gewinnen werden.

1. Der Trend zum Einpersonenhaushalt hält an

Prognosen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung gehen davon aus, daß sich der Trend zur Zunahme von Einpersonenhaushalten bei älteren Menschen fortsetzen wird (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 1994). Dabei sind die stärksten Zuwächse (60%) in der Altersgruppe der 60 - 70 jährigen zu erwarten (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 1994). Bei pflegebedürftigen Älteren ist ebenfalls von einer "Singularisierung" auszugehen: Während 1991 26% aller Pflegebedürftigen im Alter von 60 Jahren und älter in einem Einpersonenhaushalt lebten, wird dieser Anteil im Jahre 2030 auf ein Drittel angewachsen sein (Bundesministerium für Familie und Senioren 1994, S. 115). Dies bedeutet insgesamt, daß die Unterstützungsleistungen für hilfe- und pflegebedürftige Ältere in Zukunft immer stärker von Personen, die keine Haushaltsmitglieder sind, und Institutionen erbracht werden müssen. Darüber hinaus ist zu betonen, daß der Trend zu einer steigenden Zahl von Einpersonenhaushalten geschlechtsspezifisch verlaufen wird. Aufgrund der höheren Lebenserwartung und niedrigerer Wiederverheiratungsquote der Frauen werden sie es vor allem sein, die in Einpersonenhaushalten in der Zukunft leben werden. Aber auch für die Männer ist ein Anstieg der Zahl der Alleinlebenden zu erwarten, da sich die kriegsbedingten Disproportionen weiter reduzieren werden.

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

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2. Familienstl11kturen ändern sich Höhere Scheidungsraten, geringere Neigung zur Wiederverheiratung und die Zunahme nicht-ehelicher Partnerschaften sind die entscheidenden Trends im Rahmen der Veränderung von Familienstrukturen. Neben einer Verkleinerung familiärer Netze wird es möglicherweise zu qualitativen Änderungen der Familienstruktur kommen. Bislang ist z. B. völlig unklar, wie hoch die Bereitschaft ist, die Eltern des geschiedenen Ehepartners durch Pflege- und Betreuungsleistungen zu unterstützen. Man mag sich den Schwiegereltern sozial verbunden fühlen und zur Hilfe bereit sein, wie steht es aber mit den "Ex-Schwiegereltern"? (vgl. Wilbers 1995). Wenn bislang die Pflege älterer Menschen zu über 80% eine Aufgabe der Familie war, stellt sich die Frage, ob und wieweit auch bei veränderten Familienstrukturen auf dieses Pflegepotential zurückgegriffen werden kann. Heute ist schon bekannt, daß das (inner)-familiäre Helferpotential zukünftig abnehmen wird, da die Nettoreproduktionsrate gering bleiben oder sogar weiter sinken wird, die Altersdifferenz zwischen Pflegebedürftigen und ihren Kindern sich nicht verringern wird, die Berufstätigkeit von Frauen weiter zunehmen wird und sich aufgrund der demographischen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt eine starke "Werbung um den Nachwuchs" zeigen wird. Auch wenn die Bereitschaft, Angehörige zu pflegen, nicht reduziert sein muß, wird die familiäre Pflege zukünftig in stärkerem Maße durch andere Formen ergänzt - und zum Teil ersetzt - werden müssen.

3. Zunehmende Hilfe- und Pflegebedürftigkeit Der demographische Wandel wird zu einer kontinuierlichen Zunahme des relativen Anteils und der absoluten Zahl Hilfe- und Pflegebedürftiger in privaten Haushalten fuhren. Nach Modellrechnungen von INFRATEST steigt der Anteil der Pflegebedürftigen von 1.4% im Jahre 1991 auf 2.2% im Jahre 2030. Die Anzahl pflegebedürftiger Personen steigt in diesem Zeitraum von 1.12 Mio. auf 1.56 Mio.. Differenziert man die unterschiedenen Grade von regelmäßigem Pflegebedarf, so wird die Anzahl der Personen mit mehrfach wöchentlichem Pflegebedarf um 465.000 auf ca. 750.000 steigen. Der Anteil dieser Personen an der Gesamtbevölkerung steigt damit von 0.6 auf 1.1%. Das Anwachsen des Anteils von Personen mit täglichem Pflegebedarf wird im Prognosezeitraum von 0.6% auf 0.8% betragen, der Anteil der Personen mit ständigem Pflegebedarf sich vergleichsweise gering von 0.2% auf 0.3% verändern. Die absolute Zahl der Personen mit ständigem Pflegebedarf steigt von 190.000 im Jahre 1991 auf 210.000 im Jahre 2030 (vgl. hierzu Bundesministerium fur Familie und Senioren 1994, S. 106 ff.).

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Hennann Brandenburg und Eric Scbrnitt

Analog wird sich die Entwicklung bei den Personen mit hauswirtschaftliehern Hilfebedarf vollziehen. Der Anteil dieser Gruppe wird von 2.7% auf 4.1 % ansteigen. Nimmt man die beiden Personengruppen zusammen, so steigt ihr Anteil von 4.1% im Jahre 1991 auf 6.3% im Jahre 2030. Die zwischen den beiden Prognosejahren auftretenden Schwankungen erklären sich mit einer veränderten Alterszusammensetzung der beiden Populationen, etwa einem höheren Durchschnittsalter. Die absolute Anzahl steigt damit von ca. 3.2 Millionen im Jahre 1991 auf 4.4 Millionen im Jahre 2030. Wenn man die Zahl der Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen anhand der Anteile hochrechnet, die die stationär betreuten Pflegebedürftigen je nach Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung aufweisen, so, ergibt sich rur das Jahr 2030 eine Zahl von ca. 730.000 (vgl. Krug I Reh 1992). Damit erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen im ambulanten und stationären Bereich von 1.6 Millionen im Jahre 1991 auf 2.3 Millionen im Jahre 2030.

4. Haushaltsstrokturveränderongen bei Personen mit Hilfe- und Pflegebedarf In den Haushaltsstrukturen älterer Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf wird sich ein Trend zu kleineren Haushaltsgrößen durchsetzen. Von den Personen mit regelmäßigem Pflegebedarf werden im Jahre 2030 33% in Einpersonenhaushalten (1991: 26%), 40% in Zweipersonenhaushalten (1991: 37%) und 27% in Drei- und Mehrpersonenhaushalten (1991: 37%) leben. Für die Personen mit hauswirtschaftlichem Hilfebedarf sagen Modellrechnungen von INFRATEST einen Anteil der Einpersonenhaushalte von 55% (1991: 49%) voraus. In Zweipersonenhaushalten werden 34% (1991: 35%), in Dreiund Mehrpersonenhaushalten 11% der Personen mit hauswirtschaftlichem Hilfebedarf leben. Auch die Familienstandsstrukturen älterer Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf werden sich verändern. Für die Gruppe der Personen mit regelmäßigem Pflegebedarf sagen die Modellrechnungen von INFRATEST voraus, daß 30% der Personen verheiratet (1991: 33%), 51% verwitwet (1991: 56%), 12% geschieden (1991: 6%) und 7% ledig (1991: 5%) sein werden. In der Gruppe der Personen mit hauswirtschaftlichem Hilfebedarf werden 30% verheiratet (1991: 34%), 52% verwitwet (1991: 54%), 9% geschieden (1991: 5%) und 9% ledig (1991: 7%) sein. Die prognostizierten Veränderungen werden nicht ohne Auswirkungen auf die Versorgungssituation Hilfe- und Pflegebedürftiger bleiben. Wie in Abschnitt I bereits ausgefiihrt wurde, werden Unterstützungs- und Pflegeleistungen gegenwärtig vor allem von Familienangehörigen erbracht. 77% der Pflegebedürftigen und 57% der Hilfebedürftigen erhalten Unterstützung von einer

Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter

139

Hauptpflegeperson; in erster Linie vom Ehepartner, von der Tochter oder Schwiegertochter. Soziale Dienste werden dagegen - Ergebnissen von INFRATEST zufolge - nur von 33% der Pflegebedürftigen und 16% der Hilfebedürftigen genutzt. Entscheidend für die Versorgungssituation ist also das Vorhandensein von Angehörigen in der näheren Umgebung. Aus diesem Grunde werden sich die Veränderungen in den Haushalts- und Familienstandsstrukturen - sofern nicht alternative Versorgungsmöglichkeiten genutzt werden - negativ auf die Versorgungssituation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen auswirken. Die Ergebnisse der Modellrechnungen unterstreichen die Notwendigkeit eines Ausbaus ambulanter Versorgungsangebote. Daneben wird auch eine qualitative Verbesserung und Vernetzung bestehender Angebote notwendig sein.

VI. Soziale Beziehungen und Freizeitinteressen im Alter 1. Soziale Beziehungen älterer Menschen Ergebnisse gerontologischer Forschung zur Größe des sozialen Netzwerks älterer Menschen zeigen, daß die meisten der selbständig lebenden älteren Menschen rege Kontakte zu Familienangehörigen, Bekannten, Freunden und Nachbarn unterhalten (vgl. Diewald 1993, Minnemann 1994). Die Netzwerkgröße (Umfang) beträgt im Durchschnitt 10 Personen bei den über 60jährigen (vgl. Kahn / Antonucci 1981). Empirische Befunde aus verschiedenen Studien zeigen, daß der Anteil älterer Menschen, die als sozial isoliert oder einsam eingestuft werden müssen, bei etwa 5-12% liegt (Antonucci / Akiyama 1987, Puls 1989). Der Begriff der sozialen Isolation beschreibt hierbei die objektiven Kontaktmöglichkeiten einer Person, während unter dem Begriff Einsamkeit das subjektive Erleben einer sozialen Eingebundenheit verstanden wird. Leider wird in empirischen Studien diese Trennung in der Regel nicht durchgeführt. Die Netzwerkgröße allein stellt nur ein Unterstützungspotential dar. Inwieweit tatsächlich Unterstützung bei Bedarf geleistet wird hängt von der Qualität der sozialen Beziehungen und weiteren Rahmenbedingungen (geographische Nähe; zeitliche Verfügbarkeit; etc.) ab. Die Qualität der einzelnen Beziehungen wird vorrangig durch die Häufigkeit der Interaktionen, die subjektiv erlebte Bedeutsamkeit der Beziehungen, ihre Dauer, die Inhalte der Beziehungen und die Art und Weise der ausgetauschten Unterstützung bestimmt. Neben der Anzahl und Häufigkeit der Interaktionen mit Familienangehörigen und Freunden wird in der sozialen Unterstützungsforschung die Wirksamkeit des sozialen Netzwerks davon abhängig gemacht, ob Vertrau-

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Hennann Brandenburg und Erie Sehmitt

enspersonen, die sogenannten "intimate confidents", zur Verfügung stehen. Aufgrund der Forschungslage ist davon auszugehen, daß bei älteren Menschen in der Regel entsprechende Vertrauenspersonen vorhanden sind, denen eine Funktion für die soziale Integration zukommt. Jedoch sollte man die Bedeutung außerfamiliärer Beziehungen für konkrete Unterstützungsleistungen, etwa bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit nicht überschätzen. Die vorliegenden Befunde sprechen eindeutig dafür, daß sich Betreuung und Pflege älterer Menschen primär auf das innerfamiliäre Netzwerk konzentrieren. In den sozialen Beziehungen bestehen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen haben im allgemeinen einen größeren Freundes- und Bekanntenkreis, eine höhere Kontakthäufigkeit mit Mitgliedern des sozialen Netzwerks und verfügen über engere Beziehungen. Bei Männern konzentrieren sich soziale Unterstützungsleistungen auf weniger Personen. Frauen verfügen zwar über mehr Vertrauenspersonen, Männer berichten aber über eine höhere Zufriedenheit mit ihrem sozialen Netzwerk, was wahrscheinlich auf unterschiedliche Anforderungen an soziale Beziehungen zurückzuführen ist (Antonucci I Akiyama 1987). Im Hinblick auf die soziale Integration ist zu berücksichtigen, daß mit zunehmendem Alter eine wachsende Zahl von älteren Menschen, vorwiegend Frauen, allein lebt. Mehr als zwei Drittel der Männer sind im Alter von 75 Jahren und mehr noch verheiratet, bei den Frauen dieser Altersgruppe sind es nur noch 18 Prozent. Weiterhin sind neben dem Alleinleben - weitere Risikofaktoren, die Isolation und Einsamkeit begünstigen (vgl. Townsend I Tunstall 1986), zu beachten: Kinderlosigkeit, Verlust nahestehender Personen, geringe materielle Ressourcen, ungünstige Wohnbedingungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen. Dies bedeutet, daß für das Ausmaß der sozialen Integration im Alter weniger geschlechtsspezifische Unterschiede, sondern vielmehr Unterschiede in den ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen im Alter von entscheidender Bedeutung sind.

2. Veränderungen sozialer Netzwerke bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit Im Hinblick auf die Lebenssituation von hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen muß beachtet werden, daß mit zunehmender Einschränkung der Selbständigkeit eine Reduktion des sozialen Netzwerks verbunden ist. Bei einem Vergleich der Netzwerke rüstiger und pflegebedürftiger Personen konnte, z. B. Minnemann (1994, S. 143) signifikante Unterschiede feststellen: Die Netzwerke Rüstiger waren mit durchschnittlich 19 Netzwerkpartnern signifikant größer als jene hilfebedürftiger Personen, die durchschnittlich über 12 Netzwerkpartner berichteten. Weiterhin ist bekannt, daß mit zunehmenden Einschränkungen der selbständigen Lebensführung eine Einengung

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

141

des sozialen Netzwerks, vorwiegend auf den innerfamiliären Bereich, stattfindet. Außerfamiliäre Beziehungen gehen z. T. erheblich zurück. Die beschriebenen Veränderungen der Größe und Struktur des sozialen Netzwerks wirken sich ebenfalls auf die Kontakthäufigkeit aus. Personen, die in ihrer selbständigen Lebensführung erheblich eingeschränkt sind, können vorhandene Kontaktmöglichkeiten, z. B. durch eigene Besuche, kaum aufrechterhalten, nicht zuletzt aufgrund gesundheitlicher Belastungen. Darüber hinaus sind die sozialen Kontakte Hilfebedürftiger stärker auf Personen gerichtet, die in geographischer Nähe wohnen, während rüstigere Personen über einen größeren Kontaktradius verfügen. Im folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der MUGSLA-Untersuchung zu sozialen Beziehungen älterer Menschen mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit kurz dargestellt werden (vgl. Pöhlmann / Ittner 1994): Die überwiegende Mehrheit der befragten Personen war sozial integriert, d. h. die betroffenen Personen verfügten über tragflihige soziale Beziehungen zu mehreren Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn. Bei 6% der Untersuchungsteilnehmer ist aufgrund sozialer Kontakte von einer sozialen Isolation auszugehen. Diese Zahl stimmt mit den oben erwähnten Forschungsbefunden überein. Die durchschnittliche Zahl der Kontakte lag bei 9.4 Personen. Die hilfe- und pflegebedürftigen Frauen verfügten über ein kleineres soziales Netz als die Männer. In der Zahl der Vertrauenspersonen ("intimate confidents") unterscheiden sich Frauen nicht von Männern. Hinsichtlich der Netzwerkgröße zeigten sich deutliche Altersunterschiede. Zu Familienangehörigen bestanden bei den 60-65jährigen durchschnittlich 4.4 Kontakte. Für die höheren Altersgruppen nahm die Zahl der Kontakte deutlich ab, bei den 85jährigen und älteren bestanden durchschnittlich noch drei Kontakte zu Familienangehörigen (Ehepartnern, Kindern, Enkeln, etc.). Für die außerfamiliären Beziehungen bestand ein ähnlicher Zusammenhang. Betrachtet man die Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen, so zeigt sich, daß für ältere Personen (ab 80 Jahre) die Kontakte zum engeren Kreis der Familienangehörigen (im Vergleich zu den außerfamiliären Kontakten) an Bedeutung gewinnen. 85% der Untersuchungsteilnehmer hatten mindestens eine wichtige Vertrauensperson, zu der seit langem, im Durchschnitt seit 43 Jahren, eine intensive Austauschbeziehung besteht. Wichtige Personen sind vor allem Familienangehörige, in erster Linie Ehepartner und Kinder.

142

Hennann Brandenburg und Erie Schmitt

3. Freizeitinteressen älterer Menschen Insgesamt zeigt das Freizeitverhalten eine hohe Kontinuität zWischen dem Erwachsenenalter und dem höheren Lebensalter (Schmitz-Scherzer 1988). In der Häufigkeit der Ausführung von Freizeitaktivitäten ändert sich nur wenig, neue Freizeitinteressen kommen im Alter in aller Regel nicht hinzu. Es gibt kein höheres Freizeitengagement im Alter. Dieser Befund weist auf einen hohen Einfluß biographischer Faktoren für die Lebensgestaltung im Alter hin, d. h., wer im jüngeren/mittleren Erwachsenenalter keinen aktiven Freizeitstil entwickeln konnte, wird auch im höheren Lebensalter ein relativ passives Freizeitverhalten zeigen. Schmitz-Scherzer (1988) geht davon aus, daß das zukünftige Freizeitverhalten älterer und alter Menschen vielgestaltiger und differenzierter sein wird. Durch eine allgemein größere Mobilität werden auch die "persönlichen Lebensräume" größer und offener. Die Bedeutung von außerhäuslichen Interessen, Reisen und Urlauben wird zunehmen. Weiterhin werden ältere Menschen verstärkt ihr Bedürfnis nach gesellschaftlicher Partizipation anmelden, sei es auf der Ebene ehrenamtlicher Tätigkeiten oder anderer Formen gesellschaftlichen oder politischen Engagements. Da sich die nachberufliche Phase erheblich verlängert, wird die Nutzung von im Beruf erworbener Expertise im Freizeitbereich zunehmen, ältere und alte Menschen werden ihre Freizeit individueller gestalten. Der insgesamt steigende Bildungsstand wird auch dazu führen, daß kreative und kulturelle Freizeitaktivitäten bedeutsamer werden.

4. Freizeitaktivitäten hilfe- und pflegebedürftiger älterer Menschen In der gerontologischen Forschung ist den Interessen und der Freizeitgestaltung von hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Kritisiert wird vor allem die Globalität und Undifferenziertheit, mit der die Gruppe der alten Menschen zum Interessensbereich betrachtet wird. Wie Tokarski und Schmitz-Scherzer (1985) feststellen, ist der Gesundheitszustand die wichtigste Einflußgröße auf Art und Umfang von Freizeitaktivitäten im Alter. Weiterhin ist es wichtig, Möglichkeiten der Kompensation von Freizeitinteressen, deren Ausübung nicht mehr möglich ist, zu untersuchen. Die Ergebnisse zum Freizeitverhalten hilfe- und pflegebedürftiger Personen belegen zwei eindeutige Trends: Das Interessensspektrum verringert sich im Vergleich zum mittleren Erwachsenenalter deutlich. Weiterhin beobachten

Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter

143

wir eine Veränderung von "aktivem" zu "passiv-rezeptivem" Freizeitverhalten. Im folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der MUGSLA-Untersuchung zum Freizeitverhalten bei hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen vorgestellt werden (Halsig / Zimmermann 1994): Bis auf wenige Ausnahmen (Fernsehen, Radio hören und Kreuzworträtsel lösen) fanden sich in allen untersuchten Interessenbereichen signifikante Rückgänge gegenüber dem mittleren Erwachsenalter. Die in der gegenwärtigen Lebenssituation am häufigsten ausgeübten Interessen waren Fernsehen, Zeitung lesen und Radio hören; von sehr geringer Bedeutung waren Freizeitaktivitäten im kirchlichen, politischen und bildungsorientierten Bereich. Auch kreative Tätigkeiten im häuslichen Bereich, wie z. B. Malen, Musizieren oder die Erledigungen von Handarbeiten, sind von sehr geringer Bedeutung. Im Vergleich zur Situation im mittleren Erwachsenenalter konzentrieren sich die Freizeitaktivitäten vor allem auf den häuslichen Bereich, während außerhäusliche Interessen nicht mehr wahrgenommen werden. In Übereinstimmung mit anderen Studien fand sich in der MUGSLA-Untersuchung im mittleren Erwachsenenalter ein stärker aktiv-orientierter Freizeitstil, während in der aktuellen Situation bei Hilfe- und Pflegebedürftigen passiv-orientierte Freizeitaktivitäten dominieren. Betrachten wir die Gründe, auf die Veränderungen in der Interessensgestaltung zurückgeführt werden können, dann zeigt sich, daß motorisch/sensorische Einschränkungen, persönlichkeitsbedingte/motivationale Gründe sowie der Verlust von Bezugspersonen von entscheidender Bedeutung sind.

Vll. Individuelle Risikobewältigung im Alter in unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit Nachdem wir bislang vorwiegend das Ausmaß der "objektiven" Integration älterer Menschen in familiale und gesellschaftliche Strukturen thematisiert haben, wenden wir uns im folgenden Kapitel der Frage der subjektiv erlebten Integration zu. Wir verstehen die von uns herangezogenen psychischen Merkmale der Lebenszufriedenheit und des subjektiven Alterserlebens als Indikatoren, die uns Hinweise geben rur das Ausmaß der bestehenden subjektiven Integration. Auf clusteranalytischer Basis werden vier komplexe Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation differenziert. In diesen Formen

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Hennann Brandenburg und Erie Sehmitt

spiegeln sich Potentiale individueller Risikobewältigung wider, die genauer inhaltlich analysiert werden. Datengrundlage sind die entsprechenden Erhebungen im Kontext der MUGSLA-Studie (zum Begriff "Risiko" bzw. "Risikomanagement" von Haushalten älterer Menschen siehe die Beiträge von Wagner und Fischer / Müller in diesem Band). Weiterhin wurde untersucht, inwieweit unterschiedliche Formen des Erlebens Zusammenhänge mit den Formen der Selbständigkeit aufweisen. Diese Analysen sind aus zwei Gründen wichtig: Das Erleben der gegenwärtigen Situation läßt Aussagen über den Grad der psychischen Belastung sowie über die psychischen Ressourcen in der Verarbeitung von Belastungen zu. Jene Menschen, die trotz objektiv bestehender Einschränkungen ihre Situation eher als ausgeglichen oder sogar als positiv erleben, verfügen über höhere psychische Ressourcen als jene Menschen, bei denen negative Bewertungen der aktuellen Situation dominieren. Dabei ist anzunehmen, daß die psychischen Ressourcen eher überfordert werden, wenn die objektive Lebenssituation von zahlreichen Einschränkungen bestimmt ist. Aus diesem Grunde ist es notwendig, nach Zusammenhängen zwischen dem Erleben der gegenwärtigen Situation und Merkmalen der objektiv gegebenen Lebenssituation zu fragen. In die Clusteranalyse sind sechs Variablen eingegangen: • positiv bewertete Ereignisse im letzten JalIr, • belastende Ereignisse im letzten JalIr, • Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation, • erlebte gesundheitliche Belastungen, • erlebte familiäre Belastungen, • erlebte GleichIörmigkeit des Alltags. Die Clusteranalyse ergab vier gut voneinander unterscheidbare Personengruppen, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen. Tabelle 2 zeigt die Mittelwerte der sechs berücksichtigten Variablen in den vier Gruppen (die Variablen wurden auf einer 3-stufigen Skala: 1 = gering, 2 = mittel, 3 = hoch, eingeschätzt):

Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter

145

Tabelle 2

Mittelwerte der unterschiedenen Personen gruppen in den sechs ausgewählten Merkmalen der psychischen Situation Cluster 1

Cluster 2

Cluster 3 Cluster 4

(N = 41)

(N = 153)

(N = 77)

(N = 29)

Positiv bewertete Ereignisse im letzten Jahr

2.62

2.02

1.88

1.41

Belastend erlebte Ereignisse im letzten Jahr

1.52

2.20

2.40

2.90

Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation

2.44

2.20

1.94

1.55

Erlebte gesundheitliche Belastungen

1.80

2.28

2.46

2.70

Erlebte familiäre Belastungen

1.98

2.08

2.18

2.40

Erlebte Gleichförmigkeit des Alltags

1.60

1.97

2.00

2.66

Gruppe 1: Geringe Belastung, hohe Zufriedenheit und hohe psychische Ressourcen

In einer ersten Gruppe (Cluster 1) wurden durch die Clusteranalyse 41 Personen zusammengefaßt, deren psychische Situation insgesamt als günstig zu bewerten ist. Diese Personen unterscheiden sich von jenen in den anderen drei unterschiedenen Gruppen sowohl im Ausmaß positiv erlebter Ereignisse, als auch im Ausmaß belastender Ereignisse. Der Alltag wird in dieser Gruppe als eher abwechslungsreich und wenig gleichförmig erlebt. Entsprechend ist auch die allgemeine Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation höher als in den anderen Gruppen. Während die Belastungen im gesundheitlichen Bereich gering sind, läßt sich für den familiären Bereich aus dem angegebenen Mittelwert ein mittleres Maß an Belastung ableiten. Da in dieser Gruppe viele positive Ereignisse und nur wenige belastende Ereignisse oder gesundheitliche Belastungen berichtet wurden, weiterhin die allgemeine Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation sehr hoch war, bezeichnen wir diese Gruppe als "wenig belastet" und gehen weiterhin von hohen psychischen Ressourcen in dieser Gruppe aus. Die positiv erlebte gegenwärtige Situation beinhaltet Potentiale, auf die im Falle des Auftretens von Aufgaben, Problemen und Belastungen zurückgegriffen werden kann. 10 Farny u. a.

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Hennann Brandenburg und Erie Sehmitt

Gruppe 2: Gelungene Kompensation durch die Nutzung von Ressourcen: Zufriedenheit trotz bestehender Belastungen

In der zweiten Gruppe (Cluster 2) wurde mit 153 Personen mehr als die Hälfte der Untersuchungsteilnehmer zusarnmengefaßt. Die in Tabelle 2 angegebenen Mittelwerte belegen, daß in dieser Gruppe sowohl im familiären, als vor allem auch im gesundheitlichen Bereich Belastungen bestehen. Trotz objektiv bestehender Einschränkungen in der Selbständigkeit wird der Alltag in dieser Gruppe nicht als eintönig oder gleichförmig erlebt, die allgemeine Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation ist eher als hoch einzustufen. Der Wert fiir die Zufriedenheit liegt höher, als aus dem Vergleich zwischen dem Ausmaß erlebter positiver und belastender Ereignisse zu erwarten wäre. Darin kommen unseres Erachtens gelungene Anpassungsleistungen der Personen an die Anforderungen ihrer räumlichen und sozialen Umwelt zum Ausdruck. Den Personen ist es möglich, trotz vorliegender Einschränkungen in der Selbständigkeit ein subjektiv zufriedenstellendes Leben zu führen . . Gruppe 3: Gefährdete Kompensation: Bemühen um Zufriedenheit bei hoher psychischer Beanspruchung

In dieser Gruppe (Cluster 3) wurden 77 Personen zusarnmengefaßt. Im Vergleich zu den ersten beiden beschriebenen Gruppen besteht bei diesen Personen eine deutlich höhere psychische Belastung. Diese Belastung geht vor allem auf das Erleben gesundheitlicher Probleme zurück. Für das Erleben von Belastungen im Bereich der Familie ergab sich nur ein sehr geringer statistisch nicht signifikanter - Unterschied zu den beiden zuvor beschriebenen Gruppen. Wir deuten diesen Befund als Hinweis auf Ressourcen der Person, die bei der Verarbeitung gesundheitlicher Belastungen genutzt werden können. Für den familiären Bereich ergeben sich aus der zunehmenden gesundheitlichen Belastung zunächst keine Auswirkungen. Die allgemeine Zufriedenheit liegt im mittleren Bereich. Wir gehen auch in dieser Gruppe von einer Anpassung der Personen an bestehende Anforderungen der räumlichen und sozialen Umwelt aus. Das hierdurch hergestellte "Gleichgewicht" zwischen der Person und ihrer räumlichen und sozialen Umwelt erscheint aber weniger stabil zu sein als in der zuvor beschriebenen Gruppe 2 ("Gelungene Kompensation"), weshalb wir es vorziehen, von "gefahrdeter Kompensation" zu sprechen.

