Lateinamerika aus spanischer Sicht: Exilliteratur und Panhispanismus zwischen Realität und Fiktion 9783964562012

Der Autor untersucht die spanische Exilliteratur in Lateinamerika hinsichtlich der Kontinuität ihrer spanischen Kulturel

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Lateinamerika aus spanischer Sicht: Exilliteratur und Panhispanismus zwischen Realität und Fiktion
 9783964562012

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Zur begrifflichen Definition
III. Stand der Forschung, Desiderate, eigene Forschungsziele und methodische Überlegungen
IV. Lateinamerikainterpretationen in der neueren Forschungsliteratur. Ein Überblick
V. Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: Chronologischer Überblick
VI. Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: besonders relevante Bereiche
VII. Die Hispanidad vom Bürgerkrieg bis zum Beginn der transición
VIII. Die Entwicklung der Hispanidad in den Cuadernos Hispanoamericanos
IX. Das spanische Exil in Lateinamerika
X. Lateinamerika im Werk spanischer Exilautoren
XI. Synopse der thematischen Hauptfacetten des Lateinamerikabildes in den Cuadernos Hispanoamericanos und in der Exilliteratur
XII. "Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten ...": Lateinamerikabild und Exilsituation. Abschließende Überlegungen
XIII. Bibliographie

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Norbert Rehrmann Lateinamerika aus spanischer Sicht

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -knúk/Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/Z-mgú/í/ica Serie C: Geschichte und Gesellschaft/Z/mona y Sociedad Serie D: Bibliographien/Bibliografías H e r a u s g e g e b e n v o n / E d i t a d o por : Walther L. Bernecker, Frauke G e w e c k e , Jürgen M . Meisel, Klaus M e y e r - M i n n e m a n n

A: Literaturgeschichte und -knúk/Historia

v Crítica de la Literatura,

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Norbert Rehrmann

Lateinamerika aus spanischer Sicht Exilliteratur und Panhispanismus zwischen Realität und Fiktion (1936-1975)

Vervuert Verlag

• Frankfurt am Main 1996

FÜR NAKI

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des FB 10 (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Universität Bremen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

[Iberoamericana / Editionen / A] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie A, Literaturgeschichte und -kritik = Historia y crítica de la literatura. - Frankfurt am Main : Vervuert. Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 Reihe Editionen, Serie A zu: Iberoamericana NE: Iberoamericana / Ediciones / A; Editionen der Iberoamericana; Ediciones de Iberoamericana; HST

12. Rehrmann, Norbert: Lateinamerika aus spanischer Sicht. - 1996

Rehrmann, Norbert: Lateinamerika aus spanischer S i c h t : Exilliteratur und Panhispanismus zwischen Realität und Fiktion (1936-1975) / Norbert Rehrmann. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Editionen der Iberoamericana : Serie A, Literaturgeschichte und -kritik ; 12) Zugl.: Bremen, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-89354-864-5

© Vervuert Verlag, Frankfurt / Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann unter Verwendung einer Abbildung aus: Eduardo Galeano: El libro de los abrazos, Madrid: Siglo XXI, 1989 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung

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II.

Zur begrifflichen Definition

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III. Stand der Forschung, Desiderate, eigene Forschungsziele und methodische Überlegungen 1. Zum Lateinamerikabild und zum Panhispanismus bis 1939 2. Globalstudien zur Panhispanismus- und Exilthematik von 1939-1975 2.1 Globalstudien zur Exilliteratur IV. Lateinamerikainterpretationen in der neueren Forschungsliteratur. Ein Überblick 1. Zum Grad der Übereinstimmung von historischer Realität und vermitteltem Bild 2. Realgeschichtliche Aspekte 2.1 Zur präkolumbinen Vergangenheit 2.2 Zur Conquista und Kolonialzeit 2.3 Zum 19. und 20. Jahrhundert 3. Exkurs: Über kulturelle Identität, Ethnozentrismus und das Verständnis fremder Kulturen 4. Zentrale Aspekte der lateinamerikanischen Identitätsdebatte 4.1 Zur Namensproblematik 4.2 Identität und Differenz zum Anderen: der lateinamerikanische Identitätsdiskurs und Europa 4.3 Vom Okzidentalismus zum Indo- und Afroamerikanismus: zu einzelnen Etappen und Positionen der Identitätsdebatte im 19. und 20. Jahrhundert in der Essayistik und den Kulturwissenschaften . . 4.4 Zur Identitätsthematik in der lateinamerikanischen Literatur . . . . 4.5 Zur Bedeutung spanischer Kulturelemente in der Identitätsdebatte V.

Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: Chronologischer Überblick 1. Die lateinamerikanische Emancipación 2. Von der Unabhängigkeit bis zur Restauración 3. Die Zeit der Restauración 4. Der IV. Centenario 5. Das Desastre von 1898 6. Vom Desastre zum Bürgerkrieg

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6 VI. Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: besonders relevante Bereiche 1. Der Streit um die Terminologie 2. Exponierte Intellektuelle und Lateinamerika 3. Die "Reinheit" der Sprache 4. Der "Kampf um die Geschichte" 5. Der Streit um den Modemismus 6. Panhispanismus und Indigenismus 7. Panhispanismus aus lateinamerikanischer Sicht 8. "Praktischer" Panhispanismus 9. Panhispanismus und Panamerikanismus 10. Die "spontanen Botschafter" des Panhispanismus: spanische Auswanderer in Lateinamerika 11. Lateinamerika und die spanische Linke

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VII. Die Hispanidad vom Bürgerkrieg bis zum Beginn der transición 130 1. Von der Idee zur materiellen Gewalt: Hispanidad und Bürgerkrieg . . 130 2. Von der /mperio-Rhetorik zum Pragmatismus: die Hispanidad von 1939 bis 1945 138 3. Vom Consejo de la Hispanidad zum Instituto de la Cultura Hispánica: die institutionelle Entwicklung der Hispanidad nach dem Ende des Bürgerkrieges 142 4. Hispanidad als außenpolitisches Surrogat: die Beziehungen zu Lateinamerika vom Ende des II. Weltkrieges bis Anfang der 50er Jahre 145 5. Neuordnung und Kontinuität: die organisatorisch-institutionelle Seite der Hispanidad nach 1945 150 6. Rhetorik und Pragmatismus im Dauerkonflikt: die Beziehungen zu Lateinamerika bis zur transición 154 VIII.Die Entwicklung der Hispanidad in den Cuadernos Hispanoamericanos 1. Spanien, Europa und Lateinamerika: zur Entwicklung des Hispanidad-Bcgríffs 1.1 Peninsulare Autoren 1.2 Lateinamerikanische Autoren 2. "Grenzenlose Interpretationen": die präkolumbinen Kulturen, Entdeckung und Eroberung 2.1 Amerika vor 1492 2.2 Entdeckung und Eroberung: allgemeine Bewertungen 2.3 Eroberungsmotive, Kolonialismusbegriff und mestizaje 2.4 Cortés und Las Casas als Antithesen der Con^K/sfa-Interpretationen 3. Vom "signo de Moscú" zur "integración": über indios und Indigenismus in der Gegenwart

. 158 158 158 169 170 170 172 176 181 186

7 4.

5. 6. 7.

Indifferenz, Selbstkritik, Hommage: die Thematisierung der lateinamerikanischen Literatur des XX. Jahrhunderts 4.1 Allgemeine Aspekte 4.2 Indigenismus und die lateinamerikanische Literatur des XX. Jahrhunderts 4.3 Vom "indigenismo iconoclasta" zum "nacionalismo limpio": über indianische Motive in der mexikanischen Literatur 4.4 Der späte Frieden: die lateinamerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Modernismus Das "Blut der Seele": zur Rolle des castellano Vom Trojanischen Pferd zum Bündnispartner: die USA in neuem Lichte Die Hispanidad als Brückenschlag: die spärliche Präsenz des Exils . .

IX. Das spanische Exil in Lateinamerika 1. Die ferne Nähe: Mexiko und Spanien in den dreißiger Jahren 2. Auf dem Weg ins gelobte Land: (Hinter-) Gründe der Emigration . . . 3. Projektion und Wirklichkeit: erste Orientierungen und Anpassungsprobleme in Mexiko 4. Gachupines oder transterradosl Kulturelle Standortbestimmungen . . 5. Institutionelle Aktivitäten der Flüchtlinge: La Casa de España und andere Einrichtungen 6. Von der Karibik bis Feuerland: andere lateinamerikanische Aufnahmeländer 7. "Hambre de España": Rückkehrhoffnungen, idealisierte Spanien-Bilder und partielle Integration 8. "Desexiliarse": Rückkehrbarrieren und ihre allmähliche Beseitigung . 9. Vom "puente imposible" zum Dialog: Intellektuelle Kontakte zwischen Exil und "exilio interior" X.

Lateinamerika im Werk spanischer Exilautoren 1. Ramón J. Sender 1.1 Biobibliographische Notizen 1.2 "Primitive Barbarei" und Atlantis: die präkolumbine Vergangenheit 1.3 Die Noblesse der Antihelden: die Conquista 1.4 Zwischen Ent- und Re-Idealisierung: die Colonia 1.5 Mythen, Gewalt und Exotismus: Lateinamerika im XX. Jahrhundert 2. M a x A u b 2.1 Biobibliographische Notizen 2.2 Transtierro oder destierro? Die Exilthematik zwischen hintersinnigem Humor und Aporie 2.3 "España en el corazón": Aub und Spanien 2.4 Die Aporien des Che, "Folklorismus" und "cubano-españoles": über Indigenismus, Literatur und Lateinamerika/Kuba allgemein .

190 190 191 198 199 203 209 213 221 221 224 228 231 236 239 245 247 250 259 259 259 261 264 274 281 287 287 288 293 301

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8.

Francisco Ayala 3.1 Biobibliographische Notizen 3.2 "Sin falsas esperanzas": die Exilthematik

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3.3 "Nuestro común destino" in der Marktwirtschaft: Lateinamerika und Spanien

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3.3.1 Die nicht-narrativen Texte 3.3.2 Die narrativen Texte Luis Amado-Blanco

313 319 327

4.1 Biobibliographische Notizen

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4.2 "Panhispanismus" als Zweiwegekommunikation: Kuba und Spanien in den Erzählungen

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4.3 Ciudad rebelde: Kuba/Havanna vor der Revolution José Antonio Rial

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5.1 Biobibliographische Notizen 5.2 "Las puertas de Venezuela se han abierto": Exil, lateinamerikanische Identität und Kulturpessimismus in den Romanen Venezuela - Imán und Jezabel

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5.3 Don Juan, Malinche und die Kommunisten: die Essaysammlung La destrucción de Hispanoamérica 5.4 Der Sturm im Wasserglas oder der "Entdecker" im Bordell:

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das Theaterstück Cipango León Felipe

352 355

6.1 Biobibliographische Notizen 6.2 "El gran imperio español": die koloniale Vergangenheit in seinem Werk

355

6.3 "Cantar en coro": Lateinamerika/Mexiko im allgemeinen 6.4 "La sangre no tiene fronteras": Spanien und die Exilsituation . Segundo Serrano Poncela 7.1 Biobibliographische Notizen 7.2 Kulturelle "Kontrastharmonie": lateinamerikanische und spanische Frauen

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7.3 Kulturelle Differenz und Distanz: Lateinamerika allgemein . . . 7.4 "La pesantez de una piedra": das Exil

375 380

7.5 A u f den Spuren A m é r i c o Castros: Spanienbild und gachupin-YjnX\k

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demente Airó

389

8.1 Biobibliographische Notizen 8.2 Kolumbien aus städtischer Sicht: die Romane La ciudad y

389

el viento, Todo nunca es todo und Erzählungen

390

8.3 Misere und Gewalt auf dem Lande: der Roman El campo y el fuego und Erzählungen

405

9 9. AgustíBartra 410 9.1 Biobibliographische Notizen 410 9.2 Das Exil als Apokalypse: Cristo de 200.000 brazos 410 9.3 (Abstrakter) Schöpfungsmythos und (gescheiterte) mexikanische Revolution: Der Gedichtszyklus Quetzalcoatl und der Roman La luna muere con agua 412 10. Simón Otaola 418 10.1 Biobibliographische Notizen 418 10.2 Das Exil als "idealizado paisaje español": Die "crónica novelada" La librería de Arana 419 10.3 Eine "Liebeserklärung" an ein mexikanisches Dorf: Los tordos en el pirul 420 10.4 Spanien-Nostalgie, gachupín-Kñtik und Exil als closed i/iop-Milieu: Der Roman El cortejo 422 10.5 Das Exilland als melancholischer Abgesang: Tiempo de recordar 426 11. Virgilio Botella Pastor 428 11.1 Biobibliographische Notizen 428 11.2 Bürgerkriegsende und Transit in Frankreich: die Romane Porque callaron las campanas und Encrucijadas 429 11.3 Das Ferne im Nahen: Mexiko und Exil in dem Roman Tal vez mañana 431 12. José Blanco Amor 437 12.1 Biobibliographische Notizen 437 12.2 Das Exil als Martyrium: Die Romane Todos los muros eran grises und Duelo por la tierra perdida 438 12.3 Ein argentinisches Vetusta: Der Roman Antes que el tiempo muera 450 13. Manuel Andújar 457 13.1 Biobibliographische Notizen 457 13.2 Lateinamerika/Mexiko und Exil: Cita de fantasmas, Erzählungen und Essays 459 13.3 Kritisches Spanienbild und Rückkehrskepsis: La Llanura, La voz y la sangre und weitere Texte 467 14. Mis/.ellen 475 14.1 Zwischen projektivem Blick und Respekt vor dem Anderen: Mexiko bei verschiedenen Autoren 475 14.1.1 Juan Rejano: La esfinge mestiza 475 14.1.2 Moreno Villa: Cornucopia de México 481 14.1.3 Luis Cernuda: Variaciones sobre tema mexicano 486 14.1.4 José María Camps 489 14.1.4.1 El gran tianguis: Ein Drama über die Eroberung Tenochtitlans 489 14.1.4.2 Columbus, 1916: Ficción dramática en tres actos sobre la Revolución Mexicana 493

10 14.1.5 Pedro Salinas: La poesía de Rubén Darío. Ensayos sobre Ensayos sobre el tema y los temas del poeta und Defensa del lenguaje 496 14.1.6 Juan José Domenchina 499 14.1.7 Rafael Alberti 501 14.1.8 José Bergamín 506 14.1.9 Eintracht in Zwietracht: Américo Castro und Claudio Sánchez-Albornoz 508 14.1.9.1 Der Streit der "Titanen": Lateinamerika als Bindeglied 508 14.1.9.2 Américo Castro 509 14.1.9.3 Claudio Sánchez-Albornoz 515 14.1.10 Leopoldo Castedo: Eine echte "Neuentdeckung" Lateinamerikas 517 XI. Synopse der thematischen Hauptfacetten des Lateinamerikabildes in den Cuadernos Hispanoamericanos und in der Exilliteratur

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XII. "Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten ...": Lateinamerikabild und Exilsituation. Abschließende Überlegungen

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XIII. Bibliographie

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I. Einleitung Los más en el mundo son tintoreros y dan el color que les está bien al negocio, a la hazaña, a la empressa y al sucesso. Baltasar Gracián: El Criticón (1990: 652) (...) acudí a la menos perspicaz de las pasiones: el patriotismo. Jorge Luis Borges: Ficciones (1978: 134) Gálvez debía estar, como él, dando vueltas por Santa María, ajeno, forastero, desconcertado por el lenguaje y las costumbres, con sus penas magnificadas por el destierro. Imaginó el encuentro, el diálogo, las alusiones a la patria lejana, el superfluo y consolador intercambio de recuerdos, el espontáneo desdén por los bárbaros. Juan Carlos Onetti: El astillero (1983: 216f.) 1. Die Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erfolgt in einer Zeit, in der die meisten Europäer, viele Politiker zumal, die Ursachen des Exils in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts vergessen - oder verdrängt - zu haben scheinen. Während auch in diesem Lande wieder Menschen, unter ihnen auch zahlreiche politische Flüchtlinge, rassistischer Gewalt zum Opfer fallen, wird die "Festung Europa", eine Zeitlang nur ein metaphorisches Menetekel warnender Minderheiten, allmählich bittere Realität. Gleichzeitig kommt es zu degoutanten Diskussionen über die Frage, ob Walter Benjamin, eines der prominentesten Opfer des deutschen Faschismus, ein Denkmal verdiene - und wieviel es denn kosten dürfe. Benjamin hatte sich 1940, auf der Flucht vor den faschistischen Schergen, just auf der Grenze zu jenem Land das Leben genommen, das hier im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Zur "Gnade der späten Geburt", mit der sich hierzulande etliche ein sauberes Gewissen konstruieren möchten, scheint eine "Gnade der geographischen Geburt" zu kommen, die es augenscheinlich als Verdienst empfindet, einen (west-) europäischen Paß zu besitzen. Offenkundig der Vergessenheit anheimgefallen sind dagegen traumatische Begebenheiten der dreißiger Jahre, von denen die Literatur zum Exil auf unzähligen

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Seiten berichtet. Eines der erschütterndsten Dramen jener Jahre, an die ich hier stellvertretend für viele andere erinnern möchte, fand im Mai 1939 auf dem Hapag Lloyd-Dampfer "St. Louis" statt. Das Schiff, berichtet Hans-Albert Walter in seiner Geschichte der deutschen Exilliteratur (1984: 325ff.), war mit 937 jüdischen Emigranten an Bord Mitte Mai aus Hamburg mit Zielhafen Havanna ausgelaufen. Die meisten Passagiere waren bereits im Besitz von US-Quotennummern, hatten also eine Anwartschaft auf die Einwanderung in die USA und wollten in Kuba lediglich auf das Eintreffen der Visa warten. Im Hafen der Karibikmetropole angelangt angelangt, forderte das Batista-Regime von den Flüchtlingen indessen astronomische Kopfgelder, die fast niemand bezahlen konnte. Nach unwürdigen, letztlich ergebnislosen Verhandlungen sah sich der Kapitän gezwungen, die Rückreise nach Europa anzutreten. Erst "in wirklich letzter Stunde", so der Autor, erhielten die traumatisierten Flüchtlinge, den sicheren Tod bereits vor Augen, Asyl in europäischen Ländern. Unzähligen spanischen Flüchtlingen, die im französischen Transit auf Ausreisepapiere warteten, oft unter unwürdigsten Bedingungen, blieben ähnlich traumatische Erfahrungen nicht erspart. Wenn diese authentischen Erfahrungen im politischen Klima der Gegenwart kaum eine Rolle spielen, dann ist die evokative Kraft literarischer Beispiele vermutlich auch nicht größer. Vor dem Hintergrund aktueller Bestrebungen, die "Festung Europa" durch präventive Maßnahmen bereits auf die nordafrikanischen Küsten vorzuverlagern, sei dennoch an eine Episode aus Cervantes' Don Quijote erinnert: Heute wären die christlichen boat people, die in der partiell autobiographischen! - Erzählung von Zoraida und ihrem christlichen "Retter" aus der arabischen Gefangenschaft fliehen, vermutlich nicht, wie im Roman, von französischen Piraten überfallen, sondern von marokkanischen Küstenpatrouillen gleich wieder zurückverfrachtet worden ... Wenn nun in der vorliegenden Untersuchung das Lateinamerikabild u.a. der spanischen Exilschriftsteller kritisch beleuchtet wird, teilweise mit polemischer Schärfe, dann darf der oben skizzierte Kontext, so meine Überzeugung, doch nie aus dem Blickfeld geraten. Denn niemand, der die Aporien des Exils nicht persönlich erfahren hat, ist berufen, den Wahrheitsgehalt des folgenden Satzes von Hannah Arendt (1976: 74) zu bezweifeln: "Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach niemals sein darf: er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte." 2. Als Augusto, der Protagonist von Miguel de Unamunos Roman Niebla seinem Schöpfer in Salamanca einen Besuch abstattet, hält er (1986: 212) ihm u.a. vor: "No sea usted tan español, don Miguel." Dessen Antwort läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

13 "Y eso más, mentecato! Pues sí, soy español! Español de nacimiento, de educación, de cuerpo, de espíritu, de lengua y hasta de profesión y oficio; español sobre todo y ante todo, y el españolismo es mi religión, y el cielo en que quiero creer es una España celestial y eterna, y mi Dios, un Dios español, el de Nuestro Señor Don Quijote, un Dios que piensa en español y en español dijo: 'Sea la luz!', y su verbo fue verbo español..." Die Wirkung des verbalen Katarakts fällt gleichwohl recht bescheiden aus: "Bien, ¿y qué? - me interrumpió, volviéndome a la realidad." Wir wollen hier nicht diskutieren, wie hoch der Ironiegehalt in dieser Passage des Salmantiner Meisterinterpreten der spanischen intrahistoria veranschlagt werden muß. Der Vergleich zum V. Centenario des Jahres 1992, als die Enkel und Urenkel des berühmten Dichterphilosophen den fünfhundertsten Jahrestag der "Entdeckung" Amerikas festlich zelebrierten, drängt sich freilich auf. Denn nachdem der historische Weihrauch des imposanten Veranstaltungsmarathons verflogen war, sahen sich auch die Organisatoren des milliardenschweren Programms wieder mit der Realität konfrontiert. Und die war zwar bei weitem nicht mehr die gleiche wie die des Jahres 1898, als ein illustrer Lateinamerikaner, Rubén Darío, die Halbinsel bereiste wenige Monate nach dem kolonialen Desastre, das als zeitverschobenes Echo der Kanonen von Ayacucho (1824) noch allenthalben hörbar war. Dennoch schien es vielen Spaniern knapp hundert Jahre später nicht eben leicht zu fallen, die ganze Tragweite des folgenden Satzes aus Daríos España Contemporánea (1987: 290) anzuerkennen: "La situación en que se encuentra la antigua Metrópoli con las que fueron en un tiempo sus colonias no puede ser más precaria. La caída fue colosal." Die wortgewaltige Vergangenheitsrhetorik, mit der Politiker und Intellektuelle, teilweise unabhängig von ihrer politischen Couleur, die "gloiTeiche" Vergangenheit des Landes beschworen (Rehrmann 1989: 123ff.), erinnerte in zahlreichen Facetten an den "lyrischen" (Pike) Schwanengesang des IV. Centenario, den die damaligen Wortführer des Panhispanismus intonierten - ohne freilich zu wissen, daß es ein solcher war. Somit bestätigte sich die Prognose des Schriftstellers Manuel Vázquez Montalbán (ebd.: 127), die spanische Regierung intendiere zwar ein "kritisches Epos", aber eben doch ein Epos. Die Auffassung Hans Ulrich Gumbrechts (1990: 924), "daß die nationale Identität Spaniens heute, gegen Ende des XX. Jahrhunderts, weitgehend nivelliert" sei, läßt sich folglich, zumindest was die hier diskutierte Thematik betrifft, nicht bestätigen. Neben den ökonomischen und politischen Interessen - Spanien als europäischer "Brückenkopf' für Lateinamerika - scheint das 1992er "Epos" eher ein Beleg für die These Jüttners (1986:81) zu sein, der über die kulturelle Standortsuche im Spanien der achtziger Jahre schrieb: "Mentalitäten sind langlebig, in der Tiefe wirksam. Derartige Kollektivvorstellungen, Mythen auch genannt, entstehen unablässig durch Institutionen, Medien und Literatur." Jedenfalls deuten "un revisionismo semántico" bzw. "una operación de maquillaje re-

14 trospectivo", wie etwa García Cárcel (1992: 291) die Hauptintentionen des V. Centenario bewertete, auf die Kontinuität zahlreicher Mythen des historischen Panhispanismus hin. Und doch markiert das Ereignis eine wichtige Zäsur: Die innerspanischen Kontroversen um das historische Datum, und um solche handelte es sich, offenbarten nicht nur bedeutsame Nuancen zwischen orthodoxen panhispanistischen hardlinerPositionen und eher moderat - "modernen" Interpretationen (Rehrmann 1989: 123ff.) des Spanien-Lateinamerika-Verhältnisses; zum ersten Mal in der spanischen Geschichte formulierten überdies zahlreiche Intellektuelle, unter ihnen namhafte Schriftsteller, Journalisten, politische Aktivisten und Kirchenvertreter ihren - oft radikalen - Dissenz zur offiziösen Lesart der kolonialen Geschichte und ihren Folgen (ebd.). Der "panhispanistische Grundkonsens" (Pike), von dem in der vorliegenden Untersuchung viel die Rede ist, hat damit definitiv aufgehört zu existieren, wenngleich sich diesseits der Pyrenäen noch immer zahlreiche Autoren, aus Unkenntnis oder wider besseres Wissen, augenscheinlich weigern, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen (Rehrmann 1992: 6f.). Die vielen dissonanten Stimmen, die sich innerhalb Spaniens gegen den Chor der Vergangenheitsrhetoriker zu Wort gemeldet haben, waren dennoch unüberhörbar. In den peninsularen Debatten über den V. Centenario fiel indes auf, daß das spanische Exil in Lateinamerika, vor allem seine mögliche Bedeutung für ein verändertes Lateinamerikabild, nur eine marginale Rolle spielte. Zudem meldeten sich nur wenige von denen, die den Exodus von 1939 überlebt hatten, öffentlich zu Wort. Taten sie es doch, etwa Ayala oder Rial, offerierten sie zumeist kulturhistorische Ansichten, die den panhispanistischen Grundkonsens, wie er weiland bestand, eher bestätigten als negierten. Sollten sich daher künftige Untersuchungen mit der Frage befassen, ob und inwieweit die neuen Lateinamerikabilder, wie sie im Kontext der V. Centenario-Debatten zutage traten, auf die Autoren des Exils zurückzuführen sind, dann dürfte das Ergebnis, so meine Hypothese, ziemlich mager ausfallen. Wie es scheint, sind die Wurzeln der oben zitierten Dissonanzen überwiegend auf der Halbinsel selbst zu suchen, vor allem in der breitgefächerten Dissidentenkultur des Frankismus, wie sie sich teilweise auch auf den Seiten der hier untersuchten Cuadernos Hispanoamericanos artikulierte. Die Gründe für diesen möglichen Befund sind sicher überaus vielschichtig. Neben - einem ebenso vielschichtigen - "Desinteresse" an der gesamten Exilthematik, das von zahlreichen Autoren beklagt wird, spielt das Lateinamerikabild des Exils, wie es sich in der vorliegenden Untersuchung präsentiert, vermutlich eine zentrale - überwiegend negative - Rolle. Denn deren wichtigstes Ergebnis besteht zweifellos in der einigermaßen überraschenden Tatsache, daß der Gehalt spanienzentristischer Traditionsklischees, der sich in den Cuadernos Hispanoamericanos

15 (CH), dem Flaggschiff des frankistischen Panhispanismus manifestiert, gegen Ende des Untersuchungszeitraums deutlich geringer ausfällt als im Werk der meisten Exilautoren. Mehr noch: Läßt sich auf den Seiten der CH ein in Teilen geradezu spektakulärer Wandel konstatieren, so steht diesem ein Repertoire teilweise betont orthodoxer Lateinamerikabilder gegenüber, die sich hier und da sogar verfestigt haben und nur vereinzelt das erkennen lassen, was zahlreiche Autoren generell als "fundamentalen Wandel" zu sehen vermeinten. Das häufig beschriebene Bedürfnis spanischer Intellektueller, "Erfahrungen der Unterlegenheit gegenüber anderen Nationen, welche die politischen Ereignisse aufdrängten, durch Rückgriff auf die Glorie vergangener Kultur zu kompensieren", das nach Ansicht Hans Ulrich Gumbrechts (1983: 360f.) seit Menendez-Pidals geschichtsphilosophischer Spekulation praktisch obsolet geworden sei - hier scheint es erneut fröhliche Urständ zu feiern. Mit seinem Einleitungssatz zum Kapitel über die spanische Literatur von 1939 bis 1987 hat derselbe Autor (1990: 919) in seiner Geschichte der spanischen Literatur im übrigen (un-)zweideutig zum Ausdruck gebracht, wie der Exodus des Jahres 1939 unter der hier relevanten Fragestellung überwiegend zu bewerten ist: "Das Bürgerkriegsende führte zur räumlichen (Herv. v.m., N.R.) Trennung zwischen den zwei Gruppen der überlebenden spanischen Intellektuellen." Daß die räumliche Trennung in vielen Fällen nicht den Abschied von zahlreichen Stereotypen nach sich zog, die sich zuvor, trotz aller Unterschiede in Einzelfragen, unter einem panhispanistischen Generalnenner zusammenfassen ließen - diese Tatsache ist freilich nicht monokausal zu erklären. Dem versucht die folgende Struktur der Untersuchung Rechnung zu tragen. 3. Im folgenden Kapitel werden zunächst Forschungsstand, Desiderate, eigene Forschungsziele und methodische Aspekte dargestellt. Kapitel IV versucht im wesentlichen, den (kultur-)historischen und theoretischen Kontext abzustecken, innerhalb dessen das Lateinamerikabild der untersuchten Autoren zu bewerten ist. Neben theoretischen Erörterungen der Problemfelder "kulturelle Identität" und "Ethnozentrismus" wird dort der Versuch unternommen, die komplexe historische und kulturelle Realität des Begriffs "Lateinamerika" auf der Basis neuerer wissenschaftlicher Literatur zu sondieren, um dieses eigene "Lateinamerikabild" mit demjenigen des untersuchten Textkorpus in Beziehung zu setzen. In den Kapiteln V und VI werden die wichtigsten Forschungsergebnisse der Globalstudien zum Panhispanismus und dem daraus resultierenden Lateinamerikabild bis 1939 zusammengefaßt und um zahlreiche theoretische Aspekte aus der einschlägigen Roman- und Essayliteratur und aus verstreuten Aufsätzen ergänzt. Da die Thematik hierzulande bislang kaum Gegenstand von Veröffentlichungen

16 war und die thematischen Bezüge allenthalben bestehen, habe ich mich zu einer relativ detaillierten Darstellung des Zeitraums von der lateinamerikanischen Unabhängigkeit bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts entschlossen. Kapitel VII faßt die wesentlichen politischen, institutionellen und ideologischen Veränderungen auf der Halbinsel zusammen, die für das Lateinamerikabild des Frankismus von zentraler Bedeutung waren. In Kapitel VIII werden die Ergebnisse präsentiert, die sich aus der Analyse der Cuadernos Hispanoamericanos ergeben haben. Die thematische Gliederung folgt dabei im wesentlichen den Texterfassungskriterien, die im Methodenteil vorgestellt werden. Im Mittelpunkt des Kontextkapitels IX steht das spanische Exil in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko. Wie das peninsulare Lateinamerikabild u.a. von den Bedingungen des Frankismus abhängt, so liegt auf der Hand, daß auch die Exilsituation die Perzeption des Fremden stark tangierte. Kapitel X enthält, nach Autoren und bestimmten Texterfassungsrastern geordnet, die Analyseergebnisse der Exilliteratur. Gemäß der Forschungsziele, wie sie in Kapitel III erläutert werden, beansprucht die Untersuchung zwar keine Vollständigkeit, nähert sich dieser, zumindest im Hinblick auf die narrativen und essayistischen Komponenten des untersuchten Textkorpus, aber sicherlich an. Im Vergleich zur dominanten Präsenz der Prosaautoren spielen die Lyriker nur eine marginale Rolle. Es hat den Anschein, daß sich diese, wohl auch gattungsbedingt, wesentlich weniger zu der hier untersuchten Thematik geäußert haben als andere. Darüber hinaus war die Beschaffung bibliographisch erfaßter Werke in zahlreichen Fällen nicht möglich. Auch Forschungsreisen nach Spanien und Lateinamerika konnten diese Lücken nur sehr eingeschränkt schließen. Der kulturhistoriographische Annex beschränkt sich im wesentlichen auf den berühmten "Historikerstreit" zwischen Américo Castro und Claudio Sánchez Albornoz, den wohl bekanntesten Exilvertretern ihres Fachs. Der abschließende Blick auf das Werk von Castedo erschien sinnvoll, weil er offensichtlich zu jener Minderheit aller spanischen Intellektuellen des Exils gehört, deren Lateinamerikabild tatsächlich einen fundamentalen Wandel erfahren hat. Nach der folgenden Synopse, die die Resultate der thematischen Hauptkategorien bilanziert, werden die zentralen Ergebnisse auf der Basis theoretischer Konzepte und Vergleichsstudien diskutiert. Diese fallen zwar, wie angedeutet, ausgesprochen nüchtern aus. Im Sinne der eingangs gemachten Bemerkungen über die Aporien des Exils sollte gleichwohl nicht vergessen werden, unter welchen Bedingungen die untersuchten Texte geschrieben wurden: "Es macht den erheblichsten Unterschied", gab bereits Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft (1971: 101) zu bedenken, "ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so daß er in ihnen sein Schicksal, seine Not und auch sein bestes Glück hat, oder aber 'unpersönlich':

17 nämlich sie nur mit den Füllhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht." Mein Dank gilt schließlich allen, die das Zustandekommen der Arbeit gefördert haben. Ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Martin Franzbach und Prof. Dr. Dietrich Briesemeister, die durch kritische Hinweise, Gutachten und "moralische Unterstützung" eine unschätzbare Hilfe waren. Mein Dank gebührt ferner den Verantwortlichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Gesamthochschule Kassel, durch die ich in den Genuß finanzieller Hilfen kam. In meinen besonderen Dank einschließen möchte ich darüber hinaus zahlreiche Mitarbeiter des Iberoamerikanischen Instituts in Berlin, der Bibliothek der Gesamthochschule Kassel und der Biblioteca Nacional in Mexiko, die mir beim Recherchieren der Literatur behilflich waren und mich mit der oft meterweise eintreffenden Fernleihliteratur versorgten. Ein herzliches Dankeschön verdienen schließlich Silvana Lammers und Irmgard Stock für die Niederschrift der Manuskripte und meine unermüdliche "Hiwi" Karin Fischer, die vom Bibliographieren über Exzerpieren bis zum Formatieren all round-Talent bewies. Athinäund Stephanie, meiner Frau und Tochter, denen es oft "nach einer besseren leichteren südlicheren sonnenhafteren Welt" (Nietzsche) gelüstete, aber dennoch viel Geduld und Rücksicht zeigten, gilt mein persönlichster Dank: Zaq e u x a p i a t © TCOAA).

II. Zur begrifflichen Definition Im Unterschied zu den meisten gesamteuropäischen Lateinamerikabildern, wie sie etwa während der Aufklärung en vogue waren (Gerbi 1960), oder wie sie sich in den Texten von Autoren finden (Hielscher 1992), die in den dreißiger Jahren aus Gesamteuropa vor dem Faschismus flüchteten, muß man im Falle der spanischen Flüchtlinge des Exodus von 1939 von einer markanten Besonderheit ausgehen: In ihrem ideologischen "Reisegepäck" befanden sich grosso modo nicht nur die üblichen Exotismusversionen europäischer Lateinamerikabesucher; sie nahmen zugleich einen mehr oder weniger fest geschnürten "Rucksack" historischer Vorurteile mit, die dem komplexen Ideengebäude der Hispanidad entstammten, dessen - fragile - Fundamente mehr als hundert Jahre zuvor gelegt worden waren 1 . Wenn daher im folgenden von Lateinamerikabildern (auf der Halbinsel und im Exil) die Rede ist, dann müssen diese im Zusammenhang mit kulturhistorischen Hypothesen gesehen werden, die spätestens seit 1824, dem Datum des eigentlichen kolonialen rien ne va plus, als "Hispanidad", "hispanismo" oder "panhispanismo" eine steile terminologische Karriere erlebten. Es erscheint daher sinnvoll, den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen die Lateinamerikabilder zumeist angesiedelt sind, zunächst in groben Zügen abzustecken. Eine ausführliche, wenngleich höchst fragwürdige Definition des Begriffes "Hispanidad" (womit wir bereits mitten im Thema wären!) findet sich in der Gran Enciclopedia RIALP. Dort (1984: 842f.) heißt es u.a.: Der Begriff Hispanidad sei von Monsignore Zacarías Vizcarra angeregt worden, der zwischen hispanidad mit Kleinbuchstaben und Hispanidad mit Großbuchstaben unterschieden habe. Der zuletzt genannte Begriff umfasse für ihn - in seiner ethischen Bedeutung - die Gesamtheit von Eigenschaften, durch die sich die hispanische Kultur von allen anderen Nationen der Welt unterscheide. In seiner geographischen Bedeutung umfasse er die Gesamtheit aller Völker hispanischer Kultur und Herkunft, verstreut auf alle fünf Kontinente. Die Hispanidad stelle keine rassische Einheit dar, nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Der eigentliche Charakter der Hispanidad, das verbin-

1

Einen durchaus ähnlichen Befund konstatiert übrigens Petra Schümm (1990: 179) über die "Vor-Urteile" von Lateinamerikanern im spanischen Exil:"Bereits vor dem historischen Exil gab es bei den Autoren ein Wissen vom Exil. [...] Dieses Vorwissen bedingt, daß die Emigration von einer ganz bestimmten Erwartung ausging. Es leitete die Wahrnehmung der Fremde, in der man etwas Vertrautes wiederzufinden hoffte."

19 dende Moment in ihr, bestehe vor allem in einem gemeinsamen Lebenssinn. Es sei jedoch ratsam, zwischen der Hispanidad als Utopie und der Hispanidad als Unternehmung zu unterscheiden. Heutzutage sei die Hispanidad als Utopie fast ohne Bedeutung, während die Hispanidad als Unternehmung besonders nachhaltig in Erscheinung trete. Die Sprache sei dabei stets eine der wichtigsten Verbindungen gewesen. Im Namen dieser hispanischen Unternehmung auf kultureller Ebene stünden niemandem Monopole noch Ausschließlichkeitsansprüche in bezug auf die Sprache zu, denn einer der größten Schätze bestehe in der kulturellen Vielfalt innerhalb der sprachlichen Einheit. Das kulturelle Verständnis laufe jedoch Gefahr, zu bloßem Papier zu werden, wenn ihm eine materielle Grundlage fehle. Aus diesem Grunde hätten die iberoamerikanischen Länder erkannt, daß sie nun reale und effektive Wege beschreiten müßten (u.a. in Form politisch-ökonomischer Kooperation, N.R.). Ihre Aufgabe - die Hispanidad der Zukunft - bestehe genau darin: in der Benennung neuer Wege, die einen Stabilisierungsfaktor in der Welt ausmachten. Über diese allgemeine und bereits recht "moderne" Definition des Begriffs hinaus rekurriert die Enciclopedia auf den historischen Begründungszusammenhang, insbesondere aus Gründen der Abgrenzung gegenüber anderen Ländern: Seit dem XIX. Jahrhundert sei die Geschichte der hispanischen Völker von anderen Ländern bestimmt worden. Dort liege der Grund für ihre Krisen und ihre vermeintliche Dekadenz; dort liege zugleich der Grund, daß fruchtbare Völker, was ihre geistige Schöpfkraft betreffe, in ihren materiellen Leistungen systematisch ruiniert würden; auch aus diesem Grund lasse sich von einem europäischen oder nordamerikanischen Imperialismus gegenüber Iberoamerika sprechen. Ein Teil dieses Definitionsversuchs besteht schließlich aus einer Abgrenzung gegenüber anderen Konzepten, die, so der Autor, eine Gefahr für das HispanidadKonzept darstellten. Er zählt im einzelnen folgende "Gefahren" auf: - nicht die unbedeutendste sieht er in jenen Teilen der spanischen Gesellschaft, die der hispanischen Unternehmung gleichgültig gesonnen seien; - die indigenistische Bewegung in Iberoamerika, die bestrebt sei, die Schaffung der iberoamerikanischen Nationalitäten und ihre Zukunft ausschließlich auf autochthoner Basis zu realisieren; - der tiefgreifende ideologische Kampf in Iberoamerika, wo marxistische Strömungen bemüht seien, die dortigen Völker unter einem anderen als dem hispanischen Signum zu organisieren; - der Panamerikanismus, der je nach Epoche mehr oder weniger von angelsächsischen Doktrinen geprägt sei, die einmal die Selbstbestimmung, ein anderes Mal die Integration oder die Unterwerfung gepriesen hätten; - schließlich das Konzept der Latinidad, welches das hispanische Fundament der Geschichte und Zukunft tiefgreifend unterminiere.

20 Die Enciclopedia beschließt das thematische Resümee mit einem emphatischen Blick in die Zukunft: Auf jeden Fall sei die Hispanidad in Bewegung, und niemand könne sie aufhalten. Alles hänge vom Verhalten jener ab, die sie nicht als wehmütige Erinnerung, sondern als große Unternehmung einer gerechteren und christlichen Zukunft begriffen. Bedenkt man, daß diese Ausgabe der Gran Enciclopedia von 1984 datiert, dann bieten diese Passagen bereits aufschlußreiches Interpretationsmaterial über den Charakter des spanischen Lateinamerikabildes, wie es aus einer der peninsularen Perspektiven gesehen wird. Dabei macht insbesondere die Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Konzepten deutlich, was Hispanidad aus spanischer Sicht nicht ist und wo zukünftige "Gefahren" lauern. Wesentlich präziser und unprätentiöser nimmt sich demgegenüber die Definition Frederick Pikes aus, dessen gründliche Untersuchung zum Thema (von 1898 bis 1936) einen unverzichtbaren Bezugspunkt darstellt. Pike (1971: lf.) stellt zunächst fest, daß sich die Vertreter des spanischen Panhispanismus (er selbst wählt die Bezeichnung hispanismo) als hispanoamericanistas bezeichneten, während deren Anhänger in Lateinamerika (bei Pike steht in der Regel die nicht unproblematische Bezeichnung "Spanish America") den Terminus hispanistas den Vorzug gäben. Beide eine jedoch die unverbrüchliche Überzeugung von der Existenz einer transatlantischen hispanischen (bei ihm in Großbuchstaben: Hispanic) Familie, Gemeinschaft oder raza. Hispanismo beruhe auf der Überzeugung, daß die Spanier im Laufe der Geschichte einen bestimmten Lebensstil und eine Kultur entwickelt hätten, ein Bündel von Eigenschaften, Traditionen und Wertmaßstäben, das sie von allen anderen Völkern unterscheide. Hispanismo beruhe weiterhin auf der Annahme, daß die Spanier, indem sie Amerika "entdeckt" und kolonisiert hätten, ihren Lebensstil, ihre Kultur, ihre Eigenschaften, Traditionen und Werte in die Neue Welt transplantiert und diese in der Folge auf die dortigen Ureinwohner, auf die von ihnen importierten Afrikaner sowie auf die Mestizen oder gemischten Rassen, die auf sie zurückgingen, übertragen hätten. Nach Ansicht der hispanoamericanistas seien Spanier (Peninsulaner) und Lateinamerikaner (Spanish Americans bei Pike) Mitglieder derselben Rasse, die mehr durch gemeinsame Kultur, historische Erfahrungen, Traditionen und Sprache als durch biologische oder ethnische Faktoren bestehe. Die hispanoamericanistas seien weiterhin davon überzeugt, daß die Lateinamerikaner nie zu einem umfassenden Verständnis ihrer selbst gelangen und die Fähigkeiten ihrer Natur solange nicht vollständig entwickeln könnten, wie sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf Spanien richteten und ihre Anstrengungen und Bestrebungen nicht mit denen der Peninsulaner koordinierten. Aus diesen Grundannahmen, so Pike weiter, leiteten die hispanoamericanistas ihr Recht ab, eine Art geistiger Hegemonie über die Exkolonien auszuüben. Denn

21 die Protagonisten der peninsularen hispanismo-ldee

hegten die Befürchtung, daß

die Lateinamerikaner durch die Nachahmung fremder Kulturen, besonders USamerikanischer und französischer Provenienz, die genuinen und authentischen Werte der spanischen Welt und ihrer eigenen Natur nachhaltig schwächten. Sie beanspruchten daher eine Art Vormundschaft Spaniens, das seinen grundlegenden Werten ("Spanishness") treu geblieben sei. Solange die Lateinamerikaner nicht bereit seien, den geistigen Führungsanspruch Spaniens zu akzeptieren, liefen sie angeblich Gefahr, die einzige Kultur, die mit ihren Eigenschaften grundlegend harmoniere, vollends zu verlieren. Schließlich weist Pike darauf hin, daß, was den engeren terminologischen Bereich betrifft, insbesondere die spanischen Falangisten dem Terminus Hispanidad

gegenüber hispanismo

deswegen den Vorzug gegeben

hätten, da letzterer weniger religiöse Konnotationen besitze. Obgleich ein überzogener sprachlicher Sophismus kaum zur Klärung der hier diskutierten Fragen beitragen dürfte - schließlich geht es um "esencias" und weniger um "apariencias"

halte ich den Begriff Panhispanismus, wie er etwa von

Dietrich Briesemeister (1986: 23) benutzt wird, aus zwei Gründen für geeigneter: Zum einen impliziert er sowohl konservative als auch eher liberale Varianten der Kulturbeziehungen und Perzeptionen, wie sie in Geschichte und Gegenwart zu konstatieren sind; zum anderen verweist das Bestimmungswort "pan" deutlicher auf den transnationalen Charakter des Konzeptes, das - neben seinen national-historischen Implikationen - als eine Art "friedlicher Imperialismus" in den Beziehungen zu Lateinamerika seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat. Der Hauptgrund ist freilich der Tatsache geschuldet, daß der Begriff Panhispanismus deutlicher auf gewichtige Gemeinsamkeiten rekurriert, die sich bei den verschiedenen Hispanidad-

oder hispanismo-Varianten

ermitteln lassen -

trotz

sicher ebenso gewichtiger Unterschiede in zahlreichen Einzelfragen. Wie insbesondere aus Kapitel V der vorliegenden Untersuchung hervorgeht, haben verschiedene Autoren für die Zeit bis zum Bürgerkrieg eine Art panhispanistischen "Grundkonsens" (Pike) bei eher liberalen und konservativen Strömungen auf der Halbinsel ermittelt, der sich mutatis mutandis

selbst auf Sozialisten und Anarchisten übertra-

gen läßt, wie u.a. der Kuba-Krieg augenfällig illustriert und einige Autoren gar von einer "Hispanidad roja" reden läßt. Der gemeinsame Nenner nahezu aller politischen Strömungen besteht dabei in der mehr oder weniger explizit geäußerten Überzeugung, daß den spanischen Kulturtraditionen in den Exkolonien

(min-

destens) prioritäre Bedeutung zukomme (strittig sind die einzelnen Elemente), diese gegenüber allen sonstigen einen "superioren" Charakter besäßen (strittig ist die "Toleranzgrenze" gegenüber "externen" bzw. "inferioren" Einflüssen) und daß Spanien (was man auch immer darunter versteht) einen Anspruch auf eine Art guía intelectual

oder cultural geltend machen könne.

22 Mit Beginn der frankistischen Kreuzzugsrhetorik veränderte sich in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren zwar nunmehr das "Mischungsverhältnis" des panhispanistischen Ideologems - und dies zum Teil erheblich nicht jedoch die zitierten Grundprämissen. Eine nachhaltige Hausse erfuhren in der Anfangsphase des Frankismus vor allem die traditionellen Panhispanismuswerte Katholizismus, Imperium, Einheit und Rasse, die jedoch, je nach Absender oder Adressat, unterschiedlich gewichtet wurden. Was insbesondere den Imperium- und Rasse-Begriff betrifft, so diente die sich um sie rankende Rhetorik zwar primär internen Propagandazwecken, wie mehrere Autoren betonen; ersterer nahm jedoch, wenngleich nur temporär und in statu nascendi, auch praktisch-imperialistische Dimensionen an (vor allem in der Symbiose mit dem deutschen Faschismus); letzterer büßte zudem seine primär kulturellen Konnotationen gelegentlich zugunsten biologisch-rassistischer Definitionen ein. Ein weiterer Unterschied zur Vorbürgerkriegszeit bestand in einer extrem katholizismuslastigen Reinterpretation der nationalen Geschichte, in der "liberale" Elemente überwiegend getilgt wurden. Lassen diese und andere Panhispanismuselemente, die der Frankismus eine Zeitlang kultivierte, eine differenzierte Terminologie - Hispanidad versus hispanismo - zunächst plausibel erscheinen, so spricht u.a. die in weiten Teilen des Exils fortbestehende Grundkonsensthese dagegen. Das zeigt sich etwa am Indigenismus-Thema, dem zahlreiche Exilautoren - traditionsgemäß! - reserviert bis aggressiv ablehnend gegenüberstehen. Das zeigt sich aber auch in der historischen Frage, wie etwa in der Beurteilung des spanischen Kolonialismus, der zum Teil arroganten Superioritätsattitüde, mit der das spanische Kulturmonopol von etlichen Exilschriftstellern verteidigt wird; und nicht zuletzt an dem von José Gaos geprägten "transterrado'-Begriff, der im Kern nichts anderes darstellt, als eine Variante der alten "prolongación"-These. Selbst in religiösen oder politischen Fragen stößt man gelegentlich auf geradezu frappierende Affinitäten, die insgesamt die - durchaus unpolemisch gemeinte - Frage nahelegen, warum diese Autoren Spanien überhaupt verlassen haben. Darüber hinaus macht die peninsulare Entwicklung des Lateinamerikabildes selbst, wie es sich vor allem in den Cuadernos Hispanoamericanos niederschlägt, die Verwendung des Hispanidad-Begriffs (von den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren abgesehen) recht problematisch. Denn die zum Teil - nachgerade spektakuläre Metamorphose, die sein ideologisches Mischungsverhältnis über die Jahrzehnte erlebte, ließ zwar die zitierten Grundprämissen weitgehend intakt, die aggressiven, pompös rhetorischen Töne der (Nach-) Bürgerkriegszeit verstummten jedoch sukzessive. An ihre Stelle trat nunmehr ein "modernisierter" Panhispanismus, der, so Briesemeister (1986: 23), bis in die Gegenwart eine schillernde ideologische Größe geblieben sei. Erst nach 1975, und wie es scheint, ohne direkten Einfluß des Exils, haben etliche spanische Intellektu-

23 elle (Rehrmann 1989: 123ff.) den bis dato gemeinsamen Nenner der verschiedenen Panhispanismusversionen verlassen. So läßt sich beispielsweise - von der Sprache als historisches fait accompli einmal abgesehen - bei dem Schriftsteller Rafael Sánchez Ferlosio, dem wohl schärfsten spanischen Kritiker des V. Centenario, schlechterdings nicht mehr von Panhispanismus sprechen, weil Ferlosio sowohl die historischen als auch die heutigen Prämissen, auf denen der Begriff traditionell fußte, für obsolet erachtet. Ansonsten behält er meines Erachtens seine Berechtigung: als Klammerbegriff für die kulturhistorischen Prätentionen einer angeblichen "Madre Patria", die mit dem zunehmend stärker vorgetragenen Anspruch ihrer vermeintlichen "Sprößlinge", auch die kulturelle Emancipación nach eigenem Gusto zu vollenden, offensichtlich noch immer erhebliche Probleme hat.

III. Stand der Forschung, Desiderate, eigene Forschungsziele und methodische Überlegungen 1. Zum Lateinamerikabild und zum Panhispanismus bis 1939 Die Panhispanismusthematik war in Deutschland bislang noch nicht Gegenstand breit angelegter, systematischer Forschung. Aus diesem Grunde und wegen der ständigen Bezüge auf diesen Zeitraum schien es ratsam, den Forschungsstand bis zum Beginn des eigentlichen Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit (1939) relativ ausführlich darzustellen. Durch eine Reihe von Globaluntersuchungen wurde der Zeitraum von 1824, dem Datum der lateinamerikanischen Unabhängigkeit, das gemeinhin als eigentliche Geburtsstunde des Panhispanismus gilt 1 , bis 1939, dem Jahr des definitiven Sieges des Frankismus, relativ gründlich untersucht. Die Kapitel V und VI der vorliegenden Untersuchung fußen daher zu einem wesentlichen Teil auf den Studien von Klaus Scherag: Die spanisch-amerikanische Literatur in der spanischen Kritik des 19. Jahrhunderts (1960), Donald F. Fogelquist: Españoles de América y americanos de España (1968), Mark I. van Aken: Pan-Hispanism: its origin and development to 1866 (1959), Frederick Pike: Hispanismo 1898-1936. Spanish conservatives and liberáis and their relations with Spanish America (1971), Carlos M. Rama: Historia de las relaciones culturales entre España y la América Latina. Siglo XIX (1982) sowie Eduardo González. Calleja und Fredes Limón Nevado: La Hispanidad como instrumento de combate: Raza e imperio en la prensa franquista durante la guerra civil española (1988). Während Scherag und Fogelquist hauptsächlich die literarischen Beziehungen, u.a. im Zusammenhang mit dem Modernismus-Disput untersuchen - ein, wie insbesondere Rama überzeugend nachweist, keineswegs nur marginales, sondern durchaus zentrales "battlefield" der kulturellen Beziehungen um die Jahrhundertwende - ist das Forschungsgebiet von Rama wesentlich breiter. Er untersuchte Zeitschriften, Zeitungen, Athenäen, Akademien (u.a. die Real Academia Española de la Lengua), lokale, nationale und internationale Vereinigungen sowie Verlage und Zusammenschlüsse von Intellektuellen. Auch die Arbeit von Pike beruht überwiegend auf der

I

Wenngleich die Vorläufer, wie u.a. van Aken (1959: 64ff.) nachgewiesen hat, auch ins 18. Jahrhundert zurückreichen.

25 Analyse von Büchern, Zeitschriften und - bei weitem nicht allen, wie er einräumt Zeitungen. Während Rama auch im engeren Sinne literarische Zeugnisse untersucht, grenzt Pike diesen Bereich bewußt aus - mangels fachlicher Kompetenz, wie er bemerkt. Insgesamt war Pike (ebenso wie van Aken) primär an den Zeugnissen der politischen Protagonisten des Panhispanismus in Spanien interessiert, mit eindeutigem Schwerpunkt auf Liberalen und Konservativen. Die nicht zuletzt auch aus heutiger Sicht interessanten Positionen der spanischen Linken (Anarchisten, Sozialisten und später Kommunisten) zu Lateinamerika waren dagegen noch nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen in besagtem Zeitraum 2 ; ebensowenig, wie Rama betont, die zahlreichen Athenäen, Kulturzentren, regionalen Gesellschaften, Universitäten und sonstigen Einrichtungen in Lateinamerika, die häufig als Dependancen ähnlicher Einrichtungen auf der Iberischen Halbinsel fungierten, wie beispielsweise die Academias. Ein Forschungsdesiderat stellen nach Rama u.a. auch die Aktivitäten lateinamerikanischer Intellektueller und Journalisten in Spanien dar, deren Beiträge über Spanien, insbesondere in der lateinamerikanischen Presse, für die Entstehung eines bestimmten lateinamerikanischen Spanienbildes von kaum zu unterschätzender Bedeutung gewesen seien 3 . Die recht kritische und umfassende Studie von Calleja/Nevado über den Zeitraum des Bürgerkrieges, die sich auf die frankistische Presse bezieht, deckt schließlich ein bis dato wichtiges Forschungsdesiderat ab und bietet eine Fülle wichtiger Informationen, die für den hier untersuchten Zeitraum von unmittelbarer Bedeutung sind. Die zitierten Globalstudien werden durch zahlreiche Aufsätze, themenrelevante Passagen aus sonstigen literaturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Studien sowie durch Originaltexte ergänzt, um damit ein möglichst differenziertes Bild der Panhispanismusthematik der Vorbürgerkriegszeit zu zeichnen, das als Bezugsgröße auch nach 1939 ständig präsent ist.

2. Globalstudien zur Panhispanismus- und Exilthematik von 1939-1975 Die einschlägigen Forschungsarbeiten, die - überwiegend aus der Feder spanischer Autoren - in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen sind, kommen in einigen Grundaussagen zu ähnlichen Ergebnissen. Zum einen betonen nahezu alle Autoren 2

Abgesehen von dem ausgesprochen kritischen Aufsatz von Carlos Serrano: "EL PSOE y la Guerra de Cuba" (1979) und der eher apologetischen Darstellung von Maria Teresa Noreña: La prensa obrera madrileña ante la crisis del 98 (1974). Beide Texte werden in Kapitel IV ausführlich zitiert.

3

Vgl. hierzu u.a. Rubén Darío: Expaña contemporánea,

Barcelona: Lumen (1987).

26 ein - peninsularerseits - nur relativ geringes wissenschaftliches Interesse an der gesamten Exilthematik. So schreibt Díaz in seiner Untersuchung über El pensamiento español ¡939-1973 (1974: 203), die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Diaspora von 1939 sei "un tema raramente tratado entre nosotros (...)" Wenige Jahre später beklagt Rubio in seinem umfangreichen Werk über La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (1977: 793) eine "gran ignorancia (bzw. "desinterés") que todavía - escribimos en 1976 - existe sobre este tema." Und noch ein gutes Jahrzehnt später kommt Gómez-Escalonilla in seiner - für spanische Verhältnisse ungewöhnlich kritischen - Analyse 4 der Diplomacia franquista y política cultural hacia Iberoamérica 1939-1953 zu dem Resultat (1988: 10), eine entsprechende "línea de trabajo" sei "prácticamente relegada por la investigación hasta el momento." Angesichts der gewaltigen politischen und kulturellen Dimensionen, die der Exodus von 1939 besaß, überrascht dieser Befund. Immerhin war bereits 1976 unter der Leitung von José Luis Abellán eine sechsbändige Studie über El exilio español de 19395 publiziert worden, in der - zumindest unter quantitativen Gesichtspunkten - die wichtigsten Daten über das gesamte, d.h. nicht nur lateinamerikanische Exil zusammengetragen wurden. Von etlichen Aufsätzen und Monographien zum Thema abgesehen 6 , beschränken sich die meisten der zitierten Untersuchungen allerdings überwiegend auf quantitative Aspekte (was aufgrund der Desiderate zunächst wohl auch erforderlich war) und beschäftigen sich, wenn überhaupt, nur am Rande mit dem hier im Mittelpunkt stehenden Untersuchungsthema. Dennoch - und hierin besteht ein weiterer "Grundkonsens" - enthalten sie zumeist eindeutige Aussagen über den hier relevanten Forschungsgegenstand. So bewertet Rubio (1977: 239) den "éxodo de cerebros hacia los países hispanoamericanos" als "impacto cultural más importante que les ha producido su antigua metrópoli desde que dejó de serlo"; oder (ebd.: 795): "(...) los trabajos de carácter histórico de los emigrados figuran seguramente entre lo más brillante de la producción intelectual de la España peregrina." Der zutiefst problematische, in zahlreichen Fällen unhaltbare Charakter solcher Aussagen resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sie entweder nicht belegt werden oder von Prämissen ausgehen, die selbst höchst fragwürdig sind. So halten etwa die Autoren der sechsbändigen Studie El exilio español de 1939 einerseits (1976: 2/196) den von José Gaos geprägten transterrado-Begriff für völlig unproblematisch: "El exilio en México ha tenido tal significación, y las condiciones del país son tan peculiares (sie), que el filósofo José

4

Sie wird im Teil V. ausführlich zitiert.

5

Auch dort heißt es (1976: 3/14): "Su finalidad, en todo caso, induciría a la reflexión sobre una parcela de la historia de la cultura española, todavía muy ignorada, y a la indagación de unos materiales hasta ahora casi inexploradas."

6

Diese werden zumeist an den entsprechenden Stellen der vorliegenden Untersuchung zitiert.

27 Gaos fue iluminado con la creación del concepto de transterrados en sustitución del doloroso 'desterrados'." Andererseits (ebd.: 3/185 ff.) leiten sie aus der Tatsache eines "rechazo de la política de la 'hispanidad'" als "política de imperialismo cultural practicado por las esferas oficiales españoles" umstandslos eine allgemeine panhispanistische Unbedenklichkeitsbescheinigung ab. Steht jedoch bereits dieser Analogieschluß auf tönernen Füßen, so ist die folgende Aussage (ebd.), die auf den transterrado-Begriff rekurriert, zwar weitgehend zutreffend, ihr Inhalt wird aber mitnichten problematisiert: "La unidad del mundo hispánico es una afirmación que admite pocas dudas sobre los pensadores exiliados de 1939; junto a ella también parece existir un relativo consenso sobre los valores que caracterizan esa unidad cultural." Mit anderen Worten: Da die Autoren bereits ipso facto von einer - spanisch dominierten (der indigene Anteil findet keine oder kaum Erwähnung) - Einheit ausgehen, reicht zumeist der Hinweis, die Exilintellektuellen lehnten die frankistische Hispanidad-Rhetorik ab, um sie von etwaigen panhispanistischen Anwandlungen freizusprechen. Daher nimmt es nicht wunder, wenn - wie in obigem Fall - selbst Exilautoren wie Salvador de Madariaga oder Américo Castro, deren Affinitäten zu einigen panhispanistischen Grundüberzeugungen geradezu notorisch sind, gewissermaßen zu Kronzeugen eines geläuterten Lateinamerikabildes avancieren. Aus den zitierten Aussagen geht somit klar hervor, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zumeist auf impliziten oder expliziten Prämissen beruht, die im höchsten Maße problematisch sind und eher die Fortexistenz des traditionellen, u.a. von Pike diagnostizierten panhispanistischen "Grundkonsens" suggerieren, als dessen Überwindung. Dabei handelt es sich bei den zitierten Untersuchungen, was die peninsulare Forschung betrifft, noch um vergleichsweise fortschrittliche Positionen. Denn in einigen Publikationen finden sich auch solche Positionen, die kaum eine Entwicklung zum Besseren, d.h. zur Anerkennung einer spezifischen lateinamerikanischen Realität, erkennen lassen und von den meisten Lateinamerikanern als offene Provokation empfunden werden dürften. In einer Schrift von Juan Saiz Barbera mit dem bezeichnenden Titel España y la idea de la Hispanidad. La lucha de las tres Españas (En el siglo XXI se levantará triunfante el nuevo mundo hispanoamericano), die u.a. vom Consejo Superior de Investigaciones Científicas (sie) herausgegeben wurde, steht gleich zu Beginn (1982: IX) die Exklamation: "¡España, madre de América!" Im weiteren Verlauf der "Untersuchung" lobt der Autor (ebd.: X) u.a. "la obra incomparable de España en el descubrimiento de América (nunca igualada por nación alguna de la tierra"); empört sich (ebd.: 65) über "los excesos de la democracia liberal y laica, como la que estamos padeciendo (...)" und schreibt u.a. (ebd.: 120) über Mexiko ("México es España") und das dortige Exil:

28 Nada ha podido arrancar los viejos vínculos vitales, ni la mala política de los últimos tiempos coloniales, ni el hervor de la independencia, ni los excesos de la revolución ... Al puño en alto de los que desembarcaron en Veracruz contestaban los vivas (clamorosos) a España. Es curioso hacer constar que a los niños rojos (sie) que arribaron a México se los disputaron las rancias familias católicas, para cuidarse de su educación. (...) Por la numerosa colonia española de México, bien organizada y de gran solvencia social y económica. Las mejores firmas comerciales son españolas. Y puede decirse que quien trabaja de veras en el campo y en la industria es emigrante. Ich wiederhole: M i t h e r a u s g e b e r des B u c h e s ist kein G e r i n g e r e r als d e r C S I C , und es datiert von 1982! Eine b e s o n d e r e Rolle in d e r p o s t f r a n k i s t i s c h e n F o r s c h u n g z u m P a n h i s p a n i s m u s spielt José Luis Abellán, unter d e s s e n F e d e r f ü h r u n g die zitierte s e c h s b ä n d i g e Studie erarbeitet w u r d e . A b e l l á n hatte bereits 1972 eine U n t e r s u c h u n g mit d e m Titel La idea de America:

Origen

y evolución

v e r ö f f e n t l i c h t 7 . Dort a r g u m e n t i e r t er z w a r

mitnichten so p l u m p wie der o b e n zitierte Autor; seine - h e g e l i a n i s c h e n -

Ge-

schichtsprämissen (1972: 38) m ü n d e n indessen in o f f e n e n E u r o z e n t r i s m u s : "(...) t e n g a m o s en c u e n t a q u e E u r o p a representa f r e n t e a A m é r i c a un e s t a d o a v a n z a d o en el devenir histórico." U n d so w e n i g , wie die H e g e i s c h e n A m e r i k a v i s i o n e n hinterfragt werden, so w e n i g stellt A b e l l á n die traditionelle Conquista-Apo\ogetik

in

Frage, w e n n er völlig u n d i f f e r e n z i e r t behauptet (ebd.: 45): "(...) el o b j e t o primordial de toda la e m p r e s a ibérica f u e el h o m b r e , y e s p e c i a l m e n t e , su a l m a . " D a h e r verwundert es nicht, w e n n es d e m A u t o r vor allem u m eine - w e n n auch v e r h a l t e n e historische E h r e n r e t t u n g d e r "colonización ibérica" g e g e n ü b e r d e m

angelsächsi-

schen Pendant geht - ein z w a r nicht völlig falsches, in ihrer Einseitigkeit j e d o c h ein deutlich a p o l o g e t i s c h e s A r g u m e n t a t i o n s m u s t e r , d e m auch andere, v e r m e i n t l i c h kritischere Autoren g e f o l g t sind. S o heißt es sehr ähnlich in EI laberinto

de la

hispa-

nidad, das zu d u r c h l e u c h t e n der sozialistische E u r o p a a b g e o r d n e t e u n d Ästhetikprofessor Xavier R u b e r t de V e n t o s sich (1987: 24) anschickte: Frente a la superioridad implícita en todas las conquistas clásicas y la pura instrumentalidad con que se plantea las modernas, la evangelización hispana se basa en el supuesto de la libertad e igualdad de los pueblos sometidos. La 'materia prima' de la evangelización no son los siervos sino las almas. In diesem Lichte betrachtet, so seine A r g u m e n t a t i o n , sei der G e n o z i d v o r w u r f , wie in e t w a T o d o r o v f o r m u l i e r t e , völlig unhaltbar. O b g l e i c h der A u t o r in Teilen d u r c h a u s e r w ä g e n s w e r t e G r ü n d e a n f ü h r t , die ein spezifisch s p a n i s c h e s Koloniali-

7

Zur Exilthematik hat Abellán 1967 überdies die Studie Filosofía española en América IV.16 1966 publiziert, die a u f g r u n d ihres philosophischen G e g e n s t a n d e s hier nicht berücksichtigt wird. Von beschrankter T h e m e n r e l e v a n z ist überdies das 1968 von demselben Autor herausgegebene Buch Vision de España en la generación del 9H. Antología de textos.

