Laute, Bilder, Texte: Register des Archivs 9783737002363, 9783847102366, 9783847002369

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Laute, Bilder, Texte: Register des Archivs
 9783737002363, 9783847102366, 9783847002369

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Alf Lüdtke / Tobias Nanz (Hg.)

Laute, Bilder, Texte Register des Archivs

Mit zahlreichen Abbildungen

V&R unipress

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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0236-6 ISBN 978-3-8470-0236-9 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ (Universitäten Erfurt / Weimar / Jena) © 2015, V&R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: © Dominik Obertreis Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alf Lüdtke und Tobias Nanz Register des Archivs. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Britta Lange Geschichten von der Möwe, 1916 – 1918. Praktiken von talking und speaking vor dem Grammophon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Hesse Auge und Archiv. Mediale Ressourcen der Arbeiterfotografie der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Dietmar Schmidt „We Owe Them a Living“. Historische Markierungen im Disney-Cartoon

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Tobias Ebbrecht-Hartmann Film als Archiv. Archiv, Film und Erinnerung im neueren israelischen Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anja Dreschke und Martin Zillinger Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften. Mit Bildstrecke

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Carolyn Hamilton Archives, Ancestors and the Contingencies of Time

. . . . . . . . . . . . 103

Heike Gfrereis Aufstand der Sachen. Das Literaturarchiv als Literaturmuseum . . . . . . 119

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Inhalt

Ludolf Kuchenbuch Das Archiv – jenseits der Einzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Vorbemerkung

Dieser Band versammelt überarbeitete und erweiterte Beiträge, die bei einem Workshop zu „Geschichtlichkeit. Imperiale versus indigene Archive“ diskutiert wurden, der vom 7. bis 9. Februar 2013 in Weimar stattfand. Wir haben diesen Austausch im Rahmen des DFG-geförderten Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ (Erfurt/Weimar/Jena) gemeinsam mit Timm Ebner und Wolfgang Struck veranstaltet. Ergänzend sind zwei weitere Beiträge dazugekommen. Den Autorinnen und Autoren danken wir für ihre intensive Kooperation, unserem Graduiertenkolleg für die großzügige Unterstützung, nicht zuletzt für die Förderung der Drucklegung dieses Bandes, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Unipress für die ebenso unkomplizierte wie hilfsbereite Kooperation sowie Julie Mrosla und Elisabeth Windhager für Korrekturen des Manuskripts. Alf Lüdtke (Göttingen/Erfurt) / Tobias Nanz (Dresden), im Februar 2015

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Register des Archivs. Zur Einleitung

I. Archive gelten als Institutionen; sie sind aber auch Projektionen. Materiale wie imaginierte Sammlungen von Spuren und Überlieferungen der Vergangenheit versprechen Vergewisserung. In den unablässigen Umwälzungen einer historisierten Welt steht das Bewahren und Erschließen von Zeugnissen vergangener Zeiten für die Anstrengung, verlässliches Wissen zu ermöglichen und zu sichern. Wenn alles im Fluss ist, steigt die Suche, wenn nicht die Sehnsucht nach Fluchtpunkten, nicht zuletzt nach sicherem Wissen. Archive können dies gewährleisten. Seit dem 16./17. Jahrhundert hat sich zumindest in Süd-, West- und Mitteleuropa allmählich durchgesetzt, dass Archive Spuren der Vergangenheit bewahren. Dazu gehören vor allem jene Schriftzeugnisse, die aufgrund herrschaftlich beglaubigter Vereinbarungen als Fundus und Gedächtnis einer Nation, einer Institution (oder auch Firma) gelten.1 Die meisten Privat- oder Familienarchive hingegen sehen von einer solchen Institutionalisierung ab. Archive sind seither fest zu verorten. Sie markieren ein räumliches Dispositiv, systematisieren und ordnen die Überlieferungen, welche mit wissenschaftlichen Methoden,2 aber auch mit Strategien der Machtpolitik ausgelegt werden können.3 Diese archivalischen Überreste sind Spuren – oftmals unklar, mitunter dem Verfall preisgegeben –, die eine Fährte in die Vergangenheit legen. Erfasst und formiert werden die archivierten Spuren allein durch die Praktiken im Archiv, die freilich den Regeln der Institution folgen sollen. Nicht möglich ist dabei eine endgültig sichere Auskunft über das, was diese oder jene Spur genau bezeichnet, was sie bedeuten mag.4 Denn das Archiv ist auch ein Ort, an dem sich das Wissen über die Vergangenheit stets neu formiert, da es 1 Vgl. Ricœur 1991, S. 185 ff. 2 Vgl. Koselleck 1979, S. 206 zum „Vetorecht der Quellen“, wobei „der Primat der Theorie“ die Fragen und Perspektiven vorgibt. 3 Vgl. Derrida 1997, v. a. S. 10 – 13. 4 Vgl. Ricœur 1991, S. 200.

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Transformationen und Umschichtungen unterworfen ist.5 Freilich werden solche Neu-Formierungen greifbar nur durch die konkret-praktische Arbeit vor Ort, also im Archiv. Archive wirken dabei offenbar in doppelter Hinsicht. Sie taugen, den immer neuen Ungewissheiten der Alltagswirklichkeit zu begegnen, wie sie auch die Moderne kennzeichnen. Zum einen zeigen die materialen Objekte in ihrer Dinghaftgkeit eine Präsenz, in der Verlässlichkeit verkörpert scheint. Fälschungen (von Urkunden, von Anordnungen, von Berichten oder Briefen – von Fotos oder Landkarten) müssen deshalb täuschend echt eine akzeptierte mediale Gestalt nachahmen, um glaubhaft zu werden. Archive haben sich entwickelt zu Schatzhäusern der einschlägigen Dokumente und Akten, neuerdings auch von Fotografien und Filmen, aber auch von Plakaten und Karten – und hier und da von Tonträgern. Sie bieten, zumindest im vor-digitalen Zeitalter, eine besondere Chance, diesen Text oder jene Schrift, diese Bilderserie oder jene Stimme zu beglaubigen oder auch zu entlarven. Und zu solchen Authentifizierungen gehört die Analyse der Stofflichkeit einer Spur, eines Zeugnisses.6

II. Erst in den letzten drei oder vier Jahrzehnten haben Archive jene Aura abgelegt, die seit der frühen Neuzeit ihr wesentliches Charakteristikum war: als Tresore der Geheimnisse derer, die souveräne Herrschaft oder (bei Privatarchiven) ihre Eigentumstitel und eventuell Privilegien als Kaufherren, Fabrikanten oder Bankiers beanspruchten. Hier waren Urkunden und Verträge, dokumentierte Abreden und Interpretationen ebenso wie Rechnungen, Quittungen oder Kassenbücher, aber auch Karten, Pläne und visuelle Ansichten unerlässlich. Sie fungierten als mediale Bestätigung der Wirksamkeit bisheriger oder früherer Festlegungen. Diese spezifische Funktion und auch Aura des Archivs ist in zweierlei Weise unterminiert worden; dennoch ist sie nicht völlig verschwunden. Die allmähliche Durchsetzung von Öffentlichkeit hat unumschränkt herrschaftliche wie private Verfügungsgewalt eingedämmt, wenn nicht abgeschafft. Allerdings erfassten diese Veränderungen seit dem späteren 18. Jahrhundert zunächst nur Mittelund Westeuropa. Die Akteure waren viele, und sie waren weit gestreut. Sie reichten von Zeitungsmachern und -lesern zu Gelehrten und Akademikern und 5 Vgl. Foucault 1981, S. 188. 6 Ein spektakuläres Beispiel boten die – angeblich 60 – gefälschten Hitler-Tagebücher, die die Illustrierte „Stern“ im Frühjahr 1983 als wissenschaftlich geprüftes Dokument zu veröffentlichen begann, siehe dazu Henke 1989, bes. S. 306 – 307 zur materiell-technischen und S. 308 – 314 zur archiv-fachlichen Begutachtung.

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ihrer jeweiligen Klientel und Netzwerken: dazu gehörten Frauen und Männer aus aristokratisch wie bürgerlich geprägten Salons – aber auch die ungebärdigen „Volksmassen“, die Straßen und Plätze besetzten und mitunter zu direkten Aktionen schritten – und sei es, weil sie, wie Odenwälder Bauern im März 1848, „Pressfreiheit“ als „Fressfreiheit“ (miss)verstanden.7 Die Einschränkung der Arkansphäre – der abgeschotteten staatlichen wie anderer Geheimnisse in den Archiven, war aber auch gleichsam ‚von innen‘ etwa zeitgleich in Gang gekommen. Geschichte – begriffen nicht mehr als chronikalische Berichterstattung, sondern als ‚verstehende‘ und rekonstruierende Nach- und Neuerzählung des Vergangenen – hat Zugang zu Archiven durchgesetzt, jedenfalls zunächst für einige ihrer Vertreter, die als ‚vertrauenswürdig‘ galten.8 Seit dem späten 19. Jahrhundert wird dieser Prozess zunehmend von neuen Medien gestützt, wenn nicht getragen. Sie erlauben die technische Reproduzierbarkeit historischer Aufzeichnungen – berauben diese aber zugleich ihrer Aura.9 Die Techniken der Fotografie und des Films ermöglichen den Zugang zu den historischen Materialien, zumindest theoretisch, in beliebig vielen Archiven. Dasselbe gilt für den Kopierer, der – Hans Magnus Enzensberger hat dies einmal hervorgehoben: „potentiell jedermann zum Drucker macht“.10 Die Digitalisierung historischer Spuren vermag es schließlich, vollständige Archivbestände weltweit zugänglich zu machen, jedenfalls für alle, die über einen Internet-Zugang verfügen. Aber auch im jeweiligen Archiv lassen sich die realen Archivalien mit Hilfe von Digitalisaten vor den taktilen Zugriffen der Nutzer schützen. Aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es gelungen, das Archiv und das Archivische den herrschaftlich-gesellschaftlichen Kommandohöhen zu entwinden. Jene Ansprüche auf demokratische Teilhabe, wie sie in westlichen Demokratien, aber auch weit darüber hinaus und nicht zuletzt in antikolonialen Befreiungskämpfen angemeldet worden sind – sie haben nicht nur zum Sammeln, sondern auch zu einer unendlichen Vielfalt von privaten zu geschäftlichen zu nichtstaatlich-institutionellen wie staatlich-institutionellen Archiven geführt. Und in der Tat – Flohmärkte sind sehr wohl ebenfalls Archive, etwa von Tagebüchern oder Briefsammlungen, freilich, hier werden Objekte in der Regel

7 Vgl. Wirtz 1979. 8 Dazu umfassend, zumal für die Menschen im Archiv, Wimmer 2012; zu staatlich-bürokratischen Kontrollstrategien im 19. Jhdt. und den Anstrengungen professioneller (Universitäts-)Historiker, dennoch amtliche Akten einzusehen s. Müller 2014; für Archive als Instrument wie Spiegel kolonialer Herrschaft, aber auch indigenen Eigensinns und widerständiger Beharrlichkeit vgl. Stoler 2009. 9 Vgl. zur „technischen Reproduzierbarkeit“ und dem Verlust der Aura Benjamin 1991. 10 Enzensberger 1974, S. 96.

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rücksichtslos kannibalisiert und allein auf einen momentanen Verkaufserlös hin portioniert. Dabei ist die Unterscheidung von verlässlichem (und vielleicht gesichertem) Wissen und unsicheren, fehlerhaften, wenn nicht täuschenden Text- und Bildüberlieferungen keineswegs verschwunden. Vielmehr war ein starker Antrieb für Protestbewegungen der späten 1960er und der 1970er Jahre in West- und Mitteleuropa das Misstrauen in staatliche oder kommunale (oder auch industrielle bzw. kommerzielle) Archive.11 Und hier zeigten sich starke Resonanzen mit den dekolonisierten und postkolonialen Gesellschaften. Hier war die Differenz zwischen einerseits kolonialen (oder imperialen) und andererseits indigenen Archiven ein zentrales Moment der anti-kolonialen Selbstdeutung und Selbstbehauptung. Wesentlich für diese Unterscheidung war und blieb die Annahme, dass der politisch-gesellschaftliche Kontext die archivischen Wissensbestände regulierte, wenn nicht zensierte. Auftrag- oder Geldgeber würden die von ihnen gegründeten oder betriebenen bzw. bezahlten Einrichtungen so weit ‚durchherrschen‘, dass nur ihre Interessen und Vorlieben die Auswahl des Materials ebenso wie seine Anordnung und Verfügbarkeit prägen würden. Als überaus wirkmächtig erwiesen sich also Vorstellungen von totalisierender Herrschaft und Kontrolle, von ungehinderter Ausbeutung und Alleinbestimmung. Ausgeblendet blieben jedoch die konkreten Praktiken, die das Archivieren und den Alltag im Archiv bestimmen. Hier zeigen sich vielfältige Handlungsräume. Sie ermöglichen Eigenmacht, wenn nicht eine faktische Umkehrung hierarchischer Ansprüche und Vorgaben.

III. Normative Vorgaben sind wichtige Elemente archivarischer Alltagswirklichkeit, zu der auch die Architektur der jeweiligen Funktions- oder Repräsentationsbauten gehört. Wie aber gehen professionelle oder auch ehrenamtliche ArchivMitarbeiter mit den Materialien um? Wie wählen sie aus, wenn der knappe Raum nicht reicht, wie wird katalogisiert und für die Findmittel erfasst? Aber auch: wie ist der Umgang untereinander, wie der mit Nutzerinnen und Nutzern? Dabei erschließen Erkundungen der Archiv-Praktiken – in öffentlichen wie privaten Institutionen – die Reichweite des Momentanen und Situativen. Dieses Vorläufige und vielfach Unkalkulierbare prägt individuelles ebenso wie soziales Handeln und holt es gleichsam immer wieder ein. Wenn es gelänge, die Obses11 Vgl. etwa das Archiv zur Frauengeschichte des Frauen-, Forschungs- und Bildungszentrums Berlin (FFBIZ, ab 1978) oder das Archiv der Frauenbewegung (Kassel, seit 1984).

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sion mit dem Archiv auf die Praktiken zu übertragen, die das Archiv ‚machen‘ – dann ließen sich zumindest die euphorisch-mythisierenden Überschüsse der aktuellen Archivbegeisterung abbauen. Archive finden zunehmend Aufmerksamkeit. Galt vor fünfundzwanzig Jahren ein Essay wie der von Arlette Farge12 über den Geschmack des Archivs als exotisch, wenn nicht skurril, so haben sich seit Mitte der 1990er Jahre die Forschungen wie Publikationen zum Archiv intensiviert.13 Aus dem scheinbar selbstverständlichen, nicht selten mit Unlust, wenn nicht Ärger durcheilten Vorhof eigener Forschungen ist ein zunehmend respektiertes Forschungsfeld geworden. Anstöße kamen aus vielerlei Richtungen. Einige Triebkraft hatten die Ansätze eines jener philosophischen Denker und ‚öffentlichen Intellektuellen‘, die sich nicht als disziplinär gebunden begriffen: Michel Foucault. Sein Vorschlag, Dokumente in Monumente umzuwandeln, unterstreicht beides: die Bedeutung der konkreten Materialität und Medialität der Überlieferungen – die Praktiken im Archiv. Das Dokument sei nicht jene „untätige Materie“, die unmittelbar die Vergangenheit vergegenwärtigen könne. Es müsse – wie ein Monument in der archäologischen Praxis – von innen heraus beschrieben werden, um nicht eine voreilige Auslegung vorzunehmen. Geschichte sei das Produkt der „Arbeit und Anwendung einer dokumentarischen Materialität (Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegenstände, Sitten, usw.)“.14 Dieses Produkt wird in Archiven und von den dort Tätigen eigenständig erarbeitet. Es sind diese Akteure und ihre Praktiken, die entscheidend dazu beitragen, Spuren und Überreste des Vergangenen in Geschichte und Geschichtsschreibung zu überführen. Das wirkt in zweierlei Weise: Zum einen traf sich diese Neugier mit zunehmendem Interesse an Medien und generell Medialität als eine der prägenden und mitbegründenden Elemente von Alltags- und Lebenswirklichkeit. Parallel war gerade mit Foucaults Anregung aber noch ein zweites verknüpft: Im Rahmen seiner Studien und Vorlesungen zu den Anormalen und zum Leben der angeblich ehr- und ruchlosen („infamen“) Menschen edierte er zusammen mit Arlette Farge Gnadengesuche dieser sogenannten „Ehrlosen“ im Paris des frühen 18. Jahrhunderts.15 Auch wenn diese Projekte nur ein erster Schritt waren: Sie zeigten, dass jenseits der Stimmen von höheren und mittleren Beamten, von Diplomaten und gesellschaftlich „respektierlichen“ Personen auch Zeugnisse derer zu finden sind, die angeblich namenlos waren, die für viele als 12 13 14 15

Farge 1989. Vgl. Krüger 1993; Müller 2007; Wellmann 2012; s. auch oben Anm. 8. Foucault 1981, S. 14 f. Vgl. Farge/Foucault 1982.

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„Flugsand der Geschichte“, nicht aber als eigene Akteure erschienen oder galten. Auch wenn Arlette Farge mit ihrem Bericht vom Arbeitsalltag einer Nutzerin im Archiv, der nicht wenige Züge ethnologischer teilnehmender Beobachtung zeigte, vielfach auf Ablehnung oder Achselzucken traf, so zeigten sich Resonanzen hier und dort, die sich schließlich verstärkt haben. Das reicht von Jacques Derrida und seiner Skizze zum Archivfieber als einer pathologischen, womöglich tödlichen Besessenheit mit den Dingen des Archivs,16 zu Carolyn Steedman, die im „Staub“ des Pariser Nationalarchivs tödliche Anthrax-Bazillen diagnostizierte – und damit der Todesursache des jahrzehntelang unermüdlich Archivalien auswertenden Jules Michelet (gestorben 1874) nachging.17

IV. Das gesteigerte Interesse am Archiv meinte bis vor kurzem Papier-Archivalien – als Medien für Texte aller Art. Nur sehr zögerlich wurden Ansätze aufgenommen, nicht-textliche Spuren und Überlieferungen ebenfalls archivisch zu sichern und zu erschließen. Zunächst ging es um stehende wie bewegte Bilder. Neben Plakaten waren dies vornehmlich Fotografien und Filme (und Videos). Es war nur konsequent, auch die anderen Facetten der rasanten Entfaltung des medialen Universums aufzunehmen: Töne, Laute und Geräusche, d. h. einschlägige Tonträger und Speichermedien. Hier und da öffneten sich bestehende Einrichtungen. Selbständige wie unselbständige Spezialsammlungen wurden gegründet, getragen von öffentlichen wie von privaten Händen. Eine Triebfeder war die vermehrte Aufmerksamkeit für eigene wie für ‚fremde‘ Alltagswirklichkeiten. Diese Erweiterung des Blickfeldes beschränkte sich nicht auf die Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften oder die Kunstszenen und -netzwerke. Auch die breitere Öffentlichkeit reagierte neugierig. Das gilt zumal für die Bilderwelten und deren archivische Anordnung – aber auch eine private Initiative wie die für das Deutsche Tagebucharchiv (Emmendingen, gegründet 1998) verdankt sich diesem nachdrücklich erweiterten Interesse. In den Institutionen, zumal den öffentlichen, stehen jedoch weiterhin im Zentrum formelle Urkunden, vor allem die unübersehbaren Aktenmassen in ihren vielfältigen Schichtungen, vom Laufzettel, der Liste zum Konzept, weiter zum Entwurf und vorletzten bzw. letzten Ausfertigungen: Beschriebenes, bedrucktes, beschnittenes, geheftetes, geklebtes oder in Einzelblatt erhaltenes Papier ist der materiale Gegenstand archivischen Verzeichnens und Sicherns, aber auch Makulierens. 16 Vgl. Derrida 1997. Die englische Übersetzung erschien unter dem Titel Archive Fever. 17 Vgl. Steedman 2001, S. 26 – 28, 69 – 72, 151 f.

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Vergleichsweise spät haben vornehmlich Praktiker andere Arten von Spuren und Überlieferungen in ihrem Nutz- wie Symbolwert für Erforschung und Darstellung des Vergangenen erkannt. Waren es bei Fotografien zunächst die Produzenten, Fotografen wie Betreiber von Fotostudios, aber auch journalistische Verwerter (Bildpresse), so ist das bei den Lautträgern noch mehr eine Kleinstgruppe der praktischen Spezialisten, die – in der Sprach- oder Musikforschung tätig – einschlägige Einzelbestände gesichert, sie archivisch erhalten und katalogisiert haben (wie in diesem Band die Ton-Aufzeichnungen aus deutschen Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs). In zeitlicher Nähe, vielleicht aber auch angeregt von diesen ‚neuen‘ Archivalien ist in West- und Mitteleuropa (und in Nordamerika) seit den 1940er, erneut den 1960er/70er Jahren ein systematisches Erstellen und Aufzeichnen von Stimmen und Tönen in Gang gekommen. Dabei verschwimmen zum Teil die Grenzen zwischen Professionalität und vielfach enthusiastischer Eigeninitiative. In jedem Fall hat das Interesse an individuellen ‚Selbstzeugnissen‘ zu Archivgründungen (siehe das Deutsches Tagebucharchiv), aber auch zu enormen Sammlungen und Editionen geführt, bei denen die Differenzen der Genres eher unwichtig geworden sind. Zu denken ist etwa an Walter Kempowskis privat begonnenes Tagebuch- und Fotoalbumarchiv, mit der umfänglichen Edition in den zehn Bänden Echolot. Eine weitere, lange Zeit sorgsam gehütete Grenze ist offenbar gefallen: Archive sammeln nicht mehr nur unterschiedliche Überlieferungen innerhalb eines Medientyps, etwa Briefe und Romane, die zu den Schrift- und Speichermedien zählen. Vielmehr beziehen sie zunehmend Überlieferungen anderer Medientypen ein, die – wie der Computer als informationsverarbeitendes Medium – an der Herstellung von Texten beteiligt waren. So bewahrt das Deutsche Literaturarchiv (DLA) Marbach neben den Manuskripten des Medien- und Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler eben auch dessen Rechner und Festplatten auf,18 die entlang Kittlers Medientheorie wesentlich an der Erstellung seiner Manuskriptseiten beteiligt waren. Dem korrespondiert hier und da, zumal aber im Marbacher DLA eine Öffnung, die den Augensinn des breiteren Publikums anspricht. Hier werden Archivalien inzwischen auch als ‚Dinge‘ ausgestellt, etwa die Karteikästen und -karten des Philosophen Werner Blumenberg neben denen des Historikers Reinhart Koselleck (2013).19 Und bei der Ausstellung, die das DLA zu W. G. Sebald wenige Jahre zuvor zeigte, gehörten auch Sebalds Schreibtisch und seine Brillen zusammen mit Manuskripten und Stiften, aber auch Fotoabzügen und -apparat zu dem Ensemble, das zur Schau gestellt wurde. In allen Fällen ging es 18 Vgl. Kramski 2014. 19 Vgl. Gfrereis/Strittmatter 2013.

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um das Werk der Genannten. Es sollte in seinen Bezügen zum täglich-kleinteiligen Arbeiten an einzelnen Werkstücken ‚sichtbar‘ werden. Diese Präsentationen ließen die Differenz von Archiv und Museum verschwinden.

V. Die Erweiterung des Archivarischen um neue Blick- und Handlungsfelder reicht aber weiter. Parallel richtet sich eine zunehmend breitere Aufmerksamkeit auf die „Subalternen“. Sie waren nicht mehr nur Thema für intellektuell-akademische Debattier- und Politzirkel in den metropolitanen Zentren. Kritik an alter wie neuer, nicht selten gewaltsam durchgesetzter Abhängigkeit und rigoroser Ausbeutung der sogenannten dritten und vierten Welt erreichte die Geschichtswissenschaften. Postkoloniale Kritik galt dem am „western thought“20 und seinen vielfältigen Prägekräften für die Wahrnehmung derer, die als „Kolonisierte“, als Abhängige und „Subalterne“ auch nach dem Ende formeller Kolonialherrschaft die sogenannten dritten oder vierten Welten bevölkerten. In welchem Maße taugten die kolonialen Archive für angemessenere Analysen des und der Indigenen? Mehr noch: ließen sich ihre eigenständigen Überlieferungsformen und -spuren aufspüren? Und in welcher Form waren Überreste von und Erinnerungen an vorkoloniale Zeiten bewahrt, wie wurden sie überliefert? Insbesondere: Wie ließen sich Praktiken erkennen, mit denen sich Indigene von der (Kolonial-)Herrschaft abzusetzen, sie zu unterlaufen, aber auch auszuhebeln suchten? Wo und wie hatten historische Akteure ihren Eigensinn überliefert und erinnert, wie ihre „hidden transcripts“21 – die womöglich nicht geschrieben, sondern gesungen oder gemalt wurden? Aber auch: welche Grenzen hatten solche Erkundungen zu respektieren? Wieweit sollten oder durften die einheimischen Archivpraktiken ein Tabu für westlich geprägte Forschung bleiben?22 Freilich blieb dabei das Modell des Archivs, wie es in den Metropolen gepflegt oder behauptet wurde, weitgehend unangetastet. Dieser Gestus der Selbst-Sicherheit, wie er sich etwa im Beharren auf den etablierten Regeln der Zuordnung wie der Sekretierung zeigt, aber auch bei der Katalogisierung oder der Makulierung, d. h. der Aktenvernichtung – dies verweist auf zweierlei. Zum einen zeigt sich eine Art institutioneller Motorik, die stete Aktivität verlangt. Zum anderen wird ein emotionaler Furor deutlich, der – so Mario Wimmer – den „Archivkörper“23 durchpulst, auch wenn er nicht immer er20 21 22 23

Chakrabarty 2000, S. 6, 16, 19. Scott 1990. Dazu Carolyn Hamilton 2002, siehe auch ihren Beitrag in diesem Band. Wimmer 2012.

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kennbar ist. Hier haben Erkundungen der Praktiken im Archiv wesentlich weitergeführt. Wimmer erschließt eigentümliche Formen einer eigenen „Archivsprache“. Er betont ihre Bedeutung nicht nur für die Sicherung des Materials, sondern mehr noch für die Abschottung der Institution. Wimmer geht es um „Obsessionen der Geschichte“24 – etwa die Sucht, alles eindeutig und „richtig“ zuund einzuordnen. Zu diesem „Unbewussten der Archive“ gehöre aber auch ihre „Sammelwut“ und ein „Fetischismus“, der sich an den materialien Objekten festmache und immer wieder neu entzünde. Hier mag sich so etwas wie die Sehnsucht der Nachlebenden andeuten, die Distanz zum ‚Damals‘ auszulöschen und den Toten direkt begegnen zu können. Genau an diesem Punkt aber ist vielleicht eine Parallel-Bewegung wirksam, die jene Sehnsucht als Wunsch nach Eindeutigkeit, nach Gewissheit und Authentizität zeigen kann. Wenn denn Historisierung den Wandel von Erfahrungsweisen wie Erfahrungshorizonten anpeilt und damit Zeitlichkeit als vielschichtige Bewegung und Verschiebung einbezieht – dann ist das Vorläufige, das Unabsehbare und Situative zentral. Für die Archive heißt das: der im Moment gekritzelte Notizzettel ist deshalb bewahrenswert, weil er die lange Dauer einheitlich geführter Akten punktiert, vielleicht unterbricht. Verschiebt man den Maßstab: strukturelle Fixierungen, wie etwa im Ost-West-Gegensatz seit den 1940er Jahren, lassen sich durch kurzfristig-momentane Einzel- wie Massenaktivitäten ausmanövrieren. Zumindest für die DDR, aber auch im gesamten staatssozialistischen Lager war 1989/90 eine Mischung aus Implosion und (überwiegend friedlicher) Revolution der einzelnen wie der „Massen“ zu beobachten, jenseits aller Wahrscheinlichkeiten.

VI. Die Register des Archivs, die im vorliegenden Band als Laute, Bilder und Texte benannt sind, stehen zunächst für die klassische Bewegung, die mit der Ausdifferenzierung der Kunst- und Wunderkammern seit dem 18. Jahrhundert in Europa eingesetzt hat. Jene prächtigen Kammern mit ihrem „enzyklopädischen Anspruch“ und „bedachte[n] Chaos“25 ermöglichten eine Zusammenschau unterschiedlichster Exponate sowie eine experimentelle Verknüpfung von „Wundern“ der Kunst mit jenen der Natur.26 Es waren Orte des Staunens, die sich mit

24 Wimmer 2012, S. 113 ff.; für das Folgende vgl. 72 ff., 227, 229. 25 Bredekamp 1993, S. 77, 102. 26 Daston/Park 2002, S. 302.

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der Gründung von Museen und Archiven entlang westlicher wissenschaftlicher Prinzipien neu ordneten. Archive richteten sich zunächst ausschließlich auf Bedürfnisse nach gesicherten und greifbaren Schriftzeugnissen. Das Aufkommen neuer Medien verlangte eine weitere Ausdifferenzierung und Erweiterung: Tonträger ebenso wie Bilddokumente erlaub(t)en die Speicherung von Ton und Stimme bzw. von stehenden und bewegten Bildern. Es scheint aber auch eine Bewegung zu geben, die die Grenzen zwischen jenen Registern des Archivs zur Auflösung bringt. Mit dem Internet halten Familien den Kontakt über Kontinente hinweg und hinterlegen auf den entsprechenden Portalen Bilder, Filme, Stimmen und Texte. Museen operieren mit interaktiven Ausstellungskonzeptionen und integrieren Vertreter der Netzkunst, sie vernetzen sich mit den Besuchern wie auch mit ähnlichen Institutionen. Museen wie Archive sind intensiv bestrebt, ihre Bestände (und ihr Archiv) digital zugänglich zu machen.27 Die Digitalisierung der Bestände mag auch das Überleben der Spuren und Institutionen sichern, wie ein Aufruf des Historischen Archivs der Stadt Köln illustriert: Nach dem Einsturz des Gebäudes im März 2009 wurden Nutzer gebeten, ihre Fotografien der zu einem erheblichen Teil vernichteten Bestände in einem Portal im Internet zu hinterlegen, um Restaurierungsarbeiten zu erleichtern oder verlorene Archivalien künftigen Nutzern zur Verfügung zu stellen.28 Neben der konkreten Materialität, also den Exponaten und Dokumenten – all jenen Überlieferungen, die in Bibliotheken und Archiven zu finden sind –, scheint der immaterielle digitale Kode an Bedeutung zu gewinnen, der sich im Internet zumindest der Möglichkeit nach grenzenlos verbreiten lässt und dessen Aneinanderreihung von Nullen und Einsen die Grenzen der klassischen Register des Archivs durchstoßen. So zeichnet sich das Internet in erster Linie vielleicht weniger durch seine Funktion als ein umfassendes Archiv aus, als vielmehr durch die veränderte Verfügbarkeit der Exponate und Dokumente, die es im Gegensatz zu anderen und älteren Archivtypen bietet.29 Ein Fortschrittsoptimismus, der einen offenen und dauernden sowie global verfügbaren Zugang zu Archivalien im Digitalen propagiert, wäre hier allerdings verfehlt. Zunächst ist die Digitalisierung, aber auch die vorherige Mikroverfilmung z. B. von Zeitungen und Zeitschriften, aber auch von Bibliothekskatalogen mit zum Teil massiven Informationsverlusten verbunden. Bei Zeitungen sind

27 Vgl. Hünnekens 2002, S. 155 ff. 28 Vgl. den Aufruf vom 7. März 2009: http://historischesarchivkoeln.de/downloads/Aufruf.pdf [27. 2. 2015]. 29 Vgl. Ernst 2002, S. 131.

Register des Archivs. Zur Einleitung

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teilweise die Anzeigen als entbehrlich nicht digital aufgenommen worden oder sie wurden en bloc makuliert.30 Zugleich wurden mit der Digitalisierung von Archivalien und Primär- wie Sekundärliteratur Zugangsregeln für die jeweiligen Portale aufgestellt, die das Abrufen eines Dokuments an ein Bezahlsystem oder an institutionelle Zugehörigkeit koppeln, also beschränken. Zudem ist eine dauerhafte Halt- und Lesbarkeit von digitalen Dateiformaten nur schwer gewährleistet, da die längerfristige Benutzung an vier Voraussetzungen gebunden ist:31 Erstens muss die Haltbarkeit des Mediums im Sinne eines Informationsträger befragt werden. Papier hat sich in den letzten Jahrhunderten als ein relativ stabiler Träger herausgestellt, während sich Magnetbänder, Disketten, Festplatten oder Dateiformate in wenigen Jahren als fragil, überholt oder gar unlesbar erwiesen haben. Auch wenn insbesondere in Phasen des Medienwechsels von einem älteren Trägermedium zu einem modernen die Möglichkeit besteht, Daten umzukopieren, so sind doch diese Datentransfers stets mit Verlusten verbunden. Zweitens korrespondiert die Haltbarkeit des Trägermediums mit jener des Lesemediums, das die Inhalte für die Nutzer bereitstellt. Wer alte Disketten im 5 ¼“ Format heute auslesen möchte, muss neben den Datenträgern die entsprechenden Laufwerke archiviert haben, um einen technischen Zugang zum Speicher zu schaffen – vorausgestzt, der Datenträger konnte die Informationen überhaupt bewahren. Drittens muss sichergestellt werden, dass die Dateien, die die Inhalte speichern, langfristig interpretiert werden können. Denn wenn Programmiersprachen oder Dateiformate nicht mehr weiterverwendet und von neuen Entwicklungen abgelöst werden, kann der digitale Kode nicht mehr gelesen und verarbeitet werden und wird für den Nutzer wie Rechner zum bloßen Rauschen, aus dem keine verwertbaren Informationen mehr herausgefiltert werden können. Hinter den sichtbaren Oberflächen wie Bildschirmen, die die Archivalien ästhetisch ansprechend präsentieren, steht ein „System von technischen Übertragungs- und Speicherprotokollen“, das „rigider [ist], als es ein traditionelles Archiv je war.“32 Viertens – und dieser Aspekt führt zu der Frage 30 So verkaufte die British Library 1999 ihren Gesamtbestand der Chicago Tribune, eine der größten und ältesten Regionalzeitungen der USA, die vor Ort nur punktuell archiviert worden war. Auch Einzelbände waren dabei erhältlich (besonders geeignet zum Ausschlachten). Der US-amerikanische Autor Nicholson Baker erfuhr davon und erwarb mit eigenen und privaten Stiftungsmitteln das noch vorhandene Gros dieses wie anderer Bestände an US-amerikanischen Zeitungen und Publikumszeitschriften, die die British Library ebenfalls abstieß. Baker sicherte seine Notkäufe zunächst in einem Lagerhaus in New Hampshire. Seit 2004 sind die Bestände als „American Newspaper Repository“ in der Obhut der Duke University Libraries; vgl. Baker 2001 und http://en.wikipedia.org/wiki/American_ Newspaper_Repository [25. 02. 2015]. 31 Im Folgenden Carlston 1998, S. 21, 25 – 29. 32 Ernst 2002, S. 136.