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der SelbstAndigkeit im Alter

147

Gruppe 4: Überforderung und Zusammenbruch psychischer Ressourcen

In einer vierten Gruppe (Cluster 4) wurden 29 Personen zusammengefaßt. Bei diesen Personen lag ein sehr hohes Ausmaß an psychischer Belastung vor, sowohl im gesundheitlichen als auch im familiären Bereich. Positive Ereignisse wurden nur in sehr geringem Maße erlebt, der Alltag erschien den Personen als eintönig und gleichfOrmig, die allgemeine Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation war sehr gering. In den Explorationen der Personen aus dieser Gruppe zeigte sich eine deutliche Tendenz zur Niedergeschlagenheit; Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation hatten die Personen dieser Gruppe im allgemeinen nicht. Die objektiv bestehenden Einschränkungen in der Selbständigkeit und gesundheitliche Probleme konnten in dieser Personengruppe nicht kompensiert werden. Die bestehenden Belastungen und Probleme überstiegen deutlich die "psychischen Kapazitäten" der Personen. Aus diesem Grunde halten wir es für gerechtfertigt, von einem Zusammenbruch psychischer Ressourcen zu sprechen. SelbsUindigkeit und Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation

Tabelle 3 zeigt den Zusammenhang zwischen den drei Formen der Selbständigkeit und den auf Grundlage der dargestellten Clusteranalyse unterschiedenen vier Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation. Tabelle 3

Formen der Selbständigkeit und Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation Cluster 1 (N = 41) Relative Selbständigkeit Hilfebedarf Pflegebedarf

Cluster 2

(N = 153)

Cluster 3 (N = 77)

Cluster 4 (N = 29)

35

138

28

6

11

42

9

4

7

20

Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Formen der Selbständigkeit und den unterschiedenen Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation. Je weniger die Personen in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt sind, desto positiver erleben sie ihre gegenwärtige Situation. Das Ergebnis der Clusteranalyse gibt - über diesen klaren Zusammenhang hinaus - weitere Aufschlüsse über die Formen des Erlebens. Von den Personen mit relativer Selb10"

148

Hermann Brandenburg und Eric Schmitt

ständigkeit fallen nur 35 (= 17.4%) unter die positivste der vier unterschiedenen Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation ("geringe Belastung, hohe Zufriedenheit und hohe Ressourcen"). Diese positive Form des Erlebens der gegenwärtigen Situation setzt offensichtlich mehr voraus als das Fehlen gravierender Einschränkungen in der Selbständigkeit. Zufriedenheit im Alter erfordert Anpassungsleistungen der Person an ihre soziale und räumliche Umwelt. Anders gesagt, ist eine "psychische Weiterentwicklung" und "kognitive Umstrukturierung" Voraussetzung für das Erleben positiver Ereignisse und für eine hohe Zufriedenheit im Alter. Wenn dieser Entwicklungsnotwendigkeit im Alter nicht Rechnung getragen werden kann, so wird der Alternsprozeß in zunehmendem Maße als belastend erlebt. Diese Aussage wird durch die 28 Personen mit relativer Selbständigkeit in der relativ belasteten Gruppe 3 ("Gefährdete Kompensation") belegt. Die Verteilung der Personen mit Pflegebedarf auf die vier Formen des Erlebens der gegenwärtigen Situation spricht für die Annahme, daß die Möglichkeit einer "Weiterentwicklung" im Alter an objektive Grenzen stoßen kann. Mit einem bestimmten Maß an Einschränkungen in der Selbständigkeit sind die psychischen Ressourcen der Person überfordert. Die Verteilung der Personen aus der Selbständigkeitsgruppe "Hilfebedarf' belegt sowohl Chancen als auch Risiken der Auseinandersetzung mit Einschränkungen der Selbständigkeit. Bei diesen Personen liegen objektive motorische und/oder sensorische Einschränkungen vor, die sich negativ auf die Selbständigkeit in der Ausführung von Alltagsaktivitäten auswirken. Dennoch ist es einigen Personen dieser Gruppe möglich, ein persönlich zufriedenstelIendes und weitgehend unbelastetes Leben zu führen. Andererseits ist es einem Teil der Personen nicht gelungen, sich mit dem Alternsprozeß und der Möglichkeit von Problemen und Einschränkungen, die in diesem auftreten können, adäquat auseinanderzusetzen. Die Art der - zu einem guten Teil biographisch gewachsenen und begründeten - Auseinandersetzung mit Aufgaben und Belastungen scheint in der Gruppe der Personen mit Hilfebedarfbesonders wichtig zu sein. Zusammenfassende Bewertung: Die Befunde zur psychischen Situation (Lebenszufriedenheit, subjektives Alterserleben, Erleben der gegenwärtigen Situation) belegen die hohe Bedeutung der Selbständigkeit für ein subjektiv zufriedenstelIendes, positiv erlebtes Alter. Es wurde aber auch deutlich, daß Selbständigkeit allein hierfür keine hinreichende Bedingung darstellt. Weitere wichtige Einflußfaktoren waren vor allem soziale Aktivität und familiäre Belastungen. Die sozioökonomische Lage der Person (Schichtzugehörigkeit) sowie die Häufigkeit und Intensität von Schmerzzuständen und das Vorhandensein von Bezugspersonen in der Familie (Familienstand) wirkten sich statistisch bedeutsam auf das Erleben des eigenen Alternsprozesses aus (zu genaueren Angaben vgl. Brandenburg I Schmitt 1995).

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der Selbständigkeit im Alter

149

vm. Szenarien hinsichtlich der sozialen Integration und Risikobewältigung älterer Menschen

Ausgehend von den drei Formen der Selbständigkeit (Relative Selbständigkeit, Hilfebedarf und Pflegebedarf) wird die Entwicklung der folgenden Parameter bis zum Jahre 2030 betrachtet: • Haushaltsstruktur • Anzahl der Angehörigen

• Außerfamiliäre Beziehungen • Finanzielle Situation • Bedarf an ambulanten und institutionellen Versorgungsangeboten Auf der Grundlage der Szenarien sowie vorliegender Expertisen (Bundesinstitut fiir Bevölkerungsforschung 1994, Wilbers 1995) werden zukünftige Anforderungen an familiäre Pflege und ambulante Dienste als den beiden wichtigsten Kompensationsleistungen herausgearbeitet.

1. Gruppe mit relativer Selbständigkeit Mit dem Trend zur Individualisierung, Singularisierung und der damit verbundenen Zunahme der Einpersonenhaushalte gewinnen in der Zukunft mögliche Folgerisiken wie Isolation und Vereinsamung an Gewicht (vgl. Dieck / Naegele 1993), inbesondere fiir bestimmte Problemgruppen wie Arbeitslose, Alleinerziehende, Ausländer, behinderte und schwer kranke (ältere) Menschen. Diese Annahme muß rur die Gruppe mit relativ erhaltener Selbständigkeit nicht zutreffen, da sich Personen an das Alleinleben gewöhnen können, so daß das Erleben von Vereinsamung und Isolation bei zukünftigen Alterskohorten nicht notwendigerweise zunehmen muß (vgl. Lehr et al. 1988). Solange Personen in ihrer Mobilität nicht eingeschränkt sind, können Bedürfnisse nach sozialen Kontakten im außerhäuslichen Bereich befriedigt werden. Weiterhin gehen wir davon aus, daß sich die geschlechtsspezifische Rollenverteilung und die in diesen Rollen erworbenen Kompetenzen in den nächsten Jahren nur in geringem Maße verändern werden. Dies bedeutet, daß in Zukunft die veränderten Familien- und Haushaltsstrukturen mit einer Steigerung des hauswirtschaftlichen Hilfebedarfs verbunden sein werden. Ein wachsender Anteil älterer Männer wird zu der Hauptnachfragegruppe nach Dienstleistungen in diesem Bereich gehören. Umgekehrt muß aber auch fest-

150

Hennann Brandenburg und Erie Sehmitt

gestellt werden, daß langfristig Personen, die im überwiegenden Teil ihres Lebens in Einpersonenhaushalten gelebt haben, möglicherweise über höhere Kompetenzen im hauswirtschaftlichen Bereich verfügen werden. Mittelfristig wird die Zahl der Personen mit hauswirtschaftlichem Versorgungsbedarf zunehmen. Damit wird es notwendig, in der Gruppe der Personen mit (weitgehend) erhaltener Selbständigkeit in stärkerem Maße ambulante soziale Dienste bzw. außerfamiliäre Untersützung, vor allem in der Nachbarschaft, in Anspruch zu nehmen. Bei noch weitgehend selbständigen Älteren ist damit zu rechnen, daß die oben skizzierten Veränderungen der Familienstruktur am ehesten positive Auswirkungen haben werden. Was ist darunter genauer zu verstehen? Wenn die innerfamiliären Pflegepersonen nur noch in geringerem Ausmaß zur Verfügung stehen, dann werden außerfarniliäre Netzwerke und Nachbarschaftshilfen wichtiger. Traditionell haben Freunde, Bekannte und Personen aus der Nachbarschaft immer schon - wenn auch in geringerem Umfang Pflege- und Unterstützungsleistungen erbracht (vgl. z. B. Brody 1984, Bengtson et al. 1990). Hinzu kommt, daß die Qualität der Arbeit dieses außerfamiliären Netzwerkes durchaus mit innerfamiliär erbrachten Leistungen konkurrieren kann (vgl. z. B. Cantor 1979, 1983; Horowitz 1985). Das außerfamiliäre Netzwerk könnte in Zukunft - stärker als bisher - eine "kompensatorische Funktion" übernehmen, organisierte und nicht-organisierte Nachbarschaftshilfen könnten an Bedeutung gewinnen. Diese Entwicklung wird aber primär den noch weitgehend selbständigen Älteren zugute kommen. Kleinere Hilfen im Alltag, bei der Essenszubereitung, beim Einkaufen usw. könnten - soweit die Zeitintensität begrenzt bleibt - in Zukunft von außerfamiliären Hilfspersonen entweder ganz oder in Zusammenarbeit mit Familienangehörigen erbracht werden. Bei stärkeren Einschränkungen (z. B. Pflege) ist diese "Ersatzfunktion" realistischerweise nicht oder nur in geringem Ausmaß zu erwarten. Darüber hinaus ist zu beachten, daß in der Gruppe mit relativer Selbständigkeit, welche die weitaus größte Personengruppe umfaßt, der Anteil jener Personen stark ausgeprägt sein wird, die über hohe bis sehr hohe finanzielle Ressourcen verfügen. Nach unseren Analysen existiert ein Zusammenhang zwischen finanziellen Ressourcen und Selbständigkeit. Hohe Einkommen konzentrieren sich vorwiegend bei Personen mit hoher Selbständigkeit, während bei den Pflegebedürftigen geringe bzw. mittlere finanzielle Ressourcen überproportional häufiger vertreten sind (zur Entwicklung der Einkommensdifferenzierung bei älteren Menschen vgl. den Beitrag von Schmähl / Fachinger in diesem Band). Zumindest für die Gruppe mit (weitgehend) erhaltener Selbständigkeit kann davon ausgegangen werden, daß in Zukunft für sozial-pflegerische Unterstützung (z. B. durch Sozialstationen oder durch Privatpersonen) in höherem Ausmaß Eigenmittel beansprucht werden können. Aufgrund der extrem hohen Bindung älterer Menschen an ihre eigene

Soziale Integration bei unterschiedlichen Formen der Selbständigkeit im Alter

151

Wohnung ist eine frühzeitige oder stärkere Nutzung stationärer Einrichtungen in Zukunft kaum zu erwarten. Das Bedürfnis älterer Menschen, in der eigenen Wohnung (auch mit eingeschränkter Selbständigkeit) möglichst lange verbleiben zu können, wird dazu führen, daß sich in der hauswirtschaftlichen Versorgung sowie dem Bereich der Hilfsmittel und Wohnungsanpassung ein privater Markt entwickeln wird. Diese Entwicklung bedeutet mittelfristig, daß eine zunehmend größer werdende Zahl älterer Menschen eine aktive Konsumentenrolle einnehmen kann, andererseits ein Teil der älteren Menschen (aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen) die entsprechenden Angebote nur in geringem Umfang nutzen wird. Insgesamt erwarten wir, daß es zu einer zunehmenden Differenzierung innerhalb der Gruppe mit (weitgehend) erhaltener Kompetenz kommen wird.

2. Gruppe mit Hilfebedarf Während die zukünftige Entwicklung bei den relativ selbständigen wie auch bei den pflegebedürftigen älteren Menschen am ehesten abschätzbar ist, bereiten Trendaussagen zur Gruppe der Hilfebedürftigen die größten Schwierigkeiten. Ein wichtiger Grund hierfür liegt in der großen Heterogenität dieser Personengruppe: sie umfaßt sowohl ältere Menschen, die nur in sehr geringem Ausmaß auf fremde Hilfe angewiesen sind (einmal monatlich) wie auch Personen, bei denen ein höherer Hilfe- und Betreuungsaufwand erforderlich ist (ein- oder mehrmals wöchentlich). Dieser Hilfe- und Betreuungsbedarf kann aufgrund der zu erwartenden Veränderungen in den Familienstrukturen bei einem erheblichen Teil der Gruppe nicht mehr durch Angehörige abgedeckt werden. Der Rückgang des familiären Helferpotentials bedeutet rur diese Personen, daß in Zukunft - wesentlich stärker als gegenwärtig institutionelle Unterstützungsangebote genutzt werden müssen. Die Nachfrage nach ambulanten sozialpflegerischen Versorgungsangeboten wird insbesondere bei alleinlebenden hilfebedürftigen älteren Menschen ansteigen, da diese durch die Pflegeversicherung finanziert werden können. Bei den Mehrpersonenhaushalten wird sich die finanzielle Situation durch die Pflegeversicherung verbessern. Wir gehen davon aus, daß Hilfe- und Betreuungsleistungen nach wie vor primär von Familienangehörigen übernommen und bei der Alternative Geld- oder Sachleistungen vor allem die Geldleistungen in Anspruch genommen werden. Die Gewährung finanzieller Leistungen wird einen positiven Effekt auf die Beziehungen zwischen hilfeempfangender Person und unterstützender Person haben und zur Aufrechterhaltung des (familiären) Unterstützungspotentials beitragen. Diese Annahme begründen wir mit Ergebnissen gerontologischer Forschung, die wiederholt auf die positive Auswirkung von (erfahrener) Reziprozität auf die Bewertung sozialer Beziehungen hingewiesen haben (Antonucci 1990, Minnemann 1994, Kruse

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Hermann Brandenburg und Erie Selunitt

1994). Wir gehen davon aus, daß in der Gruppe der Hilfebedürftigen auch auf Unterstützungsleistungen von Freunden, Bekannten und Nachbarn zurückgegriffen werden kann. Der Hilfebedarf bezieht sich vor allem auf hauswirtschaftliche Hilfe und weniger auf im engeren Sinne pflegerische Tätigkeiten. Vorliegende Untersuchungen zeigen (z. B. Cantor 1979), daß solche Hilfeleistungen schon heute häufig von Personen des außerfamiliären Netzwerks erbracht werden. Die Möglichkeiten, sich für solche Hilfeleistungen finanziell erkenntlich zu zeigen, werden durch die Regelungen der Pflegeversicherung deutlich verbessert. Gleichzeitig können hierduch auch Hemmungen, "fremde" Personen um Unterstützung zu bitten, abgebaut werden (zu den Determinanten der Inanspruchnahme von formeller und informeller Hilfe vgl. den Beitrag von Nieczaj I Henße I Steinhagen-Thiessen in diesem Band). Wie im Zusammenhang mit der psychischen Situation hilfe- und pflegebedürftiger Personen gezeigt werden konnte (vgl. auch Kruse I Schmitt 1995) bilden Belastungen in Beziehungen zu hilfeleistenden Personen einen wesentlichen Einflußfaktor auf die Lebenszufriedenheit im Alter. Damit ist für die Gruppe der Personen mit Hilfebedarf in Zwei- oder Mehrpersonenhaushalten auch eine im Durchschnitt höhere Lebenszufriedenheit zu erwarten. Möglicherweise werden bei alleinlebenden Personen dieser Gruppe wegen der zum Teil erheblichen Einschränkungen in einigen Bereichen selbständiger Lebensführung betreutes Wohnen und verschiedene institutionelle Wohnformen (z. B. "Wohnstifte") wichtiger werden. Wenn Personen erwarten, daß sich ihre gesundheitliche Situation mit dem Alter eher verschlechtern wird, sie also nur bedingt in der Lage sein werden, selbständig zu leben, und gleichzeitig keine Angehörigen (vor allem Kinder) vorhanden sind, zu denen sie bei Bedarf ziehen könnten, werden Überlegungen, in ein Heim zu übersiedeln, wahrscheinlicher. Die Entscheidung für institutionelle Wohnformen wird erheblich durch Möglichkeiten der Finanzierung beeinflußt sein. Ein Teil der Personen wird sich für ein Verbleiben in der eigenen Wohnung entscheiden, da der gewünschte Standard institutionellen Wohnens nicht finanzierbar sein wird.

3. Gruppe mit Pflegebedarf Aus den veränderten Familienstrukturen, die sich vorwiegend auf die Ehe beziehen (steigende Scheidungsraten, sinkende Heirats- und Wiederverheiratungsziffern) resultiert nicht notwendigerweise ein Rückgang der intergenerationellen Solidarität. Amerikanische Untersuchungen (z. B. Hagestad 1987) zeigen, daß heute geschiedene Kinder wieder häufiger mit ihren Eltern zusammenziehen. Positive Konsequenzen aus dieser Entwicklung werden vor allem von Bengtson I Schütze (1992) abgeleitet: "Zu erwarten ist, daß solche

Soziale Integration bei unterschiedlichen Fonnen der SelbstAndigkeit im Alter

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Konstellationen wie die, daß die Großmutter die Kinder ihrer alleinerziehenden Tochter betreut, dazu ruhren, daß die Tochter sich in späteren Jahren ihrerseits um die Mutter kümmert" (S. 511). Prognosen, die besagen, daß die moderne Familie in der Zukunft weder bereit noch in der Lage sein wird, ihre traditionellen Versorgungsleistungen rur (pflegebedürftige) Ältere auszuüben sind zwar populär (vgl. Gronemeyer 1989), treffen aber nicht notwendigerweise zu. Zur Zeit ist jedenfalls von einer nach wie vor eher hohen Bereitschaft auszugehen, sich um pflegebedürftige Eltern zu kümmern. In der schon mehrfach zitierten repräsentativen INFRATEST-Erhebung von 199011991 konnte der Befund ermittelt werden, daß bei 77% der regelmäßig Pflegebedürftigen die Pflege von (weiblichen) Hauptpflegepersonen übernommen wurde und nur 33% der Personen Hilfe von sozialen Diensten in Anspruch nahmen (INFRATEST 1992). Die positiven Erwartungen amerikanischer Forscher sind unserer Auffassung nach nur begrenzt auf die bundesdeutsche Situation übertragbar. Natürlich ist die Möglichkeit der Entwicklung "neuer Solidaritätsformen" nicht ausgeschlossen, andere Entwicklungen stehen dem jedoch entgegen. Nach wie vor reagieren Unternehmen und Arbeitsmarkt zu wenig flexibel auf den Wunsch vieler Frauen, Beruf und Familie miteinander verbinden zu wollen; die steigende Mobilität und die damit verbundene Zunahme von Entfernungen der Wohnorte verhindert kontinuierliche Pflegeleistungen; die Selbstverständlichkeit zur Übernahme von Pflegeleistungen als "typisch weibliche Aufgabe" wird in Zukunft stärker in Frage gestellt werden; schließlich ist generell die Frage zu stellen, ob die Beziehung zu "Ex-Schwiegereltern" oder "Quasi-Großeltern" intensiv genug sein wird, um zeitaufwendige Pflege- und Betreuungsleistungen, evtl. Aufgabe des Berufes oder ähnliche persönliche Opfer, zu rechtfertigen. Wie aus den Analysen des MUGSLA-Berichtes hervorgegangen ist, sind in der Gruppe der pflegebedürftigen Älteren die Belastungen durch die familiär erbrachten Betreuungs- und Pflegeleistungen am stärksten ausgeprägt. Dies ist vor allem darin begründet, daß in der Gruppe der Pflegebedürftigen auch Aktivitäten eingeschränkt sind, die kognitive Basisfertigkeiten erfordern. Neben den motorischen Einbußen treten also in dieser Gruppe z. T. erhebliche kognitive Einbußen hinzu. Diese Dualität hat eine besondere Belastungssituation zur Folge. Dieses hohe Ausmaß an Belastung bedeutet aber auch, daß eine Entlastung der Angehörigen durch professionelle Dienste die größten Effekte haben wird. Familien, die durch soziale Dienste unterstützt werden, können sich dann eher auf ergänzende Arbeiten konzentrieren. Sie sind dann freier rur persönliche Beziehungen, die weniger belastet sind durch konkrete Hilfeleistungen und damit verbundene Probleme (z. B. Angebundenheit an die häusliche Umgebung, Bewältigung psychischer Veränderungen, die mit der Krankheit des älteren Angehörigen verbunden sind).

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Hennann Brandenburg und Eric Schmitt

In der MUGSLA-Untersuchung konnte der Befund ermittelt werden, daß fiir die Hälfte der pflegebedürftigen Personen eine umfassende Inanspruchnahme sozialer Dienste die einzige Möglichkeit ist, weiter in der häuslichen Umgebung verbleiben zu können. Es ist jedoch zu beachten, daß fast alle Personen über eine Hauptpflegeperson verfUgen. Ob ein solcher Betreuungsaufwand durch staatliche bzw. sozialversicherungsrechtliche Mittel allein abgedeckt werden kann, ist fraglich. Wahrscheinlich ist, daß neben dem staatlichen Versorgungsangebot - stärker als bisher - auf privat finanzierte Dienste, insbesondere Kranken- und Altenpflegestationen zurückgegriffen werden muß. Die Bereitschaft zur Inanspruchnahme dieser Dienste wird durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten beeinflußt, weil die Dienste aus frei verfUgbaren finanziellen Eigenmitteln bezahlt werden müssen. Dies bedeutet in der Konsequenz, daß nur jene ältereren Menschen sich diese Dienste leisten können, die entsprechend finanziell vorgesorgt haben; ältere Menschen mit schlechten finanziellen Ressourcen können dann die Versorgungsvoraussetzungen fiir eine selbständige Lebensfiihrung immer weniger aufrechterhalten. Bei der anderen Hälfte der Pflegebedürftigen empfiehlt sich nach unseren Ergebnissen eine stationäre Unterbringung. Bei dieser Personengruppe haben wir sehr starke gesundheitliche Beeinträchtigungen, ausgeprägte Schmerzzustände, unzureichende Wohnbedingungen sowie eine hohe psychische Gefährdung festgestellt. Aus diesem Grunde bleiben fiir jene pflegebedürftigen Personen, die nicht auf familiäre Hilfe zurückgreifen können, nur zwei Alternativen: Übersiedlung in eine stationäre Einrichtung oder neue Wohn- und Pflegeformen, die eine ganztägige Versorgung einschließen. Bei jenen Personen, die unter schweren psychischen Krankheiten (Demenz, himorganische Psychosyndrome) leiden, ist das Verbleiben im eigenen Haushalt unmöglich. Für diesen Personenkreis werden in Zukunft - stärker als bisher - spezielle Versorgungsangebote (sozialpsychiatrische Dienste, Wohnheime fiir psychisch Kranke) benötigt werden. Aufgrund der zu erwartenden AusdifIerenzierung der Heimstruktur (und der Etablierung von Heimangeboten fiir Menschen mit spezifischem Hilfeund Pflegebedarf (z. B. psychisch Kranke, demenzieIl Erkrankte, Behinderte) sowie neuer Finanzierungsmöglichkeiten im Kontext der Pflegeversicherung (vgl. DZA und KDA 1991) wird die Nachfrage nach Heimplätzen wahrscheinlich ansteigen. Wie stark dieser Zuwachs sein wird, wird entscheidend von der Quantität und Qualität (Betreuungsangebote, Therapiemöglichkeiten, Rehabilitation, etc.) der regional vorhandenen Versorgungsstrukturen bestimmt werden (vgl. Kruse / Wahl 1994). Generell ist jedoch davon auszugehen, daß auch in Zukunft die überwiegende Mehrheit pflegebedürftiger Älterer zu Hause versorgt werden wird.

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RolfNieczaj, Sigrid Henße und E1isabeth Steinhagen-Thiessen

hen Altersgruppen die relativen Zuwächse im Altersspektrum am größten sein werden. Ein tendenzieller Rückgang der Sterbewahrscheinlichkeit in den höheren Altersgruppen, auch als Folge weiteren medizinischen Fortschritts, wird den Effekt der demographischen Alterung zusätzlich verstärken. Letztlich wird diese Entwicklung dazu führen, daß es, ungeachtet der noch diskutierten divergierenden Auffassungen über die altersspezifische Morbiditätsentwicklung (Gruenberg 1977, Fries 1980, Kramer 1980, Verbrugge 1984, Brody 1985, Wilkins I Adams 1987), zu einer deutlichen Zunahme von alten kranken Menschen - geriatrischen Patienten - kommt, mit allen damit verbundenen Konsequenzen für das gesundheitliche Versorgungssystem bezüglich ärztlicher Basisversorgung, stationärer Versorgung, Rehabilitation und Pflege. Eine Medizin, die den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht wird, sollte sich an neuen Versorgungskonzepten auf der Basis einer differenzierten Binnenstruktur und eines abgestuften Systems von teilstationären und ambulanten Diensten orientieren (siehe unten). Die Kenntnis der Beziehungen zwischen spezifischen Morbiditätsmustern und funktionellen Einschränkungen bzw. Behinderungen, die letztlich zur Inanspruchnahme von pflegerischer Unterstützung führen, kann dazu dienen, sowohl im präventiven als auch im therapeutischen Bereich eine verbesserte, gezieltere individuelle Versorgung von geriatrischen Patienten sicherzustellen. Das hier vorgestellte Teilprojekt "Morbidität im Alter" im Rahmen des Gesamtkontextes "Lebenssituationen älterer Menschen" befaßt sich mit den medizinischen Aspekten des Alterns in Zusammenhang mit den Hauptbereichen "Krankheit im Alter" und "Behinderung im Alter". Die Ziele dieser Studie waren die Gewinnung von Krankheits- und Behinderungsprofilen für die gegenwärtige Altenpopulation auf der Basis verschiedener Stichproben. Neben der Aufdeckung von alters- und geschlechtsspezifischen Trends für Morbidität und Behinderung mittels Kohortenvergleichen wurden Analysen zur Identifizierung von Hauptrisikofaktoren für spezifische Krankheits- und Behinderungsmuster durchgeführt. Unter dem Aspekt der gegenwärtigen medizinischen Versorgung der älteren Bevölkerung hinsichtlich der Verordnungen von Pflegeleistungen und technischen Hilfsmitteln war eine weitere Intention die Feststellung diesbezüglicher Versorgungstrends.

Morbidität im Alter

163

11. Analysierte Stichproben 1. Datensätze der AOK Für die statistische Auswertung im Rahmen des Projektes "Morbidität im Alter" standen unterschiedliche qualitative und quantitative Stichproben zur Verfiigung. Die quantitativ größten Datensätze umfaßten Angaben der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) über ihre Versicherten ab dem 70. Lebensjahr aus einem großstädtischen Bereich (Berlin) und einem ländlichen Bereich (Gummersbach) der Jahre 1992 und 1993. Insgesamt standen folgende anonymisierte Daten der AOK-Versicherten zur Verfiigung: Alter und Geschlecht aller Versicherten ab dem 70. Lebensjahr. Über Personen, die in den entsprechenden Jahren stationär behandelt wurden, lagen Daten bezüglich eines jeden Krankenhausaufenthaltes mit Aufnahme- und Entlassungsdatum, Einweisungsdiagnosen, Aufnahmeanlaß (z. B. Notfallaufnahme, Einweisung durch Kassenarzt) und Entlassungsanlaß (z. B. reguläre Entlassung, Tod, Verlegung) vor. Des weiteren waren detaillierte Angaben über verordnete technische Hilfsmittel (z. B. Mobilitäts-, Toilettenhilfen, usw.) und über Art, Anzahl und Dauer von verordneten Pflegeleistungen verfiigbar. Die durch die Versicherten in Anspruch genommenen Pflegeleistungen wurden von der AOK in verschiedenen, nachfolgend aufgeführten Kategorien erfaßt: häusliche Krankenpflege), Ermessenspflege2, Behandlungspflege3 , Haushaltshilfe4 , SchwerpflegeS und Geldleistung6 . Aufgrund all dieser Angaben war es beispielsweise möglich, grundsätzliche aber auch zeitverlaufsabhängige Zusammenhänge zwischen Morbidität (Krankenhausaufenthalte, Gründe I Zur häuslichen Krankenpflege zählen: die Hilfe beim Anziehen u. Waschen, Betten und Lagern, das Vorbeugen gegen das Wundliegen (Dekubitus), Pflege bzw. Hilfe bei Pflege von Zahnprothesen, Fuß- und Nagelpflege, Mundhygiene, Haar- und Hautpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, Hilfe

beimEssen.

1 Ermessenspflege ist eine häusliche Krankenpflege, die von der Krankenkasse filr einen Zeitraum bewilligt wird, der ober den normalerweise Oblichen Zeitrahmen der häuslichen Krankenpflege (bis zu vier Wochen) hinausgeht. In den DatensAtzen aus Gummersbach lagen keine Angaben Ober Ermessenspflege vor. 3 Verordnungspflege umfaßt pflegerische Maßnahmen, die Pflegekrllfte selbständig oder in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt durcbfilhren, wie z. B. Wechseln von Verbänden, Wundbehandlung, Injektionen, Katheterhygiene, Überwachung von Infusionen, das Wechseln von Infusionsflaschen. 4 Zur Haushaltshilfe gehören neben Tätigkeiten wie Sauberhalten der Wohnung u. a. auch die Beschaffung von Heizmaterial, Heizen der Wohnung, Reinigung und Instandhaltung der Wäsche und Kleidung, Einkaufen, Zubereitung von Mahlzeiten, Behördengänge, usw.. 5 SchwerpflegebedOrftige sind aufgrund einer Krankheit oder Behinderung auf ständige und intensive Hilfe und Pflege bei den im Text angegebenen Aktivitäten angewiesen. 6 Auf Antrag bekommen die schwerpflegebedOrftigen Versicherten einen Geldbetrag von DM 400,je Kalendermonat gezahlt, sofern die Pflege in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang sichergestellt ist.

11*

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RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-lbiessen

des Aufenthaltes) und quantitativer sowie qualitativer Inanspruchnahme von Pflegeleistungen zu untersuchen. Aufgrund der Größe der AOK-Stichproben (Berlin: etwa 150.000 Versicherte; Gummersbach: etwa 13.500 Versicherte älter als 69 Jahre) war es möglich, alters- und geschlechtsspezifische Trends hinsichtlich der Morbiditätsprofile auf der Basis von Krankenhausaufenthalten und der Behinderungsprofile anhand der Verordnung von Hilfsmittel- und Pflegeleistungen zu gewinnen.

2. Datensätze der Berliner Altersstudie Als weitere wichtige Basis für die Untersuchung dienten Daten der Berliner Altersstudie (BASE). Diese repräsentative Stichprobe (516 Personen) der Altenpopulation (70-103 Jahre) des westlichen Teils von Berlin war altersund geschlechtsstratifiziert. BASE wurde als multi- und interdisziplinäre Querscluiittstudie konzipiert, die ausfiihrliche Untersuchungen der verschiedenen Disziplinen "Innere Medizin und Geriatrie", "Psychiatrie", "Psychologie" und "Soziologie" umfaßte. Im Vordergrund der gemeinsamen theoretischen Orientierungen standen dabei: Differenzielles Altern, Kontinuität versus Diskontinuität des Alterns, Reservekapazitäten im hohen Alter und Altem als ein systemisches und interdisziplinäres Phänomen (Baltes et al. 1993). Unter dem medizinischen Aspekt standen folgende Bereiche besonders im Vordergrund: objektive Gesundheit, funktionelle Kapazität, subjektive Gesundheit, Risikoprofile, Behandlungsbedarf und altersspezifische medizinische Referenzwerte (Steinhagen-Thiessen / Borchelt 1993). Die Datenerhebungen im Rahmen von BASE beinhalteten neben extensiven körperlichen Untersuchungen auch anamnestische Befragungen bezüglich früherer Krankheiten und Lebensgewohnheiten, aber auch beispielsweise die Erfassung von informellen Hilfe- und Pflegeleistungen. Diese Informationen ermöglichten u. a. eine Analyse von Risikoprofilen im Zusammenhang mit spezifischen Krankheitsbildern.