29 sierungsmuster plausibel erscheinen lassen, liegt die apologetische Absicht des Buches doch offen zutage, wenn er etwa den USA gleichsam Lektionen in "weicher Kolonisierung" (er meint das spanische "Vorbild") erteilt (ebd.: 171) oder den Lateinamerikanern gar die spanische Monarchie als probates politisches Exportmodell offeriert (ebd.: 164): En Iberoamérica, que ha compartido con España la falta de tradición y consolidación democráticas, la monarquía española sí puede representar un estímulo para buscar un principio o referente que, como ella, sea allí tradicional y abierto, inmanente a la realidad social y trascendente a la lucha política inmediata. Die vor allem von Abellán ausgegebene und mit scheinwissenschaftlichen Argumenten drapierte Losung einer angeblich unverbrüchlichen kulturellen Einheit von Spanien und Lateinamerika, die, wie die Zitate illustrieren, nicht nur nicht als primus inter pares-Beziehung begriffen wird, sondern auch die Bedeutung der indigenen Elemente zumeist herunterspielt oder vollends leugnet, findet auch - bereits im Titel - in der 1984 von Luis Marañón publizierten Schrift Cultura española y América hispana ein getreues Echo. In der bislang letzten - zweibändigen - Untersuchung, die Abellán (zusammen mit Andrés Monclús) über El pensamiento español contemporáneo y la idea de América 1989 herausgegeben hat (der bis dato zugleich letzten Globaluntersuchung zum Thema überhaupt), nehmen die zitierten Ambivalenzen besonders deutlich Gestalt an - nicht zuletzt deshalb, weil die beiden Bände (El pensamiento en España desde 1939 und El pensamiento en el exilio) zwar erstmals zahlreiche Einzelstudien präsentieren, deren Ergebnisse jedoch mehr über die panhispanistische Optik der Autoren verraten, als daß sie ein annähernd objektives Panorama der jeweiligen Lateinamerikabilder böten. In ihrer doppelten Untersuchungsperspektive - das peninsulare Lateinamerikabild sowie das des Exils - , die auch der vorliegenden Untersuchung entspricht, kommen die Herausgeber zunächst (1989: 11/16) zu dem bereits bekannten Schluß, daß el exilio de 1939 ayudó a cambiar decisivamente la imagen de España ante la opinión pública latinoamericana ... Desde este punto de vista, hay que destacar que ese hecho introduce un elemento nuevo, generador de una doble transformación: cambio en la imagen de América que tienen los españoles y cambio a su vez de la propia imagen de España vista desde América. An anderer Stelle (ebd.: 265) wird diese allgemeine Behauptung zwar erheblich relativiert, wenn es heißt: A veces, en un mismo escritor, se puede pasar de la morriña al rencor, de la negación a la esperanza. España es, a la vez, edén perdido, sueño, utopía, desengaño, dolor, cerrazón, injusticia ... Y no es ya la España de Franco, política, pasajera, sino lo que algunos ilusos llamaban la España 'eterna'.

30 Der kritische Impetus, den man aus obiger Passage herauslesen mag - "ilusos" entpuppt sich jedoch als trügerisch. Denn weit davon entfernt, die - in Teilen zwar verständliche, dem angeblich entscheidend

veränderten Spanienbild

allerdings

widersprechende - "españolistische" Verve zahlreicher Exilautoren als solche zu inkriminieren, scheinen die Herausgeber den - relativen - Grundkonsens peninsularer und exilierter Autoren gar positiv zu werten, wenn sie schreiben (ebd.: 21): Es curioso (sie) ... ver cómo se produce una coincidencia en las metáforas: Pedro Sáinz Rodríguez, por ejemplo, habla de España como 'Central Telefónica de América'; Julián Marías la califica de 'Plaza Mayor de Iberoamérica'; y José Gaos - por citar un ejemplo de español republicano exiliado - se refiere a la Península como 'Primer País Hispanoamericano'... Es verwundert folglich nicht, wenn beispielsweise einer der exponiertesten "liberalen" - Hispanidad-Interpreten

-

des Frankismus, Pedro Lain Entralgo, folgen-

dermaßen (ebd.: 1/251 f.) beschrieben wird: Cualquier interpretación etnocéntrica de caracter nacionalista que se hiciese al respecto del pensamiento de Laín creo que pecaría de injusta; la prueba palpable de lo que decimos es su decidida propuesta - reiterada en muchos de sus escritos - de incorporarnos también nosotros (sie) lo que de universal pueda verse o decubrirse en otras culturas. Laíns angebliche "agudeza" und sein "supremo y generoso esfuerzo de comprensión" (ebd.: 263) stellen zwar die waghalsigsten Interpretationen der gesamten Untersuchung dar; die (Partial-) Analyse der Lateinamerikabilder von Antonio Tovar (ebd.: 289), Ruiz Giménez (ebd.: 299) oder Julián Marías (ebd.: 336) sind jedoch mutatis mutandis - von ähnlichem Kaliber 8 . Ein eher lobrednerischer, in Teilen offen hagiographischer Charakter ist darüber hinaus den Globaluntersuchungen eigen, die in Lateinamerika, z.T. von Exilautoren selbst publiziert wurden. Sofern das Lateinamerikabild darin überhaupt explizit zur Sprache kommt, geschieht es entweder auf der Basis nicht definierter bzw. mehr oder weniger camouflierter spanienzentristischer Kriterien oder mittels einer sibyl8

Mit einer - bemerkenswerten - Ausnahme, die allerdings die Behauptung eines generell "entscheidenden" Wandels in den gegenseitigen Apperzeptionen besonders drastisch ad absurdum führt. Bei dem nach Chile emigrierten Kunst- und Kulturhistoriker Leopoldo Castedo kommt die Untersuchung zu dem - vollauf berechtigten - Ergebnis (ebd.: 561): "Leopoldo Castedo es el único (sie) de los intelectuales españoles exiliados que hasta ahora hemos visto donde Iberoamérica no aparece c o m o una pura creación hispánica, sino c o m o un mundo cultural complejo producido por el choque y encuentro entre la cultura peninsular y las diversas culturas autóctonas." Die Richtigkeit dieser Aussage ergibt sich sowohl durch die präsentierten Originalpassagen aus Castedos Büchern als auch durch eigene Lektürekenntnisse. Überraschend kritische Standpunkte - neben rein affirmativen Texten - versammelt im übrigen ein 1986 vom Instituto de Cooperación Iberoamericana (sie) herausgegebener Sammelband über Realidades y posibilidades de las relaciones entre España y América en los ochenta.

31 linisch-diplomatischen Verbalkasuistik, die es tunlichst vermeidet, b e s t i m m t e Sensibilitäten und Interessen zu verletzen. Das gilt in ganz b e s o n d e r e m M a ß e f ü r den 1982 von Salvador Reyes N e v a r e s herausgegebenen S a m m e l b a n d El exilio en México

1939-1982,

bietet (etwa den Beitrag von José de la Colina über: México: rados en su literatura),

español

der zwar zu vielen T h e m e n interessante Detailinformationen Visión de los

transter-

sich aber mit kritischen Wertungen deutlich zurückhält.

Der problematische Charakter, der auch den in Lateinamerika publizierten Büchern zumeist eigen ist, war bereits der von Carlos Martínez 1959 in M e x i k o veröffentlichten Studie Crónica

de una emigración.

La de los republicanos

españoles

de

1939 inhärent gewesen, in der (1959: 334) im Vergleich zur "hinchada e inane retórica oficial que se desbordaba y sigue desbordándose el día de la Raza, en oratoria flatulenta en torno a los - en m u c h o s casos lamentables - m o n u m e n t o s a Cristóbal Colón" von einem grundlegenden Wandel des Lateinamerika- bzw. Spanienbildes der Exilautoren die Rede war: "Las cosas se modificaron f u n d a m e n t a l m e n t e al llegar los intelectuales exiliados." Z w a r diagnostiziert Martínez zugleich (ebd.: 496) ein "delirio español" als "actitud crónica en los intelectuales españoles", die j e d o c h aufgrund des Exils verständlich sei und den "fundamentalen" W a n d e l ihres Lateinamerikabildes im übrigen nicht tangiere, was sich am m e x i k a n i s c h e n

Beispiel

(ebd.: 375) besonders nachhaltig illustrieren lasse: De todos los países de Hispanoamérica a los que llegaron exiliados republicanos españoles ninguno, que yo sepa, incitó como México a los hombres de letras a comunicar las impresiones que les produjo y las resonancias que despertó en su espíritu. Ello parece ser la demostración, so sein Credo, das selbst einen bedenklichen Grad an "españolismo" artikuliert, "de la efectiva gran españolidad de esta tierra certeramente bautizada con el nombre de Nueva E s p a ñ a por sus descubridores y conquistadores." Höchst unbefriedigend ist schließlich auch A s e n c i o León-Portillas Buch España

desde México.

Vida y te-

stimonios

von 1978, in d e m k a u m Kriterien zur Beurteilung der u m f a n g r e i c h e n te-

stimonios

(Interviews) mit zahlreichen Exilvertretern (unterschiedlichster Berufe),

aus denen das B u c h im wesentlichen besteht, erkennbar werden. Die Autorin kritisiert zwar (ebd.: 111) die geringen und zugleich Spanien- b z w . eurozentristisch geprägten Kenntnisse zahlreicher Flüchtlinge, lehnt "el concepto oficial franquista de Hispanidad" entschieden ab (ebd.: 118), akzeptiert indessen (ebd.: 138) den zweifelhaften, von G a o s geprägten Begriff einer "revolución hispanista", die die sogenannten "transterrados" herbeigeführt hätten und bescheinigt selbst Autoren wie R a m ó n José S e n d e r (ebd.: 130), sich der mexikanischen Realität "con ... gran sensibilidad" genähert zu haben. D e m g e g e n ü b e r argumentieren sowohl Patricia Fagen in Exiles and Citizens. nish Republicans

in M e x i c o (1975) als auch Michael Kenny in Inmigrantes

Spa-

y refu-

32 giados españoles en México (1979) aus angelsächsischer Perspektive erheblich kritischer und vor dem Hintergrund wohldefinierter Kriterien; aufgrund ihrer primär emigrationssoziologischen Untersuchungsperspektive besitzen diese Studien hier allerdings nur eine sehr bedingte Relevanz 9 . 2.1 Globalstudien zur Exilliteratur Von zahlreichen Monographien und Aufsätzen zur literarischen Produktion des Exils abgesehen, die - sofern sie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung sind - in den entsprechenden Kapiteln zitiert (und kommentiert) werden, gilt das in den obigen Globalstudien konstatierte Forschungsdefizit auch für den literarischen Bereich. In den von Abellán edierten Bänden über El exilio español de 1939 werden zwar im Band IV Poesie, Prosa, Theater und Essay der Exilautoren nahezu erschöpfend behandelt, allerdings primär unter quantitativen Aspekten (wer, wo, was). Demgegenüber erscheinen die Aussagen, die sich auf die ästhetischen Meriten der Exilliteraturbeziehen, häufig recht gewagt; das Lateinamerika- bzw. Spanienbild spielt eine noch geringere Rolle und fußt durchweg auf den weiter oben zitierten Prämissen. Kritischer, was die ästhetische Seite betrifft, bilanziert Rafael Conte in Narraciones de la España desterrada (1970) das literarische Schaffen im Exil, blendet die Panhispanismusthematik aber fast völlig aus. Wenig ergiebig ist diesbezüglich auch die 1962 von José Ramón Marra-López publizierte Untersuchung über Narrativa española fuera de España (1939-1961 ). Desgleichen die von Ricardo Velilla Barquero 1981 vorgelegte Studie über La literatura del exilio a partir de ¡936. Sie bietet zwar ebenfalls einen nützlichen Überblick über die meisten Exilautoren und ihre wichtigsten Werke, hält sich aber in ästhetischen und thematischen Wertungen deutlich zurück. Die einzige kritische Bemerkung (1981: 8) bezieht sich auf die angeblich geringen sprachlichen Innovationen des literarischen output des Exils, die der Autor auf eben dieses zurückführt: (...) la diàspora (...) es la causa principal que, a nuestro juicio, explica un cierto anquilosamiento lingüístico y estético como comprobamos en muchos escritores del exilio; este temor por la pérdida real del idioma vivo de Castilla les hace caer, a veces imperceptiblemente, en evidentes arcaísmos y en una cierta aceptación de planteamientos estéticos deudores de la tradición más que de la ¡novación. Thematisch völlig irrelevant ist schließlich auch die Studie Novela Española e Hispanoamérica von Antonio Tovar (1972), die neben ihrem fragmentarischen Charakter zudem auf inakzeptablen panhispanistischen Prämissen fußt, die den besonderen Charakter der lateinamerikanischen Literatur und Kultur hier und da zwar 9

I n s b e s o n d e r e F a g e n s Studie wird in den kontextrelevanten T e i l e n zitiert.

33 - positiv - registriert, u.a. den indigenen Einfluß aber völlig unter-, den spanischen dagegen überbewertet. Das Lateinamerikabild in der Exilliteratur findet darüber hinaus nur am Rande und recht hagiographisch Erwähnung. Die bislang einzige, halbwegs systematische Gesamtuntersuchung zur Lateinamerikathematik im Werk der spanischen Exilautoren wurde 1985 von der Mexikanerin Mariela Zelaya Kolker unter dem Titel Testimonios Americanos de los escritores españoles transterrados de 1939 veröffentlicht. Darin unternimmt Kolker den Versuch, das Lateinamerikabild im Oeuvre (Poesie, Theater, Essay, mit Schwerpunkt auf der Prosa) der unter diesem Aspekt wichtigsten Exilautoren herauszuarbeiten. Die in den Ediciones Cultura Hispánica des Madrider Instituto de Cooperación Iberoamericana erschienene Studie, die in Teil X der vorliegenden Untersuchung ausführlich zitiert wird, gelangt zwar an einigen Stellen zu vergleichsweise kritischen Ergebnissen und enthält eine äußerst nützliche Biographie (der ich wichtige Hinweise verdanke), krankt jedoch an einer Reihe schwerwiegender Defekte, die bereits in den obigen Untersuchungen zutage traten. Dabei besteht das gravierendste Problem in der Absenz inhaltlicher Untersuchungskriterien. So ist der Autorin die historische Dimension der Panhispanismusthematik (d.h. vor 1939) offensichtlich nicht bekannt, wie u.a. aus der Tatsache hervorgeht, daß die grundlegenden Studien zum Panhispanismus der Vorbürgerkriegszeit nicht zitiert werden (und auch nicht in der umfangreichen Bibliographie auftauchen). Hätte sie die kritischen Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten in ihre Untersuchung einbezogen, wäre ihr möglicherweise nicht entgangen, daß sich die Lateinamerikavisionen zahlreicher Exilautoren zwar wohltuend von der frankistischen Hispanidad-Rhetorik unterscheiden, in einigen, durchaus gewichtigen Punkten aber bereits vor 1939 ein panhispanistischer "Grundkonsens" zwischen eher konservativ-reaktionären und eher liberal-fortschrittlich gesonnenen Teilen der spanischen Gesellschaft bestanden hatte. Die offenkundige Unkenntnis der historischen Genese des Panhispanismus dürfte nicht unerheblich dazu beigetragen haben, daß Kolker die - höchst gewagte - These eines grundlegenden Gesinnungswandels der Exilschriftsteller ebenfalls teilt, wie etwa aus der folgenden Passage (1985: 17) hervorgeht: Juntos fueron postulando una teoría de comunidad hispánica que difería de la Hispanidad promulgada por Franco y los conservadores hispanoamericanos en su intención de ir más allá de la retórica inspirada en la común identidad católica y lingüística, para estudiar sistemáticamente las complejidades del pasado compartido, las diferencias culturales numerosas pero enriquecedoras, los fracasos económicos y los disturbios sociales que han aquejado a muchos países hispanohablantes. Vislumbraron una comunidad de naciones donde todos pudieran estimularse y apoyarse mutuamente. Por su parte, Gaos concibió la idea de que los refugiados españoles no debían sentirse desterrados sino transterrados en las sociedades hispanoamericanas, no expatriados sino empatriados en ellas.

34 Geradezu absurd ist die Behauptung (ebd.: 20), sämtliche

Autoren "escribían y pu-

blicaban con conciencia de presente". 1 0 Da es Kolker, wie den meisten untersuchten Exilautoren, in erster Linie darum geht (ebd.: 38), "adivinar los senderos que comunican a España con Hispanoamérica", die unidad-These

mithin nahezu vorbehaltlos

geteilt wird, scheint sie kaum daran interessiert zu sein, Lateinamerika über den spanischen Anteil hinaus kulturell zu definieren. Hierin besteht ein weiterer gravierender Defekt der Untersuchung, der sich zu den vagen Panhispanismusvorstellungen komplementär verhält. An keiner Stelle wird deutlich, was die Autorin unter der häufig zitierten "comunidad hispánica" oder dem "valiosísimo mosaico de aspectos importantes del vivir hispanoamericano" (ebd.: 260) versteht. Welchen Stellenwert besitzt in diesem Mosaik, etwa in Mexiko, das indigene Element? Lediglich an einigen Stellen, vor allem bei den rassistischen Ausfällen Senders, bezieht Kolker eine verhalten kritische Position und gibt damit implizit zu erkennen, daß zwischen der lateinamerikanischen Wirklichkeit und ihren literarischen Abbildern offensichtlich doch nicht selten kulturelle Welten klaffen. Neben den unklaren bzw. nicht vorhandenen Analyseprämissen in bezug auf die verschiedenen Panhispanismusversionen und die lateinamerikanische Identitätsdebatte schlägt schließlich negativ zu Buche, daß in dieser einzigen Gesamtuntersuchung zum Lateinamerikabild in der spanischen Exilliteratur nur ein - und dabei nicht immer repräsentativer - Teil der entsprechenden Texte analysiert wurde. So fanden zahlreiche fiktive Texte, aber auch themenrelevante Essays, in denen einige Autoren, wie die zitierten Romanciers Rial und Ayala, äußerst stereotype Lateinamerikabilder zeichneten, keinerlei Berücksichtigung. Aus den obigen Ausführungen zum bisherigen Forschungsstand geht mithin hervor, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Panhispanismusthematik seit Mitte der siebziger Jahre, als mehrere Autoren ein nur vergleichsweise geringes Interesse an diesem Forschungsgegenstand konstatierten, zwar zugenommen hat, nicht jedoch der kritische Impetus, sich mit dem Gegenstand auf der Basis wohldefinierter, von traditionalistischen Panhispanismuskriterien freien Untersuchungsprämissen auseinanderzusetzen. So gesehen, bestehen trotz der relativen Fülle themenrelevanter Studien nach wie vor große Forschungsdesiderate, die die vorliegende Studie in zwei zentralen Bereichen zu schließen versucht: Einerseits durch die Untersuchung des "offiziellen" peninsularen Lateinamerikabildes und seiner panhispanistischen Implikationen; andererseits durch eine entsprechende Analyse des literarischen output relevanter Exilautoren in Lateinamerika. Dabei wurde diese doppelte Untersuchungsperspektive von der Hypothese geleitet, daß die in der Lite10 Übrigens auch unter politischen Gesichtspunkten. Mit den in Teilen elitären, demokratiefeindlichen, kulturpessimistischen und krud antisozialistischen Positionen einiger Autoren, etwa von José Antonio Rial oder Francisco Ayala, setzt sich Kolker nicht auseinander.

35 ratur häufig formulierte Behauptung, das Exil von 1939 hätte zu einem grundlegenden Wandel in der entsprechenden kulturellen Apperzeption geführt, in dieser pauschalen Form nicht zutrifft, wie ich aufgrund einer Partiallektüre themenrelevanter Texte vermutete. Es lag daher nahe, die Cuadernos Hispanoamericanos, das wichtigste Publikationsorgan des frankistischen Instituto de Cultura Hispánica, als repräsentativen peninsularen Vergleichsmaßstab zu wählen. Auch hier waren mir vor dem eigentlichen Beginn des Forschungsprojektes zahlreiche Zeugnisse bekannt gewesen, die auf einen teilweise recht markanten Wandel des Lateinamerikabildes hinzuweisen schienen. Zwar wären auf der Grundlage wohldefinierter Kriterien auch ohne einen solchen Vergleich eindeutige Aussagen über den vermuteten ethnozentristischen Gehalt der von den Exilautoren verfaßten Texte möglich gewesen. Eine vergleichende Analyse besitzt jedoch nicht nur den Vorteil, ein weiteres Forschungsdesiderat partiell schließen zu können - die Entwicklung des frankistischen Hispanidad-Begriffs - ; sie läßt zudem zahlreiche Affinitäten erkennen und akzentuiert die Differenzen. Die Auswahl der Exilautoren orientierte sich insbesondere an der umfangreichen Bibliographie von Kolker, die durch weitere Recherchen ergänzt wurde". Diejenigen Autoren, deren Oeuvre sich über den gesamten Untersuchungszeitraum (oder einen großen Teil desselben) erstreckt, erhielten dabei Priorität - nicht zuletzt aus Gründen der Vergleichbarkeit. Auf eine Differenzierung nach literarischen Gattungen, wie sie in den zitierten Untersuchungen überwiegend anzutreffen ist, wurde verzichtet. Der größte Teil des untersuchten Textkorpus besteht jedoch aus Romanen und Erzählungen. Um zu vermeiden, daß fiktionale Texte, wie Schümm (1990: 202) bemerkt, "allzuschnell zur einfachen Datenquelle und zum Dokument (werden), das von den gesellschaftlichen Verhältnissen Zeugnis ablegt", wurden zwar insbesondere die untersuchten Romane in Einzelanalysen dargestellt, jedoch mit den sonstigen Texten (Erzählungen, Essays, Poesie, wissenschaftliche Abhandlungen etc.) des jeweiligen Autors thematisch in Beziehung gesetzt. Dieses Vorgehen erschien nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil in der vorliegenden Arbeit ästhetische Aspekte meistens 12 nur insoweit berücksichtigt wurden, wie sie dem Untersuchungsinteresse dienlich schienen, sondern auch deshalb, weil sich die meisten Autoren in unterschiedlichsten Gattungen zum Thema geäußert haben (die Spannweite reicht z.B. bei Ayala von Romanen über Erzählungen bis zu

11 Neben den weiter oben zitierten Untersuchungen war dabei die 1950 von Julián Amo und Charmion Shelby zusammengestellte Bibliographie La obra impresa de los intelectuales españoles en América 1936-1945 von Nutzen. 12 Da einige Autoren in Europa nahezu unbekannt sind, enthalten insbesondere die sich auf sie beziehenden Untersuchungsteile auch allgemein-ästhetische Hinweise. Insofern auch die Sprache von thematischer Relevanz ist (z.B. lateinamerikanische Lexik), sind ästhetische Urteile nahezu überall anzutreffen.

36 soziologischen und kulturhistorischen Texten), die zu separieren, dem Erkenntnisinteresse widersprochen hätte. Der weiteren Forschung verbleiben gleichwohl noch ausgedehnte Desiderate. Von besonderer thematischer Relevanz dürfte dabei eine systematische Analyse der Exilzeitschriften 13 und der (kultur-) historiographischen Werke sein. Aus naheliegenden Gründen dürften ganz besonders letztere ein ergiebiges Forschungsterrain darstellen. Ein bescheidener Annex zu dieser Gattung, in dem einige besonders exponierte Kulturhistoriker - natürlich ohne repräsentativen Anspruch - untersucht wurden, läßt immerhin in Ansätzen erkennen, daß die "Grundkonsensthese" wohl auch hier nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Zum Schluß noch einige methodische Hinweise: Entsprechend der in der wissenschaftlichen Fachwelt allgemein anerkannten inhaltsanalytischen Grundprämisse Berelsons (1952: 147): "Content analysis stands and falls by its categories", erfolgte die Bildung forschungsrelevanter Analysekategorien. Da trotz dieses allgemeinen Konsensus in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen keine expliziten Regeln für die Vermittlung theoretischer Konzepte mit sprachlichen Ausdrucksformen existieren, sind die Conte/ifanalytiker bei der Konstruktion ihrer Kategorien in gewisser Weise, schreibt Wick-Kmoch (1975: 79f.), "auf ihr intuitives Sprachverständnis angewiesen ..., wenn es darum geht, über die Zusammengehörigkeit von theoretischen Konzepten einerseits und von Textteilen andererseits zu entscheiden". Dementsprechend erfolgte aufgrund des Vorwissens (insbesondere des Forschungsstandes) zunächst die Bildung von vorläufigen Kategorien. Da diese noch relativ abstrakt waren und an den zentralen Fragestellungen und Hypothesen ausgerichtete Orientierungsschwerpunkte setzten, mußten sie in ihrer Qualität als Texterfassungsraster im Laufe der Untersuchung sukzessive verfeinert (Subkategorien), korrigiert und ergänzt werden. Dem entspricht die von Ritsert (1972: 57) vorgeschlagene Einteilung in "recording units" und "context units": "Damit ist nicht mehr erfaßt als die Einsicht, daß man Texte im Zusammenhang lesen muß, um eine 'recording unit' überhaupt festlegen zu können. Die 'context unit' gilt dann als der größte Textteil, den man durchgehen muß, um eine 'recording unit' zu bestimmen." Unter dieses Kategoriensystem wurde das Material subsumiert und unter Bezug auf das dargelegte Erkenntnisinteresse und die Hypothesen interpretiert - ein Verfahren, für das trotz der fachwissenschaftlichen Kontroverse um diesen Begriff die 13 Die weiter oben zitierten Untersuchungen sind diesbezüglich völlig belanglos, bieten - vor allem bei Andújar (Abellán 1976, Bd. 3) - allerdings detaillierte Hinweise auf die breitgefächerte Zeitschriftenpalette. Zwar sind mittlerweile auch hierzu kleinere Untersuchungen erschienen, die jedoch, wie etwa die bereits 1970 publizierte Monographie von Francisco Caudet: Cultura y exilio. La revista, 'España Peregrina' (1940) von den zitierten, höchst ambivalenten Prämissen (1976: 34f.) ausgehen.

37 mittlerweile gebräuchliche Bezeichnung "Inhaltsanalyse" benutzt wird. Wenn im Rahmen dieser Untersuchung auch der Anspruch erhoben wird, dabei "ideologiekritisch" zu verfahren, so ist mit den Worten Liebers (1965: 83) "die Einsicht in die soziale Bedingtheit von Bewußtseinsstrukturen und Bewußtseinsgehalten und in deren soziale und politische Funktion" zu vermitteln. Entsprechend der Formel von Lasswell (Nölle-Neumann u.a. 1971: 342): "Who says what in which Channel, to whom, with what effect?", wird das Forschungsinteresse hier auf das "Was" (unter Berücksichtigung der Nichtpräsenz bestimmter Aspekte) und das "Wie" gerichtet. Durch eine Erweiterung der Fragestellung auf das "Warum", die der Lasswellschen Formel hinzuzufügen wäre, wird schließlich ansatzweise der Versuch unternommen, dem ideologiekritischen Anspruch zu genügen, um mit den Worten von Ritsert (1972: 100) "fungierende Ideologien in all ihren Ausprägungen systematisch zu erfassen". Dem wird insbesondere durch Kontextdarstellungen (Kap. V, VI, VII, IX) und theoretische Überlegungen (Kap. IV und XII) zu entsprechen versucht. Auf biographische Zugänge mußte aus naheliegenden Gründen weitgehend verzichtet werden.

IV. Lateinamerikainterpretationen in der neueren Forschungsliteratur. Ein Überblick 1. Zum Grad der Übereinstimmung von historischer Realität und vermitteltem Bild Wenn in der folgenden Untersuchung von den verschiedenen Panhispanismusvarianten bzw. von den daraus resultierenden Lateinamerikabildern die Rede ist, dann bedürfen diese naturgemäß des kritischen Vergleichs mit der "objektiven Realität", auf die sie sich beziehen und die sie ggf. abzubilden beanspruchen oder bewerten. Es geht also mit den Worten Frauke Geweckes (1986: 276) um "den Grad einer möglichen Übereinstimmung von historischer Realität und vermitteltem Bild ...", wie es sich in den untersuchten Texten präsentiert. Dabei kann sich der Begriff der "historischen" bzw. "objektiven Realität" in der vorliegenden Arbeit nicht allein auf die "materielle" Geschichte beziehen, kann also nicht nur fragen, wie etwa die Conquista vom jeweiligen Autor bewertet wird. Hier muß zugleich der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit in ihnen der (lateinamerikanische) Identitätsdiskurs, etwa in der Literatur und in den Kulturwissenschaften, verarbeitet wird auch im Falle von Dissensen. Einige Elemente dieses Diskurses (z.B. die Debatte über die indianidad) sind zwar erst neueren Datums, konnten daher nicht oder nur teilweise von den Autoren während des hier relevanten Untersuchungszeitraumes zur Kenntnis genommen werden; die meisten sind indessen wesentlich älteren Datums oder (z.B. die Identitätsthematik in der lateinamerikanischen Romanliteratur) fallen voll in den hier untersuchten Zeitraum und müssen daher zur Verifizierung der getroffenen Urteile mitherangezogen werden. Die folgende, notwendigerweise stark kursorische und auf zentrale Kontroversen fokussierte Darstellung auf der Basis neuer Studien zur historischen und kulturellen Problematik Lateinamerikas besteht deshalb im wesentlichen aus zwei Hauptteilen: einem Resümee der eher "materiellen", ereignisgeschichtlichen Realität(en) und des - vor allem literarischen und kulturhistorischen - Identitätsdiskurses in Lateinamerika selbst, mit einigen Exkursionen auf das Terrain relevanter Beiträge zum Thema aus der Feder europäischer Autoren, durch deren Vergleich die spanischen Positionen an distinktiver Schärfe gewinnen.

39

2. Realgeschichtliche Aspekte 2.1 Zur präkolumbinen Vergangenheit Weitgehende Einigkeit besteht in der neueren Forschungsliteratur (Pörtner/Davies 1982: 65ff.) darüber, daß die präkolumbinen Kulturen Amerikas, insbesondere die sogenannten "Hochkulturen", ein, wenn auch nur partiell, hohes zivilisatorisches Niveau erreicht hatten. Bestimmte Errungenschaften wie der organisatorische Genius der Inkas, die astronomischen Kenntnisse der Mayas oder die architektonische Versiertheit der Azteken rufen gar regelmäßig Bewunderung hervor. Strittig ist dagegen häufig die Frage, ob die europäische Optik, wie sie bereits in dem Terminus "Hochkultur" anklingt, den präkolumbinen Realitäten überhaupt gerecht wird, ja, werden kann. So haben etwa Bataille (1972) und Todorov (1985) den genuin "anderen" Charakter der aztekischen Kultur betont, beispielsweise in der "Kriegs"Technik, am Zeitbegriff oder im Unterschied "narrativer" und "interpretativer" Kulturen. Dabei kommt vor allem Todorov in seiner originellen Studie u.a. zu dem Schluß, daß die aztekische Kultur erstens zahlreiche markant distinktive Merkmale aufweise, die sich einer Bewertung von außen ("gut"-"schlecht", "entwickelt""unterentwickelt" etc.) weitgehend entzögen; zweitens könne man aus der (kriegs-) technischen Überlegenheit der Kolonisatoren keine generelle Überlegenheit deren Kultur ableiten. Die kulturrelativistische, um ein Verständnis "von innen heraus" bemühte Perspektive der zitierten Autoren ist in weiten Teilen identisch mit entsprechenden Positionen von Claude Lévi-Strauss, der u.a. am Beispiel der altamerikanischen Kulturen gegen ethnozentristische Interpretationsmuster argumentiert hatte, wie sie sich etwa in der Unterscheidung "archaischer" und "primitiver" Kulturen (1972: 24), der (eurozentristischen) Idee des "Fortschritts" (ebd.: 31) oder in "stationären" und "kumulativen" Geschichtsmodellen manifestierten. Verschiedene Autoren haben überdies darauf hingewiesen, daß sich eurozentristische Prämissen nicht nur in zahlreichen Urteilen nachweisen ließen, die sich direkt auf bestimmte Elemente der präkolumbinen Kulturen der sogenannten Neuen Welt beziehen, sondern auch indirekt, eher en passarti existierten, etwa im Hinblick auf ihr Alter und ihre Herkunft. So halten Müller (1976: 90) und Castedo (1988: 21) die "Behringstraßentheorie", derzufolge die ersten Bewohner des Kontinents aus Asien eingewandert seien, zumindest für zweifelhaft und für ein Indiz einseitiger Forschungstätigkeiten, da andere Hypothesen, vor allem die Annahme einer möglichen originären amerikanischen Abstammung, vernachlässigt würden. Überdies differieren die Angaben (Aguirre 1978: 26) über den Zeitpunkt der behaupteten Einwanderung gewaltig: Bei etlichen Autoren (Lindig 1982: 67), die von einer relativ kurzen

40 Existenz ausgehen, scheint die Aufklärungsmetapher ("junger Kontinent") noch immer das Denken zu bestimmen. Die Hauptkontroverse rankt sich freilich um die Kannibalismus- und Menschenopferthematik. Vertreten zahlreiche spanische Autoren, wie auch in der vorliegenden Untersuchung deutlich wird, in diesem Zusammenhang die These von quasi kannibalistischen Gourmets, die gleichsam aus purer Mord- und Freßlust Menschen en masse getötet und verspeist hätten (Madariaga 1979: 384), situieren sachlicher argumentierende Autoren (Aguirre 1978: 174) die - allerdings nicht in Zweifel gezogene - Praxis sakraler Menschenopfer und den angenommenen Verzehr von Leichenteilen in einen spezifischen kulturell-religiösen Kontext. Dagegen schränkt der wissenschaftliche Katalog des Bremer Überseemuseums über Totenkult in Mexiko das Kannibalismus- und Menschenopferverdikt weiter ein. Es sei zwar möglich - aber nicht bewiesen - , daß gelegentlich Leichenteile aus kultischen Gründen gegessen wurden, heißt es dort (1986: 11), Teil der Volksnahrung, wie zahlreiche spanische Autoren behaupteten, seien die sakralen Menschenopfer allerdings gewiß nicht gewesen. In einer neuen "quellen- und ideologiekritischen Studie", so der Titel, verwirft Hassler auch diese bereits relativ moderate Annahme. Ihm zufolge handelte es sich bei zahlreichen Augenzeugenberichten um bloße "Lügengeschichten" (1992: 96), die die angeblichen Augenzeugen aufgrund des vom Autor rekonstruierten Standortes gar nicht hätten sehen können. Die entsprechenden Berichte basierten ferner z.T. auf von der Inquisition abgepreßten Geständnissen (ebd.: 97) und seien im übrigen kulturellen Projektionen und krassen Fehldeutungen geschuldet. Nach Ansicht von Hassler handelte es sich bei den als Menschenopfer interpretierten Praktiken lediglich um "Metaphern", "Allegorien" und "Symbole" (ebd.: 223), was schließlich auch aus der Tatsache hervorgehe (ebd.: 121), daß "keine Massendeponien all der Menschenopfer, welche den Azteken nachgesagt werden, gefunden worden sind". Die Kontroverse dürfte damit jedoch keineswegs beendet sein. Nicht zuletzt deshalb, weil auch Hassler in dieser zentralen Frage zur Beurteilung der indigenen (aztekischen) Kultur(en) keine Beweise erbringt, wohl auch nicht erbringen konnte, statt dessen mit z.T. äußerst gewagten Analogieschlüssen und Interpretationen arbeitet, die ihrerseits zahlreiche Fragen offenlassen. Für unsere Zwecke - gleichsam als Minimalkriterium zur Beurteilung der hier untersuchten Texte - reicht indessen die Erkenntnis der kritischen Forschung zum Thema, daß Werturteile über bestimmte Facetten der präkolumbinen Kulturen stets deren eigenes Wertsystem berücksichtigen müssen, wenn ethnozentristische Verdikte vermieden werden sollen eine Minimalforderung, der bereits Montaigne entsprach, wie Gewecke (1986: 246) schreibt:

41 Neu w a r j e d o c h das V o r g e h e n M o n t a i g n e s , die V e r h a l t e n s w e i s e n d i e s e r M e n schen i m e i n z e l n e n an ihrem e i g e n e n N o r m e n s y s t e m zu m e s s e n - mit d e m Ergebnis, daß er selbst d e n K a n n i b a l i s m u s rational zu rechtfertigen v e r m o c h t e ; ein Ergebnis, w e l c h e s a u c h dadurch nicht w i e d e r a u f g e h o b e n w u r d e , daß d i e e x t r e m e Fremdheit, der ' u n g e h e u e r l i c h e A b s t a n d z w i s c h e n ihrem W e s e n und d e m unsern', für d e n Europäer e i n e a n g e m e s s e n e B e w e r t u n g z u m i n d e s t d i e s e s

Phänomens

schließlich d o c h u n m ö g l i c h m a c h t e .

2.2 Zur Conquista

und Kolonialzeit

Über die spanische Eroberung Amerikas schreibt Todorov (1985: 13): "Nie mehr sollte es eine Begegnung von derartiger Intensität geben, wenn man dieses Wort hier überhaupt verwenden kann: Das 16. Jahrhundert sollte Zeuge des größten Völkermordes in der Geschichte der Menschheit werden." Ähnlich argumentieren Bareiro Saguier/Rojas-Mix (Meyer-Clason 1987: 25), wenn sie die Eroberung Amerikas als den "krassesten Fall kultureller Entfremdung" bezeichnen, "den die Geschichte der Neuzeit verzeichnet." Die von Todorov (1985: 161) genannten Todeszahlen (durch direkte Tötung, als Folge unmenschlicher Behandlung und durch Krankheiten) belaufen sich auf ca. 70 Millionen Menschen, was einer Größenordnung von etwa 90 Prozent der Bevölkerung entspreche, die am Vorabend der spanischen Eroberung in dem zukünftigen kolonialen Einflußgebiet gelebt hätten. Diese Zahlen, die sich auf den Zeitraum von 1500 bis 1825 beziehen, werden von anderen Autoren (Ribeiro 1985: 122) bestätigt 1 . Die eigentliche Auseinandersetzung rankte sich - unbeschadet der Tatsache, daß diese oder ähnliche Zahlenangaben und der häufig damit verbundene Genozidvorwurf von der Mehrheit der spanischen Historiker stets bestritten wurde - gleichwohl um die Frage, ob die spanische Kolonisierung 2 spezifische Eigenschaften aufweise, die sie von anderen Varianten, insbesondere angelsächsischer Couleur, positiv unterscheide. Hier nun scheint eine deutliche Mehrheit 3 der Autoren, selbst wenn es sich um prononcierte Kolonialismuskritiker handelt, zu der meines Erach1

Zwischen 1825 und 1950, so derselbe Autor (ebd.), habe sich die Zahl der indigenen Bevölkerung dagegen von 7,8 Millionen auf 15,6 Millionen verdoppelt.

2

Aich dieser Begriff wurde häufig (Paz 1978: 142) attackiert.

3

Im Unterschied zu dieser Mehrheit vertritt etwa Bitterli (1991: 135) die m.E. undifferenzierte Auffassung, die spanische koloniale Obrigkeit hätte einen "Vernichtungsprozeß mit einer beispiellosen Arroganz und moralischen Unbekümmertheit" durchgeführt. Demgegenüber hätten sich selbst die angelsächsischen Kolonisatoren "zumindest die Mühe von Vertragsabschlüssen und Kaufverträgen" (ebd.: 144) gemacht. Das eigentliche "Musterbeispiel einer .... Kulturverflechtung" (ebd.: 168) stelle gleichwohl der portugiesische Kolonialismus in Brasilien dar: Kein anderes Volk, schreibt Bitterli unter Berufung auf Freyre (ebd.: 170), lasse sich in dieser Hinsicht mit den Portugiesen vergleichen.

42 tens berechtigten Auffassung zu tendieren, der spanischen Kolonialismusversion eine gewisse Sonderrolle zuzusprechen. Bereits bei Mariátegui (1986: 7) ist von einem "entscheidenden und tiefsten Unterschied zwischen den beiden Eroberungsformen" die Rede. Der zitierte Unterschied ergibt sich nach Ansicht Mariáteguis vor allem durch den Evangelisierungsaspekt der spanischen Kolonisierung, aber auch ganz allgemein durch die historischen Bedingungen (ebd.: 97), die auf der Halbinsel vorherrschten: Es ist vollkommen verständlich, daß die Kolonien Englands, einer im Zeitalter des Kapitalismus zur H e g e m o n i e bestimmten Nation, die geistigen und materiellen Fermente und Impulse des Aufschwungs empfingen, während Spanien, eine noch der Tradition der Aristokratie verhaftete Nation, auf seine Kolonien die Keime und Schwächen der Dekadenz übertrug. 4

Im Prinzip, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, scheint das Gros der - vor allem lateinamerikanischen - Autoren diese Sicht der Dinge zu teilen. Ribeiro (1985: 77) äußert die Vermutung, daß die iberische Expansion "ohne die missionarische Motivation nicht jene Anpassungsfähigkeit gehabt hätte, die es erlaubte, mit den unterschiedlichsten Völkern zusammenzuleben, auf sie einzuwirken und ihnen den eigenen kulturellen und religiösen Stempel aufzudrücken." Zea (1989: 88) sieht darin "dieselbe Geisteshaltung, die auch im Islam zu finden ist. Im iberischen Imperialismus addieren sich daher christlicher und mohammedanischer Rettungsgedanke." Roberto Fernández Retamar (1979: 180) schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er zwar die "proporción de crímenes" nicht lediglich als Fußnote verbucht, wie das zahlreiche spanische Autoren zu tun pflegen, in der singulären "proporción de escrúpulos", die sich etwa am Beispiel von Las Casas manifestierten, aber ein spanisches Spezifikum sieht. Sehr detailliert und meines Erachtens überzeugend hat sich Mires (1991) mit der Frage beschäftigt, wodurch sich die spanische Expansion von anderen Kolonialismusformen unterscheide. Ausgehend von einer Kritik der europäischen "Optik des Rationalismus", die durch den Vorwurf der "Rückständigkeit" stets zu einer einseitigen "Herabsetzung Spaniens" (ebd.: 17) führe und die die "entscheidende Besonderheit bei der Entstehung des spanischen Staates" (ebd.: 21) übersehe, nämlich die Tatsache, daß die spanische Nation aus dem Staat hervorgegangen sei und nicht umgekehrt, kommt Mires (ebd.: 34f.) zu dem Schluß:

4

Obgleich Mariátegui den "historischen Rückschritt" Lateinamerikas als Folge des spanischen Erbes auch zugleich beklagt, stellt er für die Zeit nach der politischen Unabhängigkeit fest (ebd.: 45): "Der kreolische Feudalismus hat sich (...) (als) gieriger und brutaler erwiesen als der spanische Feudalherr. Im allgemeinen zeigte der spanische 'encomendero' einige Verhaltensweisen eines adligen Herren. Der kreolische 'encomendero' besaß alle Defekte des Plebejers, jedoch keine der Tugenden des Ritters."

43 Trotz aller Kontrolle des Staates über die Kirche dürfen wir diese nicht als ein rein passives Instrument in den Händen des Staates betrachten. Man sollte nicht vergessen, daß die Kirche - zwar unter jener Vormundschaft des Staates, aber ebenfalls infolge dieser Bevormundung - einen so großen Einfluß gewann, daß man sich die amerikanische Gesellschaft ohne sie nicht vorstellen kann. So betrachtet war der Staat eine Art Trojanisches Pferd für die Kirche: Wie der Staat die Kirche zur Rechtfertigung brauchte, es sei ihm bei der Conquista um die Evangelisierung der Bewohner Amerikas gegangen, so brauchte die Kirche den Staat, denn die Conquista erleichterte ihr die Missionierung der Indios. Vor allem aus dieser besonderen Rolle des Klerus, argumentiert Mires (ebd.: 38), ergebe sich der spezifische Charakter der spanischen Kolonisierung Amerikas: Neben unzähligen Berichten von der Entfesselung niedrigster Leidenschaften, Zerstörungswut und blinder Goldgier lasse sich indessen auch der mutige Einsatz und die "edle religiöse Gesinnung" jenes Teils des Klerus konstatieren, der sich auf die Seite der Indios gestellt habe und als Gegengewicht zum Schwert und zum vergossenen Blut das Kreuz emporgehoben und vor sich hergetragen habe, was etwa in den Leyes Nuevas exemplarisch zum Ausdruck komme (ebd.: 109): "Sie hatten nur während kurzer Zeit Gesetzeskraft. Dennoch können wir sie als das fortschrittlichste und differenzierteste Gesetzeswerk der gesamten Kolonialzeit betrachten." Sicher wollte auch Las Casas, ihr spiritus rector, die Vereinnahmung der indios nicht unterbinden, wie u.a. Todorov (1985: 205) bemerkte, sondern nur, "daß sie eher von Mönchen als von Soldaten bewerkstelligt wird." Und sicher waren auch die Jesuiten, die nach Ansicht von Ventos (1987: 57) ein "impresionante reto (...) al colonialismo español" darstellten, aufgrund ihres autoritär-paternalistischen Duktus alles andere als "Antikolonialisten avant la lettre", wie Bitterli (1991: 129) zu sehen vermeint. Und sicher wirkten schließlich auch die Machtkonflikte zwischen den sich verselbständigenden Interessen der encomenderos und der spanischen Krone eine Zeitlang als Palliativ einer ungehemmten Destruktionspolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung (Mires 1991: 116). An der Plausibilität des folgenden Resümees von Mires (ebd.: 219) und damit an der These einer relativen Sonderform des spanischen Kolonialismus, die das physische und kulturelle Überleben eines - wenn auch nur sehr geringen - Teils der präkolumbinen Bevölkerung ermöglichte, ändern diese u.a. Einschränkungen meines Erachtens freilich nichts: Wie wenige andere Länder Europas hatte Spanien darunter zu leiden, daß es in zwei «Parallelwelten» lebte: einerseits in einer mittelalterlichen Vergangenheit, die sich, vor allem im kulturellen Bereich noch überaus lebendig zeigte, und andererseits in einer Gegenwart, die von höchst materiellen Kriterien bestimmt wurde und die sich in den Dienst der Akkumulation von Edelmetallen stellte. Die Konquistadoren - und zu ihnen rechnen wir auch die Geistlichen - waren sehr widersprüchliche Persönlichkeiten. In ihrer Mentalität und in ihrer Praxis kam die feurige Ritterlichkeit eines Amadis de Gaula zum Ausdruck, welche die Frömmigkeit gläubiger Kirchenleute und den Geschäftssinn profitorientierter

44 Krämer vereinigte. Die Conquista und die Glaubensverkündigung in Amerika waren gewissermaßen nichts anderes als die zwei Seiten eines einzigen Dramas, in dem sich widersprüchliche Gesellschaftstypen gegenüberstanden. Die Erkenntnis dieser Widersprüche ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der wahren Bedeutung von Conquista und Evangelisierung.

2.3 Zum 19. und 20. Jahrhundert "Ist das spanische Erbe nur negativ gewesen?", fragt Werz in einer neueren Untersuchung (1991: 39) über Lateinamerika. Er beantwortet diese, für die kulturellen und politischen Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Lateinamerika seit der Independencia zentrale Frage mit dem Hinweis, daß nicht alle Fehlleistungen der Gegenwart dem Erbe der Vergangenheit angelastet werden könnten: "Vielmehr sind in der langen Zeit seit der Unabhängigkeit von Spanien neue Einflüsse und andere Abhängigkeiten hinzugekommen, die die Entwicklung Lateinamerikas mit beeinflußt und beeinträchtigt haben." Daß diese Sicht der Dinge auch von kritischen lateinamerikanischen Autoren geteilt wird, belegen sowohl die obigen Ausführungen über die Kolonialepoche als auch das Mariátegui-Zitat über die kreolischen Oberschichten, die gewissermaßen als politische Nachlaßverwalter das koloniale Erbe Spaniens angetreten haben. Unabhängig von der relativen Sonderform des spanischen Kolonialismus, der vor allem für die Bevölkerungsstruktur und die damit verbundene kulturelle Heterogenität des Subkontinents von Bedeutung war und ist, führte die Bewertung der kolonialen Herrschaft als solche in der einschlägigen Literatur zu grundlegenden Divergenzen, die sich auf die Frage zuspitzen lassen, ob diese für die bis heute andauernde "Unterentwicklung" Lateinamerikas kausal verantwortlich ist oder nicht. Da bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wie etwa Pietschmann (1984: 25) schreibt, der Handel mit den spanischen Kolonien weitgehend in der Hand von NichtSpaniern gelegen habe (mit drastisch steigender Tendenz), sind dabei auch andere europäische Länder involviert, die von der Ausbeutung der Kolonien nachhaltig profitierten (Krippendorf 1975: 57ff.). Als expliziter Gegner "pauschal(er) und in denunziatorischer Absicht" verfaßter "Schuldzuweisungen für die Probleme der Gegenwart" erweist sich etwa Pietschmann (1984: 14), der die "tiefgreifende Auseinanderentwicklung zwischen Europa und Iberoamerika" erst ins 19. Jahrhundert datiert (ebd.: 35), "als Iberoamerika weithin im politischen Chaos versank und die Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse versäumte". Diesem Interpretationsmuster hat z.B. Tobler - m.E. völlig zu Recht - grundsätzlich widersprochen. Ihm zufolge (1984: 39) scheinen für die ökonomische Misere der Exkolonien zwei "eng miteinander verbundene Grundursachen" verantwortlich zu sein: "einerseits die spezifische ibe-

45 risch-koloniale Prägung Lateinamerikas, andererseits die bereits in der Kolonialzeit angelegte und durch die Independencia kaum gemilderte außenwirtschaftliche Abhängigkeit." Ähnlich argumentiert Rama (1978: 46), wenn er schreibt: "(...) los países colonialistas (Spanien und Portugal, N.R.) fueron derrotados (...) en beneficio del capitalismo más avanzado, al perder el control económico del vasto territorio latinoamericano que les perteneciera durante más de tres siglos." In einem der gravierendsten Probleme Lateinamerikas, dem raschen Wachstum "moderner" Sektoren bei zunehmender Marginalisierung wachsender Bevölkerungsteile, sieht Tobler (1984: 46) die auf die Independencia folgende Entwicklung bis in die Gegenwart bestätigt 5 . Schwerwiegende Folgen zeitigte dieser Prozeß darüber hinaus für die Bevölkerungsstruktur und damit für die kulturelle Identität bzw. Heterogenität Lateinamerikas. Ribeiro (1985: 108ff.) teilt die vom Kolonialismus tangierten außereuropäischen Völker in vier "historisch-kulturelle Konfigurationen" ein: "Es handelt sich um die residualen Völker, die neuen Völker, die verpflanzten Völker und die entstehenden Völker." Zur ersten Gruppe rechnet er, was Lateinamerika betrifft, die Nachkommen der indigenen Zivilisationen, die von der spanisch-europäischen Expansion überlagert und tiefgreifend traumatisiert worden seien, aber vielfach an traditionellen Kulturmustern festhielten. Die neuen Völker seien jene, die durch Berührung, Dekulturation und Vermischung afrikanischer, europäischer und indianischer Elemente hervorgegangen seien und damit einen neuen ethnischen Typus darstellten, der wahrscheinlich ein "Modell für die Zukunft" abgebe. In Lateinamerika zählten dazu insbesondere Mexiko, Guatemala, die Andenländer sowie - was die afrikanischen Einflüsse betrifft - die Karibik und Brasilien. Zu den verpflanzten Völkern rechnet Ribeiro jene, die aus europäischen Einwanderern entstanden seien, welche ihr ursprüngliches ethnisches Profil, ihre Sprache und Kultur weitgehend erhalten hätten. Im Falle der La Plata-Länder, für die diese Definition - wenn auch nur eingeschränkt - zutreffe, zeige sich das Ergebnis einer ganz sonderbaren Entwicklung: Dort habe die kreolische Elite, die als neues Volk ihrem eigenen ethnischen Charakter gegenüber völlig entfremdet und negativ eingestellt gewesen sei, die Substitution ihres eigenen Volkes durch helle und dunklere Europäer als nationale Aufgabe betrieben, weil sie der Meinung gewesen sei, daß sich diese Menschen besser für den Fortschritt eigneten. Argentinien und Uruguay seien insofern das Ergebnis einer geplanten Einwanderungspolitik der nationalen Oligarchien, in deren Verlauf sich ein neues Volk in ein verpflanztes Volk verwandelt habe. Während dieses Prozesses sei die indianisch-iberische Mestizenbevölkerung der Ladi-

5

Es sei hier nur am Rande vermerkt, daß das "politische Chaos", von dem Pietschmann spricht, wohl kaum minder als Resultante der ökonomischen Abhängigkeit (plus direkter militärischer und politischer Interventionen) zu verbuchen ist.

46 nos und Gauchos als nationale Bevölkerung durch eine Flut europäischer Einwanderer verdrängt und ersetzt worden 6 . Die entstehenden

Völker seien schließlich jene

neuen Nationen der Dritten Welt, deren Bevölkerungen sich v o m Niveau der Stammesgesellschaften oder von einem einfachen kolonialen Proletariat zu nationalen Ethnien entwickelt hätten. Diese Völker, so Ribeiro (ebd.: 118), seien in Amerika allerdings nicht vertreten: "Diese Tatsache zeigt deutlicher als jede andere, welcher Gewalttätigkeit die tribalen Völker Amerikas ausgesetzt waren, und zwar zunächst während der europäischen Herrschaft und spater im R a h m e n der nationalen Gesellschaft." Am Beispiel Mexikos, das nicht zuletzt aufgrund seiner exponierten Rolle während der Conquista,

der Revolution zu Beginn des Jahrhunderts und der Bedeutung

für das spanische Exil in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, lassen sich die kulturellen Konsequenzen, die sich aus der allgemeinen Darstellung Ribeiros ergeben, in Ansätzen konkret illustrieren. Bonfil Batalla (1990: 48f.) schätzt den Anteil der indigenen Bevölkerung des Landes auf 8 bis 10 Millionen, was 10 bis 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung entspreche. Zu der kontroversen Frage, wer zur indigenen Bevölkerung zu rechnen sei, schreibt der Anthropologe u.a.: El indio no se define por una serie de rasgos culturales externos que lo hacen diferente ante los ojos de los extraños (la indumentaria, la lengua, las maneras, etc.); se define por pertenecer a una colectividad organizada (un grupo, una sociedad, un pueblo) que posee una herencia cultural propia que ha sido forjada y transformada históricamente, por generaciones sucesivas; en relación a esa cultura propia, se sabe y se siente maya, purépecha ... Was die "herencia cultural" betrifft, so manifestiere sich diese auf sprachlichem Terrain z.B. in mindestens 56 indigenen Sprachen, die sich bis heute erhalten hätten - ein wichtiger Faktor für die Identitätsdebatte, die im folgenden skizziert wird.

3. Exkurs: Über kulturelle Identität, Ethnozentrismus und das Verständnis fremder Kulturen Von Adorno, der gegenüber mentalitätsgeschichtlichen Theorien stets äußerst skeptisch war und "anthropologische Invariantenlehren" sowie die "pathologische 6

Über den gewaltigen B e v ö l k e r u n g s w a n d e l in Argentinien geben die f o l g e n d e n Zahlen von Rojas Mix (1991: 56) A u f s c h l u ß : "De una cuarta parte, que era la población u r b a n a en 1869, pasó a ser m á s del 50 % en 1914. Los imigrantes f u e r o n decisivos en este crecimiento. En 1869 había en B u e n o s Aires doce mil argentinos y cuarenta y o c h o mil e x t r a n j e r o s ; en 1895. cuarenta y dos mil argentinos y ciento setenta y cuatro mil extranjeros, y esto, sin considerar el efecto reproductor. T o d a v í a en 1961 sólo una cuarta parte de los j e f e s de familia eran argentinos de tercera generación."

47 Vergötterung von Nationalcharakteren" zu Recht heftig attackierte (1969: 106), stammt der folgende Satz (1991: 240): Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein. Der Anspruch uneingeschränkter, j e schon erreichter Nähe jedoch, die Verleugnung der Fremdheit gerade, tut dem anderen das äußerste Unrecht an, negiert ihn virtuell als besonderen Menschen und damit das Menschliche in ihm, 'rechnet ihn dazu', verleibt ihn dem Inventar des Besitzes ein.

Und so wie etwa Goytisolo, einer der schärfsten Kritiker nationalspanischer Stereotypen, über den Spanien-Mythos schrieb (1982: 7): "Der Mythos existiert, er ist da - eine mühsam ausgeformte Frucht der Zeit", so wies auch Adorno darauf hin (1969: 104), daß selbst Stereotypen nicht immer jeglicher Wahrheit entbehrten. Die Hausse, die das Thema der kulturellen Identität seit einigen Jahren in den wissenschaftlichen Debatten der Bundesrepublik erfährt, knüpft z.T. an den Problemstellungen an, wie sie u.a. Adorno formulierte. Ulrich Sonnemann, der den führenden Vertretern der Frankfurter Schule nahestand und den deutschen "Wurzelwahn" (1992: 8) und die nationalpathologische "Seelenmechanik" (ebd.: 209) zeitlebens heftig kritisierte, wünschte sich in einer seiner letzten Publikationen (ebd.: 15), daß das Identitätsthema "in seinen herausforderndsten Hinsichten abgehandelt wird statt nach scientifischem Brauch abgedeckt (...)" zu werden. Obgleich Sonnemann, wie übrigens auch Adorno, die Identitätsfrage nur - und damit m.E. verkürzt - als eines der "Sprachheimat" (ebd.: 14) begreift, kritisiert er zu Recht die hierzulande bestehenden Forschungsdefizite bei einem Thema, so Bernhard Giesen, Herausgeber eines umfangreichen Sammelbandes über Nationale und kulturelle Identität (1991: 9), "dem der Wind der historischen Überraschung den Staub weggeblasen hat und das sich keineswegs mehr an den Rand der modernen Welt schieben läßt". So begrüßenswert die zitierte Renaissance des Themas einerseits ist, so bedenklich muten andererseits bestimmte Stimmen an, die in der Identitätskategorie offensichtlich ein probates Substitut auch solcher Forschungsansätze zu sehen scheinen, die in der Identitätsfrage zwar eine wichtige, jedoch komplementäre Fragestellung sehen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise Hondrich (1992: 68) der Meinung, daß die Lücke des "doch sehr enttäuscht habenden Klassenbewußtseins" nunmehr von Stichworten wie "kollektive Identität", "Nationalcharakter"7 oder 7

Auffallend - und m.E. höchst problematisch - ist in diesem Zusammenhang zudem die Tatsache, daß zahlreiche Autoren sogar von "Nationalcharakter" im Singular sprechen und damit offensichtlich stante pede regionale und lokale Besonderheiten nivellieren - ganz so, als wären die damit beschriebenen "historischen Raumkörper" (Dietmar Kamper) schon immer existent gewesen. Solche und ähnliche Vorstellungen hat Kamper (1992: 19) zutreffend als "Raumkrankheiten" apostrophiert.

48 "Ethnizität" zu füllen wäre. Derartige tabula rasa-Positionen, d i e gleichsam "Klasse" durch "Rasse" zu ersetzen trachten, sind m.E. jedoch genaus.o abzulehnen 8 , wie das theoretische Schema, das nach Ribeiro (1985: 27) dem dogmatischen Marxismus eigen sei und das etwa von der Vorstellung ausgehe, daß sich die Entwicklungsunterschiede der modernen Gesellschaften im Sinne von E t a p p e n eines linearen und irreversiblen Evolutionsprozesses erklären ließen. Vor diesem - insbesondere dem deutschen - Hintergrund der Identitätsdebatte, deren spezifische historische Implikationen die angedeuteten Forschungsdesiderate zu einem Gutteil verständlich machen, erscheint es zunächst sinnvoll, d a s Begriffspaar "kulturelle Identität", von dem in der vorliegenden Untersuchung viel die Rede ist, näher zu bestimmen. Einen interessanten Versuch, diesen "marktgängigen Beg r i f f ' und seinen "inflatorische(n) Gebrauch" zu definieren, hat H e r m a n n Bausinger (1982: 1) unternommen. Er weist zunächst d a r a u f h i n (ebd.: 2ff.), daß d a s Adjektiv "kulturell" 9 einer Vielzahl möglicher Bestimmungen ("Hochkultur", "Volkskultur", "Massenkultur", "Soziokultur", "Alltagskultur" etc.) unterliege, aber verschiedene "Konsens-" bzw. "Beschwichtigungstheorien" fälschlicherweise von einheitlichen Werten und Normen ausgingen, die für eine ganze Gesellschaft Gültigkeit beanspruchten: "Es empfiehlt sich jedenfalls", faßt Bausinger die Interpretationsbreite des definitorischen Merkmals "kulturell" zusammen (ebd.: 10), "die F r a g e nach der Kultur und ihrer 'Identität' nicht von politischen und gesellschaftlichen Machtfragen abzutrennen." Als nächstes stelle sich die Frage, was mit dem Identitätsbegriff gemeint sei. Ausgehend von Identität als psychosozialer Kategorie, die sich auf Individuen und deren Ich-Identität beziehe und die als "labiles Gleichgewicht", als Fähigkeit "konfligierende Identifikationen zu synthetisieren" beschrieben wird, k o m m t Bausinger (ebd.: 12) zu dem Ergebnis: Identität, scheinbar Unveränderbares bezeichnend, ist in Wirklichkeit eine prozessuale Kategorie - Identität meint nicht ein beschreibbares, im doppelten Sinne festzustellendes Set von Verhaltensweisen, sondern vollzieht sich in jeweils neuen Antworten und stellt eine jeweils neu vermittelnde Organisation zwischen eigenen Zielen und fremden Erwartungen dar. 8

Darauf verweist auch Jutta Held (1994: 197) im Zusammenhang mit multikulturellen Ansätzen in der Exilforschung: "Die heftige Reaktion, etwa von Finkelkraut, auf d i e postmoderne Tendenz, Differenzen in einer Gesellschaft nur noch kulturell, aber nicht als soziale Ungleichheit zu definieren und sie infolgedessen nicht zu bewerten, g e s c h w e i g e denn abbauen zu wollen, deutet bereits eine Korrektur des Multikulturenrelativismus an."

9

Als globale Kategorie definiert Ainsa (1986: 26) unter Berufung auf "la definición clásica" von Edward B. Taylor Kultur wie folgt: "Cultura es el conjunto completo qu.e incluye conocimiento, creencia, arte, moral, ley, costumbres y todas las demás capacidades y hábitos que el hombre adquiere c o m o miembro de la sociedad." Zum Unterschied vom '"Kultur" und "Zivilisation" vgl. Norbert Elias (1976: lff.).

49 Dieser dynamische Charakter, der bereits der individuellen Identität eigen sei, gelte im Prinzip auch für deren kulturelle Dimension. Auf die "índole dialéctica" des Identitätsbegriffs, der - allen völkerpsychologischen Deutungen angeblicher Invarianten zum Trotz - auf einem "identifica y distingue" - Mechanismus beruhe, hat im Hinblick auf Lateinamerika u.a. Ainsa (1986: 28) verwiesen: "(...) porque un individuo (o un grupo humano) sólo es idéntico a ciertos individuos (o grupos) si se diferencia de otros individuos (o grupos humanos)." Diese Ansicht vertritt auch Erdheim (1984: 85): "Identität gibt es nicht an und für sich, sie bestimmt sich immer als Differenz zum Anderen, zum Fremden." Daraus läßt sich gleichsam per definitionem folgern, daß Identität stets einen prozessualen "unfertigen" Charakter besitzt, insbesondere in Lateinamerika, wie Ainsa (1986: 35f.) betont: "El carácter de proceso 'no terminado' de la identidad cultural, especialmente cuando se pretende abierta y dinámica, resulta fundamental para entender su replanteo permanente en Iberoamérica, donde la búsqueda de la identidad parece haber sido más importante que su definición." Im Unterschied zu den weiter oben zitierten Definitionen kultureller Identität als primär oder exklusiv sprachliches Moment, weist Bausinger (1986: 14ff.) darauf hin, daß neben sprachlichen Aspekten u.a. auch "Alltagsbefindlichkeiten", soziale und kulturelle "Zugehörigkeiten" und "Interaktionen" sowie "symbolische Ortsbezogenheiten" kollektive Identitäten bildeten. Ähnlich hatte bereits Norbert Elias argumentiert (1990: 445), als er darauf hinwies, daß nationale Entwicklungen nicht nur spezifische Einrichtungen, sondern auch "spezifische nationale Glaubensdoktrinen, Gewissensbildungen und Ideale hervorbringen, die zu einem Teil der individuellen Persönlichkeit werden" können, zu einem nationalen "Habitus" 1 0 . Nach Ainsa (1986: 30) beschreibt Identität in Lateinamerika la totalidad de la experiencia histórica del continente, los modos particulares de vida de la sociedad iberoamericana, sus maneras de ser y de obrar, sus tradiciones, los sistemas de valores éticos y estéticos en que se expresa. Esta valoración aspira a ser una 'conciencia totalizadora1 que permite aproximaciones globales al 'ser' colectivo con que se identifica culturalmente esta región ante el resto del mundo. Gelte diese Annahme, so Bausinger (1982: 22), zumindest für die komplexen europäischen Industriegesellschaften, gingen zahlreiche Theorien kultureller Iden-

10 In dieser insgesamt sehr interessanten Studie über das Problemfeld der deutschen Identität, in der Elias zahlreiche historisch entstandene und entsprechenden Veränderungen unterworfene Idiosynkrasien herausarbeitet, etwa am Beispiel der sogenannten "Formalitäts-InformalitätsSpanne" (ebd.: 42), der "satisfaktionsfähigen Gesellschaft" (ebd.: 61 ff.) oder des deutschen Staatsbegriffes (ebd.: 95), scheint die Bedeutung der Identitätsfrage allerdings gelegentlich überbewertet zu werden, wenn sie z.B. (ebd.: 543) als "Zentralproblem der Bundesrepublik" figuriert, das wirtschaftlichen Fragen gegenüber eindeutig Priorität besitze.