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nach dem Zugang und seinen Schranken im Internet zurück – sind die digitalen Archivalien und Publikationen von einem komplexen Datenbankmanagement abhängig, welches die Dateien sortieren, zuordnen, erneuern, speichern und auffindbar machen kann.

VII. Die Erkundung archivarischer Praxis zeigt Archive im Plural – zugleich registriert sie Archive in Veränderung. In den Beiträgen dieses Bandes geht es um konkrete Beispiele, die sich auf einzelne Situationen und spezifische Medien beziehen. Vier Schallplatten, die im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin aufbewahrt werden, sind zentral für die „Geschichten von der Möwe“, die Britta Lange aufgreift. Die Platten speichern Texte, die kriegsgefangene Bengali im Februar 1918 in den Trichter eines Grammophons gesprochen haben. Sie schilderten Erfahrungen bei der Gefangennahme durch einen deutschen Hilfskreuzer sowie die weitere Behandlung auf dem Schiff und in Kriegsgefangenenlagern. Die Aufnahmen sollten sprachwissenschaftlichen Forschungen dienen – es ging nicht um die Inhalte, die die Gefangenen in ihrer Landessprache mit deutlicher Stimme mitzuteilen suchten. Ob sie ihre Texte selbst verfasst oder inwieweit Zensur eingegriffen hat, ist unbekannt. Für Lange sind die gesprochenen Texte nicht primär Ausdruck linguistischer Kennzeichen. Vielmehr folgt sie der Frage der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak, ob und wie die Herrschaftsunterworfenen und Kolonisierten eigenständig zu „sprechen“ suchten. Denn die Schilderungen der Gefangenen benannten und kritisierten sehr wohl die Kolonial- und Kriegspropaganda – und die Ignoranz der Kolonialherren. Es scheint aber, dass dieses Aussprechen kein Gehör fand. Mit der Erkundung eines Bildarchivs setzt der Aufsatz „Auge und Archiv“ von Wolfgang Hesse an. Gestützt auf einen lokalen Bestand von Arbeiterfotografien der mittleren und späten 1920er Jahre (und mühsam und unter großem Risiko durch die Verfolgungen des Nationalsozialismus bewahrt und gerettet) konzentriert er sich auf eines dieser Fotos. Exemplarisch erschließt er die Praxis eines Arbeiterfotografen. Er zeigt aber auch die unterschiedlichen Verwendungen ihrer Aufnahmen bzw. Abzüge für lokale wie überlokale Agitation und Diskussion. Es geht um Montagen, um das Experimentieren mit Bildausschnitten. Die Auswahl der Aufnahmesituationen ebenso wie die Komposition der Bildnegative und -positive stehen im Zentrum. Genauer: es geht darum, eine Fotografie als Archiv für die Erkundung der eben genannten Aspekte zu nutzen. Die unterschiedlichen Praxis- und Verwendungssituationen spornten dabei zu Neu- und

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Weiterentwicklungen an. Gerade in Richtung auf Montagen und serielle Aufläufe, aber auch Brüche erschließen hier Bilder ihre eigenen Verpflichtungen. Insofern zeigt er auch, dass Objekte ihrerseits auf ihre Vielschichtigkeit zu untersuchen sind. Dietmar Schmidt befasst sich in seinem Beitrag „We Owe Them a Living“ mit historischen Markierungen im Disney-Cartoon. Dabei grenzt er den Trickfilm von der literarischen Gattung der Fabel ab – und liest diesen zugleich vor dem Hintergrund des New Deal der Vereinigten Staaten der 1930er Jahre. Am Beispiel des Cartoons „We Owe Them a Living“, der die Interaktion zwischen einer sich der Arbeit verweigernden – aber künstlerisch aktiven – Heuschrecke und einem unermüdlichen Ameisenkollektiv zeigt, argumentiert Schmidt, dass im Cartoon weniger Belehrungen ausgesprochen, als vielmehr politische Fragen zum Status der Kunst aufgeworfen werden. Der Trickfilm erweist sich als ein Archiv sozialer und politischer Aushandlungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Das bewegte Bild steht auch im Zentrum des Beitrags „Film als Archiv“ von Tobias Ebbrecht-Hartmann, der das israelische Kino beleuchtet und die historiographischen Strategien der Filmemacher und Filmemacherinnen diskutiert. In den letzten Jahren sind in Israel Filme entstanden, die historisches Filmmaterial als Ausgangspunkt nehmen, dieses neu bearbeiten, kombinieren und die so entstandenen heterogenen Montagen in die Filme einfügen. Diese Verfahren, so Ebbrecht-Hartmann, zielen nicht auf die Formation einer geschlossenen archivaischen Ordnung, sondern auf ein Archiv im Werden, das gleichsam auf eine Geschichte im Wandel verweist. Die disparaten Bilder, die in den Filmen montiert werden, vollziehen eine Suchbewegung, die nicht allein die Vergangenheit neu denken lässt, sondern auch die Gegenwart befragt: So überlagern sich etwa im Film Waltz with Bashir von Ari Folman (Israel/Frankreich/Deutschland 2009) Erinnerungen aus dem Libanonkrieg mit jenen aus dem Holocaust. Damit lotet der Regisseur eine Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus, die ebenso irritierend wie produktiv ist. In ihrem – mit einer Bildstrecke versehenen – Aufsatz „Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften“ befassen sich Anja Dreschke und Martin Zillinger mit den Archivierungspraktiken sufistischer Bruderschaften, die insbesondere in Marokko aktiv sind. Während diese religiösen Gemeinschaften bis in die 1980er Jahre kaum Zugriff auf die kolonialen und postkolonialen Archive hatten, die Zeugnisse sufistischer Praktiken und Rituale aufbewahren, begannen die Mitglieder mit dem Aufbau von Archiven, die dem Prestige, der Erinnerung, der Kontrolle und Weiterenticklung der eigenen Praktiken dienen. Dreschke und Zillinger zeigen, wie sich die Bruderschaften die modernen Medientechniken für ihre internationale Vernetzung zu nutze machen, wie aber auch Skandale vor Ort aus dieser Öffnung resultieren können.

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Carolyn Hamilton umreißt in ihrem englischsprachigen Beitrag „Archives, Ancestors and the Contingencies of Time“ anhand südafrikanischer Beispiele eine parallele Wirklichkeit des Umgangs mit Vergangenheit: Sie lädt dazu ein, vielfältige Praktiken ahnenbezogener Vergewisserung und Erinnerung als ‚Archiv‘ zu begreifen. Es geht um Rituale und mündliche Überlieferungen, in denen Clans oder Familien auf ihre eigene Weise im jeweiligen ‚Jetzt‘ Verstorbene und Vergangenes vergegenwärtigen. Die Ahnen zeigen sich in diesen Ritualen, markieren Landbesitzrechte und bestimmen Genealogien – sie wirken an bestimmten Orten und bleiben präsent in den Gebeinen der Toten. Entscheidend sei, die wechselseitige Ignoranz zu überwinden. „Kontrapunktische“ und „mehrstimmige“ Verschränkungen oder „Umhüllungen“ seien zu entwickeln. Überdies: seien nicht auch die Ahnen des Archivs dort selbst vorstellbar? Hamilton schlägt vor, archivarische Praxis und Ahnenpraktiken – jeweils als Ausdruck der „Unwägbarkeiten“ zeitlichen Wandels – miteinander in Beziehung zu setzen. Die Autorin verweist auf Rituale und Performanzen hier wie dort. Sie erinnert daran, dass Handelsreisende und Forscher, Missionare und Kolonialbeamte in indigene Alltagswirklichkeiten eindrangen – dass aber auch Indigene ihre Chancen für ein „neues Leben“ in den Umbrüchen und Zerstörungen (post) kolonialer Herrschaft suchten. Wäre es nicht ein befreiender Schritt über die Grenzen von Professionen und Disziplinen, wenn Kuratoren auch als Magier und andererseits Schamanen auch als Kuratoren gesehen würden? Öffnung ist ein Stichwort, das ebenfalls für die Skizze gelten kann, die Heike Gfrereis zum „Aufstand der Sachen“ im Archiv beisteuert. Die Auswahl des Archivwürdigen bezieht sich auf Texte, zunehmend auch auf Bilder und – in Ansätzen – auf Laute (und Töne), genauer auf deren Träger und Medien. Dabei fällt stets unter den Tisch, was „sonst noch“ in den Mappen oder Kartons – kurz in Vor- und Nachlässen ebenso wie in Aktenkonvoluten mitgeliefert wird. Es sind in aller Regel gewiss unabsichtlich vergessenen „Sachen“ – von Einlegezetteln über Büroklammern bis zu (angelutschten?) Bonbons, die zwischen den Papieren verschwanden, dann aber dort verblieben. Zu erinnern ist auch an das Säckchen mit Getreidesamen, das Arlette Farge vor knapp dreißig Jahren in Briefen eines Häftlings in der Pariser Bastille des 18. Jahrhunderts fand.33 Der Band schließt mit dem Kommtar „Das Archiv – jenseits der Einzahl“ von Ludolf Kuchenbuch. Damit ist allerdings kein Ende der Diskussion bezeichnet, sondern vielmehr eine doppelte Neu-Orientierung, die Kuchenbuch aus mediävistischer Perspektive umreißt. Zum einen bedeute das vergleichsweise neue Interesse an der Archivierung von Tönen und Bildern, d. h. an deren medialen Trägern und Verfahrenstechniken (wie Interview oder Mitschnitt) eine grundsätzliche Zäsur. Denn der Vorrang von Texten – also einer Grundannahme aller 33 Vgl. Farge 1989, S. 17 f.

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europäisch-westlichen Archivierung – werde in Frage gestellt. Damit aber – dies der zweite Punkt – ermögliche ein Archiv, das etwa Sachzeugnisse und archäologische Funde einbeziehe (die herkömmlich in Museen gehen), eine ganz neue Verfremdung aller Spuren aus vor-modernen Zeiten. Bisher seien diese stets von den Texten der Moderne (und ihren semantischen Feldern, z. B. ‚Arbeit‘) zugedeckt, also immer schon modernisiert worden. Aus den Archiven öffnen sich damit atemberaubende Perspektiven: auf eine Genese der Moderne jenseits aller Geradlinigkeiten.

Literatur Nicholson Baker, Double Fold. Libraries and the Assault on Paper, New York 2001. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 431–508. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. Doug Carlston, „Storing Knowledge“, in: Margaret MacLean u. Ben H. Davis (Hg.), Time & Bits. Managing Digital Continuity, Los Angeles 1998, S. 21 – 31. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Lorraine Daston u. Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur 1150 – 1750, Berlin 2002. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997. Hans Magnus Enzensberger, „Baukasten zu einer Theorie der Medien“, in: Ders., Palaver. Politische Überlegungen (1976 – 73), Frankfurt/M. 1974, S. 91 – 128. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. Arlette Farge, Le gôut des archives, Paris 1989 (dt. Der Geschmack des Archivs, Göttingen 2011). Arlette Farge u. Michel Foucault, Le désordre des familles. Lettre de cachet des Archives de la Bastille au 18. siècle, Paris 1982 (dt. Familiäre Konflikte. Die „Lettre de cachet“ aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989). Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981. Heike Gfrereis u. Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Ausstellungskatalog, Redaktion von Dietmar Jaegle, Marbach am Neckar 2013. Carolyn Hamilton u. a. (Hg.), Refiguring the Archive, Dordrecht 2002. http://en.wikipedia.org/wiki/American_Newspaper_Repository [25. 02. 2015]. http://historischesarchivkoeln.de/downloads/Aufruf.pdf [27. 2. 2015]. Annette Hünnekens, Expanded Museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten, Bielefeld 2002. Reinhart Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt“, in: Ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1979, S. 176 – 207.

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Heinz Werner Kramski, „Digitale Nachlässe: Herausforderungen, Workflow und Erhaltung“, Vortragspräsentation, 11. Symposium „Handschriften und Alte Drucke“, Blaubeuren, 20. Oktober 2014, http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/ Arbeitsgruppen/AG_HAD/2014_03_Kramski_Digitale_Nachlässe_Directors_Cut_v06. pdf [27. 2. 2015]. Gesine Krüger (Hg.), Archive, Themenheft Nr. 5 von WerkstattGeschichte, 1993. Philipp Müller, „Die neue Geschichte aus dem alten Archiv. Geschichtsforschung und Arkanpolitk in Mitteleuropa, ca. 1800 – ca. 1850“, in: Historische Zeitschrift 299, 2014, S. 36 – 69. Philipp Müller (Hg.), Vom Archiv. Erfassen, Ordnen, Zeigen, Themenheft der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18, 2007. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991. James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven/ London 1990. Carolyn Steedman, Dust. The Archive and Cultural History, Manchester/New Brunswick 2001. Ann Laura Stoler, Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2009. Annika Wellmann, „Theorie der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen der Archivgeschichte“, in: Neue Politische Literatur 57, 2012, S. 385 – 401. Mario Wimmer, Archivkörper. Eine Geschiche historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012. Rainer Wirtz, „Die Begriffsverwirrung der Bauern im Odenwald 1848: Odenwälder ‚Excesse‘ und die Sinsheimer ‚republikanische Schilderhebung‘“, in: Detlev Puls (Hg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1979, S. 81 – 104.

Britta Lange

Geschichten von der Möwe, 1916 – 1918. Praktiken von talking und speaking vor dem Grammophon

Geschichten von der Möwe sind poetisch. Sie berichten vom Fliegen, von Freiheit, von Meer und von Wind. Doch im Kontext des Ersten Weltkriegs sind Geschichten von der Möwe zugleich historisch, sie sind Berichte über das deutsche Schiff Möwe, das 1916 und 1917 Dutzende feindlicher Schiffe auf den Weltmeeren kaperte und versenkte. In dem folgenden Beitrag sollen einerseits die deutsche propagandistische Produktion von Erfolgsgeschichten der Möwe, andererseits unbekannte Tondokumente aus dem Berliner Lautarchiv beleuchtet werden. Der mündliche, technisch aufgezeichnete Bericht über die Kaperung seines Schiffs durch die Möwe des indischen Matrosen Mohammed Hossin wird im Rückgriff auf Gayatri Spivaks Essay „Can the Subaltern Speak?“ problematisiert hinsichtlich der Frage, ob hier aus subalterner Position geschwiegen, gesprochen oder etwas ausgesagt wird.

Propagandistische Berichte über die Möwe Das 1914 gebaute Schiff S.M.S Möve1 war ein Hilfskreuzer der Kaiserlichen Marine des Deutschen Reiches. Der so genannte „Pirat des Kaisers“ diente zum Ausfechten jenes erbitterten Seekrieges, in den das Deutsche Reich und England verwickelt waren. Unter dem Korvettenkapitän Graf Nikolaus Dohna zu Schlodien brachte die Möwe auf zwei „Feindfahrten“ durch den Atlantik (Dezember 1915 bis März 1916; November 1916 bis März 1917) insgesamt 39 alliierte Handelsschiffe auf oder versenkte sie und wurde deshalb aus angloamerikanischer Perspektive zum Symbol für den Kreuzerkrieg. Nach populären Versionen der deutschen Geschichtsschreibung – so etwa auf wikipedia.org2 – kaperte die Möwe 1 Der offizielle Schiffsname lautete Möve mit v. Da der Name jedoch in der Literatur und Propaganda fast ausschließlich mit w geschrieben wird und damit eine unhörbare différance produziert, die auch auf eine Kontextverschiebung von militärischen zu populären Narrationen verweist, wird in diesem Aufsatz die Schreibweise Möwe übernommen. 2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/SMS_M%C3 %B6ve_%281914%29 [26. 01. 2014].

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am 15. Januar 1916 den englischen Dampfer Appam nordwestlich von Madeira. Am 16. Januar beschoss Dohna das englische Schiff Clan MacTavish, machte 70 Gefangene aus der Crew von Briten und Indern und versenkte das Schiff anschließend.3 Die Gefangenen von der Möwe wurden an Land verteilt, ein Teil der indischen Gefangenen kam auf Umwegen ins „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin.4 Auf deutscher Seite wurden die militärischen Erfolge der Möwe breit propagandistisch genutzt. Dohna selbst publizierte zwei Bücher, S.M.S. „Möwe“ (1916) mit einer Auflagenhöhe von 150.000 Stück (Abb. 1) und Der Möwe zweite Fahrt (1917), sogar mit 250.000 Stück.5 In seinem Buch über die erste Reise schildert Dohna, dass er die Möwe bei der Begegnung mit der Clan MacTavish zunächst als englisches Schiff ausgab, nämlich als Author, das zuvor von ihm versenkte englische Schiff. Er forderte die Clan MacTavish zum Stoppen auf, eröffnete das Feuer und zwang den Gegner zum Aufgeben.6 Es handelt sich um eine Kriegsgeschichte nach bekanntem Muster, eine klassische Meistererzählung: die Geschichte großer deutscher Helden mit großen, meist adligen Namen, die am Ende zum Kaiser persönlich gebeten werden, der ihnen für ihre Verdienste dankt. Der Kapitän, dessen Schreibszene bereits präfiguriert scheint, als er sich als Author, als Autor bezeichnet und verkleidet, fungiert auch als Schriftsteller. Er tritt damit in eine lange Reihe ähnlicher publizierter Erzählungen von Kriegshelden.7 Die Einheit von Held und Autor, von Erlebendem und Beschreibendem schien bei patriotischer Unterhaltung maximale Authentizität zu garantieren. „Graf Dohnas Möwebuch“8 zierte auf der Innenseite des Einbands ein fotografisches Porträt, das den Autor im Kapitänsdress und damit in seiner doppelten Autorität zeigte (Abb. 2). Wohl angetrieben von der Popularität der Propaganda über die erste Reise der Möwe im Atlantik, drehte bei der zweiten „Feindfahrt“ im Winter 1916/17 Kapitänleutnant Wolf, der im März 1917 selbst Kommandant der Möwe wurde, Szenen mit einem an Bord gebrachten Kinematographen. Die Aufnahmen wurden im Jahr 1917 an das Auswärtige Amt für 100.000 Reichsmark verkauft9

3 Vgl. Wiehler 1922, S. 21, nach Oppelt 2002, S. 123 f. 4 Am 17. Mai 1916 trafen 102 Inder von der Möwe im „Halbmondlager“ ein. Notiz in: PA-AA, WK 11 s, R 21256, Bd. 12, Blatt 204. 5 Von dem zweiten Buch, Der Möwe zweite Fahrt, erschienen auch eine ungarische und eine spanische Ausgabe. Außerdem gab es weitere Bücher anderer Autoren über die Möwe. 6 Vgl. Dohna-Schlodien 1916, S. 63 f. 7 Vgl. u. a. von Mücke 1915; von Richthofen 1917. 8 Dohna-Schlodien 1916, Titel auf der Innenseite. 9 „Der Moewefilm ist von seinem Hersteller, Herrn Kapitänleutnant Wolf, für den Preis von M. 100.000,– erworben worden, damit dieses wichtige Kriegsdokument nicht in die Hände privater Firmen falle und damit das Negativ verloren gehe.“ BA R 901, Akte 71948; PA-AA,

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Abb. 1: Das Buch S.M.S. Möwe von 1916.

Filmpropaganda (27.3.-8. 7. 1917), Schreiben der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes an die Nachrichtenabteilung vom 22. 5. 1917, Bl. 78 – 80, hier S. 78.

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Abb. 2: Nikolaus Graf zu Dohna-Schlodien.

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und anschließend zu einem Propagandafilm verarbeitet. Der im April 1917 durch das Bild- und Filmamt als „bedeutsamste Urkunde des Weltkrieges“10 angekündigte Film Graf Dohna und seine Möwe wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Propagandafilme des Ersten Weltkriegs. Die Heldenfigur des Kapitäns verschmolz mit dem Kriegsinstrument Möwe und verwuchs mit ihr im Filmtitel zur Einheit: „Dohna und seine Möwe“ stellt eine Mensch-Maschine-Identifikation her, wie sie typisch für den Ersten Weltkrieg war. Der fleischliche Held wurde mit neuer Technik gepanzert, welche hier den Namen eines Tiers, der Möwe hatte und das Pferd des Ritters ersetzte. Diese Paarbildung spiegelt sich auch in der Bildpolitik des Buches: Das Cover mit dem Gemälde einer fliegenden Möwe vor einem versenkten Schiff wird durch das Porträt des Grafen auf der ersten Seite flankiert. Beide Medien, Bücher und Film, reproduzieren jenen männlich-herrschaftlichen Gestus, der sich über Personalisierung ein Denkmal in der Geschichte setzt.

Malen mit Worten: Dohnas Beschreibung der „Inder“ In seinem Buch von 1916 widmete Dohna nicht nur den besiegten Kapitänen Raum, sondern auch den ethnografisch Anderen von niedrigerem Rang: den „Indern“, die als Besatzung von der Clan MacTavish auf die Möwe übernommen wurden (Abb. 3). Er führte er das Moment des Fremden als Schauobjekt, als Pittoreskes programmatisch ein: „Unter den bei uns zurückgebliebenen Fahrgästen waren die Inder zweifellos die weitaus interessantesten. Wenn man von ihnen erzählen will, müßte man eigentlich immer gleich nebenbei ein buntes Bild von ihnen malen. Denn überall, wo man sich hinstellt und wann immer man sie beobachtet, geben sie mit ihren bunten Turbanen und vielfarbigen Anzügen ein Bild, das sich leichter mit dem Pinsel als mit Worten malen läßt. In ihrer ganzen Haltung liegt etwas sehr Anziehendes und Würdiges und sie scheinen sich auch durchaus der Schönheit ihres Bildes bewußt zu sein. Ich habe das braune Volk schon dieser Äußerlichkeiten halber sehr gern als Gäste an Bord gehabt. Immerhin habe ich sie natürlich nicht aus ästhetischen Gründen an Bord behalten, sondern weil sie eben sehr gut zu gebrauchen waren.“11

10 „Ein noch nie dagewesenes einzigartiges Filmwerk! Die bedeutsamste Urkunde des Weltkrieges ‚Graf Dohna und seine Möwe‘ – zweite Kaperfahrt der S.M.H. ‚Möwe‘. OriginalAufnahmen des ersten Offiziers Kapitänsleutnant Wolf. Ausfahrt – Versenkungen – Kaperungen – Gefangenen – Übernahme – Freilassungen – Zerstreuungen an Bord – Heimkehr. Dieses Filmwerk bringt den Beweis für die strenge Innehaltung seemännischer Pflichten durch deutsche Seeleute in dem von England den Deutschen aufgezwungenen Vernichtungskampf gegen englische Tornage.“ LichtBildBühne 16, 21. 4. 1917, Anzeige, S. 1a und 1b. 11 Dohna-Schlodien 1916, S. 72.

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Abb. 3: „Die von der Möwe gemachten Gefangenen nach der Landung in Deutschland.“

Ganz in der Tradition der Populärkultur des 19. Jahrhunderts gab Dohna in Bezug auf das Andere, Fremde nicht dem Hören – den unverstandenen Sprachen – den Vorrang, sondern dem Sehen, dem Schauen, das sich mit wohligem Schaudern verband. Seinen schreibenden Pinsel betätigte er weniger ausführlich in Bezug auf die Handlung – er versicherte kurz, dass die muslimischen Inder gute Arbeit an Bord, vor allem beim Kohleschleppen geleistet hätten – als vielmehr in Bezug auf die Gewohnheiten der Anderen. In der Tradition von Romanen und Reiseerzählungen zeichnete er eine Art Sittenbild von den „Indern“, das sich mit ihrem Aussehen und ihren religiösen Ritualen befasste, vor allem aber mit dem Essen. „Wenn die Zeit dafür gekommen ist, legen sie [die Inder] die Arbeit, mit der sie gerade zu tun haben, einfach hin, und machen sich über ihren Hammel mit Reis oder Reis mit Hammel her. Andere Speisen scheinen für sie nicht zu existieren, ja, sie haben sogar anscheinend einen gewissen Abscheu vor unserem europäischen Essen. […] Ein besonders beliebtes Gericht außer dem Reis bildet für die Inder eine Art Kuchen. Woraus er eigentlich besteht, ist mir nie recht klar geworden. Da er sehr schön aussah, habe ich ihn einmal versucht. Er schmeckte aber scheußlich und ich mußte schleunigst hinterher einen Schnaps genehmigen.“12

Die ausgedehnte und auf Witz angelegte Schilderung entspricht einer Strategie des Othering, die in einer kolonialen Machtgeste das Exotische noch exotischer und das Europäische noch europäischer erscheinen lässt und dabei zugleich aus den Anderen eine homogene Gruppe macht. Nach Gayatri Spivak ist „das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und heterogene Projekt, das koloniale Subjekt 12 Ebd., S. 74 f.

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als anderes zu konstituieren“, ein deutliches Beispiel für epistemische Gewalt: „Dieses Projekt bedeutet auch die asymmetrische Auslöschung der Spuren dieses Anderen in seiner prekären Subjektivität bzw. Unterworfenheit.“13 Dohna benennt und hierarchisiert Differenzen zwischen sich bzw. seinen Leuten und den Anderen und verwendet dabei patriarchale und orientalistische Motive: Ihm erscheint das Essen der „Inder“ exotisch und scheußlich – es muss mit einem deutschen Schnaps gleichsam weggewaschen werden –, während ihm unverständlich bleibt, dass für „Inder“ europäisches Essen scheußlich sein könnte. Die koloniale Erzählung Dohnas ist ein Normalfall deutscher bzw. europäischer Erinnerungskultur, deren stereotypisierende, abwertende und rassistisch aufgeladene Muster jedoch durch die Verwertung für Propagandazwecke besonders hervorgehoben, während zugleich die deutschen Protagonisten und Medienmacher zu Helden erhoben wurden. Diese master narratives sind nicht in kolonialen Archiven erhalten – verstanden als Archive, die zur Erfassung, Dokumentation und Erforschung von kolonialisierten Menschen angelegt wurden –, sondern in europäischen Mediensammlungen, also Filmarchiven und Bibliotheken. Die koloniale Erzählung stellt sich als Normalfall von deutscher beziehungsweise europäischer Aufbewahrung dar.

Geschichten aus dem kolonialen Archiv Diesen kanonischen und propagandistischen, insofern auch zensierten und von militärischen Stellen unterstützten Erzählungen stehen die Tonaufnahmen von Mohammed Hossin aus dem Jahr 1918 entgegen, der Adjutant14 auf der Clan MacTavish war. Auch er hat die Kaperung durch die Möwe selbst erlebt, allerdings aus der Position des Besiegten, Gefangengenommenen beschrieben. Sein orales Zeugnis ist Teil jener Tonaufnahmen, die eine durch das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung eingesetzte Königlich Preußische Phonographische Kommission zwischen 1915 und 1918 in deutschen Kriegsgefangenenlagern sammelte. Sie bestand aus Sprach- und Musikwissenschaftlern sowie Afrikanisten und Orientalisten und hatte die Aufgabe, Beispiele der gesprochenen Sprache, der Gesänge und der Musik möglichst vieler Ethnien und Sprachgruppen aufzuzeichnen und zu archivieren.15 13 Spivak 2008a, S. 42. Dagegen kommt es nach Spivak auf das Gegenteil an: „Dennoch gilt es darauf zu bestehen, dass das kolonialisierte subalterne Subjekt unwiederbringlich heterogen ist“ (ebd., S. 49). 14 Der Personalbogen des Berliner Lautarchivs vermerkt als Beruf „Steward“. Das von Hossin selbst benutzte bengalische Wort in seiner Tonaufnahme übersetzt Santanu Das ins Englische mit „officer’s boy“. 15 Zur Phonographischen Kommission vgl. u. a. Ziegler 2000; Ziegler 2006, S. 24 f.

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Hossins Tonaufnahmen in Bengali, insgesamt drei Platten, wurden zu sprachwissenschaftlichen Zwecken mit einem Grammophon am 7. Februar 1918 aufgenommen. Sie liegen heute digitalisiert, aber unveröffentlicht im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin.16 Bei dem Lautarchiv handelt es sich zumindest im Fall der Aufnahmen von Kriegsgefangenen um ein koloniales Archiv, das angelegt wurde, um die Sprachen von Kolonialsoldaten der Kriegsgegner zu erforschen. Bis zum Kriegsende entstanden 1.650 grammophonische Platten mit Tonaufnahmen in verschiedenen deutschen Lagern. Von den Gefangenen wurden Zahlen- und Wortlisten sowie vor allem folkloristische Texte erfragt: Sagen, Märchen, Gedichte, Gebete, Anekdoten, Lieder. In der Sammlung des Lautarchivs finden sich aber auch Aufnahmen, auf denen die Kriegsgefangenen über ihre Biografie, individuelle Erlebnisse und persönliche Gedanken berichten. Die Tondokumente der Kriegsgefangenen wurden 1920 mit einer 1917 initiierten Sammlung von Stimmporträts berühmter Persönlichkeiten vereinigt und zur Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek gemacht. Im Jahr 1931 wurde die Verwaltung des Lautarchivs an die Berliner Universität übertragen. Heute gehört sie als „Berliner Lautarchiv“ zum Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin und ist in Räumen des Musikwissenschaftlichen Seminars untergebracht. Unter den „Aufnahmen berühmter Persönlichkeiten“ befanden sich die im Zusammenhang der militärischen master narrative geschilderten Namen: die martialische Rede „An das deutsche Volk“ von Kaiser Wilhelm II,17 die in fast jedem Dokumentarfilm zum Ersten Weltkrieg eingespielt wird, aber auch (nachträglich aufgenommene) Reden von hohen Militärs wie Paul von Hindenburg18 oder dem Kolonialgouverneur Heinrich Schnee.19 Während die Reden der „großen Namen“ heute immer wieder gesucht und in Geschichtsdokumentationen verwendet werden, sind die Tonaufnahmen der Kriegsgefangenen – aus demselben Archiv – bisher fast stumm geblieben: weil die internierten Soldaten nicht als Persönlichkeiten, sondern als Typen und Exemplare aufgenommen wurden, und weil es sich nicht um Reden aus privilegierter Position handelt, sondern um Zeugnisse aus subalternen Positionen.20 16 Zu den Tonaufnahmen von Mohammed Hossin vgl. Lange 2011; Lange 2014. 17 Vgl. BL, Aut 1, Wilhelm II., „Aufruf“, aufgenommen 1918. Unter Aut 1 ist heute allerdings nicht mehr der berühmte Aufruf archiviert, sondern eine andere Kaiserrede. Vgl. www. sammlungen.hu-berlin.de, [26. 1. 2014]. 18 Vgl. BL, Aut 4, Paul von Hindenburg, „Dank an die Truppen nach der Schlacht von Tannenberg“, aufgenommen 1917. 19 Vgk. BL, Aut 60, Heinrich Schnee, „Aufruf an die Deutschen Ostafrikas“, aufgenommen 1921. 20 Die Definition der Subalternen durch die indische Subaltern Studies Group um Ranajit Guha ist ab den 1990er Jahren mehrfach und sehr differenziert kritisiert worden. So hat etwa Dipesh Chakrabarty dargelegt, dass nicht nur große Unterschiede hinsichtlich der Kolonialisierten zwischen den einzelnen Regionen Indiens bestehen, sondern dass auch viele der von His-

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Zum Zeitpunkt seiner Tonaufnahme befand sich der Inder Mohammed Hossin im „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin (Abb. 4). Zusammen mit dem ebenfalls in Wünsdorf gelegenen „Weinberglager“ hatte die deutsche Regierung diese sogenannten politischen Sonderlager für Kolonialsoldaten aus der britischen und französischen Armee, Muslime und Menschen anderer nichtchristlicher Religionen eingerichtet, um diese dort gegen ihre Kolonialherren aufzuwiegeln und sie zum Überlaufen auf die deutsche Seite zu bewegen.21 Nach dem im Lautarchiv erhaltenen „Personalbogen“, den die Kommission zu jeder Aufnahme ausfüllte, war Hossin Muslim, in Kalkutta geboren worden, hatte die „Bengalische Volksschule in Calcutta“ besucht und war „mit 10 Jahren zur See“ gefahren (Abb. 5).22 Zum Zeitpunkt der Aufnahme war er bereits 50 Jahre alt und damit eine Ausnahme unter den Kriegsgefangenen. Er sprach Hindi und Bengali. Als Sprecher wurde er von dem Indologen Heinrich Lüders betreut, der die Abteilung Indische und mongolische Sprachen innerhalb der Phonographischen Kommission leitete. Hossin gab eine „Geschichte von der Möwe“ in Bengali zu Protokoll, wie seine Erzählung von der Kommission benannt wurde. Entweder schrieb er sie selbst auf, wahrscheinlicher aber ist, dass er diktierte, denn bei der eigentlichen Tonaufnahme scheint er mit Mühe abzulesen. Alle Stücke, die die Linguisten der Phonographischen Kommission aufnahmen, wurden zunächst aufgeschrieben und dann für die eigentliche Tonaufnahme abgelesen oder auswendig vorgetragen, um eine exakte Übereinstimmung von Gesprochenem und Geschriebenem zu erzielen. Die eigentlichen Tonaufnahmen sind daher nicht spontan gesprochen, sondern abgelesen und stellen eine eigentümliche Mischung von geschriebener und gesprochener Sprache dar: verbalisierte Schrift. Die Kommission hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jeder Tonaufnahmen außer dem Personalbogen drei Umschriften des aufgenommenen Textes anzufügen: eine Niederschrift in der Landessprache, eine phonetische Transkription und eine Übersetzung, möglichst ins Deutsche. Zu den Platten von Mohammed Hossin haben sich keine zeitgenössischen Umschriften erhalten. Die hier verwendete Übersetzung des Bengalischen ins Englische hat 2008 der Historiker Santanu Das erstellt, der selbst in Kalkutta geboren wurde.

torikern als spezifisch indigen charakterisierten Handlungen durchaus in Resonanz zu westlichen und kolonialen Praktiken stehen (vgl. Chakrabarty 2000). In diesem Text verwende ich den Begriff „subalterne Position“, um die Situationsbezogenheit des jeweiligen Handelns hervorzuheben und zu vermeiden, eine Person ganz oder gar nicht als eine/n „Subalterne/n“ zu charakterisieren. 21 Vgl. Höpp 1997. 22 BL, PK 1150, Personalbogen.