3. Datensätze des Max-Bürger-Krankenhauses, Berlin Der dritte Datensatz umfaßte Angaben über Patienten des vollstationären Bereiches der Rehabilitationsabteilung des Max-Bürger-Krankenhauses in Berlin (Geriatrie III) der Jahrgänge 1991-1993. Der überwiegende Anteil der Patienten befand sich aufgrund von akuten Erkrankungen des Herzkreislaufsystems (z. B. Schlaganfall) und des Bewegungsapparates (z. B. Schenkelhalsfraktur) hier in stationärer Behandlung. Neben detaillierten medizini-

Morbidität im Alter

165

sehen Daten lagen zusätzlich Informationen über das soziale Umfeld und den funktionellen Status der Patienten vor. Insgesamt lassen sich die erhobenen Patientendaten in folgende Bereiche zusammenfassen: soziodemographische Daten (z. B. Familienstand, Einzelhaushalt, Ausstattung der Wohnung, Wohnumfeld), professionelle Hilfe (Hilfe, Pflege vor und nach der stationären Behandlung, Art und Dauer), funktioneller Status (ADL7 bei Aufnahme und Entlassung), differenziertes Krankheitsbild (z. B. Haupt- und Nebendiagnosen, Risikofaktoren, Medikamente), therapeutische Maßnahmen (Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie: Art, Anzahl und Dauer, Medikation), Verordnung von Hilfsmitteln (Mobilität, Wohnungsanpassung) und Behandlungsergebnis (Rehabilitationserfolg: medizinisch, funktional, psychosozial). Ein Ziel der Analyse der Patientendaten der Abteilung Geriatrie III lag in der Abschätzung eines längerfristigen Erfolges (größtmögliche Wiederherstellung der selbständigen Lebensführung) durch gezielte Rehabilitationsmaßnahmen.

ID. Morbidität und Behinderung im Alter 1. Krankenhausaufenthalte Die Häufigkeit und Dauer von jährlichen Krankenhausaufenthalten ist eine wesentliche Kenngröße, die geeignet ist, um basale Aussagen über Morbidität in Abhängigkeit vom Alter machen zu können. Unter Einbeziehung der Diagnosen kann ein - wenn auch eingeschränktes - Querschnittsbild über den momentanen Morbiditätszustand einer Altenpopulation erstellt werden. Hospitalisierungen betreffen jedoch in aller Regel Personen, die unter derart schwerwiegenden Gesundheitsstörungen und -einbußen leiden, daß ein stationärer Aufenthalt notwendig wurde. Erkrankte Personen, die nicht stationär behandelt wurden (wie z. B. durch ambulante Versorgung, niedergelassene Ärzte), bleiben dabei jedoch unberücksichtigt. Die hier zunächst vorgestellten Morbiditätsdaten aufgrund von Krankenhauseinweisungen beinhalten daher keine allumfassende Beschreibung von altersspezifischer Morbidität, sondern reflektieren eher den Anteil einer Altenpopulation, der durch eine "ausgeprägte" Morbidität gekennzeichnet ist.

7 Der hier ermittelte funktionelle Status basiert auf einer von Mahoney und Barthel (1965) entwickelten ADL-Skala (ADL= Activities ofDaily Living). Neben der Erfassung der Selbständigkeit bei basalen Tätigkeiten des täglichen Lebens (Essen, An- und Ausziehen, Körperpflege, Treppensteigen, Gehen, Toilettenbenutzung, Blasen- und Darrnkontrolle) wurden hier weitere Parameter eingefilhrt, die die Fähigkeit der Orientiertheit und der Kommunikation bewerten.

166

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thies5ell

Tabelle J

AOK-Versicherte 1992 ab 70 Jahren mit mindestens einer stationären Behandlung nach Altersgruppe und Geschlecht, bezogen auf die Gesamtpopulation. Berlin 1992 Männer (N)

(%)

70-74 Jahre

2.551

75-79 Jahre

Gummersbach 1992

Frauen

Männer

Frauen

(%)

(N)

(%)

(N)

(%)

28,0

4.807 22,9

351

25,8

603

21,2

2.619

32,6

5.791 23,9

250

27,5

640

26,4

80-84 Jahre

3.447

31,9

9.703 28,8

272

32,4

744

28,6

85-89 Jahre

2.346

35,9

7.675 31,0

137

32,0

411

28,2

90-94 Jahre

725

35,2

3.449 33,4

49

35,8

138

25,9

95+ Jahre

103

33,8

842 28,8

5

33,3

39

28,5

Insgesamt

11.791

31,8

32.267 28,3

1.064

28,8 2.575

25,7

Altersgruppe

(N)

Tabelle 1 dokumentiert die Anzahl der über 69jährigen AOK-Versicherten in Berlin und Gummersbach, die im Jahre 19928 zumindest einmal stationllr in einem Krankenhaus behandelt wurden. Im Jahr 1992 waren in der AOK-Berlin 151.009 Versicherte> 69 Jahre alt (37.084 MAnner und 113.925 Frauen); die Zahlen für Gummersbach lauteten: 13.692 Versicherte> 69 Jahre (3.689 MAnner und 10.003 Frauen). Die relativen Angaben in Tabelle 1 beschreiben den Prozentsatz aller hospitalisierten Versicherten in den jeweiligen Altersgruppen der Gesamtpopulation, getrennt nach Geschlecht.

In den Populationen von Berlin und Gummersbach zeichnete sich für beide Geschlechter eine Zunahme der Hospitalisierungen mit steigendem Alter ab, wobei Männer insgesamt und auch in allen Altersgruppen häufiger hospitalisiert waren als Frauen. Die größte Hospitalisierungsrate war in Berlin für beide Geschlechter für die 85-94jährigen charakteristisch, während in Gummersbach Männer über 90 Jahre und Frauen in der achten Lebensdekade und ab 95 Jahren am häufigsten hospitalisiert waren. Insgesamt waren im Jahre 1992 in Berlin geringfügig mehr Personen hospitalisiert (29,2% aller Versicherten > 69 Jahre), als das in Gummersbach der Fall war (26,2%).

8 Hier wurde exemplarisch der Jahrgang 1992 gewählt, da gegenüber 1993 keine bedeutsamen Unterschiede erkennbar waren.

167

Morbidität im Alter

Die häufigsten Diagnosen, die mit einer Einweisung zur stationären Behandlung der AOK-Versicherten in Berlin und Gummersbach in Zusammenhang standen, dokumentieren die Tabellen 2 und 3. Tabelle 2

Häufigste Krankenhausdiagnosen der AOK-Versicherten in Berlin 1992, bezogen auf Personen mit Krankenhausaufenthalt

Versicherte mit Diagnose Männer Diagnose

Frauen

durchschnittliche Liegedauer Männer

Frauen

(%)*

(%)*

(Tage)

(Tage)

Herzinsuffizienz

15,8

16,0

24,3

29,8

Neubildung

12,1

7,2

21,2

22,4

Myokardinfarkt

9,0

5,1

18,8

21,6

Apoplexie

8,2

7,0

26,7

31,2

Diabetes mellitus

7,8

10,0

28,0

32,7

Katarakt

7,5

9,4

6,4

6,6

Pneumonie

6,0

6,0

21,6

25,6

Allgemeine Symptome

5,8

6,8

19,4

25,5

Hypertonie

4,6

6,1

23,8

27,4

Herzrhythmusstörung

4,3

3,8

19,1

24,5

58,9

53,1

Sonstige Diagnosen

• verschiedene Diagnosen pro Person möglich

Die dominierenden Diagnosen bei den Männem waren Herzinsuffizienz und Neubildung, gefolgt von Myokardinfarkt, Apoplex, Diabetes mellitus und Katarakt. In beiden Populationen war die Rangfolge der ersten sechs Diagnosen bei den Männem identisch, wenn auch die relativen Häufigkeiten in Berlin etwas höher waren. Bei den Frauen waren die Diagnoseverteilungen bezüglich Berlin und Gummersbach nicht so homogen. Die überwiegenden Diagnosen waren Herzinsuffizienz und Diabetes mellitus gefolgt von Katarakt, Neubildung und Apoplex in Berlin, bzw. Apoplex, Katarakt und Myokardinfarkt in Gummersbach. Insgesamt gesehen lassen sich für die Berliner

168

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thiessen

AOK-Population 6 der 10 häufigsten Diagnosen und für Gurnrnersbach 7 der 10 häufigsten Diagnosen dem Herzkreislaufsystem zuordnen. Diese Ergebnisse entsprechen prinzipiell den Befunden anderer Untersuchungen, die die kardiovaskuläre Morbidität als die häufigste Erkrankung im Alter beschreiben (Kern 1984, Arnold I Lang 1989). Tabelle 3

Häufigste Krankenhausdiagnosen der AOK-Versicherten in Gummersbach 1992, bezogen auf Personen mit Krankenhausaufenthalt Versicherte mit Diagnose Männer

durchschnittliche Liegedauer

Frauen

Männer

Frauen

(%)*

(%)*

(Tage)

(Tage)

11,1

10,8

21,2

22,6

Neubildung

7,2

4,2

18,2

23,5

Myokardinfarkt

6,7

5,2

16,9

15,8

Apoplexie

5,3

7,8

19,5

23,1

Koronare Herzkrankheit

5,4

5,0

23,1

23,7

Herzrhythmusstörung

5,2

4,9

21,5

19,6

Diabetes mellitus

4,9

8,2

25,6

25,4

Katarakt

4,7

5,3

9,7

10,1

Arterieller Verschluß

4,7

2,9

29,7

24,8

Hypertonie

2,8

5,0

23,0

23,0

53,7

54,2

Diagnose Herzinsuffizienz

Sonstige Diagnosen

• verschiedene Diagnosen pro Person möglich

Die durchschnittlichen Liegedauern pro Krankenhausaufenthalt waren im Jahre 1992 in Berlin mit 24,9 ± 26,7 Tagen länger als in Gummersbach (20,6 ± 6,2 Tage). In beiden Populationen lagen die Mittelwerte der Aufenthaltstage für Frauen (Berlin: 26,2 ± 27,5 Tage; Gummersbach: 21,0 ± 16,6 Tage) im Vergleich zu Männern merklich (Berlin: 21,8 ± 24,4 Tage) bzw. geringfügig (Gummersbach: 19,7 ± 15,3) höher. Die Geschlechtsunterschiede in Berlin reflektieren vermutlich auch die Lebenssituationen der vielen alleinstehenden

Morbidität im Alter

169

alten Frauen (vgl. Brandenburg / Schmitt in diesem Band), die aufgrund fehlender sozialer Einbindung und Unterstützung länger stationär versorgt werden. Auch die diagnosespezifischen durchschnittlichen Liegedauern zeigen hinsichtlich der Geschlechtsverteilungen fast ausnahmslos, daß Frauen länger hospitalisiert waren (Tabelle 2, 3). Bemerkenswert erscheint, daß Versicherte mit der Diagnose Diabetes mellitus zu den Patienten zählten, die die durchschnittlich längsten Liegedauern aufwiesen. Bei Versicherten mit dieser Einweisungsdiagnose handelte es sich um eine Personengruppe mit vergleichsweise großer Multimorbidität, da diese Gruppe im Vergleich zur GesamtKrankenhauspopulation sowohl durch eine durchschnittlich höhere Anzahl von Krankenhausaufenthalten als auch durch eine größere Anzahl von Diagnosen charakterisiert war. Insbesondere waren als häufige weitere Diagnosen Herzkreislauferkrankungen, wie die koronare Herzkrankheit oder die arterielle Verschlußkrankheit, vorherrschend, die als charakteristische Krankheitsbilder das diabetische Spätsyndrom kennzeichnen (Kruse 1992).

2. PfIege- und Hilfsmittelverordnungen Im Jahre 1992 erhielten in Berlin mehr AOK-Versicherte (>69 Jahre) zumindest eine von der Krankenkasse getragene Pflegeleistung verordnet (14,7%) als im Vergleichszeitraum AOK-Versicherte in Gummersbach (11,1%). Tabelle 4 verdeutlicht alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede bei den verordneten Pflegeleistungen. Mit zunehmendem Alter stieg der Anteil der Personen in der jeweiligen Altersgruppe mit in Anspruch genommenen Pflegeleistungen deutlich an. Ein im Vergleich zu den anderen Altersgruppen überproportionaler Anstieg von Verordnungen war bei den Männem in der höchsten Altersgruppe feststellbar. Dies galt insbesondere für die Gummersbacher Population. Über die Hälfte aller Männer erhielt hier Pflegeleistungen, während in Berlin etwa ein Drittel der ältesten Männer pflegerische Hilfe in Anspruch nahm. Auffällig war auch, daß in beiden Populationen insgesamt mehr Frauen als Männer Pflege erhielten.

170

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thiessen

Tabelle 4

Gesamtversicherte mit Pflegeverordnungen nach Geschlecht und Altersgruppen Berlin 1992 Männer Gesamt (N) Gesamt (%) Altersgruppe:

4.175 11,3 Männer (%)

Gummersbach 1992

Frauen 17.843 15,7 Frauen (%)

Männer 357 9,7

Frauen 1.169 11,7

Männer

Frauen

(%)

(%)

70-74 Jahre

4,7

6,2

5,0

3,9

75-79 Jahre

8,2

10,7

6,6

7,4

80-84 Jahre

12,2

15,9

11,7

13,1

85-89 Jahre

19,8

23,2

18,6

21,9

90-94 Jahre

26,3

28,9

31,4

31,6

95+ Jahre

36,5

31,2

53,3

36,5

Hinsichtlich der personenbezogenen Hilfsmittelverordnungen konnten große Unterschiede zwischen Berlin und Gummersbach aufgedeckt werden (Tabelle 5). Insgesamt erhielten in Berlin ca. 10% der Gesamtversicherten über 69 Jahre mindestens ein technisches Hilfsmittel verordnet, in Gummersbach hingegen waren es mit etwa einem Drittel der Versicherten deutlich mehr. Diese Unterschiede basieren nicht primär auf regionalen Unterschieden in den Verordnungsgrundlagen und -praktiken, sondern vielmehr auf unterschiedlichen Kostenerfassungsmodi. Während in Berlin, neben der vollständigen Erfassung der orthopädischen Hilfsmittel, ausschließlich technische Hilfsmittel mit einem Wert von über DM 400,- gesondert erfaßt wurden, war in Gummersbach eine systematische Erfassung aller Hilfsmittel innerhalb bestimmter Gruppen, unabhängig von den Kosten, die Regel. Dieser Umstand läßt daher einen direkten Vergleich beider Populationen bezüglich der Gesamtverordnung von Hilfsmitteln nicht zu, wohl aber den Vergleich spezifischer Hilfsmittelgruppen, die sowohl in Berlin als auch in Gummersbach nach den gleichen Kriterien erfaßt wurden. Auch wenn die Datenbasis rur die Erfassung der Gesamt-Hilfsmittelverordnungen bei beiden Populationen unterschiedlich war, zeigen doch beide Stichproben den gleichen Trend: mit steigendem Alter nahm der Anteil der Personen mit Hilfsmittelverordnungen

Morbidität im Alter

171

kontinuierlich zu. Bei den Frauen war diese altersabhängige Zunahme etwas ausgeprägter als bei den Männern. Tabelle 5

Gesamtversicherte mit Hilfsmittelverordnungen nach Geschlecht und Altersgruppen Berlin 1992 Gesamt (N) Gesamt (%) Altersgruppe:

Männer

Frauen

3.907 10,5

12.556 11,0

Männer

Frauen

(%)

(%)

Gummersbach 1992 Männer l.224 33,2 Männer (%)

Frauen 3.724 37,3 Frauen (%)

70-74 Jahre

9,5

8,6

30,8

32,7

75-79 Jahre

10,7

9,6

33,4

35,8

80-84 Jahre

12,6

12,6

33,8

38,2

85-89 Jahre

16,5

17,1

37,1

42,2

90-94 Jahre

20,4

20,9

38,7

46,1

95+ Jahre

25,8

28,1

40,0

53,3

Die geschlechtsspezifische Verteilung von Pflegeleistungen, aufgeschlüsselt nach einzelnen Pflegekategorien, zeigte für beide Altenpopulationen insgesamt, wie es auch für die Gesamtpflegeverordnungen der Fall war, eine altersabhängige Zunahme (Tabelle 6, 7). Klare Unterschiede hinsichtlich einzelner Pflegekategorien zwischen Berlin und Gummersbach waren für die Verordnungen von häuslicher Krankenpflege, der Ermessenspflege, der Schwerpflege und der Geldleistungen erkennbar. In Gummersbach hatte die Verordnung von häuslicher Krankenpflege einen wesentlich geringeren Stellenwert als in Berlin. Ermessenspflege als Verlängerung der häuslichen Krankenpflege über einen Zeitraum von 4 Wochen hinaus wurde in Gummersbach nicht verordnet. Andererseits erhielten in Gummersbach viel mehr Senioren in den jeweiligen Altersgruppen Schwerpflege und Geldleistungen, was möglicherweise auch mit der besseren Einbindung in Farnilienstrukturen eines ländlichen Bereiches (häufigeres Zusammenleben mit Kindern und Enkeln, bessere Erreichbarkeit von Verwandten durch geographische Nähe) gegenüber einer Großstadt in Zusammenhang steht.

172

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-TItiessen

Tabelle 6 Geschlechtsspezifische Altersverteilung von Pflegeleistungen einzelner Kategorien und technischer Hilfsmittel, bezogen auf die Gesamtpopulation

Altersgruppen (Jahre)

Pflege: Häusliche Krankenpflege Ermessenspflege Behandlungspflege Schwerpflege Geldleistungen Hilfsmittel: Gehhilfen Rollstühle Toilettenhilfen

70 74

75 79

AOK-Berlin 1992 95+ 80 90 85 84 94 89 (prozent pro Altersgruppe) Männer:

3,1

5,5

8,0

12,1

15,0

15,4

1,6 2,2 0,6 1,6

2,9 4,4 1,3 2,4

4,1 5,8 1,9 2,7

4,7 9,3 3,1 3,6

7,7 10,8 6,0 4,2

7,3 7,7 5,8 8,1

1,0 1,3 1,3

1,7 1,6 1,8

1,7 2,0 2,7

2,0 2,3 3,7

2,1 1,9 4,3

1,2 1,9 8,1

Frauen: Pflege: Häusliche Krankenpflege Ermessenspflege Behandlungspflege Schwerpflege Geldleistungen Hilfsmittel: Gehhilfen Rollstühle Toilettenhilfen

4,9

9,0

11,4

14,3

15,7

20,7

2,6 3,5 0,7 0,8

5,0 6,7 1,3 1,2

6,6 8,8 1,9 1,8

8,2 11,2 3,3 3,2

9,2 12,3 5,0 4,9

7,1 9,4 4,9 6,4

1,6 1,1 1,2

2,2 1,4 2,1

2,7 1,7 3,1

3,2 2,2 5,0

3,5 2,5 8,1

2,6 2,2 10,0

• Mehrfachleistungen möglich

Geschlechtsspezifische Differenzen waren rur die einzelnen Altenpopulationen charakteristisch, jedoch war die Ausprägung dieser Unterschiede in Berlin oftmals geringer als in Gummersbach (Tabelle 6, 7). In Berlin erhiel-

Morbidität im Alter

173

ten mehr Frauen pflegerische Unterstützung im Anschluß an einen Krankenhausaufenthalt und auch mehr Behandlungspflege, während die Männer in den Kategorien Schwerpflege und Geldleistungen häufiger Leistungen verordnet bekamen (Tabelle 6). Diese Unterschiede spiegeln möglicherweise neben der Ausprägung von Morbidität und Behinderung auch den Familienstand der betroffenen Personen wider (vgl. Brandenburg / Schmitt, Stengel-Güttner in diesem Band). Nimmt man an, daß die Angaben über den Familienstatus von den Patienten des Max-Bürger-Krankenhauses auch nur näherungsweise den Verhältnissen in der AOK-Versichertenpopulation entsprechen würden, ergäbe sich folgendes Bild: etwa 70% der Frauen wären verwitwet, während noch etwa 55% aller Männer verheiratet wären. Unter dieser Annahme wäre der geringere Anteil der Männer mit häuslicher Krankenpflege dadurch erklärbar, daß ein Teil dieser pflegerischen Unterstützung von den Ehefrauen geleistet wurde, während bei der Schwerpflege vermutlich eher professionelle Dienste hinzugezogen wurden.

174

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-lbiessen

Tabelle 7

Geschlechtsspezifische Altersverteilung von Pflegeleistungen einzelner Kategorien und technischer Hilfsmittel, bezogen auf die Gesamtpopulation Altersgruppen (Jahre)

70 74

AOK-Gummersbach 1992

75 79

80 84

85 89

90 94

95+

(prozent pro Altersgruppe*) Männer:

Pflege: Häusliche Krankenpflege Ermessenspflege* * Behandlungspflege Schwerpflege Geldleistungen Hilfsmittel: Gehhilfen Rollstühle Toilettenhilfen

0,5

0,5

1,1

0,6

4,3

6,7

1,5 1,9 3,8

2,3 2,9 5,3

4,4 3,8 8,2

7,3 8,2 14,2

13,9 10,2 19,7

20,0 20,0 46,7

2,5 0,8 0,8

2,4 1,1 1,9

1,4 2,3 3,5

1,6 2,1 5,1

0,0 3,6 5,8

0,0 0,0 20,0

Frauen: Pflege: Häusliche Krankenpflege Ermessenspflege** Behandlungspflege Schwerpflege Geldleistungen Hilfsmittel: Gehhilfen Rollstühle Toilettenhilfen

0,3

0,9

1,0

1,2

0,9

0,7

1,9 1,1 3,7

3,7 2,5 4,4

5,8 4,5 6,4

6,9 8,0 10,5

10,7 12,9 14,8

11,7 19,0 22,3

4,1 0,7 0,8

4,4 1,2 1,7

3,3 1,8 2,9

3,1 3,5 4,7

2,6 4,1 6,4

2,2 4,4 8,7

• Mehrfachleistungen möglich, ·*in Gummersbach wurde keine Ermessenspflege verordnet

Der höhere Anteil von Frauen mit Behandlungspflege läßt sich zum Teil durch die größere Häufigkeit der Diagnosen Diabetes mellitus und Katarakt

Morbidität im Alter

175

erklären, da diese Krankheitsbilder am häufigsten in Beziehung zur Behandlungspflege standen. Die wesentlichen Geschlechtsunterschiede bei den Pflegeverordnungen in Gummersbach waren fiir die häusliche Krankenpflege und fiir die Geldleistungen in den höheren Altersgruppen erkennbar (Tabelle 7). Bemerkenswert erscheint, daß in der Altersgruppe der >94jährigen Männer fast jeder zweite Geldleistungen in Anspruch nahm, was auf pflegerische Unterstützung aus dem familiären Bereich oder näheren Bekanntenkreis hindeutet. Eine Analyse der Verordnung von technischen Hilfsmitteln aus den Bereichen Mobilitäts- und Toilettenhilfen zeigte fiir beide Stichproben relativ ähnliche Alters- und Geschlechtsverteilungen (Tabelle 6, 7). Während die Verordnungen von Rollstühlen tendenziell und die Toiletten- und Inkontinenzhilfen deutlich mit zunehmendem Alter anstiegen, nahmen die Verordnungen von Gehhilfen zumindest in den höheren Altersgruppen wieder ab. Insgesamt betrachtet, bekamen 1992 in Berlin und Gummersbach mehr Frauen sowohl Mobilitätshilfen als auch Toilettenhilfen verordnet. Diese Ergebnisse reflektieren die größere Häufigkeit bestimmter Krankheitsbilder bei alten Frauen im muskuloskeletalen Bereich, wie z. B. die Osteoporose (Exton-Smith 1985) oder die degenerativen Gelenkerkrankungen, wie Osteoarthrose bzw. rheumatoide Arthritis (Grahame 1985), die zu starken funktionellen Einschränkungen fUhren können. Auch leiden Frauen im Alter häufiger an Inkontinenzstörungen als Männer, wobei der Harninkontinenz eine quantitativ gewichtigere Bedeutung zukommt (Brocklehurst 1985) als der Stuhlinkontinenz (Nikolaus 1992). Zur Abschätzung der jährlichen Pflegeinzidenzen innerhalb der einzelnen Pflegekategorien wurde eine längsschnittliche Analyse mit AOK-Versicherten mit Pflegeverordnungen über die Jahre 1992 und 1993 durchgefiihrt. Tabelle 8 zeigt die relativen Anteile der Versicherten in einzelnen Pflegekategorien bezogen auf die Gesamt-Versichertenpopulation (>69 Jahre) nach Geschlecht. Während in Berlin in beiden Jahren der Anteil der Männer und Frauen, die Pflegeleistungen erhielten, in allen Kategorien weitgehend konstant blieb, konnte fiir die Gummersbach-Population eine Zunahme der Verordnungen bei beiden Geschlechtern im Jahre 1993 bezüglich aller Kategorien festgestellt werden. Der relative Anteil der Männer und Frauen (bezogen auf deren Gesamtpopulationsanteil), die im Jahre 1993 gegenüber dem Vorjahr erstmals Pflegeleistungen durch die Kasse in Anspruch nahmen, ist in Tabelle 8 unter "neuI993" abgebildet. In Berlin waren die "Neuverordnungen" in den Bereichen häusliche Krankenpflege und Behandlungspflege häufiger, während in Gummersbach der relative Anteil der Personen, die Schwerpflege bzw. Geldleistungen in Anspruch nahmen, deutlich höher war als in Berlin. Aufgrund des geringen Zeitraumes der längsschnittlichen Verfolgung von nur zwei Jahren können diese Neuverordnungen lediglich tendenzielle Hinweise auf Neuinzidenzen bezüglich Pflegeverordnungen bei Altenpopulationen geben.

176

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thiessen

Für die Berliner AOK-Versicherten-Gesamtpopulation >69 Jahre wären auf dieser Datenbasis fiir die einzelnen Pflegekategorien insgesamt folgende jährliche "Neuinzidenzraten" zu erwarten: Häusliche Krankenpflege 7,3% (die entsprechenden Werte für Gummersbach in Klammern: 1,5%), Behandlungspflege 4,1% (3,0%), Schwerpflege 1,3% (3,7%) und Geldleistungen 0,9% (2,8%). Um gesichertere Angaben über Neuinzidenzen oder z. B. die durchschnittlichen Zeiträume der Verordnungen von Pflegleistungen machen zu können, um daraus beispielsweise eine durchschnittliche zu erwartende Pflegedauer vorhersagen zu können, wäre ein größerer Beobachtungszeitraum notwendig. Außerdem müßten die Auswirkungen des Inkrafttretens der Pflegeversicherung berücksichtigt werden. Tabelle 8

Längsschnittliehe Verteilung von AOK-Versicherten in einzelnen Pflegekategorien, bezogen auf die Gesamtpopulation Berlin 92

Männer 93 neu 1993

92

Frauen 93 neu 1993

(Angaben in Prozent) Häusliche Krankenpflege

7,0

7,4

5,6

10,5

11,1

7,9

Behandlungspflege

5,3

5,6

3,3

8,3

8,9

4,4

Schwerpflege

1,8

2,0

1,1

2,1

2,6

1,4

Geldleistungen

2,6

2,6

1,1

2,1

2,2

0,8

Gummersbach 92

Männer neu 1993 93

92

Frauen neu 1993 93

(Angaben in Prozent) Häusliche Krankenpflege

0,8

1,7

1,6

0,8

1,6

1,5

Behandlungspflege

2,4

4,1

2,7

3,5

5,5

3,1

Schwerpflege

2,4

5,1

3,3

4,2

6,1

3,8

Geldleistungen

7,4

7,4

2,7

6,0

8,3

2,8

177

Morbidität im Alter

IV. Herzkreislauferkrankungen und Risikoprofile Erkrankungen aus dem Bereich des Herzkreislaufsystems zählen zu den weitaus häufigsten Krankheitsbildern im fortgeschrittenen Alter (Bierman 1985). Unter den über 70jährigen AOK-Versicherten, die im Jahre 1993 mindestens einen Krankenhausaufenthalt hatten, waren 42,3% durch eine Diagnose aus dem Bereich der Herzkreislaufkrankheiten (lCD 390.0-459.9) gekennzeichnet. Die starke Zunahme der kardiovaskulären Morbidität mit dem Alter der Versicherten unterstreicht die Bedeutung dieser Krankheiten gerade im höheren und höchsten Alter (Tabelle 9). Tabelle 9

Alters- und geschlechtsspezifische Verteilung von AOK-Versicherten mit KrankenhausaufenthaIt 1993 mit Diagnosen aus dem Bereich des Herzkreislaufsystems Berlin 1993 Männer (N=11525)

Frauen (N=32401)

70-74 Jahre

39,9%

33,3%

75-79 Jahre

43,7%

37,3%

80-84 Jahre

44,2%

42,5%

85-89 Jahre

46,1%

46,3%

90-94 Jahre

47,9%

50,4%

95+ Jahre

48,5%

51,1%

Insgesamt: Altersgruppe:

Angegeben ist der relative Anteil der Personen in der entsprechenden Altersgruppe.

Die Ergebnisse in Tabelle 10 verdeutlichen die ausgeprägten Zusammenhänge zwischen kardiovaskulärer Morbidität und Pflege- bzw. Hilfsmittelverordnungen im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern. In sämtlichen Pflegekategorien und auch bei den technischen Hilfsmitteln aus den Bereichen Mobilität und Toilette war der Anteil der Personen mit einer Diagnose aus dem Herzkreislaufbereich, gemessen an allen anderen Diagnosen, signiftkant erhöht (Tabelle 10). Die deutlichsten Unterschiede zwischen den Gruppen waren bezüglich der Pflege insgesamt und der häuslichen Krankenpflege 12 Farny u. a.

178

RolfNieczaj, Sigrid Henße und Elisabeth Steinhagen-Thiessen

erkennbar. Obwohl der Anteil der Personen, die Geldleistungen oder Schwerpflege erhielten, gemessen an den übrigen Pflegekategorien im ganzen vergleichsweise gering war, zeigten sich hier im Gruppenvergleich die größten relativen Unterschiede. Gegenüber der Gruppe "andere" Diagnosen lag der Anteil der Versicherten mit der Diagnose Erkrankungen des "Herzkreislaufsystems" bezüglich der Geldleistungen um 35% höher und bezüglich der Schwerpflege sogar um 50% höher. Mobilitäts- und auch Toilettenhilfen wurden in der Herzkreislauf-Diagnosegruppe häufiger verordnet als in der Referenzgruppe. Hervorzuheben ist, daß in der Gruppe mit kardiovaskulären Erkrankungen Rollstühle fast doppelt so häufig verordnet wurden. Dieser relativ hohe Anteil an Rollstuhlverordnungen bei den Herzkreislauferkrankten ist unter anderem auf Personen mit der Diagnose Apoplexie zurückzuführen.