50 tität im Hinblick auf außereuropäische Kulturen aufgrund einer angenommenen geringeren Komplexität davon aus, daß deren kulturelle Identität relativ eindeutig und einleuchtend darzustellen wäre. Hier, laute ein häufig formulierter Tenor, ginge es lediglich um die Verteidigung der autochthonen Kulturen gegen nivellierende euroamerikanische Einflüsse, um die Bewahrung oraler Traditionen, handwerklicher Gebrauchskunst und anderer Formen des kulturellen Erbes; aber auch um die Erforschung und Stabilisierung vom Aussterben bedrohter Sprachen, kurz um die Förderung endogener Werte und Formen der betreffenden Kultur. Bei genauerem Hinsehen dränge sich aber die Frage auf, ob die unterstellte Einheit und Einheitlichkeit jener Kulturen nicht das Ergebnis eines "Exotisierungseffektes", also des großen Abstandes sei. Daher kommt Bausinger zu dem Schluß, daß auch die Kulturen der Entwicklungsländer in Wirklichkeit meistens sehr komplex seien und häufig eine Vielzahl von oft sehr ausgeprägten Teil- und Sonderkulturen aufwiesen. In diesem Zusammenhang hat u.a. Todorov (1985: 75) am Beispiel der Eroberung von Mexiko daran erinnert, daß es sich um keinen homogenen Staat gehandelt habe, "sondern (um) ein Konglomerat von Völkern, die von (den die) Spitze der Pyramide bildenden Azteken unterworfen wurden". Es sei hier nur am Rande vermerkt, daß sich damit auch methodologische Probleme ergeben. Dürfte es bereits schwierig sein, die präkolumbinen Gesellschaftsformationen präzise nach "áreas culturales" einzuteilen, die nach Ainsa (1986: 33) bestimmte "rasgos y complejos culturales comunes" und damit eine "identidad clasificatoria" besitzen, dann erscheinen eindeutige Klassifikationskriterien in den wesentlich heterogeneren postkolonialen Gesellschaften noch schwieriger zu sein: "La dificultad surge", schreibt daher Ainsa (ebd.: 40), "cuando se quieren definir los paradigmas para situar los elementos de una realidad que se pretende cambiante". In der von Bausinger zitierten Annahme, die meisten außereuropäischen Kulturen wären weniger komplex und damit einheitlicher als ihre europäischen Pendants, scheint folglich bereits eine gehörige Portion Ethnozentrismus enthalten zu sein. Ethnozentrismus, der nach einer Definition des Brockhaus (1988: 603) eine Einstellung, Auffassung oder Lehre darstellt, "die das eigene soziale Kollektiv (Gruppe, Schicht, Volk, Nation, Rasse u.a.) in den Mittelpunkt stellt und gegenüber anderen, fremden als höherwertig, überlegen interpretiert", manifestiert sich indessen, insbesondere in den europäischen Versionen, auf vielfältige Weise. Lassen sich etwa die rassistisch-biologischen Neue Welt-Interpretationen, wie sie während der Aufklärungsdebatten en vogue waren (Rehrmann 1989), relativ leicht als ebensolche identifizieren, besitzen andere Ethnozentrismusformen eine subtilere, auf den ersten Blick weniger evidente Gestalt, wie etwa aus der weiter oben zitierten Kritik Ribeiros an doktrinären Marxismusvarianten hervorgeht.

51 Es sind insbesondere die Arbeiten des französischen Ethnologen Claude LéviStrauss, die für einen radikalen Kulturrelativismus plädieren und zahlreiche Ansätze der europäischen Geschichtsphilosophie, Kulturanthropologie, Entwicklungssoziologie etc. als zumindest implizit ethnozentristisch kritisieren. In Rasse und Geschichte (1972: 19) schreibt Lévi-Strauss: Aber die bloße Proklamation der natürlichen Gleichheit aller Menschen und der Brüderlichkeit, die sie ohne Ansehen der Rasse oder der Kultur vereinigen sollte, ist intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt und von der man nicht einfach behaupten kann, daß sie das Problem im Kern nicht berühre, so daß man sie theoretisch und praktisch als nicht vorhanden ansehen könne. Am Beispiel des "falschen Evolutionismus" (ebd.: 20), der sämtliche Kulturen in Stadien und Etappen einteile, die gleiche Ausgangspunkte und Ziele hätten, oder am Beispiel "stationärer" und "kumulativer Geschichte" (ebd.: 37), durch die sich angeblich zahlreiche außereuropäische von europäischen Kulturen unterschieden, insistiert Lévi-Strauss dagegen auf der Position, die auch Bausinger (1982: 41) betont, daß nämlich "jede Kultur ihren Eigen-Sinn (hat) und daher nicht mit den Maßstäben einer anderen Kultur gemessen werden (darf)- Bedenkt man die kulturimperialistischen Deutungssysteme, mit denen man vorher häufig zu Werke ging, so ist diese Wendung sicherlich zu begrüßen." Die Positionen des französischen Ethnologen blieben freilich nicht unwidersprochen. Sein Versuch, schreibt beispielsweise Schmied-Kowarzik (1981: 380f.), die formalen Transformationsgesetze, in denen etwa die sich weltweit gleichenden Mythenmotive kulturspezifisch variieren, aufzufinden, um die darin enthaltene Logik herauszuarbeiten, d.h. mit diesen und ähnlichen strukturellen Bauelementen die Logik des menschlichen Geistes zu rekonstruieren, die allen Strukturierungen der menschlichen Existenz, sowohl den Denkformen als auch den Handlungsmöglichkeiten der Menschen zugrundelägen - dieser Versuch bringe die Problematik dieses Ansatzes zum Vorschein: nämlich "der - zu Recht viel gerügte - ungeschichtliche Ansatz seiner an der naturhaften Struktur des Geistes festgemachten strukturalen Anthropologie". Demgegenüber verweist Schmied-Kowarzik auf Karl Marx, der bereits in seiner Kritik des anthropologischen Ansatzes von Ludwig Feuerbach hervorgehoben habe, daß es keine naturhaft gleichbleibenden Strukturen des menschlichen Daseins gebe, da diese immer schon durch die gesellschaftliche Praxis des Menschen geschichtlich überformt seien. In seiner Kritik des Ansatzes von LéviStrauss und anderen Vertretern einer strukturalen Anthropologie geht es SchmiedKowarzik insbesondere um den Nachweis (ebd.: 363), daß aus der Perspektive philosophischer Reflexion (Hervorh. v. N.R.) der Mensch sehr wohl "in der geschichtlichen Verwirklichung seiner kulturellen Existenz, d.h. in der Totalität menschlicher Kultur zu begreifen" sei, ohne damit (ebd.: 384f.) weder "geschichtli-

52 che Universalgesetze nachträglich aus dem Verlauf der Ereignisse" zu abstrahieren, noch "irgendwelche Periodisierungsschemata der Geschichte" überzustülpen. Dies könne, zeigt sich der Autor überzeugt, sowohl durch eine Analyse der Produktionsweise als auch der Reproduktion "archaischer Gesellschaften" geschehen, deren "Praxisprobleme", heißt es abschließend (ebd.: 389), im übrigen auch "unsere eigenen" seien. Und dies nicht nur, "weil wir, die Industrienationen, sie mit hervorgerufen haben, sondern weil wir vor der Aufgabe stehen, die weltweiten Praxisprobleme der Gegenwart zu bewältigen, wenn es ein Überleben oder gar eine kulturelle Weiterbildung der Menschheit überhaupt geben soll". Ob dieser Ansatz geeignet ist, das auch vom Autor (ebd.: 370) zitierte Dilemma der Ethnologie und damit das eines jeden, der mit fremden Kulturen konfrontiert wird, zu überwinden, daß es nämlich einerseits aufgrund der möglicherweise völlig verschiedenen Sinndeutungen der Wirklichkeit kein wahrhaftes Verstehen des Fremden geben könne, dieses Verständnis andererseits nur um den Preis einer totalen Aufgabe der eigenen - wissenschaftlichen - Sinndeutung der Wirklichkeit und vollständigen Initiation in die Lebenspraxis und Sinndeutung des dann nicht mehr Fremden möglich sei: diesseits philosophischer Reflexionen dürfte dieses Dilemma vermutlich auch weiterhin fortbestehen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung stellt sich deshalb die Frage, ob es überhaupt objektive Kriterien zur Beurteilung dessen gibt, was untersucht wird. Ist es etwa bereits damit getan, wie Michel Leiris in Die eigene und die fremde Kultur (1977: 53) formuliert, die jeweils "unterscheidenden Merkmale herauszustellen"? Oder reicht es aus, wie Gewecke (1986: 290) postuliert, "das Werte- und Normensystem einer Fremdkultur als zumindest für diese selbst annehmbar" zu erachten? Da die vorliegende Arbeit keinen Beitrag zur ethnologischen Theoriediskussion darstellt, sondern eine empirische Analyse der Fremdwahrnehmung unternimmt, läge es in der Tat nahe, sich auf die "Inventarisierung" dieser Fremdwahrnehmung in den Texten der jeweiligen spanischen Autoren im Sinne von Leiris zu beschränken. Zentrales Beurteilungskriterium für den Grad an Übereinstimmung zwischen empirischer Wirklichkeit (Lateinamerikas) und abgebildeter Wirklichkeit (in dem untersuchten Textkorpus) wäre dann, entsprechend dem Vorschlag Gewekkes, die Selbsteinschätzung der (lateinamerikanischen) Fremdkultur. Die auch hier relevante Frage, worin sich grosso modo spanische und lateinamerikanische Interpretationen der lateinamerikanischen Wirklichkeit unterscheiden, welches Lateinamerikabild sich also bei den untersuchten spanischen Autoren ermitteln läßt, kann auf diese Weise ohne Zweifel beantwortet werden. Da jedoch das zitierte Werte- und Normensystem der Fremdkultur von dieser selbst, d.h. insbesondere von ihren intellektuellen Repräsentanten, keineswegs einheitlich beurteilt wird und eine der zentralen Untersuchungshypothesen von einem Ethnozentrismusverdacht

53 ausgeht, der seinerseits bestimmte Werturteile impliziert, erscheint es darüber hinaus erforderlich, diese zu benennen. In seinem Beitrag über Interpretative Probleme in Prozessen interkultureller Verständigung hat Peter Masson (1981: 140) unter Berufung auf G. Myrdal daher vorgeschlagen, die die jeweilige Forschung beeinflussenden oder leitenden Interessen als wertbezogene ins Bewußtsein zu heben, zu prüfen und im Falle der moralischen wie rationalen Akzeptierbarkeit der eigenen Arbeit als "Wertprämissen" voranzustellen und offenzulegen: "Dies bedeutet aber, vom Schein eines absoluten, zumindest aber technisch optimal erreichbaren Objektivitätsstandards endgültig Abstand zu nehmen und 'Objektivität' in Datenerhebung und Präsentation von Ergebnissen als eine 'relationale' zu verstehen ..."." Als eine ebensolche, d.h. als "infinite Approximation" (ebd.: 149), verstehen sich sowohl die obigen als auch die folgenden Lateinamerikainterpretationen.

4. Zentrale Aspekte der lateinamerikanischen Identitätsdebatte Unabhängig von der Frage, wie "wirklichkeitsrelevant" oder "wirklichkeitsgestaltend" die lateinamerikanische Identitätsdebatte - sei es in der Literatur oder den Kulturwissenschaften - tatsächlich war und ist, ob etwa Amerika im Sinne der suggestiven Metapher O'Gormans eher "erfunden" werden muß oder, wie Reyes (Lang 1991: 41) vorschlug, eher durch eine "Inventarisierung" ermittelbarer Kulturtraditionen zu bestimmen ist - unabhängig davon ist diese Debatte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung insbesondere aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen bietet sie interessante Vergleichsmaßstäbe zur Beurteilung der hier untersuchten Texte, die sich z.T. explizit auf diese Debatte beziehen; zum anderen trägt sie zur Beantwortung der Frage bei, ob und inwieweit sich die spanischen Autoren mit ihr auseinandersetzen bzw. sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Mit anderen Worten: Da die Identitätsdebatte einen wesentlichen Aspekt der lateinamerikanischen Kultur darstellt, ist ihre Beachtung oder Nichtbeachtung ein wichtiges Indiz zur Beantwortung der Frage, ob und wie sich die untersuchten Autoren mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit, zu der diese Debatte sui generis gehört, auseinandersetzen.

11 Der Dikurs über kulturelle Identität hat, wie Jutta Held (1994: 196f.) b e m e r k t , auch die Exilforschung beeinflußt: "Diese neue Thematisierung des Exils als einer geschichtlichen Erfahrung der Peripherie ist zweifellos durch die Diskussionen u m die multikulturellen Gesellschaften und die Migrationen angeregt worden. Hier geht es ganz wesentlich d a r u m , den Missionsdrang einer Kultur, ihr Dominanzstreben, theoretisch zu unterminieren und ihren Geltungsanspruch im Verhältnis zu anderen Kulturen zu relativieren." Vgl. dazu Kapitel XII der vorliegenden Untersuchung.

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4.1 Zur Namensproblematik "El intento (la necesidad) de definir el ámbito histórico propio de nuestra América", schreibt Fernández Retamar (1979: 122), "va acompañado, como es habitual en casos similares, por la búsqueda de la denominación que mejor corresponda a ese ámbito: esa denominación contribuye a mostrar el grado de conciencia que se tiene de aquello que se aspira a aprehender." Ohne die Kontroverse um die Autorenschaft an der außerhalb Spaniens häufigsten Bezeichnung "Lateinamerika" sowie um die semantische Dimension dieser und alternativer Benennungen ("Indoamérica", "Indoafroamérica", "Iberoamérica", "Hispanoamérica" etc.) hier nachzuzeichnen (vgl. Rojas Mix 1991: 343ff., Berschin 1982 und Meyer-Minnemann 1987: 3ff.), sei jedoch auf die evidente Tatsache verwiesen, daß sämtlichen Bezeichnungen eindeutige und damit einseitige kulturhistorische Optionen inhärent sind, die weder der kontinentalen noch den einzelnen regionalen Realitäten, wie u.a. das "VölkerSchema" Ribeiros illustriert, gerecht werden. Jeder dieser Namen, schreibt etwa Octavio Paz (1989: 59), "läßt einen Teil der Realität unbenannt". Das wird wohl auch in Zukunft so bleiben, wenn man auf linguistische "Bandwurmgebilde" wie "Indo-afro-iberoamérica", die gelegentlich vorgeschlagen werden, verzichten möchte. Dabei kann die gewählte Bezeichnung zwar ein wichtiges Indiz für bestimmte kulturhistorische Präferenzen sein, aber kaum mehr. Denn häufig, wie aus der vorliegenden Untersuchung selbst hervorgeht, kommen etwa spanische Autoren, die die Bezeichnung "Hispanoamérica" bzw. "Iberoamérica" (unter Einschluß Brasiliens) verwenden, zu einer differenzierteren Darstellung der kulturellen Vielfalt des Subkontinents, als solche, die aus praktischen oder opportunistischen Gründen von "Lateinamerika" sprechen. In diesem Zusammenhang verweist etwa Rojas Mix (1991: 137) auf José Martí, dessen kritischer Impetus und herausragende Rolle bei der lateinamerikanischen Identitätssuche zwar weitgehend unbestritten ist, der jedoch außer von "Nuestra América" zugleich von "Madre América", "América española", "América de habla española", "pueblos castellanos de América" (sie), "Hispanoamérica", "Suramérica", "América indohispánica" etc. gesprochen habe. Der Namensdisput, der sich auch an der Schreibweise Mexikos ("México", "Méjico") entzündete 12 (Rehrmann 1989: 117), ist daher im Rahmen dieser Arbeit nur von begrenzter Bedeutung. Aufschlußreich für die kulturhistorische Optik einzelner Autoren ist folglich nicht in erster Linie die verwendete Bezeichnung, son-

12 Gleiches gilt übrigens für die Bezeichnung der Sprache: "Desde que A m a d o Alonso publicó su Castellano, español, idioma nacional, schreibt Manuel Alvar in seiner Untersuchung Hombre, etnia, estado. Actitudes lingüísticas en Hispanoamérica (1986: 7 4 ) , "la denominación de nuestra lengua no ha dejado de ser motivo de consideración."

55 dem die Beantwortung der Frage, ob sie sich der Problematik der verschiedenen Begriffe zumindest bewußt sind.

4.2 Identität und Differenz zum Anderen: der lateinamerikanische Identitätsdiskurs und Europa Bevor Kolumbus in die Neue Welt kam, schreibt Mario Erdheim (1984: 85) in einem Beitrag über die Problematik einer lateinamerikanischen Identität, habe es noch keine Indianer, sondern Tausende verschiedener Völker gegeben, die sich durch ihre Sprache, Sitten und Gebräuche selbstbewußt voneinander unterschieden hätten: "Erst das Auftauchen der Europäer führte zu einer Homogenisierung des Identitätsbewußtseins, wobei es sich aber vorerst einmal um eine fremde, von den Europäern für die neuen Völker entworfene Identität handelte." Daran sollte sich auch nach der Independencia im Prinzip zunächst nur wenig ändern. Obwohl etwa Bolívar die mittel- und südamerikanische Identität als "una especie media entre el indio y el europeo" und damit, so Rojas Mix (1991: 69), als "una ambigüedad, más que un mestizaje" definierte, stand "Europa" (außer Spanien) unter den siegreichen kreolischen Eliten hoch im Kurs. Bevor diese Debatte in ihren "Eckpunkten" skizziert wird, erscheint es sinnvoll, einige exponierte europäische Autoren zu Wort kommen zu lassen, auf die sich die lateinamerikanische Debatte u.a. stets bezog. Fernando Ainsa schreibt in diesem Zusammenhang deshalb in seiner Globaluntersuchung Identidad cultural de Iberoamérica en su narrativa (1986: 20f.): Es necesario - y muchas veces en forma abiertamente contradictoria - integrar esta representación (die "internen" Identitätsvorstellungen, N . R . ) con la idea que los 'demás', es decir, los integrantes de 'otros grupos culturales', se hacen de 'esa' identidad. S ó l o de la imagen y de la contra-imagen y de la confrontación de sus reflejos a escala global puede surgir una idea aproximada de 'cual' es 'realmente' la identidad cultural de una sociedad.

Die europäische Debatte illustriert zudem, daß sich das panhispanistisch geprägte Lateinamerikabild teilweise in "bester Gesellschaft" befand, ja, daß der Ethnozentrismus zahlreicher europäischer Autoren denjenigen spanischer Couleur des öfteren noch übertraf. Den Auftakt 13 der europäischen Neue Welt-Interpretationen außerhalb Spaniens bildeten zwei Autoren, deren unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Positionen spätere Dichotomien gewissermaßen vorwegnahmen.

13 Was die antiken "Amerika"-Visionen, insbesondere die Rezeptionsgeschichte des Barbarenbegriffes betrifft, der für diese Debatte von zentraler Bedeutung war, vgl. u.a. Zea (1989) und Nippel (1990).

56 In seinem Essay Über die Menschenfresser, so der sarkastische, auf erkenntnisfördernde Täuschung zielende Titel, präsentierte Michel de Montaigne für seine Zeit, Ende des 16. Jahrhunderts, nachgerade revolutionäre Ansichten. Der Essayist versuchte u.a. die lateinamerikanischen Kulturen aus sich selbst heraus zu verstehen, selbst deren vermeintlichen "Kannibalismus", der vor allem den Azteken angedichtet wurde, und resümiert (Bitterli 1991: 182) seine culturphilosophischen Provokationen in dem Satz: "Wir mögen sie also im Hinblick auf die Vorschriften der Vernunft Barbaren nennen, aber nicht im Hinblick auf uns selbst, die wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen." Ganz anders, und damit dem damaligen Zeitge:st wesentlich näher, argumentierte Montaignes Zeitgenosse Shakespeare. Wiewohl wahrscheinlich von dessen Essays inspiriert, zeichnete der englische Dramatiker in seinem letzten Theaterstück Der Sturm (1985) am Beispiel des indio Calibän das Portrait eines Wilden, das so ziemlich alle Accessoirs aufweist, wie wir sie aus den Robinsonaden und phantastischen Reiseerzählungen kennen. Die Nomenklatur, die sich auf diesen bezieht, bezeichnet das Böse schlechthin: "Mißgeschaffener Schurke", "Halbteufel", "Bastard", "Geschöpf der Finsternis" etc. Wenngleich diese Schmähungen aus dem Munde der europäischen Protagonisten die Meinung des Autors auch nur partiell widerspiegeln und einige Passagen durchaus Sympathie für Calibän erkennen lassen, so ist Shakespeares Botschaft dennoch klar: Die Zivilisation hat ihre Heimstatt in Europa und nirgendwo anders. Bei zahlreichen Aufklärungsphilosophen, die sich der Neuen Welt als Lieferanten abendländischer Ratio empfahlen, feierte Shakespeares Credo wahre Triumphe. Von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, die, wie vor allem Jean-Jacques Rousseaus "homme naturel", für kulturelle Relativität und kritische Selbstüberprüfung plädierten, bestimmten kulturelle Arroganz und - ein inzwischen säkularisiertes Sendungsbewußtsein den philosophischen Diskurs. So war Immanuel Kant (Gerbi 1960: 307) davon überzeugt, das "Volk der Amerikaner" nehme keinerlei Bildung an, besitze keine Dynamik und sei schlicht "faul". Die völkerpsychologischen Plattheiten des Königsberger Philosophen, der im Kontext der anthropologischen Diskussionen seiner Zeit, die sich um Abstammungstheorien, Schöpfungsmythen und Rasse-Begriffe drehten, noch eine vergleichsweise fortschrittliche Position vertrat, wurden durch Hegel noch übertroffen. Ihm (ebd.: 396) galt als ausgemacht, daß die "ganz natürliche" Kultur Perus und Mexikos untergehen mußte, "sowie der Geist sich ihr näherte". Und dort, wo das noch nicht geschehen war, erhoffte er sich baldige Abhilfe. Denn die "Dissonanzen" und "Aphonien" der amerikanischen Singvögel, so eine seiner Thesen, hätten diese von den 'unartikulierten Töne(n) entarteter Menschen', die in den brasilianischen Urwäldern hausten, leider gelernt. Wenn nun diese dereinst verschwinden würden, hoffte der Liebhaber des bei canto,

57 würden auch "viele der gefiederten Sänger (wieder) verfeinerte Melodien hervorbringen". Damit zeige sich, resümiert Bitterli (1991: 323), daß auch die europäische Aufklärung - trotz ihrer Einsicht in den Pluralismus der Kulturen, trotz ihrer Idee der intellektuellen Gleichartigkeit der Gattung und des daraus sich folgerichtig ergebenden Postulats nach rechtlicher Gleichstellung und trotz des wachsenden Verständnisses für die Dynamik historischer Entwicklung - vielfach über die früheren Befangenheiten nicht hinausgekommen sei: "Alte Weltherrschaftsansprüche melden sich in neuem Gewand. (...) So stehen wir denn vor dem einigermaßen paradoxen Tatbestand, daß das Sendungsbewußtsein des erleuchteten Jahrhunderts, getragen von der humanen Idee des 'homme universel et raisonnable', dazu neigte, die eben postulierte Achtung vor dem Menschlichen Lügen zu strafen." Das unheilvolle Sendungsbewußtsein Europas, nunmehr vom Himmel auf die Erde herabgestiegen, nahm seinen Lauf. Im Gewände eines universellen Fortschrittbegriffs fand es auch Eingang in das Denken der marxistischen "Klassiker". Die "faulen Mexikaner", kommentierte etwa Engels (Zea 1989: 108) die Annexion ihres Territoriums durch die USA Mitte des letzten Jahrhunderts, müßten doch eigentlich froh darüber sein, von den "energischen Yankees" in die Weltgeschichte katapultiert zu werden. Wenn dabei, zeigte er sich nicht zimperlich, "einige süße Blümlein zertrampelt" würden, sei das zwar bedauerlich, im Sinne des geschichtlichen Fortschritts aber unvermeidlich. Da stimmt es immerhin tröstlich, daß ein anderer deutscher Gelehrter von Rang, Alexander von Humboldt, dasselbe Ereignis aus einer anderen Optik wahrnahm und beschrieb. Ihm mißfalle "höchstlich", schrieb er 1848 (1989: 66), wie sich die US-Strategen in ihrem sogenannten Hinterhof benähmen und wünschte ihnen "alles Unglück im tropischen Mexiko". Humboldt, der die Neue Welt selbst bereiste, gilt denn auch zu Recht als der eigentliche Neuentdecker Amerikas. Wie vor ihm schon Kolumbus, so verfiel zwar auch der deutsche Naturforscher vor der amerikanischen Flora und Fauna des öfteren in Staunen; sein "empirischer Blick" verwandelte die überschwenglichen Gefühle aber in der Regel in präzise Fragestellungen und unvoreingenommene Deutungsversuche. Hier und da blieb zwar auch Humboldt seiner Zeit verhaftet, etwa dort, wo er ziemlich undifferenziert von "Wilden", "Horden" oder "Kannibalen" spricht. Seine Kritik an Sklaverei, unmenschlicher Ausbeutung und religiöser Zwangsbekehrung läßt jedoch insgesamt den radikalen Humanisten erkennen, der seiner Zeit in vielem voraus war 1 4 .

14 Zur Bedeutung Humboldts für die lateinamerikanische Identitätsdebatte vgl. Wolfgang Greive (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Die andere Entdeckung Amerikas, Loccumer Protokolle 10: Rehburg-Loccum 1992.

58 Insgesamt faßt Fernández Retamar (1979: 109f.) die europäische "contra-imagen" (Ainsa), mit der sich der lateinamerikanische Identitätsdiskurs von seinen Anfängen bis in die Gegenwart auseinanderzusetzen hatte, unter Berufung auf Rojas Mix in vier Etappen zusammen. Die erste Etappe - "la fantástica" - erstrecke sich von der sogenannten "Entdeckung" bis zum XVI. Jahrhundert und basiere im wesentlichen auf den Texten der spanischen Chronisten. Die zweite Etappe - "la exótica" - dauere etwa bis zur Emancipación und speise sich durch die zitierten Autoren der Aufklärung. Die dritte Etappe - "la imagen científica" - stehe hauptsächlich mit Humboldt in Verbindung, oder auch - mutatis mutandis - mit den zitierten lateinamerikanischen oder marxistischen "Klassikern" und ihren Epigonen. Die vierte und letzte Etappe - "la imagen de la revolución, la pobreza y el mañana" - fasse schließlich, so Fernández Retamar, in gewisser Weise die vorangegangenen zusammen, "y va desde la evocación de un trópico vagamente paradisíaco hasta aspectos de nuestra miseria y carteles con el rostro multitudinario del Che."

4.3 Vom Okzidentalismus zum Indo- und Afroamerikanismus: Zu einzelnen Etappen und Positionen der Identitätsdebatte im 19. und 20. Jahrhundert in der Essayistik und den Kulturwissenschaften Obgleich die nach der Emancipación forciert einsetzende Identitätsdebatte auch stets die Gefahr einer Kompensation der ökonomischen und politischen Misere des Subkontinents enthielt, wie etwa Werz (1991: 7) betont, war sie doch in erster Linie ein - zunächst deutlich defensiver, aber nicht minder erforderlicher - Akt kultureller Selbstfindung. Und wer diese übertriebene Leidenschaft verurteile, zitiert derselbe Autor (ebd.: 6) Frantz Fanon, "der vergißt, daß sein Ich sich bequem hinter einer französischen oder deutschen Kultur verschanzen kann, die schon Proben ihrer Existenz gegeben haben und von niemandem bestritten werden". Ähnlich argumentiert Rojas Mix (1991: 23), wenn er davon spricht, der durchschnittliche lateinamerikanische Intellektuelle, zumal der nach 1824, sei gleichsam "besessen" von der Idee des "hombre culto": "y ser culto implica asumir la instrucción europea: lo lleva a lanzarse a la inmensa tarea de abordar el universalismo; en tanto que el europeo, consciente de su identidad cultural, puede, sin complejo, mantenerse en el marco del saber de la tradición nacional." Es verwundert daher kaum, daß sich die kreolischen Eliten zunächst radikal vom kulturellen Erbe Spaniens abwandten, und zwar in einem Maße, das dem Versuch einer "Dekulturation" (Gewecke) gleichkam, und sich statt dessen an "Europa" und teilweise an den USA orientierten. Octavio Paz brachte das nun auch kulturelle

59 Schisma zwischen einstiger "Madre Patria" und ihren Kolonien prägnant auf den Begriff. Die nordamerikanische Unabhängigkeitsbewegung, so sein Vergleich (Rama 1982: 25), sei Folge der englischen Ideen, Institutionen und Prinzipien gewesen, die zu dem neuen Kontinent gelangten. Die Trennung von England sei keine Negation Englands, sie sei eine Affirmation der Prinzipien und Glaubensvorstellungen gewesen, in deren Geist die ersten Kolonien gegründet worden seien. Davon hätten sich die Beziehungen der hispanoamerikanischen Kolonien mit der Metropole grundlegend unterschieden: Die hispanoamerikanische Unabhängigkeit sei nicht nur eine Bewegung der Separation, sondern der Negation Spaniens gewesen. Die kulturelle Abnabelung von Spanien führte indessen zunächst nicht zu einer Neubestimmung der präkolumbinen Kulturtraditionen. Hatte etwa Bolívar in seiner Vorstellung von einer "sociedad plurirracial" das kulturelle "Mischungsverhältnis", wie Rojas Mix schreibt (1991: 69), ziemlich unbestimmt gelassen, gerieten die indigenen Traditionen nun auch unter den kreolischen Intellektuellen selbst in den Verdacht der Barbarei. Unter dem programmatischen Titel Zivilisation und Barbarei erteilte Domingo Faustino Sarmiento, einer der bekanntesten Exponenten dieser Richtung, allen Versuchen eine Absage, diese "Barbarei" wiederzubeleben. Es mag ungerecht gewesen sein, schrieb er (Fernández Retamar 1979: 144), die "Wilden" zu vernichten und fremde Völker zu erobern. Doch dank solcher Ungerechtigkeiten existiere heute die perfekteste, intelligenteste, schönste und fortschrittlichste Rasse der Welt. Die starken Rassen, so sein hymnischer Schlußsatz, vernichteten die schwachen, die zivilisierten Völker verdrängten die wilden ... Die Gedanken der europäischen Aufklärung, das illustrieren diese Sätze, hatten Amerika als zeitverschobenes Echo erreicht. Freitag hatte die Zivilisationslektionen Robinsons offensichtlich akzeptiert. Sein kulturelles Vermächtnis faßte Sarmiento in dem Appell (ebd.: 54) zusammen: "Alcancemos a los Estados Unidos. (...) Seamos Estados Unidos." Der Triumph der europäischen Zivilisation über die amerikanische Barbarei erwies sich indessen schon bald als Schimäre. Als Antwort auf die französische Invasion Mexikos in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schrieb etwa der chilenische Autor Francisco Bilbao (ebd.: 150), dessen Sicht der Dinge allmählich bestimmend wurde: "¡Qué bella civilización aquella que conduce en ferrocarril la esclavitud y la vergüenza!" Diese Suche nach einem eigenen Identitätsprofil berührte gleichzeitig, schreibt Josef (1986: 238), "al problema fundamental de la cultura ..., la que se debatía desde siempre entre sus raíces 'indígenas' y la tradición europea". Unter den exponiertesten Intellektuellen Lateinamerikas des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts war es vor allem der Kubaner José Martí, der dieses "problema fundamental", zusammen mit einem dezidierten Antiimperialismus, als ebensolches begriff: "La in-

60 teligencia americana", schrieb er (Fernández Retamar 1979: 45), "es un penacho indígena. ¿No se ve cómo del mismo golpe que paralizó el indio se paralizó a América? Y hasta que no se haga andar al indio, no comenzará a andar bien la América." Auf die Euphorie, die der okzidentale Fortschrittsbegriff unter den lateinamerikanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ausgelöst hatte, entgegnete Marti (ebd.: 155): Éramos una máscara, con los calzones de Inglaterra, el chaleco parisiense, el chaquetón de Norteamérica y la montera de España [...] Ni el libro europeo ni el libro yanqui daban la clave del enigma hispanoamericano [...] A adivinar salen los jóvenes al mundo, con antiparras yanquis o francesas, y aspiran a dirigir un pueblo que no conocen. Und ähnlich wie Rubén Darío, der u.a. in seinem 1901 erschienenem Buch España Contemporánea (1987) ein überwiegend positives Verhältnis zu Spanien erkennen läßt, verwirft auch Marti das kulturelle Vermächtnis der einstigen "Madre Patria" keineswegs zur Gänze. Nach Rojas Mix (1991: 143) besteht der Beitrag des Kubaners, der für die Identitätsdebatte enorme Konsequenzen gehabt habe, vor allem in einer definitiven Erweiterung des "Amerika"-Begriffs: "La diferencia fundamental con el hispanoamericanismo anterior" bestehe darin, daß Marti darin "todo el mundo" einschließe: "a los negros, los mulatos, los indios, los mestizos; al pueblo de los pobres y oprimidos. Esta 'patria grande' es democrática en strictu sensu." Damit unterscheidet sich der Begriff der kulturellen Identität, wie ihn Marti formulierte, grundlegend von den Positionen anderer exponierter Denker seiner Generation: "Martí difiere tanto de Rodó como de Sarmiento en su posición frente a los Estados Unidos. Se distingue de ellos", so Rojas Mix (ebd.: 144), "porque no defiende ni el espíritu latino ni el modelo usaico. No combate el sajonismo de los Estados Unidos, sino que combate el sistema: la sociedad de clases y el capitalismo." Damit entgeht das Denken Martís, das die kulturelle Dimension des Identitätsbegriffs nicht von politisch-ökonomischen Faktoren trennt, zugleich der Kompensationsgefahr, auf die Werz weiter oben hingewiesen hat. Genau diese Gefahren, wenn auch in unterschiedlichen Schärfegraden, war zahlreichen Identitätsvorstellungen inhärent, die in den folgenden Jahrzehnten formuliert wurden. Etwa José Enrique Rodos Essay Ariel von 1900 (1991), in dem der Uruguayer den kruden Materialismus der nordamerikanischen Gesellschaft mit dem angeblichen "Spiritualismus" der südamerikanischen Gesellschaften konfrontiert und in den europäischen, vermeintlich weniger aggressiven Kapitalismusversionen, ein Vorbild für Lateinamerika sieht. Vergleichbare Ambivalenzen enthalten die Visionen einer "raza cósmica" des Mexikaners José Vasconcelos von 1925 (Fernández Retamar 1979: 159), die den Klassenkampf durch eine Art ontologischer Einheit aller Rassen, Klassen und Schichten zu ersetzen trachten. Kaum we-

61

niger ambivalent, wenn auch auf gänzlich andere Art, nimmt sich die Identitätsfrage, vor allem das zitierte "problema fundamental" darin, bei José Carlos Mariátegui aus, der okzidentale Marxismuselemente und indigene Traditionen zu einer Synthese zu vereinigen versuchte: "Die Vermutung, die indianische Frage sei ein ethnisches Problem", schrieb er (1986: 39) beispielsweise in den zwanziger Jahren, "nährt sich aus dem rückständigsten Repertoire imperialistischer Ideen." Alle Versuche, die indianische Frage unter anderen als ökonomischen Aspekten zu betrachten, hielt Mariátegui für "eine billige Erfindung der Schreiberlinge am Tisch des Feudalherrn". Dagegen führe die sozialistische Kritik zu der Erkenntnis (ebd.: 35): "Die indianische Frage ist in unserer Wirtschaft begründet." Obwohl auch Mariátegui den spanischen Einfluß ("... nur der spanische war wirklich ausschlaggebend." Ebd.: 93) nicht völlig negierte 15 , markiert sein ökonomistischer Ansatz gegenüber der dominanten "Überbau"-Debatte zwar einen Fortschritt, erweist sich durch die Ausblendung der kulturellen Dimension der "indianischen Frage" aber seinerseits als kontraproduktiv: "He aquí", schreibt deshalb Rojas Mix (1991: 302), "la crítica fundamental que hace José María Arguedas a Mariátegui, aparte de reprocharle su desconocimiento de la cultura indígena, que nunca estudió." Trotz seiner ersichtlichen Schwächen war jedoch gerade das Werk Mariáteguis für das Aufkommen der indigenistischen Strömung - und ihres afroamerikanischen Pendants - Anfang des 20. Jahrhunderts von erheblicher Bedeutung. Denn der Indigenismus, so Meyer-Clason (1987: 47), "entstand ... aus einer ideologischen Sensibilisierung, die der Aktivität von Autoren wie Manuel González Prada und José Carlos Mariátegui zu verdanken war". Dabei markiert der aufkommende Indigenismus das weitgehende Ende des Indianismus, der praktisch das gesamte 19. Jahrhundert über dominant gewesen war. Im Unterschied zum Indigenismus, der sich allmählich mit den realen und aktuellen Problemen der indigenen Bevölkerung als Folge eines jahrhundertelangen Ausbeutungs- und Entfremdungsprozesses zu beschäftigen begann, hatte sich der Indianismus überwiegend auf stereotype, oberflächliche, nostalgisch-vergangenheitsorientierte und ästhetisch-idealisierende Darstellungen beschränkt. Dennoch war auch dieses Element der lateinamerikanischen Identitätssuche, so Meyer-Clason (ebd.: 42), mit einem "paradoxen Widerspruch" behaftet: Er (der Indianismus, N.R.) entdeckte eine Figur aus seiner eigenen Umwelt und wertete sie auf, aber nur, weil er sie in den Büchern prestigebeladener europäischer Autoren als Held hatte figurieren sehen. Doch obwohl das Eigene darin so verfremdet vorkam, haben wir auch den Indianismus als einen Versuch der Selbstbehauptung und Identitätssuche zu verstehen. 15 Insbesondere als Reaktion auf die US-amerikanische Intervention in Kuba und Panama ließ sich seit dem fin de siècle übrigens ganz allgemein von einer gewissen "hispanistischen" Renaissance unter lateinamerikanischen Intellektuellen sprechen (vgl. Gewecke 1983: 50f.).

62 Unproblematisch war der kulturelle "Paradigmenwechsel" damit jedoch nicht geworden. Denn obgleich die indigenistische Strömung, in kulturwissenschaftlichen Abhandlungen ebenso wie in der Literatur und Malerei, einen enormen Fortschritt darstellte, enthielt (und enthält) er auch stets solche ideologischen Facetten, die Rojas Mix (1991: 261) als "indigenismo de 'encomendero'" bezeichnete: Lo que llamamos indigenismo de encomendero no es una pretensión identitaria de los propios indígenas, sino la visión que de ellos tienen los grupos criollos dominantes. Podríamos, igualmente, denominarlo «indigenismo criollo». El indigenismo de encomendero en el fondo no es sino una variante de la ideología de la hispanidad, porque sigue considerando la cultura hispánica (la ibérica o la lusitana, cuando se trata del Brasil) como dominante. La diferencia entre éste y el indianismo del siglo pasado es que se reconoce en el mestizaje cultural y considera las culturas no hispánicas un aporte. Pero nada más. Diese Tendenz, die ab den zwanziger Jahren in nahezu allen Ländern Lateinamerikas auftauche, sei im Grunde nur eine Affirmation der kreolischen kulturellen Identität, deren Okzidentalismus durch ein Bad in den "nationalen Quellen" bereichert werde: "Es la cultura ideológica del mito de 'pueblo joven'", so derselbe Autor (ebd.: 262), "agrega a la cultura universal la vitalidad del 'primitivismo'." In den sechziger Jahren, mit dem Entstehen der "indianidad"-Strömung, erfuhr diese, oben als "problema fundamental" der lateinamerikanischen Identität zitierte Thematik schließlich einen weiteren - radikalen - Wandel. Gegenüber dem Indigenismus, dessen Vertreter hauptsächlich aus Mestizen bestehen, weist das Konzept der Indianidad jedwede Assimilation zurück und stellt die ethnische Frage in den Mittelpunkt seiner Ziele, die sich nach Rojas Mix (ebd.: 308) in vier Punkten zusammenfassen lassen: 1) Rechazo de Occidente: por igual de marxistas y cristianos. En este aspecto las posiciones más radicales son las de Fausto Reinaga. 2) Rechazo a encuadrar la lucha en el marco de los partidos políticos existentes. El enfrentamiento con Occidente es esencialmente cultural. 3) Afirmación de la unidad de la civilización india: de panindianismo habla Bonfil. Lo común de las seis grandes unidades indias sería las estructuras sociales: sistema de parentesco, estructura asociativa, extensión de la idea social al mundo de la naturaleza, etc. 4) Finalmente, sus reivindicaciones principales son: defensa de la lengua, de la tradición, revisión de la historia, autogestión. Dennoch trifft die Behauptung (ebd.: 307), die Indianidad

sei überwiegend oder

gar ausschließlich ein kulturelles, prononciert antiokzidentales Projekt, das ausschließlich aus den indigenen Bewegungen selbst entstanden sei, sicher nur eingeschränkt zu. So war etwa einer der profiliertesten Theoretiker der Indianidad

der

vergangenen Dezennien, der unlängst verstorbene Mexikaner Guillermo Bonfil Batalla, keineswegs ein uneingeschränkter Gegner der okzidentalen Kulturtraditio-

63 nen. In seinem bekanntesten Buch: México profundo. Una civilización negada von 1987 (1990) spricht Bonfil Batalla zwar von der indigenen "civilización mesoamericana" (ebd.: 21), wirft den mestizischen Eliten des Landes vor, mittels einer "hábil alquimia ideológica" (ebd.: 91) die indigenen Kulturtraditionen aus der Gegenwart zu eskamotieren (etwa durch ihre Musealisierung im berühmten Museo Nacional de Antropología) und legt überzeugend dar (ebd.: 187f.), daß die indigenen Kulturen trotz der fünfhundertjährigen Unterdrückung und trotz aller Transformationsprozesse "el sustrato fundamental del México profundo" bildeten. Eine pauschale antiokzidentale Attitüde lehnt Bonfil Batalla (ebd.: 234f.) gleichwohl entschieden ab: "Occidente irrumpió cn Mexico hace 500 años y, además, tenemos 3 mil kilómetros de frontera con el país más poderoso de la civilización occidental; negar globalmente a occidente o pretender aislarnos de su presencia no sólo sería imposible: sería imbécil." Worauf es ankomme, sei folglich keine Alles-oder-nichts-Position: "La cuestión tal vez deba plantearse en estos términos: debemos aprender a ver occidente desde México en vez de seguir viendo a México desde occidente. (...) En consecuencia, hay que redigerir occidente o, para ser más preciso, hay que digerirlo por primera vez." Dieser m.E. fruchtbare Ansatz, der den "alten" mestizaje-Begriff nicht umstandslos als historisches fait accompli einer quasi kulturellen und physischen "Vergewaltigung" akzeptiert, von der etwa Sánchez Ferlosio spricht (Rehrmann 1989: 126f.), sondern einen "neuen", authentischen mestizaje postuliert, der den Okzident bewußt verarbeitet, statt nur zu "schlucken" - dieser Ansatz dürfte dem Identitätsdiskurs sicher entscheidende Impulse geben. Stellten die indigenen Kulturtraditionen das "problema fundamental" der skizzierten Identitätsdebatte dar, so kommt ihrem afrikanischen Pendant eine kaum geringere Bedeutung zu: "Der Afroamerikanismus", schreibt Meyer-Clason (1987: 49), "war die Parallele zum Indigenismus in den Gebieten, in denen es einen afrikanischen Bevölkerungsanteil gab." Der Afroamerikanismus, der sich nach Rojas Mix (1991: 328) gegenüber der Negritud als primär kultureller Identitätsbestimmung durch eine soziale, klassenkämpferische Akzentuierung auszeichne, weise jedoch im Vergleich zum Indigenismus zwei markante Unterschiede auf. Zum einen beziehe er sich nicht auf eine konkrete Vergangenheit, was aufgrund der Kolonialgeschichte auch gar nicht anders möglich sei (ebd.: 341): Esta discrepancia es capital, porque el negro no conserva una lengua ni tiene a su disposición ni a su vista referencias consistentes del pasado, como quien habla quechua, aymará o náhuatl. Esto hace que su búsqueda de identidad desemboque en una inserción en el presente, en el proceso, en lo que ha llegado a ser; y sea, a la vez, un reconocerse en su creación cultural, fundamentalmente en su música." Zum anderen böten weder die Negritud

noch der Afroamerikanismus den Mulat-

ten kulturelle Identifikationspotentiale ("El mulato no persigue una identidad cultu-

64 ral en el negro..."), die der Indigenismus den Mestizen durchaus bereithalte. Gleichzeitig besäßen die kulturellen, insbesondere die literarischen Manifestationen des Afroamerikanismus gegenüber seinem indigenen Pendant einen gewissen Vorteil: Si la literatura india es imposible porque culturalmente el indio al escribir se transforma en mestizo: tiene que expresarse en castellano y traducir la visión del mundo occidental, la literatura negra, en cambio, si es posible (...). El negro no pierde identidad en el lenguaje del colonizador. No tiene otro. Su identidad es un proceso de transculturación.

4 . 4 Zur Identitätsthematik in der lateinamerikanischen Literatur In der literaturwissenschaftlichen Forschung scheint weitgehend Einigkeit darüber zu bestehen, daß der lateinamerikanischen Literatur, insbesondere den sogenannten "Boom"-Romanen, im Rahmen der Identitätsdebatte eine zentrale Bedeutung zukommt: "La aportación de los novelistas hispanoamericanos en la línea de la búsqueda de la identidad con la realidad histórica", zitiert Fernando Ainsa in seiner Globaluntersuchung über Identidad cultural de Iberoamérica en su narrativa (1986: 8) Sánchez Barba, "es absolutamente decisiva." Als eigentliches "género de la emancipación" (Valente), könne man ohne Übertreibung sagen (ebd.: 23), "que gran parte de la identidad cultural de Iberoamérica se ha definido gracias a su narrativa". Dem stimmt Saúl Yurkievich, Herausgeber eines Sammelbandes über Identidad cultural de Iberoamérica en su literatura prinzipiell zu, wenn er (1986: 4) schreibt: Es en la literatura donde más netamente se registra la idiosincrasia cultural, donde se ve cómo la mentalidad entrama el acaecer personal con el colectivo, cómo los procederes empíricos se imbrincan con las propensiones imaginarias, cómo la subjetividad se relaciona con la realidad externa. Ningún otro arte tiene tamaña capacidad de representar tanto mundo como totalidad en acto. Für Roa Bastos (Loveluck 1984: 49), zugleich selbst einer der exponierten "Boom"-Romanciers, (es) justamente la novela como instrumento de captación de la realidad, en sus más hondos estratos, con el espíritu de análisis que le es connatural, el género que mejor refleja los cambios de una sociedad, pero también la conciencia de estos cambios. Und Karsten Garscha (1978: 25) weist darauf hin, daß die Literatur Lateinamerikas nicht nur das Leben unter den Bedingungen abhängiger Reproduktion - und zwar in seiner ganzen Vielfalt, bis in die feinsten Verästelungen und Auswirkungen - eindrucksvoll veranschauliche, sondern dabei auch eine Art "Zeitbonus" für sich beanspruchen könne:

65 Und sie leistet das, bevor die hauptsächlichen Werke der Dependencia-Forschung publiziert sind, profitiert aber ihrerseits von der durch die Dependencia-Diskussion angeregten generellen Disposition eines breiten Publikums, sich mit Fragen der 'Dritten Welt' zu befassen.

Trotz der weitgehenden Einigkeit, die in der wissenschaftlichen Forschung in dieser Frage zu bestehen scheint, erweist sich die Identitätsthematik in der Literatur dennoch als äußerst komplexer Gegenstand. So verweist Roa Bastos (1984: 60) auf die "variadísima

gama"

von Themen

und Stilen innerhalb des

literarischen

Gesamtpanoramas, "que va desde el costumbrismo al género fantástico, de la novela del indio a la novela de ciudad, en una imbricación de tendencias, de temas y procedimientos, de contenidos conflictuales e ideológicos, que hace muy difícil, si no imposible, los intentos de clasificación y caracterización ...". Dieser Problematik, die eine unilaterale Fokussierung der Identitätsthematik ausschließt, scheinen sich die meisten Literaturwissenschaftler bewußt zu sein: "¿Es Borges un autor hispanoamericano?", fragt etwa Rodolfo A. Borello (1986: 240ff.) in einem Essay über den argentinischen Autor. Und Ainsa (1986: 10) stellt die Frage: "... ¿qué tienen en común Borges y García Márquez, Gallegos y Lezama Lima, Arreóla y Guimaräes Rosa?" Nach Ansicht Ainsas komme in den zitierten Autoren lediglich die Vielfalt der lateinamerikanischen Realität zum Ausdruck: A través de la heterogeneidad temática, temporal y espacial, una variedad de estilos y preocupaciones - del realismo más crudo a la literatura fantástica, del costumbrismo raigal al cosmopolitismo proclamado c o m o un desafío a la sociedad - se manifiestan en un continente donde es legítimo preguntarse: ¿cuán real debe ser la realidad ? Más allá del j u e g o de palabras, se esconde un principio que ha regido metodológicamente nuestro trabajo: es la 'diversidad' y no su monolítica 'unidad' la que brinda a una cultura las credenciales de indiscutida universalidad.

Die ersten schriftlichen

Zeugnisse einer genuin lateinamerikanischen Literatur,

in der bestimmte Facetten der im 19. und 20. Jahrhundert in voller Breite zur Geltung kommenden thematischen und ästhetischen Aspekte bereits in statu Gestalt annehmen, datiert Garscha schon in den Zeitraum von der Conquista

nascendi bis zur

Unabhängigkeit. In dieser "mestizischen" oder "synkretischen" Literatur weise das Erbe mehrerer Kulturen schon deutliche Konturen auf, beispielsweise (1977: 20) in einem Text mit Quechua-Mythen (von 1598), die der spanische Priester Francisco de Avila aus Cuzco sammeln ließ, und die der Romancier und Ethnologe José María Arguedas aus dem Quechua ins Spanische übertragen hat. Gerade bei diesem Text, so Garscha (ebd.: 22), merke der Leser an vielen Stellen recht deutlich, daß er hier als Fremder durch ein Fenster flüchtig und ausschnittartig in eine Welt blicke, deren Gesamtstruktur ihm verborgen sei: "Viel von dieser Fremdheit ist bis heute bestehen geblieben und widerstrebt okzidentaler Begrifflichkeit, läßt sich nicht ver-

66 einnahmen." Außer dem "OHantay"-Drama aus der Inkazeit (ebd: 32ff.) oder Felipe Guarnan Poma de Ayalas Nueva Crónica y buen gobierno (¿insa 1986: 104), die vermutlich von 1615 datiert, sind es insbesondere die Comenarios reales des Inka Garcilaso, die den Anfang der Identitätsthematik in der lateinamerikanischen Literatur markieren. Obgleich der uneheliche Sohn eines spanischen Hauptmanns, Konquistadoren und encomendero sowie einer christianisierten Inca-Prinzessin die Conquista letztlich positiv bewertet und es sich bei den Comentaros "um die Erinnerungen eines zum Spanier gewordenen Inka und nicht um die eines unterworfenen Indios handelt", wie Dieter Janik und Wolf Lustig (1989 136) schreiben, bewerten sie (ebd.: 135) das Werk doch als "Grundlegung uid Inbegriff des 'kulturellen' mestizaje, jener Verschmelzung indigen-inkaischer mit spanischchristlichen Traditionen, von welcher die peruanische Kultur ind Literatur bis heute geprägt sind". Nach der Independencia, so Ainsa (1986: 104), scheint die Publikation von Chroniken obiger Façon keine Fortsetzung gefunden zu haben: "(.. ) la voz indígena y aun la mestiza ha sido apropiada por quienes hablan en 'su norcbre', aunque pretendan hacerlo en 'su' favor y en su defensa." Die ersten "reixindicaciones novelescas del indio americano", die der skizzierten Etappe des "indanismo" entsprechen, datiert Ainsa in die Mitte des 19. Jahrhunderts; sie stammten aus der Feder romantischer Autoren wie Alejandro Magariños Cervantes mit Caramurá (1848) oder Clorinda Matto de Turner mit Aves sin nido (1889). Die stereoptyp-pittoresken, letztlich äußerlich bleibenden Schilderungen der indigenen Bevölkerung, die diesen und anderen Werken eigen seien, komme etwa im Vorwon zu Aves sin nido exemplarisch zum Ausdruck, wo es u.a. heiße (ebd.:): "Amo con imor de ternura a la raza indígena, por lo mismo he observado de cerca sus costumbres encantadoras por su sencillez y la abyección a que someten a esa raza aqueKos mandones del villorio, que, si varían de nombre, no degeneran siquiera del epíteco de tiranos." Im Unterschied zu dieser - idealisierenden - "visión externa" (Ainsa) der indigenen Kulturen, enthält das Versepos Martín Fierro des Argentiniers José Hernández, das als wichtigstes Glied in der langen Kette von Gauchoromanen und Gauchodichtungen gilt, ausgesprochen pejorative Charakterisierungen der indios, die sich z.T., so Garscha (1978a: 24), "wie ein Katalog der Behauptungen (lesen), die bis heute den Völkermord und den antiindianischen Rassismus legitimieren." Trotz aller Traumwelten und "topisch(er) Seelenlandschaft(er)" (Garscha), die ganz im Zeichen der Romantik standen, markieren diese und ancere Autoren dennoch den Beginn der lateinamerikanischen Identitätssuche in der Literatur der PostUnabhängigkeitsphase. Das gilt mutatis mutandis auch für den Modernismus, die erste literarische Bewegung, die sich in Lateinamerika bildete und von dort nach

67 Europa, vor allem nach Spanien ausstrahlte. Dazu schreibt Bella (Yurkievich 1986: 235): Con el Modernismo hispanoamericano empieza una búsqueda de universalidad y una aspiración de ser en el mundo: 'No se tenía - dice Darío - en toda América española como fin y objeto poético más que la celebración de las glorias criollas, los hechos de la Independencia y la naturaleza americana: un eterno Canto a Junín, una inacabable oda a la agricultura de la zona tórrida y décimas patrióticas. Gegenüber den Europäern erweisen sich die vor allem sprachlich innovativen Modernisten jedoch erst dann als ebenbürtig, so Garscha (1978a: 34), als sie sich als Amerikaner identifizieren: Diese Identifikation führt zu einer Distanzierung von den Machtansprüchen des angelsächsischen Nordamerika und setzt seinerseits wiederum voraus, daß sich die Modernisten auf ihre von den iberischen Ländern und von den voreuropäischen indianischen Kulturen geprägten Einstellungen und Wertemustern besinnen. Die Einstellung der Modernisten gegenüber "la América ingenua que tiene sangre indígena", wie es in Daríos berühmten Gedicht "A Roosevelt" heißt (ebd.: 35), blieb jedoch ebenso wie die zahlreicher "indigenistas", die sich mit der indigenen Thematik beschäftigten, nach Ansicht Ainsas (1986: 104), eine "visión externa", die auch in den häufig zitierten Romanen des Ekuadorianers Jorge Icaza oder des Peruaners Ciro Alegría offenkundig sei - wenngleich sich im Vergleich zum 19. Jahrhundert, so Garscha (1978b: 5), insofern eine wesentliche Änderung der Perspektive vollziehe, "als der früher verachtete Indio (und Schwarze) jetzt als gedemütigtes Opfer unmenschlichen Unrechts vorgeführt und in Schutz genommen wird". Icazas Roman Huasipungo von 1934 sei diesbezüglich von exemplarischer Bedeutung. Den eigentlichen Wandel des literarischen Indigenismus von einer eher externen Sicht auf die indianische Bevölkerung und deren Kultur zu einer "verdadera 'transculturación'" 16 sieht Ainsa (1986: 105) allerdings erst durch Romane wie Yavar fiesta (1941), Los ríos profundos (1958), La agonía de Rasu Niti (1962) und Todas las sangres (1964) von José Maria Arguedas vollzogen - ein Wandel, der vor allem auf der "expresión 'interior' de participación, del profundo conocimiento antropológico de la realidad indígena y del perfecto bilingüismo del

16 In seiner Untersuchung über Transculturación narrativa en América Latina definiert Angel Rama (1982: 32f.) diesen Begriff unter Berufung auf Fernando Ortiz folgendermaßen: "Entendemos que el vocablo transculturación expresa mejor las diferentes fases del proceso transitivo de una cultura a otra, porque éste no consiste solamente en adquirir una cultura, que es lo que en rigor indica la voz anglo-americana aculturación, sino que el proceso implica también necesariamente la pérdida o desarraigo de una cultura precedente, lo que pudiera decirse una parcial desculturación, y, además, significa la consiguiente creación de nuevos fenómenos culturales que pudieran denominarse neoculturaciön."

68 autor" basiere. Gleiches gelte etwa für Juan Rulfo in Mexiko oder Augusto Roa Bastos in Paraguay, "(que) han podido captar e incorporar aspectos esenciales de la identidad de estas minorías", und zwar "a partir de una operación de 'integración' de la identidad por el lenguaje". Mit diesem Übergang von einem "externen" zu einem "internen" Indigenismus in der Literatur, der mit dem skizzierten Wandel vom Indigenismus zur Indianidad in den Kulturwissenschaften vergleichbar scheint, soll freilich nicht behauptet werden, daß sich die literarische Identitätssuche Lateinamerikas in diesem "problema fundamental" erschöpfte. Sie ist vielmehr, wie zu Beginn dieses Punktes über die thematische und ästhetische Vielfalt der lateinamerikanischen Literatur angedeutet wurde, ein beredter Ausdruck der "kulturellen Heterogenität" Lateinamerikas, die nach Scharlau/Münzel/Garscha (1991: 8) als "Traditionelles und Modernes im widersprüchlichen, dramatischen Zusammenhang, als hybride Formation (jetzt ohne negative Konnotationen), als Modernität sui generis und als Bezugsrahmen für Mehrfachidentitäten zu denken" sei. Dabei sind die Produzenten literarischer Texte, seien es Romanciers oder Lyriker, entsprechend der Bedeutung des griechischen poiesis, wie etwa Dietrich Briesemeister unter Berufung auf den nikaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal schreibt (1989: 307), zugleich "creadores de realidades", die vielschichtiger kaum sein könnten. Die kardinalen Orientierungspunkte dieser Literatur, beschließt Garscha (1978b: 30) daher zu Recht seinen Überblick über die Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, seien die Erfahrung einer extrem heterogenen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegenwart, die Erforschung der unterschiedlichen geschichtlichen Faktoren, die sich in dieser Gegenwart unmittelbar berührten, "und das von luzider Selbstreflexion geleitete Bemühen um Identitätsfindung".

4.5 Zur Bedeutung spanischer Kulturelemente in der Identitätsdebatte Wie vor allem am Beispiel der Literatur deutlich wurde, darf aus der obigen Skizze der lateinamerikanischen Identitätsdebatte nicht gefolgert werden, diese hätte sich auf die zitierten "problemas fundamentales" beschränkt. So benennt beispielsweise Roggiano (1986: 15) folgende "corrientes fundamentales", die die Debatte, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten und mit wechselnder Akzentuierung, bestimmt hätten: "corriente indigenista", "corriente hispanista", "corriente europeizante", "corriente modernista o sincrética" sowie "corrientes revisionistas" 17 . Von der er17 Im selben Buch klassifiziert Siebenmann (ebd.: 28ff.) die "modelos de identidad' nach folgendem - m.E. höchst problematischen - Muster: "El proyecto utópico" (z.B. bei Pedro Henríquez Ureña), "La latinidad" (z.B. Ariel von José Enrique Rodó), "la hispanidad' (z.B. bei Justo Sierra), "El nacionalismo", "La raza" (z.B. bei Vasconcelos), "La rivalidad cultural"

69 sten und dritten Strömung versuchte die obige Skizze einen Eindruck zu vermitteln; die beiden zuletzt genannten bezeichnet der Autor als "tesis sincréticas", die der traditionellen Europaorientierung der kreolischen Eliten in gewisser Weise verhaftet geblieben seien, wenn auch eher ex negativo und mit einer kulturpessimistischen Note, die geprägt sei von "la crisis de la conciencia europea, crisis de la modernidad, estructura del individualismo liberal, la técnica científica, el industrialismo, el utilitarismo comercial etc". Obgleich sich gerade auch für diese Strömungen unter den spanischen Exilautoren mehrere Beispiele fanden, ist die zitierte Kategorisierung von Roggiano hier nur insoweit von Interesse, als sie auf den heterogenen Charakter der lateinamerikanischen Identitätsdebatte verweist. Dazu gehört selbstverständlich auch die "corriente hispanista", die in verschiedenen Varianten stets präsent war und ist und die Debatte beeinflußt hat. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist sie u.a. deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie aus spanischer Sicht - sowohl unter peninsularen als auch unter exilierten Autoren - die These einer "unidad" oder "comunidad de destino" zu belegen scheint. Ohne diese Thematik hier auch nur annähernd erschöpfend behandeln zu können - die systematische Erforschung der Entwicklung des lateinamerikanischen Spanienbildes steht noch aus - , scheint sich doch anzudeuten, daß die spanischen Kultureinflüsse aus lateinamerikanischer Warte zu verschiedenen Zeiten und von politisch unterschiedlichsten Autoren ebenso unterschiedlich bewertet wurden. So scheint etwa die Dichotomie, die offensichtlich das 19. Jahrhundert bestimmte (hispanophil = reaktionär), längst nicht mehr zu gelten. Nach der Teilrenaissance, die Spanien als kultureller Referenzpunkt um 1898 unter zahlreichen lateinamerikanischen Intellektuellen erlebte, hat sich die "corriente hispanista" augenscheinlich stabilisiert und vor allem differenziert. So wies z.B. Mariátegui (1986; 93) bereits in den zwanziger Jahren — teils positiv, teils negativ bewertend - darauf hin, daß im Entwicklungsprozeß des peruanischen Erziehungswesens drei aufeinanderfolgende Einflüsse festzustellen seien: der spanische Einfluß - oder besser - das spanische Erbe, der französische und der nordamerikanische Einfluß. "Aber nur der spanische war wirklich ausschlaggebend. Er bestimmte den Rahmen, in den sich die anderen Einflüsse einfügten, ohne seine Grundlinien allzu stark zu verändern." Das Beispiel Mariáteguis scheint besonders deutlich darauf hinzuweisen, daß die alte Dichotomie nicht mehr bestand oder zu erodieren begann. Auch der frühe Octavio Paz, der in El laberinto de la soledad (1988: 132) noch harsche Attacken gegen "la influencia del imperialismo" formu-

("El rasgo c o m ú n de e l l o e s la e s t i m a c i ó n positiva d e las culturas ajenas p r o g r e s a d a s y d e s d e el punto de vista del propio retraso ") s o w i e "La rivalidad política", w o r u n t e r der Autor "diversos m o v i m i e n t o s revolucionarios" versteht, "por lo c o m ú n de c u ñ o marxista ..."

70 lierte, machte aus seinem hispanophilen Credo kein Geheimnis: "Toda vuelta a la tradición lleva a reconocer", schrieb er damals (ebd.: 137), "que somos parte de la tradición universal de España, la única que podemos aceptar y continuar los hispanoamericanos. Hay dos Españas: la cerrada al mundo, y la España abierta, la heterodoxa, que rompe su cárcel por respirar el aire libre del espíritu." Auch solche Autoren, die ihrem antiimperialistischen Credo mehr oder weniger treu geblieben sind, etwa Paz' heutiger Hauptopponent Carlos Fuentes (Rehrmann 1993: 6f.), teilen diese Sicht der Dinge prinzipiell. Augusto Roa Bastos, ein differenziert argumentierender Kritiker des V. Centenario (Rehrmann 1991: 965), schrieb bereits 1965 (1984: 50): "(...) es cierto en más de un aspecto; somos parte de la herencia cultural pero indivisa de Europa y España; nuestra literatura es una derivación de la hispánica, por lo menos en el más obvio de los planos: el del idioma. Pero ahí no acaba la cosa." Ähnlich argumentiert Fernández Retamar (1979: 78f.), wenn er zwar eine - relative - "unidad de nuestro idioma" konstatiert und diese auch durchaus positiv vermerkt, aber hinzufügt: Más allá de la lengua la situación es, desde luego, mucho más compleja. A los hispanoamericanos nos gusta repetir, en relación con los españoles, que no descendemos de los que quedaron, sino de los que vinieron, cuyos hijos dejaron ya de ser españoles para hacerse, primero, criollos, y luego, mezclados con otras etnias, latinoamericanos.

Diese Beispiele einer kritisch-differenzierten "corriente hispanista", die das spanische Erbe nicht in toto verwirft, es vielmehr als ein, wenn auch wichtiges Element unter anderen betrachtet, ließen sich fast beliebig vermehren 18 . Sie scheinen wenn auch nur partiell! - die Sichtweise derjenigen spanischen Autoren zu bestätigen, die von einer relativen kulturellen Einheit Spaniens und Lateinamerikas ausgehen. Läßt sich somit, was die obigen Beispiele betrifft, eigentlich kaum noch von einer "corriente hispanista" in der Lesart des 19. Jahrhunderts sprechen, so existieren gleichwohl zahlreiche Belege für die Annahme, daß diese Strömung, sogar in ihren reaktionärsten Hispanidad-^arianten, noch über zahlreiche und einflußreiche Adepten in Lateinamerika verfügt. In seiner Untersuchung über Nacionalismo e Historiografía en América Latina hat beispielsweise Carlos M. Rama darauf hingewiesen (1981: 10), daß ultranationale Strömungen häufig in direkter Tradition der führenden Theoretiker des peninsularen Panhispanismus stünden: "Como veremos, los ultranacionalistas latinoamericanos desde los años 20 fueron admiradores de la dictadura de Miguel Primo de Rivera, lectores de Ramiro de Maeztu, José Ortega y Gasset, Manuel García Morente (...)". In den siebziger Jahren, schreiben Abellán/ Monclús (1989: 551), habe diese Strömung vor allem in Chile an Bedeutung 18 Vgl. etwa das Spanien-Bild von Galeano (Rehrmann 1993: 15f.).

71 gewonnen: "En algunos momentos sus postulados parecían haber triunfado como con el golpe militar de 1973 (...)" Was hier nur als Vermutung figuriert, hatte Rojas Mix bereits 1978 als Gewißheit beschrieben. Unter Berufung auf entsprechende Schriften des dortigen "corifeo del hispanismo" Jaime Eyzaguirre (1908-1968) und "admirador incondicional de Maeztu" (ebd.: 55), habe die Hispanidad

(der Autor

spricht von "hispanismo") ein "papel fundamental" gespielt. Die Ablehnung politischer Parteien, die Berufung auf die Tradition als Fundament des Nationalismus oder die Reinterpretation der Geschichte zur Legitimierung der neuen "Ordnung" seien unter direkter Berufung auf das ideologische Arsenal des frühen Frankismus erfolgt: "En este sentido", schreibt der Autor (ebd.: 48), "el hispanismo constituye para Pinochet un mito justificador de la penuria económica. Mediante él trata de minimizar la importancia del fracaso económico, afirmando que el país debe sacrificar los objetivos utilitarios ... para hacer resurgir los valores del espíritu." In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Spielarten des penisularen Panhispanismus in ihrer historischen Entwicklung nachgezeichnet.

V. Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: Chronologischer Überblick 1. Die lateinamerikanische

Emancipación

Der mexikanische Soziologe Dussel (1974: 134) weist darauf hin, daß der von den amerikanischen Kreolen betriebene Kampf gegen die spanische Metropole wesentlich mehr bedeutet habe als das Bestreben nach politischer und ökonomischer Selbständigkeit: Die lateinamerikanische Unabhängigkeitsrevolution (1810-1824) sei nicht eine einfache Trennung von der Metropole gewesen, sondern habe einen tiefgreifenden Wandel in Kultur, Politik und Ökonomie bewirkt. Sein Landsmann Octavio Paz beschrieb (1987: 189f.) den Bruch zwischen einstiger "Madre Patria" und ihren Kolonien noch prononcierter, als er ihn mit der nordamerikanischen Unabhängigkeit von England verglich: Die nordamerikanische Bewegung sei Folge der englischen Ideen, Institutionen und Prinzipien gewesen, die zu dem neuen Kontinent gelangten. Die Trennung von England sei keine Negation Englands, sondern eine Affirmation der Prinzipien und Glaubensvorstellungen gewesen, in deren Geist die ersten Kolonien gegründet worden seien. Von diesen unterschieden sich die Beziehungen der hispanoamerikanischen Kolonien mit der Metropole grundlegend. Die Gründungsprinzipien "unserer Länder", so Paz, seien diejenigen der Gegenreform, der absoluten Monarchie und ab Mitte des XV111. Jahrhunderts des 'aufgeklärten Despotismus' Karls 111. gewesen. Die hispanoamerikanische Unabhängigkeit sei daher nicht nur eine Bewegung der Separation, sondern der Negation Spaniens gewesen. Die Negation Spaniens implizierte - unter kulturellen Aspekten - zum einen die kategorische Ablehnung des spanischen Vermächtnisses und kam daher, wie Rama (1982: 44) resümiert, dem Versuch einer Dekulturation gleich. Selbst im heutigen Mexiko, wo eine Art "paktierter Unabhängigkeit" (Rama) zustande gekommen sei, galt das vormalige spanische Regiment als Inkarnation von Unwissen, Dekadenz und Misere. Demgegenüber scheint symptomatisch, daß die neuentstehenden Republiken dem hispanischen Rassenideal immer häufiger durch Rekurs auf die indigene Vergangenheit des Kontinents begegnen, der sich - wenngleich von Indigenismus in seinen späteren Strömungen noch nicht gesprochen werden kann - durch

73 eine Lobpreisung der vorkolonialen amerikanischen Völker und eine Verurteilung der während der Conquista begangenen Gewalttaten auszeichnet. Bereits in den Schriften des spiritus rector der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, Simón Bolívar, sind trotz dessen Beeinflussung durch die europäische Aufklärung die Verweise auf den besonderen Charakter Lateinamerikas unübersehbar, z.B. in seinem Discurso de Angostura (1983: 138) aus dem Jahre 1819: Tengamos presente que nuestro pueblo no es el europeo ni el americano del norte, que más bien es un compuesto de Africa y de América, que una emanación de la europea; pues que hasta la España misma deja de ser europea por su sangre africana, por sus instituciones y por su carácter. Es imposible asignar con propriedad a qué familia humana pertenecemos. Dennoch ging Bolívar nicht so weit, jeglichen europäischen und insbesondere spanischen Einfluß zu negieren, wie es - z.T. verständlicherweise - zahlreiche Lateinamerikaner in überzeichneten, vom Groll gegen das einstige "Mutterland" geprägten Tiraden getan haben: "No somos europeos", konstatierte der Libertador an anderer Stelle (Rojas Mix 1991: 69) und beschrieb damit den typischen Mestizen Lateinamerikas, "no somos indios, sino una especie media entre el indio y el español". Symptomatisch für den Rekurs auf die vorkoloniale Vergangenheit, und damit für die Neubestimmung des indigenen Erbes, scheint auch die Überlegung Bolivars zu sein, einen eventuell zu schaffenden Thron einem Nachfahren der alten Inkas zu designieren. Immerhin befanden sich zur damaligen Zeit Familienmitglieder von Túpac Amaru 11. in Buenos Aires, die 1810 das Gefängnis von Cádiz verlassen hatten. Für Spanien bedeutete der Verlust der amerikanischen Kolonien, die - zwanzig Mal größer als das "Mutterland" - über Generationen hinweg der Hauptpfeiler imperialer grandeza und materielle Grundlage (wenn auch im Schwinden begriffen) des Goldenen Zeitalters gewesen waren, eine tiefe Zäsur: Die koloniale Atlántida, schreibt Fogelquist (1967: 49), sei für immer versunken. Das böse Erwachen erfolgte gleichwohl erst gegen Ende des Jahrhunderts, gewissermaßen als zeitverschobenes Echo, im Jahre 1898, als die gleichnamige Generation spanischer Schriftsteller und Intellektueller - 74 Jahre nach Ayacucho! - das nationale "Desaster" und eine Regeneration des Landes - auch mit Hilfe der Exkolonien beschwor. Dabei waren die treibenden Kräfte der Separation gerade diejenigen gewesen, die aufgrund ihrer spanischen Vergangenheit eigentlich als natürliche Garanten kolonialer Kontinuität hätten gelten können: die Kreolen, Söhne und Enkel der spanischen Konquistadoren. Die Masse der indios, die weder spanisch sprach noch die ökonomischen und politischen Interessen der kreolischen Oberschicht teilte, verhielt sich bekanntlich überwiegend indifferent.

74 Nicht ohne Ironie kann schließlich die Tatsache vermerkt werden, daß zumindest ein Teil der aufklärerischen Ideen als ideologische "Konterbande" aus der "Madre Patria" selbst stammte: Die Aufklärung, schreibt etwa Rama (1982: 41), sei besonders durch spanische Autoren wie den galicischen Mönch Benito Feijoo, den typischen Repräsentanten eines 'möglichen Spanien' zu Zeiten Karls 111., nach Amerika gelangt. Die Liberalen des XIX. Jahrhunderts hatten indes einige Mühe, diese Urheberschaft anzuerkennen. Obgleich sie Sympathien für die amerikanischen Wünsche nach größerer Unabhängigkeit hegten und auch sie mit ihrem "neuen Amerikabild", das in Teilen kohärenter war als das ihrer zitierten Vorläufer, den überseeischen Liberalismus beeinflußten, wichen sie doch vor den irreversiblen Fakten der amerikanischen Unabhängigkeit sukzessive zurück. Einer von ihnen, Augustin Argüelles, schrieb (Tierno Galván 1964: 59f.) noch 1813, daß jene überseeischen Provinzen trotz ihrer Proklamationen und Schmähschriften gegen die "Madre Patria" nie aufgehört hätten, Teil der spanischen Monarchie zu sein. Auch in der AmerikaPolitik der Liberalen, konstatiert Raymond Carr (1969: 149), wiederholten sich die Mißverständnisse und konfusen Positionen aus der Zeit der Cortes de Cádiz: Weder konnten sie den Despotismus vergangener Zeiten aufrechterhalten noch waren sie imstande, eine Politik zu entwickeln, welche die Wiederversöhnung des liberalen Spanien mit seinen aufständischen Kolonien ermöglicht hätte. Und dies trotz der Tatsache, daß die Liberalen jene Sektoren der spanischen Gesellschaft repräsentierten, die als Kaufleute, Industrielle und nicht zuletzt als Kulturschaffende und Intellektuelle (besonders aus der Peripherie) ein ausgeprägtes Interesse an soliden Beziehungen mit der Neuen Welt hatten. Statt dessen schienen sie, nicht weniger als die traditionalistischen ca.vf/'cKmo-Vertreter, von der Furcht paralysiert zu sein, die Emancipación der einstigen Kolonien führe diese gleichsam automatisch auf den Weg einer kulturellen und ideologischen "Französisierung" (afrancesamiento) oder treibe sie in die Arme des "Koloß aus dem Norden". Dessen Aktivitäten waren denn auch im Laufe des Jahrhunderts, wie Fogelquist (1967: 15) bemerkt, der wirksamste Antrieb des Panhispanismus, zumindest bis 1936; ohne diesen Anreiz wäre er wohl in der Kategorie einer literarischen Tendenz verblieben.

2. Von der Unabhängigkeit bis zur

Restauración

Als sich die Folgen des verlorenen Krieges unmißverständlich abzuzeichnen begannen,"neigt Spanien immer mehr dazu", schreibt Scherag (1960: 18),"in der kulturellen Verbindung mit seinen ehemaligen Kolonien ein letztes Unterpfand der verlorenen Einheit zu sehen". Die folgenden Zeilen sind dafür symptomatisch:

75 Más ahora y siempre el argonauta osado /que del mar arrostrará furores /al arrogar el áncora pesada /en las playas antípodas distantes /verá la cruz del Gólgota /plantada y escuchará la lengua de Cervantes. Juan Valera habe erzählt, so Scherag (ebd.: 18), diese Verse des Herzogs von Trias hätten bei ihrer Verlesung in der öffentlichen Sitzung der Real

Academia

1832 den König zu Tränen gerührt. In Lateinamerika schienen indessen nur wenige für derlei Sentimentalitäten Verständnis zu haben. Denn die kreolische Oberschicht gründete den Prozeß einer kollektiven Selbstfindung und die Formulierung eines amerikanischen bzw. nationalen Selbstvcrständnisses, wie Frauke Gewecke (1983: 47) bemerkt, zunächst auf die kategorische Abgrenzung gegenüber der ehemaligen Metropole, was umso dringlicher schien, als Spanien bis in die zweite Hälfte des XIX. Jahrhunderts immer wieder den Versuch unternahm, zumindest einen Teil seiner verlorenen Kolonien durch militärische Aktionen zurückzuerobern. Statt dessen waren England und die USA den jungen lateinamerikanischen Staaten "Richtmaß für politische Stabilität und materiellen Fortschritt; Frankreich hingegen gebührte der Primat der geistigen Kultur, des ästhetischen Raffinements und des savoir vivre" (ebd.: 46). Dennoch waren auch die kulturellen Beziehungen, trotz der sukzessiven diplomatischen Anerkennung der neuen Republiken, von den politischen Spannungen geprägt. Wie R a m a (1982: 167) bemerkt, hätten zahlreiche seiner Untersuchungsgegenstände daher eher mit politischen als mit den eigentlich kulturellen Beziehungen zu tun. Da erstere letztere jedoch weitgehend konditionierten und von einer auch nur halbwegs gelungenen Normalisierung, zumindest bis gegen Ende des Jahrhunderts, schlechterdings nicht gesprochen werden könne, treffe auch auf die Kulturbeziehungen zu, was der Mexikaner Andrés Iduarte für die Gesamtbeziehungen konstatierte:"Hubo guerra entre España y América hasta el último año del siglo XIX." Rama (1982: 90f.) faßt die spanische Haltung gegenüber Lateinamerika während des XIX. Jahrhunderts in vier Punkten zusammen: - Amerika sei im Vergleich zum "Mutterland" von gleichsam naturgegebener Inferiorität; - Amerika sei undankbar, da Spanien seinen überseeischen Reichen Blut und Reichtum geschenkt habe, weshalb die Exkolonien gegenüber der "Madre Patria" in moralischer Schuld stünden; - der wohlwollend-väterlichen, katholisch-monarchischen Regierung Spaniens beraubt, lebten die Republiken nun in Chaos und Unordnung, weit unterhalb jenes Niveaus, das für die koloniale Epoche bestimmend gewesen sei;

76 - die spanische Präsenz und Herrschaft in Kuba und Puerto Rico stelle demgegenüber einen Pluspunkt für die Hispanoamerikaner dar, da sie so gegen den bedrohlichen nordamerikanischen Vormarsch verteidigt würden. Das folgende Lamento der Madrider Zeitung La América

aus dem Jahre 1857 ist -

so Rama (ebd.: 91) - diesbezüglich repräsentativ: ¡ Ay de las Repúblicas Hispanoamericanas el día en que Cuba dejará de ser española! ¡Ay de la raza latina en el Nuevo Mundo, si hubiera caído herido por la traición nuestro centinela avanzado del Atlántico! Esa roca que es hoy el escudo de toda una raza, y por cuyas astilladas almenas parece que vagan, inspirando aliento a nuestros soldados, las sombras de Cortés y Pizarro. Auffallend an diesem und vielen anderen Texten und Reden, die den Verlust des Kolonialreiches beklagen, ist nicht allein ihr missionarischer Eifer und ein ungebrochen scheinendes Selbstbewußtsein, was die vermeintliche Überlegenheit der spanischen Kultur betrifft - ins Auge springt auch ihr sentimentaler und vor allem rhetorischer Duktus, der über Jahrzehnte hinweg die Kulturbeziehungen bestimmen sollte und nicht selten bis heute zu beobachten ist. Auf der Strecke blieben demgegenüber die praktischen Ziele des Panhispanismus. Zusammenkünfte und festliche Veranstaltungen hatten gewöhnlich den Charakter literarischer und oratorischer Wettbewerbe, ohne je konkrete Projekte auf den Weg zu bringen: "La retórica", so Fogelquist (1967: 17),"era, por cierto, un producto que nunca escaseaba en los países hispánicos, y su aumento no podía contribuir mucho a la resolución de los problemas más graves." Typisch, bis weit ins XX. Jahrhundert hinein, war darüber hinaus eine in Spanien weit verbreitete Unkenntnis der lateinamerikanischen Realitäten, die ihr Pendant auch in Lateinamerika besaß: Das wirkliche Spanien war nur unzureichend bekannt, und in den Universitäten und Schulen gab es nur wenige Experten für spanische Geschichte und zeitgenössische Kultur. Nach Rama (1982: 17) liegen die Ursachen dieses Mangels u.a. darin begründet, daß, was Spanien betraf, auch in Lateinamerika "pejorative Stereotypen" dominierten, die - mutatis mutandis - teilweise bis heute fortbestehen. Immerhin sahen die Verfechter der panhispanistischen Ideen - neben dem kulturellen Vermächtnis par excellence: der Sprache - einen gewissen Garanten für die Kontinuität der kulturellen Bande (nachdem die politischen und ökonomischen zerbrochen waren) in der Präsenz zahlreicher Peninsulaner, die aus unterschiedlichen Gründen weiterhin auf dem Subkontinent lebten. Deren Haltung, sowohl Lateinamerika als auch Spanien gegenüber, war jedoch in mehrfacher Hinsicht von Besonderheiten geprägt; zudem verloren diese Gruppen allmählich ihre früheren Rechte und Privilegien und wurden nicht selten daran gehindert, spanische Kulturformen öffentlich zu tradieren; politische Ressentiments dem Heimatland gegen-

77 über (viele von ihnen waren als Flüchtlinge gekommen) und eine natürliche Assimilation taten ein übriges. Charakteristisch für die spanisch-lateinamerikanischen Beziehungen der ersten Jahrzehnte nach der Emancipación

waren schließlich zwei weitere Entwicklungs-

tendenzen: Mexiko wurde aufgrund seiner geographischen und ökonomischen Bedeutung sowie der Tatsache, daß sich Spanien lange Zeit Hoffnungen machte, dort wieder eine Bourbonen-Monarchie zu etablieren, zu einer Art "Pilotprojekt" (Rama) für die Aufnahme diplomatischer und kultureller Beziehungen. Gleichzeitig markierten bestimmte politische Ereignisse auf der Halbinsel auch eine Scheidelinie zwischen eher traditionalistischen und liberalen Strömungen gegenüber Lateinamerika (Unterschiede, die allerdings, wie sich später zeigen sollte, nicht überschätzt werden sollten): Es sei symptomatisch gewesen, so Rama (ebd.: 165), daß bei beiden Gelegenheiten, als die konservative Struktur Spaniens zerbrach - 1820 und 1833

Kontakte zu Amerika gesucht worden seien. Rama zeigt sich gleichwohl

überrascht, daß in all den diplomatischen Texten, die in den vierziger und fünfziger Jahren paraphiert wurden, keinerlei Klauseln über Angelegenheiten intellektueller oder gar religiöser Natur enthalten gewesen seien und noch weniger solche über kulturellen Austausch zwischen Spanien und den lateinamerikanischen Ländern.

3. Die Zeit der

Restauración

Konnte man die spanische Haltung gegenüber Lateinamerika frei nach Morgenstern mit dem Satz charakterisieren:"Es kann nicht sein, was nicht sein darf!" - so verbreitete sich insbesondere seit den siebziger Jahren allmählich die Einsicht in die Irreversibilität der neuen Fakten, ein Prozeß, der sich insbesondere durch ein rasches Anwachsen kultureller Aktivitäten manifestierte. Mit ausschlaggebend für ein stärkeres Interesse an den Ländern jenseits des Atlantiks war nach Pike (1971: 29) die wenig verheißungsvolle Situation in Spanien selbst: Sometimes seeking distraction from problems at home that seemed nearly insoluble, sometimes hoping that through the perspectives of newer countries and younger peoples they might better discover their own national destiny, Spaniards increasingly turned their attention toward the lands in America that once had been theirs. Der eher quantitative

Wandel fand indes kein Pendant im Qualitativen.

Wenn

auch die militärischen Abenteuer - etwa von Kuba abgesehen - überwiegend der Geschichte angehörten, war man von gleichberechtigten Beziehungen im Prinzip genausoweit entfernt wie Jahrzehnte zuvor - nur die Formen hatten sich notgedrungen geändert. Rama (1982: 175) spricht daher von einem relativ moderaten "impe-

78 rialismo pacífico" - moderat, wenn man ihn mit den nordamerikanischen und französischen Varianten vergleiche. Spanien besaß dabei den relativen Vorteil, die liberalen und konservativen Parteien des iurao-Regimes auf ein gemeinsames Programm verpflichtet zu haben. Konservativ war das Lateinamerikaprogramm der Restauración nach Meinung van Akens (1959: 56) in dem Maße, wie es dazu tendierte, die Reste des Imperiums auf den Antillen zu erhalten, sich an der "glorreichen" und "mystischen" Vergangenheit orientierte, Sprache, Kultur, Religion, Sitten, Bräuche und Traditionen betonte und von daher die Leyenda Negra zurückwies. Für die Liberalen war dieses Programm andererseits akzeptabel, weil es auch in die Zukunft zielte, eine Politik der Erneuerung implizierte, durch die Spanien seine ehemalige Kraft wiedererlangen würde und den Intellektuellen, Kaufleuten, Industriellen etc. neue Perspektiven eröffnete. Einige der Früchte dieser Politik (zumindest auf dem Papier) bestanden in einem Abkommen über den Austausch offizieller Publikationen im Bereich der Jurisprudenz (1884) mit Argentinien sowie einem Abkommen zur Anerkennung eines copyright für wissenschaftliche, literarische und künstlerische Produkte mit Guatemala und Costa Rica (1893). Noch prononcierter als Rama verweist Pike (1971: 5) auf den konservativ-liberalen "Grundkonsens" in der panhispanistischen Politik, dessen raison d'étre jedoch nicht allein im zitierten Lateinamerikaprogramm zu suchen sei, sondern noch weitaus mehr in gemeinsamen politischen Grundpräferenzen: Trotz aller Streitigkeiten und Unterschiede habe Liberale und Konservative ihre Vorliebe für eine hierarchische, organisch oder korporativ strukturierte, nach Schichten organisierte, nichtoffene und nichtpluralistische Gesellschaft geeint - jene Art von Gesellschaft, so Pike, die von einem spanischen Edelmann als "Selektokratie" umschrieben worden sei. Nach Ansicht von Gómez-Escalonilla (1988: 25f.) habe der panhispanistische Grundkonsens praktisch bis zum Beginn des Bürgerkrieges bestanden: No obstante, en todo el elenco de opiniones parece recogerse en principio un punto de partida genérico: a España le correspondía actuar como guía intelectual en el proceso de formulación de una identidad colectiva, estable y única. Für Liberale und Konservative bestand die Hauptfunktion des Panhispanismus dabei in der Hoffnung, in den Exkolonien jene Maßnahmen zur Anwendung zu bringen, die zur Aufrechterhaltung sozialer Stabilität und des Vorranges geistiger Werte für notwendig erachtet wurden. Um diese Ziele zu erreichen, entwickelten sie nach Pike lediglich zwei unterschiedliche Arten von hispanismo:

"Scarcely a

Spaniard, be he liberal or conservative, doubted the superiority of a spiritual over an essentially material contribution." Dabei schienen die Liberalen insgesamt gesehen die schlechteren Agenten des Panhispanismus zu sein, neigten sie doch dazu, ihr Land als rückschrittlich, fanatisch

79 und feindlich gegenüber Freiheit und Fortschritt zu bezeichnen. Die Konservativen waren demgegenüber im XIX. Jahrhundert wesentlich mehr an Lateinamerika interessiert. Ernsthaft behindert waren sie indessen durch die Tatsache, daß sich ihr Interesse an den vormaligen Kolonien primär auf die als glorreich empfundene Vergangenheit bezog, weniger jedoch auf die Gegenwart. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn es eher ein liberales "Flaggschiff" war, mit dessen Hilfe während der Restauración der Versuch unternommen wurde, der panhispanistischen Idee auch eine praktische Variante zur Seite zu stellen. Die 1885 gegründete Unión Ibero-Americana war mit den Worten eines ihrer Mitbegründer (Pike 1971: 34) das geeignete Instrument, um die politische Einheit Spaniens, Portugals und "Spanischamerikas" mit dem Ziel herbeizuführen, dadurch eine große und mächtige hispanische Nation zu schaffen - mit eigener Verfassung, eigenen Regierungsinstitutionen, Budget, Armee und Flotte. Die Unión zählte zehn Jahre nach ihrer Gründung 256 zumeist sehr reputierte Mitglieder und war bereits 1890 als "öffentlich-nützliche" Organisation offiziell anerkannt worden. Obwohl sie laut einer Denkschrift aus dem Jahre 1887 in ihren Reihen die "ehrbarsten Mitglieder" aus Regierung, Verwaltung, Militär, Banken, Wissenschaft, Künsten und Literatur vereinigte, war sie vor allem auf kulturpolitischem Terrain (u.a. mit einer Zeitschrift gleichen Namens) engagiert und hegte die Hoffnung (Scherag 1960: 53), eines Tages in ganz Lateinamerika (so die Bezeichnung im Original) Dependancen zu gründen. Waren bereits unter den Mitgliedern der Unión zahlreiche bekannte Intellektuelle, so ist für die zweite Hälfte des Jahrhunderts - sehr im Unterschied zu den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit - insgesamt die zunehmende Bedeutung von Intellektuellen in den Reihen der panhispanistischen Bewegung unübersehbar. Das zeigt nicht zuletzt die wachsende Zahl von Publikationen, die das extrem defizitäre Informationsvolumen über Lateinamerika - in Spanien wie im übrigen Europa - bestrebt schienen, zu kompensieren. Die spanischen Zeitungen, so Fogelquist (1967: 19), veröffentlichten Nachrichten über fast alle europäischen Länder, pero casi nada de América o sobre América. El español común no tenía sino los más vagos conocimientos de la geografía, la política y el ambiente social de las nuevas naciones (...) Su visión de América era la de una vasta región de selvas malsanas donde abundaban las fieras, los insectos y las serpientes venenosas, donde la gente era revoltosa y la política tormentosa. Eine gewisse Ausnahme bildeten - aus naheliegenden Gründen - lediglich Kuba und Puerto Rico, über die mehr geschrieben und gelesen wurde als über alle anderen Länder zusammen. Die "ideologische Brille", durch die die Mehrheit der Artikel geschrieben wurde, war nach Pike (1971: 242) jedoch einer der wichtigsten Gründe, weshalb die spanische Öffentlichkeit das "desastre" von 1898 nahezu un-

80 vorbereitet treffen sollte. Scherag (1960: 40) ist in diesem Zusammenhang der leider nicht verifizierten - Auffassung, daß in derselben spanischen Öffentlichkeit der Wunsch nach einer objektiven, wirklichkeitsnahen Beurteilung der spanischamerikanischen Verhältnisse zugenommen habe, ein Standpunkt, der selbst unter Einbeziehung der linksorientierten Öffentlichkeit (Sozialisten und Anarchisten) zweifelhaft erscheint. Typische Beispiele eher rhetorischer als informativer Publikationen sind die 1833 gegründete Revista Española de Ambos Mundos, deren prätentiöser Titel bereits den politischen Standpunkt verrät und der bekannte Schriftsteller wie José Zorrilla und Bretón de los Herreros angehörten, sowie die Zeitschrift La América (1859), in deren Spalten z.B. 1883 (Fogelquist 1967: 17) zu lesen war: (...) alianza de todas las Repúblicas entre sí y de esta vieja España, que les dio sangre, el idioma y tradiciones, que a pesar de la lucha pasajera (sic) de la independencia, son tradiciones comunes a todos los pueblos de raza española. Der zumeist nur quantitativen Hausse im Bereich der Periodika entsprach auch die für Lateinamerika bestimmte Buchproduktion. Der weitaus größte Teil spanischsprachiger Bücher, der jenseits des Atlantiks gelesen wurde, stammte, so Rama (1982: 248), aus Londoner, Pariser und New Yorker Druckereien. Gegen Ende des Jahrhunderts begann Spanien allmählich, diese Scharte auszuwetzen. Ironischerweise war daran das kastilische Zentrum kaum beteiligt: das Geschäft machte die Peripherie. Wie G. Diaz-Plaja (1977: 53) betont, wurde Katalonien zur Achse des spanischen Verlagsgeschäftes mit den Exkolonien und damit zu einem "centro de atracción" hispanoamerikanischer Schriftsteller, da der katalanische Verlagsort ihren Werken eine kontinentale Dimension verliehen habe. Frühere Versuche, die kulturelle Kommunikation via Buchaustausch zu beleben, waren dagegen gescheitert. So erwies sich, wie Scherag (1960: 23) schreibt, die 1852 von Dionisio Hidalgo in Paris (sie) gegründete Librería Universal, die Abkommen mit den wichtigsten spanischen Verlegern und Buchhändlern geschlossen hatte, bereits nach einem Jahr als Fehlschlag. Trotz des "neutralen" Ortes schien die Zeit für solche Unternehmungen noch längst nicht reif zu sein; der Standort Paris war u.a. offensichtlich deshalb gewählt worden, weil die spanischen Transportwege nach Lateinamerika noch so defizitär waren, daß selbst Briefe auf dem Umweg über Paris und England geschickt werden mußten. Das Ereignis gegen Ende des Jahrhunderts, zumindest aus der Sicht der Protagonisten der panhispanistischen Bewegung dies- und jenseits des Atlantiks, war indessen die Vierhundertjahrfeier der "Entdeckung" Amerikas, deren Präludium, was die Erinnerung an den "großen Entdecker" betrifft, die Internationale Ausstellung in Barcelona (1888) darstellte, aus deren Anlaß die Kolumbus-Statue im Hafen Barcelonas inauguriert wurde.

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4. Der IV. Centenario Unmittelbarer Anlaß und Form der Vorbereitung des Centenario deuteten bereits an, welchen Verlauf die Veranstaltung nehmen würde. Cánovas del Castillo, dem Chef mehrerer iwrno-Kabinette, waren Nachrichten zu Ohren gekommen, denen zufolge die Vereinigten Staaten die Absicht hegten, dem historischen Datum auf ihre Weise zu gedenken. Besorgt über die panamerikanistischen Aktivitäten des "Colossus" (Pike), die für das spanische Image nichts Gutes erwarten ließen, begannen die organisatorischen Vorbereitungen. Unter dem Auspizium seines liberalen "Rotationskollegen" Sagasta wurde die Junta de Celebración del IV. Centenario del Descubrimiento einberufen, der ein Nachfahre Christoph Kolumbus', der Herzog Veragua, als Präsident vorstand. Wieder Regierungschef, schrieb Cánovas del Castillo (Rama 1982: 183) 1891 mit Blick auf die geplanten Feierlichkeiten: (...) que si la santa religión cristiana ilumina hoy las conciencias desde el cabo de Hornas hasta el seno mexicano, a los españoles se debe; que si los europeos disfrutan de las riquezas sin cuento de la hermosa tierra americana, ante todo tienen que agradecerlo a los trabajos increíbles y al valor pertinaz de nuestros antepasados. Das spanische Interesse an Lateinamerika stieg zu neuen Höhen empor - zumindest, wie Pike (1971: 35) bemerkt, "zu neuen rhetorischen Höhen". Auch Rama (1982: 184) betont, daß sich das Jahr 1892 in eine "inmensa demostración de oratoria" verwandelt habe, allerdings nicht nur in Spanien, sondern auch in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, den USA sowie in Italien und in Frankreich - eine "oratorische" Geschäftigkeit, die von unzähligen festlichen Akten, Zusammenkünften, Einweihungen von Gebäuden und Denkmälern (u.a. der Biblioteca Nacional und der Plaza de Colón), themenorientierten Buchausgaben etc. umrahmt wurde. Eines der - im weitesten Sinne - "praktischen" Resultate bestand in einer Erklärung Castillos, dem 12. Oktober den Rang eines nationalen Feiertags zu verleihen. Wie Pike (1971: 173) betont, war es speziell der spanische Klerus, der dem historischen Datum besondere Bedeutung beimaß: Zum einen markierte es den Beginn der Katholisierungsoffensive in der Neuen Welt, zum anderen gedachten just an diesem Tage die spanischen Katholiken ihrer nationalen Schutzheiligen, der Virgen del Pilar. Aufschlußreich in bezug auf die spanisch-lateinamerikanischen Kulturbeziehungen ist dieser Tag aber noch aus einem weiteren Grunde: bevor er auf nachdrückliches Betreiben der Unión Ibero-Americana im Juni 1918 zum offiziellen Feiertag deklariert wurde - als Fiesta de la Raza - war er auch in verschiedenen Ländern Lateinamerikas (zunächst inoffiziell) feierlich begangen worden. Die Regierungen von Argentinien und Peru erklärten den 12. Oktober gar ein Jahr vor

82 Spanien zum offiziellen Feiertag, Chile folgte 1921, und Ende der zwanziger Jahre war er zu einer Gewohnheit in den meisten Ländern des Subkontinentes geworden, wenngleich auch nicht immer unter der Bezeichnung, unter der er in Spanien firmierte. Weniger traditionalistische und hispanophile Lateinamerikaner empfanden den Terminus hingegen als Provokation; selbst diesseits des Atlantiks traf er auf Widerspruch. So initiierte der spanische Priester José María González mehrere Kampagnen mit dem Ziel, die Bezeichnung "Fiesta de la Raza" durch weniger ethnozentristische Namen wie "Día de Colón" oder "Día de la Paz" zu ersetzen. Darüber hinaus wurde während des IV. Centenario vereinbart, den Austausch literarischer Werke sowie historischer Dokumente zu fördern und Kulturabkommen anzustreben, die u.a. die gegenseitige Anerkennung akademischer Titel und das Recht auf freie Berufsausübung enthalten sollten. Ferner bestand Gelegenheit, sich über die Situation der jeweiligen Länder aus erster Hand zu informieren, voneinander zu lernen, dauerhafte persönliche Kontakte zu knüpfen und auf diese Weise den zukünftigen Kulturbeziehungen eine solide Basis zu geben. Einer der später bekanntesten lateinamerikanischen Teilnehmer des IV. Centenario war Rubén Darío, der aus diesem Anlaß seine erste Reise nach Spanien unternahm, was zugleich den Auftakt einer intensiven literarisch-politischen Auseinandersetzung mit der einstigen "Madre Patria" bildete, eine Beziehung 1 , die bis zu seinem Tode im Jahre 1916 anhielt. Schließlich boten die Madrider Feierlichkeiten den spanischen Gastgebern ein Forum zu intensiver Selbstdarstellung und Werbung für die Ideen des Panhispanismus - nicht zuletzt in expliziter Abgrenzung gegenüber den Panamerikanisten, deren Vormarsch die spanischen Interessen in Lateinamerika tangierte, da er eine Art kultureller Antithese des "hispanischen Lebensstils" verkörperte: Lediglich "exploitive bankers and industrial tycoons of the powerful northern republic", zitiert Pike (1971: 36) einen repräsentativen konservativen Journalisten aus Spanien, "heartlessly crushing the lower classes and jeopardizing the position of the middle class", bestimmten dort das Bild. Demzufolge würde das materialistische System der USA eines Tages ganz von selbst zur sozialistischen Revolution führen, belustigte sich der nordamerikanische hispanismo-Forscher Pike. Zumindest in der Beurteilung dieses Problems trat der panhispanistische Grundkonsens von Liberalen und Konservativen während des Centenario erneut in Erscheinung. Ein aufschlußreiches Beispiel bietet die Madrider Zeitung La Ilustración Española y América, eines der wichtigsten Organe der panhispanistischen Bewegung. Die Zeitung hatte im Laufe des Jahres 1892 zwei Schwerpunktthemen: die spanisch-lateinamerikanische Annäherung und die wachsenden sozialen Spannungen in der

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Entgegen der bis in die jüngste Vergangenheit kolportierten Sichtweise war Rubén Daríos Spanienbild allerdings ziemlich kritisch. Vgl. etwa seine Essaysammlung España Contemporánea, Barcelona: Ed. Lumen 1987.

83 spanischsprachigen Welt. Gegenüber den sich daraus ergebenden Gefahren, interpretiert Pike (ebd.: 36) die Position von Liberalen und Konservativen gleichermaßen, müßten sich Spanien und Spanischamerika zusammentun, um so ihre herrschende Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie zu sichern. Obgleich beide Strömungen mit dem Centenario offensichtlich unterschiedliche Ambitionen zu verbinden schienen (so nutzte etwa das katholische Blatt El Siglo Futuro die Gelegenheit, an die "glorreiche Vergangenheit" zu erinnern, "als Spanien vom Kreuz Jesu Christi geleitet wurde", während für Liberale wie Labra das Ereignis eher dazu diente, die Erinnerung an den im XIX. Jahrhundert dies- und jenseits des Atlantiks geführten Kampf zur Überwindung von autoritären und klerikalen Regimen wachzuhalten), waren sich beide Gruppierungen über die Notwendigkeit einig, den Status quo herrschender Strukturen aufrechtzuerhalten. Diese gemeinsame Überzeugung machte es so schwer und gelegentlich unmöglich, wie auch Rama (1982: 185) konstatiert, im Zusammenhang mit dem Centenario zwischen beiden Lagern überhaupt Unterschiede auszumachen. Die Bilanz des Centenario, an dem insgesamt 740 Personen (135 aus Lateinamerika und 594 aus Spanien) teilgenommen hatten, war dennoch ausgesprochen mager, wie selbst die spanische Schriftstellerin Pardo Bazán einräumte. Sie und andere kritisierten vor allem die Beschränkung des Ereignisses auf den illustren Kreis einer intellektuellen Aristokratie und die fehlende bzw. geringe Beteiligung der Bevölkerung. Die Kritik des lateinamerikanischen Teilnehmers Ricardo Palma, der Spanien im Prinzip wohlgesonnen war, führt den mangelnden Erfolg dieses Treffens auf ähnliche Gründe zurück, attestiert der ehemaligen Metropole darüber hinaus eine nur sehr zögernde Lernfähigkeit in bezug auf den definitiven Charakter der neuen lateinamerikanischen Realität und bilanziert (Rama 1982: 197) generell: Die Feierlichkeiten hätten zu dem außerordentlich traurigen Ergebnis geführt, die Beziehungen abzukühlen. Das Resümee Rubén Daríos (Fogelquist 1967: 21 f.) fällt nicht weniger negativ aus: (...) numerosas han sido las fiestas hispanoamericanas, a cuyo término apenas si ha quedado otra cosa que un poco de dulzor en la boca y otro poquito de retórica en el aire; después, americanos y españoles han permanecido en sus desconfiadas soledades, colocados en actitud y con mirada recelosa, cada cual a un lado del gran abismo de la historia.

5. Das Desastre von 1898 Verschiedene Autoren datieren den Beginn des Panhispanismus erst auf das Jahr 1898, als das koloniale Reich, in dem "die Sonne niemals unterging", auf seine heutigen Grenzen reduziert wurde. Spanien, so Rubert de Ventos (1987: 102), ent-

84 deckte seine "Entdeckung" in Amerika im selben Moment, als es im Begriff war, seine letzten Kolonien zu verlieren: Se dice que la lechuza de Minerva solo levanta el vuelo al anochecer: también el 'espíritu" de la conquista o la unidad se descubre y tematiza en su ocaso. Nach dem Verlust der letzten Reste des weiland riesigen Kolonialreiches tritt an die Stelle physischer Präsenz um so nachhaltiger die kulturelle. Und noch ein Faktum macht 1898 zu einem Schlüsseljahr der panhispanistischen Bewegung: "That is the year", zitiert Pike (1971: 3) einen zeitgenössischen Beobachter, "in which the naked threat of United States imperialism comes to be seen more clearly than ever before." Zunächst schien es an politischen Kräften nicht zu mangeln, die das sich abzeichnende Desastre durch längst überfällige Reformen zu verhindern gewillt waren. So plädierten die liberalen Opponenten des konservativen Cánovas für sofortige Konzessionen an die rebellischen Kolonien - vom Allgemeinen Wahlrecht bis zur Gewährung von Autonomie. Kuba, so argumentierte Labra, müsse zu einem Schaufenster liberaler Reformen werden. Nachdem jedoch Castillo 1897 ermordet worden war und die Liberalen die Regierung übernomnen hatten, schienen die konträren Positionen vis-à-vis des Kuba-Krieges nunmehr auf den Kopf gestellt: Nun gaben sich die Liberalen hart, intransigent und siegesgewiß gegenüber den kubanischen Rebellen und dem nordamerikanischen Aggressor. Dies führte zu der bemerkenswerten Situation (Pike 1971: 46), daß nunmehr die Konservativen begannen, die Liberalen der Intransigenz zu bezichtigen ... Verantwortlich für diesen abrupten Sinneswandel war nicht allein die Angst der Liberalen, in den Augen ihrer Gegner als schwach und nxchgiebig zu gelten, sondern auch die offensichtlich durch nichts zu trübende Siigesgewißheit, die - wie bereits angedeutet wurde - auf völlig unrealistischen Vo stellungen und Informationen basierte. Ein beredtes Zeugnis dieser kollektiven Ilusionen ist die gewaltige Hausse rhetorischer Blüten, die um 1898 in der spanischer Presse zu lesen war: Die USA seien eine reiche Nation - das ja - verstieg sich beispielsweise die Zeitschrift Blanco y Negro (Pike 1971: 47) 1896, opulent und fortge;chritten, aber weit unterhalb Spaniens, was die militärische Stärke und vor allen die Qualität der Armee betreffe. Indem die Zeitung El Siglo Futuro - ein anderes Beispiel des illusionären "lyricism" (Pike) - sich überzeugt davon zeigte, den nordanerikanischen Aggressor durch einen Angriff auf seine Küsten in die Knie zu zwirgen (ebd.: 47), stellte sie unter Beweis, daß der Geist von Don Quijote noch imner lebendig war. Andere Apologeten eines konservativ-reaktionären Panhispanismis wie Ramiro de Maeztu zeigten (ebd.: 46) zwar weniger Siegeszuversicht, nicht edoch weniger Patriotismus:

85 If the Yankee cannons have to erase the best of our race, I hope at least, as a Spaniard and as an artist, that our fall will be beautiful. I wish, at the very least, that if we have not known to say yes to life we will know how to say yes to death, making it thereby a dead glorious and worthy of Spain. Nur wenig von Einsicht getrübt scheinen auch die meisten jener Stellungnahmen zu sein, die nach dem Desastre von spanischen Intellektuellen verfaßt worden sind. Menéndez y Pelayos "Requiem" (Rama 1982: 233) auf die gefallenen "Helden" ist dafür exemplarisch: Allí, en aquel suelo, descansan los restos de nuestros ascendientes; allí reposan nuestros padres, los que pasearon el mundo con la antorcha de la civilización, iluminándolo; redimieron a una raza esclava e irredenta. Die Unabhängigkeitskämpfer, so der furibunde polígrafo, waren lediglich insensatos bandidos que no tienen siquiera el valor de sus robos y asesinatos y que encubren sus hazañas de presidiarios en libertad al amparo de una idea política. Und Francisco Pi y Margall empört sich (ebd.: 233): Keine Nation habe das Recht (gemeint sind die Vereinigten Staaten!), fremde Territorien zu besetzen ohne die Erlaubnis der dort lebenden Völker. Geschehe dies dennoch, hätten die Besiegten das Recht, die Besatzer zu bekämpfen, bis sie vom Boden des Vaterlandes vertrieben seien. Gleichwohl war der Kuba-Krieg nicht mehr allein eine Auseinandersetzung zwischen Spaniern und den überseeischen Rebellen: Wenn auch der offensichtlich größte Teil der veröffentlichten Meinung in Spanien der Überzeugung war, das "Kuba-Problem" mit Gewalt lösen zu können, selbst als die Vereinigten Staaten bereits direkt intervenierten, führte der Krieg auch zu innerspanischen Konflikten. Unter den Personen und Gruppen, die für eine friedliche Lösung optierten, befanden sich Pi y Margall, Costa, Labra und drei politische Strömungen: Republikanische Föderalisten, Sozialisten und Anarchisten. Tiefsitzende Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten schienen aber dennoch - über sonstige politische Differenzen hinaus - die meisten Spanier zu einen. Die Position der Zeitschrift Gente Vieja um 1900 dürfte dafür exemplarisch sein: Der Groll, den diese Zeitschrift den USA entgegenbrachte, bemerkt Fogelquist (1967: 28), war violent und unerbittlich. Sie verabscheute die "raza sórdida", welche "infesta los mares" und im Begriff sei, "zozobrar los principios salvadores de la civilización, la libertad y el derecho". Das "Entdecken der 'Entdeckung'" (de Ventos) wurde nach dem Desastre durch ein weiteres Faktum erleichtert, das auf den ersten Blick paradox erscheint: Die antispanische Attitüde zahlreicher Lateinamerikaner im XIX. Jahrhundert verwandelte sich in eine Art kulturelles "approach". Waren die Lateinamerikaner im XIX. Jahrhundert mehr über den spanischen als über den nordamerikanischen Imperia-

86 lismus besorgt - mit Ausnahme der späten vierziger Jahre, als wegen der Annektierung mexikanischen Territoriums eine weitverbreitete Furcht vor dem "Koloß" grassierte - , bewirkte der Kuba-Krieg eine abrupte Änderung. Die einstigen Ressentiments verwandelten sich in Sympathien und Solidarität, zumindest in jenem "schmerzhaften Moment seiner Geschichte" (Fogelquist). Rubén Darío kehrte aus diesem Grunde 1899 nach Spanien zurück, um für die argentinische Zeitung La Nación über das schmerzhafte "feed-back" des kolonialen Desastre zu berichten. Die Tendenz von Dario und anderen, Spanien im Grunde wohlgesonnenen Lateinamerikanern, der spanischen Regierung (wegen deren kurzsichtiger und unangemessener Politik) und dem spanischen Volk (wegen dessen Sorglosigkeit und Indifferenz gegenüber den sich abzeichnenden Ereignissen) die Schuld zu geben - diese Haltung, interpretiert Fogelquist (1967: 24), entsprang nicht etwa dem traditionellen Mißtrauen, das die beiderseitigen Beziehungen während des gesamten Jahrhunderts schwer belastet hatte, sondern einer Art Renaissance hispanophiler Gefühle: Todos, desde Méjico hasta la Argentina, habían dado pruebas de su solidaridad con España en la hora de la crisis. Ni un cartucho habían suministrado a los insurrectos de Cuba en la lucha de éstos contra España, y ahora respaldaban a su antigua patria cuando ésta hacía frente a un enemigo poderoso. Zusätzlichen Auftrieb, bemerkt Frauke Gewecke (1983: 51), erhielten diese Gefühle ganz allgemein durch die Aktivitäten der Panamerikanischen Bewegung, die 1890 mit der Gründung der Panamerikanischen Union ihren institutionellen Rahmen erhielt. Die Intervention der USA und der Ausgang des spanisch-kubanischamerikanischen Krieges 1898 seien auch für die lateinamerikanischen Intellektuellen zu einem Generationserlebnis geworden, das in seinen psychologischen Implikationen dem der spanischen Generación del 98 vergleichbar war und in Opposition zu der übermächtigen USA eine Rückbesinnung auf die spanische bzw. 'lateinische' Kulturtradition bewirkte, die ohne die Intervention der USA in der Form kaum denkbar gewesen wäre. Die sich bietende Chance, in einer günstigen historischen Situation die Beziehungen neu zu gestalten - und das hieß vor allem, sie auf eine praktisch-relevante und vorurteilsfreie Basis zu stellen - diese Chance wurde gleichwohl erneut vertan. Statt dessen, bemerkt Pike (1971: 69), erlebten "lyrische Reden", leidenschaftliche Poesie und elegante Prosa ein neues come-back, das überdies nicht large währte: Still, turn-of-the-century Spain was a country remarkably sensitive to intangibles, to the domain of the spirit, to flowery rhetoric and highly ornamented literary devices that sometimes obscured the line between sentiment and sentimentality. It is not surprising, then, that sheer lyricism gave to hispanismo the greatest triumph it was ever to achieve. In a moment of agonizing doubt, a true dark night of the soul, Spain received from Spanish America the mystical succour necessary to emerge from the total crisis of confidence.

87 Dieser Typus eines "lyrischen hispanismo", fügt Pike hinzu, der Spanien in der Folge von 1898 mit einem großen Ideal versorgt habe, sei für viele wichtiger gewesen als die ökonomische Entwicklung.

6. Vom Desastre zum Bürgerkrieg Auch in den dreieinhalb Jahrzehnten vom Desastre bis zum Bürgerkrieg war eines der Hauptcharakteristika des XIX. Jahrhunderts weiterhin virulent: Trotz rhetorischer Scharmützel und Differenzen in eher sekundären Fragen blieb ein gewisser Grundkonsens zwischen Liberalen und Konservativen erhalten, ihr Verhältnis, was die panhispanistischen Ideen betraf, war durchaus "freundlich", wie Pike betont. Bei vielen Gelegenheiten hatten beide Strömungen auf das engste zusammengearbeitet. Diese Kooperation auf dem Terrain des Panhispanismus könnte sogar dazu beigetragen haben - lautet Pikes (1971: 184) suggestive These - , daß Liberale und Konservative während der zweiten Republik auch in anderen Bereichen Gemeinsamkeiten suchten und fanden, um diesmal nicht "Spanischamerika", sondern Spanien selbst gegen die Bedrohung - real oder vermeintlich - durch 'Denationalisierung', Materialismus, Utilitarismus, Marxismus und die wachsende Gefahr einer sozialen Revolution zu schützen. Einer der eher sekundären Unterschiede zwischen beiden bestand indessen darin, daß die Liberalen die Erwartung hegten, nicht nur zu geben, sondern aus Lateinamerika auch zu empfangen. Fasziniert von den Potentialen der Neuen Welt, von Dynamik und Selbstvertrauen ihrer Bewohner, hofften die Liberalen, den entscheidenden Impuils zur materiellen Entwicklung von den Exkolonien zu bekommen. Durch eine emgere Kooperation mit diesen Ländern, die dem religiösen Fanatismus spanischer Provenienz entronnen waren, erhofften sich die peninsularen Liberalen Unterstützung in ihrem Kampf für Säkularisierung, die als conditio sine qua non ökonomische n Fortschritts erschien. Angespornt durch solche Hoffnungen und das Strohfeuer hi:spanophiler Gefühle nach 1898, waren es folglich in erster Linie liberale Panhispainismus-Vertreter, die in den Jahren nach 1898 der Bewegung ihren Stempel aufdrückten. Dazu trug auch die proamerikanistische Politik zahlreicher Provinzen und Regionen bei: Es gebe einen sehr besonderen americanismo, schreibt Ram.a (1982: 191), der in den kommerziellen und industriellen Interessen, speziell der Katalanen bestehe, die gegen Ende des Jahrhunderts ein Drittel ihrer Textilprodukttion in den Antillen und ein weiteres Drittel in verschiedenen Ländern Spanischameirikas absetzten. Auftrieb versprach man sich daher von einem weiteren, großangelegten iberoamerikanischien Kongreß, der 1900 in Madrid stattfand und an dem Delegierte aus

88 fast allen Ländern Lateinamerikas teilnahmen, wenn auch mit deutlichem Übergewicht spanischer Teilnehmer. Wie Fogelquist (1967: 26) bemerkt, demonstrierten letztere, daß sie seit Ayacucho einen bestimmten Grad an Verständnis der Psychologie ihrer ehemaligen Untertanen erlangt hatten und jeden Anschein von Autoritarismus

und Willkür während des Kongresses zu vermeiden bemüht schienen.

Nimmt man als Gradmesser die Bewertungen der Beteiligten, so waren diese Reaktionen geradezu enthusiastisch. Gente Vieja, eine kurz zuvor gegründete Madrider Zeitschrift, formulierte z.B. mit rhetorischer Verve (ebd.: 27): Der Kongreß appellierte an la leyenda indestructible del alma latina y a la fuerza espiritual y cohesiva de la lengua para unir a los hombres que, cuando niños, balbucen el habla gloriosa de Calderón y Cervantes, que en la propia lengua celebran sus venturas y lloran sus dolores, y, al morir, modulan, en el mismo nobilísimo idioma, la última plegaria. Trotz dieser und anderer sentimentaler Ergüsse war der Kongreß ein wichtiger Faktor zur Schaffung eines günstigen Ambiente für den kulturellen Austausch, wenngleich von erheblich geringerer Tragweite - insbesondere unter praktischen Aspekten - , als seine Organisatoren sich erhofft hatten. Spanien, interpretiert Fogelquist (1967: 29f.), sei bereits ein Land gewesen, dessen Schicksal mehr mit Europa als mit Amerika verbunden gewesen sei. Und die lateinamerikanischen Staaten seien trotz der Bande von Blut, Sprache und Traditionen weder willens noch in der Lage gewesen, ihre Zukunft an der europäischen Realität zu orientieren. Die liberale Führungsposition in der Panhispanismus-Bewegung erwies sich indessen als genauso ephemer wie die lateinamerikanischen Sympathien, die aus Furcht vor dem "Koloß" und aus Mitleid mit der geschlagenen "Madre Patria" von einst nach 1898 aufgeflackert waren. Ereignisse wie die mexikanische Revolution hatten daran ihren Anteil. Obgleich z.B. El Sol, die führende liberale Zeitung Madrids, die mexikanische Revolution verteidigte, meinten andere liberale Stimmen den Grund für die ökonomischen Schwierigkeiten des Landes in der Landverteilung auszumachen und lobten den früheren Diktator Porfirio Díaz. Andere Liberale (Pike 1971: 160) sahen den vermeintlichen Niedergang des Landes durch die Indianer verursacht, den angeblichen Hauptnutznießern der Revolution. Die mexikanischen Ereignisse veranlaßten zumindest einige liberale Kreise, unter anderen die Zeitschrift Cultura Hispano-Americana, die traditionellen Warnungen der Konservativen zu überdenken, denen zufolge die bestehende, hierarchisch organisierte soziale Ordnung ohne Katholizismus in permanenter Gefahr sei. Das konservative Organ Razón y Fe (ebd.: 181) erklärte demgemäß, daß "die Kreuzigung Mexikos" eine der größten Tragödien der Geschichte sei. Vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Spannungen auf der Halbinsel selbst diente das mexikanische Beispiel einer geschickten konservativen Propaganda fortan als Beweis für die These, daß

89 Liberalismus, Freimaurertum und Protestantismus gleichsam Alliierte der Kommunisten seien, die sich anschickten, auch in Spanien eine Revolution anzuzetteln. Unruhen und Aufstände wie die von 1909 und 1917 bestärkten sie in dieser Auffassung, ließen Liberale und Konservative weiter zusammenrücken und stimulierten ihre Ambitionen, nicht allein Spanien ihren Vorstellungen gemäß neuzugestalten, sondern auch die "spanische Welt" in Übersee: Nur eine vereinte iberische Familie wähnten sie stark genug, den Übeln der modernen Zivilisation zu widerstehen. Die Diktatur Primo de Riveras (1923) erschien als probates Mittel, diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Der Diktator zeigte denn auch starkes Interesse an den Ideen des Panhispanismus, besonders an den Varianten konservativer Couleur, die den Katholizismus als dessen Essenz deklarierten. Die kulturell-geistigen Beziehungen zwischen Spanien und "Spanischamerika" sollten zunächst weiter forciert werden, denn nur auf dieser Basis, dachte Primo de Rivera, könnten auch kommerzielle Bande geknüpft werden. In einer Reihe institutioneller Veränderungen schien sich das besondere Interesse des Generals zu materialisieren: 1925 wurde im Außenministerium eine neue Abteilung geschaffen, der ausschließlich die Beziehungen mit Lateinamerika oblagen. Dieser Abteilung wurde wenig später ein Informationsbüro angegliedert, das für den Austausch von Zeitungen, Zeitschriften und kulturellen Informationen verantwortlich war. 1927 erhielt das Außenministerium schließlich eine weitere Sektion zugeordnet (Patronato de Relaciones Culturales), die für die Intensivierung der genuin kulturellen Beziehungen zuständig war. Innerhalb des bestehenden politischen Kontextes liefen die konservativen Panhispanisten ihren liberalen "Opponenten" nunmehr den Rang ab und übten eine Art "monopolistischer Kontrolle" (Pike) über den hispanismo aus. Der junge José María Pemán war ihr einflußreichster Ideologe. Pemán (1927: 98) bezog sich vor allem auf die Schriften Angel Ganivets und argumentierte, materielle Expansion und politischer Imperialismus seien die Kinderkrankheiten der Nationen. Nachdem auch Spanien an dieser Krankheit gelitten habe, befinde man sich nun im Stadium der Rekonvaleszenz und sei anderen Ländern - wie Frankreich, England und Deutschland - überlegen, da diese noch immer Symptome des traditionellen Imperialismus aufwiesen. Das reifere Spanien sei indessen im Begriff, zu einer höheren Form nationaler Aktivität zu gelangen: zu geistiger und idealistischer Expansion. Die rasche Ausweitung kultureller Beziehungen während der Diktatur schien das bilaterale Verhältnis und selbst so symbolträchtige Daten wie die Schlacht von Ayacucho im Bewußtsein der Konservativen allmählich zu normalisieren. Die Anfertigung eines Gedenkmonumentes zum hundertsten Jahrestag durch den kolumbianischen Bildhauer Julio González Pola mag diesen Eindruck bestätigen. Wie trügerisch dieser

90 gleichwohl war, zeigte ein Ereignis des Jahres 1927: Guillermo de Torre bezeichnete Madrid in einem Editorial der Gaceta Literaria als den intellektuellen "Meridian Hispanoamerikas", eine Behauptung, die, so Zuleta Alvarez (1979: 137f.), in intellektuellen Kreisen Lateinamerikas "explosive Antworten" provozierte, weil man sie als "prätentiös-anachronistischen kulturellen Hegemonieanspruch" interpretierte. Schließlich zerstörte die Weltwirtschaftskrise die letzten Hoffnungen auf verbesserte ökonomische Beziehungen, deren Stimulierung die Anhänger Primo de Riveras sich insbesondere von der Weltausstellung desselben Jahres versprochen hatten. Die Ausstellung geriet jedoch nicht nur zum finanziellen Debakel, sondern nach Ansicht der Zeitschrift Razón y Fe auch zu einem "moralischen Attentat". Was den konservativen Hispanidad-Adepten (Pike 1967: 229) in Zorn versetzt hatte, waren der Verkauf protestantischer Bibeln, die "schamlose Zurschaustellung" nackter Figuren auf Statuen und ausgestellten Bildern und zu guter Letzt die "emphatische" Huldigung an indianische Kulturen. Mit Beginn der zweiten Republik (1931) fühlten sich die Panhispanisten beider politischer Strömungen mehr denn je von ihrer Mission überzeugt. Aufgrund verschiedener Faktoren schien die Erreichung ihrer Ziele noch erfolgversprechender als in früheren Jahren: Zahlreiche Indizien suggerierten ihnen, daß die Lateinamerikaner nun selbst den wachsenden sozialen Gefahren verschiedener Formen von Massenpartizipation entgegentraten, um Autorität, Hierarchie und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein beträchtlicher Teil der Lateinamerikaner schien darüber hinaus der "inorganischen" Demokratie und dem mechanistischen Utilitarismus des "Koloß"' aus dem Norden in wachsendem Maße feindlich gesonnen zu sein, da dessen Werte die bestehende soziale Ordnung zu unterminieren drohten. Das zumindest war die Sichtweise der spanischen Rechten, die - inmitten von Gefahren, die ernster waren als in den Post-Desasfer-Jahren - ihre Augen mit zunehmendem Interesse nach "Spanischamerika" richteten. Für diese Männer, so Pike (1967: 302), even as for some of their ancestors of the Generation of '98, hispanismo was a contributing element to the myth-fantasy, to the great ideal, with which they hoped to spark a redemptive nationalism. Besonders im Falange-Programm nahm Lateinamerika einen herausragenden Platz ein. Die Gründe (ebd.: 302) liegen z.T. in dem Umstand, daß José Antonio und seine Epigonen davon überzeugt waren, daß der Tag kommen würde, an dem die Welt "von drei oder vier rassischen Ethnien" dominiert werde - und Spanien, so die Überzeugung des Falange-Gründers, könnte eine von ihnen sein - allerdings nur dann, wenn es sich an die Spitze eines "geistigen spanischamerikanischen Empire" setze.

91 Das politische Klima in Lateinamerika war nach Pike in den dreißiger Jahren - mit Ausnahme Mexikos - in der Tat günstig für den Panhispanismus konservativer Façon. Doch genau zu dieser Zeit befand sich die Rechte in der Defensive und hatte einen Gutteil ihres politischen Einflusses auf die Bewegung verloren. Fünf Jahre nachdem sie die Macht zurückerobert hatte, war der günstige Augenblick vorbei. Der Ausgang des 1. Weltkrieges brachte die antidemokratische, korporativistische, katholische Rechte in Lateinamerika in Mißkredit. In der Verfolgung ihrer Ideale, resümiert Pike (ebd.: 308), sei ihr daher so wenig Erfolg beschieden gewesen wie den Führern der Republik. Dennoch zeigten auch die republikanischen Regierungen starkes Interesse an einem kulturellen Panhispanismus, wenngleich sie durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise ernsthaft gehandikapt waren und sich zu einer deutlichen Reduzierung ihres Konsularservices in Lateinamerika genötigt sahen: Nur elf Prozent des entsprechenden Budgets waren für Lateinamerika bestimmt. Immerhin gründete die republikanische Regierung kurz nach ihrer Konstituierung das Centro de Estudios de Historia de América, das der Universität von Sevilla angegliedert wurde. Die Gründe für die Schwäche der Bewegung in den dreißiger Jahren sind mehrdimensional. Sie liegen sowohl im Charakter der über hundertjährigen Beziehungen selbst, die vor allem in Lateinamerika zunehmend auf Widerstand stießen. In ihrem "chronischen Dilemma" (Pike), zwischen dem nördlichen "Koloß" und der ehemaligen "Madre Patria" zu wählen, tendierten die Lateinamerikaner in den dreißiger Jahren mehr in Richtung USA. Darüber hinaus gewann der Lateinamerikanismus (bzw. Indoamerikanismus) zunehmend an Bedeutung. Für viele Intellektuelle implizierte dieser Begriff die Existenz besonderer kultureller Bande zwischen ihren Ländern und "Latein-Europa": Nicht nur mit Spanien, auch mit Portugal, Italien und vor allem mit Frankreich. Trotz seiner virulenten Schwäche, die während des Bürgerkrieges weiter zunahm, hatte der Panhispanismus, so Pike (ebd.: 310) am Ende seiner Untersuchung, noch lange nicht ausgedient: "By no means suffered a total collapse in the New World, and, just as for its debility, many reasons account for its powers of survival." Eine prophetische Aussage, wie sich bald zeigen sollte.

VI. Panhispanismus und Lateinamerikabild von 1825 bis 1936: besonders relevante Bereiche 1. Der Streit um die Terminologie 1 Das Wort "Lateinamerika", schrieb Valera (Pike 1971: 198), beleidige und verletze ihn als Spanier, so wie ein alter Mann sich verletzt fühle, wenn er erfahre, daß sein erwachsener, reicher und mit einer vielversprechenden Zukunft ausgestatteter Sohn, der mit wohlbegründeten Ambitionen in einem fernen Lande lebt, seinen väterlichen Namen verschmäht habe. Ähnliche Warnungen, den Terminus "Lateinamerika" zu vermeiden, finden sich regelmäßig in der spanischen Literatur zum Thema. Klaus Meyer-Minnemann (1987: 3ff.) hat die Entstehung und Verwendung dieses Namens kurz nachgezeichnet. Der aus der französischen Romantik stammende Begriff sei vermutlich erstmals von dem Kolumbianer José María de Torres Caicedo seit 1856 regelmäßig benutzt worden. Er habe damit die ehemals spanischen Kolonien Amerikas unter einer neuen Bezeichnung zusammenfassen und sozusagen wenigstens auf sprachlichem Wege einen wollen, um sie gegen die Vereinigten Staaten und deren bereits deutliche Ansprüche auf Vorherrschaft in ganz Amerika zu stellen. Für diese ehemals spanischen Kolonien seien während der Unabhängigkeitsbewegung zu Anfang des Jahrhunderts und unmittelbar danach die Bezeichnungen "Mundo Nuevo","América","América del Sur" oder auch "América Meridional" verwendet worden. Ihnen habe sich dann der Ausdruck "América Española" hinzugesellt, der freilich von vielen wegen seiner Bindung an Spanien abgelehnt worden sei. Alle diese Bezeichnungen hätten definitiv den Namen "Indias" bzw. "Indias Occidentales" abgelöst, der bis dahin im offiziellen Sprachgebrauch der spinischen Krone vorgeherrscht habe, obwohl der Name "América" seit 1507 für den neuen Kontinent eingeführt gewesen sei. Die Bezeichnung "la América latina" hitte nunmehr nach Ansicht von Torres Caicedo gegenüber "América" auf der einen, "América del Sur","América Meridional" oder "América Española" auf der anderen Seite den Vorteil gehabt, extensional günstiger zu sein, indem sie BrasLien und einen großen Teil der Antillen einzuschließen und gegen das angelsächsisch Ame-

1

Vgl. auch Kapitel IV.4.1. der vorliegenden Untersuchung.

93 rika abzugrenzen erlaubt habe. Zugleich habe diese Bezeichnung, was für Torres Caicedo vielleicht ausschlaggebend gewesen sei, die betreffenden Länder des Kontinents aus der konnotativen Verknüpfung mit der iberischen Vergangenheit herauszulösen vermocht. Diese Vergangenheit sei wegen ihrer institutionellen und technologischen Rückständigkeit ungeeignet erschienen, eine Zukunft zu begründen, die in der Lage gewesen wäre, den Vorherrschaftsanspruch der Vereinigten Staaten abzuwehren. Dieser Begriff, so Meyer-Minnemann, hat sich in einer wechselnden Geschichte allmählich durchgesetzt. Er begreift heute Brasilien und die brasilianische Kultur mit ihren über 130 Millionen Sprechern ein und gilt auch für einen Teil der Antillen, wo er freilich zunehmend mit dem Ausdruck 'El Caribe' zu konkurrieren hat. Nach Pike läßt sich bereits Mitte der zwanziger Jahre von einer Durchsetzung des Begriffes "Lateinamerika" sprechen, und die Spanier hätten dieses Faktum "grollend anerkannt", wenngleich sie selbst auch den Begriff "Spanischamerika" vorgezogen hätten, der, was zahlreiche spanische Autoren betrifft, erst in neuester Zeit auch durch den Terminus "Lateinamerika" Konkurrenz erfährt. Auf einhellige Ablehnung dürften dagegen auch unter den meisten fortschrittlichen Spaniern solche Bezeichnungen stoßen, die, wie "Indoamerica", "Indo-Afroamerica" oder auch "Indo-Afro-Latinoamerica" die multikulturelle Realität des Kontinents auch sprachlich zum Ausdruck bringen möchten (vgl. Gissi-Bustos 1981). Insgesamt ist der Namensstreit seit dem XIX. Jahrhundert ein aufschlußreicher Indikator sowohl für bestimmte kulturpolitische Positionen im Kontext des (Anti-) Panhispanismus wie für einen (zumindest diesbezüglichen) Grundkonsens von liberalen und konservativen Advokaten des Panhispanismus.