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Abb. 4: Offizielle Postkarte des „Halbmondlagers“ in Wünsdorf bei Berlin, Erster Weltkrieg.

Die Geschichte ist so lang, dass sie auf drei Platten aufgenommen werden musste, von denen jede etwa drei Minuten dauert. Den Namen Möwe gab Hossin als Melva wider. Der Text der ersten Platte, PK 1150, lautet: „Hört, ihr Seeleute. Wir sind in Gefahr. Im Jahr 1916, Sonntag, den 16. Januar abends um 7 Uhr erschien ein deutscher Kreuzer mit dem Namen Melva längsseits, grüßte durch das Megaphon und fragte: ,Wie ist der Name eures Schiffs?‘ Captain Oliver antwortete: ,Mein Schiff heißt Clan MacTavish. Ich bin auf dem Weg von Australien nach London.‘ Die See dort heißt spanische Mittelmeerküste. In diesem Augenblick feuerte der Kreuzer Möwe eine Granate ab und tat kund, dass er ein deutscher Kreuzer war. Als Captain Oliver auf der Clan MacTavish erfuhr, dass es sich um einen deutschen Kreuzer handelte, ließ er zwei Salven Kanonenschüsse auf den Kreuzer abfeuern. Der unter Beschuss genommene Kreuzer schoss 5 Kanonenkugeln zurück. Die Leute rannten durcheinander. Der Captain des Kreuzers fragte den Captain der Clan MacTavish: ,Wer befindet sich in eurer Crew?‘ Der Captain antwortete: ,Es sind Muslime aus Kalkutta.‘ Als der Captain des Kreuzers erfuhr, dass wir Muslime waren, schickte er Rettungsboote herüber und gab der Clan MacTavish 15 Minuten, um die Crew überzusetzen, sowohl die Engländer als auch die Muslime. Die ganze Besatzung der Clan MacTavish ging an Bord der Melva. 17 Männer waren durch die 5 Kanonenschüsse der Melva umgekommen. Der Captain der Melva sagte zu uns: ,Ihr seid Muslime‘, schlug uns und zählte uns durch. Dann sagte er: ,Ihr werdet arbeiten.‘ Als er unser Verhalten sah, begann er nach einer Woche, uns den doppelten Lohn zu zahlen … Das ist alles.“23 23 BL, PK 1150, „Geschichte von der Möwe“ in Bengali von Mohammed Hossin aus Kalkutta,

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Abb. 5: „Personal-Bogen“ zur Tonaufnahme PK 1152 mit Mohammed Hossin, Berliner Lautarchiv.

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Hossins Schilderung des Verhaltens der Möwe deckt sich in etwa mit dem Bericht Dohnas, fügt jedoch eine Episode an, die Dohna ausspart, da sie nicht zur Meistererzählung gehört: die Behandlung der Mannschaft. Ein weiterer Bericht über die Kaperung der Möwe im Lautarchiv bestätigt, was Hossin zu Protokoll gegeben hat. In seiner Tonaufnahme sprach der 26-jährige Mohammed Hanif aus Kalkutta, der als „Captain’s Boy“ tätig war, folgenden Text in Hindi in den Grammophontrichter: „Unser Schiff erreicht die Nordsee. Von dort kommt ein anderes Schiff. Es fuhr unter englischer Flagge. Dann holte es die englische Flagge ein und hisste die deutsche Flagge. Nachdem es die deutsche Flagge gehisst hatte, sahen wir seine Kanonen. Da bekamen wir Angst. Ein Offizier des deutschen Schiffes kam an Bord unseres Schiffs. Ihr braucht keine Angst zu haben. Als er an Bord kam, sagte er zu uns, wir bräuchten keine Angst zu haben. Wir stiegen zum Wasser hinunter, ins Boot. Als wir eingestiegen waren, fuhren wir zum Schiff Melva hinüber. Als wir die Melva erreichten, ließen sie uns eine Leiter herunter. Wir kletterten auf Deck. Als wir an Deck geklettert waren, sahen wir, dass es ein Kriegsschiff war. Der Kapitän kam herunter und sagte … Der Kapitän kam herunter und sagte zu uns, wer seid ihr? Wir sind Muslime. Wir bekamen eine Menge zu essen. Danach sagt er zu uns: Ihr werdet ein wenig arbeiten. Ihr werdet ein wenig arbeiten und Geld bekommen. Wir bekamen zwölf Schilling die Woche. Als er uns den Wochenlohn gegeben hatte, sagte er uns, wenn wir so weitermachten, würden wir gut zu essen bekommen. Wir machten so weiter, arbeiteten. Zwei Monate blieben wir auf der Melva. Mohammed Hanif“24

Hossins und Hanifs Geschichten stellen in Europa archivierte, aber zugleich in Europa unbekannte Zeugnisse über ein Ereignis aus dem Ersten Weltkrieg dar. Auf Deutsch gibt es nichts Vergleichbares, es existieren keine Tondokumente von einfachen deutschen Soldaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs oder über die Möwe. Die Geschichten von Hossin und Hanif sind in mehrfacher Hinsicht besonders: Es sind historische Tondokumente zum Ersten Weltkrieg von „nichtberühmten“ Persönlichkeiten, die nicht nur eher niedrigen sozialen Schichten angehören, sondern zudem aus einem Land kommen, das aus europäisch-imperialer Sicht zu den Kolonien zählt. Beide sprechen aus einer subalternen Position, folgt man der Begriffsverwendung von Gayatri Spivak: aus der Perspektive von Menschen, die eigentlich nie zur Sprache kommen beziehungsweise kommen dürfen, aufgrund ihrer geografischen Herkunft und ihrer sozialen Klas-

50 Jahre alt, Steward, aufgenommen im „Halbmondlager“ in Wünsdorf am 7. 2. 1918. Alle drei Teile waren im Lautarchiv ohne Transkriptionen. Aus dem Bengalischen ins Englische von Santanu Das (2008); aus dem Englischen B.L. Vielen herzlichen Dank an Santanu Das. 24 BL, PK 1149, „Geschichte von der Möwe“ in Hindi von Mohammed Hanif aus Kalkutta, 26 Jahre alt, Captain’s Boy, aufgenommen im „Halbmondlager“ in Wünsdorf am 7. 2. 1918. Übersetzung aus dem Hindi ins Englische: Rubaica Jaliwala, 2013.

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senzugehörigkeit, hier aber zugleich aus der Perspektive des Kolonialisierten wie des Kriegsgefangenen. In ihrem Essay „Can the Subaltern Speak?“, in einer ersten Fassung 1985 publiziert, hat Gayatri Spivak sich mit der Frage beschäftigt, ob und wie die Subalternen zu Gehör kommen können. Der Begriff der „Subalternen“ ist dabei – der Legende nach – selbst im Gefängnis geboren worden: Spivak bezog ihn aus der politischen Theorie von Antonio Gramsci, der in seinen Gefängnistagebüchern (1934 – 1935) unter dem Druck von Zensur im faschistischen Italien das Wort „Proletarier“ durch die „Subalternen“ ersetzte, jene Klassen, die der Hegemonie der herrschenden Klassen unterworfen sind.25 Es erscheint angemessen, in Abwandlung von Spivak die Kriegsgefangenen in den Lagern des Ersten Weltkriegs als in einer subalternen Position befindlich zu begreifen: Sie waren nicht nur aus niedrigen sozialen Schichten in eine Kolonialarmee gezwungen worden, sondern befanden sich darüber hinaus im Lager in Gefangenschaft, ausgeliefert der Macht der militärisch Überlegenen. Oder wie auch Santanu Das hervorgehoben hat: „[…] these non-white colonial soldiers and labourers of the first World War were ‚subalterns‘ both in terms of class origin and predicament“.26 Ihre Zeugnisse haben sich in einem kolonialen Archiv erhalten, dessen Zweck es nicht war, Zeit- und Selbstzeugnisse zu produzieren oder Biografien von Kolonialisierten zu dokumentieren. Vielmehr sollten die Sprachkonserven der phonetischen Forschung dienen. Als sprachwissenschaftliches Archiv war es auf das Protokollieren von Sprache angewiesen; es zeichnete ihre physisch-klanglichen Eigenschaften, ihre sprachliche Architektur ebenso wie ihre intellektuellsemantische Dimension auf. Eben die spezifischen Eigenschaften der Sprache und der Sprachaufzeichnung – in denen nicht nur der Klang und Grammatik, sondern auch Sinn transportiert wird – haben dazu geführt, dass aus Sicht der Forschung gleichsam hybride Dokumente entstanden: geschriebene und gesprochene Beispiele der Sprachen Hindi und Bengali – und zugleich persönliche Geschichten vom Krieg. Diese Dimension der Sprache, Sinn zu produzieren, mit physisch-individueller, doch zugleich auch politischer Stimme zu sprechen, ignorierten die Wissenschaftler, oder sie nahmen sie in Kauf, um ihr Ziel zu erreichen, Sprachbeispiele zu sammeln. Bei den Tonaufnahmen zur Kaperung der Clan MacTavish durch die Möwe handelt es sich um unwillkürliche Zeitzeugnisse avant la lettre, denn das Konzept des Zeitzeugen und der Zeitgeschichte entstand in Deutschland erst nach 1945. Zudem tragen sie Züge einer zufällig vorweggenommenen oral history, des in den 1970er Jahren in die deutschen Geschichtswissenschaften importierten Konzepts 25 Vgl. Steyerl 2008, S. 8. 26 Das 2011, S. 4.

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einer mündlich berichtenden Alltagsgeschichte der (angeblich) kleinen Leute.27 Im Sinne einer solchen kritischen Geschichtsschreibung „von unten“ handelt es sich bei Hossins und Hanifs Zeugnissen auch um eine Gegengeschichte zum (propagandistischen) Kanon, Berichten von unten. Beide zeugen darüber hinaus nicht nur von einem Seegefecht, sondern auch davon, wie ihnen und ihren Mitgefangenen begegnet wurde: es ist nicht nur Ereignisgeschichte, sondern auch Kulturgeschichte, eine Geschichte über den Umgang von Europäern mit Indern, von Deutschen mit Muslimen, und nicht zuletzt eine Geschichte der Gefühle.28 Gerade die Fortsetzung von Hossins Geschichte umfasst persönliche Gedanken und seine Situation im Lager. Es lässt sich kaum beurteilen, inwiefern die Texte der Gefangenen selbst verfasst sind. Gerade wenn sie selbst nicht schreiben konnten, ist fraglich, welchen Anteil der Transkriptor an den Formulierungen hatte. Doch auch die Gefängnissituation als solche muss sich auf die Schreib- und Sprechakte ausgewirkt haben: Bisher ließ sich nicht herausfinden, ob die Texte der Gefangenen für die Tonaufnahmen der Zensur unterlagen – während bekannt ist, dass alle Briefe der Kriegsgefangenen in die Heimat zensiert und im Zweifelsfall aussortiert wurden.29 Dass Hossin in seiner Aufnahme davon berichtet, der deutsche Kapitän habe die Muslime geschlagen, spricht dafür, dass die Texte für die Tonaufnahmen nicht zensiert wurden: Denn diese Passage hätte die Zensur in jenem Lager, das pro-muslimische Propaganda betrieb und für den Djihad zu begeistern suchte, im Normalfall herausfiltern müssen. Die Zensur führte umgekehrt dazu, dass Briefschreiber bestimmte Sinngehalte verschlüsselten. Doch selbst wenn die Tonaufnahmen womöglich nicht der Zensur unterlagen, ist davon auszugehen, dass eine Art Selbstzensur geübt wurde, die in etwa den Sprechverboten in den Lagern entsprach: So ist bekannt, dass das Wort „Hunger“ nicht fallen durfte.30 Auf der zweiten Platte sprach Mohammed Hossin: „Höre, Bruder. Wir bekamen 50 Tage lang Fett, Vollkornweizenmehl, Kartoffeln, Butter, Reis und Sardinen zu essen. Der Captain der Melva suchte unsere Quartiere gewöhnlich zwei bis drei Mal am Tag auf und sagte uns, wir sollten uns keine Sorgen machen. Auf der Melva blieben wir einen Monat und 24 Tage. Danach wurden wir nach Oleum Savran31 gebracht. Dem Lagerkommandanten von Oleum Savran wurde berichtet, dass wir Muslime seien. ‚Bitte kümmern Sie sich um sie und geben Sie ihnen gut zu essen.‘ Als er dies gesagt hatte, ging der Captain der Melva fort. Seinem Wunsch

27 28 29 30 31

Vgl. Niethammer 1985. Vgl. Scheer 2012. Vgl. u. a. Doegen 1921. Vgl. dazu Spitzer 1920. Dies dürfte der Name eines Kriegsgefangenenlagers sein, es lässt sich aber aufgrund der Aussprache nicht mit einem bekannten Lagernamen identifizieren. Die Laskaren von der Möwe wurden in Lagern in Güstrow und Parchim interniert.

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entsprechend, gab uns der Lagerkommandant von Oleum Savran gut zu essen. Wir bekamen Reis, Fleisch, Fisch, Kartoffeln, Huhn, Eier. […] In Oleum Savran blieben wir drei Monate lang. Eines Tages kam der Leiter von Oleum Savran zu uns und fragte: ,Woher kommt ihr?‘ Wir sagten, wir seien Muslime aus Indien. Er fragte, wie es uns im Lager ging. Wir sagten, dass man uns gut behandele, aber dass wir nur eines wünschen. Wir möchten zurück nach Indien. Er verstand das falsch und schickte uns in das Gefangenenlager für Inder. Wir dachten bei uns, nun müssen wir in diesem garod [Loch, schäbige Unterkunft] bleiben, bis der Krieg zu Ende ist. Wir blieben in diesem Lager acht Monate lang im Chaos.“32

Auch Hossin berichtet über das Essen, freilich ganz anders als das auflagenstarke deutsche Buch über die erste Reise der Möwe. Einerseits mag die Bandbreite an geschilderten Nahrungsmitteln davon zeugen, dass er und seine Mitgefangenen tatsächlich ordentlich behandelt wurden und überleben konnten. Andererseits kann hier auch der Einfluss der unausgesprochenen Lagerzensur und der deutschen Wissenschaftler spürbar sein, die eine Schilderung von Mangel verboten. Vergleicht man die verschiedenen Versionen der Geschichte von der Möwe, so stehen sich in dem populären Buch S.M.S. Möwe und den unbekannten Tonaufnahmen zwei Varianten von Historiografie gegenüber. Der Roman von Dohna in der Rolle des siegreichen deutschen Kapitäns und des erfolgreichen Autors wurde veröffentlicht und in Hunderten von Kopien in Bibliotheken bewahrt. Der akustische Bericht Hossins aus der Position des kolonialisierten gefangen genommenen Mannschaftsmitglieds ist ein singuläres Tondokument und wird in einem einzigartigen kolonialen Archiv aufgehoben. Dohnas Roman wurde in propagandistischer und kommerzieller Absicht veröffentlicht. Hingegen erstellten Wissenschaftler Hossins Zeugnis, und sie hielten es während des Weltkriegs geheim.33 Dass es für die Geschichtsschreibung, die Kulturgeschichte lesbar wird, ist eine sehr junge Entwicklung: Bis vor zehn Jahren wurden die Audioaufnahmen, wenn überhaupt, aus der Perspektive der Sprach- und Musikwissenschaft bearbeitet. Sie wurden als (inzwischen historische) Dokumente gesprochener Sprache gehört, während den Geschichten nicht zugehört wurde. Kulturwissenschaftliche und alltagsgeschichtliche Ansätze interessieren sich für Geschichten in ihren historischen, aber auch literarischen, medialen wie (inter) kulturellen Kontexten. Sie hören und lesen diese eher persönlichen Aufnahmen als Zeit- wie Selbstzeugnisse avant la lettre. Sie nehmen diese Geschichten als Material der Geschichtsschreibung, als eine nicht beabsichtigte oral history des Weltkrieges. Die Analyse der Sprache verschiebt sich damit auch die Untersu-

32 BL, PK 1151, „Geschichte von der Möwe, II. Teil“ von Mohammed Hossin aus Kalkutta, aufgenommen im „Halbmondlager“ in Wünsdorf am 7. 2. 1918. 33 Vgl. Ziegler 2000, S. 201.

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chung der Stimme und der Stimmung, sowohl der physischen als auch der politischen Stimme: Wer spricht, zu wem, und wie, und warum?

talking und speaking Das Berliner Lautarchiv als koloniales Archiv enthält Spuren eines Archivs von „natives“, die noch entdeckt, übersetzt, verstanden und kontextualisiert werden müssen. Die Frage, die die indische Subaltern Studies Group um Ranajit Guha in den 1970er Jahren und später Gayatri Spivak aufgeworfen haben, lässt sich auch an dieses Archiv richten: Können darin Zeugnisse aus subalternen Positionen enthalten und erhalten sein? Oder sind diese weithin oder gar gänzlich verzerrt, zum Schweigen gebracht worden vom kolonialen Strich des Archivs? Auf seiner dritten und letzten Platte sprach Mohammed Hossin: „[…] Acht Männer, die krank waren und nicht arbeiten konnten, wurden in das Gefangenenlager in Havelberg geschickt. Wir blieben dort drei Monate lange. Diese acht Männer und 400 Leute von dem Schiff Hanjar kamen in das Gefangenenlager bei Lisia.34 Die Alten und Schwachen kamen nach London. Der Rest wurde nach Deutschland zum Arbeiten geschickt. Die Kranken blieben im Lager. Der Rest – die Sepoys – kamen nach Rumänien. Hey Khuda (Oh Gott), was für Kämpfe. Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Dichter, was soll ich schreiben? Wenn es hier mit mir zu Ende geht? Brüder, Seeleute. Wenn ich Fehler gemacht habe, vergebt mir bitte. Mein Name ist Mohamed Hussain. Ich bin Adjutant auf der Clan MacTavish. 1918, 4. Februar.“35

Die Kriegsgefangenen haben mit ihrer physischen Stimme gesprochen, die uns in technischer Reproduktion überliefert ist. Haben sie auch mit ihrer politischen Stimme gesprochen, ist diese vernehmbar oder wurde sie vernommen? „Wenn es hier mit mir zu Ende geht“ – dieser Satz weist auf die konkrete Situation im Gefangenenlager hin und macht die Aufnahme zu einem unheimlichen Zeugnis: Möglicherweise würde der Sprecher dort sterben. Warum, zu wem hat Hossin in der konkreten Situation gesprochen? Viele Antworten sind möglich, keine lässt sich belegen: Sprach er zu den Wissenschaftlern, zu dem Lagerkommandanten, zu den anderen Kriegsgefangenen, von denen er während der Aufnahme höchstwahrscheinlich umringt war? Wandte er sich an die britischen Behörden, von denen er vielleicht hoffte, sie bekämen die Aufnahme in die Hand, oder sprach er zu sich selbst, in einem inneren Monolog? 34 Möglicherweise ist Leipzig gemeint. 35 BL, PK 1152, „Geschichte von der Möwe (Schluss)“ von Mohammed Hossin aus Kalkutta, aufgenommen im „Halbmondlager“ in Wünsdorf am 7. 2. 1918.

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Nach Spivaks Argumentation ist das (koloniale) Archiv selbst ein Produkt der Macht, in der die Spuren der Subalternen notwendig verwischt sind und ihre Artikulation gleichsam von den Machtverhältnissen kontaminiert ist. Die Äußerungen der Subalternen, vor allem, wenn sie zudem Frauen sind, können bestimmte Sachverhalte nicht artikulieren, weil die Ordnung der Diskurse es nicht zulässt: Sie sprechen zwar, doch ihr Sprechen bleibt wirkungslos, es bleibt talking – gegenüber dem wirkungsvollen speaking, dem Sprechen mit politischer Stimme. Spivak illustriert dies an dem (nicht besonders glücklich gewählten) Fall von Bhuvaneswari Bhaduri, die sich 1926 in der Wohnung ihres Vaters im Norden Kalkuttas während ihrer Menstruation erhängte. Ihr Selbstmord wurde als Reaktion auf eine unerlaubte Schwangerschaft interpretiert, später wurde jedoch herausgefunden, dass sie in den bewaffneten Kampf um die indische Unabhängigkeit verstrickt war und sich das Leben genommen hatte, weil sie einen ihr aufgetragenen politischen Mord nicht ausführen konnte. Nach Spivak schrieb Bhuvaneswari „den sozialen Text des sati-Selbstmordes vielleicht auf interventionistische Weise um“,36 was sie zu der Schlussfolgerung führt: „Die Subalterne kann nicht sprechen.“37 In Reaktion auf die vielfältige Kritik und Missverständnisse, die ihr diese These eintrug, hat Spivak sie im Nachhinein dahingehend präzisiert, dass die Subalterne sogar unter Einsatz ihres Körpers und Lebens „nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen – und Sprechen und Hören machen den Sprechakt erst vollständig.“38 Sie unterschied demnach zwischen talking als ungehörtes Sprechen bzw. Reden und speaking als Sprechen bzw. erfolgreiche Kommunikation mit aktiven Partnern: „Mit ‚sprechen‘ habe ich natürlich eine Transaktion zwischen SprecherIn und HörerIn gemeint.“39 Folgt man Spivak, so scheint es offensichtlich, dass das Sprechen der Kriegsgefangenen in den Grammophontrichter im Lager ein talking war, ein Reden ohne zuhörenden und handelnden Gegenpart, dass man ihr Reden als fehlgegangenen Kommunikationsversuch verstehen muss. Doch scheint mir diese Schlussfolgerung zu einfach. Die Texte und Sprechakte der Gefangenen, die als linguistische Studienobjekte ausgesucht wurden, zeigen, dass sie versuchten, mit ihrer politischen Stimme zu sprechen, Gefühle und Forderungen auszudrücken, Botschaften zu senden – unter medialen Bedingungen, die in Spivaks Essay weder im Allgemeinen reflektiert noch im Spezifischen auf das Opfer des Körpers (als Medium) von Bhuvaneswari bezogen werden.

36 37 38 39

Spivak 2008a, S. 104. Ebd., S. 106. Spivak 2008b, S. 127. Ebd., S. 122. (Engl. Original: „By speaking I was obviously talking about a transaction between the speaker and the listener“).

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Ein Foto von Tonaufnahmen der Phonographischen Kommission mit indischen Gefangenen im „Halbmondlager“ aus dem Ersten Weltkrieg, das wahrscheinlich zusammen mit den anthropologischen Porträts durch einen professionellen Fotografen hergestellt wurde (Abb. 6), ist sicherlich gestellt. Dennoch ist es insofern repräsentativ, als es das „Sprechaufzeichnungsdispositiv“40 zeigt: Im Mittelpunkt steht das Grammophon als Aufnahmemaschine, dahinter schaut der Techniker hervor. Der Sprecher wird vom Wissenschaftler im richtigen Abstand zum Trichter gehalten, über dem sich das Blatt mit dem abzulesenden Text befindet. Der Lagerkommandant ist anwesend, ebenso Mitgefangene und eventuell weitere Sprecher sowie ein Zaungast am Fenster. Es ist demnach gut möglich, dass der sprechende Gefangene mit seiner Rede die Mitgefangenen adressierte, die auf sein dann erfolgreiches speaking mit anderen geschriebenen oder aufgenommenen Texten reagierten.

Abb. 6: Eine Grammophonaufnahme mit indischen Kriegsgefangenen im „Halbmondlager“ in Wünsdorf, Erster Weltkrieg.

Spivak hat die Frage nach dem Medium und der Aufzeichnungsapparatur von speaking unbeachtet gelassen und sich nicht mit der Überlegung einer räumlichen und / oder zeitlichen Verschiebung der Rede befasst. Unter Heranziehung 40 Balke 2009, S. 70.

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des historischen Kontextes soll hier die Lesart vorgeschlagen werden, dass Hossin vor allem zum Grammophon gesprochen hat. Geboren in Kalkutta und durch seinen Beruf als Seemann in der Welt herumgekommen, dürfte er nicht jenen Projektionen von sogenannten „Primitiven“ entsprochen haben, die zum ersten Mal einem technischen Apparat begegnen und Furcht und Faszination bezeugen. Nach Michael Taussig handelt es sich bei solchen Projektionen vor allem um europäische Fantasien, die den eigenen Schock über die scheinbar magische technische Reproduktion auf die infantilisierten „Anderen“ übertragen.41 Im Gegenteil muss davon ausgegangen werden, dass Hossin vertraut war mit der Aufnahmetechnik, denn Indien und besonders Kalkutta waren seit 1900 Zentren der Grammophonindustrie, wo nicht nur Platten, sondern auch der Rohstoff Schellack für internationale Märkte produziert wurden. Nach verschiedenen europäischen Aufnahmeexpeditionen ab 1902 nach Indien wurde 1908 in Kalkutta eine Schallplattenpresserei eingerichtet. Um 1910 operierten etwa 75 Schallplattenunternehmen in Indien.42 Hossin kann demnach gewusst haben, dass ein Grammophon Mitteilungen speichern konnte, die später – im Lager, im Archiv, in einer Behörde – von jemandem abgeholt und gehört werden würden, ohne dass der Sprecher selbst die Distributionskanäle beeinflussen konnte. Die direkte Kommunikation durch das Sprechen wird verändert, indem Zeit und Raum zwischen das Senden und das Empfangen von Nachrichten treten kann. Als These soll daher formuliert werden, dass Hossin seine Mitteilungen postlagernd auf die Platten sprach: Einerseits lieferte er einen historischen Bericht, seine Wahrheit über die Kaperung der Clan MacTavish für die Historiografie im Archiv und möglicherweise auch mit der Hoffnung auf Veröffentlichung. Wenn es demnach vor allem auf die Botschaft selbst ankommt, so tritt die hochproblematische Frage in den Hintergrund, ob hier ein (koloniales) Subjekt spricht und um welche Form der Subjektivität es sich handeln kann. Andererseits legte Hossin ein persönliches Zeugnis ab, sprach ein S.O.S. aus dem Lager in das Grammophon als Speicher politischer Botschaften, die potenziell bei einem Retter ankommen können. Für das Bewusstsein über die Schallplatte als Speicher spricht die Bemerkung über seine historische Situation, seine Anspielung auf seinen möglichen Tod im Lager: Viele vergleichbare Tonaufnahmen sind jeweils das letzte Zeugnis des Sprechers, der danach im Lager verstarb. Eine Schallplatte aufzunehmen bedeutete auch, sich ein ästhetisches Denkmal im Ton zu setzen, und dies geschah zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach in Kalkutta, wo be-

41 Taussig 1993, bes. S. 193 – 211 („The Talking Machine“). 42 Vgl. Chandvankar 2014.

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rühmte Sänger und lokale Größen ins Grammophon sangen und deren Platten dann, geschmückt mit ihrem Bild, zu Hunderten zirkulierten.43 Hossins „Geschichte von der Möwe“ ist jedoch nicht nur ästhetisch, sondern auch informationell bestimmt. „Wenn es hier mit mir zu Ende geht“, diese Aufnahme ist auch Hossins potenzielles Testament – ein Textgenre, dass per definitionem postlagernd, poste restante ist. Botschaften, die bewusst postlagernd über das Grammophon aufgegeben wurden, können nur noch zu spät bei Rettern außerhalb des Lagers ankommen. Wurden sie jedoch postlagernd für die Nachkommen, für die Menschen aus Kalkutta, für die englische Marine, für das Archiv oder für Historiker/innen aufgegeben, so können sie heute noch ankommen. Wenn sie gehört werden, so handelt es sich um einen Ausnahmefall von speaking, eine Rede, die mit fast einhundert Jahren Verspätung „erfolgreich“ kommuniziert.

Literatur Anonym, „Graf Dohna und seine Möwe“, in: Illustrierte Filmwoche 5, 1917, Nr. 12/13, S. 59. Friedrich Balke, „,Rete mirabile‘. Die Zirkulation der Stimmen in Philip Scheffners Halfmoon Files“, in: Sprache und Literatur 40/2, 2009, S. 58 – 78. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Suresh Chandvankar, „Indian Grammophone Records. The first 100 years“, verfügbar unter: http://www.mustrad.org.uk/articles/indcent.htm [26. 1. 2014]. Santanu Das, „The Singing Subaltern“, in: parallax 17/3, 2011, S. 4 – 18. Wilhelm Doegen, Kriegsgefangene Völker Band 1. Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal in Deutschland, bearbeitet in Verbindung mit Theodor Kappstein und herausgegeben im amtlichen Auftrage des Reichswehr-Ministeriums, Berlin 1921, S. 71 – 76. Wilhelm Doegen, Unsere Gegner damals und heute. Engländer und Franzosen mit ihren fremdrassigen Hilfsvölkern in der Heimat, an der Front und in deutscher Gefangenschaft im Weltkriege und jetzigen Kriege. Großdeutschlands koloniale Sendung. Veröffentlicht nach amtlichen Aufzeichnungen und mit eigenen Originalaufzeichnungen mit 100 Bildern, Berlin 1941. Nikolaus Graf zu Dohna-Schlodien, S.M.S. „Möwe“, Gotha 1916. Gerhard Höpp, Muslime in der Mark – Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914 – 1924, Berlin 1997. http://de.wikipedia.org/wiki/SMS_M%C3%B6ve_%281914%29 [26. 01. 2014]. Britta Lange, Einen Krieg ausstellen. Die ,Deutsche Kriegsausstellung‘ 1916 in Berlin, Berlin 2003.

43 Vgl. Partharasati 2008.

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Britta Lange, „South Asian Soldiers and German Academics: Anthropological, Linguistic and Musicological Field Studies in Prison Camps“, in: Ravi Ahuja, Heike Liebau u. Franziska Roy (Hg.), ,When the war began, we heard of several kings.‘ South Asian Prisoners in World War I Germany, New Dehli 2011, S. 149 – 184. Britta Lange, „,Wenn der Krieg zu Ende ist, werden viele Erzählungen gedruckt werden.‘ Südasiatische Positionen und europäische Forschungen im ,Halbmondlager‘“, in: Ravi Ahuja, Heike Liebau u. Franziska Roy (Hg.), Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in Deutschen Propagandalagern 1914 – 1918, Heidelberg 2014, S. 165 – 208. LichtBildBühne. Die Fachzeitung der Filmindustrie, 1908 – 1940. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg, Berlin 2004. Lutz Niethammer, „Einführung“, in: Ders. (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ,Oral History‘ [1980], Frankfurt/M. 1985, S. 7 – 33. Neueste Illustrierte Rundschau, 1916 – 1918. Ulrike Oppelt, Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2002. Vibodh Partharasati, „Not Just Mad Englishmen and a Dog: The Colonial Tuning of ,Music on Record‘, 1902 – 1908“, Jamia Millia Islamia, New Delhi, Centre for Culture, Media & Governance, Working Paper No. 02/2008. Monique Scheer, „Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion“, in: History and Theory 51, 2012, S. 193 – 220. Leo Spitzer, Die Umschreibungen des Begriffs ,Hunger‘ im Italienischen: Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial, Halle 1920. Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?“ [engl. Erstveröffentlichung 1985], in: Ders., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008a, S. 17 – 118. Gayatri Chakravorty Spivak, „Ein Gespräch über Subalternität“ [engl. Erstveröffentlichung 1988], in: Ders., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008b, S. 119 – 148. Hito Steyerl, „Die Gegenwart der Subalternen“, in: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 7 – 16. Michael Taussig, Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York/ London 1993. Hellmuth von Mücke, Emden, Berlin 1915. Manfred Freiherr von Richthofen, Der rote Kampfflieger, Berlin 1917. Rudolf Wiehler, Deutsche Wirtschaftspropaganda im Ersten Weltkrieg, Berlin 1922. Susanne Ziegler, „Die akustischen Sammlungen. Historische Tondokumente im Phonogramm-Archiv und im Lautarchiv“, in: Theater der Natur und Kunst, Ausstellungskatalog hg. von Horst Bredekamp, Jochen Brüning u. Cornelia Weber, Berlin 2000, S. 197 – 206. Susanne Ziegler, Die Wachszylinder des Berliner Phonogramm-Archivs (= Veröffentlichungen des Ethnologischen Museums Berlin NF 73), Berlin 2006.

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Archiv Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA-AA) Berliner Lautarchiv (BL) Bundesarchiv (BA)

Abbildungen Abb. 1: Dohna-Schlodien 1916, Umschlag. Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 2: Dohna-Schlodien 1916, Titelbild innen. Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 3: Dohna-Schlodien 1916, S. 96. Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 4: Privatsammlung Philip Scheffner, Berlin. Abb. 5: Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Abb. 6: Doegen 1941, Tafel XXII.