Tabelle 10 Verteilungen von Pflege- und Bilfsmittelleistungen innerhalb der AOKKrankenhauspopulation Berlin 1993 zwischen Personen mit einer Diagnose aus dem Berzkreislaufbereich und anderen Diagnosen Diagnosegruppe

Durchschnittsalter (Jahre)

Herzkreislaufsystem (N=18.559)

Andere (N=25.367)

82,0 ± 6,4***

80,8 ± 6,4

Pflege (insgesamt)

41,8%***

31,0%

Häusliche Krankenpflege

33,8%***

24,7%

Ennessenspflege

17,8%***

12,8%

Behandlungspflege

22,2%***

15,1%

Geldleistung

4,6%***

3,4%

Schwerpflege

6,1%***

4,0%

Hilftmittel (insgesamt)

24,2%***

20,0%

Gehhilfen

7,2%***

4,5%

Rollstühle

5,4%***

2,8%

Toilettenhilfen

8,6%***

6,5%

Mehrfachnennungen im Bereich HiU:Smittel und Pflegekategorien möglich; Statistische Tests: Auf Altersunterschiede wurde mit Hilfe des t-Tests geprüft; alle ilbrigen binär kodierten Variablen wurden mittels Chi2-Test analysiert. *** = p

Absicherung für Partner und Kinder

--->

zusätzliche Altersversorgung

--->

"komfortables Altenteil"

--->

"Notgroschen"

--->

für Krankheits- und Pflegefall

--->

für zusätzlichen Luxus, z. B. Reisen

--->

später mietfreies Wohnen

--->

"Notgroschen"

--->

zusätzliches Einkommen durch Vermietung

--->

Aufbesserung der gesetzlichen Rente

Angaben in absoluten Zahlen

Von den Personen, die bisher keine spezielle Altersvorsorge getroffen haben, nimmt die Mehrzahl an, daß sie über eine ausreichende Versorgung verfügt, ohne daß Zusätzliches unternommen werden müßte. Einige dagegen

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

283

haben nicht genügend Geld, um zusätzliche Rücklagen zu bilden. Erneutwie in anderen Untersuchungen dargestellt (vgl. Fischer / Müller in diesem Band) - ist also bei circa 10% eine finanzielle UntelVersorgung im Alter zu hypostasieren. Hat die finanzielle Vorsorge etwas mit den Erwartungen, die man an das Alter hat, zu tun? Insgesamt die Hälfte der Befragten - und vergleichsweise mehr aus der Kontrollgruppe mit gesunden alten Angehörigen und eher aus den unteren Einkommensschichten - sieht einen Zusammenhang; dementsprechend ist Geld von großer Bedeutung im Alter wegen • der zu erwartenden geringeren Einkommen im Alter • der Notwendigkeit der Finanzierung zusätzlicher Ausgaben • der Möglichkeit des Erhalts der Selbständigkeit durch Geld • der finanziellen Sicherheit für den Krankheitsfall. Der letzte Aspekt - Krankheitsvorsorge - wird allerdings fast nur von Befragten mit kranken Angehörigen genannt. Insgesamt lassen sich hier vier wesentliche Aspekte der zusätzlichen Altersvorsorge erkennen: • allgemeine Sicherheit • "Luxus" auch im Alter • Unabhängigkeit • Vorsorge für Krankheit. Eine Frage, die für die Thematik der Untersuchung besonders interessiert, ist die, ob das eigene Vorsorgeverhalten durch irgendwelche Ereignisse oder Erlebnisse beeinflußt wird. Dies bejahen circa 40% der 90 Befragten - allerdings aus der Kontrollgruppe mit gesunden Angehörigen in fast gleichem Ausmaß wie aus der Gruppe mit kranken Angehörigen, aber verstärkt aus den unteren Einkommensgruppen - mit unterschiedlicher Akzentuierung:

284

Gisela Stengel-Güttner

Tabelle 5 Beeinflussung des Vorsorgeverhaltens durch Ereignisse/Erlebnisse Gruppe mit kranken Angehörigen

Gruppe mit gesunden Angehörigen

"... Pflegefall in der eigenen Familie;

Angst vor Verarmung im Alter, eigene Eltern verarmt

eigene Mutter im teuren Pflegeheim; Vater ist teurer Pflegefall ... "

tagtägliche Zeitungslektüre zu diesem Thema

generell: fiir Hausfrauen zu geringe Rente eigene Vorsorge nötig, da keine Kinder vorhanden Für eine fehlende Vorsorge werden sehr unterschiedliche Begründungen angeführt: • der frühe Tod eines gleichaltrigen Freundes zeigt die Sinnlosigkeit von Vorsorge • die Familiengemeinschaft "fängt Notfalle auf' • der Glaube, die religiöse Bindung erscheint als Sicherheit • berufliche Rückschläge, private Probleme, z. B. Scheidung, machen Rücklagen unmöglich. Man kann insgesamt hinsichtlich des finanziellen Vorsorgeverhaltens aber auch von relativ hohem sozialen Druck ausgehen (auch: Medien), d. h., daß die Gesellschaft von einem selbst eine gewisse - zusätzliche - Vorsorge verlangt; Vorsorge für das Alter ist eine positive soziale "normative" Forderung. Krisen eigener alter Angehöriger können dabei ganz offensichtlich Ängste aktivieren; das bedingt allerdings nicht zwangsläufig ein verstärktes, sondern ein "anders motiviertes" Vorsorgeverhalten, d. h., man denkt dann eher an die finanzielle Sicherung einer guten Pflege als an die Finanzierung einer "Traumschiff-Reise" im höheren Alter.

3. Das Erleben der Situation des alten Angehörigen aus der Sicht der Folgegeneration Wenn die untersuchte Folgegeneration die Lebens- und gegebenenfalls Krankensituation ihrer alten Angehörigen darstellt, so stellt sich immer wieder die Frage nach den "Folgen", die das für ihn/sie selbst hat. Aus der Deskription der Lebenssituation z. B. der eigenen alten Eltern ist nur ein indi-

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

285

rekter Schluß darauf möglich, wie die Einstellung und das Verhalten des Befragten selbst durch das, was er an Krankheit u. ä. erlebt, beeinflußt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt des Explorationsgespräches wurden die Befragten direkt nach den Folgen des Erlebens von Krankheit bei alten Angehörigen gefragt. Ein wesentlicher Befund ist der, daß je nach Nähe und Beteiligung an der Pflege ganz offensichtlich unterschiedliche Erlebnistypen zustande kommen: • Eigene Pflege oder Pflegebeteiligung rur schwerkranke alte Angehörige im eigenen Zuhause • Erlebnis von Pflege (ohne direkte eigene Beteiligung) rur Angehörige im Heim oder separatem Zuhause • Hilfe fiir alte Angehörige, 1) die im eigenen Haushalt wohnen 2) die im Heim leben 3) die in einem separaten Haushalt leben • Sich-Kümmern um alte Angehörige (meist), die im eigenen Haushalt oder einem Wohnstift wohnen Zwangsläufig korreliert die persönliche Betroffenheit mit diesen Graden der Zuwendung zu den alten Angehörigen; sie hat aber auch jeweils unterschiedliche "Qualität": Zum Beispiel stellt die Durchfiihrung oder Teilnahme an der Pflege eines schwerkranken Angehörigen rur den Betroffenen direkt eine hohe zeitliche, physische und psychische Belastung dar, d. h., das Erlebnis ist unmittelbar jetzt sehr belastend und läßt wenig Spielraum, über eigene zukünftige Probleme dieser Art nachzudenken (vgl. auch Bergler / Steffens 1995). Zum Teil reduziert also das konkrete Erlebnis von Krankheit und Tod sogar die ungesteuerten Ängste, die umgekehrt bei denen auftreten, die den Altersverfall selbst nicht erleben. Das mag teilweise auch darin begründet sein, daß Pflege eine Art der Zuwendung ist, die durchaus auch positiv interpretiert werden kann im Sinne, "wenn sich jemand um mich so kümmert, wie ich mich jetzt kümmere, ... ". Ein anderer Erlebnisaspekt ist in der Art der Krankheit der alten Angehörigen begründet: Offensichtlich ist es besonders problematisch und psychologisch schwer "verkraft:bar", wenn der alte Kranke seiner geistigen Kräfte nicht mehr Herr ist, geistige Verwirrung eintritt. Der damit verbundene "Verlust der Menschenwürde" ist rur denjenigen, der diesem Menschen nahesteht, ein besonders einschneidendes Erlebnis. Das bedeutet, daß eine Zusammenfassung im Sinne eines Verhaltenseinflusses eine Abstraktion des Erlebens von Krankensituationen alter Angehö-

286

Gisela Stengel-GOttner

riger darstellt; in der Realität gibt es "das Erlebnis" des kranken Angehörigen nicht, vielmehr eine Zahl konkreter individueller Varianten. a) Faktische Aspekte der Situation der kranken Angehörigen Krankheit

Während die alten Angehörigen der Kontrollgruppe, darunter auch alte Damen über 90, sich per definitionem guter Gesundheit erfreuen und nur "kleine Altersschwächen" zeigen, haben die Angehörigen der betroffenen Gruppe folgende Krankheiten: • • • • • •

Herz-Kreislauferkrankungen Diabetes Verkalkung mit Verwirrungszuständen Krebs Gelenkerkrankungen, Osteoporose Blindheit, Schwerhörigkeit,

wobei zum Teil mehrere Krankheiten zusammen auftreten, (wie auch bei Nieczaj I Henße I Steinhagen-Thiessen in diesem Band dargestellt). Circa ein Drittel der Kranken sind Männer, zwei Drittel Frauen. Wohnsituation

Wie an anderer Stelle gezeigt, leben von den alten Kranken 10 im Heim, 18 in Haushalten der befragten Folgegeneration und 32 noch in eigenständigen Haushalten. Bei den letztgenannten bestehen Kontakte durch regelmäßige Besuche und/oder Telefonate; zum Teil wohnen sie aber auch in unmittelbarer Nähe der Angehörigen, so daß regelmäßige Hilfe oder Pflege geleistet werden kann. In gut 80% der Fälle wird die Wohnsituation - wieder aus völlig unterschiedlicher Perspektive - als zufriedenstellend bezeichnet: • Die eigene Wohnung garantiert gewisse Selbständigkeit • Das Mitwohnen im Haushalt der Familie garantiert Familienanschluß • Das Heim bietet optimale Pflege und Versorgung. Es zeigt sich, daß die befragte Folgegeneration für die eigene Zukunftsplanung, in welcher Wohnumgebung sie ihr Alter verbringen möchte, identische Argumente vorbringt. Allerdings zeigen sich auch in einigen (Pflege-)Fällen

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

287

kritische Aspekte, wenn die Wohnung nicht als alters- und pflegegerecht bezeichnet wird (zu groß, Treppen etc.). Kritik gilt hier auch dem Heim, das als unschön und trostlos bezeichnet wird. Haushaltshilfe

Die Frage, wer den Haushalt führt, unterscheidet die Gruppe der kranken Alten deutlich von den Gesunden, die ihn meistens noch selbst machen. In der Tat wird die Hausarbeit sonst wesentlich von anderen weiblichen Familienmitgliedern übernommen. Dies löst oft Konflikte innerhalb der Familie wegen der oft nicht einfachen Arbeitsteilung aus. Hier entwickelt sich für die Zukunft - wenn Töchter nicht vorhanden oder beruflich zu engagiert sindein Servicebedarf, den die Folgegeneration auch in Anspruch zu nehmen bereit ist. Finanzen

Obwohl in den weitaus meisten Fällen die Finanzsituation auch der alten Angehörigen mindestens als ausreichend bezeichnet wird, sehen die Befragten ein Problem, wenn die Überführung in ein Alten- oder Pflegeheim zur Diskussion steht. Pflegeheime haben offensichtlich das Image, sehr teuer zu sein (sicher auch eine Frage der Optik: der monatliche Preis von mehreren tausend DM erscheint sehr hoch), d. h., wenn die Familie hier mitzahlt oder eventuell ein Erbe angreifen muß, reißt es spürbare Löcher in das Familienbudget. Daraus wird mehr als verständlich, daß z. B. die Pflegeversicherung für diesen Fall als sinnvoll gilt. Soziale Situation

Entsprechend der Vorselektion der Untersuchungsgruppe ist eine Beziehung der hier Befragten zu ihren alten Angehörigen vorhanden. Die Frage stellt sich, ob sie emotional auch gestützt wird:

288

Gisela Stengel-Gilttner

Tabelle 6 Definition der Beziehung zu alten Angehörigen

Definition der

Ges

K

G

Beziehung zu alten Angehörigen

Angehörige

Befragte

männlieh

weiblieh

männlieh

weiblieh

90

60

30

30

60

32

58

eher Pflicht

10

9

1

5

5

3

7

eher Neigung

46

30

16

18

28

18

28

beides

34

21

13

7

27

1

23

Angaben in absoluten Zahlen

Nur durch "Pflicht" ist also die Beziehung zu den alten Menschen selten geprägt. Neigung - wenn auch besonders in der Beziehung zu den kranken Angehörigen, gepaart mit Pflicht, der insbesondere die befragten Frauen nachkommen, - überwiegt.

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

289

Tabelle 7

Zufriedenheit der alten Angehörigen mit dem Kontakt der Folgegeneration Alte Angehörige sind mit dem Kontakt der "Folgegeneration" sehr zufrieden, zufrieden

nicht ganz zufrieden, eher unzufrieden

Ges (90)

K(60)

G (30)

Ges (90)

K(60)

G (30)

56

33

23

34

27

7

JJ

JJ

gegenseitiges Verständnis, sich nahe stehen, Respekt

zu wenig Zeit, zu wenig Aufmerksamkeit fiir den alten Angehörigen

Liebe, Zuwendung

Überforderung durch die Pflege

Dankbarkeit und Anerkennung durch den alten Angehörigen

Angehörige(r) ist prinzipiell streitsüchtig, bösartig

gemeinsame Freude und Spaß, Abwechslung

Folgegeneration und alte Angehörige sind konträre Charaktere

Zusammenleben

Angehörige(r) ist nicht mehr ansprechbar, geistig verwirrt

Überwiegend ist der Kontakt zwischen den zwei Generationen - aus der gedachten Sicht der alten Angehörigen - also positiv gekennzeichnet. Besonders aber in der Beziehung zum kranken alten Menschen zeigen sich auch Probleme; man hat ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht genügend Zeit fiir den alten Menschen aufbringt, ist aber auch durch Pflege überfordert oder dem Problem nicht gewachsen, daß der alte Angehörige aggressiv oder gar verwirrt ist. Für die Folgegeneration selbst stellt sich der Kontakt mit den alten Angehörigen nicht so positiv dar:

19 Farny u. a.

290

Gisela Stengel-GOttner

Tabelle 8 Probleme im sozialen Umgang der alten Angehörigen Es gibt keine Probleme und Unzufriedenheiten G 12

K 18

Es gibt Probleme und Un- Kontakt ist nicht inzufriedenheiten tensiv K33

G 10

keine Klagen

normale, tägliche Reibereien

zufrieden, daß Gesellschaft vorhanden

klagt, daß man sich nicht ausreichend kümmert

echte Versorgung und Betreuung

nörgelt, meckert grundsätzlich, pingelig

ist zu Hause und nicht im Heim

erzählt alles zehnmal

Familie ist sehr freundlich, Harmonie

eifersüchtig, undankbar

K9

G8

lebt allein bzw. im Heim oder von Pflegepersonal versorgt

achtet nicht mehr auf Körperpflege jammert und stöhnt den ganzen Tag Krankheit eines alten Angehörigen bedeutet also in vielen Fällen eine recht erhebliche "soziale" Belastung. Ganz offensichtlich fällt es einer Familie und der weiteren sozialen Umgebung leichter, mit gesunden alten Angehörigen Harmonie zu wahren - wenn sich auch in dieser Gruppe der Kontakt bei einem Drittel als "problematisch" erweist. b) Das Krisenmanagement in der Krankheitssituation Der Eintritt von Krankheit im Alter wird aus der Sicht der Folgegeneration fast ausschließlich als eine äußerst krisenhafte Veränderung des Lebens beschrieben. Trotzdem scheint aus ihrer Sicht einem größeren Teil der alten Angehörigen eine Art emotionalen Krisenmanagements zu gelingen:

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

291

Tabelle 9 Wie verarbeitet der kranke Angehörige die Krankheit?" sehr schlecht und schlecht 19

u

mittel, kommt einigermaßen zurecht 25

u

kommt damit zurecht, verarbeitet sie gut 16

u

hat schwere Depressionen, wünscht sich den Tod

hat sich ins Schicksal ergeben, akzeptiert das Altwerden

gefaßt, nicht verbittert, hat sich daran gewöhnt

bösartig, nörglerisch, ungerecht, aggressiv

ist ihr/ihm nicht immer bewußt, weiß nicht, wie schlimm es ist

dankbar fiir jeden guten Tag -,"

fühlt sich beengt, ein- . geschränkt, wehrt sich gegen Hilfe

Glaube hilft

Angst vor der Zukunft

Zuwendung anderer hilft viel

verbittert • n = 60 kranke Angehörige

Wenn die Kontrollgruppe mit gesunden Angehörigen hier Vorstellungen äußert, kann sie sich praktisch keine positive Verarbeitungsmöglichkeit vorstellen, sie denkt fast nur an eine Art depressiver Verzweiflung. Dabei wird im Sinne eines Krisenmanagements die medizinische Versorgung - von Medikamenten über ärztliche Behandlung, Krankenhausaufenthalte, Rehabilitation und Kur - von der Folgegeneration eher positiv eingeordnet, positiver als von betroffenen Alten, wie die Untersuchung "Krisen im Leben älterer Menschen" (vgl. Stengel-Güttner in diesem Band) andeutete. Die Probleme setzen aus der Sicht der Folgegeneration besonders dann ein, wenn die Kranken in die Situation der Pflege übergehen: da der größere Teil im (eigenen) häuslichen Bereich gepflegt wird - und das wünscht sich auch die Folgegeneration als "Ideal" - muß hier in der Tat ein organisatorisches Krisenmanagement in die Realität umgesetzt werden, wobei jeweils zu denken ist an:

19*

292

Gisela Stengel-Gilttner

• Wohnungsumbauten (Rollstuhl, Bad ... ) • Pflegeorganisation • Haushaltsorganisation und -führung • Organisation der behördlichen Probleme. Ein wesentliches Datum ist hier, daß die Kontrollgruppe mit gesunden Angehörigen, also ohne Erfahrungen in diesen Bereichen, dazu eher Befiirchtungen entwickelt, während Erfahrung im Umgang mit den Problemen Ängste minimiert; man weiß fiir die eigene Zukunft, daß die Probleme zu bewältigen sind. Konkret zeigt sich das an dem Thema "Wahl eines Alten- oder Pflegeheimes": während hier die Kontrollgruppe im wesentlichen nur Ängste äußert, sich fiir sich selbst - nur im Pflegefall - global eine optimale Pflege wünscht, sind es eher die Betroffenen, die eine "Heim-Auswahl" nach pragmatischen Gesichtspunkten - "was frei ist", Wohnortnähe, gute medizinische Ausstattung - beurteilen und auch fiir sich selbst so wünschen. Deutlich wird auch, daß die Inanspruchnahme professioneller Hilfs- und Pflegekräfte einem Lernprozess unterliegt: während die Studie "Krisen im Leben älterer Menschen" zeigte, daß alte Menschen selbst diesen "Diensten" noch sehr distanziert gegenüberstehen und deutlich die familiäre Hilfe bevorzugen, "lernen" die Betroffenen der Folgegeneration, die Unterstützung dieser Hilfs- und Pflegedienste im Sinne einer Entlastung der Familie (vgl. auch Fischer I Müller in diesem Band) zu schätzen. Besonders wichtig ist dabei, daß man eben durch die Inanspruchnahme dieser Dienste nicht unbedingt in ein Heim muß, sondern zu Hause bleiben kann. Außerdem fiirchten insbesondere Nicht-Betroffene die pflegerische Inkompetenz von "Laien". Dafiir wiederum ist aus der Perspektive aller eine Art der finanziellen Vorsorge vonnöten, die der Pflegeversicherung aus der Sicht der jetzt circa 50jährigen Sinn gibt, da sie sicher sein wollen, selbst einmal "gut versorgt" zu sein. Das trifft weitgehend fiir beide Untersuchungsgruppen zu.

c) Persönliche Konsequenzen aus dem Erlebnis/den Vorstellungen von Krankheit im Alter Die Hälfte der betroffenen Gruppe hat aus eigener Perspektive bereits Konsequenzen aus dem Erlebnis der Krankheitssituation alter Angehöriger gezogen, in der Kontrollgruppe könnte sich nur ein Drittel derartige Konsequenzen auch vorstellen:

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

293

Tabelle 10

Konkrete oder vorgestellte Konsequenzen aus dem Erlebnis der Krankheit alter Angehöriger Konkrete oder vorgestellte Konsequenzen aus dem Erlebnis der Krankheit alter Angehöriger habe/wUrde Konsequenzen daraus ziehen

K30

GIO

wenn ja, welche

u

Bessere finanzielle Absicherung (nicht Kindern auf der Tasche liegen) Selbstvorsorge für Alten- und/oder Pflegeheim Informationen über und Kontakte zu Pflegediensten beizeiten Generell gute Vorsorge Pflege innerhalb der Familie vorplanen Entscheidung rur humaneres Sterben treffen Bessere Krankenversicherung Regelmäßige Vorsorgeuntersuchung und gesundes Leben habe/wurde keine Konsequenzen daraus ziehen

K 30

*K

G 20·

I

n = 60, G n = 30

Die jeweils andere Teilgruppe, die keine Konsequenzen aus dem Erlebnis oder der Vorstellung zur Krankheit alter Angehöriger zieht, wehrt die Ängste mit Fatalismus - "man kann ja doch nichts machen" - oder Optimismus"man muß einfach glauben, daß es nicht geschieht" - ab. Und auch bei diesen Teilgruppen - deutlich mehr aus der Gruppe mit kranken Angehörigen - kann Positives aus der Krisensituation abgeleitet werden im Sinne von ".. .ich genieße jeden Tag... ", "... ich habe gelernt, mehr auf meine Gesundheit zu achten ... ". Eine weitere kleine Teilgruppe hat nun aber auch direkt Angst vor der spezifischen Krankheit des alten Angehörigen, und beobachtet sich selbst angstvoll hinsichtlich möglicher Symptome. Trotz der oben definierten "rationalen Akzeptanz" der institutionalisierten Hilfe hofft man rur den eigenen Pflege- und Krankheitsfall im Alter in erster Linie auf familiäre Hilfe - mit institutioneller Unterstützung. So klingt es wie

294

Gisela Stengel-Güttner

eine Beschwörungsfonnel, wenn sich die jetzt selbst Pflegenden wünschen, daß sie einmal in ähnlicher Weise familiäre Zuwendung erfahren. Aber auch hier zeigt sich, was Kruse (1995) in seinem "integrierenden" Arbeitspapier verdeutlicht: die Kinderlosen der Folgegeneration und diejenigen, deren Kinder weit entfernt leben, werden auf die institutionelle Hilfe und Pflege angewiesen sein (vgl. auch Fischer / Müller in diesem Band).

4. Ein Exkurs: Die Pflegeversicherung aus der Sicht der heute 50jährigen Spontane Hinweise auf die Pflegeversicherung zeigen sich immer wieder innerhalb der vorliegenden Untersuchung, insbesondere, wenn man das Thema "Finanzen" im Krankheitsfall im Alter anspricht. Im vorliegenden Zusammenhang galt das Interesse der Frage, ob die Pflegeversicherung dem Vorsorge-Bedarfsprofil der heute 50jährigen - sensibilisiert durch die Krankheit der Angehörigen - entspricht (eine These, der die Presse teilweise recht heftig widerspricht (vgl. Lampe 1994, Schäfers 1995). Definitionsaspekte zur Pflegeversicherung in der Gesamtgruppe sind: • Absicherung für den Pflegefall einerseits der Pflege zu Hause, andererseits der Heimpflege • Pflegeversicherung als Pflichtversicherung • Streichung eines Feiertages zur Finanzierung bei eigener "Mitfinanzierung" • Staffelung nach Pflegestufen • behördliche Probleme der Antragsstellung und Zuständigkeiten. Das zeigt, daß von Detailkenntnissen oder von Detailinteresse zur Pflegeversicherung kaum gesprochen werden kann. Besonders aus genereller, aber auch aus persönlicher Sicht wird die Pflegeversicherung jedoch in hohem Maße als sinnvoll und notwendig eingestuft. Die Gründe dafür sind: • Pflege ist teuer, "unbezahlbar" • ennöglicht Pflege zu Hause und entlohnt familiäre Pflege • elementare Grundversorgung, da BRD "überaltert" • Solidargemeinschaft versorgt mit Zwangsversicherung jeden gleichmäßig.

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltem durch die Folgegeneration

295

Läßt man die Befragten sozusagen einen "Produktvergleich" vornehmen, so zeigt sich neben der positiven Beurteilung der Pflegeversicherung doch auch einiges an Kritik:

Tabelle 11 Pflegeversicherung im Vergleich mit anderen Maßnahmen zur Altersversorgung Vorteile

Nachteile

staatliche Sicherheit

Geldverlust bei Nichtinanspruchnahme

Schutz der Solidargemeinschaft

fehlende Verzinsung

keine zeitliche Begrenzung

Pflichtabsicherung

Pflichtabsicherung

unbeeinflußbare Beitragshöhe

erschwingliche Beiträge

reicht nicht aus für (gute) Pflege

sofortige Wirkung im Pflegefall

steigende Beiträge

erhöht das eigene Vermögen

Feiertagsstreichung

Zweckgebundenheit Sicherheit eines Pflegeplatzes Besonders der Geldverlust wird von der Kontrollgruppe ohne "Pflegeerfahrung" mit entsprechender Verärgerung als Nachteil der Pflegeversicherung angefiihrt. Interessant ist hier vielleicht auch, daß Pflicht zu der Pflegeversicherung Vorteil aus der Sicht der einen, Nachteil aus der Sicht der anderen sein kann. Auch die grundsätzliche Frage eines Pro und Kontra einer gesetzlichen versus einer privaten Pflegeversicherung wurde hier zur Diskussion gestellt. Dabei läßt sich für beide Untersuchungsgruppen eine Zweidrittelmehrheit fiir die gesetzliche Pflegeversicherung mit jeweils folgenden Akzenten diagnostizieren:

296

Gisela Stengel-Güttner

Tabelle 12 Gesetzliche - private Pflegeversicherung Vorteile der gesetzlichen Pflegeversicherung

Vorteile der privaten Pflegeversicherung

Sicherung durch Sozialverbund

individuell, freie Wahl bessere Leistungen

gerecht, jeder zahlt und jeder bekommt günstiger, preiswürdiger

Beitragsruckerstattungen

Pflicht

Möglichkeit der Kombination mit privater Krankenversicherung

ehrlicher Versicherungspartner Nachteile der gesetzlichen Pflegeversicherung

Nachteile der privaten Pflegeversicherung

geringer Leistungsstandard

höhere Beiträge

Zwangsversicherung ist Diebstahl

nur für Besserverdienende, ungerecht

Geldverlust bei Nichtinanspruchnahme

risikoreich, keine Vorgaben und Regeln zu den Leistungen

keine individuelle Bestimmbarkeit . der Leistungen

Profitsucht der Versicherungsuntemehmen

Ein interessanter Gruppenunterschied mag der sein, daß die Ablehnung der Privatversicherung als ungerecht deutlich eher aus Gruppen mit unteren Einkommen kommt. In diesen Gruppen ist die Terminologie der "Privilegien der Besserverdienenden" offensichtlich gut verankert (vgl. auch Block 1994). Generell zeigt diese Vorteils-Nachteilsdarstellung die äußerst konträre Diskussion des Themas gesetzliche vs. private Pflegeversicherung, auch bei privaten Konsumenten. Eine interessante Frage im Sinne der ThemensteIlung der Untersuchung war auch die nach dem persönlichen Pjlegerisiko: "Objektiv" steigt das Pflegerisiko ab dem 60. Lebensjahr von 1% rapide bis auf 30% bei den über 80jährigen an (vgl. Block 1994). In der Untersuchungsgruppe zeigen sich zur subjektiven Einschätzung interessante Unterschiede zwischen der Gruppe mit kranken bzw. gesunden Angehörigen:

Das Erlebnis von Krankheitssituationen alter Eltern durch die Folgegeneration

297

Tabelle 13

Persönliches Risiko, ein Pflegefall zu werden Gruppe mit kranken Angehörigen

Gruppe mit gesunden Angehörigen

60 hohes Risiko

30

17

3 ca. 53%

mittleres Risiko geringes Risiko kann ich nicht einschätzen

ca. 43%

15 14

11

14

6

10

Generell erscheint das Detailwissen zur Pflegeversicherung gering; dementsprechend bestehen auch zu den Kosten der Pflegeversicherung bisher kaum klare Vorstellungen. Die - im wesentlichen positive - Diskussion der Pflegeversicherung orientiert sich also (noch) nicht an ihren Kosten, sondern an ihrem Nutzen. Insgesamt sehen also "normale Bürger" in der Pflegeversicherung eine sinnvolle Ergänzung der sonstigen gesetzlichen und privaten Altersvorsorge, besonders, wenn sie selbst Erfahrungen mit kranken Angehörigen haben. Aber auch bei Nichtbetroffenen überwiegt das durch die Pflegeversicherung vermittelte erhöhte Gefiihl von Sicherheit.

Literatur Bergler, R. / StejJens, M. (1995): Die Situation Angehöriger bei der häuslichen Pflege, in: Zentralblatt filr Hygiene und Umwe1tmedizin, 197, Stuttgart, S. 75-94. Block, E. (1994): Die Struktur der Pflegeversicherung ab 1995, in: Deutsche Angestellten Versicherung, Jg. 41 JulilAug., S. 237 f Krose, A. (1995): Vorschläge zur Integration der Arbeiten zur "Lebenssituation alter Menschen". Arbeitspapier.