2. Exponierte Intellektuelle und Lateinamerika Da sich die spanisch-lateinamerikanischen Beziehungen primär auf kulturellem Terrain bewegten, kam dem Engagement intellektueller Kreise naturgemäß erstrangige Bedeutung zu. In den Ländern Lateinamerikas fanden die spanischen Panhispanisten in Athenäen, Kulturzentren, regionalen und nationalen Vereinigungen, Universitäten etc. ein weites Betätigungsfeld, um - wie Rama (1982: 306) spöttelt "die iberische Kunst des Redens" zu praktizieren. Den überseeischen Athenäen fiel dabei eine Schlüsselrolle zu (deren Aktivitäten, wie Rama - ebd.: 257 - feststellt, indessen noch längst nicht erschöpfend untersucht worden sind). Bereits 1844 gab es ein Athenäum in Mexiko, ab 1881 eines in Uruguay, das seit 1886 eine eigene Zeitschrift (Anales del Ateneo) herausgab; in den achtziger Jahren wurde das

94 Athenäum von Lima gegründet, das von Havanna folgte 1910. In Spanien selbst kam dem 1835 gegründeten Ateneo de Madrid, das den Kulturbeziehungen mit den Ländern Lateinamerikas in Form von Vorträgen, Einladungen bekannter laieinamerikanischer Schriftsteller, Publikationen etc. einen beständigen Platz auf se ner Aktivitätenpalette einräumte, die mit Abstand größte Bedeutung zu. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war es insbesondere der Kraasismus, der die spanischen Liberalen dazu ermunterte, ihre Aufmerksamkeit in verstärktem Maße auf die Exkolonien zu richten. Krause und seine spanischen Epigonei vertraten den Standpunkt, die Pflicht der jeweiligen nationalen Eliten bestehe dirin, die Massen ihrer Länder zu beeinflussen, um in ihnen die Sensibilität für ästietische und geistige Werte zu fördern. Diese Beziehung zwischen "Elite" und "Nasse" von dem deutschen Philosophen zumindest theoretisch als dualer Prozeß verstanden, von dem mithin auch die "Elite" profitieren könne - sei auch auf die internationale Sphäre übertragbar. Die gebildeten und fortgeschrittenen Nationei sollten mit den jungen, weniger fortgeschrittenen Ländern in Kontakt treten, um ihi Niveau zu erhöhen. Der Einfluß des Krausismus, folgert Pike (1971: 146f.), schitn daher auf natürliche Weise dazu bestimmt, das Interesse am hispanismo zu verstäiken. Neben bestimmten Institutionen (wie der weiter unten behandelten Rea¡ Academia) und philosophischen Strömungen, waren es vor allem intellektuelle Eiizelpersönlichkeiten, die auf verschiedene Weise (in ihren Werken, in Essays, duch Vorträge etc.) den panhispanistischen Gedanken forcierten. Einer von ihnen wa' Benito Pérez Galdós. Der bekannte Romancier, der in seinem Oeuvre ein schonuigsloses Porträt der "spanischen Laster und Lächerlichkeiten" (Montesquieu) des aisgehenden XIX. Jahrhunderts zeichnete und gegen Ende seines Lebens sozialistischen Positionen nahestand, vertrat einen durchaus "orthodoxen Standpunkt" (Rana) mit Blick auf Lateinamerika. In mehreren Artikeln aus dem Jahre 1885 pläuerte er zwar expressis verbis für einen Ausbau gerade auch der beiderseitigen practischen - sprich kommerziellen - Beziehungen mit Lateinamerika, allerdings voi einem einseitigen, d.h. spanischen und persönlichen Interesse geleitet. Pérez Galtós ging es nach Auffassung Ramas (1982: 195) primär um die Sicherung seintr Autorenrechte auf dem lateinamerikanischen Buchmarkt. Denn diejenigen, agumentierte der Schriftsteller (ebd.: 195f.), que vivimos del arduo trabajo de las letras no podemos ver con agrado que lcque escribimos sea del dominio público en países donde impera nuestra lengua (...) sigo quejándome y poniendo el grito en el cielo y pidiendo a Dios ... que no saquen de tan absurda situación. Was die politischen Beziehungen betrifft, so erweist sich Pérez Galdós m Kontrast zu der allenthalben intonierten Vergangenheitsrhetorik immerhin als ine Art "Realpolitiker", der von "ese sueño de la unión latina" wenig hält und st.tt einer

95 illusorischen Föderation für eine iberoamerikanische Konföderation plädiert, "que al menos responde a fines inmediatos e intereses positivos". Die realpolitische Nüchternheit des Autors, 1886 formuliert, hatte freilich, was Lateinamerika betraf, einen ähnlich beschränkten Horizont wie die meisten spanischen Intellektuellen jener Jahre:"Ni nosotros (sic) aspiramos a poseer en América más territorios que las de Cuba y Puerto Rico (sie)", lautet sein fait accompli,"en las repúblicas del Nuevo Mundo aspiran a poseer nada en esta parte de los mares." Rama (ebd.: 196) resümiert die Haltung von Pérez Galdós gegenüber Lateinamerika daher wohl zutreffend, wenn er schreibt: Die Tatsache, daß Pérez Galdós sein immenses Prestige und seine Popularität in den Dienst besserer Beziehungen zwischen Spanien und Spanisch-Amerika stelle, sei sicher sehr interessant. Nicht weniger interessant sei jedoch die Tatsache,"que sus puntos de vista no sean diferentes, ni menos contrarios, a las empresas que se llevan oficialmente desde el gobierno de Madrid". 2 Ebenso interessant und widersprüchlich erscheint die Haltung Miguel de Unamunos. Unmittelbar nach dem Desastre sah der baskische Philosoph und Schriftsteller die Erlösung Spaniens in seiner "Europäisierung". Gleichzeitig war er der Meinung (Alvarez de Miranda 1952: 72ff.), daß Spanien sich jedoch nicht auf die Halbinsel beschränke. Das, was in "Spanischamerika" geschehe, betreffe die Gesamtheit der spanischen "Rasse" und der "hispanischen Gemeinschaft". "Dort liegt unsere Zukunft", korrigierte er seine anfängliche Europa-Euphorie. Zum besseren Verständnis ihrer selbst und ihrer intrahistoria (der spanischen "Essenzen", N.R.) müßten die Spanier ihre Aufmerksamkeit auf die Mitglieder der Gemeinschaft in der Neuen Welt richten. Die "spanisch-amerikanische" Literatur, besonders solche Arbeiten wie das Versepos Martín Fierro des Argentiniers José Hernández, seien eine Ergänzung der peninsularen Romances, die den Spaniern die Möglichkeit böten, ihr authentisches Wesen, wie es in den Massen erhalten sei, zu verstehen. Der einsame Außenseiter, interpretiert Scherag (1960: 119) Unamunos Position, der inmitten einer sich mehr und mehr uniformierenden Gesellschaft seine ursprüngliche Unabhängigkeit bewahrt und in geradezu quijotesker Weise verteidigt habe, sei für Unamuno zu einer Art Archetypus des spanischen Menschen geworden. Wenige Jahre nach dem Desastre hatte Unamuno seine ursprüngliche Perspektive mithin aufgegeben. Statt sich zu "europäisieren", sollten sich die Spanier nunmehr "hispanoamerikanisieren". Die kontradiktorischen Positionen Unamunos, wie sie etwa auch im Rahmen des (weiter unten behandelten) Modernismo-Disputes zum Ausdruck kamen, unterschieden sich indessen deutlich von den mediokren Apologeten des Panhispanismus, die sich mit der lateinamerikanischen Realität kaum auseinandersetzten.

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Vgl. zu Galdós' Lateinamerika-Bild meinen d e m n ä c h s t erscheinenden Aufsatz, der sich im wesentlichen auf die 1924 erschienenen Obras inéditas stützt.

96 Im Vergleich dazu übten die Träume Angel Ganivets von einer wiederentstehenden hispanischen Gemeinschaft sicher größeren Reiz auf die panhispanistische Bewegung aus als die weniger von kultureller Vormundschaft geprägten Ideen Unamunos. Um ihre verlorene Größe zurückzugewinnen, hatte Ganivet argumentiert (1946: 95ff.), müßten die Spanier von ihren überseeischen "Brüdern" lernen. Dennoch schätzte er die Möglichkeiten, die Beziehungen zu "nuestra numerosa familia de América" (ebd.: 94) auf gesunde, und das hieß vor allem auf ökonomische Füße zu stellen, pessimistisch ein: Si con las uniones se pretende buscar un mercado para la producción artística, ampararse debajo de fraseologías patrióticas; díganse las cosas claras, por sus nombres, y no se dé un caracter marcadamente patriótico a una sencilla operación de comercio. Sei bereits die Vorstellung einer politischen Konföderation ein Ideal "de tan larga y difícil realización, que en la actualidad toca en las esferas de lo imaginario" (ebd.), so sei auch eine "confederación intelectual o espiritual" aufgrund der "escasa fuerza expansiva de nuestra producción intelectual" (ebd.: 100) ein illusorisches Ziel. Daher sah Ganivet (ebd.: 121) die "Zukunft Spaniens" eher in Afrika; denn, so seine Uberzeugung: Las razas africanas no son comparables a las americanas (...): están en un grado bastante inferior de evolución y no pueden resistir la cultura europea. Nicht weniger kühn nehmen sich die Zukunftsvisionen des regeneracionista Joaquín Costa aus. Seine Vorstellung einer großen Gemeinschaft dies- und jenseits des Atlantiks wurden durch die lateinamerikanische Annäherung nach 1898 nachhaltig befördert. Nur durch eine entsprechende Orientierung auch spanischerseits sah Costa (Tierno Galván 1961: 34f.) die Chance, ein neues Goldenes Zeitalter zu erreichen. Die von ihm geforderte "Europäisierung" war dabei das Medium, durch das Spanien die physische Stärke erlangen könnte, um den Traum Quijotes fortzuführen, und "Amerikanisierung" war erforderlich, um diesen Traum Realität werden zu lassen. Denn nur im gemeinsamen Handeln mit den Abkömmlingen und Brüdern der Neuen Welt könnten die europäischen Spanier die nötige Kraft finden, "die Bestimmung der Rasse" zu erfüllen. Gómez-Escalonilla (1988: 24f.) weist darauf hin, daß die Affinitäten zwischen Panhispanismus und Regeneracionismo besonders augenfällig gewesen seien und dieser von jenem weitere Impulse erhalten habe. Eine der "premisas fundamentales" des Regeneracionismo habe darin bestanden, ein neues Modell nationaler Identität zu schaffen, mit dessen Hilfe der lädierte soziale Konsens eine neue und dauerhafte Grundlage erhalten sollte. Den Autoren um Costa habe dabei die Kombination folgender Faktoren vorgeschwebt: La revitalización de los elementos forjadores y progresivos de la historia nacional, una imprescindible reactivación interior y la recuperación del prestigio exte-

97 rior. Este ultimo aspecto justificaba la magnitud del interés que se concedía a Iberoamérica. Der vermutlich wichtigste Faktor, schreibt Pike (1971: 39), der die Aspirationen der hispanoamericanistas im Reich der Phantasie beließ, war - bestenfalls - ihre reklamierte Vormundschaft und - schlimmstenfalls - ihre Attitüde der Verachtung, selbst jener, die sich als Freunde der neuen Republiken betrachteten. Marcelino Menéndez y Pelayo, ein Apologet spanischer Errungenschaften und nationaler Traditionen par exellence, sei dafür ein typischer Vertreter. Unter dem Auspizium der Real Academia hatte Menéndez y Pelayo zwischen 1893 und 1895 eine vierbändige Anthologie von Werken verstorbener lateinamerikanischer Poeten herausgegeben. Um bestimmte Empfindlichkeiten, wie es hieß, nicht zu verletzen, waren bewußt keine noch lebenden Dichter in das Werk aufgenommen worden. Obwohl er ein Bewunderer des literarischen output Lateinamerikas war, kennzeichnete auch ihn die typische Bevormundungsattitüde gegenüber den Exkolonien. So war er etwa der Meinung, daß nur diejenige Poesie Wert besitze, in der sich die Ursprünge und Inspirationen der spanischen Kultur widerspiegelten. Daraus leitete er das Recht einer kulturellen Missionsaufgabe ab, die darin bestand, den "Spanischamerikanern" bei ihrer Selbstfindung zu helfen, d.h. "Spanier" zu werden und die "Imitation fremder Modelle" zu beenden. Lateinamerikanische Schriftsteller, die diesen Standpunkt nicht teilten, attackierte Menéndez y Pelayo als antiklerikal, teuflisch und fanatisch: "Little wonder", kommentiert Pike dessen Position, "that this work was not, on the whole, favorably received in Spanish America." So ergoß etwa der Lateinamerikaner Antonio de Valbuena (Scherag 1960: 90) mit der sarkastischen Bemerkung seinen Spott über die "gute Absicht des Gelehrten": Vielleicht seien einige Lateinamerikaner gar imstande, Selbstmord zu begehen, um in dem Werk zu erscheinen. Unter allen intellektuellen Exponenten Spaniens, die sich im Untersuchungszeitraum mit Lateinamerika beschäftigten, war Ramón del Valle-Inclán praktisch der einzige, der für den Spott der überseeischen Autoren Verständnis hatte - ja, diesen in seinem Roman Tirano Banderas an beißender Schärfe noch übertraf. Der Autor der esperpentos stellt daher in mehrfacher Hinsicht eine - positive - Ausnahme im Rahmen des hier diskutierten Themas dar. Valle-Inclán war neben Benavente und Maeztu der einzige 98er, der Lateinamerika (Mexiko) während mehrerer Reisen (1892, 1910 und 1921) persönlich kennenlernte, den Modernismo akzeptierte, die mexikanische Revolution verteidigte und zum schärfsten Kritiker des Panhispanismus, vor allem der in Mexiko lebenden Spanier avancierte - Aspekte, die ihn zu einem enfant terrible und Außenseiter der spanischen Intellektuellen machten. Sein 1926 erschienener Roman Tirano Banderas ist vor allem eine schonungslose Abrechnung mit den gängigen panhispanistischen Mythen und Legenden im allgemei-

98 nen und den dortigen gachupines im besonderen. Diese waren in erster Linie darauf bedacht, ihre ökonomischen Interessen zu sichern und figurieren im Roman u.a. als "abarrotero", "empeñista", "doctor sin reválida", "periodista hampón", "rico mal afanado", "chulo del braguetazo", "aristócrata decadente" und "patriota jactancioso". Insbesondere letztere beschreibt Valle-Inclán an zahlreichen Stellen des Romans. So begegnet z.B. (1984: 120) der Wucherer Pereda dem Vorwurf einer armen Indianerin, er verhalte sich wie ein typischer, d.h. betrügerischer gachupín, in der Pose rassistischer Superiorität:"Para mentar a mi tierra, limpíate la lengua contra un cardo. No amolarla, hijita, que si no andáis con plumas, se lo debéis a España". Und den Coronel-Licenciado López de Salamanca beschreibt der Autor (ebd.: Iii.) als einen Enkel spanischer encomenderos, der den Stolz seiner Kaste ein sentimentales und absurdes Erbe - mit sich herumschleppe und für die indios lediglich Verachtung empfinde. Indem Valle-Inclán gerade letzteren seine Sympathie bekundet, beging er aus der Sicht seiner panhispanistischen Zeitgenossen sicher einen besonders schwerwiegenden fauxpas, war der indigenismo doch zu einer Hauptzielscheibe ihrer Attacken geworden. Neben den inhaltlichen Positionen dürften zudem die sprachlichen "Aberrationen" des Autors bei den meisten Panhispanisten geradezu Entsetzen hervorgerufen haben: Außer der eigenwillig-brillanten Syntax des Romans mußte ihnen vor allem die Omnipräsenz der von der Academia inkriminierten americanismos als Paradebeispiel jener Bastardisierungen erscheinen, die seit Capmany mit dem linguistischen Bannfluch belegt wurden. Bei alledem ist sich Valle-Inclán über die ideologische Funktion des Panhispanismus völlig im klaren: "Estas Repúblicas", läßt er einen seiner gachupines ausrufen (1984: 67), "para no desviarse de la ruta civilizadora, volverán los ojos a la Madre Patria. Allí refulgen los históricos destinos de veinte naciones!" Eine Art Fundgrube von "Essenzen" peninsularer "intrahistoria" im Sinne Unamunos - Essenzen, die auf der Halbinsel bereits weitgehend der Vergangenheit angehörten - glaubte auch Menéndez Pidal in Lateinamerika auszumachen. Die gesamte spanischamerikanische Zivilisation weise einen überraschend archaischen Charakter auf, weshalb sich Spanier in Lateinamerika immer zu Hause fühlten. Einen herausragenden Platz unter den intellektuellen Aktivisten der Bewegung nahmen auch der Republikaner Rafael M. de Labra (der zeitlebens für religiöse Toleranz plädierte) und Juan Valera (ein anerkannter Literaturkritiker und Romanschriftsteller) ein. Beide Panhispanisten, die sich besonders durch ihr persönliches Engagement auszeichneten, ergänzten sich gewissermaßen gegenseitig und verkörperten jeweils auf besondere Weise das Hauptspektrum der panhispanistischen Bewegung: Während Labra mehr an praktischen Varianten kultureller Beziehungen Interesse zeigte und auch für ökonomische Beziehungen mit Lateinamerika plädierte, gründeten sich Valeras Visionen in erster Linie auf die literarischen Bande,

99 die, so zeigt er sich überzeugt (Pike 1971: 32), die früheren Kolonien mit ihrem "Mutterland" kulturell vereinigen würden. Erheblich differenzierter, wenn auch keineswegs frei von den bekannten Vormundschaftsattitüden, wie sie mehr oder weniger ausgeprägt bei allen Vertretern des Panhispanismus auszumachen sind, äußerte sich Ortega y Gasset. Ortega teilte die Besorgnis Unamunos über die angeblichen Laster der Lateinamerikaner, besonders was ihren "Materialismus" betraf. Aufgrund ihrer "geistigen Schwäche" befände sich im tiefsten Inneren ihrer kollektiven Seele eine Quelle der Unmoral: Er wolle nicht darüber diskutieren, schrieb er (Pike 1971: 313), wie diese Quelle entstanden sei. Tatsache sei jedoch, daß sie existiere, und solange sie nicht versiege und durch moralische Reaktionen ersetzt werde, brauchten sich die Spanischamerikaner nicht der Illusion hinzugeben, in den Rang erwählter Völker aufsteigen zu können, selbst wenn eines ihrer Länder - Argentinien - nicht gerade wenige dieser seltenen Begabungen besitze, die entsprechende Taten erforderten. Lateinamerika war für Ortega vor allem Argentinien, das er dreimal - 1916, 1928 und 1939 - besuchte, von einer sporadischen Reise nach Chile abgesehen. Die lateinamerikanische Realität war ihm dadurch zumindest teilweise auch persönlich vertraut. Wie Zuleta Alvarez (1979: 126) betont, waren die Vorstellungen Ortegas in starkem Maße von Hegel beeinflußt (er hatte in Deutschland studiert), der bekanntlich die Auffassung (Rehrmann 1989: 114) vertreten hatte, daß den lateinamerikanischen Ländern aufgrund ihres geistigen, im Staat konkretisierten Entwicklungsstandes, nur ein Platz in der Geographie, nicht aber in der Geschichte zukomme. Wie wörtlich der spanische Epigone des deutschen Philosophen dessen Sichtweise nahm, illustrieren seine frühen Äußerungen über die Vereinigten Staaten, Argentinien und Mexiko, Länder, die sich noch "im Mittelalter" befänden. Wenngleich er seine Auffassung über die vermeintliche Inferiorität Lateinamerikas im Grunde beibehielt, zeugen spätere Äußerungen (ebd.: 127) von "liberaleren" Einsichten, von denen zumindest einige auch aus heutiger Sicht noch prophetisch wirken: Mit den Völkern Zentral- und Südamerikas teile Spanien eine gemeinsame Vergangenheit, eine gemeinsame Rasse, eine gemeinsame Sprache, und dennoch bilde es mit ihnen keine gemeinsame Nation. Denn es fehle etwas, das augenscheinlich von grundlegender Bedeutung sei: eine gemeinsame Zukunft. Spanien habe es nicht verstanden, ein Programm für eine kollektive Zukunft zu entwerfen, das diese Gruppen, mit denen das Land "zoologisch" verwandt sei, angezogen hätte. Das Plebizit über die Zukunft sei daher für Spanien nicht günstig. Archive, Denkschriften, Vorfahren und das Vaterland besäßen deshalb keinen Wert. Existiere eine solche Zukunft, diene all das als konsolidierende Kraft, sonst jedoch nicht. In dem Sammelband Meditación del pueblo joven (1958) sind die Amerikavisionen Ortegas von den frühen zwanziger bis zu den fünfziger Jahren zusammengefaßt, wie immer in einer stilistisch

100 brillanten, metaphernreichen Sprache und mit gedanklichen Bonmots - Aspekte eines ästhetischen Genius, dessen panhispanistisch geprägtes Lateinamerikabild allerdings notorisch ist. Ein spanischer Schriftsteller, heißt es bereits in einem der frühen Texte (ebd.: 10) über Argentinien, "no debiera, pues sentirse a más distancia de Buenos Aires que de Madrid", denn schließlich bestehe zwischen beiden Ländern "esa comunidad de modulaciones espirituales que llamamos la raza" 3 . Wenngleich der illustre bon écrivant dabei auch einerseits einräumt (ebd.: 49): "Es un error - a mi juicio - pensar, como siempre por inercia mental se ha pensado, que estos pueblos nuevos creados en América por España, fueron sin más España, es decir homogéneos a la Metrópolis (...)" - so läßt er an den "spanischen Essenzen" indessen keinerlei Zweifel (ebd.: 40): Argentina había sido España y lo que alguien fué, sigue inevitablemente siéndolo (...) La España que la Argentina fué, perdura, pues, quiérase o no, en el fondo más soterráneo de nuestro ser y sigue allí, tácita, operando sus secretas químicas (...) Vom impliziten Eurozentrismus der Hegeischen "pueblo joven"-Metapher abgesehen, die in unterschiedlichsten Variationen über alle Texte verteilt ist 4 , trifft Ortegas historischer Bannstrahl vor allem die präkolonialen Kulturen (ebd.: 71): Los indígenas ... eran escasos en función de la magnitud y posibilidad de las tierras y además, tan inferiores por su cultura a los colonizadores que era como si no existiesen o como si fuesen para ellos meros objetos utilizables. Es nimmt daher nicht wunder, daß diese Kultur, wie Ortegas deutscher Mentor formuliert hatte, untergehen mußte, "sowie der Geist sich ihr näherte" 5 . Die spanische Mitgift, so der charmante Bewunderer der argentinischen Frauen (ebd.: 116), habe letztendlich auch der Kreolin zu ihren verführerischen Reizen verholfen: "La

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Wenngleich Argentinien seine besondere Wertschätzung genoß, dehnte er den "unidad"-Begriff stets auf ganz Lateinamerika aus, etwa auf Chile (ebd.: 27ff.), "(unos) de estos países nuestros de razas tan calientes", dem er 1928 einen Besuch abstattete und das er "con nostalgia, y con un afán de retorno" verließ.

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"(...) ahora va a empezar la historia de América", heißt es etwa 1939 (ebd.: 80f.), "en todo el rigor de la palabra: esa primera juventud que es la adolescencia termina, la cuesta se inicia, Adán sale del paraíso (...)". Er räumt jedoch, etwa am Beispiel der Kolonisierung (ebd.: 70), immerhin ein, daß Lateinamerika dabei auch so etwas wie einen historischen Jungbrunnen für Europa dargestellt habe: "(...) la colonización consiste en que hombres de pueblos viejos y muy avanzados en el proceso de su civilización caen en tierras menos civilizadas, es decir, históricamente más jóvenes. C o m o David anciano busca contaminarse de mocedad durmiendo con la niña sunmita - la vida del colonizador, hombre de vieja raza, se rejuvenece al contacto de una tierra c o m o adolescente."

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Respekt empfindet der kulturhistorische Herrenreiter lediglich gegenüber einigen Vertretern der indianischen Aristokratie (ebd.: 137), etwa gegenüber "aquellos misteriosos y señoriales incas del Cuzco (...)".

101 española fué perdiendo aquella vehemencia pero su heredera la criolla, la conservó y la depuró." Bei der Aufzählung ihrer äußeren und inneren Vorzüge gerät der Argentinienreisende, hier (ebd.: 137) während einer Radiosendung, die 1939 in Buenos Aires ausgestrahlt wurde, gar ins Schwärmen: "¡Qué amores, qué amores deleitables y tremebundos debieron ser aquellos, entre el conquistador y la princesa inca! La hija que tuvieron era ya, en germen, la criolla (...)" 6 Doch selbst hier, in der verklärenden Stilisierung des mestizaje zum aristokratischen (sie) Liebesfest hält der kulturhistorische Schönredner die folgende Einschränkung (ebd.) für geboten:"Pero no se me entienda mal: una criolla puede ser criollísima sin una gota de sangre india - es más, la criolla modela carece de ella." Während der Hegelschüler stets prononciert universalistisch, d.h. europäisch argumentierte ("Hablando en puridad: no hay más historia plenamente tal que la historia universal (...)", ebd.: 39), dabei jedoch meistens, was Lateinamerika betrifft, Spanien im Munde führte, gibt er in einem seiner letzten Texte, der am 12. Oktober 1953 auf dem "Primer Congreso de la Unión de Naciones Latinas" in Buenos Aires verlesen wurde (ebd.: 149), immerhin zu erkennen, daß nicht nur die einstige "Madre Patria" zu den kulturellen Statthaltern der Neuen Welt zählt, wenn er "una frontera consistente en dos tipos de alimentación" ausmacht: "(...) de un lado los pueblos que beben vino, usan aceite y comen miel; del otro los pueblos que beben cerveza, toman manteca y comen sauer kraut." Es versteht sich von selbst, daß Mais nicht auf dieser kulturellen Speisekarte figuriert... Außer Rafael Altamira, für den die imperiale Vergangenheit den Fundus kontemporärer Identitätsfindung darstellte (Zuleta Alvarez 1979: 115) und Guillermo de Torre, der die Hoffnungen einer kulturellen Renaissance hispanischer Provenienz insbesondere durch eine "extreme Europäisierung" Lateinamerikas und den expandierenden Indigenismus bedroht sah (ebd.), sei dieser Überblick über die bekanntesten intellektuellen Vertreter des spanischen Panhispanismus mit einem Resümee derjenigen Positionen beschlossen, die ab 1939 bzw. ab 1936 in der "nationalen" Zone den frankistischen Hispanidad-Diskurs maßgeblich bestimmten. Ramiro de Maeztus Defensa de la Hispanidad von 1934 (1952) stellt dabei den obligatorischen Hauptbezugspunkt dar. Bei Maeztu kristallisieren sich die konservativsten Positionen der vergangenen hundert Jahre zu einem extrem reaktionären Amalgam, das auch andere faschismusinspirierte Autoren beeinflußte. Unter Hispanidad verstand Maeztu das "spanische Wesen", d.h. bestimmte geistige Charakteristika, die durch historische Erfahrungen erworben worden seien und sich im Katholizismus, der für alle Mit6

Vgl. d e m g e g e n ü b e r die erheblich prosaischere Schilderung des "mestizaje" bei S á n c h e z Ferlosio (1988), der - wohl eher im Einklang mit der historischen Wirklichkeit - von Vergewaltigung spricht.

102 glieder der "hispanischen Rasse" das vereinigende Element einer transatlantischen Gemeinschaft sei, gewissermaßen synthetisierten. Die Hispanidad werde indessen von feindlichen Konzepten - Naturalismus, Materialismus und Liberalismus - bedroht, die über Generationen hinweg von bestimmten Vertretern forciert worden seien, um die hispanische Kultur durch ausländische Muster zu unterminieren. Die Peninsulaner seien indessen im Begriff, sich durch eine Rückkehr zum katholischen Spiritualismus zu retten. Da Spanien wisse, wie es seine "Krankheit" heilen könne, müsse es dieses Wissen mit den "Schwesterrepubliken" der Neuen Welt teilen, denn diese seien von den gleichen Krankheitssymptomen befallen. Maeztu zeigte sich davon überzeugt, daß die Massen "Spanischamerikas" ihr Gefühl von Würde allmählich eingebüßt hätten und aus diesem Grunde für revolutionäre Ideen empfänglich geworden seien. Der "liberale Humanismus" mache sie glauben, daß "erfolgreiche Menschen" überlegen seien und den schwächeren dabei nichts schuldeten. Der Ausweg bestand für Maeztu darin, dem liberalen durch einen "katholischen Humanismus" zu begegnen. Dieser lehre, daß alle Menschen in ihrer Seele gleich seien, und daß alle Menschen die Möglichkeit besäßen, durch eigene Verdienste die "Erlösung" zu erlangen. Dabei sei von grundlegender Bedeutung, schrieb Maeztu, daß die Armen nicht länger als anders und minderwertig betrachtet würden. Es sei genau diese Wahrheit, welche die Spanier wie kein anderes Volk proklamiert hätten, da sie selbst dem Geringsten das Gefühl vermittelt hätten, daß zwischen den Menschen kein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Wenn nun die Spanier den "spanischamerikanischen" Eliten hülfen, die Werte des katholischen Humanismus zurückzugewinnen, dann würden diese davon ablassen, Indianer, Mestizen und alle anderen dunkelhäutigen Bürger ihrer Republiken zu verachten und statt dessen beginnen, die unteren Klassen als vollwertige Menschen zu behandeln, denen die Gnade und Erlösung Gottes so gewiß sei wie den Angehörigen der Aristokratie. Sobald die führenden Klassen die geistige Würde der unteren Klassen anerkennen und sie entsprechend behandeln würden, und wenn schließlich die unteren Klassen die ihnen eigene Würde und Gleichheit zu schätzen gelernt hätten - dann, folgerte Maeztu, würden die Propagandisten des Klassenkampfes in "Spanischamerika" keine Zuhörer mehr finden. Denn von diesem Augenblick an würden die Massen ihre Ungleichheit in kultureller, politischer und materieller Hinsicht und damit eine "säkuläre Hierarchie" akzeptieren. Neben ihren reaktionären Implikationen im Hinblick auf den politischen und ökonomischen Status quo ist diese Defensa de la Hispanidad vor allem eine Kampfansage an den "american way of life", zumindest so, wie Maeztu ihn verstand. Der Panamerikanismus, das Trojanische Pferd aus dem Norden, dessen ideologische Konterbande die Lateinamerikaner in Versuchung führten, war in den Augen des Spaniers ausschließlich an ökonomisch-materiellen Zielen interessiert,

103 während sich die Spanier, die ihre eigenen Werteprioritäten erhalten hätten, den "Spanischamerikanern" auf dem viel höheren Terrain der Religion begegneten. Wenngleich Maeztu als eine Art spiritus rector der frankistischen HispanidadTheoretiker gelten kann, nicht zuletzt deshalb, weil die meisten anderen Autoren ähnlicher Denkprovenienz sich nahezu obligatorisch auf sein "Standardwerk" bezogen, so weisen die reaktionärsten Flügel des panhispanistischen Ideengebäudes doch zahlreiche Variationen und unterschiedliche Akzentsetzungen auf, wie sie auch bei den Diskussionen nach 1939 zutage treten. Während im "patriotismo espiritual" Maeztus etwa die Vorstellung eines politisch und/oder ökonomisch fundierten "imperio" keine nennenswerte Rolle spielt oder der Indigenismus eher paternalistisch als aggressiv-denunziatorisch beschrieben wird, setzt Onésimo Redondo (Calleja/Nevado 1988: 27), Gründer der Juntas Castellanas de Actuación Hispánica, die Akzente deutlich anders. Unter Anerkennung eines "sentimiento católico" plädiert er zugleich für eine ökonomisch-expansionistische Perspektive: (El Imperio) es el ideal máximo para un pueblo. (...) De este modo, el Imperio es, también, instrumento de vida económica, que viene a ser el primero y el último para el mundo industrial todavía vigente.

Demgegenüber betont José Antonio Primo de Rivera (ebd.: 40f.) eine Hegemonie Spaniens über die Exkolonien, um insbesondere seine europäische Position zu verbessern: América es, para España, no sólo la anchura del mundo mejor abierta a su influencia cultural, sino, como dicen los puntos iniciales de la Falange, uno de los mejores títulos que puede alegar España para reclamar un puesto preeminente en Europa y en el mundo.

Die damit verbundene Höherbewertung der "imperio"-Idee und ein aggressiver Duktus in der Beschreibung der "pueblos bárbaros" finden ihre Entsprechung in einer deutlich rigoroseren "unidad"-Vorstellung als bei Maeztu: España no se justifica por tener una lengua, ni por ser una raza, ni por ser un acervo de costumbres, sino que España se justifica por una vocación para unir lenguas, para unir pueblos y para unir costumbres en un destino universal.

Einheit, so die Auffassung des Falange-Gründers, ist Mittel und zugleich Zweck des "proyecto hispánico". Die größte Distanz zum "spiritualistischen" Konzept Maeztus weisen die Überlegungen von Ramiro Ledesma Ramos (ebd.: 26) auf, der die katholische wie kulturelle Komponente der Hispanidad politisch-imperialen Intentionen eindeutig unterordnet.

104 In Giménez Caballeros Genio de España (1932) wird der katholischen Komponente zwar ein höherer Stellenwert beigemessen, die "imperio"-Idee (ebd.: 140f.) ist indessen nicht weniger zentral: España sólo podrá trabajar por la idea romana, que es la católica y universal, y será el brazo derecho del ideal humano, justiciero y universal, en una nueva cruzada: Romanidad contra el peligro comunista y el mammonismo estadounidense. Knapp zehn Jahre später, als Franco in Barcelona ein Siegerdefilee absolvierte, hatte derselbe Autor (Calleja/Nevado 1988: 19) seine "imperio"-Visionen in Übereinstimmung mit dem ökonomischen Status quo aktualisiert: "¡Bendita el hambre cuando es origen del Imperio!" Eine weitere Variante hat schließlich Manuel García Morente entwickelt. Im Unterschied zu Ortegas "unidad de destino" als bewußter Aneignung der Geschichte legt Garcia Morente (1961: 55ff.) den Hauptakzent auf "la Tradición", die er in einem spezifischen "estilo español" und diesen wiederum in der Figur des "caballero cristiano" verkörpert sieht, dem Prototyp einer perfekten Fusion "entre religiosidad y disciplina heroica", die gewissermaßen als intrahistoria im Sinne Unamunos ihre Spuren allenthalben hinterlassen habe. Es komme lediglich darauf an,"la huella que sobre nuestro hacer real deja siempre el propósito ideal" durch eine quantitative und qualitative Entwicklung der "raza" als "base de toda política expansionista e imperial" zu befördern: El afinamiento y depuración de las grandes razas ha de dar por resultado el engrandecimiento de las agrupaciones humanas más importantes. [...] Salvar a España es, ante todo, y por encima de todo, salvar nuestra raza. Am 19. Juli 1936 begann García Morentes Idea de la Hispanidad allmählich Realität zu werden, wenngleich sein "caballero cristiano" auch der Unterstützung moderner deutscher Bomber bedurfte, um sein Ideal einer "nación como estilo" zu verwirklichen.

3. Die "Reinheit" der Sprache Die Sprache, wurde z.B. Unamuno nicht müde zu betonen, sei "la sangre del espíritu". Die Verteidigung des castellano,

darin waren sich nahezu alle Vertreter des Pan-

hispanismus einig, besaß folglich eine prioritäre Bedeutung, denn die "Korruption der Sprache" zog die "Korruption des Geistes" unweigerlich nach sich. Und dieser Geist, konstatierte etwa Altamira (Rama 1982: 76), sei tatsächlich in Gefahr, weil die Sprache in Gefahr sei. Der diesbezügliche Einfluß, argumentierte er, sei die letzte Karte, die Spanien im zweifelhaften Spiel um seine Zukunft als menschliche

105 Gruppe noch ausspielen könne. Ein dogmatischer Sprach-casticismo, der bereits im späten XV111. Jahrhundert zu beobachten gewesen war und u.a. auf das Wirken Antonio de Capmanys zurückzuführen ist, war daher die beinahe unausweichliche Folge. Die "pureza del idioma" zu verteidigen, war für den genannten Antonio de Capmany weit mehr ein politisches als ein grammatisches Unterfangen. Als entschiedener Konstitutionalist war er Minister der Cortes von Cádiz von 1810 und übte gleichzeitig das Amt eines "censor de los discursos" aus. In dieser Funktion wachte er eifersüchtig über die grammatische und syntaktische Regelbeachtung. Sein Zorn galt vor allem "Gallizismen" oder solchen, die er dafür hielt. Häufig habe er sich entrüstet inmitten einer Plenarsitzung erhoben, berichtet Rama (1982: 128), "echando espuma por la boca y lanzando miradas de patriótico fuego, para denunciar alguna frase o palabra que a él le parecía ser alta traición literaria". Insgesamt verliefen die Hauptlinien des Sprachkonfliktes wie folgt: Auf der einen Seite die klassischen Puristen, die eine Art Sprachmonopol für sich beanspruchten, das auf der anderen Seite von vielen Lateinamerikanern als Paternalismus zurückgewiesen wurde; letztere insistierten ihrerseits auf einem "estilo americano" und begannen mit grammatischen und philologischen Arbeiten zur Verteidigung des "amerikanischen Spanisch". So begann allmählich die lateinamerikanische Literatur - insbesondere durch Innovationen der gesprochenen Sprache - eine eigene Physiognomie herauszubilden (z.B. Martín Fierro), und die gesprochene (später auch die geschriebene) Sprache wurde durch indigene, afrikanische sowie durch europäische Einflüsse (insbesondere durch die großen Einwanderungswellen des XIX. Jahrhunderts) bereichert. Auch im Bereich der Sprache nahm jedoch gleichzeitig ein Phänomen an Bedeutung zu, das für die gesamten Kulturbeziehungen charakteristisch ist: die Existenz "hispanistischer" Lateinamerikaner, deren Verve für den "casticismo lingüístico" diejenige der Peninsulaner gelegentlich noch übertraf. So begann sich nach den ersten Dezennien der "incomunicación" in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein lateinamerikanisches Panhispanismus-Pendant zu formieren, das den "imperialismo pacífico" (Rama) auch auf linguistischem Gebiet sekundierte. Der Real Academia de la Lengua kam dabei besonderes Gewicht zu. Sie begann etwa ab 1860 mit einem systematischen Engagement in "Spanischamerika", das sich u.a. in einer wachsenden Zahl von Dependancen manifestierte, die - beginnend mit Kolumbien 1873 - sukzessive in zahlreichen Ländern gegründet wurden. Bis 1892 bestanden Academias in Mexiko, Ekuador, Venezuela, Chile, Peru, Guatemala und Honduras. Das Leitmotiv dieses kulturellen "Flaggschiffes" par exellence brachte Navarro Ledesma (Rama 1982: 139) in der Zeitschrift Unión Iberoamericana zum Ausdruck:

106 Como la dirección y la autoridad del Papa sobre los pueblos cristianos del mundo, o muy semejante a ella, debe ser la supremacía intelectual, y si es posible sentimental, de España sobre los pueblos hijos suyos (...)• Es liegt daher auf der Hand, daß sich die Academia in den kulturellen Beziehungen mit den Exkolonien von den Interessen des spanischen Staates - dem sie im übrigen unterstand - leiten ließ; allen Academias gemeinsam - und darin sahen sie einen Gutteil ihrer überseeischen raison d'être - war zudem die (sicher nicht unbegründete) Furcht vor dem Anwachsen des US-amerikanischen Einflusses auf dem Subkontinent. Entsprechend mißtrauisch beäugten die Auguren der Academia jedwede linguistische Innovation in den dortigen Ländern. So wurden 1884 für das Diccionario Académico erstmals Beiträge der "korrespondierenden" Akademien Lateinamerikas berücksichtigt - "aber mit welcher Schüchternheit und Vorsicht", bemerkt Rama (1982: 138). Tragisch-komisch, zumindest aus heutiger Sicht, muten z.B. die Auseinandersetzungen (ebd.: 120) über die orthographische Bedeutung der Schreibweise "México" an. So gab es mexikanische Autoren, die das hartnäckig verfolgte Ansinnen der Academia, das "aztekische" "x" durch das spanische "j" (Méjico) zu ersetzen, ihrerseits mit der denkwürdigen Begründung zurückwiesen, die indianische Aussprache sei "México" gewesen, was soviel bedeutet habe wie "donde está o (donde) es adorado Cristo", weshalb das Adjektiv "mexicano" gleichbedeutend sei mit "cristiano". Ironischerweise handelt es sich bei zahlreichen der als "Neologismen" und "Bastardisierungen" inkriminierten Termini um alte kastilische Vokabeln, die auf der Halbinsel in Vergessenheit geraten waren, in Lateinamerika indessen überdauert hatten oder eine Renaissance erlebten. Daher konnte sich der konservative Spanier Caballero Calderón (1979: 46f.) noch 1979 darüber wundern, daß sich in "Spanischamerika" die "pureza original" des Kastilischen mehr erhalten habe als in Spanien selbst. Mehr noch: Die Ähnlichkeiten etwa zwischen dem mexikanischen und dem chilenischen castellano seien größer als diejenigen zwischen den Varianten Madrids, Barcelonas, Bilbaos oder Sevillas. Insgesamt blieb der Einfluß der Academia gleichwohl gering. Abgesehen von den Adepten im Umkreis der zitierten Dependancen, die sich gleichsam in quijotesker Haltung weigerten, die sprachlichen Realitäten anzuerkennen, stieß der linguistische Paternalismus der académicos auf lebhaften Widerspruch, vor allem jedoch auf wachsende Indifferenz. Selbst einige Spanier betrachteten den sprachlichen Hegemonieanspruch der Academia als kontraproduktiv. Manuel Machado (Fogelquist 1967: 41) nannte die Institution ironisch "compañía arrendataria de la lengua", und der casticista Unamuno (1903: 21) forderte dazu auf, den Vormundschaftsallüren der Institution am besten keine Beachtung zu schenken:

107 (...) dejemos a la Real Academia que fije la lengua castellana, haciéndola hipoteca inmueble, y por nuestra parte, nosotros los vivos heterodoxos, los que por favor de la naturaleza no somos instituciones ni tiramos a serlo, ya que tenemos que servimos de esa lengua, procuremos ... movilizarla, aunque para conseguirlo tengamos que ensuciarla algo y que quitarla algún esplendor. Diese Haltung fand auch unter Lateinamerikanern größere Verbreitung. Obwohl verschiedene Kritiker beklagten, daß die Academia "provincialismos" von Badajoz, Albacete oder Zamora akzeptiere, sprachliche Muster, die nur von ein paar Tausend Menschen gesprochen würden und sich gegenüber amerikanischen Neologismen mit millionenfacher Verbreitung als unnachgiebig erweise, hielt die Mehrheit eine kritische Auseinandersetzung für nicht der Mühe wert. Für sie wurde die Academia, so Fogelquist (1967: 39), immer mehr zu einer tía abuela europea que nunca habían visto; sabían que era vieja, respetable, y hasta distinguida, pero no les inspiraba ni cariño, ni miedo, ni aversión: sólo indiferencia. Diese Tatsache blieb auch hellsichtigen Spaniern nicht verborgen. So sah etwa Valera (Rama 1982: 115) in sprachlichen Modifikationen durchaus Gefahren für die "geistige Einheit" der panhispanistischen Familie; eine gewisse Nachgiebigkeit in Details, so räumte er ein, sei jedoch erfolgversprechender als starrköpfiges Beharren auf überkommenen Mustern. Eine ähnliche Auffassung (ebd.) vertrat Esteban Echeverría: Das einzige Vermächtnis, das die Amerikaner von Spanien akzeptieren könnten und auch gern akzeptierten, sei die Sprache - "pero lo aceptan a condición de mejora, de transformación, es decir, de emancipación".

4. Der "Kampf um die Geschichte" Mit Ausnahme kurzer liberaler Interregnen erscheint die spanische Historiographie von 1814 bis 1898, was Lateinamerika betrifft, geradezu als Sammelsurium von Mythen und Legenden, eine Tatsache, die wiederum die kulturellen Beziehungen in starkem Maße tangierte. Zu ihren Hauptaspekten zählen: die Verachtung der präkolumbinen Kulturen, die idealistische Verklärung der Conquista und Kolonisierung als "Entdeckung", die Charakterisierung der neuen Ideen seit dem XV111. Jahrhundert als ausländisch überfremdet, die furiose und undifferenzierte Zurückweisung der Leyenda Negra, die weitgehende Unkenntnis der lateinamerikanischen Entwicklung und der Ursachen der Emancipación sowie völlig illusorische Vorstellungen über den Stand der kulturellen Beziehungen. Während einige der aufgezählten Themenaspekte gleichermaßen für andere Bereiche des hier behandelten Themas charakteristisch sind, besitzen zwei für die

108 Geschichtsbeschreibung im engeren Sinne besondere Relevanz: die Verklärung der Eroberung und Kolonialisierung sowie - damit im Zusammenhang stehend - der Konflikt um die Leyenda Negra. Was den zuerst genannten Punkt betrifft, so ist die Interpretation von Menéndez y Pelayo wohl annähernd repräsentativ. Die spanischen "Taten" in Amerika, so seine Argumentation (Pike 1971: 187), hätten in deutlichem Kontrast zu denen anderer Völker (besonders angelsächsischer Couleur) gestanden, die nur am Ausbeuten, Versklaven und Töten weniger entwickelter Menschen interessiert und deren imperiale Abenteuer ausschließlich von egoistischen Ambitionen geleitet gewesen seien. Die dort lebenden Menschen hätten keinerlei Bedeutung gehabt. Interesse bestand lediglich am schnöden Mammon. Dieser "andere", genuin "humane" Charakter des spanischen Kolonialismus (trotz "negativer" Erscheinungen, die auch von den anderen Autoren zumeist eingeräumt werden), werde indessen von Nicht-Spaniern (speziell von Lateinamerikanern) kaum anerkannt bzw. wahrgenommen. Schuld daran sei - davon waren zu Beginn des XX. Jahrhunderts liberale und konservative Historiker gleichermaßen überzeugt - vor allem die Leyenda Negra, die verhindere, daß die Spanier über die Leistungen während der kolonialen Ära Stolz und Genugtuung empfänden. Treibende Kraft der "konzertierten Aktion" liberaler und konservativer Historiker waren nach Pike (ebd.: 189) nicht allein verletzte nationale Gefühle, sondern auch politische Gegenwartsinteressen, für die der Rekurs auf die Leyes de Indias besonderes Gewicht erhielt, boten sie doch eine Formel, "for keeping all Citizens in their proper Station within a hierarchically organized, paternalistic social structure". Beide Strömungen, insbesondere die der Historiker unter ihnen, unternahmen denn auch kontinuierliche Anstrengungen, die "Schwarze Legende" als Legende zu entlarven, so etwa auf den drei Sevillaner Kongressen über Hispanoamerikanische Geschichte und Geographie (1914, 1921, 1930). Die historische Gestalt des Dominikaners Bartolomé de las Casas, der im sechzehnten Jahrhundert die Greultaten der Conquista an den Pranger gestellt hatte, geriet dabei ins Fadenkreuz der panhispanistischen Kritik, war er es doch, argumentierte man, der mit seinen maßlos übertriebenen Darstellungen Wasser auf die Mühlen der spanischen Feinde gelenkt hatte. Dieser common sense in der Beurteilung des Dominikanerpriesters eskalierte etwa bei Menéndez y Pelayo (Pike 1971: 190) zu einer furiosen Abrechnung: Las Casas war violent and asperous in his mental condition; irascible and choleric in his temperament; intractible and rüde in the fanatism of his school; hyperbolic and intemperate in his language, a mixture of scholastic pedantry and brutal injustices (...) In den Verbalinjurien seines Epigonen Menéndez Pidal fand das wütende Gekränktsein des Santandiner Gelehrten später ein fast wortgetreues Echo. Die "Anti-Las Casas-Kampagne" peninsularer Historiker trug dennoch wenig Früchte. Auch der Versuch von Julián Juderías mit seiner bereits zitierten

Leyenda

109 negra y la verdad histórica von 1913, einer Arbeit, die ihm sogleich einen Preis der Madrider Zeitschrift La Ilustración Española y América einbrachte, änderte daran nur wenig. Ein überaus beredtes Beispiel bilden die Ereignisse im Zusammenhang mit dem 6. Congreso Internacional Americanista 1935 in Madrid: Rómulo Carbía, Professor der Universitäten von Buenos Aires und La Plata sowie erster Bürger der Neuen Welt, der seinen Doktortitel im Rahmen des Amerikaprogramms der Universität von Sevilla erworben hatte, war dafür vorgesehen worden, einen Vortrag über Las Casas zu halten. Bereits im Vorfeld des Kongresses war bekannt geworden, daß der argentinische Gelehrte beabsichtige, Las Casas posthum der Falsifizierung historischer Daten zu überführen. Fünf Tage vor dem Vortrag begannen daher zahlreiche lateinamerikanische Delegierte, die historische Vertrauenswürdigkeit von Las Casas bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betonen und insistierten darauf, daß die Leyenda Negra keine Legende sei. Und bei jeder Erwähnung seines Namens hob unter vielen lateinamerikanischen Delegierten stürmischer Applaus an. Dies wiederum brachte einen spanischen Delegierten derart in Rage, daß er aufstand und verärgert ausrief, Las Casas könne als Historiker doch wohl kaum ernstgenommen werden ... Ein Beispiel dafür, so ein Beobachter (Pike 1971: 207f.), wie ein angeblich wissenschaftlicher Kongreß in eine Parlamentssitzung verwandelt worden sei. Der Groll spanischer Intellektueller auf Las Casas u.a. zeitgenössische Kritiker des iberischen Kolonialismus findet seine Erklärung auch in der Tatsache, daß es wie bereits angedeutet wurde - vor allem spanische Autoren waren (und weniger die ausländischen Autoren der klassischen Leyenda Negra), welche die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen inspiriert hatten und in dieser Zeit in den Kolonien ediert worden waren: "La lectura de las Casas (como la de Bernardino de Sahagún y otros misioneros o jesuítas expulsas)", schreibt Rama (1982: 39), "será igualmente decisiva en la América insurrecta. Ahora eran españoles (y sacerdotes) los que daban argumentos contra el absolutismo colonial." Die lobenden Bemerkungen von Simón Bolívar in seiner bekannten Carta de Jamaica von 1815, sowie sein Vorschlag, die Hauptstadt eines großen und unabhängigen Kolumbien nach Las Casas zu benennen, deuteten in die gleiche Richtung. Wenngleich die Leyenda Negra wie auch die idealisierende Darstellung von Las Casas (sowie dessen gleichfalls partiell idealisierende Beschreibung der autochthonen Bevölkerung als "gute Wilde") in einzelnen Punkten durchaus kritikwürdig waren (Todorov 1985: 202f.), konnten die lateinamerikanischen Spanienkritiker doch immerhin argumentieren, daß die Spanier sich überwiegend weigerten, die von ihren eigenen Landsleuten formulierte Kritik überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dazu stellt etwa Joaquín Roy (1980: 44) fest: Wenn es den Spaniern in den Sinn gekommen wäre, solche Werke zu lesen, wäre die Leyenda Negra vermutlich seit

110 langem kein Thema mehr. Nun aber seien die Spanier aufgerufen, sich erneut mit der Vergangenheit zu beschäftigen und aus den Irrtümern und Fehlern zu lernen. Da aus Spanien jedoch wenig Schritte in diese Richtung unternommen wurden, nahm der "Kampf um die Geschichte" auch in Lateinamerika an Hart zu: nicht allein auf der jeweils nationalen Ebene - eine globale Revision der Vergangenheit des Subkontinents zeichnete sich ab. Selbst in Ländern wie Argentinien, in denen der europäische Einfluß sehr stark war, diente die Geschichte zunehmend dem Ziel, die nationale politische Einheit durch eine Historiographie zu stärken, die explizit politisch, zivil sowie patriotisch war und eine harsche Kritik Spaniens implizierte. In Ländern mit starker indigener Tradition wie etwa Mexiko kristallisierte sich gar eine historiographische Dichotomie heraus, die die Vergangenheit in Hispanophile, Konservative, Liberale und Reaktionäre auf der einen Seite und in Revolutionäre auf der anderen unterteilte. Der Rekurs auf die vorkoloniale Vergangenheit, etwa bei den Mexikanern Fray Servando Teresa de Mier und Carlos Maria Bustamente, ging stets einher mit einer negativen Bewertung der Kolonialepoche: eine schroffe antispanische Position, die auf die Stärkung des eigenen indigenistisch geprägten Nationalismus gerichtet war. Wenngleich Konservative und Liberale auch das Bemühen einte, die ausländischen "Zerrbilder" (um die es sich in der Tat - zumindest teilweise - handelte) der spanischen Kolonialgeschichte zu korrigieren, dürfen erhebliche Unterschiede - die besonders nach 1939 zutage traten - gleichwohl nicht nivelliert werden. Sahen etwa die konservativen Geschichtsinterpreten ihren Bezugspunkt in Karl V. und Philipp II., da diese trotz ihrer ökonomisch ruinösen Politik die Ideale nationaler Größe und katholischen Glaubens verkörperten, interpretierten liberale Historiker die Eroberung und Kolonialisierung zumeist als "tragische Manifestation" religiösen Fanatismus' und ruinöser Wirtschaftspolitik. Einzig die Leyes de Indias boten liberalen Historikern Identifikationsmöglichkeiten, waren sie es doch nach ihrer Ansicht gewesen, die den "sozialen Frieden" durch eine hierarchische Organisation garantiert hatten, indem sie der indianischen Bevölkerung den "ihr zustehenden Platz" gewährten.

5. Der Streit um den Modernismus Die Modernisten, schreibt Karsten Garscha (1978: 34), fliehen aus der konkreten Wirklichkeit Lateinamerikas in einen vom französischen Symbolismus gefärbten Kosmopolitismus. Sie erweisen sich als Kosmopoliten den Europäern aber erst ebenbürtig, als sie sich als Amerikaner identifizieren. Diese Identifikation führt zu einer Distanzierung von den Machtansprü-

111 chen des angelsächsischen Nordamerika und setzt seinerseits wiederum voraus, daß sich die Modernisten auf ihre von den iberischen Ländern und von den voreuropäischen indianischen Kulturen geprägten Einstellungen und Wertemuster besinnen. Daraus ergibt sich (...) eine lateinamerikanische Standortbestimmung, die sich ihrer Distanz von der angelsächsischen Sphäre im Norden inne wird und sich daran macht, ihr iberisches Erbe kritisch zu sichten und anzueignen.

Die Modernisten versuchten dabei, sich von der formalen Strenge zu befreien, neigten indessen dazu, so Chivarri (Fogelquist 1967: 46), Mittel und Ziel zu verwechseln. Trotz dieser - historisch zum Teil verständlichen - Übertreibungen beeinflußten sie auch die europäisch-spanische Literatur, was jedoch keineswegs verhinderte, daß die Geschichte des Modernismus im Kontext der lateinamerikanischspanischen Beziehungen, so Fogelquist (ebd.: 33), era esencialmente eso, una contienda, entre novedad y tradición. La tradición era muy poderosa, mucho más poderosa en España que en América; la lucha sería dura.

In Spanien war die lateinamerikanische Literatur noch gegen Ende des Jahrhunderts indessen kaum bekannt, "algo tan incógnito e inexplorado", so Fogelquist (ebd.: 33), "como las selvas del Amazonas." Und das trotz der Tatsache, daß Menéndez y Pelayo seine Historia de la poesía hispanoamericana, die ihm von der Real Academia aus Anlaß des IV. Centenario übertragen worden war, bereits sukzessive veröffentlicht hatte. Im Vorwort von 1910 schrieb der Autor daher zu Recht (ebd.: 34): Esta obra es, de todas las mías, la menos conocida en España, donde el estudio formal de las cosas de América interesa a muy poca gente, a pesar de las vanas apariencias de discursos teatrales y banquetes de fraternidad (...).

Die literarische bildete mithin von der allgemeinen Unkenntnis der lateinamerikanischen Realität keine Ausnahme. Vereinzelte Kritiker wie Menéndez y Pelayo (der dabei, wie angedeutet wurde, durchaus als Vertreter des "imperialismo pacífico" gelten kann) und andere, blieben jedoch zumeist "Rufer in der Wüste". Auch Scherag (1960: 105) stellt der spanischen Rezeption lateinamerikanischer Literatur kein gutes Zeugnis aus. Die repräsentative literarische Kritik auf der Halbinsel habe auch um die Jahrhundertwende vorwiegend unter dem Einfluß konservativer Schriftsteller wie Clarín und Valera gestanden, die eine möglichst enge Bindung der "spanischamerikanischen" Dichtung an die spanische Tradition für notwendig erachtet hätten. Mehr noch: Die spanischen Kritiker seien der Auffassung gewesen, daß sich die Literatur der Exkolonien nur entfalten könne, wenn sie ihre Kraft aus der spanischen Tradition schöpfe. "Die Einstellung eines Dichters zu Spanien, zu seiner Kultur und nicht zuletzt auch zu seiner Politik", so Scherag (ebd.: 28), "wird als entscheidend für den Wert seiner Dichtung angesehen."

112

Den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung der lateinamerikanischen Literatur des XIX. Jahrhunderts - einschließlich der Prosa - unternahm der Augustinerpater Francisco Blanco García. Im Jahre 1892 erschien in Madrid sein zweibändiges Werk La Literatura Española en el siglo XIX\ 1894 erschien als dritter Band dieser Literaturgeschichte La Literatura Hispano-Americana, apuntes para su historia en el siglo XIX: "Wie alle spanischen Schriftsteller", schreibt Scherag (ebd.: 96), "begreift Blanco García Spanischamerika als kulturelle Einheit, in die er zum Verdruß Valeras sogar Kuba einbezieht." Valera machte mit dem ersten Band seiner Cartas Americanas das Jahr 1889 zu einem wichtigen Datum der Literaturkritik in Spanien. Seit 1861 war Valera Mitglied der Real Academia, für deren Arbeit, so Scherag (ebd.: 57), er lebhaftes Interesse zeigte. Valeras Sympathien gehörten dabei solchen Autoren, die in ihren Werken den Geist der spanischen Klassik am reinsten erhalten hatten. Ihnen schenkte er das höchste Lob, wenn er sie mit den Adjektiven "castizo", "correcto", "discreto" etc. auszeichnete:"Reinheit des Stils und der Form bedeuten in diesem Zusammenhang Ausdruck einer reinen, d.h. spanischen Gesinnung." Dennoch zogen auch Literaturkritiker wie Valera den Groll der meisten anderen Zeitgenossen auf sich, denen seine relativ gefällige und unverbindliche Haltung suspekt erschien. Stieß die vergleichsweise moderate Position Valeras in Spanien auf Kritik, so rief sie in Lateinamerika dagegen Ungläubigkeit hervor - derart selten schien man dort an positive Kritik gewöhnt zu sein. Scherag (ebd.: 73) zitiert folgendes Beispiel: Nachdem Rubén Darío ihm ein Rezensionsexemplar von Azul zugesandt hatte, habe sich Valera "begeistert" gezeigt. Diese Reaktion war für viele Lateinamerikaner offensichtlich unfaßbar: Man habe die günstige Kritik Valeras an den Gedichten Rubén Daríos ironisch aufgefaßt und sei überrascht gewesen, als sich herausstellte, daß der spanische Kritiker sie ernst gemeint habe ... Der literarische Paternalismus gründete sich dabei nicht allein auf den allgemeinen kulturellen Hegemonieanspruch der "Madre Patria", sondern auch auf die Ansicht (Scherag 1960: 36), daß eine vom Mutterland ausgehende Initiative auf diesem Gebiet in der Lage sei, das literarische Leben in Übersee (das durch die einzelnen Nationalismen keine kontinentale Perspektive besitze) zu koordinieren und damit die neuen lateinamerikanischen Republiken untereinander in Kontakt zu bringen - ein Kontakt, der das literarische Schaffen insgesamt beflügele. Der Unkenntnis und dem Desinteresse spanischerseits, was die lateinamerikanische Literatur betraf, stand jedoch ein ausgeprägtes Interesse an spanischer Literatur in Lateinamerika gegenüber. Ein falsch verstandenes casticismo-Deriken, welches das literarische Schaffen Lateinamerikas ausschließlich an der spanischen "Elle" maß, ließ auch in den folgenden Jahren wenig Spielraum für eine veränderte Sichtweise. Rubén Darío, so Scherag (ebd.: 123), gelang es 1888 mit seinem Ge-

113 dicht- und Prosaband Azul

erstmals, "die Anfechtbarkeit dieses Gedankens er-

folgreich zu demonstrieren". Eine der wenigen spanischen Stimmen, welche die Unkenntnis der lateinamerikanischen Literatur beklagte, meldete sich 1901 in der Madrider Zeitschrift Nuestro Tiempo (Fogelquist 1967: 37) eloquent zu Wort: Vivir en el pasado, del pasado y para el pasado, es andar en lo oscuro y con la linterna detrás de nosotros ... Hay que vivir con el día. Que la leyenda no sea más que la espuela y acicate, pero no vehículo. A los Estados Unidos no se les ocurrió tirar en Manila con cañones perreros de la guerra de Secesión, ni a Inglaterra se lo ocurre artillar Gibraltar con las piezas venerables de Trafalgar y Waterloo. Auch Unamuno (Rama 1982: 317) - widersprüchlich wie immer - warf seinen Zeitgenossen vor: No podemos vituperarles a los hispanoespañoles (sie), y menos podrían hacerlo los hispanocastellanos. Y hacen muy bien en ir a educarse a Paris, porque de allí sacarán, por poco que saquen, mucho más que de este erial (España), ya que lo que aquí mejor puede dárseles, la materia prima de esa lengua, consigo la llevan y con libros pueden perfeccionarla. Obgleich keine besonders enge intellektuelle und ästhetische Affinität zwischen dem Basken und den lateinamerikanischen Modernisten bestand (eher eine profunde Antipathie), kannte Unamuno ihre Werke und schrieb zutreffende Kommentare über sie. Denn der Salmantiner Gelehrte war ein Verfechter literarischer Erneuerung; nicht ausstehen konnte er dagegen Affektiertheit, Imitation und Maniriertheit: "Paradójico casi siempre en su manera de pensar, escribir y obrar", so Fogelquist (1967: 81), "Unamuno era uno de los más acerbos críticos de los escritores americanos y, a la vez, uno de sus más resueltos defensores." Ein weiteres Beispiel eines vergleichsweise abgewogenen Urteilsvermögens bietet Clarín (ebd.: 64), der davon überzeugt war, daß die Rezeption fremder Kulturelemente nicht notwendigerweise den Verrat der eigenen nach sich ziehe: Los americanos digno de respeto, no desequilibrados, no esclavos de la moda de París o de Londres, estiman a España, la estudian, y procuran ver, debajo de esta capa de reacción, de incultura, que es lo primero que nota aquí el observador extranjero, facultades latentes de la raza (sie), que esperan, para hacerse patentes, un esfuerzo nacional. Estos americanos latinos que, sin perder su originalidad, han sabido estudiar en la América sajona y en la Europa culta la vida moderna, son, en general, superiores a nosotros (sie), por el carácter y por la ilustración. Fogelquist hat daher recht, wenn er über den Autor von La Regenta

schreibt:

La actitud de Clarín distaba mucho de parecerse al inexpugnable conservatismo de algunos de sus compatriotas que también ejercían la crítica literaria. Sabía que era posible aprovechar la aportación de otras culturas sin traicionar la propia.

114 Gleichwohl teilte Clarín die Bedenken Unamunos, was die reale oder vermeintliche Maniriertheit und Imitation französischer Vorbilder betraf, Aspekte, die er in zahlreichen Werken zu erkennen glaubte. In der Französisierung sah er (ebd.: 65) die Todsünde der dortigen und nicht weniger Schriftsteller in Spanien selbst. Die neuen Poeten mit dem "Parfüm von Paris" und dem "Geschmack von Madrid" (Ugarte) stießen im anderen Spanien - grosso modo gesehen - jedoch auf energische Ablehnung. Was in anderen Ländern, schreibt Fogelquist (1967: 47), zunächst eine normale Reaktion gewesen wäre, war in Spanien erheblich mehr: "el anti-modernismo tomaba otro cariz, el del antiamericanismo." Die Anti-Modernismus-Kanonaden der Panhispanisten richteten sich dabei gegen vermeintliche (ebd.: 48), Unkenntnis des Spanischen, mangelnde Kultur, Frankreichfixierung, Vernachlässigung des Stils, Zurückweisung spanischer Traditionen, Frivolität, Oberflächlichkeit, Unwissen und zügellosen Enthusiasmus für all jenes, was aus der Feder von Rubén Dario stammte sowie gegen die absurde Tendenz für Extravaganzen, die ihre Werke charakterisierten. So war Rubén Darío in den Augen Navarro Ledesmas (ebd.: 49), dem Literaturkritiker der Unión Iberoamericana, die Inkarnation des Modernismus und sein Werk ein Beispiel par excellence für Affektiertheit und Oberflächlichkeit. Die Feststellung, dieser oder jener Dichter ähnele Dario, war gleichbedeutend mit schlechter Qualität. Das Sprachrohr des literarisch motivierten Antiamerikanismus war die Zeitschrift Gedeön, die etwa von 1895 bis 1915 erschien, hinter deren Satiren über die modernistische Literatur allenthalben Spott, Ressentiments und Vorurteile zum Vorschein kamen. Unter dem Vorwand, Literaturkritik zu betreiben, nutzte die Zeitschrift jede Gelegenheit, nicht nur die jeweiligen Schriftsteller, sondern auch deren Herkunftsland zu beschimpfen: "De Colombia, tierra feliz, donde es poeta todo el mundo", hieß es beispielsweise (ebd.: 55), "recibimos dos libros." Dennoch, stellt Fogelquist fest (ebd.: 58), war der Einfluß des Modernismus auf die spanische Literatur des XX. Jahrhunderts größer, als die Spanier zuzugeben bereit waren. Die spanische Skepsis gegenüber den Novitäten aus Amerika sei verständlich gewesen: Schließlich sei nicht alles Gold, was glänze, und die nach Europa kommenden Schriftsteller seien jung und unbekannt gewesen. Von daher sei nicht zu erwarten gewesen, daß sie das gleiche Prestige genießen würden, wie jenseits des Atlantiks. Ihr jugendlicher Enthusiasmus und ihr Kult des Neuen habe sie des öfteren zu extravaganten Ausdrucksformen auf Kosten der Tiefe in Denken und Fühlen verleitet. Stolz auf ihre Kenntnis der französischen Kultur, hätten sie sich ungeduldig gegenüber dem spanischen Ambiente gezeigt, wo ihnen alles veraltet und stagniert erschienen sei. Von daher sei, was ihre Erfahrungen mit Spanien betraf, eine Entwicklung und Vertiefung erforderlich gewesen, bevor sie die tiefsten Quellen dieser Kultur schätzen und nutzen konnten. Sie hätten Spanien viel gege-

115 ben, von dort aber auch viel empfangen. Eine gewisse Anerkennung der einstigen "Madre Patria" ist auch in den - kritischen - Worten von Rubén Darío (ebd.: 66) zu lesen: (...) se dice que yo he contaminado a la juventud latino-americana, que ya no puedo soportar más el alimento español. (...) Hemos pecado, es verdad, pero la culpable ¿no es España, nuestra madre, que, una vez roto el primer lazo, se encerró en su Escorial y afectó olvidarnos lo más posible? Buques, hombres e ideas de otros países llegaron a nuestras tierras, y nosotros, también, poco a poco, olvidamos a España; de todas maneras, nuestro idioma siguió siendo siempre el español, más o menos adulterado, vivificado o corrompido, como plazca, pero el español al fin."7 Ein enfant terrible besonderer Art stellte aus spanischer Sicht auch der Modernismus-Vertreter José Martí dar - zunächst weniger wegen seines ästhetischen, vielmehr wegen seines direkten politischen Engagements im Kubanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien. Dieser Umstand mag die "paradoxe" Situation (Fogelquist) erklären, daß Marti als einer der ersten und originellsten Erneuerer der Sprache von allen Modernisten in Spanien als solcher am wenigsten bekannt war, obwohl seine Spanienorientierung besonders deutlich ins Auge sprang. Der kubanische Revolutionär war Sohn spanischer Eltern, hatte in Spanien studiert, besaß gründliche Kenntnisse der spanischen Kultur und Literatur und war von allen Modernisten der am wenigsten "französisierte" und wahrscheinlich der einzige, dessen literarisches Werk frei war von französischen Wendungen. All diese "Vorteile" konnten indessen nicht verhindern, daß er zu einer persona non grata wurde, auf die sich die spanischen Panhispanisten mit Vorliebe einschossen. So schrieb etwa Navarro Ledesma (ebd.: 257) in der Zeitschrift Unión Ibero-Americana im "Schicksalsjahr" 1898: Gott habe solchen "majaderos", wie dem verstorbenen "cabecilla" José Martí, ihre "crímenes" gegen das Vaterland vermutlich schon verziehen, "pero de fijo que Apolo no le ha absuelto de sus desvarios contra la literatura y contra el idioma". Zur Unperson wurde Martí nicht nur wegen seiner ästhetischen "Verirrungen" und seines Kampfes gegen den spanischen Kolonialismus; Salomon (Rama 1982: 231) weist darauf hin, daß sein Patriotismus auch Teil eines authentischen Internationalismus' war, dessen fortschrittlicher sozialer Inhalt gegenüber dem hispanistischen Paternalismus und den Vorstellungen einer "organischen" Gesellschaft einen antagonistischen Gegenpol bildete. Folglich ist es kein Wunder, daß der Kubaner trotz seiner differenzierten Haltung gegenüber Spanien ("No es posible olvidar que si españoles son los que nos condenaron a muerte, españoles fueron los que nos dieron la vida", ebd.: 231) erst 7

An anderer Stelle (1989: 167) schreibt er: "España ha querido permanecer encerrada en una múltiple muralla china, que no ha dejado desarrollar las fuerzas interiores, ni penetrar la vida libre de fuera."