Wolfgang Hesse

Auge und Archiv. Mediale Ressourcen der Arbeiterfotografie der Weimarer Republik

Zwischen 2009 und 2012 konnte innerhalb des DFG-Projekts „Das Auge des Arbeiters“ am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden ein etwa 5.000 Aufnahmen großer Fundus von (überwiegend) Amateurfotografien der Weimarer Republik in sächsischen Sammlungen erschlossen werden.1 Deren Analyse gibt – jenseits der Illustration von Sachverhalten und Aktivitäten aus dem Milieu der regionalen Arbeiterbewegungen – Auskunft über den Bildgebrauch nichtbürgerlicher Schichten in einer Zeit, die durch die Neudefinition von „Öffentlichkeit“ als „Medienöffentlichkeit“ seit den 1880er Jahren gekennzeichnet ist.2 In den Blick gerät dabei ein Bilderdenken, das aus alltagsweltlichen Erfahrungen heraus auf unterschiedliche Ressourcen verinnerlichter wie materialer Bildsammlungen zurückgreifen konnte und damit Medienerfahrung, Amateurpraxis und Pressepolitik verband.

Pressepolitik und Arbeiterfotografie In Opposition zur zunehmend massenhaften Individualisierung des Fotografierens seit der Jahrhundertwende und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg hatte die industrielle Entwicklung der fotomechanischen Presse- und Buchillustration den einschlägigen Periodika zu Millionenauflagen verholfen. Dies sollte auch die Medienpolitik der Arbeiterbewegungen grundlegend verändern, wofür insbesondere der Organisator der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), der Reichstagsabgeordnete und Mitglied des ZK der KPD, Willi Münzenberg, eintrat. Um beide Sektoren der gesellschaftlichen Bildproduktion im agitatorischen Vor- und Umfeld der KPD zusammenzuführen, veröffentlichte am 25. März 1926 1 Vgl. http://www.arbeiterfotografie-sachsen.de. 2 Der Beitrag fußt auf einem Kurzvortrag zur „Europäischen Münzenberg-Tagung“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam am 12./13. 10. 2012 in Berlin und wurde für den Weimarer Workshop, den dieser Band dokumentiert, weiterentwickelt. Der Schriftform liegt der Aufsatz des Verf. zugrunde: Hesse 2013a.

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die im Neuen Deutschen Verlag Münzenbergs erscheinende Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) den Aufruf zu einem Fotowettbewerb.3 Ziel war es, proletarische Fotoamateure nach dem Vorbild der Arbeiterkorrespondentenbewegung zusammenzufassen – verbunden mit einer Vorstellung von Fotografien als objektiven historischen Dokumenten: „Wie die Fotosektionen bedacht sind, Bildmaterial über die Naturfreundebewegung zu sammeln, Dokumente für die Entwicklung der Organisation zu schaffen, so wollen die Arbeiter-Fotografen die Geschichtsschreiber der Arbeiterbewegung sein. Sie sind die Organisation der Fotokorrespondenten, die statt Berichte ihre Aufnahmen an die Arbeiterpresse schicken, die an Stelle des subjektiv geschriebenen Berichts die objektive fotografische Aufnahme setzen.“4

Im Jahr darauf wurde in Erfurt – anlässlich des Reichstreffens der IAH – die Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands (VdAFD) gegründet. Gründungsvorsitzender war wiederum Willi Münzenberg. Die Verbandszeitschrift Der Arbeiter-Fotograf erschien gleichfalls im Neuen Deutschen Verlag, wo auch die Geschäftsführung der VdAFD angesiedelt war. Deren Aufgabe bestand darin, die lokalen Initiativen zu bündeln und die nationale mit einer internationalen „Fotopolitik“ zusammenzuführen. In den Kursen und Kampagnen der Ortsgruppen einerseits, mittels politischer, technischer und ästhetischer Anleitungsartikel im Verbandsorgan andererseits sollten die Voraussetzungen für eine „parteiliche“ Pressefotografie geschaffen werden. Einer weitreichenden Durchsetzung der neuen Linie stand manches entgegen: außer der traditionellen Schriftlastigkeit der politischen Agitation und Propaganda nicht zuletzt materielle Einschränkungen, insbesondere seit der Wirtschaftskrise ab 1929 – schwierige Bedingungen, unter denen neue Formen für die neuen Themen und Zwecke zu entwickeln waren. Sieht man von Ausnahmen wie dem Dresdner Berufs-Arbeiterfotografen Richard Peter ab, fanden zur Authentifizierung des Gezeigten ausdrücklich so bezeichnete „Arbeiterfotografien“ nur selten den Weg in die illustrierten Zeitschriften. Vor allem die Tageszeitungen blieben nach wie vor weitgehend bilderlos. Wenn auch in den Ortsgruppen fallweise ausgesprochen viel fotografiert wurde, so gelangten außerhalb privater Zusammenhänge die Bilder der proletarischen Amateure meist nur bis in die Schaukästen der Arbeiterquartiere oder in lokale Ausstellungen – blieben also im Nahraum des Geschehens wie die Fotografen, wo sie in die Dialoge des Alltags eingebunden wirken mochten.5 Für 3 Preis-Ausschreiben der AIZ, in: Arbeiter Illustrierte Zeitung, 25. 3. 1926, S. 7. 4 „Die Naturfreunde und wir“ 1927/1928, S. 5. 5 So berichtete die Ortsgruppe der industrialisierten Mittelstadt Freital bei Dresden von ihren Erfolgen im Jahr 1930: ihrer Jahresausstellung mit 1.700 Besuchern, einem Vereinswettbewerb mit 300 Besuchern, Anfängerkursen mit 80 Teilnehmern, dem Einrichten von zwei Schau-

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die Transformation in überörtliche Zusammenhänge jedoch fehlten ihnen fast immer der Nachrichtenwert, aber auch eine Form, die den Anforderungen der „dokumentarischen“ Pressefotografie nach „Schärfe, Genauigkeit, Helligkeit, Verständlichkeit und Lesbarkeit der Bilder“ und deren Inszenierung des Nichtinszenierten entsprach.6 So fanden sie meist nur in den oft vielteiligen Seitenmontagen der AIZ als eher illustratives Archivmaterial Verwendung. Auch in der archivischen Überlieferung sind „kämpferische“ Aufnahmen ebenso rar wie in der Presse. Sie ist dominant von Erinnerungsaufnahmen an das Gemeinschaftsleben in den proletarischen Organisationen geprägt – von Bildern der Selbstrepräsentation, die aus Sicht der leitenden Funktionäre eher retardierenden „kleinbürgerlichen“ Bedürfnissen entsprangen, als dass sie den Interessen des Klassenkampfs dienlich schienen. Allerdings sind Rückschlüsse aus der seit Mitte der 1950er Jahre gebildeten Archivüberlieferung auf die gesellschaftliche Praxis vor der Niederlage der Arbeiterbewegungen 1933 nicht unvermittelt möglich. Wie etwa die 2010 in einer archäologischen Situation unter einem Fußboden geborgenen Aufnahmen des Amateurs Kurt Burghardt aus Dohna bei Dresden zeigen, hatte dieser aus Furcht vor Hausdurchsuchungen diejenigen seiner Negative mit „politischen“ Motiven aus seinen Filmen herausgeschnitten und versteckt, während wohl die „privaten“ Aufnahmen im familialen Gebrauch verblieben.7 Im Prozess der Historisierung auch der eigenen Biografie der „Veteranen“ gerieten dann solche Erinnerungsstücke, die über die Verfolgung durch den Nationalsozialismus gebracht worden waren, erneut transformiert, in die öffentlichen Sammlungen. Im Nachhinein dürfte die Sammelpraxis der lokalen und regionalen Museen, der SED-Geschichtskommissionen auf Orts- oder Kreisebene sowie der wenigen lokalen „Museen für Geschichte der Arbeiterbewegung“ das Ihre zur Selektion und Strukturierung der Erinnerung beigetragen haben. Vermittelt ist die Kultur „Arbeiterfotografie“ somit dominant über die legitimatorische Geschichtspolitik der SED und deren Archivierungsstrategien. In deren Zusammenhang wurden seit Anfang der 1950er Jahre die (v. a. im kommunistischen Kontext entstandenen) Fotografien politisch-ideologisch erneut als „objektive Dokumente“ der Organisationen der Arbeiterbewegung und bald darauf – in einem Nebenaspekt – funktional-formal als Zeugnisse der Vorgeschichte „sozialdokumentarischer“ Pressefotografie nobilitiert.8 Das im engeren Sinn „politische“ Interesse, die prekäre soziale Lage und die Aktivitäten proletarischer Organisationen abbildbar zu machen sowie an verkästen und der Erstellung einer Wandermappe sowie der Jahresproduktion von 1.850 Platten, 5.000 Kopien und 1.628 Vergrößerungen; vgl. „Ortsgruppenbericht Freital“ 1931. 6 Stiegler 2006b, S. 74. 7 Hesse 2013c. 8 Vgl. Hesse 2013b, S. 45 – 56.

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diente Aktivisten oder gar Märtyrer zu erinnern, zeichnet sich beispielhaft in den auf das örtliche Museum für die Geschichte der Arbeiterbewegung zurückreichenden Beständen des Stadtmuseums Dresden ab: „So heißt es im Perspektivplan für die Jahre 1958 bis 1960: ‚Grundlage der Arbeit ist ein zu schaffendes umfangreiches Archiv von Dokumenten und Materialien zur Geschichte der Dresdner Arbeiterbewegung‘. Zum Rang der Sammlungstätigkeit sagen allerdings die 1959 geschaffenen sieben wissenschaftlichen Sektionen zur Beratung und Unterstützung des Museums etwas aus. Erst an sechster Stelle eingeordnet wurde dort die ‚Schaffung eines Nachweises der Exponate (Dokumente, Bildmaterialien usw.) für die museale Arbeit‘.“

Dessen Lücken insbesondere in Bezug auf die Benennung und Charakterisierung der Bildautoren und Überlieferungsumstände finden ihre Fortsetzung in der Erschließungsform: „Anfang der 1980er Jahre wurde dieser Fotobestand nachträglich, einer Systematik der Sächsischen Landesbibliothek folgend, grob nach Themenbereichen geordnet […]: Jugendbewegung 1900 bis 1917; Kommunistischer Jugendverband (KJVD); AgitpropGruppe ‚Rote Raketen‘; Besuche Dresdner Delegationen in der Sowjetunion; Ausländische Delegationen in Dresden (Freundschaftstreffen); ‚Roter Geiger‘ Erward Soermus; Kommunistische Partei Deutschlands (KPD); Arbeitersport; Erste KaukasusExpedition der Arbeiter-Bergsteiger; Wohnungselend; Antikriegsausstellung 1928; Ereignisse im Keglerheim im Januar 1933 und Beisetzung der Getöteten; Konzentrationslager Hohnstein.“9

Pieschen 1930: Erinnerung und Archiv Diese mehrschichtige alltagsweltliche, mediale und geschichtsbildende Situation soll im Folgenden entlang der Analyse einer Bildpostkarte entwickelt werden, die bei einem Agitpropeinsatz vor der Reichstagswahl am 14. September 1930 im Dresdner Arbeitervorort Pieschen entstanden ist (Abb. 1). Sieben Personen haben sich zu einem nahezu symmetrisch austarierten Gruppenbild aufgebaut, vier Männer und drei Frauen. Zwei der Männer zeigen mit der erhobenen geballten Faust den Zeremonialgruss des Roten Frontkämpferbunds (RFB), der rechte trägt dessen Bundeskleidung – auch ohne das Abzeichen der seit 3. Mai 1929 verbotenen KPD-Wehrorganisation eine Provokation. Alle Beteiligten sind sich der Aufnahmesituation bewusst, vier von ihnen blicken in die Kamera: Es ist ein Dokument der Selbstrepräsentation politischer Aktivisten im Modus privater Erinnerungsbilder. 9 Beide Zitate aus Reichert 2014, S. 212, 213 f.; vgl. Metz 2012. Zur Museumspolitik der frühen DDR vgl. Scheunemann 2009.

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Abb. 1: Unbekannt: Agitation in Dresden-Pieschen, Reichstagswahl 1930. Verso: „Neumann Liesel jetzt Rödiga/Familie Werner, Otto Knöfel“.

Doch sind in die Szene weitere Bildmedien integriert. Im bewusst freigehaltenen Zentrum der Gruppe steht eine offenbar selbst gebaute Werbesäule auf quadratischem Grundriss, die mit Papier bespannt und mit Zeitungsfotos beklebt ist. Ihre Anordnung als Bildmittelpunkt unterstreicht die Beweiskraft und Attraktion visueller Information in der Parteipropaganda und Wahlkampfagitation. Darüber hinaus belegt ihre Beschaffenheit mehrere, für die öffentliche Bildpraxis und die Rolle spezifischer Archivierungspraxen bedeutende Aspekte: Zum ersten dokumentiert die Fotografie eine nicht allzu kurze Planung für das Sammeln geeigneten Bildmaterials überwiegend aus Periodika wie der AIZ, dem Roten Stern, dem Weg der Frau oder dem sächsischen Illustrierten Volksecho. Gerade als Mittel und Repräsentant einer geordneten Gegenwelt zu der anderen Regeln folgenden Bricolage, doch auch als Hort diversester Materialien mit den Potenzen unendlicher Kombinationsmöglichkeiten, erscheint das Archiv in diesem Zusammenhang für die inhaltliche wie die gestalterische Arbeit unerlässlich.10 Es ist in einer Anleitung des ZK Agitation für Betriebs- und Häuserblockzeitungen 1931 so beschrieben worden: „Jede Zeitungsredaktion soll sich ein kleines, stets aktuelles Archiv halten. […] Was muß das Archiv enthalten? […] 1. Zellenmaterial […], 2. Zentrales Material […] 3. Bildarchiv. Die gedruckten und abgezogenen Illustrationsvorlagen, die vom Z.K. her10 Zum (Foto-)Archiv und dessen erinnerungsstrukturierender Bedeutung z. B. Wolf 2002; Matyssek 2009.

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ausgegeben werden; aus der ‚R.F.‘ [d.i. Die Rote Fahne, W.H.], ‚A.I.Z.‘, ‚Eulenspiegel‘ und anderen Zeitungen (evtl. russische), die der Zelle zugänglich sind, ausgeschnittene Zeichnungen. Zeichnungen und Karrikaturen [sic!], die im Betrieb gesammelt wurden.“11

Claude Lévy-Strauss’ Bemerkungen zur Bricolage eingedenk, lässt sich dieser Prozess als einer der Professionalisierung, als Ersetzen des Bastelns durch das planende Denken, auch in Bezug auf das Montieren beschreiben – und überdies als Teil einer intendierten „Verwissenschaftlichung“ der politischen Tagesarbeit.12 Der zweite Aspekt, der hervortritt, ist die handwerkliche Anfertigung der Säule – vermutlich ohne professionelle Anleitung, etwa durch Künstler aus der Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ARBKD/Asso), wie sie bei anderen Gelegenheiten belegt ist13 – in einer der „Bastelstuben“ der KPD, in denen zu Wahlkampfzeiten das Material für die nahräumliche Agitation entstand.14 Von professionellen Zeichnern und Werbeleuten produziert, unterstützten Anleitungen aus dem ZK Agitation diese Arbeit.15 Spiegelbildlich zu den zentralen Schulungsmaterialien erschienen dann Fotografien gelungener Agitpropeinsätze wiederum als Anregung in den Parteizeitungen; womöglich war, über die private Erinnerungsfunktion der Fotografie für die Akteure hinaus, auch hier an eine solche Verwendung gedacht. Schließlich und drittens belegt die Litfaßsäule Grunderfahrungen mit der Methode der Fotomontage, wenn man diese als Kombination von Bild und Text versteht. Zumindest verweist das vermutlich thematisch bestimmte Nebeneinander der Zeitungsausschnitte in einem rasterartig geordneten Mosaik auf deren basale Form. Die Wissensressource der Illustrierten dient damit nicht allein als Bildspeicher – sie formt die Bildformate und ihre additive Anordnung in einer katalogartigen Präsentationsform vor, in der sie eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelbilder wie Bildregien zu verbinden mag. Die Bestückung der Bildsäule im Zentrum der Pieschener Fotografie hatte also zum einen das lokale Handeln mit zentral produziertem Bildmaterial verbunden, zum anderen dessen Gebrauch als Hinweis auf ein Archiv lesbar gemacht. Diese Verbindung zentraler, professioneller Produktionen mit kleinräumigem Handeln sollte entsprechend beim Aufbau der VdAFD von Anfang an Teil der Praxis werden. Schon das erste „Aktionsprogramm“ der jungen Organisation hielt an 11 12 13 14

ZK Agitprop der KPD 1931, S. 13 f. Vgl. Hesse 2010b. Vgl. Wagner 2011. Vgl. den Gebrauch des Begriffs in der Bildlegende einer Abbildung in dem Zeitungsbericht „Agitprop trommelt! zum zweiten Wahlgang und zum roten Volksentscheid!“, in: Sächsische Arbeiter-Zeitung, 1. 4. 1932, S. 13. 15 Zur Anleitungsliteratur und der Zusammenarbeit von Berufskünstlern und Laien vgl. Zervigón 2014.

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vierter Stelle den Aufbau eines Archivs für Lehrzwecke fest, das vom Reichsbildwart betreut wurde. Neben der Versorgung der (Partei-)Presse für die aktuelle Berichterstattung hatte es Material für das Vereinsorgan sowie für „Lichtbildvortragsserien“, den Aufbau einer „Lichtbildreichszentrale“ und für die Beschickung sowohl zentraler wie die Unterstützung dezentraler Ausstellungen bereitzustellen.16 Drei Jahre später kam noch die Herstellung von „Wandermappen“ hinzu.17 Dem entsprachen die Bemühungen an der Basis. So hatte man beispielsweise in der sehr aktiven Ortsgruppe Freital bei Dresden die Ablieferung einer Pflichtaufnahme im Monat an das Vereinsarchiv beschlossen18 und im Vorstand die Position eines Archivwarts eingerichtet.19 Damit sollte sowohl die interne Ausbildung wie die externe Wirksamkeit der Ortsgruppen effizienter gestaltet werden. Zugleich entstand durch die von den Basisorganisationen an das zentrale Archiv gelieferten Fotografien ein Fundus von Bildern, die unabhängig von ihrer Entstehungszeit und Lokalisierung für die Deutung der politischen Lage stehen konnten. Sie lösten sich damit von einem, unmittelbares Geschehen „dokumentierenden“ Gestus ab, erweiterten diesen um variabel kombinierbare „Symbolbilder“ wesentlicher Sachverhalte. Diese zentral bezogenen Abzüge akzentuierten dann inhaltlich wie formal das vor Ort entstandene Material und vergegenwärtigten zudem die Struktur des Verbands als reichsweit agierende Organisation (Abb. 2). Solcher Austausch machte nicht zuletzt das Medium Ausstellung seinerseits als Montage archivierten Materials kenntlich (und verband es en passant auch mit dem Film), ganz so wie es der Kunstkritiker der Roten Fahne, Durus [d.i. Alfred Kemény, W.H.] in seiner Rezension der Berliner Reichsausstellung der VdAFD 1931 skizziert hatte: „Die ganze Ausstellung wirkt wie ein fortlaufender, knapp beschrifteter, von Anfang bis Ende spannender bildlicher Wirklichkeitsbericht. Ein herrliches Bilderbuch des Kampfes zwischen Revolution und Reaktion in Deutschland. Eine in die einzelnen Fotobestandteile zerlegte Fotomontage mit starken filmischen Spannungselementen. Es werden da nicht nur Einzelausschnitte der Wirklichkeit übermittelt. Die in Einzelteile zerlegte Wirklichkeit wird in wesentlichen Beziehungen und Gegensätzen, in ihrer sozialen Bewegtheit wiederspiegelt. Es ist kaum etwas von undialektischer Starrheit übriggeblieben. Dies pflegt man als ‚dialektische Montage‘ zu bezeichnen.“20

16 „Aktionsprogramm der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“ 1926/1927, S. 20. Die Ortsgruppe Leipzig berichtete z. B. 1932, sie habe ihre besten Bilder an das Reichsbildarchiv gesandt, in: „Ortsgruppenbericht Leipzig“ 1932. 17 „Aktionsprogramm der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“ 1930, S. 50. 18 Siehe „Ortsgruppenbericht Freital“ 1930. 19 Siehe „Ortsgruppenbericht Freital“ 1931. 20 Durus 1931.

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Abb. 2: Kurt Beck: Fotoausstellung der Ortsgruppe Bermsgrün (Westerzgebirge) der VdAFD im Arbeiterheim in Bermsgrün, Oktober 1931. An der Wand u. a. Fotografien von Eugen Thormann (Berlin).

So wurde vielfach und in vielfältigen Formen eine „neue Kunst der Straße“ realisiert – sei es im Schaukasten, sei es bei der Herstellung von Fotomontagen, von Agitpropmitteln wie dem hier vorgestellten oder der konzeptionellen und handwerklichen Vorbereitung von Ausstellungen. Diese Darstellungsformen bedurften als Basisaktivitäten nicht des arbeitsteiligen und hierarchisch kontrollierten Apparats der Zeitschriften – und wurden wie die dort zusammengestellten Bild-Text-Reportagen gerade wegen ihrer Nähe zum je örtlichen Geschehen intensiv politisch und medientheoretisch diskutiert.21 Wurde ihr Realitätsbezug in diesen Debatten auch entlang einem der Ursprungsmythen der Fotografie als „Dingarchiv“ und insofern als „Dokument“ geführt,22 so stellte sich dem die Wirklichkeit der Aufnahmen als bewusst erlebte und ausgestellte Inszenierung und somit als offenkundiges Konstrukt entgegen. (Allerdings wurde zugleich etwa auf Ebene der Verbandsleitung die in Opposition zu Lenins erkenntnistheoretischer Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ stehende

21 Vgl. Luedecke 1931. 22 Vgl. Stiegler 2006a.

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konstruktivistische Position des Fotopublizisten Hans Windisch in Der ArbeiterFotograf als Irrweg scharf bekämpft).23

Theatralität und Inszenierung Bereits das Bildzentrum der Pieschener Aufnahme also weist aus einem rein privaten Erinnerungszusammenhang hinaus in die Öffentlichkeit der Medienpolitik, bettet umgekehrt das Private in das Öffentliche ein. Das Bild bricht damit die Hermetik nicht durchdringbarer subjektiver Befindlichkeit von Erinnerungsfotografien auf, die gleichwohl in der rückseitigen Beschriftung die Spuren archivisch sonst nicht greifbarer Akteure hinterlassen hat: „Neumann Liesel jetzt Rödiga, Familie Werner, Otto Knöfel“. Zugleich aber gehört die Fotografie aufgrund von Thema und Form zu der überwältigenden Zahl all jener Bilder, die nach einem Diktum des AIZ-Bildredakteurs Hermann Leupold nur für die „Schreckenskammer“ der Zeitung geeignet schienen – für die Rubrik „Aus der Arbeiterbewegung“. Hier wurden solche in ihrer Grundstruktur verwechselbaren Szenen von Gruppen oder Aufmärschen zu Tableaus zusammengefasst, um die Allgegenwart der Partei zu demonstrieren und die Leser-Blatt-Bindung zu stärken.24 Gesucht wurde anderes, „soziale Reportagen“, eindrückliche „Dokumente“ von Auseinandersetzungen mit der Polizei, „Tendenzbilder“ in der Bildsprache der (bürgerlichen) Pressefotografie, denen agitatorisch wirksame Beweiskraft zugesprochen wurde. Jene ging in dieser Logik den Erinnerungsaufnahmen schon allein deshalb ab, als sich die Akteure der Gruppenbilder allzu oft mit dem Blick in die Kamera selbst- und medienbewusst zeigten und sich nicht ohne sichtbare Wahrnehmung der Aufnahmesituation „objektiv“ bei wichtigen Verrichtungen von Arbeit, Alltag oder gar Aktionen des Klassenkampfs ablichten ließen.25 Der intendierte kollektive Lernprozess, der den privaten Bildraum in einen öffentlichen überführen sollte, stieß auch auf diesem Feld auf jenen, die Arbeiterbewegungen insgesamt durchziehenden Widerspruch des „spontanen“ zum „organisierten“ Arbeiterbewusstsein.26 Und dass das in der vorliegenden Aufnahme sichtbar werdende Medienbewusstsein nicht zu den als zentral für das Konzept der KPD erachteten Faktoren des weitgehend in Kategorien des Militärischen gedachten Klassenkampfs gehörte, kongruiert nicht zuletzt mit einer Entmächtigung der „Basis“ – und zugleich vice versa mit deren Eigensinn.27 23 24 25 26 27

Vgl. hierzu Hesse 2013c, bes. Kapitel „Öffentlich/privat“, S. 68 – 92, hier S. 81 f. Vgl. Leupold, 1931. Vgl. Hoernle 1930b. Vgl. Stumberger 2007/2010. Vgl. Lüdtke 1994.

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Doch ist der Pieschener Aufnahme noch in anderen Hinsichten visuelles Denken eingeschrieben. Zunächst entspricht der Aufbau der Gruppe mit ihrem flachen und nach hinten nahezu abgeschlossenen Bühnenraum, ihrer statischen und trotz Körperdrehungen im wesentlichen frontalen Anordnung längst eingeübten und verinnerlichten Theater- und Fotoatelierkonventionen – einem inneren „Archiv“ von Erfahrungen mit individueller Positur in den Regeln der Gruppenformierung.28 Alle Beteiligten des Aufnahmeakts folgen dem „Verständigungsspiel“ zwischen Fotograf und Fotografierten (sowie womöglich Zuschauern).29 Aber darüber hinaus sind – sichtbare – Körperhaltungen und – rekonstruierbare – Mentalitäten prägend, die sich aus weiteren Bildtraditionen speisen. Der Gestus der beiden nahezu symmetrisch stehenden Uniformträger links und rechts der Säule lädt die Gruppe mit dem Gruß des RFB bedeutungsvoll zum gelebten Programmbild der Weltrevolution auf, deren Zeichen er seit Mitte der 1920er-Jahre geworden war und das durch die Designerleistung John Heartfields Form bekommen hatte.30 Dem entspricht vor allem, dass die beiden Männer die einzigen frontal zum Betrachter der Szene und parallel zur Aufnahmeebene der Kamera stehenden Personen des Arrangements sind, sich also nicht nur mit dieser Geste in der räumlichen Aktion, sondern mit dem ganzen Körper in Bezug auf die Fläche des Bildes heraldisch verhalten: Ihnen ist bei vollem Bewusstsein der Darstellung in der Kamera die Organisation in den Leib gefahren. Sie orientieren sich hierin zum einen an pathetischen Mustern männlicher Körperlichkeit, wie sie nicht allein im öffentlichen Auftreten praktiziert, sondern auch in Bildformeln etwa Heartfields formuliert wurde. Es wird zum anderen nicht zu weit gehen zu sagen, dass sie sich mit ihrer Selbst-Darstellung in der Emblematik des RFB und der verinnerlichten Figuration des „Kämpfers“ im Bewusstsein visueller Symbolik als in der Organisation aufgehoben präsentierten. Andererseits – und zunächst im Widerspruch hierzu – ist die Szenerie von wenig martialischem, freundlich-zivilem Einverständnis der Akteurinnen und Akteure untereinander geprägt. Privates und Politisches sind somit untrennbar amalgamiert – und das nicht allein in den lesbaren Spuren des Handelns als der indexikalischen Ebene des Bildes, sondern gerade auch in dessen ikonischer Dimension mit ihren vielfältigen Bezügen zu durchaus heterogenen, hier jedoch zusammengeführten Bildwelten. Es ist offenkundig: Die Akteure „denken sich im Voraus als Bild“, wie Roland Barthes diesen komplexen Zusammenhang von 28 Siehe hierzu die vielfältigen Beispiele bei Hugger/Wolf 2012. 29 A.V.B. 1931, S. 224; vgl. Weiss 2010, S. 37 – 52. 30 Zu den Körperzeichen und medialen Verwandlungen des RFB-Grußes und des Handzeichens des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold der SPD vgl. Paul 1932; zum RFB Voigt 2009, zur ambivalenten Haltung der KPD zum militärischen Gestus des RFB bes. Kap. VII „Reichsbanner, RFB und die politische Kultur der Weimarer Republik“, S. 259 – 360.

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Körper- und Bildhandeln vor der Folie eingeübter Medienerfahrung beschrieben hat – und es mag sein, dass die fröhliche Stimmung der Mienen und das Hin und Her des Austauschs gerade der Frauen just jenen Aufführungscharakter kommentiert und hierin das Martialische der Emblematik mit freundlicher Ironie in einen zivileren Alltag integriert.31 Diese doppelte Haltung – die physische Selbstpräsentation und die Antizipation von deren Erscheinung als nachträglich durch die Akteure selbst und durch andere zu betrachtender Inszenierung – verbindet Aktion wie Bild mit dem inneren Archiv theatraler Praxen innerhalb der Arbeiterbewegungen,32 mit Theateraufführungen oder Rezitationen, Aufzügen aller Größe und Art. Deren Argument lag vor allem in der Besetzung des öffentlichen Raums, seiner Ausdeutung durch Rufe, Gesänge und Bilder, insbesondere jedoch mit erläuternden Schriftparolen und begleitender Flugblattverteilung bzw. Zeitschriftenverkauf.33 Die Ausstattung der „als Bild“ betrachteten Manifestationen macht diese zu Realmontagen; das (mögliche wie das reale) Erscheinen als Akteure in der Presse verknüpfte umso mehr die lokale Handlung medial mit dem nun sichtbar symbolisierten kollektiven Aktionszusammenhang. Diese sozialen Erfahrungsgrundlagen theoretisierend, formulierte das ZKMitglied Edwin Hoernle: „Auf keiner Stufe kann die Erziehung vollkommen auf den Appell an die ‚sinnliche Wahrnehmung‘, auf Bildhaftigkeit, Anschauung verzichten. […] Und was ist schließlich eine Massendemonstration anders als ‚Anschauungsmaterial‘ größten Stiles?“34 (Abb. 3). Nicht zuletzt von der in den Arbeiterbewegungen bis weit in die 1920er-Jahre hinein geübten Aufstellung Lebender Bilder dürfte diese Beziehung zwischen physischer Aktion und moralisierend-politischem Bilddenken und dessen pathetischer Überhöhung geprägt worden sein – eine Präsentationsform, welche mit schriftlicher Parole, stillgestellter Szene und erläuterndem Text eine Beziehung zur aufklärerischen Emblematik mit ihrem dreigliedrigen Aufbau aus Lemma, Icon und Epigramm verrät. Insofern stellt das Pieschener Bild ein hoch komplexes, wenn auch statisches Gegenstück zu den „Kampfbildern“ dar, die es so selten gab. Seine ausgestellte Inszeniertheit tat ein Übriges, um die Kluft zwischen den Kulturen innerhalb der Partei deutlich zu bezeichnen.35 Gleichwohl verbinden sich die Visualität der Agitationsmittel und die Präsentation der Akteure als Bild im vollen Bewusstsein 31 Barthes 2007. 32 Siehe hierzu ausführlich Warstat 2005. 33 Im Unterschied hierzu marschierte etwa die SA der NSDAP als paramilitärische Formation grundsätzlich ohne Schrifttransparente und verteilte nur ausnahmsweise, etwa bei der Landagitation, Flugzettel. 34 Hoernle 1930a, S. 102. 35 Vgl. hierzu Eumann 2007.

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Abb. 3: Kurt Burghardt: Rückmarsch der Maidemonstration 1932 von Heidenau nach Dohna beim Schäferhof.

medialer Überlieferung des Moments auch zu einer Verbindung von Basis und Leitung, von aktuellem Handeln und archivischem Hintergrund. Die Fotografie ist damit Beleg eines montierenden Denkens von Körperlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit im Rückgriff auf ganz unterschiedliche Wissensbestände, in welchem sich die visuelle Moderne in proletarischer Lebenswelt realisiert: Im vollen subjektiven Bewusstsein der Akteure, objektiv auf der Seite des Fortschritts zu stehen, und insofern politisch, entsprach sie gleichwohl nicht dem militant-aktionistischen Konzept vom Klassenkampf, von dem Edwin Hoernle als der „gefährlichen Freiheit in den Schützengräben der Revolution“ geschrieben hatte.36

„Realmontage“ vs. „Dokument“ Schon seit Beginn hatten die Anleitungen in Der Arbeiter-Fotograf verlangt, den Blick der Dargestellten in die Kamera zu vermeiden – und daher vorgeschlagen, das Nichtinszenieren zu inszenieren, zunächst das Selbstdarstellungsbedürfnis der Akteure zu befriedigen, um danach die „richtige“ Aufnahme zu erhalten.37 Solche gezielt herbeigeführte Aufspaltung einer realen Situation in das Körper36 Hoernle 1930c. 37 Vgl. beispielsweise „Bilderkritik: G. We., Sommerfeld“ 1926/1927, S. 11.