Lampe, U. (1994): Das Pflege-Kartell, in: Capital, 12/94, S. 144-152. Schdfers, M. (1995): Die Pflegeversicherung krankt an ihrer Finanzierung, in: FAZ, 29. März 1995, S. 19.

Institutionelle Hilfsangebote für ältere Menschen außerhalb der primären ambulanten und stationären medizinischen Versorgung Eine Bestandsaufnahme Von Hendrik Faßmann, Nümberg

I. Einmhrung Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich in der Bevölkerungsstruktur der meisten industrialisierten Staaten eine "stille Revolution". Sie führt dazu, daß im Jahr 2020 rund ein Viertel der Bewohner der Staaten der Europäischen Union 60 Jahre und älter sein wird (vgl. Statistisches Bundesamt 1994, S. 17 und 19). Tabelle 1

Familialer Strukturwandel als Ursache für nachlassendes Hilfepotential der Familien •

rückläufige Heirats- und Geburtenhäufigkeit



steigende Trennungs- und Scheidungshäufigkeit



steigendes Bedürfnis nach eigenständigem Wohnen



räumliche Trennung von (Groß-)Familie aufgrund berufsbedingter Mobilität



Zunahme der Zahl der Kleinfamilien und Einpersonenhaushalte



Zunehmende Individualisierung und Emanzipation



steigende Frauen- und Müttererwerbstätigkeit

Folge: Leistungsfähigkeit und Bereitschaft der Familien zur Erbringung subsidiärer Hilfeleistung sinkt.

300

Hendrik Faßmann

Damit einher gehen tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, von denen der Wandel familialer Strukturen und das daraus resultierende Nachlassen des Hilfepotentials der Familien rur die Lebenslage älterer Menschen in der Sozialpolitik als besonders wichtig angesehen werden (siehe Tabelle 1).

Tabelle 2

Konzepte zur Beschreibung des Altersstrukturwandels Verjüngung des Alters • Verjüngung der Selbsteinschätzung der älteren Menschen • zunehmende Frühverrentung ("Älterer Arbeitnehmer" ab 45 Jahren) • Verfrühung des Abschlusses der Kindererziehungsphase • Verjüngung des Alters durch Werbung Entberujlichung • Alterszeit ohne Berufstätigkeit > frühe Berufsaufgabe (flexible Altersgrenze, Vorruhest., Frühinvalidität) > erhöhte durchschnittliche Lebenserwartung Feminisierung des Alters • Ursachen > höhere Lebenserwartung von Frauen > Kriegsfolgen • Folgen > verheiratete Männer können mit der Hilfe von Frauen rechnen > alleinstehende Frauen sind primär auf familiäre, geschlechts- und altershomogene Kontakte angewiesen > Frauen prägen Altenhilfe-Angebote > Altersarmut infolge kumulativer Benachteiligungen > höhere Gefährdung und Abhängigkeit der Frauen von Hilfsangeboten Singularisierung • mit zunehmendem Alter steigt der Anteil Alleinstehender • Veränderung der Wohnformen hin zu Einpersonenhaushalten • zunehmender Hilfebedarf außerhalb des familiären Kontaktnetzes • Isolations-, Vereinsamungstendenzen Hochaltrigkeit • überproportionale Zunahme der Hochaltrigen (über 75jährige) • steigende Lebenserwartung • Folge: Zunahme von > familiärer Isolierung, Vereinsamung > Krankheit, Multimorbidität > psychischen Erkrankungen und mentalen Verschlechterungen > Hilfeabhängigkeit und Pflegebedürftigkeit

Institutionelle Hilfsangebote flir Iltere Menschen

301

Die Folgen des Altersstrukturwandels lassen sich, bezogen auf den Kreis der Älteren, schlagwortartig mit (teilweise interdependenten) Konzepten wie "VerjUngung", "Entberuflichung", "Feminisierung", "Singularisierung" und "Hochaltrigkeit" beschreiben (vgl. Tews 1993, siehe Tabelle 2). Darüber hinaus kommt es (zumindest in den wohlhabenden Industriestaaten) zu einer wachsenden Polarisierung zwischen Personen, die Merkmale des sogenannten "positiven" bzw. "negativen" Alters aufweisen (siehe Tabelle 3): Tabelle 3

Merkmale "positiven" und "negativen" Alters "Positives Alter" • Aktivität • Unabhängigkeit von fremdem Hilfebedarf soziale (familiale, nachbarschaftl., freundschaftliche) Eingebundenheit • gesellschaftliche Integration • Interessenvielfalt • Freizeit- und Konsumorientierung • gute Einkommens- und Vermögensverhältnisse • zufriedenstelIender Gesundheitszustand • Abneigung gegen > Bevormundung und Inpflichtnahrne von außen > neue Abhängigkeitsverhältnisse > betreuende und entmündigende Angebote > Wohnen in Institutionen mit fehlender Privatheit und starker Reglementierung "Negatives Alter" • Vereinsamung • Isolation, Ausgrenzung Armut



• •

Krankheit (Multimorbidität, hoher Anteil gerontopsychiatrischer Erkrankungen)



Hilfe- und Pflegebedürftigkeit

Obwohl sich die Situation der heute lebenden älteren Generation - sowohl subjektiv als auch objektiv gesehen - in einem Ausmaß wie niemals zuvor eher günstig darstellt, sind Merkmale des "negativen Alters" weiterhin fiir

302

Hendrik Faßmann

viele ältere Menschen relevant, zumal positive Lebenslagen erfahrungsgemäß schnell in negative umschlagen können (vgl. Naegele I Schrnidt 1993, S. 9 ff.).

[J Hauswirtschaftlicher

Hilfebedarf

DRegelmäßiger Pflegebedarf

in%

65-69

70-74

75-79

80-84

85 und älter

Alter in Jahren

(Quelle: Schneekloth I Potthoff 1993, S. 103) hochgerechnet in Prozent der Gesamtbevolkerung

Abbildung 1: Hilfe und Pflegebedürftige in Privathaushalten

So ist zu beachten, daß die Gruppe gesundheitlich angeschlagener und behinderter alter Menschen mit steigender Lebenserwartung ständig größer und die häufiger von Krankheit und Pflegebedürftigkeit gekennzeichnete Lebensspanne tendenziell länger wird. Hilfe- und Pflegebedarf nehmen daher vorn 65. Lebensjahr an kontinuierlich und spürbar zu (siehe Abbildung 1). Wegen des bereits angesprochenen farnilialen Strukturwandels kann diese zunehmende Hilfebedürftigkeit allerdings nicht mehr in dem Maße wie früher von den Privathaushalten aufgefangen werden. Zwar kann die Mehrheit der Betroffenen - derzeit sind das rund 70 Prozent - weiterhin im häuslichen Bereich durch Verwandte oder Bekannte versorgt werden. Der Trend hin zur Kleinfamilie, die stärkere Individualisierung und Emanzipation sowie die sich ausweitende Frauenerwerbstätigkeit tragen jedoch dazu bei, daß die Leistungsfähigkeit und die Bereitschaft des engeren sozialen Umfeldes älterer Menschen sinkt, subsidiär Hilfe zu leisten.

Institutionelle Hi\fsangebote flIr Iltere Menschen

303

Aus diesem Grunde werden in wachsendem Maße institutionelle bzw. professionelle Hilfen und Dienste benötigt, die geeignet sind, den Ausfall familialer Netzwerke zu kompensieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Hilfepotentiale im Bereich der Zivildienstleistenden durch die deutliche Verkürzung der Wehr- und Zivildienstdauern in jüngerer Zeit spürbar abnehmen und die sozialpflegerischen Dienste vor große Probleme stellen. Vor diesem Hintergrund stellt sich nicht nur die Frage, inwieweit die derzeit vorhandenen Institutionen in der Lage sind, den steigenden Bedürfnissen älterer Menschen •

nach gesellschaftlicher Teilhabe sowie



nach persönlicher gesundheits- und sozialpflegerischer Versorgung

rnittel- und langfristig zu entsprechen. Vielmehr erscheint auch von Interesse, wie das Altenhilfesystem zu verändern wäre, um künftige Herausforderungen bewältigen zu können. Zur Beantwortung dieser Fragestellungen beauftragte die Kölnische Rückversicherungs-Gesellschaft AG im Jahre 1993 das Institut für empirische Soziologie·Nürnberg damit, •

eine Bestandsaufnahme von institutionellen Hilfsangeboten für ältere Menschen - außerhalb der primären medizinischen ambulanten und stationären Versorgung - anband von Sekundärrnaterialien vorzunehmen und



diese Strukturen einer gegenwarts- und zukunftsbezogenen Bewertung durch Experten aus Praxis und Wissenschaft zu unterziehen.

Die Arbeiten zu diesem Projekt wurden Anfang des Jahres 1994 abgeschlossen und in einern umfangreichen Forschungsbericht niedergelegt (siehe: Institut für empirische Soziologie Nürnberg 1994). Im Rahmen des vorliegenden Beitrages soll über einige besonders wichtige Befunde der Studie referiert werden.

ll. Durchrdhrung der Untersuchung Erwartungsgemäß war die Durchfiihrung der Untersuchung nicht unproblematisch. Dies hat mehrere Gründe, die zum einen in der Komplexität des Altenhilfesystems liegen, zum anderen darin bestehen, daß auch Experten kaum in der Lage sind, rnittel- und langfristige Veränderungen dieses komplexen Bereichs vorherzusehen und daraus Folgerungen zu ziehen. Zum dritten war die sozialpolitische Diskussion seinerzeit vor allem von der

304

Hendrik Faßmann

Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung im Hinblick auf Adressatenkreis, Leistungsspektrum und Finanzierung der Angebote geprägt und zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht abgeschlossen. Konnten die Experten im Rahmen unserer Befragungen daher über künftige Entwicklungen im Bereich der Altenhilfe nur spekulieren, da ihnen die konkrete Ausgestaltung der Pflegeversicherung nicht bekannt war, so ist auch heute immer noch nicht annähernd absehbar, wie sich dieser sozialpolitische Sektor weiterentwickeln wird. Angenommen wird etwa, daß sich Verschiebungen zwischen Leistungsträgem und -anbietern ergeben werden. Zudem eröffnen sich neue Substitutionschancen dadurch, daß Grundsätze wie ''Rehabilitation vor Pflege" oder "ambulant vor stationtir" sowie die Möglichkeit von Pflegebedürftigenhaushalten, zwischen Geld- und Sachleistungen wählen zu können, im Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) verankert wurden. Aus diesen Gründen scheint ohne Zuhilfenahme mehr oder minder realistischer ceteris-paribus-Annahmen bislang nicht abschätzbar zu sein, wie sich die Nachfrage nach ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen durch diese Neuerungen verhalten wird. Ebensowenig ist vorherzusehen, wie das Angebot an Diensten und Einrichtungen auf die neuen Rechtsnormen und die angenommene Nachfrage nach Leistungen reagieren wird.

ID. Ergebnisse der Untersuchung 1. Überblick über den Bereich der Altenhilfe Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Angebote, die im Bereich der offenen bzw. ambulanten, teilstationären und stationären Altenhilfe bereitgestellt werden (sollen).

305

Institutionelle Hi1fsangebotc ftlr Iltcrc Menschen

Altenhilfe

offene/ambulante Angebote

teilstationäre Angebote

stationäre Angebote



Bildung



Kurzzeitpflege



Altenwohnheim



Beratung



Tagespflege



Altenheim



Förderung der Integration



Tagesklinik



Altenpflegeheim



Grundversorgung



Altenwohnstift



Hilfen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit



Hospize/Palliativeinrichtungen



betreutes Wohnen Abbildung 2: Übersicht über die Angebote der Altenhilfe

2. Kennzeichen des Altenhilfesystems und Probleme der Altenberichterstattung Wie Tabelle 4 verdeutlicht, weist das Altenhilfesystem in der Bundesrepublik Deutschland vielfältige Charakteristika auf, die nicht nur den Überblick, sondern auch die Steuerung und die Inanspruchnahme dieses Systems erschweren.

20 Farny u. 8.

306

Hendrik Faßmann

Tabelle 4

Kennzeichen des Altenhilfesystems • Subsidiaritätsprinzip als Leitlinie der Altenhilfe • Altenhilfe vorrangig Aufgabe von Ländern und nachgeordneten Gebietskörperschaften • keine zentrale Altenberichterstattung, Planung, Steuerung und jinanzierung • Trägervielfalt (Angebotsträgerseite) > öffentliche Träger - Sozialversicherungsträger - örtliche Träger (Städte, Kreise, Gemeinden) - überörtliche Träger (z. B. Landschaftsverbände, Bezirke) > frei-gemeinnützige Träger - Verbände der freien Wohlfahrtspflege - Kirchen und Religionsgemeinschaften - andere anerkannte frei-gemeinnützige Träger > privat-erwerbswirtschaftiche Träger - gewerbliche Träger - Freiberufler • tiefgegliedertes System der sozialen Sicherheit mit konkurrierenden Institutionen (Leistungsträgerseite) > einzelne Krankenkassen > Versicherungszweige (Kranken-, Renten-, Pflege-, Unfallversicherung) > Sozialhilfeträger > sonstige Institutionen der sozialen Sicherung > private Versicherungen • Mischjinanzierung der Einrichtungen und Angebote > Finanzierungsquellenvielfalt im Bereich der offenen Altenhilfe > "duale" Finanzierung im Pflegebereich

Angesichts dieser komplexen Verhältnisse besteht ein besonderes Manko darin, daß eine "Altenberichterstattung" hierzulande (z. B. in NordrheinWestfalen) erst in den Anfangen begriffen ist, mit der versucht werden kann, Strukturen und Probleme nach einheitlichen Kriterien zu erfassen und zusammenzufiihren. Zwar sind große Mengen von Informationen vorhanden und teilweise auch der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich, die betreffenden Berichtssysteme sind jedoch hinsichtlich Breite, Tiefe und Aktualität sehr uneinheitlich. Zudem werden die Datenerhebungs- und -verwertungszusammen-

Institutionelle Hilfsangebote fllr ältere Menschen

307

hänge von unterschiedlichen Interessen geleitet. Insofern ergeben sich in der Praxis große Lücken im verfügbaren Datenmaterial, so daß der Anspruch einer "Bestandserhebung" im eigentlichen Sinne für den gesamten Bereich der Altenhilfe derzeit nicht annähernd zu leisten ist (vgl. Brandt 1993, S. 7 ff. und Reichert / Stratmann 1993).

3. Offene Altenhilfe

Die offene Altenhilfe zielt ab auf •

die Stärkung und Erhaltung der Selbständigkeit älterer Menschen außerhalb stationärer Einrichtungen,



die Stärkung der Selbsthilfekräfte sowie



die Aktivierung älterer Menschen.

Kennzeichnend für diesen Bereich ist die Fülle von mehr oder minder institutionalisierten Angeboten. Diese richten sich häufig nicht nur an ältere Menschen, sondern auch an andere Hilfebedürftige (z. B. Kranke, Behinderte, Arbeitslose) oder manchmal sogar an jüngere, gesunde Menschen (z. B. im Bildungsbereich). Wichtig ist schließlich, daß sich die verschiedenen Einrichtungen und Dienste vielfach hinsichtlich der von ihnen bereitgestellten Leistungen überschneiden. Zur Unübersichtlichkeit trägt weiter bei, daß ähnliche Angebote unterschiedlich benannt und spezifische Konzepte mit gleichen Begriffen belegt werden: So mögen manche Altenservice-Zentren oder Mobile Soziale Dienste weitgehend gleichartige Aufgaben erfüllen wie Sozialstationen, umgekehrt aber manche Sozialstationen Angebots-, Organisations- und Finanzierungsstrukturen aufweisen, die in wesentlichen Punkten erheblich voneinander abweichen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige ausgewählte Angebote der offenen Altenhilfe und beleuchten vorrangig solche Einrichtungen und Dienste, die im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Anspruch genommen werden können. a) Hilfen zur Grundversorgung älterer Menschen

Zur Grundversorgung gehören Angebote für hilfebedürftige Menschen zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Kennzeichnend ist auch hier die große Zahl von Angeboten und Leistungserbringern (siehe Tabelle 5).

20'

308

Hcndrik Faßmann

Tabelle 5

Einrichtungs- bzw. Angebotsarten von Hilfen zur Grundversorgung liIterer Menschen •









Erntihrung (ca. 1.700 Dienste) > Stationäre Mahlzeitendienste > Mahlzeitendienste "auf Rädern" Unmittelbare Selbstversorgung > gesundheits-/sozialpflegerische Dienste (z. B. Sozialstationen, Bade-, Wäschedienste) > Heil-Hilfsberufe (z. B. Medizinische Fußpfleger) > Private Dienstleistung (z. B. Friseure) Fortbewegung und Kommunikation (ca. 3.000 Dienste) > Fahrdienste für Behinderte > Mobile Soziale Dienste > Ambulante/mobile Dienste für AlteIBehinderte > Hausnotrufdienste/-systeme Hauswirtschaftliche Hilfen (ca. 6.000 bis 7.000 Dienste) > Sozialstationen > Alten- und Servicezentren > Haus- und Familienpflegestationen > Nachbarschaftshilfen > Mobile Soziale (Hilfs-)Dienste > private Reinigungs-, Hausordnungs-, Hausmeisterdienste > angestellte Hauswirtschafterinnen, Dienstboten Trtiger von Einrichtungen und Angeboten > Wohlfahrtsverbände > Kirchengemeinden > eingetr. Vereine (z. B. Hauspflegeverbände, Seniorengenossensch.) > Einzelpersonen > Gewerbebetriebe > Freiberufler

Diese Einrichtungen und Dienste refinanzieren sich auf unterschiedliche Weise, vorwiegend aber über Mischfinanzierungen. Die Angebote werden meist über Festbeträge oder die Übernahme bestimmter Sach- oder Personalkosten von den Gebietskörperschaften oder durch andere Quellen subventioniert. Gleichwohl müssen die Dienstleistungen gerade in diesem Bereich

Institutionelle Hilfsangebote fIIr llterc Menschen

309

von den Nachfragern besonders häufig (zu ca. 20 bis 25%) selbst bezahlt werden (siehe dazu: Bauer-Söllner 1991). b) Hilfen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit

Hilfsangebote bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit erfolgen in den alten Bundesländern im wesentlichen durch die rund 3.000 Sozialstationen; bundesweit sind es etwa 4.000 Stationen (siehe dazu Faßmann 1993). Das Aufgabenspektrum sowie die Träger der Sozialstationen zeigt Tabelle 6. Tabelle 6

Aufgaben von Sozialstationen Häusliche Krankenpflege • Grundpflege • Behandlungspflege Haus- und Familienpflege • Hauswirtschaftliche Versorgung als Teil der Krankenpflege

• •

Haushaltshilfe Dorfhilfe zur Weiterführung des bäuerlichen Haushalts im Krankheitsfall

Altenpflege • • • • •

Häusliche Krankenpflege Hauswirtschaftliche Versorgung, Haushaltshilfe präventive, aktivierende, rehabilitative Maßnahmen Vermittlung hauswirtschaftlicher Hilfen Bereitstellung weiterer Hilfen (z. B. Essen auf Rädern, Einkaufshilfen) Träger von Sozialstationen • 86% frei-gemeinnützige/kirchliche Träger

• 13% kommunale Träger • 1% sonstige Träger Das Sozialstationenkonzept sieht keine privat-gewerb!. Trägerschaft vor. Die Betriebsgräßen variieren zwischen 3 und 100 Mitarbeitern. Entsprechend groß ist die Varianz zwischen Dienstleistungs-, Organisations- und Personalstrukturen. Die Finanzierung der Sozialstationen erfolgt über zahl-

310

Hendrik Faßmann

reiche Quellen. Die Abbildung 3 zeigt beispielhaft die Verteilung der Einnahmen solcher Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1987.

l3enutzcr-Enlgc\le 12%

Ste überaus idealistische Prämissen und Zielsetzungen, die unter den gegebenen Bedingungen kaum zu verwirklichen sind.

Institutionelle Hilfsangebote ftlr ältere Menschen

319

8. Bewertung der ambulanten, teilstationären und stationären Altenhilfe

Die Altenhilfe bietet derzeit eine Fülle von Angeboten, die den unterschiedlichsten Bedürfnissen entgegenkommen und vielfach zweifelsohne von befriedigender bis guter Qualität sind. Gleichwohl ist dieser sozialpolitische Sektor von einigen strukturellen Schwächen gekennzeichnet, die die Effektivität der Leistungserbringung und die Effizienz der dabei eingesetzten Ressourcen in erheblichem Maße beeinträchtigen. Tabelle 8 gibt einen stichwortartigen Überblick über die Kritik, die an den Angeboten der Altenhilfe geübt wird. Allerdings wird darauf hingewiesen, daß hier noch erhebliche Freiräume für Innovationen (z. B. Organisationsformen, Kommunikationstechnologie) vorhanden zu sein scheinen. Tabelle 8 Kritik an Angeboten im Bereich der Altenhilfe •

Angebotsspektrum intransparent



mangelhafte Koordination mit vorhandenen oder ergänzenden Angeboten im Versorgungsraum



mangelhafte Berücksichtigung von Bedürfnissen (z. B. wohnortnah, kundenorientierte Dienstleistungszeiten),



Fehlen flankierender Angebote (z. B. Fahrdienste, "zugehende" Maßnahmen)



mangelhafte Problemgruppenorientierung, hinsichtlich

> vorhandener Kompetenzen und Leistungsfähigkeit der Adressaten > tatsächlich gegebener Hilfebedarfslagen •

Zurechnung der Angebote zur Altenhilfe nicht immer zwingend



Finanzierung nach dem "Gießkannenprinzip"



"duale" Finanzierung der Angebote im pflegerischen Bereich



Qualitätsmängel im Personalbereich

> mangelhafte Professionalität > unzureichende spezifische Qualifikationen (geronto-psychiatrisches Wissen)

> Fluktuation und Rotation der Kräfte > Personalmangel •

Sicherstellungflächendeckender Versorgung nicht gewährleistet (z. B. Stadt-Land-Gefälle)

320

Hcndrik Faßmann

9. Probleme der Altenhilfeplanung Nach Ansicht von Fachleuten ist die Bewertung des Bestandes an Einrichtungen und Diensten im Bereich der Altenhilfe im Hinblick auf den erwarteten künftigen Bedarf überaus problematisch. So muß neben unterschiedlichen Parametern auf der Ebene der potentiellen Nutzer stationärer Einrichtungen auch das Angebot komplementärer und substitutiver Dienste und Einrichtungen mitberücksichtigt werden. Die Beurteilung dieser Einflußgrößen basiert allerdings nicht nur auf der möglichst adäquaten vorausschauenden Betrachtung objektiver Tatbestände, sondern in erheblichem Maße auch auf Überlegungen der politischen Opportunität, ideologischer Orientierung, Affinität zu Interessengruppen und Refinanzierungsmöglichkeiten. Die Tabelle 9 gibt einen Überblick über wichtige Einflußgrößen, welche die Ausgestaltung des Altenhilfesystems entscheidend determinieren (können) (vgl. Braun 1992, S. 354 f.).

Tabelle 9 Determinanten der Ausgestaltung des Altenhilfesystems



objektive Parameter wie

> Bestand und Entwicklung der Altenbevölkerung > vorhandene Angebote > Belegung bzw. Inanspruchnahme von Einrichtungen Einschätzungen von EjJektiviUit, Effizienz und Substituierbarkeit unterschiedlicher Angebote •

(augenblickliche) politische Opportunität der Entscheidungen (z. B. Errichtung außenwirksamer "Monumente")



ideologische Orientierung (z. B. Stellenwert der Familienpflege, weltanschauliche Bindungen)



Berücksichtigung von (bestimmten) Interessengruppen (z. B. Nähe zu Anbietern ambulanter oder stationärer Dienstleistungen bzw. Trägern entsprechender Einrichtungen)



Finanzierung auf regionaler Ebene > Refinanzierungsaspekte

> Zuschußgebaren übergeordneter Körperschaften

> kostendeckende Absicherung der Folgekosten

Institutionelle Hilfsangebote filr ältere Menschen

321

Vor diesem Hintergrund sind je nach Prioritätensetzung verschiedene Strategien zur Angebotssteuerung denkbar. Bei isolierter Betrachtung des stationären Sektors könnte sich unter Berücksichtigung der tendenziellen Zunahme hochaltriger pflegebedürftiger Menschen ein Ausbau des Pflegeheimsektors anbieten. Bezieht man dabei jedoch die komplementären und substitutiven Betreuungsformen mit ihrem großen Potential an erhaltenden, aktivierenden und rehabilitativen Möglichkeiten in die Überlegungen ein, so könnte ein mehr oder minder umfangreicher Ausbau des ambulanten Sektors sinnvoll erscheinen. Dies wiederum bliebe nicht ohne Folgen fur den Bedarf an stationären Einrichtungen. Im übrigen wird darauf hingewiesen, daß Bedarfsrechnungen und die Erarbeitung von Versorgungsrichtwerten in Altenplänen aus den in Tabelle 10 aufgelisteten Gründen nur schwer zu bewerkstelligen sind (vgl. Braun 1987, S. 99 f., Stratmann / Korte 1993, S. 199 f.).

Tabelle 10

Probleme bei der Erarbeitung von Versorgungsrichtwerten und Bedarfsrechnungen im Altenhilfebereich •

Planungen sind auf große Zeiträume ausgelegt



Konzeptionen (z. B. bezogen auf den Adressatenkreis) und (bauliche) Ausgestaltung der Einrichtungen unterliegen einem Wandel



Akzeptanz einzelner Angebote und Dienstleistungen ist Wandlungen unterworfen



Richtwerte und Bedarfslagen wegen spezifischer regionaler Populations- und Infrastrukturen sind nicht immer übertragbar



Bedeutung bestimmter Einflußfaktoren beruht auf Hypothesen, ohne daß eine Verifizierung oder gar Quantifizierung zu leisten wäre

Diese kurzen Ausführungen verdeutlichen das Dilemma, dem die Altenhilfeplanung selbst dann ausgesetzt ist, wenn versucht wird, Projektionen möglichst kleinräumig unter Berücksichtigung der potentiellen Nutzerstrukturen und des Bestandes an vorhandenen Einrichtungen zu entwerfen. Aus diesem Grunde wird die Ansicht vertreten, auf Planungen und Angebotssteuerung weitgehend zu verzichten und die Versorgung mit Diensten und Einrichtungen den Kräften des Marktes zu überlassen. Insofern wird den im Pflegeversicherungsgesetz enthaltenen Regelungen über die bedarfsgerechte regionale Versorgung mit Hilfe von Versorgungsverträgen mit großer Skepsis begegnet. 21 Farny u. a.

322

Hendrik Faßmann

Insgesamt gesehen wird eine größere Ausdifferenzierung des Leistungsangebots innerhalb der Einrichtungen und eine stärkere bedürfnisadäquate Spezialisierung der Anbieter im gegebenen regionalen Verbundsystem befiirwortet. So sollen nicht nur Wohnraum und qualifizierte Pflege sichergestellt, sondern vor allem auch Möglichkeiten moderner geriatrischer Rehabilitation eröffnet werden (siehe dazu Ahlert et al. 1991).

IV. Resümee und sozialpolitische Folgerungen Die Altenhilfe stellt heute ein sehr komplexes System dar, in dem eine Vielzahl von Einrichtungen und Diensten, Leistungsnachfragern, Einrichtungs- und Kostenträgern mehr oder minder koordiniert zusammenwirken. Die institutionellen Strukturen und die Beziehungen zwischen den Akteuren sind hiet: überaus vielfältig gestaltet und weisen häufig regionale, anbieter-, nutzer- und leistungsträgerspezifische Besonderheiten auf, die selbst im kleinen Rahmen überaus differenziert sein können. Insofern erstaunt kaum, daß es sehr schwierig ist, die betreffenden Verhältnisse angemessen zu beschreiben, zu analysieren und bei Bedarf steuernd einzugreifen. Entsprechend problematisch ist es, zu Handlungsempfehlungen zu gelangen, werden sich doch in einem derart verflochtenen Beziehungssystem immer Effekte ergeben, die den Intentionen von Eingriffen nicht entsprechen, sondern ihnen u. U. sogar geradezu entgegenlaufen. Durch die Einführung der Pflegeversicherung werden die angedeuteten Schwierigkeiten bei der Sozialplanung weiter verschärft, wurden damit doch neue Normen zur Ausgestaltung des Leistungsangebotes sowie zur Leistungsinanspruchnahme geschaffen. So ist nunmehr die Wahl zwischen Pflegesach- und Geldleistungen vorgesehen. Diese Möglichkeit bestand seit dem Gesundheitsreformgesetz bereits im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier wurden bisher ebenso, wie seit Beginn des Jahres 1995 in der Pflegeversicherung, in über 80% der Fälle die Geldleistungen bevorzugt (vgl. Faßmann et al. 1995, S. 32 ff.). Gemutmaßt wird, daß auch in Zukunft vor allem Geldleistungen in Anspruch genommen werden dürften, weil • auf Angebotsseite Kapazitätsmängel bei den organisierten Pflegediensten herrschen, • das ambulante und stationäre Angebotsspektrum den Bedürfnissen und der Leistungsfähigkeit der Nutzer nur unzureichend entspricht,

Institutionelle Hilfsangebote ftir ältere Menschen

323

• auf der Nachfrageseite Akzeptanzprobleme bestehen, die sich mit Mitnahmeeffekten und damit erklären lassen, daß die vorgesehenen Sachleistungen als unzureichend angesehen werden (vgl. Engels 1991, S. 31 ff., Naegele 1993, S. 240, Mann 1994, S. 33 f., 57 f.). Von Fachleuten wird angenommen, daß das Angebot in erster Linie auf die Nachfrage reagiert. Trifft dies zu, so ist bei fortgesetzter Zurückhaltung der Pflegehaushalte gegenüber professionellen Pflegeleistungen kaum vorstellbar, die Kapazitätsmängel bei den Diensten tatsächlich überwinden zu können. Zudem sind dann die Anreize zur zusätzlichen Personalrekrutierung auf Trägerseite gering. Der in vielen Bereichen festgestellte Pflegepersonalnotstand dürfte demnach auch nach Einführung der Pflegeversicherung erhalten bleiben. Bezweifelt wird auch, ob die neuen Rechtsnormen eine quantitative und qualitative Verbesserung des Heimsektors bewirken werden. Vorgesehen ist nämlich eine Deckelung des Kostenanteils fiir Pflegeleistungen (2.800 DM monatlich, in Ausnahmefällen bis zu 3.300 DM monatlich). Berücksichtigt man darüber hinaus den rapiden Verfall der öffentlichen Finanzen, dann ist fraglich, ob die von Ländern und Gemeinden ersparten Sozialhilfeaufwendungen tatsächlich - wie vorgesehen - den Heimen oder den übrigen örtlichen Altenhilfeträgern zufließen werden (vgl. Naegele 1993b, S. 241 f.). Aufgrund dieser Überlegungen ist derzeit schwerlich abschätzbar, inwieweit mittelfristig wirklich den wichtigsten Forderungen entsprochen werden kann, die die aktuelle Diskussion um die Reform der Altenhilfe dominieren (vgl. Naegele 1993a, S. 173 ff., Naegele/Schmidt 1993, S. 17 ff.). Demnach muß zunächst ausgegangen werden vom demographischen und sozial-strukturellen Alterswandel insbesondere im Hinblick auf • die wachsende Zahl "junger" Alter, Frührentner und Vorruheständler, die im wesentlichen als hilfeunabhängig betrachtet werden können, • die längere Lebenserwartung alter Menschen mit der Tendenz > zur längeren Singularisierung, Isolation und Einsamkeit sowie > zur Zunahme von Krankheit und Pflegebedürftigkeit im Alter. Damit einher gehen veränderte Bedarftlagen der alten Menschen wie • individuell befriedigende und gesellschaftlich nutzbringende Kompensationsmöglichkeiten for vorzeitige Funktionsverluste (Förderung sinnvoller Lebensgestaltung, präventive Sozialpolitik),

• Maßnahmen und Hilfen zur Sicherung der selbständigen Lebensfohrung (z. B. hauswirtschaftliche Hilfen, kommunikative Angebote, Modelle des intergenerativen oder des Gemeinschaftswohnens, gemeinwesenbezogene 21*

324

Hcndrik Faßmann

Sozialarbeit zur Erhaltung bestehender Sozialstrukturen, Kontakte, Kommunikationsmöglichkeiten und informelle Hilfestrukturen) unter Berücksichtigung benachbarter Sozialpolitikbereiche wie Wohnungsbauforderung, Mieterschutz- und Stadtentwicklungspolitik sowie • Bereitstellung und Organisation von aufKrankheit und Pflegebedürftigkeit bezogenenen Hiifesystemen (persönliche, psychosoziale, beratende, hauswirtschaftliche, pflegerische, rehabilitative und gerontopsychiatrische Dienste, Leistungen und personenbezogene Hilfen bis hin zum Sterbebeistand, Sicherstellung und Abstützung häuslicher Pflege, Ausbau und Aufgabenerweiterung bei ambulanten, teilstationären und stationären Pflegediensten und -einrichtungen einschließlich der Berücksichtigung von Bedürfnissen (berufstätiger) Pflegepersonen).