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Jahrzehnte später als bedeutender Schriftsteller auch in Spanien Anerkennung fand. Die zögernde und späte Edition seiner Werke findet schließlich eine weitere Erklärung im Indigenismus des Revolutionärs: "La inteligencia americana es un penacho indígena", schrieb Martí (ebd.: 229), "y hasta que no se haga andar al indio, no comenzará a andar bien la América."

6. Panhispanismus und Indigenismus In dem Maße, wie sich eine wachsende Zahl lateinamerikanischer Schriftsteller und Intellektueller an der präkolumbinen Vergangenheit orientierte, wurde der Indigenismus seitens der Panhispanisten als Bedrohung des hispanischen casticismo empfunden und zur Zielscheibe gereizter Kritik. In den Schilderungen der Conquista bezeichneten die meisten spanischen Autoren des späten XIX. und frühen XX. Jahrhunderts die autochthonen Völker mit ausgesprochen pejorativen Begriffen: "Antipathie und Faulheit", "fehlende Intelligenz", "extreme geistige und physische Trägheit" etc. Selbst aufgeklärte Geister wie Ortega y Gasset (Pike 1971: 314) zeichnen ein wenig erbauendes Panorama. Ihre Kultur sei derjenigen der Kolonisatoren so unterlegen gewesen, daß es schien, als ob sie nicht existiert hätte. José María Pemán (ebd.:314), einer der bedeutendsten hispanoamericanistas während der Diktatur Primo de Riveras, war der Meinung, die Spanier seien in der Neuen Welt auf eine inferiore Rasse gestoßen, aber sie hätten sich selbst der Aufgabe verschrieben, die Gesichter dieser Rasse zu weißen und ihre beschränkten Schädel zu öffnen, um sie mit den erleuchtenden und zivilisierenden Gedanken der gesegneten katholischen Rasse zu füllen. Ironischerweise stimmte auch Maeztu (1927: 341) in die Litanei vermeintlicher rassischer Überlegenheit der spanischen Eroberer ein, obgleich er in seiner Defensa de la Hispanidad den einzigartigen Charakter der spanischen Kolonisierung in dem angeblichen Glauben an rassische Gleichheit zu sehen meinte. Die "Rückschrittlichkeit" Lateinamerikas, so sein Gedankengang, lag in der Existenz der aborígenes begründet: Der Indianer sei der Sohn der Natur. Er glaube, seine Länder könnten weder verändert noch verbessert werden und daß die Natur sich durch die törichte Einwirkung des Menschen nur negativ verändere. So sei er dazu bestimmt, zu dulden und zu widerstehen, nicht aber zu verändern und zu verbessern. Das sei seine Seele. Die rassische Vermischung der indigenen Ureinwohner mit afrikanischen Sklaven zeige, davon war auch Juan Valera (Pike 1971: 42) überzeugt, unter den Bewohnern "Spanisch-Amerikas" besonders negative Folgen. Obgleich der Indigenismus zu Beginn des XX. Jahrhunderts noch nicht zu einem bestimmenden Charakterzug der lateinamerikanischen Literatur geworden war, war

117 der Rekurs auf Moctezuma und andere indigene Heroen dann überaus häufig, schreibt Fogelquist (1967: 68f.), wenn man die Spanier zu "prügeln" gedachte, denn Indigenismus war gleichbedeutend mit antiespañolismo: "No era de extrañar, pues, que los españoles, en general, tendieran a desconfiar de todo lo que olía a indio." Die spanischen Ressentiments gegen alles Indianische schienen hier und da zur Obsession zu eskalieren. Das erklärt auch die Attacken, etwa seitens Navarro Ledesmas, auf Rubén Darío: "Este", so Fogelquist (1967: 72), "caía bajo doble condenación, la de ser indio y la de ser francés, es decir, afrancesado." Nach weitläufiger spanischer Meinung hatten sich die lateinamerikanischen Intellektuellen immer mehr "deseuropäisiert" und "entzivilisiert" und sich dabei dem Indianischen zusehends angenähert. Die Unabhängigkeit habe diesen Degenerationsprozeß noch weiter beschleunigt, und Rubén Darío erschien gewissermaßen als Inkarnation des kulturellen Verfalls: "El indio", so Fogelquist (ebd.: 69), "llegaba a España en la persona de Rubén Darío." Illustrativ sind etwa die maliziösen Äußerungen Unamunos (ebd.), der trotz der europäischen Kleidung des Dichters zu sehen meinte: "A Darío se le ven las plumas del indio debajo del sombrero." Obgleich viele Spanier in Darío den verkleideten Indianer entdeckten, wies sein Werk nur wenige Aspekte auf, die mit "indianismo" im Zusammenhang standen: "... el indio", resümiert Fogelquist (ebd.: 71), figuraba muy poco en su pensamiento, en su estética, en su emoción, en su vida. (...) Conocía mucho mejor la mitología griega, aunque con antiparras francesas, que la mitología prehispánica de América. Los españoles le podían reprochar su afrancesamiento, pero no su indianismo. Für Panhispanisten auf beiden Seiten des Atlantiks nahm die Bedrohung der indigenistischen Hausse eine vergleichbare Dimension an wie die Bedrohung durch die "Französisierung" und den Panamerikanismus. Neben den eingangs zitierten Autoren nahm insbesondere Eugenio d'Ors diese "unheilvolle" Entwicklung aufs Korn. In der Expansion des Indigenismus sah er lediglich eine Art Trotzreaktion gegen die einstige "Madre Patria". Die leidenschaftliche "defensa del autoctonismo",

schrieb

d'Ors

1927

(Zuleta

Alvarez

1979:

134),

diene

nicht

den

lateinamerikanischen Interessen, da die präkolumbine Vergangenheit nur wenig oder keinerlei Wert besitze. Diese und andere Ermahnungen führten in Lateinamerika zu einem Sturm der Entrüstung und bestätigten die lateinamerikanischen Intellektuellen in ihrer Überzeugung, es mit einem unerträglichen hispanischen Paternalismus zu tun zu haben. Auch in den dreißiger Jahren, schreibt Pike (1971: 317), erfüllte die wachsende Bewegung die Panhispanisten hier wie dort mit Schrecken:

118 Seen in this light indigenismo was incompatible with hispanismo, and the rise of the Indianist movement boded no conceivable good for the aspirations of hispanoamericanistas.

Auch moderate Zwischenstimmen wie die des peruanischen Dichters José Santos Chocano (ebd.: 318) verhallten weitgehend ungehört. In einem Alfons Xlll. gewidmeten Gedichtband hielt er die Bewunderung spanischer Traditionen und die Faszination für die kulturellen Werte indianischer Traditionen durchaus für vereinbar: Sir, I have another muse, which is not the Hispanic muse, although in its blood there is the blood of the Spanish scion. It feels at times Indian and at times Castilian; it is the daughter of a Catholic Queen and of the sun.

Die glühenden hispanoamericanistas, kommentiert Pike (ebd.), insistierten indessen auf der ausschließlichen Hingabe an spanische Traditionen und Werte. Dadurch lagen sie in einem hoffnungslosen Streit mit den Vorstellungen der Neuen Welt, deren Bewohner mehr sein wollten "than carbon copies of Spaniards".

7. Panhispanismus aus lateinamerikanischer Sicht Waren die Fronten zwischen liberalen und konservativen Panhispanismus-Anhängern auf der Halbinsel fließend, so konnten sie in Lateinamerika schroffer kaum sein: auf der einen Seite jene, die der spanischen Herrschaft mit Wehmut und (durchaus aktiver) Nostalgie gedachten, auf der anderen Seite die wachsende Gruppe derer, die Spanien indifferent bis feindlich gegenüberstand. Für letztere war Spanien ein rückschrittliches, dem Fortschritt gar feindlich gesonnenes Land, das Lateinamerika nichts mehr lehren konnte. Bestimmte Ereignisse wie die Exekution des Anarchisten Francisco Ferrer (1909), die an zahlreichen Orten des Subkontinents zu Protesten und Demonstrationen führten, bestätigten viele Lateinamerikaner in der Überzeugung, daß Spanien die Ära der Inquisition noch nicht völlig überwunden habe. Auch die Diktatur Primo de Riveras trug insgesamt zu einer Verschlechterung der spanischen Reputation in Lateinamerika bei, nicht zuletzt wegen der antidiktatorischen und partiell antimonarchistischen Kampagne prominenter spanischer Intellektueller, unter ihnen Blasco Ibáñez und Unamuno: Spanien, so ein weitverbreiteter Eindruck unter lateinamerikanischen Intellektuellen, war in die finsterste Zeit mittelalterlichen Fanatismus' und inquisitorischen Terrors zurückgefallen und dies trotz der Tatsache, daß der offizielle Panhispanismus, wie angedeutet, seine Aktivitäten in diesen Jahren intensivierte. In gleichem Maße richteten die lateinamerikanischen Konservativen - besonders nach 1929, nachdem der Liberalismus seinen letzten Kredit verspielt zu

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haben schien - ihr Augenmerk (Pike 1971: 165) auf Spanien, um dort Modelle zu finden, die geeignet waren, sie zur grandeza früherer Zeiten zurückzuführen. Ein Gutteil dieser ideologischen Auseinandersetzung seitens "restaurativ" gesonnener Lateinamerikaner spielte sich auf dem Terrain der Historiographie ab. So schrieb etwa der Kolumbianer Miguel Antonio Caro (Rama 1982: 106): Nuestra independencia viene de 1810, pero nuestra patria viene de siglos atrás. Nuestra historia desde la conquista hasta nuestros días es la historia de un mismo pueblo y de una misma civilización material, eso fue lo que establecieron los conquistadores, lo que nos legaron nuestros padres, lo que constituye nuestra herencia nacional, que pudo ser conmovida, pero no destruida, por revoluciones políticas que no fueron una transformación social. Daher nimmt es nicht wunder, wenn Caro sich selbst als "español americano" bezeichnete. Das politische Programm dieser konservativen Lateinamerikaner bestand dabei aus der Achse traditioneller hispanischer Institutionen: Monarchie, Kirche und Heer. Zu wessen Nutzen, fragt Romero (1970: 56), berief man sich auf diese Prinzipien? Die Unabhängigkeit, so seine Antwort, zerstörte aus konservativer Sicht jenen Pakt, der die weißen und katholischen Spanier dies- und jenseits des Atlantiks miteinander verbunden hatte, um die sozialen Strukturen, die auf der Unterwerfung der indigenen Bevölkerung basierten, zu perpetuieren. Hispanophilismus und españolismo wurden daher zum Synonym für Traditionalismus, casticismo und konservativ-reaktionäre Positionen, die an die Zeit des Unabhängigkeitskrieges anknüpften. Immerhin hatte ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kreolen die Spanier - auch mit der Waffe - unterstützt. Von diesem Denken konnte man sagen, daß es im Sinne Simone de Beauvoirs "Ewige Werte" und "Absolute Wahrheiten" (in Großbuchstaben!) verkörperte und in sich widersprüchlich, antiintellektualistisch, irrational und extrem pragmatisch war sowie nicht selten Gewalt und individuelles Heldentum beschwor; nicht zu vergessen seinen elitären, monarchistischen, idealistischen und antihistorischen Charakter. Dennoch schien man über die Verklärung der heroischen Vergangenheit gegenwärtige Interessen nicht zu vergessen: "Las trescientas familias peruanas amaban lo antiguo, España, por afición", schreibt Tristán (Rama 1982: 103), "y servían lo nuevo, Perú, por interés." Durch die Optik spanienkritischer Intellektueller Lateinamerikas handelte es sich bei diesen "Verteidigern des mystischen Mittelalters" (Rama) um Leute, die den Unabhängigkeitskrieg erneut beginnen wollten und im Grunde ihrer Seele nichts weiter ersehnten als ein Mittagessen im Hause des spanischen Herzogs von ... "Esta es nuestra pobre América", schrieb Sarmiento (Franco 1954: 144), "y éstos nuestros pobres hombres." Der españolismo dieser Kreise übertraf in seinen Elogen auf die "Madre Patria" nicht selten diejenigen der konservativen Spanier. Menéndez y Pelayo (Rama 1982: 113) konzedierte z.B., die Kolumbianer seien derart castizos.

120 daß sie den casticismo der Spanier noch überträfen. Liberalen Spaniern wie Juan Valera erschien soviel Servilismus hingegen suspekt. Obgleich Amerika Spanien viel verdanke, schrieb er (ebd.) an die Adresse des uruguayischen Dichters Juan Zorrilla, der überschwenglichen Stolz über seine spanische Abstammung empfand, treibe es ihm die Schamröte ins Gesicht, wenn er das rückschrittliche und daniederliegende Spanien mit eigenen Augen sehe. Auch Rubén Darío zeigte sich über die "españolistische" Haltung konservativer Kreise, die sich häufig, so seine Meinung, "päpstlicher als der Papst" gerierten, nicht wenig erstaunt. Der Präsident von Honduras, berichtete er (1987: 196), ordnete per Regierungsdekret an, in der gesamten Republik die Orthographie der Real Academia zu benutzen, zumindest in den offiziellen Dokumenten und Publikationen. Und der Präsident von El Salvador, berichtet Dario weiter, bereiste eines Tages Spanien "con la pompa de un príncipe exótico"; und um der Real Academia seine Reverenz zu erweisen, hätten alle Personen seines Gefolges aus korrespondierenden Mitgliedern bestanden. Dem konservativen Servilismus begegneten die spanienkritischen Kreise der lateinamerikanischen Intelligenz mit einer zunehmend prononcierter vorgetragenen Zurückweisung der einstigen Metropole: "Desespañolicémonos", forderte etwa der Chilene Francisco Bilbao (Rama 1982: 101). Die schroffe Verurteilung bestimmter spanischer Traditionen wie des Stierkampfes war Teil dieses Lösungsprozesses. Hatte beispielsweise Antonio Capmany argumentiert, der Stierkampf sei ein probates Mittel, durch einen Schuß "Wildheit" und "Gewalt" die hispanischen señas de identidad gegenüber "Verweichlichungstendenzen" und "philosophischer Frivolität" als Begleiterscheinung einer schleichenden "Französisierung" zu behaupten, empfand ihn die Mehrheit der lateinamerikanischen Schriftsteller als abstoßendes Spektakel. José Martí (O.C.: 251) schrieb z.B. in den neunziger Jahren: Es hermoso lo de capear ... y gusta siempre el valor; pero lo de herir por herir y habituar ojos y almas de niños que serán hombres y de mujeres que serán madres a este inútil espectáculo sangriento, ni arrogante ni hermoso es. Wenn Spanien die Barbarei verkörpert, argumentierte daher Sarmiento (Fernández Retamar 1979: 143ff.), müßten sich die Lateinamerikaner an der Zivilisation orientieren, die von Nordamerika, England und Frankreich repräsentiert werde. Spanien als Inkarnation von Rückschritt und Barbarei könne für Lateinamerika kein Bezugspunkt mehr sein: "Burgos", zeichnet etwa der Chilene Ricardo Palma (Rama 1982: 147) das Panorama der Halbinsel, vive en el siglo XV. Tristísima impresión me produjo la abundancia de mendigos (sólo superada) por Madrid. No se diría sino que en España la mendicidad se ha llevado a la categoría de industria ilícita y lucrativa. Córdoba hoy escasamente tendrá treinta mil vecinos y es como Granada, una ciudad enferma con la nostalgia de su pasado.

121 Die einzige Stadt, die Palma zu gefallen schien, war Barcelona, pueblo que rinde culto al trabajo y que ama el arte y las letras. En todas las demás que he visitado en la madre patria (...) he hallado algo de cementerio, viven en el siglo XV. Dem etwaigen Einwand, die zitierten Spanienbilder brächten lediglich die Sichtweise einer nichtrepräsentativen Minderheit zum Ausdruck, hält Rama (ebd.: 102) entgegen: "En verdad, se trata de corrientes ideológicas colectivas nacionales, que hicieron escuela y consiguieron formar una mentalidad colectiva."

8. "Praktischer" Panhispanismus Eine konkret-praktische Relevanz erreichte die panhispanistische Bewegung zu keiner Zeit. Während insbesondere die konservativen Hispanidad-Vertreter sowieso fast nur an geistig-kultureller Hegemonie Interesse zeigten, war auch das eher liberale Denkgebäude - kulturelle Beziehungen als Vorbedingung späterer ökonomischer Beziehungen - auf Sand gebaut. Selbst im engeren Bereich der Kulturbeziehungen erwies sich die Realisierung praktischer Schritte als Illusion. So wurden etwa während des Hispano-Amerikanischen Kongresses von 1900 zahlreiche praktische Maßnahmen ins Auge gefaßt: gemeinsame spanisch-lateinamerikanische (sowie portugiesische) Gesetze, Vereinheitlichung von Lehrmethoden, gegenseitige Anerkennung beruflicher Abschlüsse und akademischer Titel, Festlegung von einheitlichen postalischen und telegraphischen Tarifen, permanente Ausstellungen landwirtschaftlicher, industrieller und literarischer Produkte sowie Austausch von Büchern und Periodika. Obwohl alle diese Projekte die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Kongreßteilnehmer fanden, hatten sie natürlich keinerlei bindende Wirkung und wurden von den betreffenden Regierungen auch nie in die Praxis umgesetzt. Die ökonomischen Beziehungen erlebten in den folgenden Jahren sogar eine absolute Baisse. 1913 betrugen die lateinamerikanischen Gesamtimporte aus Spanien nur noch 3,5 Prozent; und Spanien importierte von dort ganze zwei Prozent. Selbst dieser niedrige Prozentsatz verschleiert noch einen Teil der Realität: Da Spanien gezwungen war, den größten Teil seiner Ladungen auf ausländischen Schiffen zu transportieren, war es an der Tagesordnung, daß diese Gesellschaften die spanischen Produkte mit lateinamerikanischen, französischen, englischen, italienischen oder deutschen Etiketten versahen und sie als solche auf den Markt brachten. Deshalb, so Pike (1971: 218f.), "Spanish Americans remained totally unaware of the high quality of Spanish products and tended automatically to order goods from other countries." Das brachte vor allem die katalanischen Geschäftsleute in Har-

122 nisch, die die Schuld der Madrider Zenralregierung anlasteten. Aus naheliegenden Gründen waren es auch vor allem Katalanen, die an der Uberwindung der ökonomischen Malaise Interesse zeigten. Ein katalanischer Journalist (Pike 1971: 209) erklärte: Die Zeit sei reif für Taten. Nach so vielen Worten solle man nun Financiers, Industriellen und Kaufleuten die Initiative überlassen. Taten, nicht Worte seien gefragt, um das Ideal des hispanoamericanismo zu realisieren, damit die "spanische Rasse" einen entscheidenden Einfluß auf die Geschichte der Welt erhalte. Was sollten im übrigen, fragt Pike (ebd.: 210), Katalanen, Basken und sogar Galicier von der Auffassung halten, die kastilische Sprache sei die entscheidende Klammer zwischen Spanien und den Exkolonien, wenn sie bestrebt waren, das Kastilische in ihren eigenen Regionen zurückzudrängen? Die finanzstarken Kreise der Peripherie waren in erster Linie an einer ökonomischen Expansion interessiert, insbesondere deshalb, um die Verluste zu kompensieren, die durch den Wegfall des kubanischen und puertorikanischen Marktes nach 1898 entstanden waren. So gründeten 1909 Barceloneser und dort lebende Geschäftsleute aus Lateinamerika die Sociedad Libre de Estudios Americanistas, die durch gemeinsame Konferenzen, Ausstellungen, Informationszentren etc. den Handel stimulieren sollte und der so distinguierte Panhispanisten angehörten wie Labra, Zuleta und Rahola. Eine conditio sine qua non zur Erreichung ihrer Ziele sahen diese Kreise des "praktischen" Panhispanismus in der Zurückdrängung des traditionellen "lyricism" (Pike), was selbst in einigen konservativen Kreisen als notwendig erachtet wurde. Als etwa die kurzlebige Real Academia Hispano-Americana de Ciencias y Artes nach dem 1. Weltkrieg in Madrid gegründet worden war, nahm die mehrheitlich konservative Mitgliedschaft den Vorschlag an (Pike 1971: 210), während der Sitzungen alle Reden grundsätzlich zu untersagen, da diese mit dem weithin diskreditierten "lyricism" der Vergangenheit assoziiert wurden ... Bereits während des 1. Weltkrieges hatte die Unión Hispano-Americana das Konzept vertreten, Spanien müsse zu einem ökonomischen Bindeglied zwischen Europa und Lateinamerika werden und sich insbesondere seine Neutralität als Verkaufsdrehscheibe zunutze machen. Spätestens 1920, als die spanische Position wieder der von 1914 entsprach, waren diese Hoffnungen indes zunichte gemacht. Dennoch erlebte der "lyrische" Panhispanismus, der praktischen Schritten so offensichtlich im Wege stand, auch auf diesem Terrain besondere Ausprägungen. Ermutigt durch die (eher in der Phantasie als in der Realität erzielten) Fortschritte bei der Schaffung ökonomischer Bande zwischen Spanien und Lateinamerika, sagte ein führender Vertreter der Bewegung (Pike 1971: 227) 1926 voraus, daß die Zeit nicht mehr fern sei, bis die hispanischen Nationen, vereint unter dem Einfluß von Madrid, die Vereinigten Staaten durch ökonomischen Druck zwingen könnten, ihre imperialistische Politik aufzugeben.

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Derart optimistische Hoffnungen mochten u.a. aus der Tatsache resultieren, daß der Handel mit Büchern während des 1. Weltkrieges einen beachtlichen Aufschwung erlebt hatte, den die Madrider Regierung 1922 durch die Gründung der Cámara Oficial del Libro in Barcelona zu konsolidieren und auszubauen trachtete. Ein Blick hinter die Statistiken macht indessen deutlich, daß die damit verbundenen politisch-kulturellen Ambitionen (neben den ökonomischen) für Spanien nicht sonderlich befriedigend waren, da es sich fast ausschließlich um literarische Werke handelte, während andere Länder wissenschaftliche Literatur und Lehrbücher nach Lateinamerika exportierten. Die spanischen Bücher, beklagte sich daher ein zeitgenössischer spanischer Beobachter (Pike 1971: 194), unterhielten die Spanisch-Amerikaner, aber lehrten sie nichts. Besonders schädlich für die panhispanistische Idee, so sein Lamento, sei dabei die Tatsache, daß die meisten von Lateinamerika importierten Geschichtsbücher von Nordamerikanern, Engländern, Franzosen und Deutschen geschrieben worden seien, Nationen "mit notorisch antispanischen Vorurteilen", und wo doch gerade (Geschichts-) Lehrbücher am besten geeignet seien, geistig-kulturelle Traditionen zu pflegen und zu stärken; deshalb lebe im übrigen auch die "Schwarze Legende" dort weiter fort. Den letzten Versuch, die beiderseitigen Handelsbeziehungen zu forcieren, unternahm 1935 eine Gruppe von Industriellen und Geschäftsleuten, die in Madrid den Bloque Ibero-Americano ins Leben rief, dem allerdings ebensowenig Erfolg beschieden war wie der spanischen Regierung: "The hard reality", so Pike (ebd.: 305), "forced most Spaniards during the period of the second republic to abandon hope in practical hispanismo based on commercial-economic ties." Die Worte des spanischen Journalisten Lucas Mallada (Pike 1971: 39) aus dem Jahre 1890 hatten somit auch ein halbes Jahrhundert später nichts von ihrer Gültigkeit verloren: Nur in der Phantasie machten die Spanier sich glauben, sie hätten Einfluß in Las Américas, in jener Gegend, in die die wenigen spanischen Exportprodukte mit englischen und französischen Schiffen gebracht werden mußten.

9. Panhispanismus und Panamerikanismus War die Idee des Panhispanismus in erster Linie darauf gerichtet, die kulturelle Hegemonie Spaniens in seinen Exkolonien aufrechtzuerhalten, so zielte sie als historisches Ideologem, wie es neben Maeztu in den dreißiger Jahren vor allem Garcia Morente in seiner Idea de la Hispanidad vertrat, auch stets darauf ab, die spanischen Einflußsphären gegen ideologische Konkurrenten zu verteidigen. Ideologisch-kulturelle "Konterbande" kamen vor allem aus Europa, speziell aus Frankreich, aber auch aus Italien, das Spanien besonders deshalb mit Argwohn be-

124 trachtete, weil es ihm jährlich am 12. Oktober einen Teil seiner "Glorie" streitig machte, indem es die Genoveser Abstammung von Kolumbus betonte. Neben Frankreich und anderen europäischen Konkurrenten, die sich um Einfluß in der Neuen Welt bemühten, avancierte spätestens ab 1898 der Panamerikanismus zum einflußreichsten Gegner spanischer Interessen in Lateinamerika. Trotz spanischer Warnungen, von Konservativen und Liberalen gleichermaßen, assoziierten zahlreiche Lateinamerikaner den "Koloß" mit technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Prosperität, ohne allerdings auf die hispanischen Werte einer organisch-hierarchisch strukturierten Gesellschaft zu verzichten: "Thus Spanish Americans", resümiert Pike (1971: 7), "found themselves in an agonizing identity dilemma." Bereits lange vor dem Desastre bildete die Anti-Yankee-Attitüde der panhispanistischen Bewegung, besonders motiviert durch die Teilannexion Mexikos, eine notorische Konstante ihres ideologischen Repertoires. Die USA seien bestrebt, argumentierte man, die kulturelle Hegemonie Spaniens, die auf Religion, Sprache und Bräuchen beruhe, durch die Stärkung der indigenistischen Bewegung zu unterminieren. Im konservativ-spanischen Denken, so Pike (ebd.: 183), wurde Katholizismus dabei zum Synonym für "Anti-Yankeeismus". War die Anti-USA-Haltung der Liberalen auch weniger durch das katholische Credo motiviert, so war sie doch kaum weniger prononciert. Während des 1. Weltkrieges begann jedoch ein Meinungswandel unter den Liberalen Konturen anzunehmen. Nach Pike (ebd.: 157f.) waren dafür verschiedene Faktoren verantwortlich. Erstens die wachsende ökonomische Potenz der USA im Vergleich zu Europa. Zweitens hatte die lange vorausgesagte soziale Revolution in den USA nicht stattgefunden. Im Gegenteil - verschiedene Reformen schienen die soziale Ordnung weiter gefestigt zu haben. Drittens standen zahlreiche Liberale in der afrancesadoTradition des 18. Jahrhunderts, sympathisierten daher mit der französischen Kriegsposition und begrüßten die militärische Intervention der Vereinigten Staaten, durch welche die "lateinischen" Elemente Europas gegenüber den "teutonischen" gestärkt würden. Schließlich schienen zumindest einige spanische Liberale die Ansicht zu vertreten, daß ohne nordamerikanische Unterstützung, was Kapital und Technologie betraf, die lateinamerikanischen Republiken außerstande seien, sich in moderne, fortschrittliche Länder zu verwandeln. Durch ökonomische Kooperation mit den USA, so hoffte man, sei eine kulturell-geistige Expansion spanischerseits ebenso realisierbar wie die Aufrechterhaltung authentisch spanischer Traditionen oder, wie Altamira die Chancen einer solchen "Arbeitsteilung" einschätzte: Spanien könne mittels dieser Strategie sein "kulturelles Monopol" beibehalten. Aufgrund ihres "timing" (Pike) erwies sich diese Strategie jedoch als ausgesprochen kontraproduktiv. Ein wachsender Nationalismus in zahlreichen Ländern Lateinameri-

125 kas führte dazu, daß man dort die nordamerikanische Interventionspolitik in zunehmendem Maße als Affront gegen die nationale Würde betrachtete. In den dreißiger Jahren hatte sich diese Panorama wiederum zugunsten des Panamerikanismus verändert. Die Reformpolitik von Roosevelt verschaffte den USA ein neues Image unter den lateinamerikanischen Politikern. Die sozialen Reformen schienen die Revolutionsgefahren zu mindern. Doch auch davon profitierten die liberalen Panhispanisten nicht wirklich. Der ephemere Charakter des "neuen Image" und die tiefverwurzelten Aversionen gegen die USA, die unter lateinamerikanischen Intellektuellen weiterhin virulent blieben, verwiesen die Idee einer ökonomisch-kulturellen "Arbeitsteilung" schlicht ins Reich der Phantasie.

10. Die "spontanen Botschafter" des Panhispanismus: spanische Auswanderer in Lateinamerika Im Unterschied zu Pike zieht Rama eine ausgesprochen positive Bilanz des Einflusses der spanischen Auswanderer in Lateinamerika. Waren die Wirkungen der in Übersee akkreditierten Diplomaten und die via Außenministerium betriebene Kulturpolitik insgesamt bescheiden, bewertet er das Engagement der "spontanen Botschafter" und deren "acción particular" im Sinne des Panhispanismus als durchaus positiv. Die spanische Geschichtsschreibung, kritisiert Rama (1982: 273), habe diesen "Konquistadoren" des XIX. Jahrhunderts jedoch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie es gewesen seien, die die iberoamerikanische Kultur konsolidiert hätten - "mucho más que todos los conquistadores juntos (...)" Von den insgesamt etwa 20 Millionen Auswanderern, die sich zwischen 1821 und 1932 in lateinamerikanischen Ländern niederließen, waren circa fünf Millionen Spanier (ebd.: 275), die damit hinter England, Italien, Österreich-Ungarn und Deutschland den fünften Platz einnahmen. Gemäß der Feststellung von Larra (1982:165f.): (...) por poco liberal que uno sea, o está uno en la emigración, o de vuelta de ella, o disponiéndose para otra; el liberal es el símbolo del movimiento perpetuo, es el mar con su eterno flujo y reflujo. - stellten die liberal gesonnenen Auswanderer ein stattliches Kontingent, das besonders nach der Entkolonisierungsphase Mitte des Jahrhunderts eine überwiegend freundliche A u f n a h m e fand. Dennoch war der Mangel an qualifizierten Fachleuten in Übersee groß. Im letzten Viertel des Jahrhunderts waren es vor allem Sozialisten und Anarchisten, die wegen der politischen Verhältnisse auf der Halbinsel nach

126 Lateinamerika auswanderten und ihre revolutionären Ideen in den dortigen Ländern propagierten. Um 1900 bestand der größte Teil der spanischen Auswanderer indessen aus Analphabeten; gleichzeitig neigten viele dazu, das Prestige des "Mutterlandes" nachhaltig zu verteidigen, nicht zuletzt deshalb, weil sie aufgrund der geographischen Distanz ein stark idealisiertes Bild ihres Herkunftslandes kultivierten. Den emigrierten, zumeist "heterodoxen" Lehrern, die in den jungen lateinamerikanischen Gesellschaften nicht nur Arbeit fanden, sondern in zahlreichen Fällen auch eine äußerst interessante pädagogische Arbeit leisteten, mißt Rama (1982: 293) besonders große Bedeutung bei. Je nach dem, in welche Richtung das politische Pendel auf der Halbinsel im XIX. Jahrhundert ausschlug, kam es auch zu Auswanderungswellen spanischer Kleriker, die "verständlicherweise", so Rama (ebd.: 297), für eine extrem ultramontane Kirche fochten, den Großgrundbesitzer-Oligarchien wohlgesonnen und stark hispanophil orientiert waren, d.h. am traditionellen und offiziellen

Spanien. In spanienkritischen Kreisen Lateinamerikas schürte das Enga-

gement dieser Missionare in der Tradition ihrer Ahnen des XVI. und XVII. Jahrhunderts natürlich lebhafte Ressentiments. Der Peruaner Manuel González Prada schrieb (ebd.: 298) etwa: Los sacerdotes ingleses, alemanes y franceses, por muy burdos e ignorantes que sean, guardan un resto de elevación, no dejan de mostrarse hombres; los padres españoles, por muy cultos y civilizados que deseen manifestarse, descubren un sedimento sospecho, no dejan de parecer frailes. (...) En todo fraile español subsiste un rezago de ferocidad y grosería. Como para revelar: Por aquí pasaron Torquemada y Sancho. (...) Testifica la supervivencia de la España medieval y constituye el amalgama de gitano, inquisidor y torero. Dieses (Zerr-) Bild des spanischen Klerikers spiegelt offensichtlich die Meinung eines beträchtlichen Teils der lateinamerikanischen Intellektuellen wider, für die diese "zweite Missionierung" traumatische Erinnerungen wachzurufen schien. Lateinamerika als prioritäres Operationsterrain des spanischen Katholizismus kam auch durch die relativ hohe Zahl von Klerikern zum Ausdruck, die in mehr oder weniger "spontaner" Mission in Lateinamerika wirkten: Um 1920 betrug ihre Zahl (Pike 1971: 175) 4258 von insgesamt 6758, die auswärtig "stationiert" waren. Die wachsende Bedeutung, die man offiziellerseits diesem religiösen Engagement einzelner "Botschafter" beimaß, illustriert ein eher singulares, gleichwohl exponiertes Ereignis in den Jahren 1923/24, das zugleich den konservativ-liberalen Grundkonsens innerhalb der panhispanistischen Bewegung illustriert. Als der spanische Kardinal Ben-lloch in besagtem Zeitraum der Neuen Welt einen Besuch abstattete, applaudierten nach seiner Rückkehr selbst antiklerikale Kreise der vermeintlichen Leistung des Kardinals, nämlich "die spanischen Seelen in Amerika zurückerobert" zu haben. Und Cultura Hispano-Americana,

offizielles Organ des

127 1910 durch Anregung von Canalejas gegründeten Centro de Cultura Hispano-Americana, eine der "Hauptagenturen" (Pike) des liberalen, antiklerikalen hispanismo, schwärmte gar (Pike 1971: 178), Benlloch sei einer der größten Apostel, die jemals nach Spanischamerika geschickt worden seien - ganz nach der Devise des katholischen Emissionärs: Was man im XVI. Jahrhundert begonnen habe, müsse man heute beenden. Wie bereits angedeutet, bilanziert Pike den panhispanistischen Einfluß dieser "spontanen Diplomaten" der ehemaligen Metropole insgesamt eher negativ. Trotz rhetorischer Erklärungen offiziellerseits (wie etwa die des Grafen Romanones, der 1915 das Engagement der Auswanderer mit dem der einstigen Eroberer verglich Pike 1971: 245 - , die dazu beigetragen hätten, daß man in Spanischamerika eines Tages wieder mit Stolz sagen könne: "Somos españoles.") hätten die spanischen Auswanderer nur selten als wirksame Agenten des hispanismo gewirkt. Einen der Gründe sieht Pike in der Verachtung, die man ihnen de facto entgegengebracht habe. Auch die internen Streitigkeiten in den spanischen Emigrantenkolonien (von denen um 1900 die größte in Argentinien bestand) sowie die Aversionen der politischen Flüchtlinge gegen die in Spanien herrschenden Verhältnisse trugen mehr dazu bei, die spanische Reputation in Lateinamerika zu lädieren, als die antispanischen Attacken von Italienern und Franzosen. Nur in einem Punkt schienen die Auswanderer für Spanien von positiver Bedeutung zu sein: Sie bildeten Absatzmärkte für spanische Produkte und trugen mit ihren Geldtransfers dazu bei, die heimische Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. Im kulturellen Bereich sieht Pike (ebd.: 244) dagegen nur einen Pluspunkt für das Heimatland: Die Präsenz von ca. 67000 Spaniern (um 1900) auf Kuba trug nicht unerheblich zu den "anti-yankeesentiments" (Pike) bei, die - mutatis mutandis - bis in die Gegenwart fortbestünden.

11. Lateinamerika und die spanische Linke Die zahlreichen Berührungspunkte zwischen konservativen und liberalen Panhispanisten, die Pike bis 1936 ermittelt hat, lassen sich - wenn auch zum Teil mit erheblichen Modifikationen - auf die spanische Linke (Sozialisten und Anarchisten) ausweiten 8 . Eine Analyse der anarchistischen und sozialistischen Presse während des KubaKrieges durch Norena (1974) ist dabei - im doppelten Sinn - aufschlußreich. Die 8

Dieser Eindruck ergibt sich zumindest dann, wenn man die wenigen Untersuchungen zugrunde legt, die - am Beispiel der Reaktion auf dem Desastre von 1898 - zum Thema erschienen sind.

128 Autorin stellt fest, daß sich deren Position nahezu vollständig im Einklang mit den antiimperialistischen Doktrinen der Internationale befunden hätte, deren Grundprinzipien - Pazifismus, universelle Solidarität, Antikolonialismus und Kampf gegen die herrschende Bourgeoisie - auf den Konflikt angewendet worden seien. Danach hätte es sich um den Zusammenstoß zweier Mächte (Spanien und die USA) gehandelt, die beide bestrebt gewesen seien, ihre ökonomischen Expansionsgebiete zu monopolisieren und zu sichern. Während die sonstige Presse die nordamerikanische Intervention als unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten der spanischen Nation bewertet habe, habe die Linkspresse den "Coloso del Norte" beschuldigt, an sich zutreffende Argumente - die koloniale Ausbeutung der Insel durch Spanien - nur als Rechtfertigung ihrer eigenen "gierigen Gelüste" und ihrer "kapitalistischen Unzucht" zu benutzen. Beide imperialistischen Mächte, resümiert die Autorin (ebd.: 599) den sozialistisch-anarchistischen Standpunkt (der auch von den Föderalisten um Pi y Margall geteilt wurde), hätten daher bekämpft werden müssen, nicht zuletzt deshalb, weil die spanische Arbeiterklasse die Hauptlast des Krieges zu tragen gehabt habe. Diese Interpretation des Konfliktes wird von der Autorin prinzipiell geteilt. Sie zitiert (ebd.: 596) zwar auch weitere Faktoren wie die "nationale Ehre", deren Verteidigung von der Mehrheit der spanischen Bevölkerung unterstützt worden sei, setzt sich damit allerdings ebensowenig auseinander wie mit dem impliziten Panhispanismus, der in zahlreichen Zitaten zum Ausdruck kommt: "Si los gobernantes españoles hubieran visto en Cuba no un simple mercado para un puñado de capitalistas y una hermosa mina para sus paniaguados y amigos", heißt es etwa in einem Artikel von El Socialista (ebd.: 589) aus dem "Schicksalsjahr" 1898, sino un pedazo de España (sie) digno de toda clase de atenciones y cuidados, no se hubiese manifestado en ella descontento alguno con la Península, ni producídose los choques que con ésta ha tenido. Ähnliche Indizien finden sich in Zitaten der Anarchisten: "La cultura no se propaga con armas ni con sectarios", schrieb die Zeitschrift Revista Blanca

(ebd.) im

selben Jahr, "sino con libros y profesores." Wesentlich kritischer bilanziert Serrano die Haltung der spanischen Linken zum Kuba-Krieg. Einen ersten Charakterzug (in diesem Falle nur) des PSOE sieht er (1979: 306) in dessen Willen, die bestehende Legalität nicht zu verlassen, um den Vorwurf von "Abenteurertum" sowie der staatlichen Repression zu entgehen. Der zweite Aspekt (ebd.: 307) bestehe im "indudable y profundo desconocimiento de la realidad cubana" sowie der verschiedenen Ursachen, die den kubanischen Unabhängigkeitskampf motiviert hätten. Der Autor (ebd.) konstatiert, daß der PSOE den "nationalen Charakter" des kubanischen Kampfes völlig unterschätzt und statt dessen einem "abstracto, un tanto mecánico y reductor internacionalismo" gehuldigt

129 habe, der in der Nation nur eine "bourgeoise Kategorie" sehe. Die Tatsache, daß sich die Kubaner "auf der Suche nach Nationalität" befunden hätten, sei von der Partei indessen niemals als legitim anerkannt worden. Bis zum Ende hätten die Sozialisten die Auffassung vertreten, die Rebellion sei von Übel und ohne Zweifel nur der Unfähigkeit und Korruption der spanischen Bourgeoisie zuzuschreiben gewesen. Serrano geht in seiner kritischen Analyse sogar noch einen Schritt weiter: In der Haltung des PSOE manifestiere sich "cierta nostalgia del imperio", wie sie etwa von Jaime Vera explizit formuliert worden sei, sowie die enttäuschte Hoffnung, die überseeischen Besitzungen hätten der spanischen Modernisierung nützlich sein können: "Y de hecho", kommentiert Serrano (ebd.: 308) diese Position, "atacan menos los socialistas españoles al principio colonial que su aplicación, particularmente arcaica en el caso presente (...)". Dennoch, so der Autor abschließend, dürfe man nicht übersehen, daß die Sozialisten zu den wenigen gehört hätten, die überhaupt zum Krieg in Opposition standen.

VII. Die Hispanidad vom Bürgerkrieg bis zum Beginn der transición 1. Von der Idee zur materiellen Gewalt: Hispanidad

und Bürgerkrieg

In ihrer Untersuchung über La hispanidad como instrumento de combate. Raza e imperio en la prensa franquista durante la guerra civil española kommen González Calleja und Limón Nevado (1988) zu dem Ergebnis, daß das ideologische Arsenal der frankistischen Hispanidad-Strömungen trotz gegenteiliger Indizien in erster Linie dem "consumo interior" (ebd.: 9) gedient habe. In der frankistischen Presse und Propaganda, die in Lateinamerika ediert wurden, haben die Autoren keine Hinweise gefunden, die sich als "doble mensaje" an die Adresse der dortigen Emigranten und Einheimischen interpretieren ließen. Die Hispanidad als vereinigendes ideologisches Element, das bereits lange vor 1936, wie angedeutet wurde, Liberalen und Konservativen auch auf anderen politischen Feldern als "Brücke" diente, erwies nun auch im frankistischen Lager - mutatis mutandis - ihre Relevanz. Seitens der nationalistischen Regierung und politischer Formationen wie FET und JONS war man bemüht, dem 12. Oktober und allen damit zusammenhängenden Interpretationen, Überzeugungen und Werten eine "atribución exclusiva y monopolizadora" (ebd.: 82) zu geben. In der frankistischen Cruzada-Propaganda stilisierte man sich selbst zum natürlichen Herold der traditionellen Hispanidad-Werte (Katholizismus, Imperium, Einheit und Rasse) und kommentierte den Anspruch der "rojos", die echten spanischen Werte zu vertreten, allenthalben mit Spott: "Es posible que la Fiesta de la Raza", so ein falangistisches Blatt (ebd.: 82), "haya tenido lugar a los sonidos de la Internacional". Die propagandistische Offensive nach außen wurde erst Anfang 1938 unter dem Auspizium des neugegründeten Außenministeriums (MAE), das an die Stelle der bestehenden Secretaría de Relaciones Exteriores trat, organisatorisch konzentriert. Wenig später wurde die Junta de Relaciones Culturales (JRC) ins Leben gerufen, die unter der Leitung des Präsidenten des Instituto de España dem Minister direkt unterstellt war. Das Ministerio de Educación Nacional wurde demgegenüber damit beauftragt, so Gómez-Escalonilla (1988: 41f.), "articular en torno al binomio Patria

131 - Religión un modelo cultural que asegurase la reproducción y legitimación ideológica del bando sublevado." Dem Innenministerium unter Serrano Suñer oblag schließlich die Koordination der verschiedenen Propagandaapparate. Der JRC war dabei insbesondere vorbehalten, das internationale Prestige der Regierung von Burgos zu fördern, die "calumnias" der "elementos rojos" zu konterkarieren und eine "política de captación de adhesiones" im Ausland zu entwickeln. Neben ausländischen Hispanisten gehörten die lateinamerikanischen Eliten zu den präferentiellen Adressaten der frankistischen Propaganda, die u.a. durch umfangreiche Büchersendungen und die Publikation von Bibliographien erfolgte, die den literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Output dokumentieren und das spanische (sprich: "nationalistische") Prestige in Lateinamerika erhöhen sollten. Die "aspiración última" dieser Propagandaoffensive bestand darin, so Gómez-Escalonilla (1988:43), "convertir al país en 'el receptáculo central de las actividades de espíritu de 22 Estados distintos (...) transformando la capital de España (...) en sede de la intelectualidad de habla hispánica en el mundo (...)"'. Dennoch bestätigt auch Gómez-Escalonilla (ebd.: 57f.) die zitierte Auffassung von Calleja/Nevado, daß der "mito de la Hispanidad" in erster Linie nach innen orientiert war, "estableciendo un puente histórico y doctrinal entre el régimen emergente y la España gloriosa de la gesta colonizadora e imperial. La propia entidad de este mensaje posibilitó su irradiación a los países iberoamericanos." Die Saat der konservativ-reaktionären Wortführer des Vorbürgerkriegs-Panhispanismus war aufgegangen. Auf der Tagesordnung stand vor allem eine Reinterpretation der Geschichte, die der als glorreich empfundenen Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts primäre Aufmerksamkeit schenkte: "Una interpretación", so Calleja/Nevado (ebd.: 31), "donde el proceso histórico, linealmente expuesto con el catolicismo como eje, se explica en su totalidad por el carácter providencialmente católico del destino de España." Das forcierte roll back der Geschichtsschreibung als gleichsam neuer Aufguß der alten Kreuz-und-Schwert-Ideologie stellt auch Diffie (1943: 459) heraus: The ambition of the Falangists is in no sense a limited one; nor is there less boldness in the intellectual concept with which they intend to accomplish it. They aim at the domination of the world, with both arms and intellect, and they seek to accomplish this with a complete reinterpretation of history1. Der ideologische "Eklektizismus" des Frankismus, insbesondere die Fähigkeit Francos, die verschiedenen politischen Strömungen geschickt zu integrieren, ließ allerdings genügend Spielraum, um den Hispanidad-Begriff unterschiedlich zu ak-

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Díaz (1974: 33) hat die prätentiös anmutende Liste entsprechender Titel und Autoren zusammengestellt, die die "historische Währungsreform" einleiten sollten. D e m CSIC (Consejo Superior de Investigaciones Científicas) weist der Autor (ebd.: 41f.) dabei in den vierziger Jahren eine besondere Bedeutung zu.

132 zentuieren: Während in katholischen Kreisen sein missionarischer Charakter betont wurde, also Hispanidad und Katholizismus nahe deckungsgleich wurden, legten die Karlisten das Hauptgewicht "en su contenido tradicional", und die Falangisten "serán proclives a una retórica más agresiva que exalte el heroísmo de la Conquista" (Calleja/Nevado 1988: 10). In den Katholischen Königen finden die zitierten Strömungen ihren gleichsam natürlichen gemeinsamen Nenner, symbolisieren sie doch religiöse und politische Einheit als Voraussetzung "imperialer Größe": "La referencia a los Reyes Católicos como forjadores de España y de su destino es constante en la prensa" (ebd.: 32). Der Königin bleiben dabei besonders exaltierte Lobreden vorbehalten: Man vergleicht sie mit der Heiligen Jungfrau und denkt über ihre Kanonisierung nach. In Eugenio d'Ors' hymnischem Glosario (ebd.: 34) avanciert die Herrscherin gar zu einer Art spanischer "pachamama": "Isabel, reina y ama de casa. Limpió, ordenó y barrió la tierra de España, y cuando tuvo terminado esta gigantesca misión, se acodó en la ventana para contemplar los horizontes más allá de los mares." Derjenige, der das Meer in der Folge tatsächlich überquerte - Christoph Kolumbus - , erlebte zwar gleichfalls ein propagandistisches comeback, spielte im Vergleich zu seiner providentiellen Gönnerin (vermutlich aufgrund des relativ friedlichen Charakters seiner Unternehmung) allerdings nur eine sekundäre Rolle in der frankistischen Publizistik der Bürgerkriegsjahre. Einen gewissen Auftrieb erhielt lediglich die alte Polemik um seine Herkunft (trotz des italienischen Militärbeistandes bestritten zahlreiche Autoren seine Genueser Abstammung, u.a. Franco, der ihn als "gallego pletórico de españolismo" (ebd.: 76) bezeichnete), sowie die "locura heroica" des Entdeckers, die, wie es ein frankistischer Autor (ebd.: 34) sah, "contagió ... a su reina Isabel". Ansonsten diente das historische Heldengemälde der Entdeckung vor allem dazu, die aktuelle politische Situation als Kontinuum einstiger grandeza zu feiern: "Hoy también estamos embarcados en otra empresa gigantesca, con aquel espíritu que tan de menos hemos echado a través de muchos años y que fue el que libró la grandeza de España." Die angeblichen Ausschreitungen von "hordas marxistas" im andalusischen Kloster La Rábida mußten den Lobsängern der kolumbinischen "empresa" dabei als besonders gravierendes Sakrileg erscheinen: "En esta reinterpretación del pasado de España", schreiben Calleja/Nevado (ebd.: 35) daher zu Recht, "la filosofía de la Historia se convierte en teología mágica de la Historia." Daher verwundert es kaum, wenn auch ein Dauerthema des Panhispanismus aus der Vorbürgerkriegszeit, nämlich die Attacken auf den Indigenismus in all seinen thematischen Variationen, seinen propagandistischen Zenit erlebte. Mit dem Insistieren auf dem angeblich reinen Missionscharakter der "empresa imperial" ging die systematische Herabsetzung der präkolumbinen Kulturen (ebd.: 36) stets Hand

133 in Hand: "¿Qué era América antes de Colón?" Die Antwort ließ keinen Zweifel zu: "Una aglomeración de tribus más o menos salvajes, que andaban dispersas en los bosques, o sacrificaban víctimas humanas ante sus ídolos, y donde los hombres eran apreciables por el oro que valían (sie)." Furibunde Angriffe auf Bartolomé de las Casas und dessen "labor antiespañola" im Stile Menéndez Pelayos oder Menéndez Pidais konnten in diesem Panorama nicht fehlen; ebensowenig die Verurteilung der Leyenda Negra, in der die relativ moderaten Töne eines Juderias inzwischen getilgt waren und ironischerweise die "potencias internacionales" beschuldigt wurden (ebd.: 38), die "rojos" zu unterstützen, um damit der "España clásica" den Todesstoß zu versetzen. Auch andere historische Kontroversen, die im 19. Jahrhundert den Grundkonsens zwischen liberalen und konservativen Panhispanisten partiell in Frage gestellt hatten, wurden nunmehr zugunsten letzterer entschieden. So wird die Inquisition gegenüber allen Angriffen in Schutz genommen und als Garantin der "unidad católica" und damit zugleich der "unidad territorial del Imperio" interpretiert. Ohne das Heilige Offizium, argumentierte man (ebd.: 39), wäre man nicht zur Weltmacht aufgestiegen. Der "logische" Umkehrschluß: Die Inquisition verschwindet, und "España pierde la América y comienza a desgarrar sus propias entrañas con guerras civiles". Dieser Lesart entsprechend werden die Ursachen der spanischen Dekadenz eskamotiert und letztlich den "Verantwortlichen" des Bürgerkrieges in die Schuhe geschoben. Spanien wäre nicht der Dekadenz verfallen, argumentierte etwa Ledesma in seinem Discurso a las Juventudes de España (ebd.: 43f.), sondern "fue derrotada". Folglich verwirft Ledesma die poetische Interpretation, derzufolge Spanien sich geopfert habe, damit neue Nationen das Licht der Welt erblicken konnten und macht vor allem die "política extranjerizante" der Bourbonen und die "hipercrítica afrancesada y liberal" für den Abstieg des Landes haftbar. Daneben trügen die "inoperancia de los partidos" sowie die "incapacidad de reacción del pueblo, adormecido por la impotencia de los intelectuales" eine gehörige Portion Schuld; namentlich die Exponenten einer gewissen "inteligentsia" wie Larra, Giner und die 98er Generation: "(...) el triunfo de la filosofía política decadentista, extranjerizante e introvertida". Im historischen Parforceritt wurden, wie man sieht, zentrale Ideen des konservativen Panhispanismus für die Cruzada der Gegenwart instrumentalisiert: "Los paralelismos trazados entre 1492 y 1936-1939", schreiben Calleja/Nevado (ebd.: 75), "son un leitmotiv constante de la prensa." So war für Fernando Aguirre (ebd.: 75), Bürgermeister von Toledo, der historische Bezug evident: "Los héroes siguen en pie, demostrando al mundo que su templo puede parangonarse con el de las célebres espadas forjadas en Toledo la Imperial." In der These vom spanischen "providencialismo" findet der permanente historische Vergleich seinen allgemeinen Nenner. So wie die Entdeckung Amerikas keinen zufälligen,

134 sondern einen providentiellen Charakter besessen hätte, wäre auch die Cruzada in einem historischen Moment, wo die "pueblos europeos comienzan a volver íhítos de realismo y positivismo" (ebd.: 37), der Vorsehung geschuldet: Spanien ds die Speerspitze Gottes auf Erden, wie Franco unermüdlich wiederholte. In den berühmt-berüchtigten Sevillaner Rundfunkansprachen Queipo de Llanos (ebc: 48) steigerte sich der "providencialismo" zu unübertroffenen rhetorischen Katankten. Am 12. Oktober 1937 hämmerte der Franco-General seinen Zuhörern ein: Sobre su trono de estrellas vio un día Dios levantarse - airadas y rugientes - lis fuerzas del Mal. (...) Y quiso el Señor oponer un dique fuerte y resistente a la inpetuosa e incontenible irrupción. (...) Y miró sobre la faz de la tierra. Y v,o muchos pueblos. (...) Pero ninguno tenía en sí la viril necesaria energía. (..) Salvo una Raza. Für dieses wie für unzählige andere Beispiele aus dem gigantischen Koivolut der frankistischen Propagandatexte gilt daher die Charakterisierung von GomezEscalonilla (1988: 20): "... declaraciones (...) pomposas en su forma como tuecas en su contenido". Die "redención de Europa" im Sinne von Reconquista und Conquista durch ein Spanien "conquistadora y misionera a un tiempo" erforderte, davon zeigte sich vor allem Franco (ebd.: 53) überzeugt, insbesondere ein "resurgimiento racial'. Der "raza"-Begriff, neben "imperio" ein Schlüsselbegriff in der frankistischen Nomenklatur, erlebte im Rahmen der nationalistischen Offensive eine besonders lusgeprägte Hausse: "Hoy, Día de la Raza y fiesta de la Hispanidad", so Franco an 12. Oktober 1937, "podemos ofrecer al mundo y a nuestros hermanos de Amérca, el fruto de un año de trabajo, el resurgir de un pueblo, el ímpetu de una juvenud, el espíritu de una raza, ejemplo glorioso de sacrificio y hondo esplritualismo.' Wie auch aus diesem Zitat hervorgeht, handelte es sich dabei vorwiegend um den alten, primär historisch-kulturell geprägten "raza"-Begriff, wie ihn die panhispanisische Bewegung seit dem frühen 19. Jahrhundert verstanden hatte. Ein "tipo genério", so ein falangistischer Autor (Ortiz y San Pelayo 1936: 38) in betont "lyrischer' Diktion, "que abarca a todos los españoles y los peculiariza de los demás de otros nacionalidades, los llevan todos impreso en la alegría de su caracter, en la vivtza de su mirada, en su genio abierto y comunicativo, en la gallardía de sus movimnntos, en fin, en tantos y tantos cualidades externas (sie), que lo hacen inconfundible de todo los demás pueblos." Wenngleich die Interpretationen obigen Schlages auch weiterhin den mainsream bildeten, meldeten sich im Unterschied zu früher allerdings auch eindeutig aithropologisch-rassistisch argumentierende Autoren (Calleja/Nevado 1988: 53) zu Wort, die eine "reinrassige" iberische Genealogie aus dem Römischen Reich abzüeiten versuchten und dabei auch auf biologische Merkmale rekurrierten. Selbst Panco

135 (ebd.: 53) konnte solchen Versuchungen nicht widerstehen, als er beispielsweise wenn auch wohl in erster Linie als Reverenz an die Adresse seiner deutschen Helfershelfer - unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges den Holocaust der Nazis mit der Vertreibung der spanischen Juden des Jahres 1492 verglich. In die gleiche Richtung zielten die Parolen ("máximo de natalidad y mínimo de mortalidad") der italienorientierten FE-Sektoren, die u.a. vorschlugen (ebd.: 57), sogenannte "Cajas para la Maternidad" einzurichten und die "educación física y moral" der spanischen Jugend zu fördern. Ein erkennbar aggressiverer Duktus ist auch bei den "imperio"-Definitionen zu erkennen: "La Nueva España", so Franco 1937 dem Daily Mail (ebd.: 59) gegenüber, "ansia ser un imperio ancho c o m o el mundo, enteramente espiritual." Wie beim "raza"-Begriff steht zwar das "spirituelle" Moment im Mittelpunkt - insbesondere deshalb, wie Calleja/Nevado (ebd.: 59) schreiben, um die "susceptibilidad de las 'naciones hermanas"' nicht zu verletzen - ; in der Zeitschrift Jerarquía. Revista negra de la Falange2, so der aufschlußreiche Untertitel, figurierte die "idea imperial" indessen noch über dem "patria"-Konzept, und die kulturelle Dimension des "imperio"-Begriffs wird bereits - wie nach 1939 - durch "materielle" Perspektiven ergänzt: "Imperio es, pues, la fuerza centrípeta que hace posible la cohesión de aldeas y ciudades, comarcas, provincias y naciones". Hatte etwa Pemán (ebd.: 59) den Portugiesen noch versichert: "Imperio no significa extensión, ni dominio político (...)", so fällt diese Einschränkung in zahlreichen Texten der Falange in den Bürgerkriegsjahren weg. Rafael Gil Serrano (ebd.: 67) entwickelte gar eine Art politischen Fahrplan - "etapas hispánicas" - zur Erreichung der hochgesteckten Ziele: 1) Afianzamiento del Ideal Hispánico en una minoría; 2) Introducción del Ideal Hispánico en la Juventud; 3) Ampliación de la difusión del Ideal Hispánico a todos los españoles de buena voluntad; 4) Difusión del Ideal Hispánico por toda la Hispanidad Universal, y 5) Implantación del Ideal Hispánico en toda la Humanidad. Wie er diese Strategie mit Hilfe einer "educación hispano-céntrica" zu implementieren gedachte - diese Frage ließ der Autor zwar offen; die Befürchtungen ausländischer Beobachter, dieses ideologische Amalgam mit einigen Versatzstücken aus dem Denkgebäude U n a m u m o s und Ortegas könnte mit Unterstützung der Nazis zumindest partiell Realität werden, waren zu Beginn der vierziger Jahre jedenfalls verständlich. Und dies trotz der wiederholten Beteuerung (ebd.: 62f.), "a la palabra Imperio - fuerte, cultural, racial y conquistadora - " , wie ein Autor von

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Der Redaktion der Zeitschrift gehörten u.a. an: Fermín Yzurdiaga, Angel María Pascual, Luis Rosales, Pedro Laín Entralgo, Dionisio Ridruejo und González Torrente Ballester (Díaz 1974: 28).

136 Jerarquía formulierte, "se opone, con la oposición blanda del que quiere suplantar sin ser notado, la palabra 'imperialismo', con toda cohorte de bajas aspiraciones". Solch niedere Motive traute man insbesondere den USA zu, "prototipo ... de imperialismo sin imperio". Der "gran b l u f f ' des Panamerikanismus bestehe genau darin, "en su gran coartada imperialista". Demgegenüber sei die spanische Mission evident: die Monroe-Doktrin durch "lo hispano para los hispanos" (ebd.: 62) zu ersetzen. Denn im Sinne José Antonios, der Nationalismus als "individualismo de los pueblos" (ebd.: 62) bezeichnet hatte, bestehe die Besonderheit des hispanischen Nationalismus in "el SERVICIO a una universalidad", während die "naciones nacionalistas", in Sonderheit die Sieger von 1898, "viven para sí: vegetan" 3 . Sieht man von der temporären Symbiose der falangistischen Hispanidad- Version mit den ausgesprochen imperialistischen Nazi-Aktivitäten in Lateinamerika ab, so war ideologisch nicht völlig geblendeten Beobachtern allerdings bereits damals klar, daß die "imperio"-Rhetorik tatsächlich nur für den "consumo interno" bestimmt war, wie weiter oben angedeutet wurde, oder als wishful thinking im Stile des "lyriscism" des 19. Jahrhunderts politisch nicht ernstzunehmen war. Dies vor allem deshalb, weil "una política de realidades, basada en el intercambio mercantil", wie sie dem Falange-Programm über den Nuevo Estado vorschwebte, ein quijoleskes Traumbild darstellte. Die Forderung Antonio Tovars von 1941 (ebd.: 71): "(...) es hora de que vayamos haciéndonos duros y cínicos y de que nos guardemos las viejas actitudes católicas de nuestro pueblo para quien merezca encontrarse con ellas", blieb daher ein frommer Wunsch. Bevor sich diese Einsicht in der frankistischen Nomenklatur durchzusetzen begann und der rhetorische Duktus einer eher prosaischen Sprachregelung Platz machte, zog das "neue" Spanien - nunmehr "una, grande y libre" - noch einmal alle Register seines propagandistischen Arsenals. In Francos "Mensaje a América en el Día de la Raza" vom 12. Oktober 1939 (ebd.: 144ff.) wird die Virgen del Pilar "Capitana invencible de nuestra independencia" - zur Inkarnation sämtlicher hispanischer Ruhmestaten, "igual en la semana de Lepanto que en la misma mañana del Descubrimiento de América." Und an die Adresse der "pueblos de América salidos de nuestra misma estirpe" gerichtet, zeigt sich der caudillo überzeugt, daß die "dos siglos de bastarda cultura", die Spanien und Amerika getrennt hätten, nunmehr durch die "unidad del antiguo, vital y armonioso árbol de la ciencia" (sie) überwunden würden. Als fait accompli erkennt Franco immerhin "hoy en día las adhesiones tanto como las hostilidades" an, interpretiert letztere allerdings so, wie vor und nach

3

Die allmähliche ideologische "Abrüstung", die im Verhältnis zu den USA - in realpolitischer Anerkennung des neuen Status quo - in den fünfziger Jahren auf den Seiten der Cuadernos Hispanoamericanos zu beobachten ist, kann als ironischer Kommentar dieser Anti-YankeeVerve gelesen werden.

137 1939 der kreolische Unabhängigkeitskampf zumeist interpretiert wurde: "(...) esas hostilidades repitan nuestra misma pugna y afirman la vida espiritual familiar inseparable de toda una raza." Franco beendet seine Ansprache unter erneuter Berufung auf "nuestra Virgen Capitana", die für die "grandeza de la comunidad hispánica" von entscheidender Bedeutung sei, denn "ella nos podrá servir un día a todos de potencia y honor y a ninguno de vilipendio". Wenngleich in den folgenden Jahren, bis 1945, statt der Virgen del Pilar die Nazis den überseeischen Interessen Spaniens "dienten", gilt das Schlußresümee von Calleja/Nevado (ebd.: 96) über die Rolle der Hispanidad

während des Bürgerkrieges auch für die Zeit danach:

Como lal aspiración política y cultural, la Hispanidad resultó un fracaso en el exterior, mientras que en España aportó un universo de imágenes, símbolos y conceptos tópicos y simplistas, pero de una gran pervivencia en la 'ideología' oficial, la socialización de la misma y la propia mentalidad colectiva. Trotz der langen "Verfallszeit" der ideologischen "Ablagerungen" nach drei Jahren propagandistischen Dauerbombardements richteten die Hispanidad-Strategen nach dem Ende des Bürgerkrieges ihr Augenmerk zunehmend nach Lateinamerika: "Cuando el curso de la guerra reveló la certidumbre del triunfo final del campo insurrecto, alejándose del horizonte las esperanzas de una mediación exterior que lo impidiese", begründet Gómez-Escalonilla (1988: 45f.) die relative Neuorientierung der Hispanidad-Propaganda, "el papel de la IRC comenzó a ponerse en cuestión." Nun ging es primär darum, eine nach außen gerichtete Politik zu entwickeln, "que justificase y dignificase en el exterior la imagen emergente (...)" Dabei erwies sich die "idea de Imperio" nach Ansicht von Armero (1978: 33) für Franco aus folgenden vier Gründen als nützlich: a)

b) c) d)

Aproximaba las pretensiones oficiales exteriores al carácter de los regímenes políticos de Alemania e Italia, a los que en un principio se trataba de imitar sin disimulo alguno. Intentaba mentalizar al país sobre la necesidad de la unión sin fisuras para conseguir esa empresa superior común: el Imperio. Evidenciaba la necesidad de un solo gobernante, un César, un Caudillo, con 'un mando, una disciplina y una obediencia'. Y cumplía como medio de negociación con las naciones del Eje para la entrada de España en la contienda.

Es sollte indes nicht allzu lange dauern, bis sich die hochgesteckten Ziele der falangistischen Hispanidad

auch aus der Sicht ihrer intelligentesten Köpfe in der

Praxis als "poesía política" (Armero) entpuppten - und blamierten.