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und das Bildhandeln (und deren gleichzeitige Kaschierung im Bild selbst) ist bei systematischer Betrachtung nicht nur pragmatisch begründet oder trivial zu nennen; sie ist Indiz eines Denkens über Fotografie, das die Bildlichkeit und nicht das schlicht „Dokumentarische“ als den Kern der Arbeit betrachtete und dabei (möglichst unsichtbare) Inszenierungen, jedoch fallweise sogar fiktional erzeugte „Rekonstruktionen“ nicht fotografierter oder fotografierbarer Situationen nicht scheute.38 Von derart bildorientiertem und montierendem Denken ist – in einer „offenen“ Form – das Pieschener Bild geprägt. Zugleich verschmilzt es seine Bestandteile nicht in einer homogenen, illusionistischen Szenerie, sondern führt sie gewissermaßen gestisch vor. Es mag den Beteiligten bewusst gewesen sein, dass ihre (Selbst-)Präsentation für eine Verbreitung über ihren engeren Umkreis hinaus als ungeeignet angesehen werden würde. Die in den Zeitschriften veröffentlichten Aufnahmen gaben einen hinreichend deutlichen Eindruck von den dort verlangten pathetischen Modi der Zuspitzung in Motiv und Form: „Wir müssen die proletarischen Tatsachen in die Welt schreien in ihrer ganzen Hässlichkeit, Ekelhaftigkeit, racheheischenden Anklage. Wir kennen keine Vertuschung, Verschleierung, kein Aesthetisieren, wir belichten hart und zeigen ohne Retusche, wir knipsen dort, wo das proletarische Dasein am härtesten, die Bourgeoisie am verfaultesten ist, wir steigern die Kampfkraft unserer Klasse, indem unsere Bilder Klassenbewusstsein, Massenbewusstsein, Angriffsgeist, Rachegeist, Solidarität, Disziplin vermitteln. Foto ist Waffe, Technik ist Waffe, Kunst ist Waffe! Unsere Weltanschauung ist der kämpfende Marxismus, keine Schulstubenweisheit. Und wir Arbeiter-Fotografen haben einen wichtigen Frontabschnitt. Wir sind das Auge unserer Klasse! Wir lehren unseren Klassenbrüdern die Augen gebrauchen.“39

Als widerspruchsvolles Element dieses Programms sind Amateuraufnahmen wie die hier diskutierte bei allem ihnen eingeschriebenem „Privatem“ eigensinnige Hervorbringungen in neuen Produktions- und Repräsentationsformen unterhalb der Apparate. Das entsprach ganz dem Ansatz Willi Münzenbergs, dem es um die Entwicklung einer neuen Produktionsweise und neuer Ikonografien gegangen war – ähnlich dem, was etwa Bert Brecht in seiner Skizze zur Radiotheorie (1932)40 oder Walter Benjamin in seinem Vortrag „Der Autor als Produzent“ (1934)41 als nicht-reformistische Entwürfe einer konkreten Utopie

38 Siehe hierzu v. a. Nettelbeck 1930, S. 205; der dort propagierte Gedanke der „Rekonstruktion“ anders nicht zu zeigender Sachverhalte ist entwickelt dargestellt in Hesse 2010a. Zum Realitätsbezug von Fotografie vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Stiegler 2009. 39 Hoernle 1930b. Zur Modusfrage in der polystilistischen Knipserfotografie vgl. Hesse 2013c, v. a. S. 82 – 107. 40 Siehe hierzu Seifert 2012; Brecht 1977. 41 Benjamin 1991.

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Abb. 4: Kurt Beck: Schläfer unter dem Leninporträt und mit der Arbeiter Illustrierten Zeitung vom 2. November 1927 zum mitteldeutschen Braunkohlenstreik.

skizziert haben. Doch machte erst die antistalinistische Kritik die Disproportionen zwischen Basis- und Funktionärsperspektive explizit: „Der Arbeiterfotograf ist ja nicht deswegen entstanden, um der AIZ Bilder zu vermitteln, sondern weil es eine menschlich interessante und eine proletarisch-klassenkämpferisch wichtige Tätigkeit ist, zu fotografieren. […] Es gab wohl überhaupt kein Lebensgebiet, das – wenn es überhaupt materiell für die Arbeiter in Frage kam – nicht in eigenen Klassenorganisationen seinen Ausdruck fand. […] Zu diesen Bereichen hatte die AIZ sich immer bemüht, neue Kontakte zu finden und die in diesen proletarischen Massenorganisationen zusammengefaßten Arbeiter waren interessiert, über ihre Bereiche und Interessen in der AIZ etwas veröffentlicht zu finden. Sie waren interessiert

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daran, in der AIZ eine Zeitung zu finden, die ihre Tätigkeit würdigte und bekanntmachte.“42

Somit steht der Funktionärsperspektive eine durchweg komplexere Praxis von Wissensaneignung und Eigenproduktion, Selbstfeier und Selbstobjektivierung gegenüber. Sie deutete das eigene Leben mit seinen vielfältigen Bezügen selbstbewusst als exemplarisches – in bedeutungsvoll aufgeladenen, gestellten Alltagsszenarien, die sich in die habitusbasierte Kombinatorik des Alltags einfügten und ein bildbewusstes, auf unterschiedliche Ressourcen zugreifendes Denken über und Handeln mit Fotografie belegen: Zeugnisse elaborierten Sehens und Zeigens im Beginn der Medienmoderne (Abb. 4).

Literatur „Aktionsprogramm der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“, in: Der Arbeiter-Fotograf 1/9, 1926/1927, S. 20. „Aktionsprogramm der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/3, 1930, S. 50. Arbeiter Illustrierte Zeitung, 25. 3. 1926, S. 7. A.V.B., „Zustandsfotografie“, in: Der Arbeiter-Fotograf 5/9, 1931, S. 224 f. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 2007. Walter Benjamin, „Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Faschismus in Paris am 27. 4. 1934“, in: Ders., Gesammelte Schriften II 2, Frankfurt/M. 1991, S. 683 – 701. „Bilderkritik: G. We., Sommerfeld“, in: Der Arbeiter-Fotograf 1/4, 1926/1927, S. 10 f. Bertolt Brecht, „Rede über die Funktion des Rundfunks (1932)“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt/M. 1977, S. 127 – 134. „Die Naturfreunde und wir“, in: Der Arbeiter-Fotograf 2/4, 1927/1928, S. 4 f. Durus, „Reichs-Ausstellung 1931“, in: Der Arbeiter-Fotograf 5/11, 1931, S. 279 – 281. Ulrich Eumann, Eigenwillige Kohorten der Revolution. Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 2007. Wolfgang Hesse, „‚Dolchstoß von rechts.‘ Visuelle Deutungen des Dresdner SA-Fememords von 1932“, in: Volkskunde in Sachsen 22, 2010a, S. 87 – 159; als PDF unter www. arbeiterfotografie-sachsen.de. Wolfgang Hesse, „‚Wir wollen montieren.‘ Fotomontagen als proletarische Volkskunst“, in: Zeitschrift für Volkskunde 2010b, 2. Bd., S. 163 – 196. Wolfgang Hesse, „Die Ausnahmen und die Regel. Lebenswelt, Medienbewusstsein und Pressepolitik in der Arbeiterfotografie der Weimarer Republik“, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 12/3, 2013a, S. 64 – 90.

42 So der ehemalige Werbemann der AIZ in Knödler-Bunte 1973, S. 77.

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Wolfgang Hesse

Wolfgang Hesse, „Am Rande des Bitterfelder Wegs. Zur Rolle der Arbeiterfotografie im Dresdner ‚Museum für Photographie‘ (1956 – 1969)“, in: Fotogeschichte 33, 2013b, H. 127, S. 45 – 56. Wolfgang Hesse, Körper und Zeichen, Arbeiterfotografien aus Dohna, Heidenau und Johanngeorgenstadt 1932/33 (= Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 24), Dresden 2013c. Edwin Hoernle, „Zum 1. Mai. Der Arbeiter-Fotograf als Pionier der Internationale“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/5, 1930a, S. 101 – 103. Edwin Hoernle, „Das Auge des Arbeiters“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/7, 1930b, S. 151 – 154. Edwin Hoernle, „Der Mensch vor deinem Auge“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/11, 1930c, S. 251 – 253. Paul Hugger u. Richard Wolf, Wir sind jemand. Gruppenfotografien von 1870 bis 1945, Bern 2012. Eberhard Knödler-Bunte, „Fragen an Theo Pinkus über seine Arbeit bei der AIZ“, in: Ästhetik und Kommunikation 4, 1973, H. 10: Arbeiterfotografie, S. 69 – 80. Hermann Leupold, „Das Bild – eine Waffe im Klassenkampf“, in: Der Arbeiter-Fotograf 5/ 11, 1931, S. 271 – 275. Heinz Luedecke, „Bild-Wort-Montage. Ein Vorschlag zur Zusammenarbeit von Fotografen und Schriftstellern“, in: Der Arbeiter-Fotograf 5/9, 1931, S. 211 – 213. Alf Lüdtke, „Geschichte und Eigensinn“, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte – zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139 – 153. Angela Matyssek, Kunstgeschichte als fotografische Praxis. Richard Hamann und Foto Marburg (=Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte 7), Berlin 2009. Sylvia Metz, „Geschichts-Bilder. Zum Fotografiebestand des ehemaligen Museums für Geschichte der Arbeiterbewegung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig“, in: Wolfgang Hesse (Hg.), Die Eroberung der beobachtenden Maschinen. Zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 37), Leipzig 2012, S. 365 – 387. Walter Nettelbeck, „Der 14. September“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/9, 1930, S. 205 f. „Ortsgruppenbericht Freital“, in: Der Arbeiter-Fotograf 4/7, 1930, S. 172. „Ortsgruppenbericht Freital“, in: Der Arbeiter-Fotograf 5/2, 1931, S. 44. „Ortsgruppenbericht Leipzig“, in: Der Arbeiter-Fotograf 6/3, 1932, S. 68. Gerhard Paul, „Krieg der Symbole. Formen und Inhalte des symbolpublizistischen Bürgerkriegs 1932“, in: Diethart Kerbs u. Henrick Stahr (Hg.), Berlin 1932. Das letzte Jahr der Weimarer Republik. Politik, Symbole, Medien, Berlin 1992, S. 27 – 55. Friedrich Reichert, „Zwischen Sammlung und politischem Auftrag. Das Museum für Geschichte der Dresdner Arbeiterbewegung“, in: Wolfgang Hesse (Hg.), Das Auge des Arbeiters. Arbeiterfotografie und Kunst um 1930, Leipzig 2014, S. 199 – 212. Sächsische Arbeiter-Zeitung, 1. 4. 1932. Jan Scheunemann, ‚Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme für den Sozialismus.‘ Geschichtspolitik und regionale Museumsarbeit in der SBZ/DDR 1945 – 1971, Berlin 2009. Manfred Seifert, „Die Eroberung der (beobachtenden) Maschinen. Zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik im Spannungsfeld proletarischen Alltags, öffentlicher Bildproduktion und kommunistischer Programmatik“, in: Wolfgang Hesse (Hg.), Die Er-

Auge und Archiv

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Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:

Stadtmuseum, Museen der Stadt Dresden, Ph 00101/10. Deutsche Fotothek df_beck-r03_0000029. Deutsche Fotothek Film 212878_12. Deutsche Fotothek df_beck-r_0000002_069.

Dietmar Schmidt

„We Owe Them a Living“. Historische Markierungen im Disney-Cartoon

Handlung vs. Bewegung The Grashopper and the Ants hieß ein Cartoon, der am 10. Februar 1934 in den amerikanischen Kinos uraufgeführt wurde. Er war Teil der Trickfilmserie Silly Symphonies, mit der Walt Disney seit 1929 – ein Jahr nach Einführung des Tonfilms, mit dem der Titel der Serie warb – versuchte, umsatzträchtige Geschichten auch ohne Auftritt populärer Zeichentrickcharaktere wie Mickey Mouse zu erzählen.1 Zunächst fand diese Serie kaum Resonanz. Erst ein weiteres technisches Novum nach der Einführung des Tons – die Realisierung farbiger Cartoons mit Hilfe von Technicolor – sicherte ab 1932 den kommerziellen Erfolg. Die Geschichte von The Grashopper and the Ants stand jedoch zu diesem Marktprinzip eines cinema of attraction,2 das durch das Versprechen des filmtechnisch Neuen zum Konsum überreden will, in einem auffälligen Kontrast. Der achteinhalbminütige Film stützte sich auf einen Stoff, der zum Bestand der Fabeln des altgriechischen Dichters Äsop gehört. Die äsopischen Fabeln waren sicherlich vielen Disney-Zuschauern bekannt; doch diese Vertrautheit mit einer literarischen Gattung hatte kaum etwas mit der Art, wie etwa der Trickfilmheld Mickey Mouse wiedererkannt werden konnte, gemein. Als literarische Gattung lieferte die Fabel Handlungsschemata, mit denen sich tierische Protagonisten in wenigen für sie kennzeichnenden Verhaltensweisen erzählerisch erschöpften, um so die Anschaulichkeit einer Moral zu ermöglichen. Der Cartoon jedoch rückte vielfältige körperliche Bewegungsschemata in den Vordergrund, mit denen sich seine Helden motorisch und choreographisch ausprägen und in immer neue Situationen einfügen ließen, so dass ein unabschließbares serielles Erzählen möglich wurde, welches Disney kommerziell zu 1 Eine Auswahl aus dieser Trickfilmserie einschließlich des hier vorgestellten Cartoons findet sich auf der DVD-Edition Walt Disney Kostbarkeiten. Lustige Welt der Melodien. Eine musikalische Zeitreise (Buena Vista Home Entertainment 2004). 2 Vgl. dazu Gunning 2006.

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nutzen verstand. Exemplarisch verwirklicht wurde dieses Prinzip gleich in der ersten Folge der Silly Symphonies: In The Skeleton Dance führen einige zur Geisterstunde aus den Gräbern auferstehende Gebeine ein Ballett auf, das das menschliche Knochengerüst in Bewegung bringt, es zerlegt und wieder zusammensetzt, um so den Tod zugleich vorzuführen und ihm den Schrecken zu nehmen. Die Silly Symphonies zeichneten sich dadurch aus, dass sie das Repertoire älterer Erzählungen – hier: der anfangs mündlich überlieferten Tierfabeln Äsops und seiner schriftgebundenen literarischen Nachfolger – mit den neuen ästhetischen Potentialen des Mediums Trickfilm zu vergegenwärtigen suchten. Die Geschichte von der Heuschrecke, die sich im Sommer über die arbeitsame Ameise lustig macht, weil die Natur Nahrung in Hülle und Fülle bietet, und die dann im Winter, weil sie nicht vorgesorgt hat, Hunger leidet, musste 1934, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und zugleich im zweiten Jahr des New Deal, notwendig als allegorischer Kommentar zu aktuellen Verhältnissen betrachtet werden. Die Verführung zur Sorglosigkeit, die die Heuschrecke mit ihrem Gesang in guten Zeiten betreibt, konnte im zeitspezifischen Kontext3 nur als fatal erscheinen: „Oh the world owes us a living, Oh the world owes us a living. You should soil your Sunday pants Like those other foolish ants. Come on, let‘s play and sing and dance!“

Während aber in den älteren Fabelerzählungen das im Winter Hunger leidende Insekt die Ameise vergeblich um Almosen bittet, nimmt die Geschichte bei Disney eine ganz andere (und natürlich glücklichere) Wendung. Im Cartoon wird der Heuschrecke nicht nur Hilfe gewährt (unter bestimmten Vorbehalten, die wiederum mit dem New Deal erkennbar korrespondieren: die Heuschrecke soll nun für alle spielen); sondern ihr Gegenüber ist statt einer einzelnen Ameise ein ganzes Ameisenkollektiv. Im Unterschied zu allen früheren Erzählungen von der Grille und der Ameise führt der Cartoon schon im Titel den Plural ein: The Grashopper and the Ants. Diese Gegenüberstellung des Individuums und der Gemeinschaft, in der sich letztlich der einzelne den vielen (über den Abstand der verschiedenen tierischen Arten hinweg!) subsumiert, ist durch den zeitgeschichtlich-politischen Kontext allein nicht hinreichend zu erklären. Hier ist es die ästhetische Beschaffenheit des Animationsfilms selbst, die zur Geltung gelangt. Im Vergleich mit den älteren Fabelerzählungen wird dies sehr deutlich. Die moralischen Handlungsschemata 3 Vgl. dazu Nate 2003.

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der Fabeln erfordern Protagonisten und Antagonisten jeweils im Singular, damit sie in einer Gestalt den wesentlichen Charakter ihrer Gattung repräsentieren. Gäbe es in der Fabel zwei Tiere ein und derselben Gattung, wird dies sofort für die erforderliche naturgeschichtliche Repräsentativität der Figuren zum Problem.4 Der Cartoon hingegen mit seinen körperlichen Bewegungsschemata treibt geradezu die Vielheit hervor; er entfaltet sie in seinen seriellen Erzählungen. Ob Mickey Mouse in unzähligen Episoden die verschiedensten Situationen durchlebt (wobei nie sicher ist, dass es vordringlich um eine bestimmte Geschichte geht und es sich nicht vor allem darum handelt, die Bewegungsmöglichkeiten seiner Gestalt durchzuspielen); oder ob in The Grashopper and the Ants zur gleichen Zeit viele völlig gleich aussehende Ameisen neben- und miteinander verschiedenste Tätigkeiten verrichten, mit denen sie das Spektrum der ihnen möglichen Bewegungsabläufe demonstrieren: das Prinzip bleibt dasselbe. Und dieses Prinzip ist ein ästhetisches, das aus der spezifischen medialen Beschaffenheit des Animationsfilms resultiert. Der Cartoon ist ein Bewegungseindruck, der sich aus einer Frequenz von 24 Karikaturen pro Sekunde ergibt. Er lebt von einer dichten Abfolge von variierten Zeichnungen, von denen jede einzelne als Übertreibung einer jeweils vorzustellenden Physis erscheint.

Sozialer Futteraustausch Ob eine Ameise oder ob ein ganzes Ameisenvolk zur Darstellung gelangt, erweist sich mithin nicht nur als sachliche, sondern auch als eine mediale Differenz. Besonders aufschlussreich ist dabei, wie der Cartoon selbst, die älteren Fabeln zitierend, diesen Unterschied noch einmal vorführt. Nachdem man zunächst die Heuschrecke im Frack und in Schnallenschuhen fiedelnd durch die blühende Landschaft hüpfen sieht, fällt der Blick auf einen Ameisenbau, vor dem eine Vielzahl von Ameisen unterschiedlichen Beschäftigungen nachgeht: Sie schleppen Früchte herbei, zersägen Karotten, brechen die Körner aus einem Maiskolben heraus. Dann sieht man eine einzelne Ameise, die vergeblich einen schweren, mit drei Kirschen beladenen Karren aus einem Schlammloch zu ziehen versucht.

4 Vgl. als Ausnahme, die die Regel bestätigt, Lessings Fabel Der Löwe mit dem Esel, in der zwei Esel einander begegnen. Dazu Sternberger 1990, S. 67 f.: „In einer alten oder klassischen Fabel wäre eine solche Begegnung von Esel und Esel, wäre eine Mehrzahl von Individuen gleicher Gattung gar nicht möglich. […] Eine Gattung kommt stets nur einmal vor, und zwar als rundes Exemplar, welches eben die Gattung in ihrer spezifischen Macht oder Ohnmacht, Schlauheit oder Dummheit, List oder Kraft repräsentiert. Es kann gar nicht zwei Exemplare geben, das Exemplar ist seinem Wesen nach immer in der Einzahl, sonst wäre es kein Exemplar und nicht exemplarisch.“

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Es ist diese einzelne Ameise, die sodann von der Heuschrecke mit dem oben zitierten Liedchen verspottet wird. Sie erscheint hier zunächst als Repräsentantin ihrer Art und erhält somit genau den Status, den die Tierfabel für alle tierischen Akteure traditionell vorsieht. Doch gerade hier beginnt der Trickfilm, sich von dem vertrauten Handlungsverlauf der Fabeln zu entfernen. Nachdem die Heuschrecke zur Ameise gesprochen hat („Come here, son. Listen. The good book says the Lord provides. There’s food on every tree. I see no reason to worry and work. No Sir. Not me.“), antwortet die Ameise nicht etwa, indem sie diese Belehrung zurückweist; sie spricht vielmehr überhaupt nicht, sondern hört zunächst erstaunt, dann vergnügt dem Gesang der Heuschrecke zu und versucht schließlich, ihren Tanz nachzuahmen. Damit handelt die Ameise ganz offenkundig dem Ruf zuwider, der, so schreibt der belgische Dichter und Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck in seinem Buch Das Leben der Ameisen aus dem Jahre 1930, seit Jahrtausenden den Ameisen anhaftet: „Von Äsops Fabeln an, deren Quellen sich im prähistorischen Dunkel verlieren, bis zu Jean de La Fontaine war die Ameise das am meisten verleumdete Insekt. Im Gegensatz zur Grille, die man, niemand weiß warum, mit allen leichten und schmückenden Tugenden ausstattete, war die Ameise zum griesgrämigen Sinnbild mißtrauischer Knauserei, kleinlicher Mißgunst, engherziger, böswilliger, beschränkter und übelster Knickrigkeit geworden. Sie spielte neben der strahlenden und dabei unverstandenen großen Künstlerin die Rolle des Kleinbürgers, Kleinrentners oder kleinen Beamten und Krämers aus der engen Straße der Kleinstadt ohne sanitäre Einrichtungen.“5

Erst die großen modernen Ameisenforscher, angefangen bei Pierre Huber, dessen Recherches sur le mœur des fourmis indigénes (1810) nach Maeterlinck als die Bibel der neueren Myrmekologie zu gelten hat, sind diesen Verleumdungen, so der Dichter weiter, entgegengetreten. Sie haben gezeigt, in welch hohem Maße die Ameise als soziales, ja als altruistisches Wesen zu gelten hat. Ameisen, so referiert Maeterlinck, verfügen über ein „altruistische[s] Kollektivorgan“,6 einen in ihrem Hinterleib untergebrachten Kropf, aus dem sie bei Bedarf gespeicherte Nahrung hervorwürgen und damit andere Ameisen und gelegentlich sogar Insekten einer anderen Spezies füttern können. Dieser soziale Futteraustausch – eine alimentäre Praxis, für die der Ameisenforscher W. M. Wheeler 1918 den Begriff der Trophallaxis vorgeschlagen hat7 – bildet die Grundlage des sozialen Lebens im Ameisenstaat. Disneys Cartoon befindet sich demnach auf dem neuesten Stand der Ameisenkunde, wenn er die Ameisen als gastfreundliche Insekten zeichnet, die am Ende die Heuschrecke in ihrem Bau aufnehmen und ihr ein warmes Fußbad und Nahrung gewähren. „‚La 5 Maeterlinck 1930, S. 39. 6 Ebd., S. 50. 7 Wheeler 1918, S. 322.

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fourmi n’est pas prêteuse, die Ameise leiht nicht gern‘, sagt der Fabeldichter. Das ist richtig, sie leiht nicht; denn leihen tut nur der Geizhals. Sie gibt, ohne zu zählen und nimmt niemals zurück. Sie besitzt nichts, nicht einmal das, was sich in ihrem eigenen Körper befindet.“8

Ästhetik und Politik Wenn allerdings die einzelne Ameise, wie oben geschildert, in der Begegnung mit der Heuschrecke ihre Arbeit vergisst und zu tanzen beginnt, dann ist doch noch weit mehr als die Aufhellung des unfreundlichen Ameisencharakters der Fabeldichter durch die moderne Insektenkunde im Spiel. Das Ameisen-Individuum droht hier seine Ameisenhaftigkeit, seine Emsigkeit9 zu verlieren, indem es sich durch Gesang und Spiel verführen lässt. Bezeichnend ist daher, wie sich gerade hier der Übergang von der Nachahmung der Fabel zum modernen Cartoon vollzieht – indem diese Ameise keine eigene Stimme hat, so dass sie nicht imstande ist, für ihre Art zu sprechen. Dies vermag einzig die Ameisenkönigin, die – eine dankbare Szene für die Möglichkeiten des Cartoons – in diesem Moment mit großem Gefolge auftritt und die, von der Heuschrecke respektlos mit „Hi, Queenie!“ begrüßt, diese streng zurechtweist: „You will change that tune when winter comes and the ground is covered with snow.“ Im Machtwort der Ameisenkönigin muss die Repräsentativität der tierischen Spezies gesichert werden, wenn nicht mehr, wie in der Fabel, eine einzelne Ameise, sondern ein ganzes Kollektiv involviert ist. Es ist die Verführungskraft des Ästhetischen, seine Eigengesetzlichkeit, die nicht im Dienste gemeinschaftlicher Interessen steht, und die Vieldeutigkeit, die sich daraus ergibt, gegen die hier vorgegangen wird. Und aus dieser Perspektive wird auch klar, was da eigentlich geschieht, wenn am Ende die Heuschrecke in den Ameisenbau eingelassen und in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Der Künstler und die Kunst werden in den Ameisenstaat integriert und in den Dienst genommen. Aus Dankbarkeit und Einsicht singt die Heuschrecke schließlich ein anderes Lied, und alle Ameisen und die Königin tanzen mit: „I owe the world a living I owe the world a living I’ve been a fool the whole year long

8 Maeterlinck 1930, S. 42. Maeterlinck zitiert hier aus La Fontaines Fabel Die Grille und die Ameise. 9 Zur gemeinsamen Herkunft der Bezeichnungen ‚emsig‘ und ‚Emse‘ (Ameise) vgl. Jacob und Wilhelm Grimm 1859, Sp. 444.

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And now I’m singing a different song You were right, I was wrong.“

Das hat es in keiner Fabel gegeben: ein Happyend, das darin besteht, den Belehrten selbst – gegen Kost und Logis – fröhlich die eigene Beschränktheit bekennen zu lassen. Dem Trickfilm, so wird hier deutlich, geht es in der Hauptsache ganz offensichtlich gar nicht mehr um eine Belehrung. Es handelt sich vielmehr darum, den Status des Ästhetischen selbst zu bestimmen. Im Ameisenstaat unterliegt die Kunst, anders als bei Platon, keinem ethischen Verdikt; und sie muss sich auch nicht mehr an den Regeln der Gattungspoetik orientieren (gegen die sie vielmehr nach Belieben verstößt).10 Die Kunst, wie sie im Cartoon in Gestalt des Grashüpfers ihren Auftritt erhält und dabei nicht zuletzt den Cartoon selbst als Kunst reflektiert, muss sich vielmehr in einem Kräfteverhältnis zur gemeinschaftlichen Ordnung situieren: Sie muss sich der Frage stellen, welche Abweichungen sie zur Erscheinung bringt, welche Akteure außerhalb geregelten kollektiven Handelns sie sichtbar werden lässt und welche Effekte der Durchbrechung des organisierten sozialen Lebens sie zulassen will. Der Cartoon mit seinen ‚anarchischen‘ Bewegungsschemata (die gleichwohl neue Muster des Wiedererkennens und damit Regelmäßigkeiten etablieren) verhandelt – so populär er auch sein mag – das Problem einer Kunst, die zum Schauplatz und zum Auseinandersetzungsfeld des Politischen geworden ist. So klar der singende Grashüpfer sich der gegebenen Ordnung zu unterwerfen scheint und dieser die eigene ästhetische Praxis als normierende Kraft dienstbar sein lässt, indem er die Schuldigkeit der Welt („Oh the world owes us a living“) in die eigene Schuldigkeit verkehrt („I owe the world a living“), so sehr bleibt in diesem Cartoon doch ein Überschuss, ein fortbestehender irregulärer Anspruch wirksam. Der Grashüpfer, der sich draußen im Schnee verkühlt hat, wirbelt am Ende mit einem herzhaften Niesen die Ameisen, die sich völlig symmetrisch um ihn herum aufgestellt haben, durcheinander, so dass sie aus dem Bild herausgeschleudert werden und nur der Sänger auf dem Schauplatz zurückbleibt. In der Darstellung des Ameisenkollektivs reflektiert der Disney-Cartoon eine „Selbstbeschreibung von Gesellschaft“11 in der Zeit des New Deal und rückt zugleich seinen eigenen historischen Ort als populäre Kunst in den Blick. Er ruft die mündliche und schriftliche Tradition der europäischen Tierfabel auf – von Äsop bis La Fontaine – und setzt sich zur ihr medienspezifisch ins Verhältnis. Dabei bezieht er nicht zuletzt Narrative mit ein, die in der Rezeption neueren 10 Zur Unterscheidung von ethischen, poetischen und ästhetischen Regimes der Künste sowie zum Zusammenhang von Ästhetik und Politik vgl. die Schriften Jacques Rancières, z. B. Rancière 2008. 11 Vgl. dazu Werber 2013.

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insektenkundlichen Wissens ausgeprägt worden sind. In dieser Überlagerung mehrerer Schichten des Erzählens macht der Trickfilm kenntlich, wie Gemeinschaft in ästhetischen Praktiken ideologisch hervorgebracht und stabilisiert, aber zugleich auch einem freien Spiel ausgesetzt und dadurch gefährdet wird. Wenn sich The Grashopper and the Ants in dieser Perspektive überraschend als ein Palimpsest verschiedenster historischer Markierungen erweist, so könnte man beinahe meinen, dass man ihnen, diesem Grashüpfer und diesen Ameisen, etwas schuldig ist: We owe them a living.

Literatur Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1859. Tom Gunning, „The Cinema of Attraction[s]. Early Film, its Spectator and the AvantGarde“, in: Wanda Strauven (Hg.), The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam 2006, S. 381 – 388. Maurice Maeterlinck, Das Leben der Ameisen, übers. v. Käthe Illch, Stuttgart/Berlin 1930. Richard Nate, Amerikanische Träume. Die Kultur der Vereinigten Staaten in der Zeit des New Deal, Würzburg 2003. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008. Dolf Sternberger, „Über eine Fabel von Lessing“, in: Ders., Figuren der Fabel. Essays, Frankfurt/M. 1990. William Morton Wheeler, „A Study of Some Ant Larvæ, with a Consideration of the Origin and Meaning of the Social Habit among Insects“, in: Proceedings of the American Philosophical Society 57/4, 1918, S. 293 – 343. Niels Werber, Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt/M. 2013.

Tobias Ebbrecht-Hartmann

Film als Archiv. Archiv, Film und Erinnerung im neueren israelischen Kino

Ein Mann geht über staubige Landstraßen und steinige Berghänge. Die Kamera filmt ihn von hinten. Er kommt an eine Grenze. Ein Schild weist den Weg nach Palästina. Ein Schlagbaum öffnet sich. Nun schwenkt die Kamera langsam von den Füßen des Mannes über seine abgenutzte Kleidung. Erstmals wird das Gesicht des (Ein-) Wanderers sichtbar. Freudig lächelt er in die Kamera, bevor diese in der nächsten Einstellung über eine felsige Wüstenlandschaft schwenkt. Die Szene stammt aus der Anfangssequenz des Films Avodah (Palästina 1934 – 1935, Helmar Lerski), der zu einer Reihe von Produktionen über den Aufbau eines jüdischen Staates im britischen Mandatsgebiet Palästina gehört, die in den 1930er Jahren im Auftrag der jüdischen Nationalfonds Keren Hayesod und Keren Kayemet entstanden.1 Als Werbung für das zionistische Aufbauprojekt gedreht, stellt Avodah retrospektiv eines der frühsten Filmdokumente über die zionistische Besiedlung des vorstaatlichen Palästinas dar.2 Als solches begründete er ein Archiv, das aber erst nach der Ausrufung des Staates Israels entstehen konnte, und den Anfang einer israelischen Filmgeschichte, die es im Moment seiner Entstehung noch nicht gab. Ganz der Gegenwart verschrieben spielte dieser archivarische Gedanke aber kaum eine Rolle, da sich der Film doch außerhalb jeder historischen Kontinuität verortet. Er verdichtet, insbesondere in der oben beschriebenen Eingangssequenz, die zionistische Geschichtsvorstellung, dass die jüdische Vorgeschichte, das Exil und die Diaspora, aus der Erinnerung zu tilgen sei. Als Geschichte von außen aufgezwungenem Leiden und fehlender Selbstbestimmung könne sie nicht als Fundament der neuen israelischen Identität dienen. Stattdessen proklamierte Avodah im Sinne der zionistischen Historiographie einen geschichtlichen Nullpunkt. Der beschwerliche und dem Vergessen preisgegebene Weg des Judentums in der Diaspora wird in dem gesichtslosen 1 Vgl. Horak 1998, S. 11 f. 2 Diesem Zweck entsprach der Film allerdings aufgrund seiner anspruchsvollen, teilweise avantgardistischen Ästhetik, die sowohl am Weimarer Kino als auch am sowjetischen Film geschult war, nicht und wurde daher als zu „bolschewistisch“ kritisiert. Vgl. ebd., S. 12 f.

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Tobias Ebbrecht-Hartmann

Wanderer personifiziert, der erst nach Betreten des ‚Gelobten Landes‘ und visualisiert durch den oben beschriebenen Kameraschwenk zum Subjekt der Geschichte wird, die somit erst mit dem Blick über das Land beginnt, das die Pioniere zu ihrer neuen Heimat machten.

Vor dem Anfang Fünfundsiebzig Jahre später zitiert Raphael Nadjaris A History of Israeli Cinema (Frankreich/Israel 2009) diesen doppelten Kameraschwenk auf das Gesicht des Einwanderers und über das gelobte Land. Mittlerweile war Avodah von einem emphatischen Gegenwartsbild zu einem kanonischen Archivfilm geworden, der in Nadjaris Film den Ausgangspunkt einer kinematographischen Archäologie des israelischen Kinos markiert. Während die Filmwissenschaftlerin Nurith Gertz den Weg des Einwanderers nach Palästina beschreibt, wird als Filmzitat der Kameraschwenk eingeblendet (Abb. 1 a+b). Die Filmbeschreibung verbindet sich mit der Schwenkbewegung der Kamera, die von Gertz als Sinnbild des oben skizzierten zionistischen Geschichtskonzepts gedeutet wird, das die Vergangenheit gleichsam auslöscht und unkenntlich macht. Yosef Hayim Yerushalmi hat diese Form der zionistischen Geschichtsschreibung und ihre „antihistorische Einstellung“ anhand einer Figur aus Haim Hazaz’ Kurzgeschichte „Ha-Derasha“ (Die Predigt, 1943) beschrieben. In dieser Geschichte lässt Hazaz den „fiktiven Anti-Helden der Zionisten“3 Yudka seine Ablehnung der jüdischen Geschichte artikulieren.4 Diese Ablehnung interpretiert Yerushalmi aber nicht als Leugnung, sondern als ambivalentes Nebeneinander von „Abwehr und Anziehung, Ablehnung und ein[em] Gefühl des Verlusts, Bildersturm und Trauer“.5 Yudka habe „eine Vergangenheit, allerdings mit einer Lücke von nahezu zwei Jahrtausenden. […] Die Ereignisse dazwischen sind ein Alptraum, den man am besten vergißt.“6 Darin hat die Figur einige Ähnlichkeit mit dem namenlosen Einwanderer in Avodah. Doch gerade diese fehlende Vorgeschichte prägt nicht nur die israelische Geschichtsschreibung, sondern auch die israelische Filmgeschichte und begründet das gestiegene Interesse junger israelischer Filmemacher an der filmischen Erforschung dieser Geschichte und ihrer Lücken und Ränder. Die historischen Filme bilden somit eine Sammlung von Spuren und Überresten aus der Vergangenheit, die mit filmischen Mitteln bearbeitet, befragt und in verschie3 4 5 6

Meyers 2002, S. 56. Zit. n. Yerushalmi 2003, S. 375. Ebd. Ebd., S. 377.