Zur Zielerreichung müssen Angebote und Maßnahmen, die auf diese Bedarfslagen abgestimmt sind, schließlich folgenden Prinzipien entsprechen: • Stadttei/- und Gemeinwesenorientierung. • Fachlichkeit und Professionalittit im Hinblick auf Arbeitskonzepte, Mitarbeiterqualiftkationen, Organisationsstrukturen, administratives und politisches Handeln unter besonderer Berücksichtigung gerontologisch-geriatrischen Wissens sowie • Kooperation. Koordination und Vernetzung im Bereich von Leistungsträgern, -anbietern und Nutzern.

Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, die begonnene sozialpolitische Grundsatzdiskussion fortzusetzen und tatsächlich zu einer Neubestimmung der Rahmenbedingungen :fiir die institutionalisierte Altenhilfe zu gelangen. Dabei ist insbesondere von Interesse, in welche prinzipielle Richtung sich das sozialpolitische System weiter bewegen soll. Denkbar sind zwei Möglichkeiten. • Die eine Alternative wäre die einer weiteren Solidarisierung der Gesellschaft verbunden mit einer (noch) ausgeprägteren Normierung und Regelung von Leistungsansprüchen und -angeboten als bisher. • Die andere Alternative bestünde in einem Paradigmenwechsel, der stärker auf eine Liberalisierung des Systems im wohlverstandenen Interesse aller eingebundenen Akteure abstellt. Denkbar wäre hier die Vorgabe eines Ordnungsrahmens. Dieser könnte die individuelle Verpflichtung zur (Mindest-)Vorsorge für den Fall fundamentaler Risiken, im übrigen aber Eigenverantwortung und - damit einhergehend - umfangreiche Entscheidungsspielräume vorsehen, sich aus gegebenen Angeboten das auszuwählen, was den Bedarfslagen sowie den eigenen Möglichkeiten am besten entspräche. Andererseits würde dieser Rahmen den Trägern von

Institutionelle Hilfsangebote filr Iltere Menschen

325

Einrichtungen und Dienstleistungen die Möglichkeit eröffnen, weitestgehend unabhängig von öffentlichen Vorgaben auf eigenes Risiko hin neue Angebote zu unterbreiten. Auch im Hinblick auf die Adressaten solcher Angebote lassen sich einige grundsätzliche Überlegungen anstellen, die zu einer Neuorientierung führen könnten: Fraglich erscheint nämlich, ob es tatsächlich sinnvoll sein kann, eine Analyse des bestehenden und künftigen Handlungsbedarfs im sozialpolitischen Bereich vorrangig an Altersgrenzen festzumachen. Fachleute haben darauf hingewiesen (so etwa Trilling 1992), daß sich Lebensrisiken und -chancen zwar mit höherem Alter wandeln und ggf. verschlechtern können, jedoch häufig tendenziell die gleichen sind, die andere, jüngere Personen ebenso betreffen. • So gibt es viele ältere Menschen mit Merkmalen "positiven Alters". Sie sind körperlich und geistig rüstig, sozial kompetent und wirtschaftlich leistungsfähig. Sie haben daher objektiv keinen Bedarf an besonderen Maßnahmen der Altenhilfe und würden diese auch nicht in Anspruch nehmen, weil sie sich subjektiv nicht alt oder hilfebedürftig fühlen. • Umgekehrt gibt es Personengruppen unterhalb der normativ festgelegten Altersgrenze (z. B. Behinderte, Arbeitslose), die in bestimmten Lebensbereichen einen Hilfebedarf aufweisen, der für gewöhnlich (auch) von Institutionen der Altenhilfe befriedigt wird. Könnte es deshalb nicht sinnvoll sein, Hilfen vorrangig an bestimmten Lebenslagen. unabhängig vom Alter der Klienten, auszurichten? In einem solchen Fall orientierten sich entsprechende Hilfeangebote weniger an einer horizontal durch die Alterspyramide gezogenen Grenze, als an vertikal gezogenen Linien, die Personengruppen mit bestimmten ähnlich gearteten (z. B. gesundheitlichen oder ökonomischen) Bedarfslagen kennzeichnen würden. Vielleicht würde dies zu einer besseren Integration alter Menschen in die Bevölkerung beitragen. Gleichwohl wäre auch dann durch geeignete Maßnahmen einer Segmentierung und Isolierung der betreffenden Hilfebedürftigengruppen entgegenzuwirken. Insgesamt gesehen ist demnach zu überlegen, ob es nicht nur aufgrund übergeordneter gesellschaftlicher und fiskalischer Opportunitäten, sondern vor allem auch individueller Interessenlagen angemessener wäre, unser soziales Sicherheitssystem in wesentlichen Bereichen auf eine neue Basis zu stellen. Dieses System könnte wie folgt aussehen: • Der einzelne Bürger wäre zu einer adäquaten Mindestabsicherung für den Eintritt existentieller Risiken verpflichtet. Ihm bliebe jedoch im übrigen die bedürfnisgerechte Ausgestaltung seiner Daseinsvorsorge selbst überlassen.

326

Hendrik Faßmann

• Prinzipiell wären keine Sachleistungen, sondern Geldleistungen vorzusehen. Der Einzelne könnte sich über die ihm gemäßen Angebote informieren und diese selbst auswählen. Bezahlen würde er sie mit den Versicherungsleistungen und - bei darüber hinausgehenden Bedürfnissen durch den Einsatz eigener Ressourcen. • Im Bedarfsfall sollte die Subjektfärderung in Form einer Ergänzung des verfiigbaren Einkommens stets den Vorrang vor Objektförderung von Angeboten und Einrichtungen haben. • Wo institutionelle (z. B. regionale) Förderung von Hilfeangeboten notwendig erschiene, sollte diese nach dem "monistischen" Finanzierungsprinzip über den Preis (z. B. Pflegevergütung) erfolgen. Vom "dualen" Finanzierungsprinzip wäre abzusehen. • Allen potentiellen Leistungsanbietern wäre ungehinderter Marktzugang und freier Wettbewerb unter gleichen Bedingungen zu ermöglichen. Es dürfte keine Anbieterprivilegien geben. • Vorzusehen wären Maßnahmen zur Schaffung von Markttransparenz für Nachfrager und Anbieter von Leistungen, wobei eine neutrale "Verbraucher"-Beratung insbesondere solchen Nutzern zugute kommen sollte, die zu einer Wahrnehmung ihrer wohlverstandenen Interessen nicht (mehr) in der Lage sind. • Ebenso wichtig wären Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -kontrolle der Einrichtungen und Dienste durch neutrale Instanzen. Fraglich ist jedoch, ob sich hierzulande eine solche Neuordnung im sozialpolitischen System tatsächlich verwirklichen ließe: Die bestehenden, festgefügten politischen und organisatorischen Strukturen werden entscheidend geprägt durch einen hohen normativ verankerten Institutionalisierungsgrad und - was möglicherweise entscheidender ist - von erheblichen persönlichen Interessen der in die Institutionen eingebundenen Akteure. Insofern ist mittelfristig eine grundlegende Umorientierung nur schwer vorstellbar. Gleichwohl ist denkbar, daß bei weiterer Verschlechterung der öffentlichen Finanzen grundlegende Veränderungen unumgänglich werden. Zudem sollte nicht übersehen werden, daß es durch von außen herangetragene Impulse durchaus zu Innovationen kommen kann: So hat z. B. die Tätigkeit privatgewerblicher Pflegedienste im ambulanten Bereich Unruhe bei den etablierten Wohlfahrtsverbänden ausgelöst und verschiedentlich zu einem Leistungswettbewerb mit den "Privaten" geführt, mit spürbaren Auswirkungen in Richtung auf eine bedürfnisgerechtere bzw. kostengünstigere Versorgung der Klienten. Gesundheitsstruktur- und Pflegeversicherungsgesetz begünstigen solche Entwicklungen, da sie wichtige Voraussetzungen für Marktöffnung und Wettbe-

Institutionelle Hi\fsangebote fllr ältere Menschen

327

werb enthalten. Trotzdem erscheinen weitere Schritte im Sinne der angedeuteten Vorschläge notwendig, um den bestehenden bzw. absehbaren Problemen im Bereich der Altenhilfe begegnen zu können.

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Haushalte mit älteren Menschen: Situationen und Entwicklungen Von Dieter Famy, Köln, Andreas Kruse, Greifswald, Winfried Schmähl, Bremen, und Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Berlin

J. Haushalte ,mit älteren Menschen 1. Merkmale und Typen

Private Haushalte mit älteren Menschen sind für die vorliegende Untersuchung dadurch bestimmt, daß in ihnen ein älterer Mensch oder mehrere ältere Menschen leben. Diese Personengruppe ist durch zwei Merkmale charakterisiert: • Die Berufs- bzw. Erwerbstätigkeit ist im Regelfall beendet; Nacherwerbstätigkeiten sind dabei nicht ausgeschlossen. • Die Haupteinkommensquelle bilden Einkünfte aus Alterssicherungssystemen. Wenn ein Haushalt aus mehreren Personen besteht, ist seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Haushalte mit älteren Menschen nicht immer eindeutig eingrenzbar und muß fallweise festgelegt werden. So kann beispielsweise ein Ehepartner noch im Erwerbsleben stehen, während der andere schon Alterseinkünfte bezieht. Unsere Aussagen beziehen sich auf Haushaltstypen, die unter Verwendung folgender Merkmale gebildet werden: • Anzahl der Haushaltsmitglieder (Ein- oder Mehrpersonenhaushalte), • Geschlecht der H:aushaltsmitglieder, • Generationen-Zusammensetzung des Haushalts (Ein- oder Mehrgenerationenhaushalte ), • Altersdifferenz der Haushaltsmitglieder der gleichen "Generation", • Anzahl von noch Voll- oder Teilzeit-Erwerbstätigen im Haushalt.

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D. Famy, A Kruse, W. Schmäht, E. Steinhagen-Thiessen

2. Unterscbiedlicbe Betracbtungsweisen: Alters-, Perioden- und Kobortenaspekte Da die Situation im Alter maßgebend durch Bedingungen und Entscheidungen in vorgelagerten Lebensphasen, insbesondere der Erwerbsphase, mitbestimmt wird, ist eine Berücksichtigung der zeitlichen Dimension besonders wichtig. Zum einen ist die Situation in der Erwerbsphase durch spezifische Bedingungen, sei es auf dem Arbeitsmarkt, sei es im Steuer- und Sozialrecht, geprägt (Periodenaspekte), zum anderen durch individuelle Entscheidungen im Hinblick auf Erwerbstätigkeit und Einkommensverwendung unter Einfluß der jeweils vorherrschenden Bedingungen. Diese Bedingungen und Entscheidungen sind für unterschiedliche Kohorten verschiedenartig; dies zeigt sich zum Beispiel bei Veränderungen der Arbeitsmarktlage (Kohortenaspekte). Weiter ist zu beachten, daß die Altersphase länger wird und sich die Morbidität altersspezifisch verändert (Altersaspekte). Deshalb ist von großer Bedeutung, in welcher Weise sich die Bedingungen in der Altersphase selbst verändern (zum Beispiel Neugestaltung von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen) und dadurch zugleich neue oder veränderte Entscheidungsgrundlagen für die Haushalte entstehen.

11. Wichtige Veränderungen in Haushalten mit älteren Menschen In Haushalten mit älteren Menschen ergeben sich vielfaItige Veränderungen, die Chancen oder Risiken enthalten. Im folgenden werden die Veränderungen auf drei Fallbeispiele reduziert: • Veränderung sozialer Rollen, die ältere Menschen ausüben, • Veränderung der wirtschaftlichen Lage, • Veränderung des Gesundheitszustandes.

1. Veränderung sozialer Rollen Hier sind vor allem folgende Veränderungen zu nennen: Nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verringern sich die Kontakte zu früheren Arbeitskollegen. Wenn Behinderungen auftreten und die MobiliUit des Menschen eingeschränkt ist, können sich auch die Möglichkeiten zur Aufrechter-

Haushalte mit älteren Menschen: Situationen und Entwicklungen

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haltung von Kontakten mit Angehörigen und Freunden reduzieren. Behinderung und Tod anderer Menschen bilden einen weiteren Grund fiir Veränderungen in den sozialen Netzwerken. Der überwiegende Teil älterer Menschen lebt in Eingenerationenhaushalten. Hochbetagte Frauen leben vorwiegend in Einpersonenhaushalten. Die Tatsache, daß ältere Menschen in der Regel nicht mit ihren Kindern einen Haushalt teilen, darf allerdings nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, daß sich die Generationen gegenseitig entfremdet hätten. Im Gegenteil: Die meisten älteren Menschen berichten über quantitativ ausreichende und qualitativ zufriedenstellende Beziehungen zu ihren Angehörigen. Neben den innerfamiliären Beziehungen sind für die Zufriedenheit im Alter die außerfamiliären Beziehungen wichtig. Die Kontakte älterer Menschen zu Freunden und Bekannten sowie in Vereinen sind in vielen Fällen intensiv und werden positiv erlebt.

2. Veränderung der wirtschaftlichen Lage

Sie bezieht sich insbesondere auf die Veränderung von Niveau und Strukturen der Einnahmen und Ausgaben. Die wichtigsten Einkommensquellen sind: • Einkünfte aus öffentlichen Alterssicherungssystemen (Gesetzliche Rentenversicherung, Beamtenversorgung, Sondersysteme für bestimmte Berufsgruppen), • Einkünfte aus öffentlichen Transferzahlungen, wie Geldleistungen der Pflegeversicherung, Wohngeld und Sozialhilfe, • Einkünfte aus betrieblicher Altersversorgung, • Einkünfte aus Erwerbsttltigkeit in der Altersphase bzw. von anderen Haushaltsmitgliedern, die sich noch in der Erwerbsphase befinden, • Einkünfte aus unterschiedlichen Formen von Vermögen (Zinsen und Mieten) sowie Einnahmen aus dessen Verzehr, • Nutzung eigener Immobilien, • intrafamilitlre Transfers in Geldform und in realer Form von Gütern und Dienstleistungen.

Da es auf die wirtschaftliche Nettoposition entscheidend ankommt, sind auch Abgaben zu berücksichtigen, insbesondere Einkommen-, Vermögenund Erbschaftsteuer sowie verbleibende Sozialversicherungsbeiträge.

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Wegen der wachsenden Lebenserwartung sind Veränderungen der Einkünfte im Zeitablauf von großer Bedeutung. Dies betrifft insbesondere die Dynamisierung von Renten aus öffentlichen Alterssicherungssystemen sowie von Betriebsrenten und außerdem die Veränderung von Zinssätzen. Die Ausgaben des älteren Haushalts rur die laufende Lebenshaltung sind relativ gut planbar. Probleme werfen dagegen unplanmäßige Ausgaben, insbesondere bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, auf. Dadurch kann es zu einer Lücke zwischen verfiigbaren Einnahmen und notwendigen Ausgaben kommen, sofern die Vorsorgesysteme rur Krankheit und Pflegebedürftigkeit die zusätzlichen Ausgaben nicht decken. Neben den regelmäßigen Einkünften steht die Auflösung von Vermögen - sofern vorhanden - zur Verfiigung. Steigende Lebenserwartung kann entweder zu vorzeitigem Vermögensverzehr oder zu verminderter Entnahmemöglichkeit pro Periode fUhren; möglicherweise werden auch Vererbungspläne geändert.

3. Veränderung des Gesundheitszustandes Chronologisches Altem ist mit wachsender Zunahme von Morbidität verbunden, wobei insbesondere chronische Krankheiten und Multimorbidität (gleichzeitiges Auftreten von mehreren Krankheiten) charakteristisch sind. Die gesundheitlichen Risiken lassen sich vereinfachend in die Bereiche "chronische Krankheiten" und "akute Krankheiten" unterteilen. Weiterhin sind die psychischen Erkrankungen sowie die Behinderungen besonders zu erwähnen. a) Chronische Krankheiten

Zu diesen zählen an erster Stelle die Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgrund von arteriosklerotischen Gefaßveränderungen. Mit zunehmendem Alter steigen die Erkrankungshäufigkeiten deutlich an, wobei Männer häufiger betroffen sind als Frauen. Erkrankungen des Bewegungsapparates, die bei Frauen wesentlich häufiger auftreten, nehmen ebenfalls mit dem Alter deutlich zu. Als dritte Gruppe sind die Stoffwechselstörungen zu nennen, die vorwiegend bei Frauen diagnostiziert werden, wobei die Fettstoffwechselstörungen bei Personen der höchsten Altersgruppen seltener sind als bei den jüngeren Alten. Die chronischen Krankheiten sind oft durch eine lange Phase subklinischer Symptomatik und im Anschluß an die Manifestation durch einen in der Regel progressiven Verlauf charakterisiert.

Haushalte mit älteren Menschen: Situationen und Entwicklungen

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b) Akute Krankheiten

Hier sind vor allem der Herzinfarkt, der Schlaganfall, Schenkelhalsfrakturen sowie Tumorerkrankungen zu nennen. Diese Krankheiten sind durch alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede gekennzeichnet. Einen Herzinfarkt erleiden Männer häufiger als Frauen, während Schlaganfall und Schenkelhalsfrakturen öfter bei Frauen vorkommen. Tumorerkrankungen kommen bei jüngeren Alten häufiger vor als bei den alten Alten (> 80 Jahre). c) Psychische Krankheiten

Die häufigsten psychischen Erkrankungen sind die verschiedenen Formen der Demenz sowie die Depressionen. Unter den Demenzen sind vor allem die Alzheimer-Demenz und die Multi-Infarkt-Demenz sowie Mischformen zu nennen. Des weiteren finden sich häufig Überlappungen zwischen Demenzen und Depressionen. Die Häufigkeit der heiden Krankheiten steigt im hohen Alter deutlich an. Weiterhin sind die reaktiven Erkrankungen hervorzuheben, die auf bereits lange bestehende neurotische Entwicklungen oder auf einen Zusammenbruch der psychischen Ressourcen im Alter, zum Beispiel bei einer Kumulation psychischer und sozialer Belastungen, zurückzuführen sind. d) Behinderung

Der Grad der Selbständigkeit nimmt vor allem im hohen Lebensalter (>80 Jahre) ab, wobei Einbußen der Selbständigkeit nicht mit Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt werden dürfen. Im Vergleich zur Pflegebedürftigkeit tritt sehr viel häufiger Hilfsbedürftigkeit auf, bei der einzelne Funktionen und Fertigkeiten eingeschränkt sind. Zu den quantitativ häufigsten Ursachen der Hilfsbedürftigkeit zählen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gefolgt von Erkrankungen des Bewegungsapparates. In den leichteren Ausprägungen führen diese Erkrankungen zu einer Einschränkung der Mobilität, so daß instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (wie Einkaufen, Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln) nicht mehr selbständig ausgeführt werden können. In schweren bis schwersten Fällen führen diese Erkrankungen zu temporärer oder permanenter Pflegebedürftigkeit. Weitere Erkrankungen, die in vielen Fällen mit Hilfsbedürftigkeit oder Pflegehedürftigkeit einhergehen, sind himorganische Psychosyndrome sowie Demenzen. Vor allem kognitive Einbußen erschweren die selbständige Ausführung instrumenteller Aktivitäten.

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ID. Instrumentarium zur Bewältigung der Veränderungen Die möglichen Veränderungen in Haushalten mit älteren Menschen bilden aus deren Sicht teilweise Risiken, teilweise Chancen. Die Bewältigung der Veränderungen mit einem geeigneten Instrumentarium bedeutet deshalb sowohl Chancen- als auch Risikomanagement, nämlich die Nutzung von Wohlfahrtspotentialen und die Vermeidung von Wohlfahrtsverlusten. Die verfügbaren Instrumente liegen teilweise in der Entscheidungsautonomie der Haushalte selbst, und zwar sowohl in der Altersphase als auch (und besonders) in der Vergangenheit. Ein anderer Teil der Instrumente wird von öffentlichen Händen oder auf Märkten zur Verfügung gestellt, wobei die Kosten dieser Instrumente von den Haushalten aufzubringen sind oder aus den Teilsystemen der sozialen Sicherung finanziert werden. Das wichtigste Instrument für die Bewältigung von Änderungen ist die Prävention. Diese umfaßt Maßnahmen zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Gesundheit, zur Erhaltung von Aktivität im Alter. Diese kann sich auf die frühere Berufssphäre oder auf andere Gebiete beziehen. Auch die Pflege sozialer Kontakte in der Familie, in Gruppen und in Vereinen sowie die gedankliche Vorbereitung auf die nachberufliche Lebensphase (Entwicklung einer Zukunftsperspektive) sind Merkmale der Prävention im Sinne der Chancenerhaltung und Risikobewältigung oder sogar der Krisenvermeidung. Die Instrumente der Prävention werden durch Maßnahmen der Rehabilitation ergänzt. Rehabilitation wird hier umfassend verstanden als die generelle oder spezielle Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Gesundheit, die Zurückgewinnung von Aktivitätsmöglichkeiten und die Wiederherstellung sozialer Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie. Im Falle der "Krise", wenn zum Beispiel nach einem akuten Ereignis die medizinischen und rehabilitativen Maßnahmen weitgehend ausgeschöpft sind, oder im Falle bleibender Behinderung müssen an die Stelle dieser Interventionen dauerhafte Hilfe und Pflege - also institutionelle und familiäre Unterstatzung - treten. Dabei sind Art und Ausmaß der benötigten Hilfe- wie Pflegeleistungen interindividuell verschieden. Soweit für die Chancennutzung und Risikobewältigung Ausgaben entstehen, gehört die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel zum gesamten Instrumentarium. Die Mittelbereitstellung erfolgt durch den Aufbau von Vermögen während der Phase der Erwerbstätigkeit, also durch Sparen von Geldkapital (die kapitalbildende Lebensversicherung eingeschlossen), durch Immobilienenverb oder durch Erwerb von Rentenansprüchen aus den öffentli-

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ehen und privaten Alterssicherungssystemen. Diese Art der Mittelbereitstellung stellt ebenfalls eine präventive Maßnahme dar. Das Vermögen wird in der Altersphase eingesetzt, und zwar als Rentenbezug, als Verzehr von Zinsen, als Nutzung von Immobilien, erforderlichenfalls bei gleichzeitigem Verzehr des Kapitals selbst. Für den Fall risikobedingter Ausgaben stehen verschiedene Arten von Versicherungsschutz zur Verfiigung, weiter Ansprüche auf konkrete Hilfsmaßnahmen von seiten der Gesellschaft oder aus der engeren sozialen Gruppe. Die meisten Versicherungen für Krisen in älteren Haushalten müssen allerdings in weit zurückliegenden Zeiten oder durch langjährige Zugehörigkeit zu Sozialversicherungssytemen begründet sein. Dies gilt vor allem für private Kranken- und Pflegeversicherungen bzw. für die Zugehörigkeit zu gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen. Solche Versicherungsverhältnisse sind in höheren Lebensaltern häufig nicht mehr begründbar, zu teuer oder nicht genügend leistungsfähig. Ein weiterer großer Bereich von Instrumenten sind institutionelle Hilfen durch öffentliche Einrichtungen (einschließlich Information und Beratung) oder durch privates Angebot, im letzten Falle sogenannte Assistance-Leistungen eingeschlossen. Dieser Bereich ist bis heute weniger systematisch, mehr pragmatisch entwickelt worden und weist deshalb große Lücken auf. Wichtige Ansätze sind: • Informationen, Beratungen über das Dienstleistungsangebot zur Lösung spezifischer Probleme, • Organisation und Ausführung entsprechender Leistungen, • versicherungsmäßige Deckung entstehender Ausgaben. Assistance kann sich auf medizinische und andere "Notfälle" (zum Beispiel akute Erkrankungen, Unfälle, Todesfälle, Schäden in der Wohnung) oder auf "AlltagsfiUle" (zum Beispiel Versorgung von Haustieren, Behördengänge u. ä.) beziehen. Neben ökonomischen, sozialen und institutionellen Instrumenten sind die psychischen Prozesse der Verarbeitung von Krisen, der Auseinandersetzung mit positiven und belastenden Aspekten der persönlichen Situation sowie der Regulierung des eigenen Anspruchsniveaus im Falle bleibender Einschränkungen und Verluste zu nennen. Diese psychischen Prozesse werden durch die Integration in inner- und außerfamiliäre Netzwerke erheblich gefördert.