138

2. Von der Imperio-Rhetorik zum Pragmatismus: die Hispanidad von 1939 bis 1945 Die panhispanistische Offensive des siegreichen Frankismus bestand nach GcmezEscalonilla (1988: 8f.) aus zwei Hauptkomponenten: einer internationalen, dienach 1939 aus verschiedenen Gründen dominierte, und einer nationalen für den "u:o interno". Die lateinamerikanische Dimension der frankistischen Außenpolitil war insgesamt darauf gerichtet, die internationale Position des Regimes zu stärkei. Erstens gegenüber den Achsenmächten, um den spanischen Einfluß in einem zucünftig faschistischen Europa zu erhöhen; später gegenüber den Alliierten, um die Neutralität der Madrider Regierung zu demonstrieren; nach 1945, um die internatnnale Isolierung und die internen ökonomischen Schwierigkeiten (vor allem durci die Beziehungen mit Argentinien) zu mildern; schließlich ganz allgemein, um iurch eine "Vermittlerrolle" zwischen Europa, den USA und Lateinamerika die mangelnde politische Akzeptanz zu kompensieren und allmählich zu beseitigen. Mach innen betrachteten die frankistischen Eliten die hispanistische Ideologie als probates Mittel, um nun nicht mehr den Kampfgeist zu motivieren, sondern das diktitorische Regime als direkten Erben der "España imperial y eterna" zu legitimierei und durch die diffuse Reklamation einer "misión universal" die Angriffe auf da; Regime, insbesondere nach 1945, abzuwehren: "(...) divulgando ... la imagen de cue el país era una 'vedette' de las relaciones internacionales, incomprendido, pero licido, momentáneamente relegado, pero con enorme potencial de futuro." Demensprechend ließen die Vertreter der "Por el Imperio hacia Dios"-These keine Gelegtnheit ungenutzt, ihren kulturhistorischen Mummenschanz auf öffentlicher Bühle in Szene zu setzen. In seinem "Discurso al pueblo de Tarragona" vom 30. Januar 1942 prophezeite der Staatschef höchstpersönlich (Armero 1978: 30), daß "estas ruinas tarraconenses no sean ruinas de Imperio, porque de cara al mar saldrán de nueTo las naves y las banderas de España al Mediterráneo y al Atlántico". Einen Tag ¡päter (ebd.) versprach er seinen Zuhörern in Zaragoza, "levantar a España y condicirla por el camino del Imperio". Bevor die hochgesteckten Ambitionen des Regimes aufgrund der internatioialen Situation einer nüchternen, pragmatischen Politik den Platz räumen mußten, lahm der aggressiv-imperialistische Duktus der Hispanidad-Propaganda unter derr Einfluß der Falange allerdings zunächst noch an Schärfe zu. Wenngleich die Topii der Vergangenheit - "reserva espiritual", "derechos culturales", sowie die "¡mp-.rio"Idee - mit Blick auf Lateinamerika, wie Gómez-Escalonilla (ebd.: 65) scfreibt, "tenía más de añoranza de pasado que de esperanza de futuro", so räumt deselbe

139 Autor dennoch ein: "(...) no eran simplemente un halo retórico superpuesto a las proclamas sobre las relaciones con aquellos territorios". Durch die enge Symbiose mit dem deutschen Faschismus schien die Gefahr in der Tat nicht gering zu sein, daß die reaktionärsten Kreise der Hispanidad-Gcmeinde der Versuchung nicht widerstehen könnten, ihre Ideen in die Tat umzusetzen: "Antes de cumplirse un año, en julio de 1941", schreibt Gondi (1978: 4), "las relaciones culturales entre España y Alemania entraron en un período de gran actividad." Auch Niehus (1989: 61) weist darauf hin, daß die "beeindruckenden Landgewinne der Deutschen (...) auch in Spanien Hoffnungen imperialer Größe wieder aufkeimen ließen." Auf den Ende 1940 gegründeten Consejo de la Hispanidad folgte im August 1941 die Asociación Hispano-Germana, an deren Gründung u.a. die "Bürgerkriegshelden" José Moscardó und Carlos Asensio federführend beteiligt waren. Auf deutscher Seite spielte das Iberoamerikanische Institut in Berlin "pulmón de la propaganda nazi-falangista en Iberoamérica" - die Protagonistenrolle. Dem Direktor des 1929 gegründeten Instituts, dem ehemaligen Chef des Colegio Alemán in Barcelona, Otto Boehlitz, stand ab 1933 der Hitler treu ergebene General Wilhelm von Faupel - "un hombre dinámico que conocía perfectamente las intenciones del Tercer Reich" - zur Seite. Auf Initiative Faupels, einem guten Lateinamerikakenner (er war u.a. Generalinspekteur der peruanischen Armee und Professor an der argentinischen Escuela de Guerra), wurden 1933 in Hamburg und Würzburg Dependancen des Berliner Instituts sowie 1935 die Sociedad GermanoIbero-Americana gegründet; das Instituto Teuto-Brasileiro in Rio de Janeiro, die Institución Cultural Germano-Argentina in Buenos Aires und die Institutos Culturales Chileno-Germanos in Valparaíso und Santiago de Chile waren der Berliner Zentrale direkt zugeordnet. Als Hitlers Botschafter in Salamanca unterbrach von Faupel seine Berliner Aktivitäten und knüpfte enge Kontakte zur dortigen Falange, den "falangistas puros, los 'camisas viejas'" wie Gondi (ebd.: 7) schreibt, "que tenían del falangismo el mismo concepto que los seguidores primeros de Hitler tenían del Nacionalsocialismo." Die Befürchtungen ausländischer, insbesondere nordamerikanischer Beobachter, Nazideutschland könnte mit Hilfe des Trojanischen Pferdes der Hispanidad eine fünfte Kolonne im "Hinterhof' der USA aufbauen, entbehrten daher nicht einer gewissen Plausibilität, denn (ebd.) "las andanzas de von Faupel ... distaban mucho del papel cultural que aparentemente se le había asignado. Era hombre dado a la conspiración (...)" Aufgrund der geographischen Nähe zu den USA erschien Mexiko als besonders günstiges Terrain. Dort, so Allan (1943: 150), habe von Faupel mit dem mexikanischen Falange-Pendant, der Acción Nacional und den Sinarquistas "one of the most dangerous Axis centers in the entire World" aufgebaut und eine Bewegung von "over a half-million followers engaged in espionage, arms smuggling, propaganda,

140 and sorties of violence often reaching the scale of actual warfare" ins Leben gerufen. Wenngleich die tatsächliche Stärke der Bewegung, "one of the grisliest of Appeasement's Frankensteins", wie der Autor formuliert, aus Gründen der Gegenpropaganda möglicherweise weit überschätzt wurde, bestand nordamerikanischerseits doch Anlaß zur Sorge, die auch in einer weiteren Analyse jener Jahre aufscheint. So schreibt D i f f i e ( 1 9 4 3 : 457): Spain has turned her face toward her own late Middle Ages. The present regime seeks to recreate the semi-theocratic state which reached its zenith under Charles V and Philip II, modernizing it with the techniques of Fascism. Since the Spanish Empire was in being at the time the restablishment of that Empire is one of the (...) announced objetives. Die Gefahr, argumentiert Allan (1943: 151f.), sei um so größer, als sich die nazifalangistische Bewegung auf die ökonomisch potenten gachupines stützten könne; im Besitz der von Valle-Inclán als "arraboteros", "empeñistas" und "ricos mal afanados" beschriebenen Spanier hätten sich immerhin "60 per cent of the agricultural acreage, most of the real estate in Mexico City, and many mining interests" befunden. Als gleichermaßen gefährlich stuft der Autor (ebd.: 163) die mexikanische Academia Española de la Lengua ein. Sie sei "the source of all Spanish intellectual briefs for fascism, and has branches in many Latin-American lands. Only the élite are invited to the Academia sessions - the élite which can most effectively influence public opinion." Die politische Liaison exponierter Nazi- und Falangevertreter trat darüber hinaus durch einen "gran congreso espiritual" totalitärer Staaten und Organisationen (Gondi 1978: 8) in Erscheinung, zu dem Goebbels 1941 nach Weimar eingeladen hatte; spanischerseits folgte kein Geringerer als Giménez Caballero der deutschen Einladung. Auch ein großer Teil des falangistischen Propagandamaterials, speziell des Consejo de la Hispanidad, wurde in deutschen Druckereien hergestellt (ebd.: 9). Das Resümee der Falange-Aktivitäten, das der New York 77wie.v-Korrespondent in Buenos Aires (ebd.: 15) 1942 zog, schien daher die Situation adäquat zu beschreiben: La Falange trabajaba encubiertamente. Los fascistas españoles prestan una valiosa ayuda a las fuerzas del Eje en los países iberoamericanos. De acuerdo con las instrucciones de Madrid, los miembros de la Falange en América deben atacar constantemente a la Doctrina Monroe y el panamericanismo. Toda su prensa es descaradamente pronazi, fascista y antisemita. Die falangistischen Visionen, mit Hitlers Unterstützung ein neues spanisches "Commonwealth" zu errichten, erwiesen sich indessen schon bald als Schimäre. Bereits 1942, als absehbar wurde, daß der faschistische "Endsieg" länger dauern würde als geplant oder womöglich in eine Niederlage der Achsenmächte münden könnte, wurde Serrano Suñer durch den pragmatischeren Jordana an der Spitze des

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MAE ersetzt. Der neue Inhaber des Portefeuilles war nach Gómez-Escalonilla (1988: 79) bestrebt, eine neutrale Position sowie mehr Pragmatismus an den Tag zu legen, insbesondere mit Blick auf die Staaten Lateinamerikas. Einem Bericht aus dem Jahre 1942 zufolge (ebd.: 80), sollte die Hispanidad-Politik gewissermaßen wieder zum Status quo ante einer "spirituellen" Bewegung zurückkehren, und zwar a base de la exaltación de nuestras tradiciones, del sentimiento católico, procurando hablar lo menos posible de política y explicando nues-tra guerra como cruzada de defensa de nuestros valores espirituales y de la dignidad humana y como muro contra el que se estrelló el Comunismo salvando de él a Europa y quizás también a la América española. Noch nüchterner fiel der im Herbst desselben Jahres zelebrierte Día de la Hispanidad aus. Eine Direktive des Ministers an die Gobernadores Civiles (ebd.: 81) legte den Hauptakzent erneut auf die kulturelle Dimension der Hispanidad und plädierte im Hinblick auf die politische Situation und einige "neuralgische" Punkte in den bilateralen Beziehungen für strikte Zurückhaltung: "Evitar toda referencia a la guerra actual, evitar la palabra Imperio, evitar todo lo que pueda interpretarse (aún torcidamente) en el sentido de que España desearía ocupar una posición tutelar respecto a los países de nuestro idioma." Das frankistische fait accompli erstreckte sich dabei auch auf den "Koloß aus dem Norden", dem man das "Waterloo" von 1898 zwar noch längst nicht verziehen hatte, dessen tatsächliche Macht (und Einfluß in Lateinamerika) man mittlerweile indessen realistischer einschätzte als ein knappes Jahrhundert zuvor. Der quijoteske Versuch, die "primacía norteamericana en aquel continente" zu verdrängen, habe Spanien, lautete die neue Einsicht (ebd.: 81), unter den lateinamerikanischen Eliten wenig Sympathien eingebracht. Im übrigen, so die Instruktionen an das diplomatische Corps, sei es wenig sinnvoll, "atacar de frente un obstáculo superior a las propias fuerzas". Diese neue Lesart der Hispanidad, die durch den weiteren Kriegsverlauf nachhaltig befördert wurde, machte sich auch der spanische Klerus zu eigen. In einer "Rekatholisierungsoffensive" und den "símbolos más excelsos" der His-panidad - Felipe II, El Escorial, Santiago und die Leyes de Indias - sah die katholische Hierarchie die eigentliche raison d'être ihrer Mission in den Exkolonien. Maeztus "Spiritualismus" und Ortegas "unidad de destino universal" hatten damit über Primo de Riveras "vocación para unir pueblos" definitiv gesiegt.

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3. Vom Consejo de la Hispanidad

zum Instituto de la Cultura

Hispánica: die institutionelle Entwicklung der

Hispanidad

nach dem Ende des Bürgerkrieges Die temporäre Wahlverwandtschaft zwischen der falangistischen Hispanidad-Versión und den strategischen Interessen des deutschen Faschismus trug institutionelle Früchte, die den Zeitraum der eigentlichen Kooperation lange überdauerten. Waren die panhispanistischen Institutionen der Vorbürgerkriegszeit über ihren status nascendi häufig nicht hinausgekommen und haftete ihnen aufgrund der wechselnden politischen Kräfteparallelogramme zudem stets eine gewisse ideologische Uneindeutigkeit an, so schien nach 1939, nachdem die "liberalen" Elemente überwiegend ausgeschaltet waren, nunmehr die Zeit gekommen zu sein, die panhispanistischen Aktivitäten auf eine dauerhafte und ideologisch homogene Basis zu stellen. Der diesbezüglich wichtigste Schritt bestand in der im November 1940 erfolgten Gründung des Consejo de la Hispanidad. Seine Installierung, so Diffie (1943: 457), "fixed one of the important milestones in Hispanic history. Looking backward, the Consejo is observed as the product of a long historical process; looking forward, it is seen as the shadow cast by Coming events." Einen ersten Vorgeschmack dieser "coming events" boten bereits der unmittelbare Gründungsanlaß und die Palette illustrer Persönlichkeiten, die dem offiziellen Akt beiwohnten. Serrano Suñer, von einer seiner häufigen Reisen nach Berlin zurückgekehrt, hatte Franco von der Notwendigkeit überzeugt, eine effektive organisatorische Infrastruktur für die falangistischen Hispanidad-Aktivitäten in Lateinamerika zu schaffen. Nachdem der Diktator dem Wunsch durch ein entsprechendes Gesetz nachgekommen war, das am 2. November 1940 im Boletín Oficial verkündet worden war, wurde der offizielle Gründungsakt in Salamanca vollzogen, "honrado", so Gondi (1978: 4), "con la presencia de Heinrich Himmler y del almirante Wilhelm Franz Canaris - viejo amigo del caudillo una de las piezas maestras, junto con el general Wilhelm von Faupel, de la intervención militar alemana en España." Hinter der üblichen Rhetorik, den "pueblos hispánicos" mit Hilfe der neugeschaffenen Institution eine "representación fiel" in Europa - "cabeza del mundo" - zu verschaffen und auf jedweden "espíritu materialista" zu verzichten, zeichneten sich zwei Hauptfunktionen des Consejo ab: Die Einladung lateinamerikanischer Intellektueller nach Spanien, um diesen durch entsprechende Studien die Möglichkeit zu geben, die "fundamentos y normas de la difusión de la doctrina de la Hispanidad" kennenzulernen und in ihren Heimatländern zu verbreiten; darüber hinaus geeignete Pläne zur Zurückdrängung des nordamerikanischen Einflusses in Lateinamerika zu entwickeln und zu implementieren. Die institutio-

143 nellen und individuellen Mitglieder des Consejo ließen denn auch erwarten, daß er seine Aufgabe erfüllen würde. Formal dem MAE unterstellt, dessen Chef zugleich als Präsident fungierte, gehörten ihm (Gómez-Escalonilla 1988: 235ff.) u.a. an: der Direktor des Archivo de Indias, der Delegado Nacional del Servicio Exterior de FET y de las JONS, der Subsecretario de Prensa y Propaganda, der Secretario General del Ministerio de Marina, die Botschafter in Argentinien, Cuba, Chile, Mexiko und Peru, sowie - als eher sentimentale Komponente - der Prior des Convento de la Rábida und der Cónsul General de España en Filipinas. Unter den Einzelpersönlichkeiten befanden sich u.a. der spätere Außenminister Fernando Castiella, der Entdecker-Nachfahre Cristóbal Colón y Carvajal, der Bürgerkriegsgeneral José Millán Astray sowie die Intellektuellen Antonio Tovar, Pedro Laín Entralgo, Ramón Menéndez Pidal, José María Areilza, José Ortega y Gasset und Dionisio Ridruejo - illustre Namen, deren panhispanistische Verve teilweise bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Und als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Con.se/o-Mitglieder, die vom canciller benannt wurden, ihre Aufgabe als treue Diener der Hispanidad auch erfüllen würden, wurde ihnen der folgende Schwur (ebd.: 249) abverlangt: "Yo (...) juro por Dios y por Santa María, y por los Evangelios que toco con mi mano, que cumpliré con vigilante cuidado la misión que se me encomienda de trabajar por la propagación de la Hispanidad." Daß man diese entgegen der rhetorischen Worthülsen aus der Gründungsdeklamation in erster Linie, und damit in Ubereinstimmung mit dem mainstream der außenpolitischen Intentionen, als strategisches Kampfinstrument betrachtete, macht beispielsweise ein Bericht (ebd.: 73) des canciller des Consejo an seinen Vorgesetzten Serrano Suñer deutlich: "La batalla que hoy se libra en Hispanoamérica (...) es principalmente una batalla de propaganda. España que quiere mantener allí el clima hispánico, debe, hasta donde le sea posible, manejar cuantos resortes sean capaces de mover a la opinión pública." Der Consejo de la Hispanidad als Herzstück des organisierten Panhispanismus wurde im selben Zeitraum durch eine Reihe weitere Institutionen flankiert. So wurde 1940 das Instituto Gonzalo Fernández de Oviedo ins Leben gerufen. Dem Ministerio de Educación Nacional (MEN) formal unterstellt und dem Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC) de facto angegliedert, bestand seine Aufgabe darin, so der erste Direktor des Instituto, Antonio Ballesteros Beretta in der ersten Nummer der hauseigenen Publikation Revista de Indias (ebd.: 93f.), die "eterna verdad de su historia católica, (...) creadora de una espiritualidad perdurable" in "la América española" zu verbreiten. Dem falangistisch geprägten Zeitgeist war dabei die zweideutig-eindeutige Formulierung geschuldet, daß man "todos los aspectos de la extensión de España (Hervorh. v. N.R.) en las tierras descubiertas o colonizadas por nuestra estirpe" beachten wolle.

144 Der "obra magna de la Hispanidad" diente in gleicher Weise die im November 1942 in der Facultad de Filosofía y Letras der Universität von Sevilla eingerichtete Escuela de Estudios Hispanoamericanos, die u.a. damit betraut wurde, im Koster La Rábida Sommerkurse über die Entdeckung und Eroberung Amerikas abzuhilten. Neben feierlichen Zeremonien aus Anlaß "glorreicher" historischer Dater wie dem IX. Cincuentenario der Rückkehr von Kolumbus nach Spanien, bleibt ir diesem Zusammenhang schließlich die im April 1941 per Dekret erfolgte Gründung des Madrider Museo de América zu erwähnen. Die Aufgabe des noch heute teben dem Instituto de Cooperación Iberoamericana angesiedelten Museums be;tand darin (ebd.: 95), "exponer con rigurosa fidelidad científica la historia del descubrimiento, conquista y colonización de América" sowie - und diese Absicht klinjt im Kontext jener Jahre geradezu kühn - "(exponer) las manifestaciones de la civlización de los pueblos indígenas antes y después de la conquista, el arte colonia y la labor de las misiones". Während einige organisatorische Errungenschaften der Hispanidad-Gemtinde aus jenen Jahren wie das Museo de América oder die Sevillaner Escuela de Estudios Hispanoamericanos den politischen Klimawechsel nach dem Ende dts II. Weltkrieges überdauerten, bedeutete die militärische Niederlage der Achsenmichte für das Flaggschiff der falangistisch inspirierten Hispanidad, den Consejo le la Hispanidad, das baldige Aus. Durch eine Ley Orgánica von 1946 wurde das i/IAE autorisiert, den Consejo aufzulösen und statt seiner das Instituto de Cultura Hspánica (ICH) zu gründen. Alle "consignaciones actualmente figuradas en el Pesupuesto del Consejo de la Hispanidad", stipulierte das Gesetz (ebd.: 256) gleichvohl, "pasarán al Instituto de Cultura Hispánica"; desgleichen die "plantilla de per;onal administrativo", die unter Beibehaltung sämtlicher "categorías y derechos actiales" eine gewisse Kontinuität garantierte. Die opportunistische, gleichwohl nicht unrealistische Anpassung an den weltpolitischen Status quo erforderte eine institutionelle Maquillage und zeitgerecitere Sprachregelungen: "La actitud diplomática ofensiva", resümiert Gómez-Escahnilla (ebd.: 77) die Partialzäsur nach 1945, "dejaba de ser una meta para convertirle en una metáfora."

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4. Hispanidad

als außenpolitisches Surrogat:

die Beziehungen zu Lateinamerika vom Ende des II. Weltkrieges bis Anfang der 50er Jahre Das außergewöhnlich starke Interesse des Frankismus an guten Beziehungen zu Lateinamerika war - mehr als jemals zuvor pro domo - der außenpolitischen Isolierung geschuldet, der sich das Regime ab 1945 ausgesetzt sah: "La Hispanidad, como afirmación ideológica y como vehículo de propaganda", resümiert Espadas Burgos (1987: 28) dessen Aporien, "fue uno de los escasos cauces de proyección exterior que le quedarían al régimen durante los años del aislamiento impuesto por la condena internacional." War die Außenpolitik deshalb insgesamt, wie es bei Niehus (1989: 58) heißt, ein "bewachtes Hoheitsgebiet des Staatschefs", so war sie, was Lateinamerika betraf, doch nur ein "notdürftiger Ersatz", eine Art "Substitutionsaußenpolitik", wie dieselbe Autorin (ebd.: 66) schreibt, der man "nur rhetorische Aufmerksamkeit widmete bzw. widmen mußte, wollte man nicht völlig isoliert dastehen (...)" Entsprechend moderat fiel die Botschaft der "Madre Patria a las naciones hermanas" am 12. Oktober 1945 aus. Noch deutlicher als in den drei Jahren, die seit dem Revirement an der Spitze des Außenministeriums vergangen waren, war man nun bemüht, den "friedlichen" Charakter der Hispanidad zu betonen. Die Beziehungen zu den Exkolonien, so die Erklärung (Gómez-Escalonilla 1988: 113), "encubría ninguna ambición imperialista ni contrabando ideológico"; es handelte sich "simplemente" um die alte "comunidad espiritual indestructible, real y efectiva", wie sie bis 1936 en vogue gewesen war. Neben der zumindest partiellen Durchbrechung des diplomatischen - und wie insbesondere das argentinische Beispiel zeigen sollte: auch ökonomischen - cordon sanitaire, diente die frankistische Hispanidad-Offensive in den Jahren der "vampirización de la memoria" (Vázquez Montalbán) wiederum zugleich dem "consumo interior". Der von den Hungerjahren malträtierten Bevölkerung versuchte die frankistische Propagandamaschinerie einzuhämmern, das Land wäre abermals Opfer einer "oscura conspiración de fuerzas extrañas disgregadoras del alma y el sentir nacional" geworden, einer Konspiration, die sich wie weiland aus den trüben Quellen der Leyenda Negra speiste. Um so mehr war das Regime bemüht, den Ring der finsteren Verschwörung zu durchbrechen, was sich, wie José María Areilza in seinem Diario de un ministro de la Monarquía berichtet (Armero 1978: 157), zumindest gelegentlich als verblüffend einfach erwies: "Areilza (...) consiguió el envío de un embajador de Paraguay a Madrid después de haber regalado al presidente de aquella república un valioso libro antiguo sobre la historia de la conquista de su país."

146 Die finanziellen Ressourcen, die das MAE, insbesondere die dort installierte Junta de Relaciones

Culturales

(JRC), für den Start seiner Propagandakampagne in

Lateinamerika benötigte, erlebten eine veritable Hausse. Bereits kurz nach dem deutschen Waffenstillstandsersuchen wurde dem M A E durch ein Gesetz der Jefatura del Estado

für diese Zwecke ein außerordentlicher Kredit von 40 Millionen

Peseten eingeräumt. Die Summe nimmt sich um so beachtlicher aus, wenn man sie mit dem Gesamtetat des Ministeriums vergleicht, der sich auf insgesamt 105 Millionen Peseten (Gómez-Escalonilla 1988: 105) belief. Die offizielle Begründung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: La proyección más importante de una nación en el exterior tiene lugar a través de las misiones e instituciones culturales. (...) El resurgimiento español, en todas las ramas del saber, exige en estos momentos históricos del mundo el facilitarle el cauce para que pueda trascender al exterior en beneficio de nuestras relaciones culturales y prestigio de nuestra Nación. Der neugeschaffene Fond war u.a. dazu bestimmt, lateinamerikanischen, aber auch nordamerikanischen und englischen Studenten Stipendien für Studienaufenthalte in Spanien zu gewähren und den verschiedenen Institutionen, die auf dem Terrain der kulturellen Beziehungen mit Lateinamerika engagiert waren, u.a. der Escuela de Estudios Hispanoamericanos in Sevilla und den Colegios Mayores Hispanoamericanos der Universidad Pontifica in Salamanca, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Dabei schien das politische Panorama in Lateinamerika für die kulturelle Offensive der Madrider Hispanidad-Strategeri zunächst keineswegs günstig zu sein. Ein französisches Memorandum vom Oktober 1946 (ebd.: 125f.) kommt, was die offiziellen Beziehungen der lateinamerikanischen Länder zur Franco-Diktatur betrifft, zu folgenden Ergebnissen: - Mexiko, Guatemala, Venezuela und Panama unterhielten Beziehungen zur spanischen Exilregierung und standen zum frankistischen Regime in offener Opposition; - Chile, Uruguay und Kuba ließen eine deutliche Antipathie erkennen, hielten sich indessen, was diplomatische und sonstige Schritte gegen die Madrider Regierung betraf, eher bedeckt; - Bolivien, Haiti, Costa Rica, Honduras und El Salvador äußerten keine besondere Sympathie für Franco und orientierten sich an der nordamerikanischen Position; - Kolumbien, Peru, Ekuador, Paraguay, Nikaragua und die Dominikanische Republik nahmen eine positive Haltung zur Franco-Regierung ein, orientierten sich in dubio aber gleichfalls an den USA; - lediglich Argentinien bekundete seine uneingeschränkte Treue zur Regierung des caudillo.

147 Der diplomatische "Joker", vor allem im Hinblick auf die bevorstehenden Kontroversen in der UNO, lag mithin, sehr zum Leidwesen vieler eingefleischter "Antiyankee"-Propagandisten, denen die Kanonaden von 1898 noch immer als schmachvolles Echo in den Ohren klangen, wieder einmal bei den USA. Der Injuriant unzähliger Schmähschriften aus der Feder exponierter Panhispanisten wie Menéndez Pelayos Requiem, war allerdings, wie angedeutet wurde, bereits Jahre vor dem militärischen ríen ne va plus des deutschen und italienischen Faschismus aus realpolitischen Gründen hofiert worden. Als kleine Sensation konnte bereits gelten, daß der nordamerikanische Botschafter dem Festakt zum Día de la Hispanidad 1944 beigewohnt hatte (ebd.: 100). Die Parole, die nach 1945 mit Blick auf das einstige enfant terrible des Panhispanismus offiziellerseits ausgegeben wurde, konnte gar als ideologischer salto mortale interpretiert werden: "La coincidencia de los países de común origen hispánico, lejos de ser un obstáculo para la armonía americana", lautete die neue Direktive (ebd.: 102) nun, "debe ser un elemento de aproximación y concordia.(...) La hispanidad contribuye así a fortalecer la política panamericana (sie) y la de 'buen vecino' de Estados Unidos". Man kann sich leicht vorstellen, daß solche Sätze nicht nur vom harten Kern der falangistischen Theoretiker als Hochverrat an den Grundidealen der Hispanidad eingestuft wurden. Aus deren Sicht wurde die bittere ideologische Pille auch daduch nicht nennenswert versüßt, daß die frankistische Diplomatie ihre Kehrtwendung u.a. mit dem Hinweis (Viñas 1984: 272) zu begründen pflegte, "que España comparte la presente inquietud anticomunista de los Estados Unidos." Damit war, wie Armero pointiert (1978: 59), das frankistische Regime "de una dependencia casi total de la Alemania nazi a una relación de vasallaje con los Estados Unidos" gelangt: "(...) el Régimen se ponía al servicio de una política exterior norteamericana, a cambio de ello, los Estados Unidos protegían a su vasallo." Ein Bonmot am Rande illustriert dabei, daß damit jedoch kein weiterer kulturhistorischer "Dominostein" gefallen war: "Al parecer, el presidente Truman propuso a Franco la aplicación a España de algunos de los beneficios del Plan Marshall", schreibt Armero (ebd.: 153f.), "a condición de que se dejara de perseguir a los protestantes españoles, condición que Franco no aceptó." Die exzellenten Beziehungen zu Argentinien, insbesondere nachdem Perón an die Macht gekommen war, wurden vom hispano-nordamerikanischen approach in keiner Weise getrübt: "El gobierno peronista", schreibt Gómez-Escalonilla (1988: 131), "se convirtió en esa difícil coyuntura en valedor incondicional de la dictadura española en sus aspiraciones por obtener la aceptación exterior, tanto en los países de Iberoamérica como en los principales foros internacionales - la ONU - . " Trotz der ökonomischen Interessen der Madrider Regierung - in den "años negros" waren die argentinischen Nahrungsmittellieferungen natürlich höchst willkommen - , die auch in den Instruktionen für José María de Areilza, den Franco-Botschafter in Bu-

148 enos Aires, zum Ausdruck kamen ("necesidad de dedicar primordial atención a estas relaciones económicas"), betrachtete man das tête-à-tête mit dem Rio de la Plata-Staat spanischerseits in erster Linie als günstige Gelegenheit, die internationale Ächtung des Regimes sukzessive zu durchbrechen 4 . In Übereinstimmurg mit der falangistisch inspirierten Devise (Bernecker 1984: 87), derzufolge "die Wirtschaft sich der Politik unterzuordnen habe, die Produktion im Dienste des 'Vaterlandes stehen und die Industrialisierung Ausdruck des nationalen Prestige: sein müsse", die der gesamten sogenannten "Autarkie"-Politik ihren Stempel aufdrickte, spielte "la restauración moral", wie Gómez-Escalonilla (1988: 132f.) schreib, "un papel clave (...)" Und dies auch viceversa: "Al preconizar la formación de ui bloque hispánico que contrarrestara la prepotencia de Estados Unidos y pusiera ciques a una supuesta extension del peligro comunista en la zona, Argentina buscabi trasladar hacia sí el eje político y económico de la misma." Als herausragendes Ereignis wurde von beiden Seiten der Besuch voi Eva Duarte de Perón im Sommer 1947 betrachtet. Die Visite der "egregia dam; ' ließ den frankistischen Blätterwald wochenlang rauschen, bot wie gewohnt Anhß für hochtönende rhetorische Ergüsse und war Balsam für die frankistische Diplonatie, die sich von der illustren Präsidentengattin erhoffte, das internationale Prestig; aufzupolieren: "Evita recibió en España tratamiento de jefe de Estado", schreót Armero (1978: 157), "y su visita constituyó una especie de brisa fresca en el ambiente estancado en la España franquista de los años cuarenta." Franco selbst war ts, der die Präsidentengattin mit einem verbalen Tremolo salbungsvoll begrüßte (ebd: 53): Hoy, con vuestra visita, se gloria España de aquel feliz alumbramiento, al coistatar en ese recio espíritu de independencia y de amor las tradiciones hispanas le la nación argentina, de que es paladín abanderado el insigne general Perón, e;a 'lealtad acrisolada' que reza en la leyenda de la Gran Cruz de Isabel la Católiia, con la que, en ese nombre de España, os condecoro... España estima en todo ;u valor la gran prueba de afecto que vuestra visita entraña, y se felicita de que pidáis apreciar el amor y simpatía que en nuestra nación despertó la gran figura le vuestro egregio esposo (...).

Die außerordentliche Wertschätzung, die man der argentinischen "First Laly" in Spanien erwiesen hatte, veranlaßten Perón am 12. Oktober desselben Jahren ¿u einer Eloge auf die kulturellen Werte der Hispanidad, die eine nahezu wortg:treue Wiedergabe jener Texte darstellte, mit denen das neugegründete Instituto d• Cultura Hispánica den Subkontinent überschwemmte. Argentinien avancierte denn auch zum bevorzugten Exerzierfeld der "acción cultural" des ICH. Mit fraikistischer Unterstützung wurde in Buenos Aires eine Oficina de Relaciones Cultirales 4

Während Perón die Hoffnung hegte (Armero 1978: 156), "que Franco podría construir un valioso aliado en su intento de política hegemónica, y adoptó una actitud de desafío tente a la política norteamericana de aislamiento diplomático de España."

149 installiert, sogenannte "Cátedras de España" in den Universitäten von La Plata, Córdoba und Litoral eingerichtet, die zukünftig "una tribuna permanente encargada de difundir y enaltecer nuestra gloriosa historia y la universal cultura hispánica" (Gómez-Escalonilla: 139) diffundieren sollten und ein reger Vortragstourismus spanischer Intellektueller finanziert. So gaben sich 1948 in Buenos Aires u.a. ein Stelldichein: Dámaso Alonso, Camilo Barcia Trelles, Ernesto Giménez-Caballero, Pedro Laín Entralgo, José María Pemán und Antonio Tovar. Der ironische Duktus des folgenden Resümees (ebd.: 141) der spanisch-argentinischen Beziehungen, das Areilza 1947 an den Direktor des Madrider ICH sandte, kann über die Bedeutung, der diesen auf beiden Seiten des Atlantiks beigemessen wurde, nicht hinwegtäuschen: "Sin opción, en estos dos años hemos tenido que bailar el rigodón con 'nuestro único amigo en el mundo' y cuando fue necesario, con su distinguida esposa (...) Hasta ahora el flanqueo de este régimen hizo posible en lo internacional el sostenimiento de lo nuestro. (...) ... y nunca olvidaremos a quien nos dio la mano cuando estábamos en el fondo." Aus dieser Isolation, das zeichnete sich in in diesem Jahr bereits deutlich ab, hatte sich das Regime inzwischen befreit - und zwar mit tatkräftiger Unterstützung einer wachsenden Zahl lateinamerikanischer Regierungen, die sich bei den verschiedenen Abstimmungen in der Generalversammlung der U N O auf die Seite der Madrider Regierung schlugen. Als die 1946 von diesem Forum beschlossenen Sanktionen im Oktober 1950 schließlich aufgehoben wurden, stimmten 16 lateinamerikanische Regierungen dafür; lediglich Méxiko, Guatemala und Uruguay votierten dagegen, während sich Kuba der Stimme enthielt (ebd.: 176f.). Bereits vor der New Yorker Abstimmung unterhielten die meisten lateinamerikanischen Regierungen diplomatische Beziehungen zur einstigen "Madre Patria", sei es durch offizielle Botschafter oder durch sonstige Beauftragte: "Spanien", so Dietrich Briesemeister (1986: 20), "befand sich auf dem Weg vom Boykottierten zum Alliierten." Der "Umweg" über Lateinamerika, um dieses Ziel zu erreichen, hatte sich offensichtlich gelohnt. So sah es auch ein in Madrid akkreditierter französischer Diplomat (Gómez-Escalonilla: 169), der nicht umhin konnte, die kulturelle Offensive der Madrider Hispanidad-Strategen als Erfolg zu werten und dabei den von Spanien stets prätendierten Fundus kultureller "Gemeinsamkeiten" sehr hoch veranschlagte: Es (...) incontestable que las afinidades lingüísticas, culturales y religiosas han constituido uno de los factores determinantes de este movimiento y he ahí - es necesario reconocerlo - uno de los resultados tangibles de la política de 'Hispanidad' que el Régimen ha promovido desde el final de la guerra civil. Der noch im selben Jahr - 1950 - in Madrid abgehaltene Congreso ción Intelectual

de

Coopera-

darf vor diesem Hintergrund als ostentativer Akt internationaler

Selbstdarstellung verstanden werden. Die Liste der spanischen Teilnehmer umfaßte

150 die Creme der peninsularen Intelligenz, die dem Regime auf die eine oder andere Weise verbunden war: Aleixandre, Alonso, Azorín, Pío Baroja, Cela, Díaz Plaja, Giménez-Caballero, Laín Entralgo, d'Ors, Ortega y Gasset, Pemán, Tovar u.a. Die weniger imposant anmutende Liste der lateinamerikanischen Teilnehmer verzeichnete u.a. P.A. Cuadra aus Nikaragua und J. Vasconcelos aus Mexiko. Deren Herkunftskontinent firmierte in den Kongreßtexten als "prolongación de Occidente" oder "vasto crisol de los pueblos occidentales" und Spanien in bekannter Manier als "vínculo de unión" zwischen Europa und der Neuen Welt. Trotz aller rhetorischer Formeln, die zum wiederholten Male die kulturellen Gemeinsamkeiten der "Madre Patria" und ihrer Exkolonien beschworen, war der Kongreß eine Art Schwanengesang auf die ambitiösen Ziele, die man sich noch wenige Jahre zuvor - gerade auch auf kulturellem Terrain - gesteckt hatte. Denn noch im selben Jahr wurden die finanziellen Mittel für zahlreiche kulturelle Aktivitäten - von Publikationen über intellektuelle "Reisekader" bis zum Unterhalt ganzer Kulturinstitute - drastisch gekürzt: "No deja de resultar significativo", bewertet Gómez-Escalonilla (ebd.: 183) den abrupten Gesinnungswandel, "que esa relegación de los proyectos más importantes de expansión cultural en la zona se produjera escasamente un mes después de la abrogación de las sanciones diplomáticas impuestas al régimen por la ONU." Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Auf der politischen Prioritätenliste wurde die Hispanidad von den ersten Plätzen verdrängt. Und auf kulturellem Terrain wurde sie ganz überwiegend wieder zu dem, was sie seit dem frühen 19. Jahrhundert eigentlich immer gewesen war: ein eher marginales Exerzierfeld für den Nachwuchs rhetorischer Talente und historischer Nostalgiker, das zudem der nationalen Imagepflege diente.

5. Neuordnung und Kontinuität: die organisatorisch-institutionelle Seite der Hispanidad

nach 1945

Die propagandistische Gegenoffensive der frankistischen Diplomatie stand aufgrund des weltpolitischen Kontextes und der falangistischen Hypothek nunmehr ganz unter dem Prätext kulturpolitischer Anliegen. Die primär politischen Ambitionen lagen bei näherem Hinsehen zwar allenthalben auf der Hand, wurden aber unter Verweis auf die "comunidad espiritual" zunächst nolens volens kulturell kamoufliert. Ein Schreiben (ebd.: 118f.) des Grafen de Bulnes, Amtsvorgänger in der Botschaft von Buenos Aires, ist diesbezüglich sehr illustrativ: "Esta es la propaganda que no hay que descuidar y la ünica que hoy en dia cabrfa hacer con cierto desembarazo sin que despertara suspicacias de este ambiente, nervioso de suyo, y hoy en dia tan agitado donde todas las cosas hieren." Nach Ansicht des Autors, die

151 im Madrider MAE auf fruchtbaren Boden fiel, gehe es nunmehr darum, spanische Bücher und Zeitschriften aus den Bereichen Wissenschaft und Technik nach Lateinamerika zu schicken, Reisen von Wissenschaftlern und Studenten zu finanzieren sowie Kongresse, Vorträge, Theateraufführungen und Kunstausstellungen zu organisieren. Der Junta de Relaciones Culturales des MAE fiel dabei zunächst eine Schlüsselrolle zu. Ein dort entwickelter Dreistufenplan sah vor, erstens einen Indice Cultural Español zu erstellen, der die Forschungsergebnisse spanischer und ausländischer Hispanisten bibliographisch erfassen und damit zugleich deutlich machen sollte, daß Spanien trotz des intellektuellen Exodus' von 1939 über erstrangige "valores culturales" verfüge; ein Stipendienprogramm für den gegenseitigen intellektuell-künstlerischen Austausch zu entwickeln, das - darauf legte man besonderen Wert - "mejor dotado que las del Consejo Británico" sein sollte; drittens die massive Verbreitung des "pensamiento español" in Form von Büchern, die vorzugsweise an die spanischen Kultureinrichtungen verschickt werden sollten, sowie die Durchführung von "Exposiciones del Libro Español Contemporáneo". Zur Finanzierung des ehrgeizigen Programms wurden die Mittel für diese Zwecke im Rahmen der zitierten außerordentlichen Zuwendungen des MAE überproportional erhöht. Der genannten Maßnahmenpalette vorausgegangen war eine partielle Neustrukturierung des MAE durch ein entsprechendes Gesetz vom Dezember 1945, das u.a. eine Dirección General de Relaciones Culturales (DGRC) ins Leben rief, die aus der alten Sección de Relaciones Culturales (SRC) de facto hervorgegangen war und der Junta de Relaciones Culturales übergeordnet wurde. Während hier die Kontinuität- auch personell- allenthalben sichtbar wurde, wollte man anderswo einen echten institutionellen Neubeginn demonstrieren: "A esta misma finalidad responde", heißt es im Gesetz von 1945, "la transformación del Consejo de la Hispanidad en Instituto de Cultura Hispánica, dado que el principal cometido de este organismo se refiere al ámbito de las relaciones culturales del mundo hispánico" (ebd.: 115f.). Die praktische Realisierung des Projektes wurde durch ein Kongreßmarathon im Sommer des folgenden Jahres entscheidend vorangetrieben. Neben dem IV. Centenario von Francisco de Vitoria und dem "Universitas"-Kongreß gingen vom "XIX Congreso Mundial de Pax Romana", der 1946 in Salamanca und im El Escorial abgehalten wurde, diesbezüglich die wichtigsten Impulse aus. Die von Joaquín Ruiz Giménez präsidierte Organisation des weltweiten Katholizismus war eines der wenigen Foren, auf denen das frankistische Regime sein lädiertes internationales Ansehen aufpolieren konnte, ohne die sonst üblichen Ressentiments zu schüren. Die Präsenz zahlreicher Persönlichkeiten des lateinamerikanischen Katholizismus' - unter ihnen Schriftsteller und Professoren - "propició la ocasión", so Gómez-Escalonilla (ebd.: 122), "poner en marcha un proyecto tiempo atrás concebido por la

152 dictadura. La fundación conjunta de un Instituto Cultural Iberoamericano destinado a organizarse en ramas nacionales totalmente autónomas, pero intercomunicadas y cooperantes, supuso la raíz concreta del nacimiento del ICH (...)". Die definitive Organisationsstruktur des Instituto wurde Ende 1946, Anfang 1947, festgelegt. Als Präsident amtierte der Außenminister, dem der Direktor Ruiz Giménez - und ein Generalsekretär unterstanden; eine Junta de Gobierno, vom Minister ernannt, mußte für alle finanziellen Transaktionen, die mehr als 50.000 Pesetas umfaßten, ihr Plazet erteilen, Personalvorschläge unterbreiten und allgemeine Strategiepläne entwickeln. Die spezifischen Tätigkeitsfelder des ICH umfaßten "el ámbito del estudio, defensa y difusión de la cultura hispánica; el fomento del conocimiento mutuo e intensificación del intercambio cultural; la ayuda y coordinación de las iniciativas públicas y privadas emprendidas en este sentido, y el asesoramiento del ministro sobre dichas materias" (ebd.: 151). Eine juristische Besonderheit, die sich in der Zukunft als wichtig erweisen sollte, bestand in der Definition des ICH als Corporación de derecho público mit eigener juristischer Verantwortung, was einen gewissen Autonomierahmen implizierte, über den vergleichbare Organisationen nicht verfügten. Dennoch, so Gómez-Escalonilla (ebd.: 155), stellte das ICH in den kommenden Jahren des öfteren unter Beweis, daß es in mehrfacher Hinsicht "heredero doctrinal del C H " war. Dieses Erbe brachte sich um so deutlicher in Erinnerung, als der Direktor des neugegründeten Instituto, Ruiz Giménez, 1948 die Führung an seinen Mitarbeiter Sánchez Bella übergab, um als Vatikanbotschafter nach Rom überzusiedeln. Ein "plan de actuación", der 1949 unter dem Auspizium des neuen Direktors entwickelt wurde, hielt es beispielsweise für erforderlich (ebd.: 164), den lateinamerikanischen Besuchern nicht nur "la idea de una comunidad espiritual ligada por estrechos vínculos de religión, de raza, de lengua y de historia" näherzubringen, sondern ihnen auch "un panorama completo de lo hecho por el Régimen" zu offerieren. Nach dem UNO-Beschuß von 1950 stellte das ICH in triumphalistischen Stellungnahmen unter Beweis, daß auch die kolonialistischen Prätentionen - wenn auch nur verbal noch längst nicht überwunden waren. Im Konquistadoren-Jargon ließ der ICH-Direktor (ebd.: 192) verkünden: Allí hay tierras que cultivar, zonas de explotar, materias vírgenes que extraer hacia nosotros. Sólo esperan la mano eficiente del español que hay rendir provecho a tantas riquezas vírgenes hoy muertas, y las hagan revertir hacia la tierra que dio vida a todo aquel continente. Wenngleich sprachliche "deslices" der zitierten Art der Euphorie des Augenblicks geschuldet waren, und, wie die Analyse der ICH-Zeitschrift Hispanoamericanos

Cuadernos

zeigt, in der Zukunft eher die Ausnahme darstellten, warfen sie

doch ein bezeichnendes Licht auf die Geisteshaltung exponierter

Hispanidad-

153 Akteure, denen die "Schmach" von 1824 und 1898 offensichtlich noch immer in den Knochen steckte. Dennoch vollzog das ICH die politisch-kulturelle Kehrtwendung vis-à-vis der Vereinigten Staaten voll mit. Im Rahmen des zitierten "plan de actuación" wurde der Austausch von Studenten Ende der vierziger Jahre deutlich intensiviert; eine Ausstellung spanischer Malerei in New York und Washington sowie eine USATournee von Sängerinnen und Tänzerinnen der Sección Feminina zielten in die gleiche Richtung. Der entsprechende Finanzbedarf des ICH wurde durch erhöhte Mittelzuweisungen, die 1950 knapp 11 Prozent des gesamten MAE-Fonds (ebd.: 180) ausmachten, aus der Staatskasse gedeckt. Auch die Gründung entsprechender Institute in Lateinamerika hatte um 1950 einige Fortschritte gemacht. Neben den bis dato bestehenden Einrichtungen in Argentinien, Chile, Kuba, Mexiko und Bolivien wurden die Vorbereitungen zur Gründung weiterer Institutos, in der Regel mittels der dortigen Botschafter, weiter intensiviert. Trotz entsprechender Fortschritte, die auf diesem Terrain in den folgenden Jahren zu verzeichnen waren, "distaban (sus actividades) de ofrecer", so Gómez-Escalonilla (ebd.: 107), "saldos prometedores". Der kulturmonopolistische und paternalistische Duktus, wie er vor allem auf den Seiten der wichtigsten ICH-Publikation, der Cuadernos Hispanoamericanos zutage trat, war dafür sicher ein zentraler Grund. Gleiches galt für eine Reihe weiterer organisatorischer Novitäten der frankistischen Hispanidad-Offensive, etwa für die unter Federführung des ICH 1946 in der Madrider Universität eingerichtete "Cátedra Ramiro de Maeztu", die bereits - nomen est omen - im Titel den geistigen Horizont ihrer Gründungsväter zum Ausdruck brachte. Dazu bestimmt, der "investigación y enseñanza de los principios que forman la comunidad espiritual de los pueblos hispánicos y el fomento del mutuo conocimiento entre los mismos" zu dienen, erhielten in den Folgejahren zahlreiche Professoren aus Lateinamerika und den Philippinen Gelegenheit, ihre unverbrüchliche Treue zu den Prinzipien der Hispanidad zu bekunden. Zahlreiche dieser Elaborate in der Tradition üppig ornamentierter Worthülsen des frühen Panhispanismus, die unter den konservativen Eliten der Neuen Welt ein stetes, wenn auch deutlich rückläufiges Echo fanden, wurden in den Cuadernos abgedruckt. Vom gleichen Geist beseelt war das mit der "Cátedra Ramiro de Maeztu" kooperierende "Seminario de Problemas Actuales Hispanomericanos", dem via regelmäßiger Berichte die Aufgabe zufiel, eine Art Politikberatung zu betreiben und Spezialisten für politische Gegenwartsthemen heranzubilden sowie das 1950 gegründete "Colegio Mayor Hernán Cortés" in Salamanca, das sich als Pendant des Madrider "Colegio Mayor de Nuestra Señora de Guadalupe" verstand und als Treffpunkt für spanische, "hispanoamerikanische", brasilianische, portugiesische und philippinische Studenten diente.

154 Wenngleich die "unidad"-Obessionen der Hispanídad-Strategen - in der nach außen wie nach innen zielenden Version - nach Beginn der internationalen "Normalisierung", als die man insbesondere den UNO-Beschluß interpretierte, sich bereits in jenen Jahren mit (moderaten) Abweichlern konfrontiert sahen, trifft das von Díaz gezogene Resümee (1974: 21) der politischen und kulturellen Gesamtsituation auch die Ideenwelt der Hispanidad-EYiten: La obsesión era entonces la defensa de la ortodoxia (...) casi siempre muy estrecha y dogmáticamente entendida, a su vez, la imposición de una absoluta unidad y uniformidad ideológica, donde la libertad intelectual, gravemente disminuida, posee muy escasas posibilidades de acción.

6. Rhetorik und Pragmatismus im Dauerkonflikt: die Beziehungen zu Lateinamerika bis zur transición Auch in den fünfziger und sechziger Jahren zeigte sich die Hispanidad als ziemlich getreuer Spiegel sowie als Instrument (letztere Funktion mit deutlich abnehmender Tendenz) der außen- und innenpolitischen Interessen des frankistischen Regimes. Nach den turbulenten Jahren des Bürgerkriegs, den nazi-falangistischen "imperio"Ambitionen und der ohne nennenswerte Blessuren überstandenen Isolationsphase schien das wandlungsreiche Chamäleon nunmehr seine definitive Farbe gefunden zu haben. Der paternalistische Duktus und die kulturhistorischen Prätentionen, die den spanischen Habitus gegenüber den Exkolonien seit dem frühen 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Schärfegraden bestimmt hatten, feierten zwar des öfteren fröhliche Urständ, traten allerdings hinter den Versuch zurück, die diplomatischen Beziehungen - wie vor allem das kubanische Beispiel zeigte: auch unter einer gewissen realpolitischen Anerkennung unliebsamer politischer Verhältnisse - weiter zu "normalisieren" und ihnen erstmals eine substantielle ökonomische Komponente beizumischen. Zwischen 1951 und 1953 kam es zu offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Ekuador, Panama, Honduras, Haiti und Uruguay; mit Brasilien, El Salvador, Peru und Kuba wurden Wirtschaftsabkommen und mit El Salvador und der Dominikanischen Republik "acuerdos de paz y amistad" abgeschlossen; Kulturverträge wurden mit Brasilien und der Dominikanischen Republik unterzeichnet (Gómez-Escalonilla 1988: 190). Die zitierte Relegation der Kulturbeziehungen von ihrem angestammten ersten Platz war begleitet von einer ziemlich schonungslosen Selbstkritik des bisherigen "desorbitado idealismo", die nicht zuletzt innerhalb des MAE selbst formuliert wurde. Verschiedene Berichte an die Adresse des Ministers (ebd.: 221 ff.) sprachen

155

offen von der "ausencia total de logros concretos" und "términos vagos e hipotéticos" der kulturpolitischen Strategien und deren noch wesentlich nüchternen Praxis, "cuyas posibilidades de realización son generalmente utópicas". Statt dessen plädierte man allenthalben für den intensiven Ausbau ökonomischer Beziehungen, gab allerdings die illusionäre Formel eines "Bloque Hispánico" bzw. einer "Comunidad Iberoamericana de Naciones" kulturell-politischer Couleur nicht völlig auf - wohl in der unbewußten Annahme, daß ein ökonomisch fundiertes "Commonwealth" selbst durch bilaterale Geflechte kaum weniger illusionär war. Der große "Durchbruch" blieb den frankistischen Hispanidad-Strategen daher versagt, "nunca obtuvieron el resultado final deseado, lo cual no fue óbice para que (...) apareciera reiteradamente señalada entre los objetivos que la dictadura española afirmaba perseguir en su política exterior "(ebd.: 226). Über die zuweilen eklatanten Widersprüche zwischen den ehrgeizigen Absichtserklärungen und der zumeist bescheidenen Realität können auch einige relative und ephemere Erfolge nicht hinwegtäuschen. So beliefen sich etwa die spanischen Exporte nach Lateinamerika zwischen 1960 und 1970 auf immerhin 13 Prozent der Gesamtausfuhren (Rodríguez 1986: 158). Auch die Direktinvestitionen erfuhren im selben Zeitraum (Mujal 1986: 136) eine beachtliche Steigerung, die sich in den siebziger und frühen achtziger Jahren fortsetzte. In diesem Zusammenhang fällt indessen auf, daß die "amerikanische Karte" offensichtlich immer dann ausgereizt wurde, wenn die Beziehungen zu Europa, speziell zu den Mitgliedstaaten der EG, stagnierten oder rückläufige Tendenzen aufwiesen. So führt Rodríguez (1986: 158) den relativen Export- und Investitionsboom der sechziger Jahre auf eine "desviación del comercio español de la CEE" zurück. Gleichzeitig, so der Autor (ebd.), war die Intensivierung der ökonomischen durch einen entsprechenden Ausbau der kulturellen Beziehungen begleitet, was in praxi eine Umkehrung der "liberalen" Vorstellungen bedeutete, denenzufolge der Ausbau der Beziehungen genau anders herum prognostiziert wurde. Nach der 1970 erfolgten Unterzeichnung des "Acuerdo Preferencial" mit der EG, so Rodríguez (ebd. 159), "las relaciones comerciales con Iberoamérica bajaron notablemente". Auch aus der Retrospektive fällt es nicht leicht, diesen "tira y afloja"-Kurs eindeutig zu bewerten. Als sicher kann zwar gelten, wie Rodríguez (ebd.) schreibt, daß die Orientierung auf Lateinamerika besonders deutlich "durante tiempos difíciles con la CEE" erfolgte; der Versuch, durch die kulturelle Dimension der Beziehungen das nationale "Prestige" aufzuwerten, wie Sánchez-Ferlosio (1988) aus Anlaß des V. Centenario argumentierte, klingt indessen nicht weniger plausibel - nicht zuletzt dann, wenn man (den ökonomischen) Aufwand und Ertrag der 1992er Veranstaltungen gegenüberstellt. In einer Rede, die Außenminister Fernando Maria Castiella 1964 anläßlich des "Día de la Hispanidad" in Guemica hielt, nimmt die widersprüchliche Ideenpalette

156 mit Blick auf Lateinamerika exemplarisch Gestalt an. Der "liberale Geist", der in dem Text aufscheint, kann freilich nicht vergessen machen, daß sein Autor die "guten Absichten" (stabile ökonomische Beziehungen mit Lateinamerika) mit d e r trotz der relativen Hausse jener Jahre - recht tristen Realität offensichtlich verwechselte: In Iberoamerika, "reflejo de Europa", so der Redner (1964: 411), "reside una de las grandes posibilidades de occidente". Spanien, "un país - puente entre oriente y occidente" (ebd.: 416), falle eine Schlüsselrolle zu, diese Möglichkeiten zu nutzen: "(...) nuestro Gobierno continuará esforzándose por cooperar a la financiación de los planes de desarrollo de aquellos países y facilitar intercambios comerciales con el nuestro." Der Überschätzung der ökonomischen Potenzen seines Landes entsprechen die kläglichen Ergebnisse, die Castiella auf der politischen Ebene vorzuweisen hat: lediglich ein Abkommen über doppelte Staatsbürgerschaft mit Ekuador und Costa Rica und entsprechende "negociaciones muy avanzadas" mit einigen weiteren Ländern. Der Rest besteht aus wishful thinking und Rhetorik: "(...) sentimos ante todo el cálido fluir de la sangre que late ... entre los hombres de los dos lados del Atlántico." Selbst die Philippinen hat der Redner augenscheinlich noch nicht abgeschrieben: "El cielo es nuestro estadio del Pirineo a Filipinas'", zitiert er (ebd.: 404) einen der zahllosen Hispanidad-Poeten. Positiv bleibt immerhin anzumerken, daß der Minister der pluralen Realität auf dem Subkontinent eine gewisse Reverenz erweist, denn er bemerkt (ebd.: 411), daß "la hora histórica de nuestro monopolio en la 'carrera de las Indias' ha pasado hace mucho y para siempre" und die kubanische Revolution "por encima de las situaciones circunstanciales superando a veces incluso abismos ideológicos" als fait accompli akzeptiert wird. Dagegen ist der "homenaje a nuestra emigración americana" (ebd.: 415) nur eine leicht kamouflierte Spielart politischer Intransigenz, da sie sich lediglich auf "esas gentes sencillas de nuestro pueblo" bezieht, die durch ihrer Arbeit "una aportación eficaz para el progreso de Iberoamérica" leisteten und damit die Emigranten politisch-intellektueller Provenienz offensichtlich ausschließt. Abgesehen von einigen Einsichten in die Irreversibilität historischer Entwicklungen und der partiellen Suspendierung kulturhistorischer Maximalpositionen, wie sie in der Rede Castiellas Gestalt annehmen, blieb die proklamierte Absicht der frankistischen Diplomatie, die Beziehungen zu Lateinamerika vom hohen Olymp der Kultur in die Niederungen stabiler terms of trade zu verlagern - sie damit gewissermaßen zu säkularisieren, letztendlich ein frommer Wunsch. Daran vermochten auch die "wonder boys" (Témime) des Opus Dei, der von 1957 bis 1969 in ( a u ß e n w i r t schaftlichen Fragen tonangebend war, wenig zu ändern. Dem Regime gelang es nicht einmal, wie Mujal (1986: 136) konstatiert, jene ökonomische Bedeutung in Lateinamerika zu erreichen, wie sie Frankreich in seinen afrikanischen Exkolonien besaß. Das Resümee des Autors (ebd.: 137), immerhin ein Mitarbeiter des Instituto

157 de Cooperación

Iberoamericana

(in welches das Instituto

de Cultura

Hispánica

1977 umgewandelt wurde), läßt daher, was diesen Bereich der Beziehungen betrifft, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "Haciendo un análisis final, el régimen de Franco prestó mucha atención retórica, pero muy poca atención real, a Latinoamérica." Kaum weniger nüchtern liest sich die Bilanz der politisch-kulturellen Aktivitäten. So kommen v. Gleich u.a. (1984: 13) zu dem Ergebnis, daß sich die Lateinamerikapolitik stets auf die höchste diplomatische Ebene (Staatsbesuche etc.) reduziert habe und die Aktivitäten auf mittlerer und unterer Ebene völlig vernachlässigt worden seien. Darüber hinaus habe es bis zum Beginn der transición

keine transna-

tionalen Körperschaften - wie z.B. Parteien, Stiftungen, Gewerkschaften, Forschungszentren etc. - gegeben, die stabile Beziehungen mit lateinamerikanischen Pendants unterhalb der Regierungsebene hätten initiieren und ausbauen können. Das zitierte Defizit hat indes seine Logik. Wenngleich das Regime, wie Niehus (1989: 72) bemerkt, wegen der prekären Europa- und USA-Orientierung "auf Ersatz- bzw. Substitutionsaußenpolitiken (vor allem in Lateinamerika) ... nach wie vor nicht verzichten" konnte, so war ihr irreversibler Charakter nach Ansicht Moráns (ebd.: 80) dennoch offenkundig: Cuando el cortejado principal fruncía el ceño, se adelantaba España a decir que su coqueteo con árabes o latinoamericanos era flirt de verano y que el verdadero sentimiento estaba, naturalmente, en el balcón inaccesible de la hermosa indiferente, la bella, desdeñosa dama europea y americana, ante cuyos favores estábamos dispuestos a ceder cualquier veleidad. Der kulturhistorische Leitstern des Regimes war damit zwar noch lange nicht erloschen, seine Leuchtkraft hatte freilich drastisch nachgelassen. Insofern darf man die folgende Notiz (Armero 1978: 228) durchaus symbolisch verstehen: "(...) la última asistencia de Franco a un acto político fuera de los muros de El Prado fue al Instituto de Cultura His-pánica, el día 12 de octubre, fiesta de la Hispanidad (...)". Auf den folgenden Seiten wird untersucht, wie der opinion leader der peninsularen Hispanidad, die Cuadernos Hispanoamericanos, thematisch auf die oben skizzierten Veränderungen reagierte.

VIII. Die Entwicklung der Hispanidad in den Cuadernos

Hispanoamericanos

1. Spanien, Europa und Lateinamerika: zur Entwicklung des Hispanidad-Begriffs 1.1 Peninsulare Autoren 1 Die semantische Vielschichtigkeit des Hispanidad-Begriffs, wie er eingangs definiert wurde und sich seit dem frühen 19. Jahrhundert herauskristallisierte, läßt sich freilich auf drei zentrale Begriffe reduzieren, die in der einen oder anderen Form in den Beiträgen der Zeitschrift stets präsent sind: "Spanien", "Europa" und "Lateinamerika" (letzteres taucht allerdings erst in späteren Jahren regelmäßig auf). In dieser Triade stellt etwa ein Autor des Jahres 1953 (48: 325) 2 die Weichen zukünftiger Diskussionen: "¿Qué es esta Europa?" Unter Berufung auf Ortega beantwortet er die selbstgestellte Frage mit einer zweiten: "¿Qué es España ... qué es esta España, este promontorio espiritual de Europa?" In der zweiten Frage klingt die traditionelle Standardantwort bereits an: "Spanien" als eine Art "spiritueller" Zulieferbetrieb des "materialistischen" Europas, spirituelle Reserve des Kontinents, so die sattsam bekannte Formel zahlreicher Autoren der 98er Generation und ihrer Epigonen. Die Zugehörigkeit zu Europa, "que llamamos latina", wird zwar anerkannt, aber nur unter der Prämisse einer "Individualisierung" seines "espíritu, este espíritu oculto y, sin embargo, tan manifiesto, operante e ignoto a un tiempo", so die Formulierung des CH-Autors. Am Ende (ebd.: 328) steht ein Unamuno-Zitat: "Y bien ... ¿qué es la hispanidad?" Die Antwort: "Es la Europa de hoy, es la Humanidad custodia de la tradición latina la que debe hacer en si su propia latinidad. Latinidad, Europa, hispanidad, he aquí el símbolo trino de una sola palabra (...)". Was sich in der philosophisch drapierten "Geisterbeschwörung" obigen Autors noch recht dunkel ausnimmt, wird in einem Beitrag derselben Ausgabe von Freiherr von der Heydte ("Superación de la idea europea") gegenwartspolitisch erhellt. Europa, "una comunidad de espíritu, de voluntad y de sentimiento" (48: 299), biete 1

Hier k o m m e n auch einige nichtspanische Autoren zu Wort.

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Die Angaben beziehen sich auf die jeweilige N u m m e r und die Seite der Zeitschrift.

159 augenblicklich (1953) kein sehr hoffnungsvolles Bild; denn man habe vergessen, daß sich das europäische Projekt nicht in organisatorischen Strukturen erschöpfe. Dieses müsse im übrigen gar nicht erst erschaffen werden: "basta con resucitarlo!" Und Spanien, "uno de los núcleos europeos", falle aufgrund seiner christlichen Essenzen dabei eine Schlüsselrolle zu: "Fue justamente España la que, hasta nuestros días, conservó sola esos valores morales y espirituales sobre los cuales esperamos fundar la Europa futura." Da es einzig Spanien gewesen sei, das die christlich-katholischen Werte Europas über Jahrhunderte bewahrt habe, der alten die Tür zur neuen Welt geöffnet und Europa zudem mit dem "espíritu griego" versorgt habe (der jüdisch-islamische Beitrag bleibt freilich unerwähnt), bestehe die Mission des Landes heute darin, "decidir el destino de Europa por tercera vez". Daß es dem deutschen Interpreten des spanischen Geistes nicht allein um letzteren geht, machen die Adjektive (ebd.: 300) deutlich, mit denen er den spanischen "espíritu de la hermandad" konkretisiert: Dieser sei "cristiana, jerárquica, varia, unitaria y misionera" und entspreche damit vollauf dem "objetivo que nos reúne". So sah es auch ein weiterer deutscher Autor - Richard Jaeger - , der die "misión de España" allerdings erkennbar konkreter, d.h. realpolitischer (65: 139) definierte: "(...) al igual que en los tiempos de invasión árabe, también hoy, c o m o entonces, puede España aportar en diversos terrenos su valiosa contribución a la autosupervivencia de nuestro amenazado continente." Den spanischen Beitrag zur europäischen "Sicherheit" sieht der CSU-Politiker neben einer vagen "edificación espiritual de Europa" (ebd.: 141) vor allem in der Funktion einer "retaguardia norteafricana" (ebd.: 140) und in der Immunisierungswirkung "contra el peligro bolchevique". Die diesbezüglichen Meriten des Landes veranschlagt der Autor besonders hoch, weil man dort - wie hier - die "crueldad del bolchevismo" am eigenen Leib erfahren habe. Es sei zwar richtig, so die "moderate" Allusion Jaegers auf die augenblicklich herrschende "crueldad" im Lande, daß Spanien "ninguna democracia" (ebd.: 141) sei, aber immerhin ein Land, das weder nationalistisch, faschistisch noch totalitär sei: "Que ser autoritario en una medida que hoy será incomprensible para los países centroeuropeos, es cuestión que atañe y debe dejarse a los propios españoles." Diese Wahrheiten auszusprechen sei in Deutschland, so Jaeger, jedoch "a veces difícil", da sie nicht in den "patrón ideológico, democráticamente patentado", der hiesigen Opposition paßten. Obgleich Jaeger ein weiteres "Standbein" der Hispanidad

völlig unerwähnt ließ -

die "vocación americana" - , und die "spirituellen Werte" gewissermaßen realpolitisch säkularisiert, dürften die nach internationaler Anerkennung heischenden Hispanidad-Strategen

diesen Beitrag aus der Feder eines bundesdeutschen Spitzenpo-

litikers dennoch als Balsam empfunden haben. Und möglicherweise, so mögen einige "organische" Intellektuelle in Erinnerung an den historischen Leitstern der

160 Hispanidad - Carlos I - geglaubt haben, könnten j a die Peripetien von einst eine baldige Renaissance erleben: "Quien sea el aliado de Alemania, será el vencedor de mañana", hatte bereits ein C7/-Autor (50: 247) die bundesdeutschen Wahlen von 1954 kommentiert. "Deutschland" stand, das illustrieren die zitierten Beispiele, ziemlich hoch im Kurs. Während "Europa" eher eine abstrakte Größe blieb, ein negativer passe partout-Begriff für "liberalismo y comunismo" (50: 245) und Frankreich vor allem als gefährlicher Konkurrent um die kulturelle Hegemonie in Lateinamerika, als "penetración francesa ... que ha desvirtuado durante un siglo largo la sana raíz ibérica de muchos grupos dirgentes, 'latinoamericanos'" in Erscheinung trat (49: 115), erfreute sich das Geburtsland Karls V. wachsender Beliebtheit bei den Verantwortlichen der CH. Dabei äußerte sich die "Germanophilie" der Zeitschrift nicht zuletzt im stattlichen panel deutscher Autoren. In Spanien war man augenscheinlich gut darüber informiert, was reaktionäre "Spanien"-Nostalgiker hierzulande über ihr Land zusammenfabulierten. So erhielt mit Rudolf Grossmann ein weiterer deutscher Autor Gelegenheit zu einer "Valoración cultural del mundo hispánico". Die "conducta espiritual" des Landes, selbst der linksorientierten Spanier 3 , habe sich als "poderoso castillo" (62: 218), als "granito de su cosmovisión católico-cristiana" über die Jahrhunderte, und zwar unter Einschluß der "setecientos años de la invasión árabe", wie sonst nirgendwo in Europa erhalten. Die historischen "Grundbausteine" der Hispanidad sieht Grossmann (ebd.: 224) neben der zitierten "conducta espiritual" in "un lenguaje universal", in "un Imperio hasta entonces apenas conocido" sowie in "la acción de los misioneros" in Amerika; diese Grundbausteine seien nach wie vor aktuell, insbesondere die "imperio"-Idee, die ein perennierendes Vermächtnis für Europa sei: "El sueño de la Monarquía universal de Carlos V.", schreibt er (ebd.: 225) im Jahre 1955 (sie), "sigue todavía en pie". Mit diesen Interpretationen lagen die deutschen Autoren ziemlich genau auf jener Linie, die in diesen Jahren auch unter den spanischen Autoren des Blattes en vogue war. Auf der Basis der zitierten Ingredienzen verstand man sich noch überwiegend als Idealismus-Exporteur, als Lieferant "de los grandes principios morales, sociales y religiosos", so etwa José Ignacio Escobar (53: 145), die sich als Alternative zur "ilusión del progreso material" empfahlen. Ganz so apodiktisch wie in den ersten Jahren des Frankismus bzw. in der Vorbürgerkriegszeit wollte man diese Alternative indessen nicht mehr verstanden wissen. Da die spanische Europa-Zugehörigkeit expressis verbis und nachdrücklich betont wurde ("España forma parte

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Daß Grossmann damit nicht ganz falsch lag, beweisen zumindest die geschilderten Reaktionen der spanischen Linken auf das Desastre von 1898.