Film als Archiv

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Abb. 1a+b: In A History of Israeli Cinema beschreibt die Filmwissenschafterin Nurith Gertz Bilder aus Helmar Lerskis Avodah.

dene Ordnungen gebracht werden können. Auf diese Weise entstehen aus dem historischen Material filmische Archive, die dieses aufbewahren und neue Sichtund Leseweisen des Vergangenen ermöglichen. Nadjaris A History of Israeli Cinema ist ein Beispiel für solche Praktiken der filmischen Film- und Bildlektüre in einer Region, in der der Kampf mit den Bildern angesichts der medial verstärkten politischen Konflikte eine besondere Bedeutung hat und verständlicherweise Skepsis hervorruft. So entstanden in den vergangenen Jahren Filme, die filmisches Archivmaterial zum Ausgangspunkt und Gegenstand ihrer Filme machten und so das Potential des Mediums zur Erforschung und Befragung historischer Filmdokumente und deren Hineinreichen in die Gegenwart ausloten. Ihr Ausgangspunkt sind die oben beschriebenen Lücken und Risse. Ihr Gegenstand ist eine disparate Sammlung filmischer Materialien und Überlieferungen. Ihr Ziel ist nicht die Herstellung einer geschlossenen archivarischen Ordnung, sondern die Entwicklung von Praktiken filmischer Archive, die in ständiger Neu- und Umarbeitung von Materialien ein Archiv im Werden konstituieren. Damit folgen sie einer konstitutiven Bewegung, die Knut Ebeling folgendermaßen beschrieben hat: „Das Archiv ist nicht nur ein Riss, weil es jede

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Kontinuität zerreißt; nur weil es einen ‚Sprung‘ darstellt, kann es die Wirklichkeit in neue Bahnen lenken. Stets liefert das Archiv den Stoff für Revisionen und Anfechtungen, das Gestell oder Dispositiv für eine neue Geschichte.“7 Nadjaris Film stellt ein solches „Gestell“ bereit und ist gleichzeitig selbst von der Ambivalenz zwischen Kontinuität und Bruch durchzogen. Einerseits sammelt der Film die Überreste der filmischen Vergangenheit und bestimmt und klassifiziert sie mit Hilfe von Filmhistorikern und Filmemachern. Andererseits versucht er, die Geschichte des israelischen Kinos in eine bestimmte Ordnung zu bringen und damit einen Ort für gegenwärtige Filmemacher zu bestimmen.8 Das filmische Archiv wird in diesem Fall zu einem Ort der Versammlung, der im Sinne Derridas einerseits Zeichen versammelt, um diese zu lesen und zu deuten, und andererseits eine Konfiguration bildet, die wiederum eine begründende Funktion zugeschrieben bekommt.9 Es geht dabei auch darum eine neue Genealogie zu begründen und ein ‚Erbe‘ zu inspizieren, das man annehmen oder verwerfen kann. Das zionistische Filmerbe stellt dabei eine besondere Schwierigkeit dar und ruft bei Nadjari Zweifel gegenüber dem Pathos der Bilder hervor. Durch die dadurch hervorgerufene Distanz wird das Material zum Untersuchungsgegenstand, gleichzeitig aber auch die ihm eingeschriebene Ambivalenz verdeckt. Im Fall von Avodah betrifft dies nicht nur eine ästhetische Unentschiedenheit, die zwischen Avantgarde, Propaganda und Dokument oszilliert, sondern auch die Zugehörigkeit des Films. Denn Avodah gehört im Prinzip zwei nationalen Kinematographien und damit zwei Archiven an. Zum einen trägt der Film durch seinen Gegenstand und seine Haltung dazu bei, ein Archiv im Werden zu konstituieren, das es zum Zeitpunkt seiner Entstehung genauso wenig gibt, wie den Staat, dessen Vorgeschichte er aus heutiger Sicht zeigt. Die archivarische Zeit von Avodah ist also die Zukunft, oder in den Worten Derridas: „Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen.“10 A History of Israeli Cinema bestimmt nun diese Bedeutung, indem es den Film retrospektiv in das zionistische Geschichtsnarrativ einordnet. Dabei gerät in den Hintergrund, dass Avodah aber auch einen ausgesonderten Teil der deutschen Filmgeschichte bildet, welcher Helmar Lerski in ihrer Weimarer Phase angehörte, und aus deren Verlauf er genau in dem Moment ausgeschlossen wurde, als mit dem am 4. Februar 1935 in Anwesenheit von Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels eröffneten Reichsfilmarchiv ein Ort für die Bewahrung des sogenannten deutschen Filmerbes geschaffen wurde.11 Avodah ist in diesem Sinne also auch ein verlo7 8 9 10 11

Ebeling 2007, S. 45 f. Ebbrecht 2009, S. 3 – 5. Vgl. Derrida 1997, S. 13. Ebd. 1997, S. 65. Vgl. zur Geschichte des Reichsfilmarchivs u. a. Aurich 2009, S. 310 – 317.

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renes, abgelehntes und nicht realisiertes ‚Erbe‘ des deutschen Kinos. Ähnlich dem namenlosen Einwanderer seines Films ist auch Lerski ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten. Im Februar 1871 in Straßburg als Israel Schmuklerski geboren, verschlug es ihn nach Zürich, Chicago und New York, bevor er 1923 die Licht- und Kameragestaltung in Paul Lenis Das Wachsfigurenkabinett (Deutschland 1923/24) übernahm und ein Jahr später für Arnold Fancks Der Heilige Berg (Deutschland 1925/26) Innenaufnahmen filmte, in dem Leni Riefenstahl die weibliche Hauptrolle spielte. Zehn Jahre später drehte Riefenstahl, zeitgleich zu Lerskis Avodah, ihren NS-Parteitagsfilm Triumph des Willens (Deutschland 1934/35), mit dem Avodah nicht nur aufgrund der zeitlichen Koinzidenz oft verglichen wurde.12 Doch während Riefenstahl die dynamische Kameraästhetik nutzt, um die ornamentale Massenchoreographie mit den Aufnahmen der NSDAP-Parteiführer zu orchestrieren, entsteht die Dynamik des Aufbaus in Avodah gerade durch die Zerlegung der Szenerie in visuelle Eindrücke. Die Verbindung zwischen Der Heilige Berg, Avodah und Triumph des Willens symbolisiert allerdings eine interessante filmarchivarische Konstellation, die die Ambivalenz zwischen Weimarer Tradition, der erst entstehenden israelischen Kinematographie und NS-Filmpropaganda beschreibt, die aufgrund der nahezu vollständigen Zerstörung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten retrospektiv auch zu einem negativen Bestandteil der jüdischisraelischen Geschichtsschreibung wurde. Doch diese von Avodah gelegte Spur wird von Nadjaris filmischem Archiv nicht realisiert. Paradoxer Weise affirmiert und wiederholt A History of Israeli Cinema das in der Anfangsszene von Avodah verdichtete antihistorische Geschichtsverständnis. Die Vor-Geschichte der israelischen Kinematographie bleibt weiterhin unsichtbar, obwohl Avodah durch die Person seines Regisseurs und Kameramannes Lerski das Bindeglied zu einem anderen Erbe, der deutschen (Film-) Geschichte, markiert. Auch A History of Israeli Cinema konstituiert damit ein auf die Zukunft ausgerichtetes filmisches Archiv, das eine veränderte Genealogie zu begründen versucht. Aber: „Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.“13 Die Vorgeschichte von Avodah konstituiert dieses Draußen. Die filmischen Archive israelischer Filmemacher sind also eine Arbeit an den Überlieferungen der israelischen (Film-) Geschichte, die auf Techniken der Wiederholung und Neuanordnung basieren, um das Material der Vergangenheit für die Gegenwart les- und verstehbar zu machen. In 12 In einer zeitgenössischen Besprechung der Neuen Züricher Zeitung wurden beide Filme explizit miteinander verglichen und betont, dass auch Riefenstahls Film für eine „nationale Gesinnung“ werbe. Vgl. Horak 2012, S. 12. 13 Derrida 1997, S. 25.

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diesem Sinne stellen sie eine Zu-Sendung, die Aneignung eines verstörenden, verborgenen oder verweigerten ‚Erbes‘ da.

Verstörendes Erbe Im Jahr 2007 entdeckte die israelische Filmemacherin Yael Hersonski in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einen ihr unbekannten Film. Die Aufnahmen entstanden 1942 im Warschauer Ghetto und wurden von deutschen Kameraleuten zu Propagandazwecken gefilmt.14 Die Tatsache, dass die Filme aus Warschau niemals öffentlich gezeigt und lediglich im Archiv verwahrt wurden, verdeutlicht, dass hier ein temporär aufgeschobenes visuelles Gedächtnis für eine spätere Nutzung produziert werden sollte. Doch diese spätere Nutzung durchkreuzte die ursprüngliche Intention, mit den Aufnahmen aus den Ghettos das nationalsozialistische Judenbild nach der vollständigen Zerstörung des Judentums an spätere Generationen zu vermitteln. Stattdessen dienten die Aufnahmen nachträglich zur Illustration des Leidensweges der europäischen Juden: „Der heutige Blick sucht in den Filmbildern ein Zeugnis über das Leben von Juden in den Ghettos, vergisst aber dabei, dass eben diese Bilder von den Strategien der Nationalsozialisten vorgeformt worden sind.“15 Auch die Ghettoaufnahmen gehören zwei Archiven an. Als Ikonen des Leides wurden sie Teil eines visuellen Gedächtnisses der Opfer. Als Propagandabilder blieben sie Teil des Archivs der Täter. Diese Ambivalenz prägt auch Hersonskis Archivrecherche in A Film Unfinished (Geheimsache Ghettofilm, Israel/ Deutschland 2010). Anders aber als das sammelnde, klassifizierende und registrierende Archiv verknüpft Hersonski in ihrem filmischen Archiv das Aufbewahren und Wiedervorführen mit der Materialbefragung. „Was zeigen diese Bilder wirklich, und was zeigen sie nicht?“, fragt der Kommentar, während die Filmrollen auf einer Sackkarre einen dunklen Gang entlang gefahren und dann in einen Projektor eingelegt und somit Operationen der Filmvorführung mit solchen der Spurensuche verbunden werden (Abb. 2 a+b). Im Folgenden entfaltet Hersonki eine Fülle filmischer Operationen, die sich als Inventar von Ordnungs- und Befragungstechniken filmischer Archive beschreiben lassen. Neben der Montage disparater Materialien greift sie in den Lauf der Bilder ein und hält Aufnahmen an, um die zumeist letzten Abbilder jener Menschen anblicken zu können, die nur kurze Zeit später in den Tod deportiert wurden. Nachträglich fügt sie den stummen Archivbildern Geräusche hinzu und verstärkt damit den vermeintlichen Dokumentcharakter. Andererseits zeigt sie 14 Vgl. Horstmann 2010, S. 203. 15 Ebd., S. 204.

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Abb. 2a+b: Gegenstand der Recherche in A Film Unfinished sind die Filmmaterialien aus dem Archiv.

aber auch immer wieder mediale Apparaturen wie Filmprojektoren, Fernseher oder Videorekorder, die den Materialcharakter betonen und damit auf den Vermittlungscharakter der Aufnahmen verweisen. Schließlich kontrastiert sie die Archivbilder mit anderen überlieferten Zeugnissen und Materialien. Auszüge aus Tagebüchern, beispielsweise des Warschauer Judenratsvorsitzenden Adam Czerniaków oder aus den geheimen Aufzeichnungen Emanuel Ringelblums und anderer Ghettobewohner konstituieren ein sprachliches Gegenarchiv zu den bildmächtigen visuellen Überresten des nationalsozialistischen Propagandaarchivs.16 In dieser teilweise kontrastiven 16 Zusammen mit weiteren jüdischen Historikern und Journalisten begründete Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto ein Untergrundarchiv, das die Situation der Menschen im Ghetto dokumentieren sollte. Zunächst hatte das Archiv die Funktion, die Sozial- und Gesellschaftsstruktur des Ghettos zu dokumentieren. Als der Plan der massenhaften Ermordung der Einwohner des Ghettos in die Tat umgesetzt wurde, wurde das Archiv zur Sammlung der letzten Zeugnisse der Ghettobewohner für eine unbestimmt bleibende, zukünftige Nachwelt. Vor den letzten großen Deportationen aus den Ghettos vergruben und versteckten die Mitarbeiter des Untergrundarchivs die gesammelten Zeugnisse und Dokumente. Im Sep-

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Gegenüberstellung von zwei gegenläufigen Archivgedächtnissen und zwei unterschiedlichen medialen Aufschreibesystemen entsteht die eigentliche Dynamik der filmischen Materialbefragung. Abseits bloß additiver oder illustrativer Aneinanderreihung von scheinbar gleichwertigen Quellen bringen die Tagebuchauszüge den Propagandaschleier der Filmfragmente zur Sprache. Obwohl sich in diesem Ansatz die archivierende Ansammlung verschiedener Materialien mit ihrer historiographischen Anordnung verbinden, wodurch sie sich in gewisser Weise gegenseitig ergänzen, kommentieren und erklären, stieß Hersonskis Ansatz auf Widerspruch: „In Yael Hersonskis ‚A Film Unfinished‘ gibt es weder neue Bilder noch neue Erkenntnisse oder Einsichten. Vertieft das Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto unser Verständnis des Holocaust? Vielleicht, wenn es sensibel thematisiert und kontextualisiert werden würde. Um von Hunger und Massengräbern zu erfahren, brauchen wir es allerdings nicht. Und wohl auch kaum, um zu realisieren, dass die Nazis antijüdische Propaganda produziert haben.“17

So relevant diese Kritik sowohl unter historischen als auch geschichtspolitischen Gesichtspunkten ist, verdeutlicht sie doch auch einen zentralen Unterschied im Zugang zu diesem spezifischen Archivfilm und verweist wiederum auf die Zugehörigkeit dieser Aufnahmen zu zwei unterschiedlichen Archiven. Dirk Rupnow kritisiert den Film ausgehend von der Perspektive von Historikern und im Wissen um die Zugehörigkeit dieser Aufnahmen zum visuellen Gedächtnis der Täter, das die Aufnahmen bis ins kleinste Detail strukturiert und damit als historische Quelle determiniert. Hersonski geht es hingegen darum, die Aufnahmen ihrem eigenen Familienarchiv und damit auch dem israelischen Filmerbe zuzuordnen. Sie fügt die verdrängten und ausgeschlossenen Bilder, das Draußen des Archivs, in ihr Familienarchiv ein und stellt so eine andere genealogische Ordnung her. In einer Stellungnahme zu ihrem Film schreibt die Regisseurin über den Schock, der sie überfiel, als sie die Aufnahmen aus dem Ghetto das erste Mal sichtete: „My shock stemmed also from the fact that after so many years being an Israeli citizen, bombarded with so many films and images that concerned the Jewish Holocaust, I still didn’t know anything about this film.“18 Als Enkelin einer Überlebenden füllten die Aufnahmen eine Lücke innerhalb ihrer Familiengeschichte und stellten eine Verbindung zu ihrer Großmutter her, die nie von ihren Erlebnissen im Ghetto erzählt hatte.19

tember 1946 konnten durch die Mithilfe überlebender Mitarbeiter von Ringelblum die erhaltenen Überreste des Archivs geborgen werden. Vgl. Kassow 2007. 17 Rupnow 2010, o. S. 18 Hersonski 2010, o. S. 19 Karpel 2011.

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Hersonski baut um das Material ein filmisches Archiv, um das verstörende visuelle Erbe anders zu rahmen und um es anders – mit dem Blick einer Erbin und nicht einer Historikerin – anschauen zu können. Dem Film geht es, wie Jeannette Catsoulis schreibt, daher um eine Untersuchung des Sehens: „‚A Film Unfinished‘ is really an exploration of watching – or, more precisely, of the difference between watching and seeing.“20 Durch den Rückbezug auf das Archiv, ist es einerseits möglich, die Menschen auf den Filmbildern zu betrachten und gleichzeitig andererseits auch den Kontext ihrer Herstellung durch die Anordnung des Materials im filmischen Archiv wahrzunehmen. Dazu montiert die Regisseurin disparate Materialien aus der Zeit, wie die Propagandaaufnahmen und die Aufzeichnungen aus Tagebüchern, und konstituiert so einen spannungsvollen Kontrast. Zusätzlich bezieht sie Vergangenheit und Gegenwart aufeinander, indem sie das Material aus den Archiven mit der gegenwärtigen Situation der Sichtung und Untersuchung der historischen Filme zusammenbringt. Damit zieht A Film Unfinished, wie Michael Wildt betont, „vorschnell behauptete Authentizität in Zweifel und zeigt die Inszenierung der Bilder – und entzieht doch in keiner Weise den jüdischen Menschen ihre Glaubwürdigkeit, die sie als Handelnde auch unter solchen Gewaltbedingungen behalten. […] In Yael Hersonskis Film werden unterschiedliche, diametral entgegengesetzte Blicke erkennbar, werden Bilder der Täter/innen buchstäblich durchleuchtet.“21

Aber es bleibt zu fragen, inwieweit diese entgegengesetzten Blicke tatsächlich zusammengeführt werden können, besonders in jenen Szenen, in denen Hersonski die Filme Überlebenden des Ghettos in einem Kino vorführt. Hier verschiebt sich der Blick der Filmzuschauer von der kritischen Betrachtung der Archivaufnahmen zur voyeuristischen Suche nach Spuren von Traumatisierung auf den Gesichtern der Überlebenden.22 Gleichzeitig unterstreicht gerade diese Vorführsituation die Zugehörigkeit der Ghettobilder zu zwei unterschiedlichen Archiven und die unmögliche Herstellung eines homogenen Bildes von der Vergangenheit. Deutlich wird hier das „Übersetzungsproblem“ des Archivs, von dem auch Derrida spricht: „Unersetzliche Einzigartigkeit eines Dokumentes, das es zu deuten, zu wiederholen und zu reproduzieren gilt, doch jedes Mal in seiner ursprünglichen Einmaligkeit – ein Archiv ist es sich schuldig, idiomatisch zu sein, und damit der Übersetzung zugleich dargeboten und unzugänglich gemacht, offen für die Iteration und die technische Reproduzierbarkeit und ihnen doch entzogen.“23

20 21 22 23

Catsoulis 2010. Wildt 2012, S. 308. Vgl. Ebbrecht 2013, S. 62. Derrida 1997, S. 160.

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Aus dem Archiv geborgen und in ein filmisches Archiv, den Film A Film Unfinished, überführt, wird der unvollendete Ghettofilm zum Material einer filmischen Spurensuche. Doch gleichzeitig entzieht er sich der Ein-Ordnung und bleibt unleserlich. Auch A Film Unfinished und seine filmische Praktiken zur Untersuchung einer verstörenden Vergangenheit bleiben daher letztlich unabgeschlossen.

Umstrittene Archive Damit ist Hersonskis filmisches Archiv auch Ausdruck einer weiterhin störenden und verstörenden Vergangenheit, die der Holocaust in der israelischen Gesellschaft und ihren Erinnerungspraktiken hinterlassen hat. James E. Young hat dies anhand von Zeugnissen israelischer Soldaten untersucht. „Wer den Holocaust überlebt hat, wer Bilder sieht von einem Vater und einer Mutter, die die Schreie hören, welche die Träume ihrer Nächsten aufstören, wer die Geschichten gehört hat, der weiß, daß kein anderes Volk solche qualvollen Visonen hat“, berichtet Muki Tzur aus dem Kibbutz Ein Ha-horesh über seine Erfahrungen als Soldat im Sechstagekrieg 1967. Und er fügt hinzu: „Und diese Visionen sind es, die uns zwingen zu kämpfen, und die wiederum auch bewirken, daß wir uns unseres Kampfes schämen …“24 Tzur beschreibt ein mentales Archiv, ein Archiv von Erinnerungs- und Vorstellungsbildern, das Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung setzt, an dessen Stelle in den nachfolgenden Generationen auch die Archivaufnahmen aus dem Ghetto treten. Daraus entsteht ein ambivalentes Verhältnis zur Vergangenheit, das sich aus der antihistorischen Haltung der Gründergeneration speist, und das sich auch in die Suchbewegung der filmischen Archive der dritten Generation von Israelis einschreibt: „Diese Wechselwirkung zwischen vergangener und gegenwärtiger Verfolgung, zwischen dem Zwang zu kämpfen und der Schande zu kämpfen, zeigt Israels eigenes ambivalentes Bedürfnis, sich des Holocaust zu erinnern und ihn zu vergessen“.25 Young verdeutlicht dies an einer Ablösungsbewegung, die er am Gegenstand von Antikriegsgedichten von israelischen Soldaten während des Libanonkrieges demonstriert. Der Holocaust wurde in diesen Gedichten zum „Antitropus“, weil sie es ablehnten, „den Krieg mit den Bildern des Holocaust zu rechtfertigen, obschon ihre Verfasser diese Bilder andererseits zugleich als wichtigstes Mittel zur Darstellung der Opfer dieses Krieges – besonders der Kinder – einsetzten.“26 In diesem Krieg der Bilder entstand ein Arsenal von Tropen, in denen sich 24 Zit. n. Young 1997, S. 219. 25 Ebd., S. 221. 26 Ebd., S. 222.

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Ikonen des Holocaust mit Bildern des gegenwärtigen Krieges vermischten. Hier konstituierte sich also ein doppeltes Archiv, in dem sich unterschiedliche Perspektiven übereinander lagerten und auf die Gegenwart ausrichteten. Young beschreibt diese Überlagerung am Beispiel einer berühmten Fotografie aus dem Warschauer Ghetto: „Indem die Erinnerungen an bedrängte Gettokämpfer, an Kinder, die brutal behandelt wurden, und an die Todeslager zu archetypischen Bezugspunkten innerhalb der Ereignisse des Holocaust wurden, haben sie sich zu eigenständigen Metaphern verfestigt. So sind in einem einzigen Bild aus dem Holocaust, dem Foto des kleinen Jungen, der mit erhobenen Armen dasteht, umringt von lachenden deutschen Soldaten, mehrere Aspekte dieser Zeit auf den Punkt gebracht, vor allem die Angst, die Hilflosigkeit, der Mut der Opfer und die barbarische Herzlosigkeit der Mörder. Doch wenn dieses Bild aus seinem Kontext herausgelöst wird und allein für einen ganzen Komplex von Ereignissen stehen soll, ist es nur allzuleicht emblematisch auf andere übertragbar und kann dazu dienen, auch die Bedeutung anderer Ereignisse zu organisieren. Auf diese Weise ist der kleine Junge nicht nur zum Symbol für die Unschuld der Opfer des Holocaust geworden, sondern wurde nun von den einstigen Opfern als Archetyp aufgegriffen, mit dem sich das aktuelle Leiden von [palästinensischen, teh] Kindern begreifen läßt.“27

Was Young hier beschreibt, ist ein Archiv ohne Gedächtnis. Ein Archiv, in dem sich die Bilder übereinanderstapeln und gegenseitig überblenden, ohne, dass eine Spur zu einem bestimmten Ort oder einem bestimmten Menschen hinweist. Gerade diese Ablösungen einzelner Bilder als Metaphern und Ikonen des Leidens mit ihrer scheinbar unmittelbaren Wirkungs- und Affizierungskraft machen eine Bestandsaufnahme notwendig, einen Rückzug auf das Archiv oder die Herstellung desselben. Hersonskis Film scheint gerade daraus einen wesentlichen Antrieb zu ziehen, das Material hinter den zu Ikonen erstarrten Bildern zu untersuchen und der Ambivalenz der ebenso verzerrten wie stummen Zeugnisse nachzugehen. Der Regisseur Ari Folman hat in Waltz with Bashir (Israel/Frankreich/ Deutschland 2009) etwas Ähnliches unternommen. Sein autobiographisch erzählter Animationsfilm über die Kriegshandlungen im Libanon aus der Perspektive eines israelischen Soldaten kann als filmisches Archiv jener Eindrücke und Bilder gesehen werden, die auch die politisch motivierte israelische Antikriegslyrik der 1980er prägten.28 Folman verknüpft eigene und fremde Erinnerungsbilder mit metaphorischen Traumbildern. Er greift aber auch auf Vergleichsbilder aus anderen Filmen zurück. Passagen des Films wirken wie animierte Zitate aus Haim Bouzaglos Film Time for Cherries (Israel 1990), der 27 Ebd., S. 225. 28 Der Film war dadurch gleichzeitig auch ein Auslöser weiterer Erinnerungen von Soldaten geworden und hat in Israel eine Debatte über den Umgang mit diesen Erinnerungen ausgelöst. Vgl. Ben-Simhon 2009, S. 16 – 19.

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ebenfalls den Krieg im Libanon zum Gegenstand hatte. Andere Szenen sind adaptierte Konstellationen aus amerikanischen Antikriegsfilmen wie Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (USA 1979), der eine zeitgenössische Vorlage für die Konzeptualisierung der Kriegserfahrungen Anfang der 1980er Jahre lieferte. An zentralen Stellen integriert der Film auch animierte Visualisierungen kanonisierter Erinnerungsbilder. In einer Szene steht ein junger Soldat in seinem Panzer palästinensischen „Bazooka-Kids“ gegenüber, die den Konvoi der Israelis beschießen und damit ein Inferno auslösen. Young beschreibt diese Kollision als eine Erfahrung, die bei den israelischen Soldaten eine traumatische Gewissenskrise ausgelöst habe. Gleichzeitig gefährlicher Feind und Sinnbild des kindlichen Opfers gerieten durch diese Konfrontation die scheinbar stabilen Koordinaten des Krieges durcheinander. Dies kulminiert in zwei weiteren ‚Ur-Szenen‘ des Libanonkrieges. So ruft Folman ganz explizit im Kontext der Darstellung des von christlichen Milizen begangenen Massakers in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila das Bild des Jungen im Warschauer Ghetto auf (Abb. 3 a+b). Und schließlich werden die ungeordneten Erinnerungsstränge im Bild der Leuchtraketen zusammengeführt, die israelische Soldaten über Beirut zünden, während das Massaker verübt wird. Dieses Motiv findet sich beispielsweise auch in einem zeitgenössischen Gedicht von Dalia Ravikovitch.29

Abb. 3a: Waltz with Bashir ruft ein Bild aus dem Warschauer Ghetto auf …

In der dramaturgischen Konstruktion von Waltz with Bashir sind diese Bilder wie in einem Gedächtnis angeordnet. Sie tauchen plötzlich auf, zerfallen in einzelne Szenen und werden von Wünschen und Projektionen überlagert, die Folge von Verletzung oder Verdrängung sind. Als Film funktioniert Waltz with Bashir aber weniger wie ein Gedächtnis, als wie ein filmisches Archiv.30 Aller29 Darin heißt es: „Ein zarter Schweif des Neumonds hing / über den Lagern. / Unsere Soldaten erleuchteten den Platz mit Leuchtraketen / taghell.“ Zit. n. Young 1997, S. 231. 30 Unter Verweis auf Yerushalmi hat Derrida die Verbindungen zwischen Archiv und Psy-

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Abb. 3b: … und stellt es in den Kontext eines Massakers in palästinensischen Flüchtlingslagern.

dings sind sein Sammlungsgegenstand nicht dokumentarische Fragmente der Wirklichkeit, sondern ge- und verformte Vergangenheitsreste, die ähnlich den Tagesresten im Traum zwar Spuren zum historischen Geschehen enthalten, gleichzeitig aber auf Verfahren der Transformation, Verschiebung und Verformung hinweisen. Das Besondere an Waltz with Bashir ist, dass der Film nicht nur Bilder sammelt, sondern auch die Techniken der Materialanordnung und Interpretation kommuniziert. Die Überlagerung des Geschehens in den Flüchtlingslagern mit der Ikonographie des Holocaust wird durch das animierte Interview mit einem Journalisten im Film offengelegt.31 Der Vorgang der Überlagerung wird also bewusst. Dies gilt auch für die „Gewissenskrise“ der Soldaten. Die Szene mit den „Bazooka-Kids“ wird gefolgt vom Eintauchen in das Meer, das im Film metaphorisch für Vergessen und Verdrängen steht, die Leuchtraketen werden gerahmt durch den von einem Psychologen im Film hergestellten Bezug zur Holocausterfahrung der Elterngeneration.32 Waltz with Bashir reflektiert damit filmisch eine zentrale Beobachtung von Young: choanalyse untersucht. Auch in Waltz with Bashir wird der Archivcharakter vor allem in der psychoanalytischen Suchbewegung des Films deutlich, der auch Träume und Phantasien in seine Sammlung mit aufnimmt. Hier zeigt sich auch die von Derrida beschriebene „unaufhörliche Spannung zwischen dem Archiv und der Archäologie“ (Derrida 1997, S. 163). Aber auch die unaufhörliche und unendliche Suche nach einem sich entziehenden Ursprung, die Derrida beschreibt, charakterisiert den Film (vgl. ebd., S. 161). Vgl. zum Verhältnis zwischen Kino, Psychoanalyse und Zionismus am Beispiel von Waltz with Bashir auch Baer 2014. 31 Vgl. Ebbrecht 2011, S. 325. 32 In ihrer Auseinandersetzung mit Tätertraumatisierung im israelischen Gegenwartsdokumentarfilm geht Raya Morag am Beispiel von Waltz with Bashir dezidiert auf diese Überlagerungen und ihre ästhetischen und ethischen Konsequenzen ein. Da das Täter-Trauma durch das frühere Holocaust-Trauma der Eltern überlagert wird, entstehen unklare und verschwimmende Zuordnungen: „For the son of Holocaust survivors – raised under conditions of enforced symbolic captivity – becoming an (indirect) perpetrator in Lebanon caused the horrific figure of the Nazi, the direct perpetrator, to haunt his (post)memory.“ Vgl. Morag 2012, S. 100.

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„An einem gewissen Punkt hat möglicherweise gerade diese nie dagewesene Vorstellung, gegen Kinder (die Bazooka-Kids) kämpfen zu müssen und zugleich zu erleben, wie in Sabra und Shatilla [sic!] Massaker an Kindern verübt wurden, Israels Entschlossenheit in diesem Krieg gebrochen und so viele Soldaten veranlaßt, gegen diesen Krieg zu sein. Denn wir sehen hier abermals, daß die Erinnerung an die im Holocaust ermordeten jüdischen Kinder die Israelis zwar einerseits zum Kämpfen zwang, sie aber andererseits als Soldaten durch ihr Mitleid mit dem Leid von Kindern gelähmt wurden.“33

Was sich damals in den bis heute beispiellosen israelischen Massenprotesten gegen die Morde von Sabra und Shatila sowie in den von Young untersuchten Antikriegsgedichten ausdrückte, ist nun Gegenstand einer filmischen Spurensuche, um die herum sich das visuelle Archiv eines zentralen Ereignisses der israelischen Geschichte konstituiert. Dieses Archiv ermöglicht es, die disparaten und in verschiedenen Medien aufbewahrten Erinnerungen an den Libanonkrieg zusammenzuführen und in einer Weise anzuordnen, die Überlagerungen und Verschiebungen sichtbar macht: „So wird die Vergangenheit ebenso in den Bildern der Gegenwart erinnert, wie die Ereignisse aus der Perspektive vergangener Ereignisse neu gestaltet werden. In dieser Wechselbeziehung von Vergangenheit und Gegenwart werden die Erinnerungen jeder Generation vererbt und überliefert in einem; und so entsteht eine Kette von Analogien, durch die die Ereignisse miteinander verknüpft werden.“34

Waltz with Bashir macht als filmisches Archiv solche Wechselbeziehungen sichtbar. Dies gelingt ihm vor allem, weil er ein virtuelles Archiv konstruiert, in dem disparate Materialien nebeneinander liegen und miteinander in Beziehung treten können.35 33 Young 1997, S. 225. 34 Ebd., S. 232. 35 Paradoxerweise wird diese Ordnung gerade in dem Moment in Frage gestellt, an dem der Film tatsächlich zum filmischen Archiv wird und Realfilmmaterial in die filmarchivarische Struktur aufgenommen wird. In den letzten Einstellungen verändern die Bilder ihren Status. Der Film blendet von animierten Bildern palästinensischer Flüchtlinge auf dokumentarisches Archivmaterial, das von einem Schweizer Filmteam nach dem Massaker in den Flüchtlingslagern aufgenommen worden war. Anders aber als die animierten Archiv- und Erinnerungsbildern fehlt in diesen letzten, schockhaft als Einbruch des Realen inszenierten, Szenen des Films die befragende Rahmung des Materials. Die dokumentarischen Archivbilder sollen hier für sich selbst stehen und versprechen unmittelbaren Zugang zum dargestellten Leid. Dadurch stellen sie gleichzeitig den Wahrheitsanspruch der animierten Sequenzen in Frage und unterlaufen damit teilweise die Konzeption des gesamten Films, obwohl sie selbst einer Ikonizität des Leidens entsprechen, die längst durch ähnliche Nachrichtenbilder aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen metonymisch geworden ist. Vgl. Morag 2012, S. 103. Morag diskutiert auch die epistemologischen Folgen dieser Folge von gezeichneten und indexikalischen Bildern, wodurch das Archiv mit einem Wahrheitsanspruch ausgestattet werde. Vgl. ebd., S. 102. Über die Problematik der Archivbilder im Kontrast zu den animierten Sequenzen vgl. auch Ebbrecht 2011, S. 326.