22 Farny u. a.

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IV. Fallbeispiele rdr Lebenslagen Anhand von Fallbeispielen sollen Risiken und Chancen von Haushalten mit älteren Menschen aufgezeigt werden. Dabei haben wir folgende Dimensionen ausgewählt: • Alter, • somatische und psychische Gesundheit, • Verfügbarkeit ökonomischer Ressourcen, • Wohnqualität, • inner- und außerfamiliäre Integration sowie • institutionelle Unterstützungsangebote. Die Fallbeispiele sollen die großen interindividuellen Unterschiede in den Lebensbedingungen älterer Menschen deutlich machen. Fall A: Bei einer Person, deren Partner kürzlich verstorben ist, bestehen seit vielen Jahren mehrere chronische Erkrankungen. Außerdem tritt eine akute Erkrankung, zum Beispiel ein Schlaganfall, mit der Folge von Hilfsbedürftigkeit hinzu. Die Person verfügt über ein sehr eingeschränktes soziales Netz, woraus geringe soziale Unterstützung resultiert. Sie lebt in schlechten Wohnverhältnissen (unzureichende sanitäre Ausstattung, barrierereiche Wohnung). Sie verfügt über geringe ökonomische Ressourcen. Fall B: Im Unterschied zum erstgenannten Fallbeispiel besteht hier eine gute ökonomische Situation; die Wohnbedingungen sind zufriedenstellend. Fall C: Zusätzlich zu den unter A und B genannten gesundheitlichen Bedingungen liegt hier eine schwere Demenz vor. Fall D: Ein junger Alter weist eine gute Gesundheit bei voll erhaltener Selbständigkeit auf. Außerdem lebt er mit der Partnerin zusammen. Er verfügt über ausreichende finanzielle Ressourcen und ist noch zeitweise erwerbstätig. Fall E: Eine hochbetagte Person lebt in einem Einpersonenhaushalt. Sie zeichnet sich durch eine gute körperliche und psychische Gesundheit sowie durch ausreichende ökonomische Ressourcen aus. Fall A beschreibt Pflegebedürftigkeit und somit Angewiesenheit auf institutionelle Hilfe. Diese Person wird ihre Wohnung aufgeben und in ein Pflegeheim umziehen müssen. Zur Aufrechterhaltung des psychischen Gleichgewichts ist eine erhebliche Veränderung des persönlichen Anspruchsniveaus notwendig. Fall B, der sich im Krankheits- und Behinderungsgrad nicht vom

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ersten Fall unterscheidet, macht deutlich, daß ausreichende finanzielle Ressourcen einige Defizite kompensieren können. Diese Person kann in ihrer häuslichen Umgebung bleiben und dort gepflegt werden. Fall C schildert die Notwendigkeit zusätzlicher Pflegeleistungen bei ausgeprägter Demenz. Hier steht die Pflege im Vordergrund, die nicht nur die motorisch funktionellen Aspekte, sondern auch die kognitiven Einbußen und Persönlichkeitsveränderungen aufgrund der Demenz berücksichtigen muß. Zusätzlich ist eine Pflegschaft oder mindestens Teilpflegschaft einzurichten. Die Fälle D und E weisen auf die Chancen hin, die viele ältere Menschen in unserer Bevölkerung haben. Sie zeigen, daß gute Gesundheit und ausreichende finanzielle Ressourcen ein hohes Maß an Selbständigkeit im hohen Alter ermöglichen. Der Fall E beinhaltet aber auch Risiken. Diese zeigen sich darin, daß schon bei einer geringfügigen Veränderung der Lebenssituation (zum Beispiel im gesundheitlichen Bereich oder im sozialen Netzwerk) die bestehende Stabilität verlorengehen kann.

v. Entwicklungstendenzen 1. Strukturelle und individuelle Entwicklungen a) Demographie

Bevölkerungsprognosen zeigen neben Veränderungen des Bevölkerungsumfangs eine abnehmende Anzahl jüngerer Menschen, der eine Zunahme der älteren Bevölkerung gegenübersteht. Hinzuweisen ist auf den deutlich wachsenden Anteil hochbetagter Menschen in den kommenden Jahrzehnten - eine Entwicklung, aus der sich besondere Anforderungen unter anderem an die medizinische Versorgung ergeben werden. Ein weiterer Rückgang der Sterbewahrscheinlichkeiten in den höheren Altersgruppen - auch als Folge des medizinischen Fortschritts - wird den Effekt der demographischen Alterung verstärken. b) Haushaltsstrukturen

Die bereits heute erkennbare Zunahme an Eingenerationenhaushalten wird sich in Zukunft weiter fortsetzen. Zudem werden künftig Einpersonenhaushalte unter den Wohnformen älterer Menschen ein deutlich größeres Gewicht haben als heute. Gleichzeitig ist eine Verkleinerung der Familien mit einer deutlich abnehmenden Anzahl von Familienmitgliedern in der mittleren Ge22'

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neration ZU erwarten. Dadurch wird sich das familiäre Unterstützungspotential erheblich verringern. Dieses Potential wird durch die hohe berufliche und räumliche Mobilität der Mitglieder mittlerer Generationen weiter reduziert werden. Hinsichtlich der Versorgung von Haushalten mit einem älteren, behinderten Haushaltsvorstand ist aufgrund dieser Entwicklungen ein deutlich höherer Bedarf an institutioneller Unterstützung zu erwarten. Dabei ist allerdings in zweifacher Hinsicht zu unterscheiden: Zum einen zwischen Familien mit Kindern und ohne Kinder, zum anderen zwischen Haushalten in städtischen und ländlichen Regionen. In kinderlosen Familien werden die institutionellen Unterstützungsleistungen zur Aufrechterhaltung eines selbständigen Lebens bzw. zur Sicherung von Hilfen im Falle auftretender Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit umfangreicher sein als in Familien mit einem Kind bzw. mit mehreren Kindern. In ländlichen Regionen werden die institutionellen Unterstützungsleistungen schwerer zu erbringen sein, da sich dort quantitativ ausreichende Versorgungsstrukturen nur schwer entwickeln lassen. c) Gesundheits- und Morbiditätsentwicklung

Das höhere Lebensalter ist durch eine Zunahme von Morbidität, insbesondere von Multimorbidität, und von Behinderung geprägt. Dabei stehen chronische und akute Erkrankungen des Bewegungsapparates und des HerzKreislaufsystems deutlich im Vordergrund. Es gibt beispielsweise einen signifikanten Zusammenhang zwischen kardiovaskulärer Morbidität im hohen Alter und Krankenhausaufenthalten, Pflege- und Hilfsmittelverordnungen sowie der Inanspruchnahme institutioneller Pflegeleistungen. In der wachsenden Gruppe älterer Menschen wird sich bei unveränderten alters- und geschlechtsspezifischen Morbiditätsprofilen eine deutliche Steigerung der Zahl alter, multimorbider und pflegebedürftiger Menschen ergeben. Kontrovers ist der Zusammenhang zwischen steigender Lebenserwartung und Morbiditätsentwicklung. Die Prognosen sind teilweise durch sehr extreme Positionen gekennzeichnet. Einer pessimistischen Einschätzung zufolge fUhrt die gesteigerte Lebenserwartung zu einer nur geringen Vermehrung der Jahre, die in Gesundheit verbracht werden können. Dies bedeutet, daß die "gewonnene" Lebensperiode überwiegend durch Krankheit und Behinderung charakterisiert ist. Das optimistische Szenario unterstellt dagegen bei einem Anstieg der Lebenserwartung eine Reduktion (Kompression) der Morbidität.

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d) Arbeitsmarkt und Arbeitswelt Projektionen zur künftigen Arbeitsmarktlage - die mit weitaus größeren Unsicherheiten behaftet sind als demographische Vorausberechnungen - lassen für den Zeitraum bis etwa 2010 keine merkliche Entlastung erwarten. Durch die ungünstige Arbeitsmarktsituation sind einzelne Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedlich betroffen, was rur deren Vorsorgemöglichkeiten und Erwerb von Alterssicherungsansprüchen Konsequenzen hat. Im Hinblick auf das künftige Arbeitsangebot ist mit einer weiteren Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen zu rechnen, wobei dies in erheblichem Maße gewünschte Teilzeittätigkeit sein dürfte. Zusätzliches Arbeitsangebot könnte durch weitere Zuwanderung wie auch durch steigende Erwerbswünsche älterer Arbeitnehmer (z. B. als Reaktion auf veränderte sozialrechtliche Regelungen insbesondere zur Inanspruchnahme von Altersrenten) ausgelöst werden. Ob und inwieweit zusätzliches potentielles Arbeitsangebot auch tatsächlich abgenommen wird, hängt von der Entwicklung der Arbeitsnachfrage ab, die wiederum u. a. von den Absatzerwartungen von Unternehmen und der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland bestimmt wird. Neue Informationstechnologien erlauben z. B. in vielen Fällen die (schnelle) Nutzung des Arbeitsergebnisses im Inland, obgleich der Arbeitsplatz im Ausland liegt und die Arbeitsleistung dort erbracht wird. Unsicherheiten bestehen auch hinsichtlich des Ausmaßes und der Integration von Zuwandernden. Sowohl Arbeitsangebot als auch Arbeitsnachfrage im offiziellen Sektor werden u. a. von der Abgabenbelastung beeinflußt. Zunehmende Erwerbstätigkeit im inoffiziellen Sektor (Schwarzarbeit) kann offizielle Tätigkeiten verdrängen, was sich auf die öffentlichen Sicherungssysteme und die soziale Sicherung von Erwerbstätigen auswirkt, sofern die Erwerbstätigen aus dem durch Schwarzarbeit erzielten Einkommen nicht rur ihr Alter vorsorgen. Die Nachfrage nach Arbeit wird sich zunehmend auf qualifizierte Tätigkeiten erstrecken. Deshalb stellt es eine große Herausforderung dar, Personen mit geringer Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen damit die Chance zu geben, Ansprüche auf Alterssicherung im öffentlichen System oder durch private Institutionen zu erwerben. Auf der anderen Seite wird die vermehrte Weiterbildung zu einer zentralen Aufgabe. Dies zeichnet sich als generelles Problem ab, auch für ältere Arbeitnehmer, deren Arbeitsmarktchancen verbessert und rur die Möglichkeiten einer Verlängerung der Erwerbsphase geschaffen werden sollten. Um dies zu fordern, muß der Gesundheitszustand erhalten werden; dadurch steigen auch die Möglichkeiten, gesundheitlich bedingtes vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsprozeß zu vermindern.

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e) Einstellungen und Werthaltungen Hinsichtlich der Einstellungen und Werthaltungen künftiger älterer Generationen ist eine zunehmende Akzentuierung der Singularisierung, der Autonomie sowie des Bedürfnisses nach einem möglichst aktiven Leben zu erwarten. Eine wachsende Tendenz zur Singularisierung - verstanden als abnehmendes Bedürfnis nach intensiven, stabilen freundschaftlichen Bindungen ist heute in den mittleren Generationen, zum Teil auch in der Generation der jungen Alten, erkennbar. Da Lebensstile im Lebenslauf eine hohe Kontinuität aufweisen, kann erwartet werden, daß die Singularisierung in den künftigen älteren Generationen an Bedeutung gewinnen wird. Hier sind Konsequenzen fiir die soziale Integration künftiger älterer Generationen zu erwarten. Diese werden in Zukunft vermutlich nicht mehr über so stabile inner- und außerfamiliäre Netzwerke verfUgen wie die heutige ältere Generation. Die Autonomie wird sich voraussichtlich in der Einstellung gegenüber Wohnformen und familiären Hilfeleistungen niederschlagen. Das Zusammenwohnen mit Kindern wird noch weiter abnehmen, ebenso die Inanspruchnahme familiärer Unterstützung im Falle auftretender Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit. Hinzu kommt, daß aufgrund zunehmender beruflicher Verpflichtungen von Frauen aus den mittleren Generationen nicht mehr damit gerechnet werden kann, daß familiäre Hilfeleistungen im gleichen Umfang wie heute erbracht werden. Das Bedürfnis älterer Menschen nach einem möglichst selbständigen und selbstverantwortlichen Leben wird durch die institutionellen Angebote verstärkt werden - dies gilt vor allem fiir jene Menschen, die über ausreichende finanzielle Ressourcen verfUgen, um die institutionellen Angebote tatsächlich in Anspruch nehmen zu können.

2. Herausforderungen für Institutionen Die verschiedenen (insbesondere strukturellen) Veränderungen haben Konsequenzen fiir die Institutionen, die fiir die Situation im Alter auch künftig von Bedeutung sein werden. Vorliegende Modellberechnungen zeigen, daß bei unverändertem Finanzierungs- und Leistungsrecht der zum Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderliche Beitragssatz von jetzt rund 19% auf etwa 27-28% im Jahr 2030 steigen müßte. Es ist unumstritten, daß dies weiteren Handlungsbedarf signalisiert. Die Beamtenversorgung wirft gleichgerichtete Probleme auf, da unter anderem die zahlenmäßige Relation von Versorgungsempfängern zu aktiven Beamten erheblich steigen wird. Dies stellt fiir die Haushalte der öffentlichen Gebietskörperschaften (insbesondere der Länder) eine erhebliche fiskalische Zusatzbelastung dar, die allerdings aufgrund der Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln bislang nicht so offensichtlich wurde.

Haushalte mit älteren Merlschen: Situationen und Entwicklungen

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Auch für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (die betriebliche Alterssicherung von Arbeitern und Angestellten im öffentlichen Sektor) wird der Finanzbedarf steigen. Dieser verstärkt sich zusätzlich durch weitere Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen, weil die erworbenen Alterssicherungsansprüche gegen die öffentlichen Arbeitgeber bestehen bleiben werden. Für die betriebliche Alterssicherung im Privatsektor zeigt sich bereits seit einiger Zeit eine stagnierende und inzwischen rückläufige Entwicklung. Ungünstigere Rahmenbedingungen - zum Beispiel durch steuerrechtliche Veränderungen - haben dazu beigetragen. Die künftige wirtschaftliche Entwicklung, aber auch steuerliche und arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen werden die Perspektive für die Betriebsrentensysteme maßgebend bestimmen. Als weitere Entwicklungstendenz zeichnet sich eine Auslagerung von Risiken aus Unternehmen hin zu Arbeitnehmern ab, zum Beispiel durch vermehrte beitragsorientierte anstelle leistungsorientierter Systeme. Die Entwicklung in den Kranken- und Pflegeversicherungen ist für die Abgabenbelastung von Arbeitnehmern und Unternehmen sowie für die Absicherung im Alter von großer Bedeutung. Zwar wirken sich die demographischen Trends auf diese Sicherungsbereiche vergleichsweise geringer als auf die Alterssicherungssysteme aus; aber es sind andere stark ausgabensteigernde Faktoren zu berücksichtigen, so beispielsweise die Tatsache, daß medizinische und Pflegeleistungen zum größten Teil Dienstleistungen mit geringer Rationalisierungsmöglichkeit sind. Im Bereich der Pflegeleistungen ist zudem eine wachsende Nachfrage zu erwarten, weil das Potential an familiärer Pflege eher rückläufig sein wird. Kostensteigerungen sind folglich unvermeidlich. Wird am Grundsatz der Beitragssatzstabilität festgehalten, so wird der Realwert der aus gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungssystemen finanzierten Leistungen sinken, so daß die erforderlichen Ausgaben zunehmend unmittelbar von privaten Haushalten zu finanzieren sein werden. Die Entwicklung von gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen kann also erhebliche Auswirkungen auf die Ausgabensituation der Haushalte rpit älteren Menschen haben.

VI. Folgerungen Die vorhersehbaren Entwicklungen weisen auf bedeutsame Konsequenzen für die Haushalte mit älteren Menschen und auf notwendige Veränderungen der verfügbaren Instrumente zur Wahrung von Chancen und zur Bewältigung von Risiken hin. Dabei ist der Bereich realer Maßnahmen - besonders der Prävention, der Rehabilitation und der Hilfeleistungen - vom Bereich der finanziellen Vorsorge zu unterscheiden. Allerdings sind auch die Instrumente

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der Prävention, Rehabilitation und der Hilfeleistungen überwiegend ausgabenwirksam, so daß die realen und die finanziellen Instrumente aufeinander abgestimmt werden müssen. Wichtig erscheint der Gedanke, daß der Wohlfahrtseffekt der Prävention in einzel- und gesamtwirtschaftlicher Sicht sowie in gesellschaftlicher Betrachtung besonders groß und erstrebenswert ist, so daß die Erhaltung der körperlichen und geistigen Gesundheit im Alter und die damit verbundene Unabhängigkeit der älteren Menschen allen anderen Instrumenten vorzuziehen sind. Aus diesem Grund bedarf es des Ausbaus von realen Systemen, die die präventive Rehabilitation, die allgemeine Rehabilitation bei chronischen Krankheiten und die gezielte Rehabilitation bei spezifischen Problemlagen fördern. Beispiele für die präventive Rehabilitation sind die Schaffung von kulturellen, sozialen und sportlichen Einrichtungen mit dem Ziel der Erhaltung geistiger und körperlicher Leistungsfahigkeit und der Verminderung von altersspezifischen Einbußen sowie von altenfreundlichen Wohnungen und Verkehrsbedingungen mit dem Ziel der Erhaltung von Selbständigkeit und sozialer Partizipation. Ein Beispiel für die allgemeine und gezielte Rehabilitation sind Konzepte für medizinische und rehabilitative Pflege in ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen. Diese Systeme müssen hochorganisiert sein, da die einzelnen Leistungen überwiegend in multiprofessionellen Teams erbracht werden. Die Leistungen müssen für die älteren Menschen leicht erreichbar sein. Dabei bedarf es der Vernetzung verschiedener Berufsgruppen, wie z. B. der ärztlichen, therapeutischen, psychologischen und sozialen Dienste. Hinsichtlich der Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Haushalte mit älteren Menschen ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand davon auszugehen, daß den Leistungen aus den öffentlichen Regelsicherungssystemen der Alterssicherung auch in Zukunft überragende Bedeutung für die Personen zukommen wird, die von diesen Systemen erfaßt werden. In Zukunft werden die Haushalte mit älteren Menschen aus diesen Quellen im Vergleich zu den Erwerbstätigen jedoch nicht günstiger gestellt sein als heute. Eher ist zu vermuten, daß sich ihre relative Position verschlechtern wird. Außerdem ist zu erwarten, daß es zu einer stärkeren Differenzierung der Einkommen innerhalb der älteren Bevölkerung kommen wird, da eine wachsende Zahl von Personen für ihre Absicherung im Alter nicht genügend "Vorleistungen" erbringen kann - sei dies durch Erwerb von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder von Betriebsrenten oder durch den Aufbau von Vermögen. Von zentraler Bedeutung dafür ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, bei der sich - wie erwähnt - bis etwa zum Jahre 2010 keine grundlegende Entlastung abzeichnet. Auch die rückläufige Entwicklung bei

Haushalte mit älteren Menschen: Situationen und Entwicklungen

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der betrieblichen Alterssicherung dürfte eher zu einer weiteren Differenzierung der Einkommenssituationen im Alter beitragen. Hinsichtlich der Vermögensentwicklung sind unterschiedliche Sparfähigkeit und Sparbereitschaft bei den Haushalten während der Erwerbsphase zu beachten. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß ein beträchtlicher - wenngleich recht ungleich verteilter - Vermögensbestand akkumuliert und zum erheblichen Teil durch Schenkung und Vererbung auf die nachfolgenden Kohorten übertragen wird. Die Hypothese ist plausibel, daß - verglichen mit bisherigen Erfahrungen - die Ersparnisbildung im Alter eher geringer werden wird; möglicherweise kommt es sogar zu einem Vermögensabbau in Haushalten mit älteren Menschen, da die Aufrechterhaltung des Lebenshaltungsniveaus und der Kauf von Gütern und Dienstleistungen im Falle von Krankheit und Pflegebedürfigkeit zunehmend privat finanziert werden müssen. Von zentraler Bedeutung bleibt die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit der öffentlichen und privaten Sicherungssysteme zu erhalten. Sie sollen auch weiterhin Leistungen bereitstellen, die am früheren Einkommen anknüpfen und das Lebenshaltungsniveau im Alter weitgehend sicherstellen. Um dies zu erreichen, sind u. a. Anpassungen der gesetzlichen Rentenversicherung auf der Finanzierungs- und der Leistungsseite, aber auch Reformen in der Beamtenversorgung erforderlich. Um die Finanzierbarkeit der öffentlichen Sicherungssysteme zu bewahren, aber auch im Hinblick auf die Einkommenssituation der Haushalte, stellt sich die Aufgabe, auch für ältere Arbeitnehmer Chancen für eine längerwährende Erwerbsphase zu eröffnen. Die erkennbaren Entwicklungstendenzen lassen eine veränderte Mischung der Finanzierungsverjahren fiir die Alterssicherung erwarten. Wenn für die Alterssicherung eine neue Gewichtsverteilung auf die drei Säulen - öffentliche Systeme, betriebliche Altersversorgung und privatwirtschaftliche Vorsorge angestrebt wird, dann ist damit auch die Frage nach der steuerlichen Behandlung von Sparvorgängen, des sich bildenden Vermögens und der daraus fließenden Zinsen angesprochen. So erscheint es beispielsweise widersprüchlich, wenn der Aufbau von Kapital steuerlich gefördert wird, das entstandene Kapital und seine Zinserträge dagegen mit Vermögen- und Einkommensteuern stark belastet werden. Für die betriebliche Alterssicherung sollten flexiblere, den Bedürfnissen von Arbeitnehmern und Unternehmen möglichst gut entsprechende Regelungen entwickelt werden. Allerdings setzt eine im Vergleich zu heute günstigere Entwicklung der betrieblichen Alterssicherung eine ausreichende Unternehmensrentabilität am Standort Deutschland sowie verläßliche Rahmenbedingungen voraus, die eine langfristige Planbarkeit ermöglichen. Die private Versicherungswirtschafi ist aufgefordert, das Risiken- und Chancenmanagement im Hinblick auf die Altersphase der Haushalte durch

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D. Famy, A Kruse, W. Schmäh!, E. Steinhagen-Thiessen

neue Versicherungsschutzformen und weitere Dienstleistungen zu fördern. Die versicherungstechnische Ansammlung von Kapital und dessen Verzehr durch Leibrenten sowie die Bereitstellung von Versicherungsleistungen in bestimmten Krisenfällen können durch bestimmte Dienstleistungen ergänzt werden. Hierzu gehören der Betrieb von Einrichtungen fiir reale Hilfeleistungen sowie die Schaffung von Beratungs- und Abwicklungsleistungen (Assistance). Auch fiir öffentliche Einrichtungen ergeben sich hier gleichermaßen weitere Aufgaben. Insgesamt ist auch jedem einzelnen Haushalt zu empfehlen, mit geeigneter Prävention im weitesten Sinne seine eigene AItersphase bestmöglich vorzubereiten und zu gestalten.

Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht Von Inge Lutter, Bonn

J. Einführung Nach fast 20 Jahre dauernder Diskussion über die bessere soziale Absicherung bei Pflegebedürftigkeit und 10 erfolglosen Gesetzesinitiativen ist es der Politik im Jahre 1994 endlich gelungen, den Worten Taten folgen zu lassen. Mit der Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes, das zum 1. Januar 1995 in Kraft getreten ist, sind nunmehr die Weichen für eine ausreichende, qualitative, leistungsfähige und wirtschaftliche Pflege in Deutschland gestellt. Seit dem 1. Januar 1995 besteht für rund 99,8% der Bevölkerung eine Versicherungspflicht gegen das Pflegerisiko. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist jeder in dem System versichert, in dem auch die Absicherung des Krankheitsrisikos gegeben ist. Die Systeme der privaten Pflege-Pflichtversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung stehen in diesem Bereich gleichberechtigt nebeneinander. Für die Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten des Konzeptes "Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung" sprachen zahlreiche gewichtige Gründe: • Bei einheitlichem Versicherungsträger werden Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Krankheit und Pflegebedürftigkeit, deren Grenzen flteßend und in der Praxis oft nur mit erheblichem Aufwand festzustellen sind, vermieden. Damit werden Zuständigkeitsstreitigkeiten verschiedener Träger, die im Versicherungsfall meist auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden, weitgehend ausgeschlossen. • Sowohl für die privat Versicherten als auch die gesetzlich Krankenversicherten wird gewährleistet, daß Kranken- und Pflegeversicherungsschutz tatsächlich aus "einer Hand" angeboten werden und der Pflegebedürftige für die Krankheit wie für die Pflege jeweils nur eine AnlaufsteIle hat. • Pflegeleistungen können mit den Gesundheitsleistungen der Krankenversicherung nahtlos verzahnt werden. Die im jeweiligen Einzelfall und zum jeweiligen Zeitpunkt erforderlichen Leistungen können nahtlos ineinan-

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Inge Lutter

dergreifen und nach einem abgestimmten Plan gewährt werden. Gemeinsame Anliegen von Kranken- und Pflegeversicherung, wie z. B. der Abbau von Fehlbelegungen in Krankenhäusern und Umwidmung von Krankenhaus- zu Pflegeheimbetten lassen sich so besser verfolgen. • Die Parallelität von Kranken- und Pflegeversicherung vermeidet den Aufbau neuer kostenintensiver Bürokratien, weil das flächendeckende Netz der Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen eine orts- und versichertennahe Betreuung möglich macht. Dies spart Kosten, die ansonsten durch Beiträge der Versicherten finanziert werden müßten. • Die Lösung "Pflege- folgt Krankenversicherung" fügt sich nahtlos in das gewachsene System der gegliederten Krankenversicherung in Deutschland ein und betont die Verantwortung der jeweiligen Träger für ihre Versicherten. Die Pflegeversicherung war das am meisten und am heftigsten umstrittene Gesetzgebungsverfahren der 12. Legislaturperiode. Dabei war die Diskussion voller Widersprüche und Irrationalitäten: Die einen beklagten die finanziellen Risiken und die Gefahren der Unfinanzierbarkeit im nächsten Jahrhundert, andere behaupteten eine Verschwendung von Beitragsmiueln für die Reichen und die Schonung der Generation der Erben; die Pflegeversicherung bewirke eine systematische Umverteilung von unten nach oben. Organisationen der Pflegekräfte sahen die Qualität der Pflege in Gefahr, aus Kreisen der Behindertenverbände und der Wohlfahrtspflege wurde die zu geringe Höhe der Versicherungsleistungen kritisiert, Familienverbände verurteilten die Pflegeversicherung als familienfeindlieh, da kein Beitragsnachlaß für kinderreiche Familien vorgesehen sei und versuchten, noch vor Inkrafttreten des Gesetzes durch Anträge auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht die Einführung der Pflegeversicherung zu verhindern. In den Medien fand jede kritische Stimme - und war sie inhaltlich noch so absurd - große Beachtung. Positive Aspekte der Pflegeversicherung taugten offensichtlich nicht für Schlagzeilen, es schien in Mode gekommen zu sein, nur nach Negativschlagzeilen zu suchen. Die Widerstände und Vorurteile sind bis heute noch nicht überwunden, den kritischen Stimmen gelingt es weiterhin, sich laut Gehör zu verschaffen; die Stimmen derjenigen, die die sozialpolitische Bedeutung dieses Gesetzgebungswerks würdigen, finden weniger Aufmerksamkeit. Es stimmt schon bedenklich, daß z. B. kaum anerkennende Erwähnung findet, daß die Pflegeversicherung nicht nur für die 1,65 Mio. heute bereits Pflegebedürftigen eine grundlegende und schnelle Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation bedeutet, sondern daß sie auch den rund 16,4 Mio. älteren Mitbürgern über 60 Jahren, den sogenannten pflegenahen Jahrgängen, die Sicherheit gibt, im Pflegefall notwendige Hilfen zu

Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht

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vertretbaren Beiträgen zu erhalten, und daß darüber hinaus die rund 63 Mio. Personen unter 60 Jahren in den Genuß eines Versicherungsschutzes kommen, der eine bezahlbare und im Regelfall ausreichende Basisversorgung im Pflegefall gewährleistet. Für die rund 1,2 bis 1,3 Mio. Pflegebedürftigen, die zu Hause gepflegt werden, ist durch die zum 1. April 1995 eingefiihrten Leistungen bei häuslicher Pflege die positive Bilanz des Gesetzes bereits sichtbar: Ihnen ist es seit dem 1. April 1995 möglich, erstmals überhaupt Pflegeleistungen oder wesentlich höhere Leistungen als bisher über ein Versicherungssystem zu erhalten. Für die stationär Pflegebedürftigen wird die Entlastung mit Einfiihrung der 2. Stufe der Pflegeversicherung zum 1. Juli 1996 spürbar werden, wenn die Träger der Pflegeversicherung die pflegebedingten Aufwendungen bei stationärer Pflege bis zu 2.800 DM im Monat übernehmen werden.

11. Die Pflegeversicherung war notwendig 1. Unzulängliche Sicherung bei Pflegebedürftigkeit Während die übrigen großen Risiken des Lebens wie Krankheit, Unfall, Invalidität und Alterseinkommen sowie Arbeitslosigkeit gut und wirksam in einem sozialversicherungsrechtlichen System abgesichert sind, um das uns die Welt beneidet, boten Staat und Gesellschaft bei Eintritt des Pflegefalles nur unzureichende Hilfen; die Betroffenen und ihre Angehörigen waren zunächst einmal weitgehend auf sich selbst gestellt, mußten fiir die Folgen und die Kosten der Pflegebedürftigkeit selbst einstehen. Soweit die finanziellen Kräfte überfordert waren, trat die Sozialhilfe im Wege der öffentlichen Fürsorge ein. Die Inanspruchnahme der Sozialhilfe bedeutet OfIenlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, Einsatz des Einkommens bis auf ein Taschengeld, Heranziehung des Vermögens zu den Kosten, Heranziehung der unterhaltspflichtigen Angehörigen zu den Kosten. Von den 450.000 stationär Pflegebedürftigen sind in den westlichen Bundesländern inzwischen 80%, in· den östlichen fast 100% auf Sozialhilfe angewiesen, weil ihre finanziellen Mittel nicht reichen, die Kosten fiir einen Platz im Pflegeheim zu tragen, die im Jahre 1994 im Bundesdurchschnitt bei 4.000 DM monatlich lagen. Viele Menschen bedrückte dieses steigende Risiko, nach einem arbeitsreichen Leben und jahrzehntelangen Zahlungen von Beiträgen zur Sozialversicherung im Alter bei Pflegebedürftigkeit auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Unabhängig von der jeweiligen Lebensleistung des einzelnen machte die Sozialhilfe alle gleich, sie wurden Taschengeldemp-

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fänger. Diese Entwicklung konnte nicht befriedigen, sie war leistungsfeindlich, unserer Werteordnung widersprechend und unsozial. Das Pflege-Versicherungsgesetz sieht - wie bereits gesagt - für die pflegebedingten Aufwendungen bei vollstationärer Pflege eine Sachleistungshöhe von bis zu 2.800 DM monatlich vor, in Härtefällen der Pflegestufe III sogar bis zu 3.300 DM monatlich. Zusätzlich zu den Leistungen der Pflegeversicherung für pflegebedingten Aufwand kommt künftig die Investitionsförderung der Länder, denen die Vorhaltung der pflegerischen Infrastruktur obliegt. Die InvestitionsfOrderung entlastet die Pflegesätze um durchschnittlich 500 bis 600 DM monatlich. Mit Leistungen der Pflegeversicherung von bis zu 2.800 DM, einer Investitionsförderung von 500 DM pro Pflegeplatz und einer Eckrente von rd. 1.950 DM (45 Versicherungsjahre mit durchschnittlichem Entgelt unterstellt), kann der Pflegebedürftige Pflegesätze von über 5.000 DM einschließlich der darin enthaltenen Kosten für Unterkunft und Verpflegung aus seinen laufenden Einkünften bestreiten. Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen, die bisher zur Deckung ihrer stationären Pflegekosten auf Sozialhilfe angewiesen war, wird deshalb künftig ohne Sozialhilfe auskommen. Die verbleibende Sozialhilfeabhängigkeit wird auf rd. 20% bis 30% der stationär betreuten Pflegebedürftigen geschätzt. Weiterhin auf Sozialhilfe werden diejenigen Pflegebedürftigen angewiesen sein, deren Pflege außergewöhnlich hohe Aufwendungen verursacht oder die nur über eine sehr geringe Rente verfügen und die Kosten für Unterkunft und Verpflegung nicht selbst tragen können, oder die auch schon vor Eintritt von Pflegebedürftigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhaltes Sozialhilfe benötigen. Ziel der Pflegeversicherung ist es nicht, sämtliche Pflegebedürftige von Sozialhilfe unabhängig zu machen. Die Pflegeversicherung ist keine Zusatzrente. Die Pflegeversicherung wird mit ihrem durch Rechtsansprüche abgesicherten Leistungsangebot helfen, im Laufe des Lebens Angespartes und Erarbeitetes zu erhalten und ggf. auch an die Kinder weitergeben zu können. Dies ist gewollt, weil es den Zielen unserer Leistungs- und Werteordnung entspricht. Für viele Menschen ist das Ziel, den Kindern etwas vererben zu können, Ansporn und Motiv zur Vermögensbildung. Wer deswegen das Pflege-Versicherungsgesetz als reines Erbschaftsentlastungsgesetz herabqualifiziert, springt gedanklich zu kurz, er übersieht, daß letztlich die Versicherung den Leistungsgedanken stärkt. Denn beim Pflegerisiko ist es bisher doch so: Wer sparsam war und etwas auf die hohe Kante gelegt hat, der muß dies bei Eintritt des Pflegefalles einsetzen. Wer nichts zurückgelegt hat, für den tritt im Pflegefall die Allgemeinheit mit der Sozialhilfe ein. Wer sein Einkommen "verlebt" hat, steht also genau so da wie die Sparsamen.