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también de Europa (...)"4, ebd.: 149) - warum sollte Spanien dann nicht von der europäischen Prosperität profitieren, zumal es selber etwas anzubieten habe? Und diese Offerte, gibt der Autor (ebd.: 150) zu erkennen, beschränke sich nicht nur auf spirituelle Werte, sondern auch auf "los dominios de la política y de la economía". Damit rekurriert der Autor auf das angeblich enorme Prestige des Landes "en el continente americano que ella civilizó". Gemeint ist eine spanische "Brückenkopffunktion" für die europäischen Lateinamerika-Interessen, die in den gewundenen Formulierungen zwar noch nicht als solche bezeichnet wird, in ihrem konzeptuellen status nascendi aber bereits erste Konturen annimmt 5 . Entsprach diese modifizierte Hispanidad-lnlerpretaxion als komplementärer Faktor zur Ökonomie (gewissermaßen als ihr geistiges Schmiermittel) wenigstens in Teilen den realen Gegebenheiten in Europa, so überwogen, was die spanische "Mission" und Präsenz in Lateinamerika betraf, noch eine Zeitlang nahezu exklusiv kulturelle Ambitionen, die zudem an der traditionellen Überschätzung des spanischen Einflusses krankten. So meinte ein Autor des Jahres 1954 (54: 343) in Argentinien eine tiefe "devoción hispánica" zu sehen; ein anderer Autor (55: 27), Mitglied einer spanischen Besuchergruppe in Chile, vermeldete gar enthusiastisch: "Camino del parlamento (...) la gente se agolpaba contra el coche con objeto de gritarnos: "¡La madre patria!' '¡Y Viva España!"' Da das Gros der spanischen Intellektuellen, die Lateinamerika besuchten, den üblichen Routen des Hispanidad-Tourismus folgten, also meistens nur den jeweiligen Club Español, die Asociación Patriótica Española oder die Institución Cultural Española besuchten, wie das etwa ein Autor des Jahres 1955 (61: 120) tat, entsprachen die Reisebilanzen zumeist den Regeln der selbstauferlegten "seif fullfilling prophecy". Dort, so der Autor (ebd.), gebe es "grandes centros motores de la Hispanidad", die "la fertilización (...) de la pampa de la Cultura" betrieben, insgesamt ein Kontinent, "pletórico de sugerencias, rebosando hispanidad y buen sentido histórico cultural (...)". Neben der zum Teil maßlosen Überschätzung des spanischen Einflusses und der hier und da (unter anderem von den zitierten deutschen Autoren) aufrechterhaltenen "imperio"-Prätentionen - zumeist in der synonymen Version einer "Comunidad de 4

Die unter den konservativen Eliten des frühen 20. Jahrhunderts ja keineswegs unumstrittene Europazugehörigkeit, wie sie nunmehr unisono beschworen wird, zeigt sich auch an der quantitativ gestiegenen Präsenz des Themas, etwa (84: 402): "¿Tiene este país un espíritu europeo?" (Die Fragezeichen werden bald obsolet) oder Pedro Caba in: "El europeo no sabe ya pensar", weil, so die übliche Prognose (mit Spanien als Therapie): "El pensamiento del hombre europeo funciona mal porque razona demasiado. Falta amor y sobra raciocinio" (82: 48).

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Mit der gleichen Verve empfiehlt man sich künftig übrigens den USA als "spiritueller Juniorpartner" im Rahmen der panamerikanischen Initiativen. Noch dominiert indessen ein eher negatives Bild (ebd.: 145) des "Aggressors" von 1898: "La mayor parte de los Estados Europeos viven hoy económicamente dependientes de los Estados Unidos, convirtiéndose, en el sentido literal del término, en mendigos."

162 Naciones" (85: 103) - fielen die ökonomischen Elemente bei den zahlreichen Hispanidad-Definitionen noch kaum ins Gewicht. Wiewohl sie mit Blick auf Europa nolens volens anerkannt wurden, galten für die lateinamerikanischen Anteile noch immer folgende (ebd.: 102) Konstituenten: "(...) la consanguinidad y el mestizaje, la lengua y la cultura, la religión y el espíritu" - Elemente, "que concurren a la realización de la His-panidad y a su continuidad histórica". Wer diese Elemente in Frage stelle, sie, wie der Panamerikanismus oder Indigenismus gar bekämpfe, schreibt der Autor (ebd.: 106) im Stile pathetischer Rhetoriktraditionen, erweise sich letztlich einen Bärendienst: "En Hispanoamérica el ataque a España suena como un toque de rebato oido en la profundidad de la sangre y despierta, estremeciéndola, a la dormida solidaridad de los miembros de la Hispanidad con el tronco común." Wer letzteren in Zweifel ziehe, "el peso de la economía" überbewerte und auf den "caminos de la máquina" sein Heil suche, versucht Ivan R. Sepich in einem Aufsatz über "Giménez Caballero y América" dessen krause Hispanidad-ldeen zu aktualisieren, gerate auf Abwege. Die Zukunft der Hispanidad, das habe Giménez Caballero, "el más americano de los españoles", unwiderlegbar konstatiert, liege in der Vergangenheit - "bajo la enseña", so die wundersame Ahnenriege (ebd.: 263), "de Cristo, en nombre del Cid, de Don Quijote y de Bolívar, los tres principales caballeros de la raza". Die docta ignorancia der zitierten Texte, die - Mitte der fünfziger Jahre! - ungebrochen scheinende Projektionskraft ihrer Verfasser, mutet absurd an und ist wohl nur so zu erklären, wie dies Antonio Lago Carballo mit einem Zitat von Lain Entralgo (82: 5) unbeabsichtigt luzide getan hat: "América es para los españoles no un conocimiento, sino una emoción." Im letzten Drittel der fünfziger Jahre beginnt sich der rhetorisch-spirituelle Schleier der Hispanidad allerdings sukzessive zu lüften. Um der von Außenminister Martin Artajo am "Día de la Hispanidad" des Jahres 1955 ausgegebenen Parole (85: 111): "Será nuestro ideal llegar a la libre circulación de la sangre dentro del cuerpo vivo de la Comunidad hispánica" in praxi wenigstens halbwegs zu entsprechen, schien eine Teilrevision der bis dato gängigen Definitionen unumgänglich zu sein. Diese erstreckte sich vor allem auf einige Hispanidad-"Theoretiker", die nach Beginn des frankistischen Regimes eine steile Karriere erlebt und - wie etwa Garcia Morente - als quasi sakrosankt gegolten hatten. Jetzt (1957) begann sich dagegen die Einsicht (86: 230) zu verbreiten: Nos engañaríamos si no admitiéramos el hecho patente de que entre los pensadores, los políticos y las clases intelectuales del otro lado del Atlántico no está admitida con unanimidad la sugestiva teoría del señor García Morente sobre la Hispanidad, que ve como lazo de unión de los pueblos hispánicos el ideal católico y cristiano del antiguo Imperio español.

163 In der Form fällt die Distanzierung des Autors von dem spiritus rector der katholisch-spirituell fundamentierten Hispanidad zwar keineswegs abrupt aus, in der Sache läßt er jedoch keinen Zweifel an der Notwendigkeit (ebd.: 233), die Hispanidad als "declaración de principios" durch ein "proyecto de acción conjunta" zu ersetzen. Als Vorbild gilt dem Autor dabei genau jene Nation, die zum Zusammenbruch des spanischen Imperiums nicht unwesentlich beigetragen hat: Großbritannien. Die erlittene "Schmach" über den Untergang der "Armada Invencible" und ganz allgemein die "rivalidad hispanoinglesa" lassen sich jedoch um so leichter vergessen, als beide Nationen, auf je besondere Weise, ein europäisches Unikat darstellten: "España e Inglaterra son las únicas naciones del continente europeo que han logrado extender, tal vez para siempre, su manera de vivir, sus instituciones jurídicas y su mentalidad nacional fuera del continente europeo (ebd.: 233)." Trotz aller gedrechselten Formulierungen, kulturhistorischen Illusionen und gewagten Vergleiche nimmt die "Säkularisierung" der Hispanidad ihren Lauf. In einem bemerkenswert nüchternen Essay über "Los orígenes de la hispanidad en el siglo XIX" zielt Jaime Delgado (88: 77) auf einen besonders neuralgischen Punkt des hispanistischen Katechismus, wenn er diesem nämlich ziemlich profane Entstehungsmotive attestiert: "(...) los políticos españoles de los años 1834 y 1835 trataban de reanudar el diálogo con los Estados hispanoamericanos solamente desde el punto de vista comercial, y con este criterio básico se emprendieron las negociaciones." Nur zehn bis zwölf Jahre zuvor, als die Falange noch das Interpretationsmonopol besaß, hätte dieser Satz vermutlich zur sofortigen Exkommunikation aus der Hispanidad-Gemeinde geführt. Mittlerweile stellte er jedoch - trotz aller Brisanz, die eine solche "Profanisierung" für die traditionalistischen hardliner besaß - lediglich eine Art Modernisierung des Überbaus dar, die im Unterbau längst stattgefunden hatte. Neu ist auch, daß sich der ideologische Ikonokiast auf ausländische Hispanidad-Forscher - namentlich auf van Aken (ebd.: 82) beruft, die bis dato nie erwähnt worden waren. Van Aken, so Delgado (ebd.: 81), habe die "spirituelle" Ausrichtung der Hispanidad zwar nicht bestritten, sie allerdings, nachdem sich die ökonomischen Ambitionen als Illusion erwiesen hatten, zu Recht als zweite Wahl interpretiert. Als ebensolche erschien sie auch den frankistischen Modernisierern. Delgados Geschichtsrevision war daher ein Wink mit dem historischen Zaunpfahl und wurde von anderen Autoren sofort sekundiert. Die "cosmovisión mundial" des Ost-West-Konflikts und die "ambiciones de dominación comercial" der beiden Superblöcke zwinge auch "los países afines", lautet die Konklusion eines Beitrags über "México y la comunidad económica iberoamericana" (93: 405), "a estrechar sus lazos y ampliarlos en cuanto sea posible para constituir conglomerados económicos que puedan resistir mejor a los embates de las 'ententes' económicas". Die Karten wurden folglich neu gemischt: Der Dreh- und Angelpunkt der falangisti-

164 sehen Hispanidad, etwa in der Lesart Garcia Morentes - ein katholischer Spiritualismus - , verliert seinen Spitzenplatz an die Ökonomie; in der Hispanidad-Deñnition obigen Autors taucht er sogar überhaupt nicht mehr auf. Die transatlantischen "Affinitäten", die eine ökonomische Kooperation nahelegen, beschränken sich nunmehr (ebd.: 408) auf die "lazos con quienes mejor nos podrán entender, en razón de origen, de lengua y de peculiar manera de ser". Eine bescheidene Palette vermeintlicher oder realer - Gemeinsamkeiten im Vergleich zu früheren Jahren! Das erneut erwachte Interesse an wirtschaftlichen Beziehungen mit den Exkolonien schien zugleich den Blick dafür zu schärfen, daß es auch um die institutionellen (kulturellen) Beziehungen, was die genuinen Hispanidad-Organismen betraf, nicht zum Besten bestellt war. Der kulturelle Austausch zwischen den "pueblos hispánicos", so ein Autor (85: 90), lasse zu wünschen übrig; das gelte auch und gerade für das ICH: "En este sentido casi puede afirmarse", lautet das schonungslose Urteil, "que el Instituto de Cultura Hispánica está trabajando, desde Madrid, completamente solo." Bei soviel Pragmatismus und selbstkritischer Verve nimmt es nicht wunder, daß auch die einstige "Plaza Mayor de la Hispanidad", daß das (freilich nicht mehr so bezeichnete) Zentrum der ersehnten "Comunidad de Naciones" selbst ins Fadenkreuz der Kritik gerät: "España sigue siendo un problema", mischt sich etwa Antonio Tovar mit einem Essay über "El enigma de España" (95: 229) in die Kontroverse zwischen Américo Castro, Claudio Sánchez-Albornoz u.a. ein. Im Unterschied zu den "perezosos mentales" (ebd.), die das idyllische Bild eines Spanien "sin problema" malten, listet Tovar (ebd.) gleich eine ganze Reihe von Problemen auf: "... su pobreza, su imperfección como estado moderno, la deficiente explotación de su suelo y (...) las cualidades de sus hijos." Ganz im Zeichen des neoliberalen take o f f , der sich bereits in statu nascendi befindet, schlägt sich der Autor, wiewohl mit einigen Einschränkungen, auf die Seite von Sánchez Albornoz, weil dieser "el primer historiador" (ebd.: 231) sei, "que hace historia económica y social de nuestro medievo" 6 . Die pragmatisch-ökonomische Wende der Hispanidad-Dzñnitionen (und ihre parallel verlaufende kulturelle "Abrüstung") der Cuadernos Hispanoamericanos war darüber hinaus von einem gewissen laissez faire gegenüber konkurrierenden "interpretaciones no hispánicas de la cultura americana" begleitet, wie es in "Una introducción a la Historia de América" (104: 240) heißt. Unter Anerkennung eines

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Mit folgender Einschätzung (ebd.: 232) gibt Tovar allerdings zu erkennen, daß er von der nationalen Geschichte nicht sonderlich viel versteht: "Castro señalaba a los judíos como sostenedores, con los moros, de una realidad económica, pero Sánchez Albornoz, mejor informado, nos enseña que los judíos fueron aún menos capaces que los cristanos de crear una industria suficiente."

165 "continente-crisol, generador de lo que Vasconcelos designa como 'la raza cósmica'", wird den Konzepten des "cosmopolitismo, panamericanismo, latinoamericanismo e indigenismo, de respectivos signos 'englobador', anglosajón, latino y precolombino" (ebd.: 240) nicht mehr länger a priori jedwede Existenzberechtigung abgesprochen, wenn auch unter der Prämisse (ebd.: 241) eines "elemento hispano como constituto esencial de la cultura americana" Gleichzeitig konstatiert der Autor - nicht ganz zu Unrecht - unter Berufung auf Jaime Delgado: "A su vez, la actitud hispánica propiamente dicha ha avanzado notablemente y ha comenzado a desprenderse de su vieja actitud rutinaria y retórica." Schließlich wird die spanische Europa-Zugehörigkeit häufig und nachdrücklich betont. In seinen Betrachtungen über "Lo español y lo europeo en América" spricht Vicente Palacio Atard 1964 (174: 485) von einem '"giro copernicano' en la interpretación de las relaciones de lo español, lo europeo y América". Und wie sich bereits in den fünfziger Jahren abzuzeichnen begann, hatte dieser die alte "oposición antitética de lo español y lo europeo" zugunsten einer "consideración de su valor complementario" überwunden, zumindest verbal. Der Autor räumt ein (ebd.: 486), daß Spanien "ciertamente, en el exilio del mundo moderno" gelebt habe, ein Exil, "que nos ha costado caro" und benennt unter Berufung auf Ramiro de Maeztu die "komplementäre" Offerte seines Landes: den kulturhistorischen Ladenhüter einer "reserva del género humano". Immerhin setzt sich der Autor, was Amerika, das dritte Element der "kopemikanischen Wende" angeht, mit dem historischen Erbe der Hispanidad vergleichsweise kritisch auseinander und beteuert (ebd.: 478), daß "este tema no es ya para los españoles un motivo nostálgico de las grandes sidas y acabadas (...) No se trata - claro está - a la altura de nuestro tiempo de hacer historia hispanizante". Das panhispanistische Chamäleon hatte seine Farbe abermals gewechselt; aufgrund der ökonomisch-gesellschaftlichen "Modernisierung", die in den sechziger Jahren bereits auf vollen Touren lief, diesmal definitiv, wie es schien. Übrig blieb "lediglich" das "Problem" der Politik. Die anachronistischen Strukturen des frankistischen Regimes, so sahen es zumindest die einflußreichsten Fraktionen der neu entstandenen Wirtschaftsbourgeoisie (Höhne 1977: 650), erwiesen sich zunehmend als Hemmschuh; eine Liberalisierung der politisch-administrativen Strukturen erschien daher nur eine Frage der (kurzen) Zeit zu sein. So sah es offensichtlich auch Außenminister Martin Artajo, dessen umfangreiches "Retrato sumario de España", eine 1965 gehaltene Rede im nordamerikanischen "Fliegerhorst Service Club" in Langendiebach, die die CH 1966 publizierte. Dort räumt Artajo ein (193: 102), wenn auch nur in Form interpretationsbedürftiger Andeutungen, daß "el talento de mi pueblo para organizarse políticamente durante los dos últimos siglos", alles in allem nur ein "resultado discutible" erbracht habe und fügt sibyllinisch hinzu: "Pero

166 todo esto también parece estar cambiando en la España actual." Ansonsten bekräftigt der Außenminister aufs neue die Europazugehörigkeit (ebd.: 96) seines Landes ("España 'pertenece' a Europa, por supuesto."), beschwört (ebd.: 104) "esta reciente y creciente occidentalización de mi país" und lobt die spanischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik, die ("esto, por lo menos, es lo que me han dicho a mí los patronos alemanes") sich als besonders arbeitsam erwiesen hätten. All dies beweise, daß das alte Spanien nicht mehr existiere 7 . Mit diesem geht Artajo auf bis dato ungewöhnlich kritische Weise - partiell - ins Gericht: "El genio español" (ebd.: 102) habe sich in der Vergangenheit leider überwiegend auf "la producción (...) de cultura" reduziert; sein flagranter Mangel "de todo sentido económico" ("De esta regla general habría que excluir, sin embargo, al pueblo vasco y al pueblo catalán") sei dem Land teuer zu stehen gekommen, "cuando se quedó sin su imperio y con un retraso industrial doloroso". Die amerikanische "empresa" findet denn auch überraschenderweise nur beiläufig und eher negativ, als wesentlicher Verursachungsfaktor der Dekadenz, eine knappe Erwähnung. Statt dessen scheint sich der Außenminister als gelehriger Schüler Américo Castros zu erweisen, wenn er - freilich nicht ohne politische Hintergedanken - eine Lanze für die islamischen Kulturtraditionen bricht und damit implizit der These Ganivets Rechnung trägt, derzufolge die koloniale Zukunft Spaniens in Afrika liege: "Esta constante oriental", revidiert er (ebd.: 99) den • antiislamischen Exorzismus in der nationalen Geschichtsschreibung und Literatur, der erst in jenen Jahren allmählich sein Ende erreichte (Rehrmann 1993), "es otra de las notas más originales del pensamiento y la manera de ser de mi pueblo. Ya se ha hecho notar la curiosa paradoja de que el país geográficamente más occidental de Europa sea, psicológicamente, el más oriental." Die plötzliche AfrikaBegeisterung des Chefs des Außenportefeuilles, die selbst der akkusatorischen Hauptkonstante der europäischen Leyenda Negra noch eine positive Wendung abgewinnt ("¿podría ser que un día, efectivamente, Africa empezase en los Pirineos?",

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Daß dieses "liberale" Credo keineswegs von allen Mitgliedern der frankistischen "Familie" geteilt wurde, wie auch der politisch intransigente Kurs des Spätfrankismus unter Beweis stellte, illustriert etwa ein Beitrag über "Sancho o la exaltación del pueblo español" von 1964, in dem der Autor, offensichtlich dem ideologischen Bunker zugehörig, unter Berufung auf den Quijote ein Hohelied auf den organischen Staat intoniert. Das "Scheitern" Sancho Panzas als Inselregent sei der Tatsache geschuldet, daß ihn sein "Amo" nicht im Kriegshandwerk unterrichtet habe, einem Handwerk, das sui generis den geborenen Führerpersönlichkeiten vorbehalten sei: "Así, pues", so der Parforce-Ritt in die Gegenwart (174: 580), "la lección final del Quijote parece ser la de que el gran pueblo de España puede realizar las más difíciles y gloriosas empresas, si a su cabeza tiene un conductor que sepa aprovechar para el bien ese singular material de su nobleza y valentía." Und wer diese "verschlüsselte" Botschaft nicht verstanden haben sollte, den klärt der Autor in realistischer Diktion (ebd.) darüber auf, daß "un gran jefe (...) de España le (dem "pueblo", N.R.) está enseñando que la Gloria ha vuelto a hacer suyos los estandartes de Granada, de Lepanto y de América."

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ebd.: 99), zielt allerdings, und dies wohl in erster Linie, auf die Sicherung der kolonialen Interessen seines Landes: Wie Spanien zu Europa gehöre, lautet (ebd.: 97) sein kulturhistorisches Junktim, so gehöre "y, sin duda, el Sahara español y los territorios ecuatoriales españoles" zu Spanien - "hasta un punto que el futuro determinará". Und die Zukunft, daran läßt Artajo keinen Zweifel, hat ihr außenpolitisches und kulturelles Zentrum in Europa. Um dies erneut zu bekräftigen, listet er (ebd.: 104f.) am Ende seines Vortrages, der die kulturellen Weichen definitiv in eine neue Richtung stellt, die vier Hauptattribute des "neuen" Spanien auf: 1. Wertschätzung der Ökonomie, der professionellen Arbeit und der Produktionsorganisation ("El español ha aprendido lo que vale el dinero y se ha propuesto conseguirlo, y lo conseguirá."). 2. Wertschätzung der angewandten Wissenschaften und der Technik (" ... tal vez por primera vez en la historia, el español va teniendo verdadera voluntad de civilización."). 3. Wille zur Integration in Europa ("... con cambio o sin cambio inmediato de sus estructuras políticas."). 4. Liberalismuscredo ("... un viraje rotundo del español hacia el liberalismo."). Diese Neubestimmung der Hispanidad, ein knappes Jahrzehnt vor dem Ende des Frankismus, besitzt im Vergleich zu den vierziger und fünfziger Jahren in der Tat das Ausmaß einer kopernikanischen Wende. Statt den verblaßten Glorienschein der "empresa americana" durch illusorische Prätentionen wiederzubeleben, präsentiert sich die amerikalastige Hispanidad nunmehr im europäischen Gewände - mit arabischem Dekor. Der Traum einer transatlantischen "Comunidad de Naciones" war damit zwar noch längst nicht ausgeträumt, diente aber mehr denn je als kulturhistorisches Ornament rhetorischer Exerzitien und zeremoniöser Banketts. Gleichzeitig fällt auf - und hier scheinen die Anfänge der "modernisierten" Hispanidad-Versionen nach 1975 zu liegen (vgl. Rehrmann 1989) - , daß das kulturhistorische Monopol, wie es die HispanidadStrategen knapp 150 Jahre in unterschiedlichen Versionen beanspruchten, sukzessive aufgegeben wird - und das in verschiedenen Bereichen. So beruft sich etwa eine Autorin (262: 115) auf den frühen Hispanidad-Theoretiker Rafael María de Labra, wenn sie die hier und da noch immer bestehende Superioritätsattitüde der einstigen "Madre Patria" gegenüber den Exkolonien kritisch bewertet und in diesem Zusammenhang Labra zitiert, der zahlreichen Zeitgenossen - "con evidente actitud crítica" - vorgehalten hatte: "(...) no podían prescindir de interpretar la igualdad nacional, consignando siempre la superioridad de la Península." Die partielle - Neubestimmung der Hispanidad-Elemente implizierte zugleich "El cambio de mentalidad sobre la emancipación hispanoamericana", so der Titel eines Beitrags über die politische Zäsur im frühen 19. Jahrhundert, die nunmehr (263-

168 264: 458) als "el renacimiento de la hermandad entre nuestros pueblos" firmiert. Zum einen deshalb, wie sich als Tenor aus den einschlägigen Beiträgen herausfiltern läßt, weil die Unabhängigkeit die Geburtsstunde der Hispanidad

markierte;

zum anderen, weil sie schließlich "das Werk von Spaniern" gewesen sei: "La nativa constancia española", benennt der Autor (ebd.: 455f.) Andrés Bello als Kronzeugen der häufig vertretenen These, "se ha estrechado contra si misma en la ingénita constancia de los hijos de España." Das Ergebnis dieser auf Umwegen betriebenen Rehispanisierung eines weitaus komplexeren historischen Ereignisses fällt daher eindeutig (ebd.) aus: "¿Puede entonces resultar extraño ese impulso subyacente que tiende a una inteligencia en común de la fraternidad hispánica de naciones?"** Eine Teilrevision, wiewohl erkennbar moderat, erfährt schließlich auch einer der exponiertesten Ideologen der frankistischen Hispanidad-Version: Ramiro de Maeztu. In der Besprechung "Un olvidado ciclo de conferencias de Maeztu en 1902" gelangt der Rezensent (291: 526) immerhin zu der Einsicht: "(...) es fácil percibir (in diesen conferencias, N.R. ) vaguedades, desajustes y hasta a veces como baches y lagunas." Etwa Maeztus Darwin-These: "La vida como lucha". die der Rezensent als "reflexiones (...) muy discutibles " (ebd.: 503) bezeichnet oder die rassistische Formel des "predominio de las razas", die als "absurda hipótesis de la superioridad de unas razas sobre otras" (ebd.: 489) erkannt wird, wenn auch mit der nicht minder absurden Fußnote: "El Maeztu teórico de la Hispanidad será radicalmente antirracista." Wir können resümieren: In den allgemeinen Hispanidad-Definitionen peninsularer C//-Autoren läßt sich eine deutliche Gewichtsverlagerung von katholisch-spirituellen hin zu säkularisiert-pragmatischen Varianten konstatieren, die zudem mit einer drastischen Veränderung des traditionellen "Mischungsverhältnisses" der Hispanidad-Elemente einhergeht. Der neue Aszendent, der Lateinamerika eindeutig in den Schatten stellt, heißt Europa. Die damit verbundene Umdeutung "Modernisierung" - des alten casticismo-Arsenals als eine Art humanistischer Frischzellenkur für den europäischen (und nordamerikanischen) Kapitalismus, hält

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Diese Interpretation der Independencia, die im obigen Beispiel (ebd.: 457) gar als "el gesto español", als Wunsch "ser partícipe en la alegría con los vencedores" (sie) figuriert, bildet von wenigen Ausnahmen gegen Ende des Untersuchungszeitraumes abgesehen - , vgl. etwa die relativ kritische Bewertung "El colonialismo en la crisis del XIX español", (215: 450 ff.) - eine Konstante bei der Behandlung des Themas: "Al siglo y medio del desgarramiento de la independencia americana", heißt es zum Beispiel (78 - 79: 294), "esta España siente el gozo inefable de fecundidad de su parto magnífico: veinte naciones nacidas de ella, con las características raciales de ella, con la fisonomía de ella, con el espíritu de ella, con la lengua de ella ..." oder (68 - 69: 241): "La independencia no fue otra cosa sino la realización de un pensamiento, del pensamiento español del siglo de oro y de los grandes humanistas (...) el horizonte de su significación es una unidad: la inquebrantable e innegable del espíritu hispánico."

169 zwar, zumindest verbal, an der "Comunidad de Naciones" fest, mißt ihr aber in praxi

nur eine marginale Bedeutung bei. Was sich realpolitisch am Ende der

"Blockade"-Phase bereits unübersehbar abzuzeichnen begann, hatte damit als zeitverschobenes Echo die Seiten des publizistischen Flaggschiffs des peninsularen Panhispanismus definitiv erreicht.

1.2 Lateinamerikanische Autoren Die lateinamerikanischen Autoren, denen die Redaktion Gelegenheit gab, ihre Anschauungen über die Hispanidad zum Besten zu geben, kennzeichnet zunächst eine prononciert "españolistische" Verve, deren blumig-geschwollener Stil dem peninsularen Pendant in nichts nachsteht, diesen hier und da sogar noch übertrifft. Im Unterschied zur Mehrheit der spanischen Autoren setzt die Kritik der Vergangenheits- und "unidad"-Rhetorik allerdings erheblich früher ein, ca. vier bis fünf Jahre; gleiches gilt für die praktische Hispanidad, die von lateinamerikanischen Autoren deutlich früher angemahnt wird. Diese sich wohl aus dem eigenen Kontext - was vor allem die Misere großer Bevölkerungsteile und die politischen Oppositionsbewegungen betrifft - ergebende "Ungeduld" dürfte die frankistischen Modernisierer sicherlich zusätzlich ermutigt haben, einige hispanistische Zöpfe abzuschneiden. So macht etwa der Nikaraguaner José Coronel Urtecho (47: 176) vor den "tres hechos obvios ya señalados: que nuestra religión común es la católica, que nuestra lengua general es la española, que nuestra cultura colectiva es la cultura hispánica" seinen obligatorischen Kotau; in seinen Betrachtungen über "ambas Américas" läßt er allerdings keinen Zweifel daran (ebd.: 180f.), daß die zahlreichen "virtudes norteamericanas - en el plano cívico, material y económico, donde la libertad, la independencia, la tolerancia ... hace deseable la convivencia - han de ser imitadas por nuestros líderes populares hispanoamericanos y por sus pueblos (...)". Im folgenden Jahr - 1954 - wird der Argentinier Mario Amadeo noch deutlicher, wenn er (53: 132) das Bekenntnis zur "unidad de fe, unidad de idioma, unidad de cultura, unidad de origen" als typische "evocación ritual", "tópicos de nuestros encuentros" und als "hispanismo de juegos florales" kritisiert. Ohne diese Grundelemente der Hispanidad in Frage zu stellen - wenngleich mit einer deutlichen Warnung (ebd.: 137) vor "imposiciones hegemónicas" - , optiert er für ein praktisches "Programa de Acción Común", das unter anderem (ebd.: 138f.) enthält: "el otorgamiento de ciertos derechos de nacionalidad a los ciudadanos hispanoamericanos"; "el establecimiento de una cooperación material"; "la erección de tribunales arbitrales"; "el enérgico encrecimiento de nuestro intercambio cultural" sowie "la reconstitución de saludables corrientes ¡migratorias". All dies, nebst einer "distribución

170 equitativa de la riqueza" in den lateinamerikanischen Ländern, sei dringend geboten, wenn man verhindern wolle (ebd.: 140), daß sich die "Comunidad Hispánica de Naciones" demnächst in "Repúblicas Socialistas Soviéticas de Indoamérica" verwandele. Wenngleich die hispanistische Verve lateinamerikanischer Autoren diejenige ihrer peninsularen Vorbilder in den folgenden Jahren auch gelegentlich noch übertraf 9 , so überwogen doch insgesamt jene Stimmen, die, wie Ivan R. Sepich (97: 74) die prätentiösen Luftschlösser der Vergangenheit als "mito" deklarierten und die Frage: "¿qué le ha faltado a nuestra empresa para que sea lo que su ideal le exigía?", vergleichsweise nüchtern beantworten (ebd.: 78): "El que encara su empresa desde el futuro, ama menos los programas y más las realizaciones fundamentales. En lugar de 'adornos', cimientos; en lugar de 'palabras' hechos; en lugar de 'expresiones' conducta."

2. "Grenzenlose Interpretationen": die präkolumbinen Kulturen, Entdeckung und Eroberung 2.1 Amerika vor 1492 Die Ansicht Sigfrido Radaellis, die dieser 1955 unter der Überschrift "La Historia y la realidad" (65: 231) den Lesern der CH offerierte, kann als paradigmatisches Leitmotiv für den relativen "Pluralismus" verstanden werden, der den Texten mit genuin lateinamerikanischer Thematik, der historischen zumal, redaktionellerseits augenscheinlich zugrunde lag: "(...) la historia es interpretación (...) y para la interpretación no hay límites (...)". In der Tat: Das buntscheckige Kaleidoskop unterschiedlichster und widersprüchlichster Interpretationen, das im Laufe der Jahre zwar Veränderungen erkennen läßt - hin zu mehr kritischen und differenzierten Argumentationsmustern - , bietet offensichtlich Raum für krudesten Ethnozentrismus und überraschend sachliche Versuche, den spezifischen Besonderheiten des jeweils behandelten historischen Gegenstandes zumindest halbwegs gerecht zu werden. So steht etwa, was die Beurteilung der präkolumbinen Kulturen betrifft ein Thema, das in der einen oder anderen Façon über den gesamten Untersuchungs-

9

"Dios, España en la ternura, España en la grandeza, España en la fecundidad de un solo idioma... (...). Si esto no es un prodigio", so z.B. der Wortschwall eines mexikanischen académico (78-79: 468), "lo parece. Sea loado Dios por ello." Und noch 1969 (229: 378) äußerte ein argentinischer Hispanidad-Apologet die Überzeugung, daß man kein Prophet sein müsse, um dieser - der "comunidad de la lengua y la cultura" - eine glänzende Zukunft zu prognostizieren, "que se extiende desde España hasta América y hasta las Filipinas".

171 Zeitraum hinweg präsent ist die absurde Ansicht eines Autors aus dem Jahre 1978 (247: 148): "Una tierra ignota, a la cual faltaba sólo ser cristiana", die Kritik eines Autors von 1954 (55: 139) gegenüber, der im Zusammenhang seiner "Interpretación de la historia sudamericana" beklagt, daß die historische Forschung zumeist "desde un punto de vista nacionalista" erfolge und der es als tröstlich empfindet, daß vereinzelte Autoren diese Optik vermeiden. Zur ersten Gruppe zählt z.B. Carlos Alonso del Real, der sich 1957 (91-92: 166ff.) über "el inaguantable tema del indio y de lo indio" ausläßt und zu Beginn seines ethnozentristischen Elaborats bekennt: "Resulta que había gente." Nicht sonderlich viele, allenfalls - "de Alaska al cabo de Hornos" - so viele, wie die Einwohner von New York und Buenos Aires zusammen. Diese gehörten nicht einmal "a una misma raza" und sprachen obendrein unzählige "lenguas de filiación insegura", wodurch "el caos" noch größer gewesen sei. Und über die materielle Kultur (u.a. Anbaumethoden und Bewässerungssysteme), äußert sich der Autor in der Pose herablassender Superiorität: "Porque, naturalemente, los rusos exageran la importancia de esto, pero existe y es importante." Nach einem ideologischen Abstecher zu den "rasgos involuntariamente incaicos de la URSS" räumt der Autor immerhin ein, daß es neben "pueblos del más bajo nivel" und demzufolge "sin gran valor" auch solche gegeben habe, die sich bei Ankunft der Spanier "en pleno vigor" befunden hätten. Daß diese, etwa der Popol-Vuh, im Unterschied zu drittklassigen französischen Komödienschreibern, in den Schulen kaum Erwähnung fänden, empfindet der Autor sogar als "vergonzoso". Alles andere, unter Einschluß der Kunst, fällt dagegen seinem gnadenlosen Verdikt zum Opfer: "(...) repito que no interesa lo de antes (vor der Conquista, N.R.) - muy pobre, casi nulo." Eine Spur differenzierter, nicht zuletzt im Vergleich zu Hegel (dessen Position kritisch kommentiert wird), liest sich Jaime Delgados Betrachtung über "La periodización de la historia de América" aus demselben Jahr (93: 387), in der den präkolumbinen Kulturen - "algunos de ellos, por lo menos" - immerhin konzediert wird, sich in einer "vida his-tórica" befunden zu haben, "cuando el elemento hispano apareció en su horizonte". Alles andere als selbstverständlich ist zudem die Tatsache, daß der Autor von einem "choque hispano-indio" spricht, wenn er sich auf das bezieht, was noch 1992 unter der euphemistischen Bezeichnung "Encuentro de dos Mundos" firmierte. Das Gros der Beiträge, zumindest bis Ende der sechziger Jahre, stellt dagegen die Prämisse, daß es sich bei den frühen amerikanischen Kulturen um "culturas de rango inferior" (1974: 487) gehandelt hätte, mitnichten in Frage - nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den "barbarisch-grausamen" Charakter einiger Kulturen, vor allem der aztekischen. Um so überraschender ist deshalb die Feststellung, daß man vereinzelt auch solche Beiträge ins Blatt nimmt, die eine betont kulturrelativistische

172 Perspektive einnehmen und die "Andersartigkeit" der amerikanischen Frühkulturen herausstellen. So setzt sich Angel Alvarez de Miranda bereits 1955 kritisch mit der umstrittenen Praxis der sakralen Menschenopfer bei den Azteken auseinander: "Se dice", relativiert er die bekannten Vorwürfe, die Azteken wären grausame Menschenfresser gewesen, bezeichnet den angeblichen Kannibalismus als "antropofagia ritual" und verweist mehrfach auf die "índole peculiar" der aztekischen Kultur, insbesondere auf ihren "sentido profundamente religioso" (ebd.: 175), der es u.a. verbiete, die Menschenopfer umstandslos als "un mero acto de despotismo" zu bezeichnen. Auch die immer wieder kolportierte Ansicht, die Azteken hätten ihre Opfer genüßlich verspeist, relativiert der Autor unter Hinweis auf den religiösen Charakter ("religión naturalista") dieser Rituale, die im übrigen nicht Ernährungszwecken dienten: "(...) se servía, junto a otros alimentos habituales, una pequeña parte de la víctima humana." Im Chor der Eurozentristen, die in der spanischen Eroberung Amerikas nicht selten die Strafe Gottes für die heidnischen Grausamkeiten der Azteken und anderer "Kannibalen" sahen'", blieb der zitierte Autor freilich nur eine wenn auch bemerkenswerte - Solostimme.

2.2 Entdeckung

und Eroberung: allgemeine Bewertungen

Eine allmähliche Entideologisierung bzw. Enthispanisierung - wiewohl ausgesprochen langsam und durch zahlreiche "Regressionen" markiert - kennzeichnet auch die numerisch stark vertretenen Texte über die historischen Ereignisse in der Folge von 1492. Am Beispiel des Entdeckers nehmen die Entwicklungslinien bereits deutliche Konturen an. Mitte der fünfziger Jahre (80: 66ff.) figuriert Kolumbus - "Ni español, ni lusitano ..." - noch gänzlich ohne Blessuren als "ruiseñor/cantando la Hispanidad". Ist die Aureole des "humilde hijo de Italia" (75: 272) noch intakt, so scheint die Herkunftsfrage, die heftigste Kontroversen heraufbeschworen hatte, inzwischen immerhin geklärt zu sein, wenn auch wohl schweren Herzens. Der Lorbeer der Entdeckung - die historischen Tatsachen zwingen zum Kompromiß - beansprucht Teilung, wenn auch nicht ganz zu gleichen Hälften: "... un hombre que llevaba la Italia en sus venas y la España en su corazón" (75: 273). Bei diesen "lyrischen" Beschreibungen des Entdeckers konnte es kaum bleiben. Wenngleich die Heldendemontage auch nie so rigoros betrieben wurde wie in Lateinamerika oder diesseits

10 Vgl. meinen Aufsatz: "Geschichte als nationale E r b a u u n g ? E n t d e c k u n g und Eroberung Lateinamerikas im W e r k von Salvador de Madariaga", Acta C o l u m b i n a , Kassel: Edition Reichenberger 1990, S. 5-32.

173

der Pyrenäen", so erlebte die Gestalt des Kolumbus bis gegen Ende des Untersuchungszeitraums doch eine relativ starke Metamorphose. In einem Aufsatz von 1972 über "Américo Vespuceo y Tomás Moro en los orígenes de la ciencia moderna" situiert Ignacio Sotelo (263-264: 357f.) den Genueser Seefahrer in den politischen, ökonomischen und technischen Kontext des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, betont die zuvor meistens verschwiegene Tatsache, daß "los viajes de Colón tienen una finalidad mercantil" und lehnt den Begriff "Entdeckung" aus zwei Gründen ab: "(...) por un lado, se olvida el hecho esencial de que murió (Kolumbus, N.R.) empeñado en que había llegado a las Indias (...) segundo, se supone que América ha existido siempre, en espera de su descubrimiento." Unter Berufung auf den mexikanischen Autor O'Gorman hält es Sotelo dagegen für angemessen, von einer "invención" Amerikas zu sprechen. Todorovs Bemerkung (1985: 65), Kolumbus habe zwar Amerika entdeckt, nicht aber die Amerikaner, kommt dieser Einsicht ziemlich nahe. Jedenfalls steht sie in deutlichem Kontrast zu der 15 Jahre zuvor formulierten Auffassung (93: 396), derzufolge die Ankunft von Kolumbus deshalb ein "hecho excepcional" gewesen wäre, weil dadurch "un tipo de hombres - los indígenas - asuma una forma de existencia que va a 'humanizarles' más", während etwa die Chinesen weiterhin in ihren "murallas antropológicas" verharrten. Die Bewertungen dessen, was auf Kolumbus folgte, nehmen eine ähnliche Entwicklungsrichtung und münden gar in eine dezidiert antiimperialistische Perspektive. Allein das linguistische Inventar, dessen sich die verschiedenen Autoren dabei bedienen, läßt fast den Eindruck entstehen, daß es sich um zwei verschiedene Zeitschriften handelt. Im Kielwasser der oratorischen Wellen der Vergangenheit intonieren zunächst ganze Scharen von Autoren ihr Hohelied (53: 164) auf die "glorreiche" Geschichte des Landes, "la portentosa obra de colonización realizada por España en tierras de América". Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern jener Zeit, die lediglich materielle und machtpolitische Ziele verfolgt hätten, habe die spanische Eroberung Amerikas ganz im Zeichen einer "acción heroica", eines "heroísmo incomparable de los conquistadores" und "ímpetu abnegado de los evangelizadores" gestanden, die im übrigen, wenn auch nur "en lo posible" (ebd.: 163), die präkolumbine Welt respektiert hätten. Kritische Töne, und seien sie noch so verhalten, erschienen der Redaktion augenscheinlich nur wenig opportun. Das Blatt avancierte zum Exerzierfeld blumigster Wortakrobaten, die geschichtlichen Ereignisse von 1492 wurden einmal mehr zum Unterpfand spanischer "grandeza": "No hace cinco siglos". Eine Eloge von 1955 (75: 272) liest sich folgendermaßen:

11 Vgl. zum Kolumbusbild in der deutschen Literatur und Geschichtsschreibung meinen gleichnamigen Aufsatz in: Wolfgang Greive (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Die andere Entdeckung Amerikas, Rehburg-Loccum: Loccumer Protokolle 1993, S. 213-240.

174 que una porción de tierra ignorada mecíase apacible al dulce arrullo de las olas. Dos océanos, custodias fieles de la riqueza y virginidad del continente, golpeaban sus costas en el silencio de las noches como en el murmullo de los amaneceres. Die den Kontinent umgebende "cortina de niebla", die "hilos de la ignorancia" und die "desnudez" ihrer Bewohner: die Welt im Urzustand - sie wurde nun von einem "emporio de soñadores, ávidos de aventura" der Zivilisation inkorporiert, "desflorando la inmensidad del planeta". Der Reichtum an Metaphern, über den der Autor verfügt, ist schier grenzenlos: "Fueron el Atlántico y el Mediterráneo los órganos viriles, bajo cuyos conductos se chorreaba la savia europea con deseos de procreación asombrosa." Der imposante Fluß lyrisierender Reize, pathetisch aufgeladene Ergriffenheit, Gefühls- und Effektkumulation als eine Art "geistiger Brunstschrei", allesamt Elemente, wie sie etwa Walter Killy (1962: l l f . ) als Grundzüge pseudoliterarischen Kitsches ermittelt hat, erleben in den fünfziger Jahren, wie das zitierte Beispiel zeigt, ihren Zenit. Im folgenden Dezennium geht der pompöse Wortschwall indessen erkennbar zurück. In relativ nüchternen Betrachtungen scheint sich allmählich die Devise eines Autors von 1965 (189: 404) durchzusetzen: "(...) pues es evidente que el conocer científicamente el pasado es una condición previa para poder comprenderlo sin prejuicios ideológicos." Der Pragmatismus in ökonomischen Fragen, wie ihn die "wonder boys" (Témime) des Opus Dei verkörperten, hat die akademischen Kreise in Gestalt des Neopositivismus 1 2 offensichtlich erreicht. Obgleich der Autor zentrale ethnozentristische Prämissen und (neo)kolonialistische Strukturen keineswegs von Grund auf in Frage stellt, dürften seine betont sachliche Diktion und einige kritische Bemerkungen von den "Lyrikern" unter den Panhispanisten doch als dem Gegenstand zutiefst unangemessen empfunden worden sein, etwa die Interpretation (ebd.: 409) des "encuentro" als "enfrentamiento entre pueblos de distintas culturas". Die Bezeichnung zahlreicher Konquistadorengruppen als "bandas", die "reflejan su forma más primitiva", mag manchem Leser der Zeitschrift gar als Hochverrat an den Idealen des Panhispanismus erschienen sein. Dies um so mehr, wenn es ein Autor gar wagte (204: 530), die zuvor in der Regel als "empresa española" verharmloste Eroberung Amerikas als "conquista y destrucción por los españoles 1 zu deklarieren, die, was ihre dramatischen Folgen betrifft, "aún no ha terminado". Die "Entideologisierung", wie sie ein Teil der offensichtlich neopositivistisch geprägten Autoren des Blattes betrieb, blieb jedoch nicht völlig unwidersprochen. Hier und da brachten sich auch noch traditionalistische Geschichtsinterpretationen

12 Vgl. Díaz (1974: 142f.): "Por lo que a la España de esos años ( A n f a n g der sechziger Jahre. N.R.) se refiere, creo puede decirse q u e la aplicación entre nosotros de los e s q u e m a s neopositivistas (...) iba a producir, por de pronto, una fuerte crítica al ideologismo desbordante y delirante."

175

in Erinnerung (175-176: 77), wenn auch mit deutlich abnehmender Tendenz. Sie sahen in der Eroberung Amerikas "un heroísmo que se cumple en la muerte y culmina en la eternidad" am Werke, der durch die weitere "actitud fundamental", nämlich "la fe cristiana" angespornt worden sei. Diese "visión mesiánica de América", so der Autor 1964, in der "la materialización de la luz que Dios les (den indios, N.R.) ha dado" aufscheine, sei der eigentliche Kern der Conquista. Wegen der möglichen Schwierigkeiten, die die Leser mit seinen Gedankengängen haben könnten, fügte er hinzu: "Trataré de explicarme mejor (...). Creo que América ha sido colocada en la Historia para recoger en su seno todos lo sufrimientos de la humanidad y redimirlos mediante su reabsorción en la luz de Dios" (sie). Um auch die letzten Mißverständnisse auszuräumen, "konkretisiert" der Autor seine geschichtsphilosophischen "Visionen" unter Verweis auf Kuba: "El caso de la Cuba de Fidel Castro es sintomático en este sentido. Hay, por supuesto, un elemento de fracaso en esta posición que ahora se ha vuelto 'laica' perdiendo así la primitiva fuerza sobrenatural". Mag man den rhetorischen Exerzitien einer aufs nationale Prestige versessenen Historiographie ob ihrer blumigen Diktion noch einen gewissen Unterhaltungswert abgewinnen, so verschlagen einem die esoterischen Erlösungsvisionen schlicht die Sprache: Dem amerikanischen "Kuriositätenkabinett" (Gewecke) wurde damit immerhin ein weiteres Exponat hinzugefügt. Der durch die Veränderungen im gesellschaftlichen Makrokosmos weitgehend vorgezeichnete Weg von "lyrischen" zu eher "prosaischen" Betrachtungsweisen des historischen Themas wurde jedoch, was die Globalrichtung betrifft, nicht mehr verlassen. Der redaktionelle mainstream kommt etwa in einem umfangreichen Essay von Augustino Leña Juárez über "La conquista de Nueva España y su significado humanista" von 1974 zum Ausdruck. Unter der typischen, im internationalen historischen Vergleich allerdings nicht völlig von der Hand zu weisenden Prämisse, daß "de todos modos, resulta muy cierto que nuestra nación tuvo entonces (1492 ff., N.R.) algo que decir y que ofrecer a los hombres recién descubiertos" (284: 352), relativiert der Autor die ethnozentristischen Stereotypen früherer Jahre zumindest insoweit, als er von "formas de enfrentarse ambas culturas : admiración y antítesis" oder, was der historischen Wirklichkeit näher kommt, von einer "sustitución de una cultura por otra" (ebd.: 360) spricht. Auch Las Casas, dem lange Zeit die gröbsten Schmähungen vorbehalten blieben, wird überwiegend positiv dargestellt (wenn auch mit einem Seitenhieb auf dessen angeblichen "tono mayor"), und die "desaparición de los aborígenes, una de cuyas causas fueron precisamente los españoles", wird immerhin mit einem Anflug von Selbstkritik konstatiert. Betont orthodox geriert sich der Autor - und formuliert damit exemplarisch einen gewissen common sense der Zeitschrift - indessen dann, wenn er unter Berufung auf Gomera die bekannte Palette der gegen die indianischen Kulturen kolporierten Anschuldi-

176 gungen (u.a."'idolatría", "sacrificios de hombres", "comer carne humana", "sodomía y otros grandes y malos pecados") unkommentiert zitiert und den historischen Text in eindeutiger Absicht so bewertet: "El tono encendido del relato brota de una clara conciencia en el autor sobre la grandeza propia de los hechos en cuestión" (ebd.: 357). Die bissige, aber wohl zutreffende Polemik Manuel Vázquez Montalbáns (1988: 16), die Regierung von Felipe González scheue nicht davor zurück, unter Aufbietung absurdester sprachlicher Pirouetten ein "kritisches Epos" (gemeint war der V. Centenario) zu inszenieren, aber eben ein Epos - , diese Kritik trifft auch auf den zitierten Essay zu. Gegenüber dem Versuch, Kritik und Glorie im Schmelztiegel historiographischer Alchimie doch noch miteinander zu harmonisieren und damit das historische "Prestige", mit dem sich der Frankismus drapierte, auch für die sich abzeichnende Nach-Franco-Ära nutzbar zu machen, stellt schließlich ein Beitrag von 1975 einen Gegensatz dar, der schroffer kaum sein könnte. In seinen Betrachtungen über "El anticolonialismo europeo" bezieht Fernando Castillo einen dezidiert antiimperialistischen Standpunkt, der in dem Satz (296: 462) kulminiert: Por último, Europa verá hacer dentro de su propio seno la más moderna y quizá la más importante de los tesis anti-imperialistas: el socialismo anticolonialista que se iniciará con los socialistas utópicos, se desarrollará y consolidará con el propio Marx, y se continuará hasta nuestros días con Lenin y las distintas corrientes del socialismo moderno.

Unabhängig von der Fragwürdigkeit, mit der den zitierten Denkrichtungen eine antikolonialistische Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt wird 1 3 , verblüfft die Tatsache, daß der relative "Pluralismus" der Zeitschrift nun auch um marxistische Versionen erweitert wird, noch dazu in einem Bereich, der bis dato fast als sakrosankt erschien. Dies um so mehr, als sich der Autor nicht aufs Allgemeine beschränkt: die "Conquista española" sieht er (ebd.) "motivada principalmente por la fiebre del oro y encubierta por el velo de la evangelización".

2.3 Eroberungsmotive, Kolonialismusbegriff und Die Conquista

mestizaje

als primär ökonomisch und machtpolitisch motiviertes Unternehmen

- mit dieser Bewertung betritt der Autor, wie bereits am Beispiel der "acción heroica" anklang, ebenfalls interpretatorisches Neuland. Wenngleich dieser Ansatz auch nach dem etwas einseitigen ABC marxistischer Ableitungslogik zumindest im spanischen Fall mit Sicherheit zu kurz greift, so stellt er im Reigen der grotesk idealisierten Motivhierarchie früherer Jahre doch einen bedeutenden Fortschritt dar: 13 Vgl. meinen Aufsatz: "Robinson und Freitag. Kleine tour d'horizon schichte der Neuen Welt", in: Dialektik, 2/1993, S. 117-126.

durch die Kulturge-

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"¿Quién duda", hatte etwa ein Autor in den fünfziger Jahren (80: 127) die Akzente noch erheblich anders gewichtet, "que sólo por altos ideales podía superarse la nostalgia, el cansancio, las dificultades sin cuento, el hambre, las enfermedades, la incertidumbre?" Die Antwort, ein Gómera-Zitat, fällt eindeutig aus: "La causa principal a que venimos a estas partes es por ensalzar y predicar la fe de Cristo, aunque juntamente con ella se nos sigue honra y provecho, que pocas veces caben en un saco." Der Motivsucher aus den fünfziger Jahren erachtet es zwar als unnötig, auf die verschiedenen Motive hinzuweisen, die, wie bereits Gomera anklingen läßt, den Eroberungs- und Kolonisierungsprozeß begleiteten, setzt die Akzente jedoch nur geringfügig anders: hinter einem "afán de honra", einer "ambición de nobleza" und einem "sentido religioso y misional" bleibt für irdische Motive nur wenig Raum: "Por eso mismo faltan a la verdad los que afirman la primacía del ansia de oro como estímulo para la empresa indiana." Trotz ihrer partiellen Richtigkeit ist der apologetische Charakter dieser Behauptung doch offenkundig: Die wenig lauteren Motive werden nur als Negation erwähnt, während die "eigentlichen" Beweggründe durch einen Kumulus von Zitaten aus dem Munde "berufener" Autoren breiteste Erwähnung finden: "Quien conozca los secretos del alma española", bietet er sogar Ortega auf, "dudará siempre y a límite de la interpretación que se dió en Europa a las hazañas de nuestros conquistadores. Sajones y franceses titularon aquella formidable y loca empresa 'la sed de oro'. Yo sospecho que la verdad es más bien inversa." Bei dieser Sicht der Dinge sollte es auch in den sechziger Jahren im Prinzip bleiben. Erst zu Beginn der siebziger Jahre (284: 350) gelangte ein CH- Autor zu der Einsicht: "No es infrecuente aducir, como causa única del afán descubridor, la pretensión de riquezas". Neben den auch von kritischen Untersuchungen benannten "aire de aventura y riesgo de curiosa atracción y fascinante novedad que impulsó las velas y animó los espíritus", werden die "horrores", wie es selbst bei ansonsten linksorientierten Autoren häufig der Fall ist 14 , eher beiläufig abgetan: "(...) horrores los hubo en casi toda conquista." Die Kontroverse um die Motive der "empresa americana", die auf den Seiten der Cuadernos Hispanoamericanos eigentlich erst gegen Ende des Untersuchungszeitraumes zu einer solchen wurde, war mit der Frage, wie der Zeitraum der spanischen Präsenz in der Neuen Welt zu benennen sei, stets aufs engste verknüpft. Wie der Streit um die korrekte Bezeichnung des Kontinents nach 1824 bzw. 1898 den Rahmen semantischer Spitzfindigkeiten weit überschritt, so lagen die kulturhistorischen und damit auch die politischen Implikationen bei der Frage, ob die von Spanien beherrschten Gebiete eine Kolonie waren, immer offen zutage. Bevor, wie das Bei14 Vgl. z.B. den Exkommunisten Ramón Tamames: Una idea de España. Ayer, hoy y Barcelona: Plaza y Janes 1985, S. 33.

mañana,

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spiel des antiimperialistisch argumentierenden Autors von 1975 zeigt, eine allmähliche Begriffsrevision einsetzte, wurde der koloniale Charakter der dreihundertjährigen Herrschaft der spanischen Monarchie in Übersee durchgängig bestritten: "(...) la denominación de 'colonial' para ese período histórico americano es notoriamente impropia", schrieb ein Autor 1957 (93: 398), "y sólo tiene sentido entendiéndola como cargada de significado peyorativo, antihispánico y, más concretamente, antiespañol." Da der Terminus auch von einigen lateinamerikanischen Intellektuellen wie Octavio Paz 1 5 abgelehnt wurde, fiel es spanischerseits um so leichter, das Kolonialismusverdikt als "creación del liberalismo histórico, antiespañol y antihispánico como hijo directo de la reforma protestante y del racionalismo, es decir, de la modernidad europea que España combatió hasta ser vencida" (ebd.) und damit als böswillige Verleumdung der Schwarzen Legende abzutun. Denn schließlich, lautet der Rückgriff (ebd.) auf die zitierten "empresa"-Motive, "España fué a América a fundar iglesia, como dice certeramente Eugenio d'Ors, y a crear cultura." Welche Bezeichnung bietet sich statt dessen an? Der zitierte Autor (ebd.: 399): "Nada más sencillo ... puede llamarse simplemente 'hispano', o 'español' si se trata sóla de la Historia de la América española. Y también podría llamarse, por la forma de gobierno vigente entonces en América, período monárquico." Ein weiterer Eskamoteur (107-108: 271 f.) des spanischen Kolonialismus - "(...) pues para España no hubo nunca colonia" - beruft sich auf den II. Congreso Hispanoamericano de Historia, der 1957 in Santo Domingo stattfand, auf dem die Streichung dieses Terminus' beschlossen wurde - "a propuesta de los representantes de Colombia, si mal no recuerdo". Wenigstens als Kronzeuge einer schlecht kamuflierten Apologetik erwies die "Fünfte Kolonne" des Panhispanismus in Lateinamerika ihre Nützlichkeit, wenn auch der materielle output des weitverzweigten Institutionengeflechts und des Kongreßmarathons ansonsten sehr zu wünschen übrig ließ. Ausländische Historiker, die den spanischen Kolonialismus dennoch als solchen bezeichneten, wurden - wie in der folgenden Rezension eines nordamerikanischen Buches (215: 465), dessen Autor offensichtlich auf Spanisch geschrieben hatte - schlicht verleumdet: "Naturalmente no mencionaríamos este aspecto del libro comentado, si no fuera representativo del espíritu al que la letra quiere servir. Un espíritu por lo general tan confuso c o m o el español usado en ella." Die in den fünfziger und sechziger Jahren dominante Idealisierung der Eroberungsmotive und die Zurückweisung des Kolonialismus-Begriffs können als Pendant einer zunächst nicht weniger verzerrenden Darstellung bekannter Exponenten der Eroberung und Missionierung verstanden werden, insbesondere im Zusammen15 Vgl. meinen Aufsatz: "Eintracht in Zwietracht: Die präkolumbine, nordamerikanische und spanisch-europäische Kultur bei Carlos Fuentes und Octavio Paz", in: Tranvía. Revue der Iberischen Halbinsel, Nr. 29, 6/1993, S. 5.

179 hang mit dem Genozid an der indianischen Bevölkerung. Hier lautet die Prämisse, die praktisch von allen Autoren, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung, akzeptiert wird, daß es einen spezifischen Umgang der spanischen Konquistadoren (und Missionare) mit der amerikanischen Urbevölkerung gegeben habe, der sich von anderen Eroberungsformen, insbesondere der angelsächsischen Variante, positiv unterscheide. Diese an sich richtige These, die im Prinzip auch von kritischen lateinamerikanischen Autoren geteilt wird 1 6 , dient in zahlreichen Beiträgen allerdings der offenkundigen Absicht, statt einer Schwarzen eine Weiße Legende zu fabulieren. Bevölkerungsstatistische Manipulationen, zumindest die hartnäckige Weigerung, internationale Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen bzw. anzuerkennen, übten diesbezüglich auf einige Autoren einen besonders großen Reiz aus. Noch 1966 (201: 705) bezifferte Andrés Sorel die Entwicklung der indianischen Bevölkerung wie folgt: En el año 1570, se calculaba la población indígena en el 98,7 por 100 de la total de América. En 1742, esta población era del 62 por 100. En 1810, un siglo más tarde pues, seguía estacionada en el 60 por 100. Sin embargo, en 1910 había descendido al 11 por 100 en el total de la población del continente. Woher der Autor seine Zahlen bezogen hat, bleibt ein Rätsel. Nach Todorov (1985: 161) hatte sich die indianische Bevölkerung Mitte des 16. Jahrhunderts bereits von 80 Millionen auf 10 Millionen vermindert, was einer Dezimierung, wenn auch infolge verschiedener Ursachen, von ca. 90 Prozent entspricht. Dem CH-Autor geht es jedoch augenscheinlich nicht um historische Authentizität, weshalb er am Ende seiner Zahlenmetaphysik "in gekränktem Ton formuliert: "AI final, parece como si sólo un culpable existiera de esta injusticia: el colonialismo español." Da sich der Autor selbst über die Ursachen der eingeräumten Dezimierung ausschweigt, mögen die Leser der Zeitschrift obendrein versucht gewesen sein, diese mit dem "caracter y temperamento del indio, sobre todo en países tropicales, donde el mismo clima aplatana a los hombres" und "toda clase de excesos y violencias entre si" zu erklären, wie ein wenige Jahre vorher (107-108: 265) publizierter Beitrag suggerierte. Näher an der historischen Wahrheit befand sich dagegen eine Rezension des Jahres 1974 (288: 121f.), die sich mit einem Buch von Nicolás Sánchez-Albornoz über die demographische Entwicklung Lateinamerikas auseinandersetzte. In der Besprechung ist von einer "auténtica hecatombe de la población indígena" und einem "genocidio" die Rede, der, ähnlich wie bei Todorov, auf "matanzas", "desaliento", "duro trabajo" und "grandes epidemias" in der Folge ei-

16 Vgl. meinen Aufsatz: "Heldenepos oder Begegnung zweier Welten? Lateinamerikanische und spanische Stimmen zur 500-Jahr-Feier", in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, 10/1991, S. 962-973.

180 nes "choque violento de dos culturas distintas" zurückgeführt wird. Der ausgesprochen kritische Duktus der Rezension wird lediglich durch den Hinweis relativiert, die von einigen Forschern - ziemlich realistisch - auf 90 bis 112 Millionen bezifferte indigene Bevölkerung am Vorabend der Conquista wäre eine "increíble hipótesis", d.h. viel zu hoch. In diesem Zusammenhang wird in nahezu allen Beiträgen - relativ unabhängig von ihrem teilweise recht kritischen Impetus wie im obigen Beispiel - der vergleichsweise "humane" Umgang mit der indigenen Bevölkerung betont: "Una política de razas no discriminatoria y conducente a la integración", wie es in einem Beitrag von 1964 (174: 487) allzu euphemistisch heißt, die "en el caso hispánico (...) produjo algo más que una fusión de razas: hubo también una original puesta en contacto de culturas." Typisch für zahlreiche Beiträge der fünfziger und sechziger Jahre ist die Tendenz, die zweifellos vorhandenen Spezifika des spanischen "Kolonialstils" (Bitterli) im Hinblick auf die indígenas zu hypostasieren und die Greueltaten, sofern sie - wie im folgenden Beispiel - überhaupt erwähnt werden, zu verharmlosen: Vom "humanistischen" Charakter der spanischen Eroberung "está impregnada la legislación de Indias", schreibt Jaime de Echanove 1969 (234: 826), "como gloria imperecedora de los reyes de España". Im Unterschied zu früheren Jahren ringt sich der Autor immerhin zu der Einschränkung (ebd.: 828) durch: "Decir que estas leyes se cumplieron exactamente y sin abusos por parte de todos o de la mayor parte de los españoles que pasaron al nuevo mundo sería una ingenuidad manifiesta." Zahlreiche Stilblüten legen allerdings davon Zeugnis ab, wie groß die Schwierigkeiten einzelner Autoren offensichtlich waren, sich zu obigen, äußerst moderaten Einsichten durchzuringen. So konzediert ein Historiker im Jahre 1970 (247: 150) das rebellische Verhalten bestimmter indios gegenüber den Konquistadoren mit Worten, deren naiv-rührseliger Duktus geradezu sprachlos macht: "En cierta ocasión, transcurriendo aún el año 1520, los indios de San Juan, ya descontentos (sie) de nuestro trato, se ayuntaron con el fin de rechazarnos isic)". Erheblich kritischer, was Sprache und Argumentation betrifft, liest sich dagegen eine Rezension von Richard Konetzkes Buch: Die Indianerkulturen Amerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft (1965) aus dem Jahre 1968 (217: 172f.). Wenngleich der Rezensent moniert, dem Buch fehle eine "teoría de la colonización", räumt er ein, daß "el genocidio cultural de los Imperios Inca y Azteca es un fenómeno real, por muy buenas y santas que hubieran sido las intenciones de nuestros colonizadores y monarcas". Der bis heute andauernden "inestabilidad política, social y económica", die der Autor auf "nuestra labor colonial" zurückführt, stellt er den "humanismo de nuestros teólogos, la benignidad de los probleir.as raciales y la incorporación europea-occidental" gegenüber. Einen Fortschritt stellt diese Argumentation nicht zuletzt deshalb dar, weil ausländische Interpretationen

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dieses für die kulturelle Identität des Landes noch immer neuralgische Thema zur Kenntnis genommen, sprachliche Tabus ("genocidio") gebrochen und selbstkritische Positionen - wiewohl auf "Ausgewogenheit" bedacht - nicht mehr auf das Niveau von Fußnoten reduziert haben. Am Beispiel von zwei historischen Zentralfiguren - Cortés und Las Casas die auf jeweils spezifische Weise den Kern der Kontroversen um den spanischen "Kolonialstil" personifizieren, läßt sich obige Entwicklung besonders augenfällig illustrieren.

2.4 Cortés und Las Casas als Antithesen der Cort