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So werden gerade durch die Transformation von visuellen Vorlagen unterschiedlicher Quellen in animierte Sequenzen neue Beziehungen und produktive Kollisionen ermöglicht. Durch die Verwendung von Originalstimmen in den Interviewsequenzen entsteht eine spezifische Bild-Ton-Beziehung, die aus den verbalisierten Erinnerungen Bilder entstehen lässt, die ihrerseits Bezüge zu unterschiedlichen Formen medialer Überlieferungen herstellen. Dazu zählt auch die Detailfülle der gezeichneten Kriegssituationen, die einerseits auf der Erinnerung des Filmemachers, andererseits auf Nachrichtenbildern des 2006, während der Herstellung des Films, geführten zweiten Libanonkrieg basieren, der sich auf diese Weise in das filmische Archiv des früheren Krieges einschreibt.36

Aktualisierung des Erbes In den filmischen Archiven und ihren Suchbewegungen überlagern sich also Vergangenheit und Gegenwart in vielfältiger Weise. Das Archiv ermöglicht so Neubetrachtungen nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart, in der sich die Filmemacher mit den Resten und Spuren der (filmischen) Vergangenheit auseinandersetzen und diese befragen. In dieser Hinsicht suchen sie ähnlich dem Historiker das Archiv auf, um damit die Vergangenheit nicht nur zu erklären, sondern die Gleichmäßigkeit des Geschichtsverlaufes auch zu stören. In seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition des Erinnerns hat Yerushalmi diese Störung anschaulich beschrieben: „Der Historiker ist nicht einfach dazu da, Gedächtnislücken zu füllen; immer wieder stellt er auch intakt gebliebene Gedächtnisinhalte in Frage. Außerdem geht es ihm letzten Endes wie jedem Historiker darum, die Vergangenheit – in diesem Fall die jüdische – vollständig zu rekonstruieren, selbst wenn ihn unmittelbar nur ein Ausschnitt beschäftigt. Kein Dokument, kein Gebrauchsgegenstand ist ihm zu gering, alles interessiert ihn. Wir begreifen zwar, was ihn motiviert, kommen aber um die Einsicht nicht herum, daß dies alles dem Kollektivgedächtnis völlig zuwiderläuft, welches […] äußerst selektiv vorgeht. Manche Erinnerungen bleiben lebendig, andere werden ausgesondert, verdrängt oder einfach vergessen – ein natürlicher Ausleseprozeß, den der Historiker ungebeten stört und umlenkt.“37

Die israelischen Filmemacher und ihre filmischen Archive praktizieren also eine kinematographische Historiographie, die einerseits auf die medialen Träger von Geschichte, nämlich historische Filme, und andererseits auf spezifische Techniken filmischer Geschichtsschreibung aufbauen. Bereits Sigfried Kracauer hat in

36 Vgl. Bleuler 2013, S. 61. 37 Yerushalmi 2003, S. 373.

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Geschichte – Vor den letzten Dingen auf diese eigentümliche Nähe von Film und Geschichtsschreibung hingewiesen.38 Wie Yerushalmi hebt auch er die Bedeutung des kleinen Einzelmoments für die Erfassung der großen Zusammenhänge hervor. Wie die filmische „Großaufnahme“, so mache auch der historiographische Blick auf das Detail, seine Isolierung und Vergrößerung die Mikrogeschichte hinter der Totalen der Makrogeschichte sichtbar.39 Wie die filmische Aufnahme versuche auch die Geschichtsschreibung „unter die Oberfläche [zu] gelangen und die weniger aufdringlichen, weniger sichtbaren“ Vorgänge zu durchdringen.40 Kracauer beschreibt damit implizit auch die Techniken und Verfahren filmischer Archive. Auch ihnen geht es um Isolierung und Vergrößerung. Insofern wenden die Filmemacher archivarische und historiographische Techniken an, um mit und an den filmischen Archivfunden bestimmte Momente und Beziehungen zu demonstrieren. Auf diese Weise dringen sie „unter die Oberfläche“ der gefundenen Filme. Sie legen wie bei A Film Unfinished deren Verfahren offen oder machen wie bei Waltz with Bashir die filmischen Erinnerungen lesbar.

Literatur Rolf Aurich, „Das Reichsfilmarchiv. Ein Archiv mit Nachgeschichte“, in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.), Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm, Berlin 2009, S. 310 – 317. Nicholas Baer, „‚Can’t Films Be Therapeutic?‘ Cinema, Psychoanalysis, and Zionism in Ari Folman’s Waltz with Bashir“, in: Eleftheria Arapoglou, Mónika Fodor u. Jopi Nyman (Hg.), Mobile Narratives. Travel, Migration, and Transculturation, New York/London 2014, S. 97 – 110. Kobi Ben-Simhon, „Speak, Memory“, in: Haaretz Magazine, 6. Februar 2009. Sascha Lara Bleuler, „‚Frag mich nichts über den Krieg!‘ – Ein manipulatives Gespräch mit Ari Folman“, in: Arbeitsgemeinschaft Cinema (Hg.), Cinema 58: Manipulation, Marburg 2013, S. 53 – 64. Jeannette Catsoulis, „An Israeli Finds New Meanings in a Nazi Film“, in: New York Times, 17. 8. 2010. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997. Knut Ebeling, „Die Asche des Archivs“, in: Georges Didi-Huberman u. Knut Ebeling, Das Archiv brennt, Berlin 2007, S. 33 – 183.

38 Vgl. u. a. Ebbrecht 2011, S. 48 ff. 39 Vgl. Kracauer 2009, S. 118. Zu Kracauers Überlegungen im Kontext des Sammelkompetenz des Dokumentarfilms und der Beziehung zwischen Mikro- und Makrogeschichte vgl. Rothöhler 2011, S. 87 ff. 40 Kracauer 2009, S. 125.

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Tobias Ebbrecht, „Ansichten des israelischen Kinos. Israelische Filme auf der Berlinale und der Dokumentarfilm ‚A History of Israeli Cinema‘ (2008)“, in: Medaon, 2009, H. 4, S. 1 – 5, verfügbar unter: http://www.medaon.de/pdf/R_Ebbrecht-4-2009.pdf [03. 04. 2014]. Tobias Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. Tobias Ebbrecht, „Standhalten im Bilde? Die Kunst der Kunstlosigkeit und der filmische Umgang mit den Bildern des Grauens“, in: sans phrase, 2013, H. 2, S. 50 – 64. Yael Hersonski, „A Film Unfinshed. Director’s Statement“, in: Bermuda Documentary Filmfestival, verfügbar unter: http://bermudadocs.wordpress.com/2010/10/18/a-filmunfinished-directors-statement-by-yael-hersonski/ [03. 04. 2014]. Jan-Christopher Horak, „Awodah. Helmar Lerskis erste Filmregie“, in: Filmexil, 1998, Nr. 11, S. 9 – 17. Jan-Christopher Horak, „Helmar Lerski in Israel“, in: Miri Talmon u. Yaron Peleg (Hg.), Israeli Cinema. Identities in Motion, Austin 2011, S. 16 – 29. Anja Horstmann, „Film als Archivmedium und Medium des Archivs“, in: Anja Horstmann u. Vanina Kopp (Hg.), Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt/M./New York 2010, S. 190 – 205. Dalia Karpel, „Silence, interrupted“, in: Haarez, 28. 1. 2011. Samuel D. Kassow, Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive, Bloomington/Indianapolis 2007. Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, in: Werke, Band 4, hg. v. Ingrid Belke, Frankfurt/M. 2009. David N. Myers, „Selbstreflexion im modernen Erinnerungsdiskurs“, in: Michael Brenner u. David N. Myers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute: Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 55 – 74. Raya Morag, „Perpetrator Trauma and Current Israeli Documentary Cinema“, in: Camera Obscura 80, 27/2, 2012, S. 93 – 133. Simon Rothöhler, Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Zürich 2011. Dirk Rupnow, „Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik“, in: zeitgeschichteonline, Oktober 2010, verfügbar unter: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=A FilmUnfinished [03. 04. 2014]. Michael Wildt, „Worte, Blicke, Bilder. Verschiedene Wege, die Geschichte des Holocaust zu erzählen“, in: Claudia Bruns, Asal Dardan u. Anette Dietrich (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin 2012, S. 300 – 308. Yosef Hayim Yerushalmi, „Zachor: Erinnere Dich!“, in: Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni u. Nils Römer (Hg.), Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, S. 373 – 379. James E. Young, Beschreiben des Holocaust, Frankfurt/M. 1997.

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Tobias Ebbrecht-Hartmann

Abbildungen Abb. 1: DVD-Screenshots aus Une histoire du cinéma israélien / Israels Kino erzählt, Regie: Raphaël Nadjari, arte Éditions, 2009. Abb. 2: DVD-Screenshots aus Geheimsache Ghettofilm, Regie: Yael Hersonski, absolut Medien, 2011. Abb. 3: DVD-Screenshots aus Waltz with Bashir, Regie: Ari Folman, Pandora, 2009.

Anja Dreschke und Martin Zillinger

Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften. Mit Bildstrecke

Unter den vielen Ausprägungen religiöser Praxis in Marokko finden sich insbesondere drei Bruderschaften, die dem Sufismus zugerechnet und zur Heilung von Besessenheitszuständen nachgefragt werden: die ‘Isa¯wa, die Hamadsˇa und ˙ die Gna¯wa. Das Spektrum ihrer rituellen Tätigkeiten ist weit aufgefächert und reicht von musikalisch untermalten Preisungen des Propheten und der Heiligen, über die gemeinsame Intonation des Namen Gottes (dikr) bis hin zu ekstatischer Trance mit zum Teil blutigen Selbstverletzungen und fakiristischen Darbietungen. Im Kontext des postkolonialen Nationalstaates lange als vormodern und rückwärtsgewandt verurteilt, symbolisieren die Bruderschaften heute ‚authentische‘ marokkanische Tradition und sind unter den vielen Migrantinnen und Migranten populär, um im Urlaub ihre Familienfeste und Passage-Riten zu gestalten oder aus der Entfernung von den Bruderschaften durchführen zu lassen. Besonders engagierte Vorsteher dieser Gruppen nutzen außerdem die internationalen Bühnen der ‚Weltmusik‘, um ihr künstlerisches und rituelles Prestige zu steigern. Gefördert von einer marokkanischen Identitätspolitik, die diese Gruppen als „marokkanischen Islam“1 propagiert, um dem wachsenden Einfluss islami(sti)scher Reformbewegungen etwas entgegenzusetzen, prägen die Bruderschaften das Straßenbild bei staatlichen und touristischen Feierlichkeiten und sind auch im Fernsehen fast allgegenwärtig. Die gegenwärtige Dokumentation ihrer Praktiken als ‚lokales Brauchtum‘ und ‚authentische Tradition‘ durch staatliche, marokkanische Medien schreibt eine Faszination kolonialer Eliten fort, die früh begannen, die ekstatischen Praktiken der Bruderschaften als ‚Folklore‘ zu kategorisieren, auf Jahrmarkt ähnlichen Veranstaltungen zu präsentieren und die rätselhaften Phänomene der Trance als geschickte Trickserei und Körpertechnik verfügbar zu machen. Schon damals nutzten die Bruderschaften den Zugang zu neuen Öffentlichkeiten für ihre eigenen Zwecke und fanden auf Weltausstellungen und Folklore-Tours Anhänger 1 Vgl. Eickelman 1976.

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und Bewunderer in Europa.2 Wie uns ein lokaler Chronist erklärte: „Wir haben keine Archive. Die Leute, die fotografieren konnten damals, die haben das gehasst, die dachten, dass [die Trancerituale Ausdruck religiöser] Unwissenheit sind, sie fanden [die Bruderschaften] seien alle verru¨ ckt [und meinten, ihre Anhänger wären] keine Muslime. Hätten die Europäer diese Traditionen nicht dokumentiert, wir hätten nichts in unseren Archiven.“3 Doch genausowenig wie in der Vergangenheit die kolonialen Archive mit ihren Fotografien und Beschreibungen den Akteuren selbst zugänglich waren, sind die Archive des marokkanischen Fernsehens heute den Adepten der Bruderschaften offen. Der Nachweis ihrer Praktiken in zentralen Archiven, ihre autoritative Ein-Ordnung durch den Akt der „Konsignation“, ihre Bewertung und mögliche (De-) Legitimation blieb und bleibt einer zentralen, „archontischen Macht“ unterworfen, so scheint es.4 Umso bemerkenswerter ist die Praxis von Bruderschaften seit den frühen 1980er Jahren eigene Medien-Archive ihrer Trance-Rituale anzulegen und zu pflegen – zur rituellen Kooperation durch Raum und Zeit, zur Demonstration ritueller Genealogien, für das eigene Prestige, als Erinnerungsmedien und nicht zuletzt, zur Kontrolle und Weiterentwicklung der rituellen Praktiken, die aus dieser Sammlung heraus unterschiedlichen Bedürfnissen und Anfragen angepasst werden können. Sie dienen gegenüber rituellen Klienten zur Demonstration der eigenen Fertigkeiten, gegenüber Ethnologen zur Aufwertung als Gesprächspartner, gegenüber entrepreneurs der staatlichen Folklore zur Etablierung der eigenen Position als broker für rituelle Dienstleistungen. „Rechen (schafts)zentren“ hat Richard Rottenburg solche Archive genannt, in denen Informationen gesammelt und weiter prozessiert wurden.5 Anders als die kolonialen und postkolonialen Archive, entziehen die Archive der Bruderschaften die Dokumente nicht der Zirkulation – vielmehr schicken sie ihre Archive und Archivdokumente in den eng gewebten rituellen Netzwerken auf Wanderschaft in den transnationalen Raum der Migration. Die Mitglieder dieser Sufi-Bruderschaften schreiben ihre eigene Mediengeschichte der Trance,6 die wir im Rahmen einer Langzeitfeldforschung seit 2003 verfolgen konnten und in Videoinstallationen aufbereitet haben.7 Während zu 2 3 4 5 6 7

Vgl. Jones 2010. ‘Abdeltif Boutaieb 2011 mündliche Mitteilung. Vgl. Derrida 1997, S. 12 f. Rottenburg 2002, S. 121. Vgl. Zillinger 2013, vgl. Behrend/Dreschke/Zillinger 2015. Vgl. Dreschke/Zillinger 2010 – 11, 2012. Martin Zillinger hat bis 2006 insgesamt 17 Monate stationäre Feldforschung in Marokko durchgeführt und zwischen 2008 und 2011 in Brüssel zu den transnationalen Netzwerken der Bruderschaften geforscht. Gemeinsame Forschungsaufenthalte und Dreharbeiten mit Anja Dreschke in Marokko, Brüssel und Paris 2008, 2011 und 2012.

Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften

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Beginn der stationären Feldforschung in den rituellen Zentren der Bruderschaften lediglich Audiokassetten mit Musik und Gesang dieser Gruppen erworben werden konnten, waren 2005 die Geschäfte und Stände zum jährlichen Heiligenfest (mu¯ssim) gespickt mit Visual CDs und DVDs, auf denen öffentliche Vorführungen und privat durchgeführte Heilungsrituale für den heimischen Konsum angeboten wurden. Wenig später begannen die Bruderschaften eigene Websites auf „my space“ und anderen Internet-Plattformen einzurichten und für ihre rituellen Dienstleistungen zu werben. Bereits 2008 waren Fotohandys in den Ritualen allgegenwärtig und anstelle der professionellen Kameraleute, die in Zusammenarbeit mit lokalen Foto- und Filmgeschäften ihre Dienste für Familienfeste und Hochzeiten anboten und um Trance-Rituale erweitert hatten, begannen die Vorsteher der Bruderschaften ihre Rituale mit eigenen digitalen Videokameras zu filmen und die Aufnahmen bereits während des Rituals zu zirkulieren und zu kommentieren. Während unseres letzten Besuchs 2011 schalteten sich Migranten nicht mehr nur während der Rituale per Handy zu und ließen sich rituelle Gesänge und Segenswünsche fernmündlich übermitteln, sondern nutzten Liveschaltungen per Skype, um rituell über weite Entfernungen zu kooperieren. Die Reichweite ihrer rituellen Praktiken, die sozio-technische Gestaltung neuer Öffentlichkeiten, und die Kontrolle über die Bilder ritueller Trance rufen immer wieder neue Kontroversen hervor und werden über beständige Übersetzungsleistungen ausgehandelt und gestaltet. Das Repertoire ritueller Praxis wird dabei in vielfältigen Archiv-Aktivitäten, die sich zudem fortwährend verändern, gespeichert und verfügbar gemacht, aber auch umgestaltet.8 So nutzen die Adepten verstärkt Facebook, um ihre (audio) visuellen Archive zu verwalten und auf ihrem Weg in die Fremde aufzubereiten. Die Zusammenstellung der Fotos und Filme im digitalen Archiv ist vieldeutig; die Grenzen des Archivierbaren bleiben unterbestimmt, damit die Bestandteile in der Zukunft unterschiedlichen Zwecke angepasst werden können. Die TranceMedien-Archive der Bruderschaften speichern Vergangenes und gestalten eine unbekannte Zukunft, solange personale und technische Medien in immer neuen Akteur-Netzwerken immer neue Verknüpfungen bilden – wie andere Archivereignisse auch. Nicht alle Dokumente der Trance-Archive verbleiben jedoch in den rituellen Netzwerken der Trance-Adepten. Immer wieder finden entsprechende Filme auch ihren Weg ins Internet und werden dort eingesetzt, um Trancepraktiken zu skandalisieren. Auf diesen Seiten werden die Trancekulte als „vormodern“, „ekelerregend“ und „archaisch“ diffamiert, schlimmstenfalls müssen die Teil8 Vgl. Taylor 2003.

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nehmer der gefilmten Rituale mit öffentlicher Ächtung rechnen oder sogar um ihr Leben fürchten. So wurde am 19. 11. 2007 in der Kleinstadt Ksar al Kbir zwischen Tanger und Rabat ein Ritual durchgeführt, das alle Merkmale einer Trancenacht trägt, in der Besessene Dämonen Opfer darbringen. Auch dieses Ritual wurde mit einer digitalen Kamera gefilmt. Doch diesmal wurde der Film nicht in privaten Archiven aufbewahrt oder Klienten des Trancemediums in der Diaspora geschickt, sondern innerhalb von vier Tagen im Internet auf YouTube eingestellt. Die rituelle Konversion der Geschlechter – Männer treten in Frauenkleidern auf – ist ein „öffentliches Geheimnis“ in Marokko, und es scheint, als sei der Gastgeber in der Stadt für seine orgiastischen Gna¯wa-Rituale bekannt gewesen. Durch die Präsentation der Bilder im Internet wird die rituelle Transgression als „homosexuelle Hochzeit“ erst Gegenstand eines Gerüchts, dann ein öffentliches Faktum und Gegenstand einer „islamistischen“ Kampagne für „die Heiligkeit islamischer Werte“ der lokalen, islamistischen Opposition. Am Tag nach der Veröffentlichung des Films tobte ein Mob auf den Straßen und attackierte unter Skandieren des Glaubensbekenntnisses das Haus eines der Ritualteilnehmer, der namentlich in den Videos benannt wurde. In einer Beschreibung der ebenfalls gefilmten Ausschreitungen, die als „marokkanische Revolution“ übertitelt wurden, wird eine unverhohlene Drohung an die „Schwulen“ in der Regierung in Rabat und im Königshaus gerichtet und die Infiltration „europäischer Perversitäten“ angeprangert. Neue Formen von (ritueller) Öffentlichkeit schaffen neue (rituelle) Interaktionsformen, exponieren das rituelle Geschehen gegenüber raum-zeitlich vom Ritual getrennten Akteuren und entziehen die zirkulierenden Bilder der rituellen Kontrolle. Weltweit lassen sich Interaktionsräume der Trance gliedern in Praktiken im öffentlichen Raum (der Straße und der Massenmedien), intime Praktiken für eine intern organisierte Öffentlichkeit und versteckte (und verbotene) Praktiken. Zwischen den öffentlichen und den intimen Praktiken findet eine ständig ausgehandelte Übersetzungsleistung statt, während ein abrupter Übergang zwischen versteckten und öffentlichen Praktiken oft zur Skandalisierung der betreffenden Praktiken führt. Die mediale Extension von Speicherungspraktiken schafft neue Archivereignisse, in denen das rituelle Repertoire der Trancebruderschaften re-kontextualisiert wird. Dabei kommt es zu schwer kontrollierbaren Bedeutungszuschreibungen und anderen Archiv-Effekten, die sich den Akteuren entziehen. Die ethnographischen Archive unserer eigenen Forschung sind davon nicht ausgenommen.

Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften

Abbildungen

Abb. 1: Der königliche Löwe wird mit dem Thron Salomos assoziiert, dem Gebieter der Geister und Dämonen. Die ‘Isa¯wa sind berühmt für Ihre Löwen-Trance.

Abb. 2: Fotografie eines öffentlichen Trancerituals der Hamadsˇa, späte 1960er Jahre. ˙

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Abb. 3: Videostill: Koloniale Fotografie aus der Zeit des französischen Protektorats.

Abb. 4: Videostill: „Das Archiv der ‘Isa¯wa“ (Muqaddim Muhammad Tauil 2011).

Trance-Medien-Archive marokkanischer Bruderschaften

Abb. 5: VHS-Videostill aus einem Trance-Medien-Archiv, 1992. Unempfindlich gegenüber den Stacheln der Kaktuspflanze (opuntia ficus india) leitet ein Ritualvorsteher die „Trance der Kamele“ an.

Abb. 6: Videostill: Lokaler Chronist filmt einen dhikr, 2011.

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Abb. 7: Videostill: Videokamera eines Heilers, 2011. Die Trance-Aufnahmen werden bereits während des Rituals herumgezeigt und kommentiert.

Abb. 8: Ein ritueller Klagerufer singt fu¨ r einen Klienten in Paris Liedgedichte in ein Handy. 2008.

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Abb. 9: Videostill: Besucherinnen eines Rituals filmen mit mobilen Endgeräten, 2011.

Abb. 10: Visitenkarte eines Heilers, 2006.

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Abb. 11: Facebook-Seite eines Heilers, Meknes-Paris 2014.

Abb. 12: Videostill von Ausschreitungen in Ksar al Kbir 2007 nach Veröffentlichung eines Videos auf Youtube: Das Haus eines Ritualteilnehmers wird attackiert.

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Literatur Heike Behrend, Anja Dreschke u. Martin Zillinger (Hg.), Trance Mediums and New Media. Spirit Possession in the Age of Technical Reproduction, New York 2015. Vincent Crapanzano, Die Hamadsˇa. Eine ethnopsychiatrische Untersuchung in Marokko, ˙ Stuttgart 1981 [1973]. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997 [1995]. Dale F. Eickelman, Moroccan Islam. Tradition and Society in a Pilgrimage Center, Austin 1976. Andre Goldenberg, Bestiaire de la culture populaire musulmane et juive au Maroc, Aix-enProcence 2000. Graham Jones, „Modern Magic and the War on Miracles in French Colonial Culture“, in: Comparative Studies in Society and History 52/1, 2010, S. 66 – 99. Fritz Kramer, „Praktiken der Imagination“, in: Ders., Schriften zur Ethnologie, Frankfurt/ M. 2005, S. 273 – 289. Richard Rottenburg, Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe, Stuttgart 2002. Diana Taylor, The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham 2003. Martin Zillinger, Die Trance, das Blut, die Kamera. Trance-Medien und Neue Medien im marokkanischen Sufismus, Bielefeld 2013.

Videoinstallationen Anja Dreschke u. Martin Zillinger, Passionate Choreographies Mediatized. Trance Choreographies of the ’Isa¯wa in Morocco 1992 – 2008, Filminstallation (2010) in der Ausstellung „Animism“, Antwerpen, Bern, Wien 2010 – 2011. Anja Dreschke u. Martin Zillinger, Trance/Media. The ’Isa¯wa in Morocco 1992 – 2012, Filminstallation (2012) in der Ausstellung „Animism“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin (erweiterte Version von 2010).

Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3 – 11: Abb. 12:

Goldenberg 2000, S. 79. Crapanzano 1981, S. 144. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. © Anja Dreschke und Martin Zillinger. Youtube.

Carolyn Hamilton

Archives, Ancestors and the Contingencies of Time1

The Limits of the Inherited Archive Contemporary South Africa has a vast formal archival inheritance, comprising the documents and images of the colonial and apartheid eras, generated by officials, missionaries, travelers, public figures, scholars and others. As a demarcated inheritance it is concentrated in archival repositories in South Africa, although significant holdings lie in Britain, Europe and America. Assembled for a variety of purposes, these formal archival holdings offer many different resource constellations relevant to the South African past, shaped by a variety of political, social and intellectual positions. The extent of the diversity makes it meaningless to speak of this totality as though it is singular in its nature and makes its exploration endlessly productive. While much of it is a record of colonial and apartheid domination, against the grain readings have been effective in illuminating aspects of the very lives that these documents were used to control. Lodged in its crevices we also find occasional elements produced with agendas sympathetic to the situations of the subjects of colonial and apartheid rule. The possible meanings of the term “sympathetic” are wide, embracing anything from the tender through humanitarian to the directly challenging of authority and power. Curiosity (see Edwards 1 This essay is drawn from my book-length study (in prep.) that examines critically the rules of practice of the archive, and what the archive includes and excludes. The book extends the historiographical project to the elucidation of traces conserved in a number of other custodial settings with other rules of practice, looking to grasp those rules of practice both on their own terms, and critically. The book further seeks to understand how in the various settings, both the conserved or custodially-addressed elements, and the respective rules of practice, change over time, with the various settings seldom sealed off from one from the other. I use the term “archive” in the singular form to encompass at once both repositories and assemblages (archives) and the epistemological concept, “archive”. Wherever I wish to refer only to the epistemological concept, I also use the singular form and rely on the context to make it clear that this is the usage intended. Where I wish to refer only to repositories and assemblages I use the term “archives”.

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Carolyn Hamilton

2013) too – another word with multiple valences- gave rise to elements of the archive. We also find calculated attempts by the subjects of colonialism and apartheid to enter their experiences and views into the formal archival record. (Hamilton and Leibhammer, in press) In addition, the predominantly documentary formal archival holdings have been actively augmented with shelves of oral recordings, many collections of which seek to capture for posterity the marginalized stories of society’s underclasses. Since 1994 in South Africa, the archives of the exiled liberation movements have been repatriated, while many formerly covert or semi-covert collections of resistance materials are now publicly accessible. South Africa has received praise from around the world for the way in which it has dealt with its oppressive past, notably through the work of the Truth and Reconciliation Commission, which generated its own extraordinary archive. Yet, for all this, the formal archive remains severely constrained. The work of the TRC itself was circumscribed and its archive compromised by excisions in the name of security. The official archival repositories are notoriously inefficient, and have achieved remarkably little in archiving what was excluded from the formal repositories, other than material celebrating the liberation struggle, and more particularly, the role of the ruling party, the African National Congress. (Hamilton, Harris and Hatang 2011; Hamilton 2013). For all the methodological innovation that researchers have brought to the colonial and apartheid-era archives, and for all the policies designed to transform South Africa’s archival inheritance, there remain elements of the past that are systematically excluded from the archive, almost, as it were, by the definition of archive itself. Indeed, much recent scholarship pushes us to pay attention to the way in which entry into recognized archives requires conformity to the particular knowledge conventions that undergird the notion of archive. Here we begin to grapple with the ways in which the formal archives facilitate a certain universe of meaning and foreclose on others, even where sympathy, curiosity and redress are in operation. Let us pause for a minute to establish a sense of what some of these knowledge conventions in relation to archive might be and what the archive includes and excludes. A key notion that sets a limit on applications of the concept of archive is the idea of the archive as a place that captures and immobilizes its contents for posterity, expressed in the ubiquity of the idea of dust as an archival metonym. (Steedman 2001) Another is the idea of the archival object as authentic and contemporary – of/from its time – the real thing with clear authorship and/or provenance. To be archival such an object further needs to be “deemed” worthy of preservation of one or another kind. (Hamilton 2011) Historically, it is documents that have pre-eminently been so deemed, with many other things excluded from the formal archival institutions, and consigned

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to places such as ethnographic museums, which typically privilege an idealised exemplar or specimen, rather than the historically-specific items favoured by archives. While museums, like archives, accord items preservation, even where – as is the case in art museums – they seek out singular pieces, they are explicitly not termed archives. (Hamilton and Leibhammer, in press) Many other forms of keeping knowledge of the past are understood not to meet these particular criteria. Oral accounts, rituals, performances, vast swathes of popular culture and host of repertory works are thus denied archival status. One of the consequences of this, in South Africa at least and surely elsewhere, is that in this way the archive is also a statement of the dominance of formally archived, written, texts over the potential archival potency of artifacts, landscape, orality and performance. Historically, a veritable panoply of devices contained the expression of, and established control over, these alternative forms of knowledge. In all these ways, and in the face of the immensity of possible knowledge, the archive proved, and yet proves, to be a powerful way of dividing regulated, institutionalised knowledge off from uncontrolled knowledge. The argument that I wish to offer in this essay is centered on settings outside of official regulation where knowledge concerning the past is the object of deliberate custodial activity. The essay is especially interested in the capacity of repertory forms2 to contain sedimented elements of the past, often of kind that are excluded from archives, and on the question of whether the difference between archive and repertoire, or at least certain forms of repertoire, is as clean as it seems.In making this point I am mindful of the distinction that Taylor (2003) makes between ‘archive’ and ‘repertoire’, which draws our attention to the important ways in which the past is worked up in ephemeral practices and in embodied knowledges that resist the deadening effects of archival preservation. I make two linked moves in an effort to confront the limits of the inherited archive. In the first move I argue for a position that treats archives as processes rather than things, and I look at how they change over time. In this way, I challenge what I see as the key defining features of archives: as places that immobilize their contents for posterity and as authentic and contemporary – of/ from its time – the real things with established provenance or clear authorship. I suggest that things in archives are dynamic and subject to on-going curation, i. e. that they change over time. Elsewhere I demonstrate this at some length with reference to particular archives. (Hamilton 2010; and in prep) In this essay I therefore handle that part of my argument in a summary fashion. I then proceed in more detail to deal with the second move, where I take a close look at a 2 I use the formulation “repertory forms” to refer to a stock of items ready for performance. The OED notes deployment of the terms repertory/repertoire as index, list, inventory; a body of transmitted knowledge; and as repository, treasury or fund. (www.oed.com)

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particular set of repertory practices, those engaged with matters pertinent to the presence of ancestors. I make the argument that in southern Africa the demands of attending to the well-being of ancestors in the present exert their own particular preservatory, custodial and curatorial pressures. My key move here is to show that the mutability of this set of repertory practices is constrained in very distinct ways. While I am seeking to draw attention to archive-like aspects of these practices, I do so in a way that simultaneously draws on the unsettled notion of archive of the first move. I explore the possibility that these aspects offer opportunities for grasping something of forms of subjectivity that are elusive in the archives proper. (cf. Lalu 2009)

The Public Life of the Archive It is a central contention of much of my recent work that archives have public lives that extend well beyond the time of their establishment. The idea of an archive having a public life is, on the face of it, counter-intuitive. Conventionally, the archives are viewed as cloistered sepulchers where the archival fragment is preserved unchanged as far as is possible, entombed in protective custody. Conventionally, it is the historian’s published account of the past that is understood to have a public face. Viewed in this frame, the archival object remains sequestered in the storage facility, is static and unchanging, except in so far as it is vulnerable to accident or deterioration over time. However, many of the inherited archival collections of the colonial era, for example, were conceived not as the lonely projects of antiquarian preservation, or mechanical processes of bureaucratic documentary control that they seem to be, but in swirling networks of circulation. Numerous collections were made in what was understood to be the public interest, or in more narrow institutional interests, with appointments and resources provided notably by governments, mission headquarters or learned societies, each with their own public agenda. Decisions to collect were sometimes personal projects, but in many instances even those became enmeshed in the public activities of the collectors in their roles as officials, missionaries, scholars and so on. Frequently collections were assembled in the context of eddies of correspondence, and discursive developments across these various collecting axes, and indeed many others. (Hamilton and Wanless 2014) In recent years scholars have begun to focus on how records were laid down and then subjected to archival regimes (notably Stoler 2009). My own work takes this further both in exploring their natal publicness and in arguing that the networks of circulation involved were not confined to the time when the col-

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lection was assembled, but continued through time. There was, rather, an ebb and flow of reinterpretation, reframing and refashioning of collections and linked discourses. The core of my argument is that archives were shaped by public, political and academic discourses and practices (and by more besides), and in turn shaped public, political and academic discourses and practices, and indeed much more beside. This occurred not only at the time of their creation. Rather this mutual reshaping continues over time. Far from being inert and intact relics from another time, “sources” in the archival institutions are travellers across time that have changed shape and accrued new meanings through time. Thus it is that archival objects, perhaps more accurately, archival subjects, chart courses over time, lived in continuous relationships with their ongoing, changing contexts. The archives that we encounter today are contemporary cultural productions, with long histories of their own. To make this point is not to argue that they are denuded of evidentiary power. It is to insist that such power be explored in ways fully cognizant of their conditions of production and reproduction over time. (Hamilton in prep.)