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Es ist schon erstaunlich, warum von Kritikern ausgerechnet beim Pflegerisiko das Argument in den Vordergrund geschoben wird, es sei gerechtfertigt, zur Finanzierung der Pflegekosten eigenes Einkommen und Vermögen einzusetzen und die Erben nicht zu schonen, während es andererseits als selbstverständlich angesehen wird, daß Krankenbehandlungskosten über ein Sozialversicherungssystem finanziert werden, selbst wenn der einzelne aufgrund seines Einkommens und Vermögens durchaus in der Lage wäre, die Kosten selbst zu tragen. Krankheit und Pflegebedürftigkeit sind eng beieinander liegende Risiken. Die Grenzen sind oft fließend. Unter diesem Aspekt ist kaum nachzuvollziehen, warum bisher nur fiir das Krankheitsrisiko eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung fiir notwendig und zweckmäßig anerkannt gewesen ist. Daß die Sozialhilfe de facto in immer größerem Umfang das Lebensrisiko der Pflegebedürftigkeit auffangen mußte, widersprach zudem den Grundsätzen unseres Systems der sozialen Sicherung, denn die Sozialhilfe stellt nach ihrer Grundzielsetzung im Netz der sozialen Sicherung nur eine nachrangige, letzte Hilfemöglichkeit dar. Bei Pflegebedürftigkeit hatte sie nicht mehr diese ihr zugedachte Auffangfunktion, sie war vielmehr zur Regelfinanzierungsquelle geworden. Dies war eine ordnungspolitisch falsche Entwicklung, der entgegengewirkt werden mußte.

2. Zunahme der Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeit hat sich im Laufe der Jahre zu einem allgemeinen Lebensrisiko entwickelt. Sie kann jeden Menschen jederzeit durch angeborene Behinderung, durch Unfall oder Krankheiten treffen. Vorwiegend realisiert sich dieses Risiko allerdings im Alter. Vor dem 60. Lebensjahr werden zwischen 0,5% und 0,7% der Wohnbevölkerung pflegebedürftig. Zwischen dem 60. und dem 80. Lebensjahr werden rund 5%, nach dem 80. Lebensjahr etwa 20% der Wohnbevölkerung pflegebedürftig. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit wird also ab dem 60. Lebensjahr mit zunehmendem Alter immer größer. Es ist eine Tatsache, daß unsere Gesellschaft älter und die Zahl der Pflegebedürftigen steigen wird. Voraussichtlich bis zum Jahr 2010 wird die Zahl der über 60-jährigen um rund 4 Mio. auf 20,4 Mio. ansteigen, bis zum Jahr 2030 um mindestens weitere 4 Mio. (1. Altenbericht der Bundesregierung). Immer mehr Menschen werden über 80 Jahre alt und erreichen damit ein Alter, in dem Pflegedürftigkeit zu einem steigenden Risiko wird. Dabei darf allerdings nicht der Fehler gemacht werden, zu unterstellen, daß die Zahl der Pflegebedürftigen in gleichem Maße wie die Zahl der älteren Mitbürger steigen wird. Tatsächlich werden die Älteren hinsichtlich ihrer Gesundheit, ihrer Selbständigkeit und ihrer Kompetenz jünger und vitaler. Ein 70-jähriger des Jah-

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res 1995 hat heute oft den Gesundheitszustand eines 60-jährigen vor rund 10 Jahren. Zunehmende Angebote gezielter Rehabilitation werden diese Entwicklung positiv beeinflussen. Es wird davon ausgegangen, daß in den nächsten 15 Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen von gegenwärtig rund 1,65 Mio. um 250.000 ansteigen wird. Diese demographische Entwicklung geht mit einer Veränderung in den Familien- und Haushaltsstrukturen einher. Der anhaltende Trend zur Kleinfamilie bzw. zum Single-Haushalt (mehr als 1/3 der über 60-jährigen leben bereits in Einpersonenhaushalten, von den Frauen fast 50%), die weiterhin unzureichende Geburtenzahl, steigende Berufstätigkeit der Frauen sowie die im Berufsleben geforderte Mobilität bei der Wahl des Arbeitsplatzes werden zu einer Abnahme der Pflegefahigkeit und -bereitschaft innerhalb der Familie und als Folge zu einer größeren Nachfrage nach ambulanten und stationären Pflegeangeboten fUhren. Dazu reicht die gegenwärtige Pflegeinfrastruktur nicht aus.

m. Die Pflegeversicherung fOrdert den Auf- und Ausbau der Pflegeinfrastrukur

Die derzeitige Pflegeinfrastruktur weist noch erhebliche Defizite auf, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot. Nach Auffassung der Länder müssen bis zum Jahre 2000 rd. 40.000 vollstationäre Plätze, 23.000 Teilzeitpflegeplätze und rd. 500 neue Sozialstationen geschaffen werden. Ersatzinvestitionen sind bei rd. 88.000 vollstationären Plätzen und 240 Sozialstationen notwendig. Daraus errechnet sich ein Gesamtinvestitionsbedarf von jährlich 3,6 Mrd. DM, der nach dem Pflege-Versicherungsgesetz von den Ländern zu finanzieren ist, und zwar aus den Einsparungen, die ihnen durch Einfiihrung der Pflegeversicherung in Höhe von rd. 11 Mrd. entstehen werden. Mit dem Pflege-Versicherungsgesetz sind die Voraussetzungen fUr die Entwicklung einer modemen Versorgungsstruktur mit nahtlos ineinandergreifenden Pflegediensten und -einrichtungen geschaffen. Die Versorgungsverträge zwischen Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen sind auf offenen Wettbewerb angelegt, so daß einem raschen Auf- und Ausbau der pflegerischen Infrastruktur keine Hindernisse entgegenstehen. Was bislang fehlt, ist Klarheit über die Investitionsbedingungen. Deshalb sind die Länder gefordert, mit ihren Ausfiihrungsgesetzen zur Pflegeversicherung alsbald die notwendigen Grundlagen zu schaffen. Die Länder müssen ihrer Verantwortung

Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht

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für diesen Bereich gerecht werden, so wie es im Vermittlungsverfahren erklärter politischer Wille aller Beteiligten war. Im Bereich der Pflege und Betreuung sind durch das Pflege-Versicherungsgesetz neue Arbeitspotentiale erschlossen. Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit gehen von 150.000 neuen Arbeitsplätzen durch die Pflegeversicherung aus. Die Zukunftsaussichten für die Pflegeberufe und damit für ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Pflegekräften sind sehr gut. Die zahlreichen Neugriindungen privater Pflegedienste zeigen, daß der Pflegemarkt bereits reagiert und das Angebot an Pflege- und Betreuungsleistungen zunimmt.

IV. Die Pflegeversicherung fördert die häusliche Pflege In der Pflegeversicherung gilt der Grundsatz des Vorrangs der häuslichen Pflege, und zwar nicht nur, weil die stationäre Pflege gesamtwirtschaftlich gesehen die teurere Pflege ist, sondern weil es im Regelfall den Wünschen der Pflegebedürftigen entspricht, so lange wie möglich in dem gewohnten familiären und sozialen Umfeld bleiben zu können. Ein ganzes Bündel von Maßnahmen ist darauf gerichtet, die Bedingungen der häuslichen Pflege entscheidend zu verbessern und damit auch die Bereitschaft der Familien, Angehörige zu Hause zu pflegen, nachhaltig zu stützen und zu fördern. Die notwendige Entlastung erfolgt • durch Pflegegeld zum Ausgleich für die mit Pflegebedürftigkeit verbundenen finanziellen Mehrbelastungen, insbesondere aber auch als Anerkennungsleistung für die aufopferungsvolle Tätigkeit der Angehörigen, die die häusliche Pflege sicherstellen und wegen der Pflege häufig auf eine Erwerbstätigkeit und damit auf Erwerbseinkommen verzichten müssen, • durch eine soziale Absicherung der Pflegepersonen, damit diese insbesondere in ihrer Rentenabsicherung wegen der Pflege keine Einbuße bzw. keine zu hohe Einbuße haben, • durch Pflegeeinsätze von Pflegefachkräften (Pflegesachleistungen) zur Sicherstellung einer qualitativ guten Versorgung der Pflegebedürftigen und zur unmittelbaren Entlastung der pflegenden Angehörigen, damit häusliche Pflege überhaupt möglich bleibt und Heimpflege nicht notwendig wird, • sowie durch verstärkte Möglichkeiten der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege, dem Pflegeurlaub für die pflegenden Angehörigen und weiteren Maßnahmen, wie z. B. Pflegekurse usw., die insgesamt zur Stärkung der häuslichen Pflege notwendig sind.

23 Farny u. a.

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Erste Anzeichen zeigen, daß die gesetzlichen Regelungen greifen, denn aus einigen Regionen ist zu hören, daß die Wartelisten für die Aufnahme in ein Pflegeheim zurückgegangen sind.

v. Die Pflegeversicherung fördert das Rehabilitationsangebot Jeder weiß, welche Bedeutung einer rechtzeitigen und gezielten Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit aber auch nach eingetretener Pflegebedürftigkeit zukommt. Gleichwohl gibt es in diesem Bereich große Defizite; die heutige Versorgung der älteren Menschen mit Rehabilitationsleistungen ist unzureichend. Ambulante Rehabilitation findet bei Pflegebedürftigen nur ausnahmsweise statt. Die wenigsten Pflegeheime sind in der Lage, Rehabilitationsleistungen anzubieten. Es ist davon auszugehen, daß von der Pflegeversicherung wichtige Impulse zur Förderung des Bereichs der medizinischen Rehabilitation ausgehen werden. Im Gesetz ist nunmehr ein Rechtsanspruch auf "Rehabilitation vor Pflege" verankert. Damit der Pflegebedürftige oder von Pflegebedürftigkeit Bedrohte die notwendigen Hilfen erhält, haben die Pflegekassen im Zusammenwirken mit den Trägem der ambulanten und stationären gesundheitlichen Versorgung koordinierende Funktionen wahrzunehmen. Bei Gefahr im Verzug kann die Pflegekasse sogar vorläufig ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen - mit Ausnahme von Kuren - erbringen.

VI. Die Pflegeversicherung ist solide finanziert, rührt nicht zur Kostenexplosion In der Pflegeversicherung wird es keine Anreize oder Gefahren zu unkontrollierter Ausgaben- und Kostenentwicklung geben; eine Erschleichung von Leistungen, eine nicht gerechtfertigte Leistungsausweitung oder großzügig hingenommene Preissteigerungen bei den Pflegeeinrichtungen werden weitgehend ausgeschlossen, dazu sind ausreichende Sicherungen eingebaut. "Mitnahmeeffekte" werden bereits dadurch verhindert, daß die Feststellung, ob und in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit vorliegt, in der sozialen Pflegeversicherung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung und in der privaten Pflege-Pflichtversicherung durch die Gesellschaft fiir medizinische Gutachten MEDICPROOF GmbH im Rahmen der individuellen Begutachtung erfolgt, so daß eine ungerechtfertigte Leistungsnachfrage von vornherein unterbunden wird. Hinzu kommt, daß die Leistungen der Art und der Höhe nach durch das Gesetz begrenzt sind. Es gibt keine zusätzlichen aus

Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht

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dem Beitragsaufkommen zu finanzierenden Mehrleistungen. Die Leistungen können zwar erhöht werden, aber nur im Rahmen des vom Gesetzgeber festgelegten Beitragssatzes und der sich daraus ergebenden Einnahmenentwicklung. Als erste Sozialversicherung folgt die Pflegeversicherung damit streng den Grundsätzen einer einnahmeorientierten Ausgabepolitik. Langfristig steigende Einkommen der Versicherten und eine dynamische Beitragsbemessungsgrenze gewährleisten auch bei stabilem Beitragssatz steigende Einnahmen der Pflegeversicherung, mit denen die üblichen Preissteigerungen ausgeglichen werden können. Zur Aufdeckung von Unwirtschaftlichkeiten können die Kassenverbände ggf. auch gegen den Willen des Trägers einer Pflegeeinrichtung, mit der ein Versorgungsvertrag geschlossen ist, Wirtschaftlichkeitsprüfungen durch einseitig von ihnen bestellte Sachverständige durchführen lassen. Dies ermöglicht, künftig ungerechtfertigte Gewinne zu reduzieren und Wirtschaftlichkeitsreserven offenzulegen. Die zu erwartende Entwicklung der Beiträge ist bis zum Jahre 2030 sorgfältig analysiert worden. Danach wird der Beitragssatz etwa nach dem Jahre 2004 langsam ansteigen. Dies allerdings nicht in dem Umfang, den manche Kritiker boshaft prophezeiten. Er wird vielmehr auf etwa 2,4% im Jahre 2030, also um rund 50% ansteigen. Dies ist auch von namhaften Wissenschaftlern bestätigt worden, wie z. B. von Prof. Schmähl in seinem Gutachten "Zur Finanzierung einer Pflegeversicherung in Deutschland". Er erwartet eine Erhöhung im Verlauf etwa der nächsten 40 Jahre um 25% bis 30%. Prof. Heubeck prognostiziert in seinem Gutachten "Modellberechnungen zur Vorbereitung einer gesetzlichen Lösung zur Absicherung des Pflegerisikos" für das Jahr 2039 einen Beitragssatz von 1,89% bis 2,38%. Die Prozentangaben differieren je nach dem, welche Preisdynamik, Zinsdynamik und welche Wohnbevölkerung man unterstellt. Unterstellt man ein Bevölkerungsmodell mit einer geringen Nettoreproduktionsrate und einem geringeren Wanderungssaldo, so muß als maximaler Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung im Jahre 2039 von einem Beitrag von 2,38% ausgegangen werden. Das demographische Risiko ist in der Pflegeversicherung ungleich niedriger einzuschätzen als in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Zunahme der Zahl älterer Mitbürger wirkt sich zwar auf die voraussichtliche Zahl der Pflegebedürftigen, nicht jedoch auf die Zahl der Beitragszahler aus. Die Beitragspflicht endet - anders als in der Rentenversicherung - nicht mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben; sie setzt sich selbst bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit bis zum Lebensende fort. In der Pflegeversicherung wird es also eine überschaubare Kosten- und Beitragsentwicklung geben, die Gefahr einer Überlastung für die nachfolgenden Generationen besteht nicht.

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Inge Lutter

VII. Die Pflegeversicherung ist gesamtwirtschaftlich vertretbar Mit der Pflegeversicherung ist erstmals der Grundsatz vom Umbau des Sozialstaates praktiziert worden. Die neuen Leistungen wurden nicht einfach im Wege der Erhöhung der Beitragslast finanziert. Vom Beginn des Gesetzgebungsverfahrens an stand fest, daß die Einführung der Pflegeversicherung nicht zu einer Gefährdung der Wettbewerbsfahigkeit der Wirtschaft und damit der Arbeitsplätze führen darf. Daher ist dafiir Sorge getragen worden, daß die aus den Arbeitgeberbeiträgen zur Pflegeversicherung entstehenden Belastungen der Wirtschaft kompensiert werden. Die Diskussion um die Modalitäten einer ausreichenden Kompensation haben nahezu das gesamte Gesetzgebungsverfahren beherrscht. Es gelang schließlich, sich auf die Abschaffung eines Feiertages zu verständigen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat im Rahmen des PflegeVersicherungsgesetzes den Auftrag erhalten, in einem Gutachten dazu Stellung zu nehmen, ob zum Ausgleich der mit der Einführung der stationären Pflegeleistungen zum 1. Juli 1996 verbundenen Beitragsmehrbelastungen die Abschaffung eines weiteren Feiertages erforderlich ist oder nicht. In diesem Sondergutachten, das im Juli 1995 vorgelegt wurde, kommt der Sachverständigenrat zu dem Ergebnis, daß die Abschaffung eines zweiten Feiertages nicht erforderlich ist, die erforderliche Entlastungswirkung der Wirtschaft jedoch durch die Streichung des einen Feiertages noch nicht ganz, sondern nur zu rund 3/4 erreicht ist. Angesichts dieses Ergebnisses wird das Inkraftsetzen der Regelungen über die stationären Pflegeleistungen nunmehr nur durch ein Gesetz erfolgen können, der Deutsche Bundestag wird sich also erneut mit der Pflegeversicherung und der damit verbundenen Kompensationsfrage zu beschäftigen haben.

vm. Die Pflegeversicherung rordert nicht die Versorgungsmentalität

Mit der Pflegeversicherung erhält der einzelne Rechtsansprüche gegenüber den Versicherungssystemen der privaten und sozialen Pflegeversicherung auf Leistungen im Pflegefall, er muß jedoch zur Finanzierung des Versicherungsschutzes regelmäßig Beiträge leisten. Damit wird Eigenverantwortlichkeit gestärkt. Außerdem ist die Pflegeversicherung keine Vollversicherung, die bei Pflegebedürftigkeit in jedem Fall alle Kosten abdeckt. Im Regelfall werden bei häuslicher Pflege familiäre Hilfeleistungen und nachbarschaftliche Hilfen

Die Pflegeversicherung aus sozialpolitischer Sicht

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weiterhin notwendig bleiben, bei stationärer Pflege sind die Kosten für Unterkunft und Verpflegung von dem einzelnen zu tragen. Die Pflegeversicherung ist ein solidarisches Angebot zur Basisversorgung. Für private Ergänzung ist noch ein weiter Spielraum gegeben. Zur Stärkung von Selbstverantwortung und Eigenvorsorge werden steuerliche Anreize geschaffen, um ergänzend zu den Leistungen der Pflege-Pflichtversicherung einen freiwilligen privaten Versicherungsschutz anzuregen. Dieser Weg ist vor allem für die jüngeren Geburtsjahrgänge ab 1958 wegen der günstigen Versicherungsprämien geeignet. Er ist durch Einführung eines jährlichen Sonderabzugs von 360 DM pro Monat steuerlich gefördert.

IX. Die Pflegeversicherung fördert die gesellschaftliche Anerkennung der Pflege Die Pflegeversicherung unterstreicht die Bedeutung pflegerischer Leistungen für unser sozialstaatliches Gemeinwesen. Der Pflegebereich wird aufgewertet. Er wird den anderen Bereichen unserer gesundheitlichen Versorgung mit Prävention, Akutbehandlung und Rehabilitation gleichgestellt. Damit wird letztlich auch eine bessere gesellschaftliche Anerkennung von Pflegeberufen und Pflegekräften gefördert.

x. Zur Einführung der Pflegeversicherung gab es keine überzeugende Alternative

Ohne die Pflegeversicherung hätte sich in den nächsten Jahrzehnten folgendes Szenario ergeben: • Eine steigende Zahl älterer Mitbürger • fehlende Rehabilitation bei Pflegebedürftigkeit • steigende Zahlen der Pflegebedürftigen • geringere Pflegebereitschaft und Pflegefähigkeit in den Familien • steigende Zahlen in den Pflegeheimen • steigende Abhängigkeit von der Sozialhilfe.

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Diese absehbare Entwicklung ist mit Einführung der Pflegeversicherung gestoppt, für die Pflegebedürftigen und für die Pflege insgesamt ist eine neue Perspektive eröffnet worden. Die Lösung der Pflegeproblematik durch Einführung der Pflege-Pflichtversicherung ist ordnungspolitisch richtig und solide finanzierbar. Alle anderen Lösungsmodelle, die intensiv diskutiert wurden, haben keine vergleichbaren Vorteile. Die Pflegeversicherung hat die Voraussetzungen geschaffen, daß sich die Rahmenbedingungen für die häusliche und stationäre Pflege entscheidend verbessern und weiter entwickeln. Nun wird es darauf ankommen, daß alle Beteiligten, die Länder, Kommunen, die Pflegeeinrichtungen, die Pflegekassen, der Medizinische Dienst und der Bund ihren vom Gesetz geforderten Beitrag zum Erfolg der Pflegeversicherung leisten. Die berechtigten Erwartungen der Betroffenen dürfen nicht enttäuscht werden.

Die demographische Entwicklung in Deutschland und deren mögliche Konsequenzen für die Pflegeversicherung Von Eckart Bornsdorf, Köln

I. Einführung Seit einiger Zeit wird in Deutschland in einer ungewohnten Breite auf politischer und wissenschaftlicher Ebene eine Diskussion über die Entwicklung der Bevölkerung, speziell des Anteils der älteren Bevölkerung und somit der Altersstruktur geführt. Diese Diskussion verläuft vor allem hinsichtlich der Konsequenzen fiir die durch den Generationenvertrag geprägte Sozialversicherung kontrovers. Zwar besteht allgemeiner Konsens, daß die Beitragssätze steigen werden, über das Ausmaß und die Belastbarkeit insbesondere der erwerbstätigen Bevölkerung gehen die Meinungen jedoch auseinander. Während im Politikbereich bis auf wenige Ausnahmen eine überwiegend abwartende Haltung vertreten wird, l ist es im wissenschaftlichen Bereich eher umgekehrt. Alle Bereiche der Sozialversicherung werden vorn Umfang und der Alterssowie Erwerbsstruktur der Bevölkerung - wenn auch in unterschiedlichem Maße - beeinflußt. Beitragspflicht und Beitragshöhe sind zumindest indirekt ebenso vom Alter abhängig wie der Leistungsumfang und die Leistungshöhe. Die Kosten der gesetzlichen Pflegeversicherung - und damit ist die private gesetzliche Pflegeversicherung eingeschlossen - werden wesentlich durch den Umfang der älteren Bevölkerung, d. h. hier der Anzahl der 60 Jahre und älteren Personen bestimmt, zumal mehr als 75 Prozent aller Pflegefalle dieser Altersgruppe angehören. 1 Das Rentenreformgesetz 1992 stellt hier eine positive Ausnahme dar; es ist jedoch eher mittelfristig zu sehen und erfordert vor allem langfristig wirkende weitere Ergänzungen. Der gängige Hinweis auf den Arbeitsmarkt, der alle Probleme lösen könnte, ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft, wie auch die gegenwärtige Diskussion um die Höhe der Beiträge zur Rentenversicherung zeigt. Auf eine Einbeziehung der umfangreichen Literatur zur Pflegeversicherung wird hier aus Platzgründen verzichtet.

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Eckart Bornsdorf

Vereinfacht gesagt verdoppelt sich bei Verdoppelung des Umfangs der älteren Bevölkerung auch die Anzahl der Pflegebedürftigen im entsprechenden Alter. 2 Während sich die Summe der Pflegeausgaben in der Sozialversicherung als Produkt aus Anzahl der Pflegefalle und Durchschnittsausgaben pro Pflegefall zusammensetzt, spielen auf der Einnahmenseite Anzahl der Beitragszahler und Durchschnittsbeitrag pro Beitragszahler die entscheidende Rolle. Das Umlageverfahren baut auf der ständigen kurzfristigen Übereinstimmung von Einnahmen und Ausgaben auf. Eine Erhöhung der Anzahl der Leistungsempfanger ruhrt somit ceteris paribus zwangsläufig zu einer Beitragserhöhung. Die Ausgaben rur die Pflege werden durch ein Netz von verschiedenen Faktoren beeinflußt (vgl. Schmähl 1993, S. 233). Eine wesentliche Komponente bildet hierbei die Altersstruktur der Bevölkerung, deren Entwicklung im folgenden betrachtet werden soll. Sie beeinflußt nicht nur die Anzahl der Pflegefalle sondern auch die Durchschnittsausgaben pro Pflegefall, da hochbetagte Pflegebedürftige im Durchschnitt höhere Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten als etwa Pflegebedürftige im Alter von 60 bis 70 Jahren.

11. Die demographische Komponente Prognosen über einen längeren Zeitraum sind im Regelfall mit Skepsis zu betrachten. Im ökonomischen Bereich eine Schätzung über einen Zeitraum von beispielsweise zehn Jahren abzugeben, ist gewagt. Es gibt jedoch Bereiche, in denen derartige Berechnungen sinnvoll möglich sind, dazu gehört der der älteren Bevölkerung. Alle Personen, die in den nächsten 50 Jahren zur älteren Bevölkerung Deutschlands zählen, sind heute schon geboren und leben von Wanderungen abgesehen - bereits jetzt in Deutschland. Über die Entwicklung der Sterblichkeit in der Vergangenheit liegen gute Informationen vor, die zumindest eine Modellrechnung rur eine mögliche Entwicklung der Sterblichkeit und demnach auch der älteren Bevölkerung in der Zukunft gestatten. Auch wenn der angedeutete Rückgang der Sterblichkeit bekannt ist, so wird er doch bei den Modellrechnungen meistens nur begrenzt in die Zukunft extrapoliert. Das Statistische Bundesamt geht beispielsweise bisher rur die alten Bundesländer von einem Rückgang der Sterblichkeit nur bis zum Jahr 2000 aus, rur den Folgezeitraum wird eine Konstanz angenommen; die Anpassung der Sterblichkeit in den neuen Bundesländern an die in den alten

2

Vg1. Abschnitt III.

Demographische Entwicklung und Konsequenzen filr die Pflegeversicherung

361

benötigt teilweise einen Zeitraum über das Jahr 2030 hinaus3 (vgl. Sommer 1994, S. 497). Die damit verbundene systematische Unterschätzung des Rückgangs der Sterblichkeit macht sich vor allem bei der Schätzung der älteren Bevölkerung bemerkbar und führt dort - und demgemäß auch bei einer Vorausberechnung der Anzahl der Pflegebedürftigen - natürlich zu deutlich niedrigeren Zahlen als bei der Annahme eines weiteren Mortalitätsrückgangs (vgl. Bornsdorf 1994, S. 11 ff.). Im folgenden wird von einem gleichmäßigen altersabhängigen Rückgang der Sterblichkeit im Zeitablauf ausgegangen. Dieser wirkt sich in erster Linie auf die Entwicklung der älteren Bevölkerung aus, da dort die Sterblichkeit auf einem wesentlich höheren Niveau als bei den Personen im Alter von unter 60 Jahren liegt. Damit steht eine Einflußgröße der Kosten der Pflegeversicherung im Vordergrund, die nicht von der Politik beeinflußt werden kann. In der Tabelle wird dargelegt, wie viele von heute Fünfzigjährigen in Deutschland ein Alter von 60, 70 etc. Jahren erreichen werden. Bei dieser Berechnung wird einmal von der aktuellen Allgemeinen Sterbetafel 1986/88 für die Bundesrepublik Deutschland, deren Sterbewahrscheinlichkeiten als stabil unterstellt werden, zum anderen von einer modellierten Sterbetafel für den Geburtsjahrgang 1946 ausgegangen (zum Problem der Verwendung von Perioden- bzw. Generationensterbetafeln vgl. Bornsdorf 1993, S. 13 ff.). Die Unterschiede in den möglichen Entwicklungen sind kraß. Sie steigen relativ gesehen kontinuierlich mit wachsendem Alter und erreichen absolut ihre größte Differenz im Alter zwischen 80 und 85 Jahren.

3 Die u. a. filr die neuen Bundesländer vorliegende abgekürzte Sterbetafel 1991/93 weist darauf hin, daß diese Annahme wenig realistisch ist (vgl. Statistisches Bundesamt 1995, S. 76).

362

Eckart Bomsdorf

Tabelle

Überlebende nach Alter und Sterbetafel (Ausgangspopulation 100000 Fünfzigjährige) Weibliche Bevölkerung

Von 100000 Fünfzigjährigen im Jahr 1996 erreichen ein Alter von ... Jahren 60

70

80

85

Sterbetafel 1986/88

95542

84993

59097

38085

17636 5000

Sterbetafel Jahrgang 1946

96342

88403

67984

48787

26220 9339 1798

Männliche Bevölkerung

90

95

100 727

Von 100000 Fünfzigjährigen im Jahr 1996 erreichen ein Alter von ... Jahren 60

70

80

85

90

95

100

Sterbetafel 1986/88

90587

70842

36897

19127

6928

1537

181

Sterbetafel Jahrgang 1946

91731

74445

43300

25149

10791 3000

473

Diese Darstellung weist darauf hin, daß die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung auf einem doppelten Effekt beruht. Zum einen nimmt der Anteil der älteren Bevölkerung zu, da die Fertilität abnimmt, zum anderen steigt er, weil die Sterblichkeit vor allem der älteren Bevölkerung deutlich zurückgeht. Wie sich dieser Effekt bis zum Jahr 2040 auf den Umfang der älteren Bevölkerung auswirken könnte, zeigen die beiden auf die ältere Bevölkerung beschränkten Bevölkerungspyramiden (vgl. Abbildung 1).4/5 Die Pyramide von 2040 verdeutlicht, wie, wann und in welchem Umfang das Problem der "Überlast" durch die ältere Bevölkerung auftreten könnte. Die Anteile der älteren Bevölkerung für ausgewählte Jahre legt Abbildung 2 dar. Während sich der Anteil der 60jährigen und Älteren bis 2030 fast verdoppelt und danach bis 2040 kaum verändert, verdoppelt sich der Anteil

4 Der dunkel schraffierte Teil gibt jeweils den Frauenüberschuß an. Für 1991 konnten aufgrund fehlender Daten die Altersklassen ab 95 Jahren nicht ausfilhrlich dargestellt werden. Alle Angaben in diesem Beitrag beziehen sich - soweit nichts anderes gesagt wird - auf die Bundesrepublik Deutschland. ~ Wanderungen bleiben hier vollständig unberücksichtigt. Damit kann der Effekt der Veränderung der Altersstruktur aufgrund des MortalitätsrOckgangs unabhängig von Wanderungen quantifiziert werden.

Demographische Entwicklung und Konsequenzen rur die Pflegeversicherung

363

1991

AI ter in Jahren

Männlich

600 500 400 300 200 100

o

0

100 200 300 400 500 600

Tausend je Altersjahr

Tausend je Altersjahr

2040

Alter in Jahren

Männlich

100

Weiblich

90

80

70

600 500 400 300 200 100 Tausend je Altersjahr

0

0

100 200 300 400 500 600 Tausend je Altersjahr

Abbildung 1: Altersaufbau der älteren Bevölkerung Deutschlands 1991 und 2040

364

Eckart Bornsdorf

40 T

+

35

1

30

:i 25 + :> .5

o§ c::

< 5 0 Heute

2030

2040

Jahr

• Anteil 60jähr. u. Ält.

0

Anteil 65jähr. u. Ält.

• Anteil 70jähr. u. Ält.

Abbildung 2: Anteil der älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in Deutschland

300 '

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250 0 0 0

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