Ancestral Repertoires Certain repertory texts, in turn, are much less protean than they conventionally seem. In the case of those connected to ancestor practices this is because there are significant pressures tied to the assuagement of ancestors, notably in the way that ancestors’ welfare affects the well-being of their descendants in the present. I am using the term “ancestor practices” here in a provisional way to cover a range of activities that draw on the past and which center on the idea that ancestors intervene in the present with reference to the past. The pressures to which I refer are well-established in the literature on so-called ancestor religion and spirit possession. (Hammond-Tooke 1985) Human remains and body parts have featured significantly in debates and disputes over how aspects of South Africa’s traumatic history should be remembered, and how these pasts are expressed in the institutions and spaces of public culture. Human remains from museum collections, from graves in political exile, and from apartheid-era covert body disposal sites are constantly being rediscovered, restituted and repatriated. And as much as reburial takes place, so too does exhumation, sometimes in the course of forensically-driven social justice work, other times as a result of development, or archaeological excavation. Corpses are disputed over in rival burial claims and ancestral remains are mobilized in support of contemporary claims while body parts are sold in underground transactions as potent substances. Ancestors and bones play

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dynamic and multi-faceted roles in contemporary health practices and in divination. It is a characteristic of much South African historiography that anything to do with ancestors tends to be categorized as “belief” and is understood to be the subject of theological or anthropological investigation. While in neighbouring Zimbabwe and Mozambique, the role of spirits in recent historical and contemporary struggles has been substantially researched (Lan 1985; Spierenburg 2005; Igreja 2012), for the most part, South African historians have been inattentive to ancestor matters. They have, however, been interested in “genealogies”. When historians try to find out about the past using oral materials, they – and indeed, I too, in my earlier work- typically search oral texts for political or social materials. In this way they become alert to the socio-political interests that shape genealogies and other bodies of oral materials. This leads historians then to focus on the malleability of oral texts, and on how they are manipulated in relation to political pressures and personal biases. (Hamilton 2002) Genealogical manipulation is thus a much-discussed topic in the literature. However, even in situations where enormous political pressure is brought to bear, for example, on subordinated people in the suppression of their prior identities and to accept the conditions of integration into a new political regime, the need for descendants to remain in good standing with their ancestors ensures that matters that might otherwise be suppressed under a new political dispensation continue to be the object of care and attention. The case of the smothered historical identity of the Nwandwe people, recently studied by Buthelezi offers a case in point. Ndwandwe was a powerful precursor kingdom to the much-better known Zulu kingdom under Shaka that was responsible for Ndwandwe dismemberment in the 1820s. In the face of “forced forgetting alongside the natural atrophy of recalls of the past” (Buthelezi 2015), scholars have noted that sustained narrations of the Ndwandwe past had ceased by the early twentieth century. (Wright 2008, 217) Yet, materials relevant to the Ndwandwe past did survive, as Buthelezi shows, in oral forms of ancestor invocation, that continued over time to be performed in domestic family, or wider lineage, rituals. These provide key materials for a contemporary Ndwandwe kin group association to contest ongoing Zulu hegemony by recalling their preShakan independence and claims to territory. The association draws sequestered materials concerning the Ndwandwe past out into the public domain and into circulation for the first time after a century of seclusion in family rituals. The disconnection of ancestor matters from the political in much of the historiography has meant that historians lose sight of the enormous pressure that an understanding of the world encompassing ongoing ancestral presence exerts on how the past is regarded and reworked in the present. The implications of this are enormous. For instance, the matter of ancestor propitiation offers a crucial

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dimension to understandings of highly-charged land issues in South Africa. The presence of ancestral graves is routinely used in restitution cases as evidence of former rights to land and has become an important factor in settling land claims. Contemporary discourse deals with land and land claims as matters of economic justice and fails to recognize that that what is at stake is not simply rights to property, but the need to deal properly with the ongoing presence of ancestors in the land. When contemporary Thokoza izangoma (ritual healers who are possessed by ancestral spirits, concentrated largely, but not exclusively in Mpumalanga province) negotiate the legacies of the violent Ndwandwe-diaspora conflicts of the early nineteenth-century, they are operating in terms of a body of ideas and thinking about the past associated with unsettled ancestors who demand attention and care. (Keene 2012) Navigating inherited trauma of a terrible time and possessed by the spirits of both perpetrators and victims, they voice the unspeakable events in family histories. The ancestors who possess both the healers and their patients are understood to be present in the land, often as unsettled spirits. When the underpinning ideas expressed in this particular practice are read in conjunction with historical categories of land occupation (Hall 2012; Hamilton and Hall 2012), a picture emerges of weighty understandings of the ways in which incoming conquerors must, perforce, recognize and appease the spirits of those whom they overcome, and must acknowledge their inhabitation of the land, even as the conquerors may subordinate those whom they have defeated. Where this has not happened the ancestors of the original inhabitants will cause disruption. In the Thokoza practice both the disruption and subsequent appeasement then involve embodiment of the other. We see here revealed not only a form of subaltern logic that makes the alienation of land and ideas of private ownership impossible, but also an alternative to the JudaeoChristian model of forgiveness and reconciliation that dominated in the Truth and Reconciliation Commission. The element of “voice” mobilized by the ancestors in such practices is further cause for pause for historians concerned about questions of agency and subjectivity. Analysing the role and meaning of voice involved in spirit possession, Igreja, Dias-Lambranca and Richters (2008) have shown how Mozambician women who suffered civil war traumas and were subsequently possessed by warrelated male spirits, experienced a form of post-war healing. The healing addressed what were for the women deeply troubling, post-war gender relations. The ancestor’s voice was a form of expression of the subaltern consciousness of the suffering woman, achieved through reference to the past, and refracted through the symbiotic possession relationship. We also see in many ancestral practices the ways in which features in the landscape – not merely graves but also landmarks, rivers, and ancestral geog-

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raphy – are deployed to pin arguments down, to explain circumstances and to validate actions. For the practitioners and patients concerned there are strong eudaimonial3 pressures involved in getting the processes “right”. As Igreja et al note, in such contexts people cannot easily thrive and renew society without their spirits. Furthermore it is often through such rituals that people declare the values they wish to live by. While I am arguing that these are pressures that have marked custodial impulses, I am not suggesting that rituals involving ancestors persist over time without change. Victor Turner (1977) pointed out the extent to which such rituals might constitute a script for appropriate social action, and subsequent studies have done much to alert us to the way in which such activities are not stable formulae for achieving resolutions, but creative processes, forms of worldmaking, often involving new relations. (de Boek and Devisch 1999) Turner was also concerned with the extent to which divinatory rituals were concerned with looking back over a temporal process, with cognition of the past and the achievement of understanding of what it means in the present or may connote for the future, i. e., as having redressive potential. (Turner 1980, 156 – 7; 1987, 95 – 96). While such aspects may offer historians materials that they can use, these would have to be understood to be in ongoing processes of being reworked. Many who engage the ancestral are young urban people, savvy, connected and thoroughly contemporary in their outlook. Facebook pages for a variety of kinship-groupings (see for example, AmaHlubi Amahle, or the Facebook page for Mkhize Youth Rocks, a group “specifically made for the Mkhize youth and the Mkhize’s by heart…by birth…by blood…by marriage…by friendship”) have proliferated, and are the site of animated discussions of the past. More specifically, it is the izithakazelo, address names that invoke the ancestors, which are of consuming interest. Perhaps most the poignant statement about the contemporary value of this kind of historical material comes from the hundreds of responses to an initial posting by “GML” Gugu on the tabloid-website TVSA, under the heading “Who Are You?” “I have always been interested in knowing where I come from. However my dad couldn’t tell as he is not really interested in these kind of things. I asked him about Izithakazelo za kwaMsimang, [the address names and praises of the Msimang family and their ancestors], and he didn’t know them………… So I went on a mission to at least know Izithakazelo zakithi ……..”

3 “Happiness” is the usual translation of the Greek eudaimonia, though what Aristotle means by eudaimonia is something more like “well-being”.

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The list that follows has the names of all of the significant ancestors right up to her father, in some cases with tantalizing historical allusions harnessed to the names. “Brown Suga” responded with two postings: “Thanks GML! *I just phoned my mother tl tl tl tl *”

and there follow Brown Suga’s izithakazelo, just as allusive and elusive, and later on the same day she writes: “I’ve just made this my status on FB [Facebook]…. Nice one….now I’m off to research where these people come from….”

GML Gugu’s invocation of the izithakazelo, was followed by many similar postings of respondents’ address names. A Google search of websites concerned with izithakazelo confirms extensive popular interest in the subject and the immense amount of work they do in standing in as answers to the question “Who am I?” and in constituting personhood, especially where more substantial historical narratives about the past are lost or unavailable.4 There is a great deal in these small windows on the contemporary, happening, electronically-networked cultural life of young South Africans of which this is but a taster. But for the purposes of this essay I want to focus on these manifestations of a consciousness of ancestors, ancient family, or kin-group. The izithakazelo, it seems, are heart-beat texts that invoke the ancestors in the present, and offer occasions for assessment of contemporary well-being. They raise issues about present, and past, ethico-moral situations, constituting affective and subjective moments of self-accounting, self-situating and even self-fashioning. “I made it my status on Facebook”, Brown Suga blogged excitedly. Largely absent in the formal archives except in records about belief and in genealogies recorded to support chiefly appointments, ancestral matters burst into contemporary conversations of recognition across language, race, and age, across the private and the public, part of self-understandings in the making. In paying attention to ancestors we begin to see the past in the present in a way that cannot be encompassed by notions of tradition and ethnic politics. The historiographically important point is that the invocation, and recognition of ancestors in all these ways occurs in a context in which the well-being of the ancestors mattered in the past, and matters in the present and for the future. There are, as a result, high stakes involved in ensuring that activities concerning ancestors are attended to, are done properly. The notion of “properly” involves imperatives around preservation, custodial authority, expertise and regular attention. There are imperatives operating here which are not the same as archive,

4 All the quotes from this section, TVSA, 10 – 11 February 2009 www.tvsa.co.za/izithakazelo.

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but which certainly cover similar ground in their combinations of custodial imperatives and responsiveness to changing contexts. My highlighting of the ancestral as saturated in assiduously curated historical materials obliges us to recognize the existence of custodial activity outside of the designated custodial institutions in spaces that historically have been positioned as sites of belief and culture, and hence as historically unreliable, as mutating and as far from neutral, in many respects, as archive’s other.

Archives, Ancestors, and Post-colonial Counterpoint In order to recognize archives as processes, to get the weighty presences and absences of ancestors into view and to begin to understand the social, political and economic energies invested in both sets of matters, both in the past and in the present, we may be in need of new terms, conceptual tools and modes of critical analysis. Amongst the tools and modes that I am interested are those involved in counterpoint, in ordered polyphony in which themes play of one another with only a provisional privilege being given to any one. Such a notion of counterpoint has been deftly deployed in the work of Edward Said. What I take from Said is the capacity of a contrapuntal method to compensate for gaps in one interpretation or interpretive perspective by placing it in conjunction with another, productively maintaining the tension between the two. I take this to be a politically and ethically responsible way to interpret bodies of inherited historical materials in a multiply-modern, postcolonial world, which necessarily involves questions of power and the relationship of knowledge to power. For Said (1993), it is a method for overcoming canonical habits of mind that inscribe certain texts as central and others as marginal, the kind of habits that also underlie the inscription of the archive as reliable and central, and an oral or ritual repertoire as unreliable and marginal, the former as the stuff of history, the latter as the stuff of culture. While the aim is to avoid both the assimilation and segregation of the voices in counterpoint, to engage in counterpoint, however, without also a notion of entanglement (Hamilton 1998; Nuttall 2009) is to risk entrenching analytical binaries.5 The two modes with which this essay has concerned itself, the archival and the ancestral, are not entirely distinct domains. Historically they were often entangled in processes of collection and archivisation undertaken by travelers, collectors, missionaries and officials keen to acquire material and oral knowledge and active in laying down and preserving documents. In the contemporary world 5 Said is careful always to discuss the extent of what he terms the intertwining and integration involved.

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they are thoroughly enmeshed with each other in the politico-legal domain of chiefship, land and human remains claims. The ordered polyphony that results when attention is paid simultaneously to both archival and ancestral work draws attention to a third position that encompasses both rather than separates them out, offering what Cohen, in a different discussion of third things and curatorial activity, characterizes as “fresh discursive space.” (Cohen 2014) A contrapuntal approach positions us to recognize that just as we have to acknowledge the careful custodial work that ensures archival preservation and the extent to which the archive is also, by nature, both mutable and involved in networks of circulation in public life, so too must we acknowledge the simultaneity of changing forms and careful custodial work that goes on in ancestor practices. The isangoma’s responsibilities are demanding in something of the same way as those of the archivists. The exercise in counterpoint is designed to reveal the defining characteristics of archive as being present in its “other”, in this case, ancestral practices, and vice-versa. To engage in counterpoint is to be licensed to think about the ways in which archivists and researchers, like the izangoma and clan history custodians, experience or take in the past bodily, whether the fumes of vinegar cholera disinfectant in a 250 year old archive (Green 2009), or the way in which the French historian Jules Michelet’s archival inhalations both gave life to the spectral past that he found in the archival manuscripts, and possibly infected him with anthrax meningitis from bacteria present on the leather bindings of the documents. (Steedman 2001, 26 – 8) Indeed, this particular exercise in counterpoint centered on ancestral practices in South Africa brings voices from the global periphery into conjunction-without harmonization, the latter a central aspect of what Said was getting at- with voices in the global center, most obviously Steedman’s invocation of Michelet, but with much larger implications, of course. A contrapuntal approach further allows us to see ritual specialists, oral poets, recorders, and archivists not only as curators, but as themselves also ancestors who are always with us. (Mahashe 2013) We can see then how a contrapuntal approach invites us to think the spectral in the archive together with the ancestor in the landscape and to probe in new ways the metaphors of archival hauntings. The spectres in the archive, just as surely as in the ancestor practices, stir up disorder and demand propitiation. The exercise in counterpoint frees us to reconsider critically the idea of an absolute distinction between formal archives with their elaborate preservatory apparatuses that seemingly remove their holdings from circulation, and materials in motion in social life in which people invest significant preservatory energies. In making this point I am not arguing that, for example, elaborated practices directed at the maintenance of ancestor well-being, constitute “indigenous” archives that are the equivalent of colonial records. I am suggesting that both

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institutionalised archival practices and such ancestor practices are contemporary cultural forms, with long histories of their own, that curate inherited materials in attentive and careful ways that are responsive to changing contexts, and that the ways in which they do this, and the ways each inherits materials from the past, is worthy of attention. Neither brings those materials into the present without change and innocent of the concerns of power both in the past and in the present. Both instantiate the paradox of being simultaneously constant and changing, albeit in different ways. In making this argument I am challenging a naturalized and normalized idea of archival evidence. I am also resisting attempts to found a field of indigenous knowledge as itself naturalized and normalized, on the back of what is viewed as an intensely historical present in which the context of restitution and redress replaces old canonizations with new ones, bringing not only their own particular limitations, but also potentially dangerous ways of justifying things. It is my understanding that responsible intellectuals have to take heed of such processes and respond to them as much as they do to the ways in which colonial and apartheid archives shape knowledge of the past. I have turned to ancestral practices outside of the archive in order to fuel critical discussion of what we mean by archive and to expand the inventory of materials available to those who are interested in exploring the past. I probe their capacities to provide traces of pasts not readily found in archives, traces of past consciousness and possibly the kinds of subjectivities involved, the ideas of personhood, past and present, which they encompass and the visions of eudaimonia they offer. These are important questions, quite distinct, I think, from seemingly similar concerns driving earlier efforts to capture “voices from below”. The exploration of ancestral practices in order to elucidate something of the past, I have suggested, involves something of the same line of approach as exploration of the archives, notably the paying of attention simultaneously, in both settings, to the nature of both the custodial and the curatorial work involved, and the tracing of the full circumstances of the production and reproduction over time of the elements that become historians’ “sources”. But a contrapuntal approach does more than draw attention to the production and reproduction of the two forms. Its ordered polyphony raises questions about contingent time.

The Contingencies of Time The exercise in counterpoint disturbs settled notions of the temporality of archives, notably the firmness with which archives locate their objects in the past at particular points in time, through the use of the principle of provenance. The multiple temporalities involved in ancestor practices is well-recognised (Igreja,

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2010), although the way in which the historicisation of such practices – entailing a recognition of them as not only practices which bring the past into the present and portend the future, but as also having themselves, as practices, travelled in a changing fashion across time with, in consequence, constantly shifting temporal horizons – is not. The point about contingent time applies to both ancestral practices and archives, although this is a point less readily grasped in relation to the archives.6 It involves understanding that the past events that are objects of inquiry or reference, are perceptible in the present only because of a history across time, and particular knowledge production processes, have brought them into view in a particular way. Materials invoked in rituals or the “sources” researchers locate in archival folders, are not survivals of past times in the present, but travellers across time that have changed shape and accrued new meanings through time. The past that is the object of interest is thus not firmly in a place distinct from the present time of enquiry. Rather, both are enfolded into each other and into what lies in between, and, indeed, into the way in which a hoped for future influences how we handle questions of ancestors and archives in the present. To engage the materials of either ancestor practices or archives to think about the past is to explore this enfoldedness. It requires an approach that tacks backwards and forwards across time, paying attention to the double-storiedness of both ancestor practices and archives.7 It is a double-storiedness that involves thinking simultaneously about the story of the making of an ancestor practice or an archive over time, and the making (of the story) of the past to which the practice or the archive refers, also often a matter extended across time and itself involving change. The recognition of the contingencies of time involved is one of the points at which work on archive from the South gains global address, notably in offering a conceptually critical perspective on the established understandings of the temporality of archives. Contending that key forces at work in the South are also at work in the global North but harder to discern, Jean and John Comaroff argue that “because the history of the present reveals itself more starkly in the antipodes, it challenges us to make sense of it, empirically and theoretically, from that distinctive vantage” (2012, 7).

6 That archives involve multiple temporalities is an argument that I make in an extended form elsewhere. (Hamilton and Leibhammer in press; Hamilton in prep.) 7 My thinking on the storied-ness of archive is indebted to a period of sustained critical engagement with my colleague in the Archive and Public Culture Research Initiative, Anette Hoffman, especially her work on the ways in which, in voice recordings, processes of storing and storying converge. See Hoffman 2015.

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Acknowledgements I am grateful to members of the Archive and Public Culture Research Initiative, University of Cape Town, for their incisive comments on an earlier draft of this paper, and especially my colleague, Dr. Anette Hoffman.

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Heike Gfrereis

Aufstand der Sachen. Das Literaturarchiv als Literaturmuseum

Das Alphabet ablaufen, die Registratur mit den Fingern durchgehen, grüne säurefreie Kästen herausnehmen, graue säurefreie Mappen aufklappen, Manuskripte, Briefe oder Anderes aus transparenten säurefreien, mit Bleistift beschrifteten Bauchbinden nehmen und: schauen und lesen, suchen und finden. Manchmal den ganzen Tag, mehrere hundert Blatt, vielleicht auch tausend, viele Kilogramm grüner Kästen, kilometerlang. Insgesamt reichen die Regale des Deutschen Literaturarchivs Marbach bis ins Zentrum von Stuttgart, rund 30 Kilometer entfernt. Gefüllt mit ca. 1.400 Vor- und Nachlässen, 1.400 Leben, 1.400 Werken. Unmengen von Papier. Ungebunden, handschriftlich, gedruckt, als Buch, auch Fotos und Karten, Bilder und Dinge. Alles in der Ordnung des Alphabets und mit den Nachbarschaften des Archivs, die man gern „glücklich“ nennt, weil sie wie das „qwertz“ der Tastatur die gewohnte Logik durchbrechen und nebeneinander stellen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Das Archiv ist wie jeder Katalog und jede Liste produktiv, weil es die Fragen nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der benachbarten Bestände provoziert. Wobei nicht jede Nachbarschaft glücklich ist und fruchtbar. Manches, was nebeneinander steht, hat beim besten Willen nichts miteinander zu tun. Allerhöchstens amüsiert uns dann die Geschichte, die wir erfinden, um doch eine Verbindung herzustellen. Was macht jemand in diesem Literaturarchiv, frage ich mich an diesen Tagen oft, ohne Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Jemand, der als Kind nie „Sachensucher“ war. Er verzweifelt wohl, wenigstens muss ihn die Langeweile quälen. „‚Was wollen wir jetzt machen?‘, fragte Tommy. ‚Was ihr machen wollt, weiß ich nicht‘, sagte Pippi. ‚Ich werde jedenfalls nicht auf der faulen Haut liegen. Ich bin nämlich ein Sachensucher, und da hat man niemals eine freie Stunde.‘ ‚Was hast du gesagt, was du bist?‘, fragte Annika. ‚Ein Sachensucher.‘ ‚Was ist das?‘, fragte Tommy. ‚Jemand, der Sachen findet, wisst ihr. Was soll es anderes sein?‘, sagte Pippi, während sie die Mehlreste zu einem kleinen Haufen zusammenfegte. ‚Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet. Und das gerade, das tun die

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Sachensucher.‘ ‚Was sind das denn für Sachen?‘, fragte Annika. ‚Ach, alles Mögliche‘, sagte Pippi. ‚Goldklumpen und Straußfedern und tote Ratten und Knallbonbons und ganz kleine Schraubenmuttern und all so was.‘“1

Bonbons und Federn findet man manchmal auch zwischen den Manuskripten eines Literaturarchivs (Abb. 1). Ernst Jünger hat sogar eine getrocknete Fledermaus in einer Dose aufgehoben, 1941 im kastilischen León, in der Kathedrale. Nach Goldklumpen sucht man in diesem Archiv immer, wenn auch im übertragenen Sinn: nach Indizien für den Wert der Archivalien. Diese Indizien folgen keiner Gleichung. Es ist nicht hinreichend, wenn sie unveröffentlicht sind und man der Erste seit Jahren ist, der sie liest. Auch Alter und eine lange Herkunft, Spuren der Berührung, des Entwerfens und Verwerfens, ein bekannter Urheber oder ein historisches Datum oder ein unerhörtes, sonst nicht überliefertes Ereignis müssen nicht, aber können Indizien dieses Werts sein (Abb. 2).

Abb. 1: Feder zwischen Papieren. Martin Mosebachs Nebelfürst.

Der Aufstand der Sachen findet statt, ohne dass man ihn berechnen und vorhersagen kann, weil man selbst maßgeblich Anteil daran hat. Das, was man findet, was man sieht und liest, ist auf den glücklichen Augenblick angewiesen, in dem die Sache und der Finder sich gesucht zu haben scheinen. Etwas trifft und packt, gibt Antworten oder stellt Fragen, öffnet einem die Augen: Man sieht etwas das erste Mal oder in anderem Licht. Die Sachen werden porös. Es schaut etwas aus ihnen hervor, blickt uns an. Wie aus den zwei Löchern, die Eduard Mörike um 1850 ins Papier gebrannt hat, um damit eine Verszeile wahrhaftig 1 Lindgren 2007, S. 22 f.

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Abb. 2: Großer Unterschied. Korrektur im ersten Satz von Franz Kafkas Prozess.

werden zu lassen, indem er sie ansengt: „Und schwärmend glüht des Sängers Seele im Gedicht“2 (Abb. 3). Oder aus den Ecken und Kanten einer Schlangenlinie, die Friedrich Schiller am 23. Februar 1793 mit keiner guten Feder auf einen Brief gekratzt hat: „Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch seyn, wenn meine Feder beßer wär.“3 Die Sachen werden mobil. Was ist zum Beispiel ein Brief anderes als ein Spielfeld, auf dem der Schreiber für den Adressaten und oft auch für sich von A nach B läuft. Er geht sogar für einen auf dem Kopf, und wer am Ende ankommt, muss vorne wieder anfangen. Theodor Fontane und Franz Kafka zum Beispiel sind solche Papierdreher, die auch noch außen herumschreiben, meist im Gegenuhrzeigersinn. Da capo. So hat es sich auch Rainer Maria Rilke gedacht, als er in einer Abschrift seines berühmten Gedichts Das Karussell den Refrain nicht ausschreibt, sondern nur mit vier Punkten markiert: „Und dann und wann ein weißer Elefant.“4 Man kann sich bei diesen Punkten auf dem Papier nicht einfach denken, was man will. Man sieht und fällt mit ein, wird poetisch eingetaktet mit diesen vier kleinen Punkten, die dann im Kopf so groß werden wie Karussell-

2 DLA A:Mörike 2 11957. 3 DLA A:Schiller 52.241. 4 DLA A:Rilke 73.648.

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Abb. 3: Besessenes Papier. Mörikes eingebrannte Seele.

Elefanten. Zu sehen, wie etwas geschrieben ist, hilft unserer Vorstellungskraft auf die Sprünge. Drehschwindel durch Flachware. Für Sachensucher ist das möglich. Der Aufstand der Sachen im Archiv ist ein leiser, einer, den man in der Phantasie sieht. Oft sieht man nicht gleich, muss mehrfach lesen, immer wieder hinschauen oder erkennt etwas erst sehr viel später, weil man da erst weiß, was Augen macht. Die Sachen in einem Literaturarchiv sind klein und spröde. Ein Stück Stroh von seiner Schlafstelle schickt Gustav Sack seiner Frau Paula zum Jahreswechsel 1914/15 von der französischen Front, drei Mal geknickt, sodass es zwei Seiten hat und unten eine angedeutete Rundung: ein Hufeisen, aus dem das Glück nie herausfallen soll.5 Ein als Maschinendurchschlag benutztes Papier, eine Art Wunderblock benutzt W. G. Sebald, um die Schrift zu üben, mit der in Die Ausgewanderten Ambroce Adelwarth „Gone to Ithaca“ auf eine Visitenkarte schreibt. Nur ein Wort wurde schwarz auf weiß dazugetippt: „Seufzer“.6 In dem kleinen Heft, das Ernst Stadler am 31. Juli 1914 als Kriegstagebuch zu füllen 5 Vgl. DLA A:Sack, Gustav Nachlass. 6 DLA A:Sebald HS.2004.0001.00009.

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beginnt („Vorlesung am Vorabend abgesagt. Morgens Einkäufe: Revolver. Nachmittags gegen 3 Uhr verkünden Extrablätter den ,drohenden Kriegszustand‘“), streicht er hinten die Tage eines handgeschriebenen Kalenders ab (Abb. 4).7

Abb. 4: Lebenslauf. Kalender in Ernst Stadlers Kriegstagebuch.

Vieles ist geschrieben worden, damit man vergisst, dass es geschrieben worden ist. Nicht jedes Blatt besitzt auf der Ebene der Materialität das, was Roland Barthes bei einem Foto als „punctum“ bezeichnet hat: „Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; den punctum, das bedeutet auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“8 Es gibt auch das punctum des Lesbaren, das seinen Zauber dann entfaltet, wenn man eine Archivalie nicht mehr entziffert, sondern lesen kann, ohne dass sich die Wörter an den Zeichen reiben. Das ist dann der Aufstand der Quellen: Die Texte treffen. Unmittelbar und ohne Distanz. Oft aber ist es gerade diese Distanz, ausgelöst durch das Archiv und seine oft schwer zugänglichen und schwer lesbaren, selbst in digitalisierter Form immer nur mühsam zu handhabenden Sachen, die Nähe herstellt und einen Text zum

7 DLA A:Stadler HS.2002.0053.00032. 8 Barthes 1989, S. 36.

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Heike Gfrereis

Ereignis macht. Eine Passage, die Franz Kafka im Manuskript von Der Bau teilweise mit Zickzacklinien getilgt hat, wäre ohne diese Linien weniger. Die 1923 geschriebene Erzählung ist auch ein Text über den Krieg: Ein Tier verschanzt sich unter der Erde in einem weitverzweigten Tunnelsystem. „Alle hundert Meter etwa“, so erzählt das Tier im Manuskript, „habe ich die Gänge zu kleinen runden Plätzen erweitert, dort kann ich mich bequem zusammenrollen, mich an mir wärmen und ruhen. [Ab hier ist der Text durchgestrichen, H.G.] Die Tage der Kindheit und des ersten Mannesalters fallen mir ein, da ich von einem solchen Bau träumte […]. Etwas Baumeistermässiges muss aber immer in meinem Blut gewesen sein, schon als Kind zeichnete ich Zick-zack- und Labyrinthpläne in den Sand und eilte im Geiste auf weichen Pfoten über die [schönen stillen Wege] ‚vielen Striche‘ hin.“9

Immer ist es unser Kopf, der sich an den Sachen reibt, und ihren Aufstand auslöst. Sie werden zu Dingen, die sich zeigen, zu Exponaten. Ein Literaturmuseum muss nur erwecken, was im Archiv in den Sachen schlummert. Es setzt sie unseren Blicken aus. Die Suche beginnt von vorne. Anschauen, Entziffern, das Glück der sichtbaren Nachbarschaft herausfordern.

Literatur Roland Barthes, Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989. Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf, Hamburg 2007.

Archiv Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA). Vgl. zu den Beispielen die Ausstellungskataloge Der Wert des Originals, Marbach a.N. 2014, August 1914. Literatur und Krieg, Marbach a.N. 2013 und Kafkas Mäuse, Marbach a.N. 2013. Zu Kafkas Mäuse siehe auch: http:// www.dla-marbach.de/fileadmin/redaktion/ dla/museum/Downloads/Ausstellungstexte_online/Ausstellung_Kafkas_Maeuse.pdf [7. 4. 2015].

Abbildungen Abb. 1 – 4: DLA Marbach.

9 The Bodleian Libraries, The University of Oxford, MS. Kafka 46, fols. 11r.

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Das ARCHIV – jenseits der Einzahl

Als Beobachter des Workshops und als Leser seiner Resultate aus der Ecke der multidisziplinären Mittelalterforschung haben sich mir einige Gesichtspunkte aufgedrängt, für deren Entfaltung ich mich vor allem auf ausgewählte mediävistische Forschungen stützen möchte.

I.

Archiv: das Wortfeld

Archiv – so sagt heute ein gängiges etymologisches Wörterbuch – versteht man als „Aufbewahrungsort für öffentliche Dokumente und Urkunden“. Und seine Herkunft als Wort? „Im 16. Jh. entlehnt aus gleichbedeutend ml. archivum, […] das auf gr. archeion ‚Amtsgebäude‘ zurückgeht, einem Nomen loci zu gr. árchein ‚regieren, herrschen‘.“ Man übersehe (im Kleingedruckten) auch den Zusatz nicht: „morphologisch zugehörig: Archivar; etymologisch verwandt: s. Anarchie“.1 Frühere wortgeschichtliche Auskunftsmittel bieten weitere Komponenten wie ‚archanum/heimlich behaltung, wapenkamer, buochschrank‘.2 Sucht man in dem semantischen Lexikon des Deutschen, dem Dornseiff, das einschlägige Sinnfeld (Rubrik: ‚Schriftliche Überlieferung‘) auf, dann findet man in einem Wortfeld von weit über hundert Einzelwörtern das Archiv in enger Sinn-Nachbarschaft mit Ahnentafel und Zeitung, Bibliographie und Brieftasche, Diplom und Dossier, Rolle und Register, Testament und Tagebuch.3 Kein Wunder, dass das Archiv immer wieder als Metapher dient.4 Schon dieser recht willkürlich ermittelte lexikalische Teilbefund zeigt, wie allein das Wortphänomen ‚Archiv‘ schillert. 1 2 3 4

Kluge 1989, S. 38. Diefenbach 1857, S. 46. Dornseiff 1959, S. 9 – 10. Vgl. Bedorf 2007, S. 406.

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Dennoch genießt das Archiv im Gemeinverstand immer noch den Ruf eines Schatzhauses unberührter Überlieferungsgüter, das jedem Interessierten erlaubt, die schriftlich überlieferten Wissensbestände und Handlungszeugnisse direkt für die Verwandlung der Vergangenheiten in Geschichte zu nutzen. ‚Entdecken‘ als ein Ersthandeln, das Verschwundenes/Vergessenes findet, Wissen objektiv erstellt. Aber inzwischen haben die Archive allerorten diese Unschuld verloren – und das nicht nur als Bewahrstätten repräsentativer Hinterlassenschaften. Nicht nur die materielle Struktur der Bestände, sondern auch der historische Status der Zeugnisse selbst wird kritisch auf seine Auswahl, Herkunft, soziale Reichweite und kulturelle Bedeutung befragt. Galten solche Kriterien für die historischen Disziplinen weiter zurückliegender Epochen schon länger, so ist es nun umso mehr zu begrüßen, dass auch zeitgeschichtliches Forschen die Ambiguität der Archive in die Arbeit einzubeziehen trachtet. Ein riesiges Feld tut sich da zunehmend auf!

II.

Vielfalt, Praktiken, Entgrenzung: gegenwärtige Tendenzen

Im Strauß der hier vorliegenden Studien sind vier Aspekte auffällig. (1) Da ist zum einen das Bemühen um Materialerweiterungen, die auf eine stärkere Berücksichtigung von Untersuchungsfeldern und Fragestellungen dringen, die den sozial Schwachen, den Benachteiligten und deren Selbstbehauptungsbemühungen nicht nur in den europäischen ‚Ausgangs‘-Ländern, sondern auch in postkolonial strukturierten Regionen gelten. (2) Zum anderen wird herausgestellt, wie viel Sammel-, Bewahrungs- und Umnutzungsvergangenheit die Materialien repräsentieren, seien sie nun längst formell archiviert oder eben (noch) nicht. Jede Forschungsperson weiß von der Komplexität nicht nur des Entstehungsmoments des Dokuments, sondern ebenso seiner späteren Gebrauchssituationen und auch seinem Bewahrungs-Schicksal. Von direkter ‚Auswertung‘ gegebenen bzw. intendierten Sinns von gleich welchen Archivalien kann kaum mehr die Rede sein. (3) Am auffälligsten ist der aufwendige, rekonstruktive und hermeneutische Umgang mit Dokumenten, an die sich das schriftgelehrte, das akten-‚kundige‘ Aufbereiten und Deuten erst mühsam gewöhnen muss: Bilddokumente wie Fotos und Filme, Tondokumente wie Bänder, Platten (u. a.), dingliche Relikte/Monumente wie Bauten und Gebrauchsgegenstände. Dazu gehören auch die neuen Aufgaben der verfahrensrationalen Eigen-Produktion von Dokumenten: Interviews, Gespräche, Mitschnitt von Ritualen,

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Events usf. Unter welchen Bedingungen erstellen ZeithistorikerInnen ihre Dokumente selbst? (4) Schließlich ist die Aufmerksamkeit dafür da, dass der Sinnraum der Dokumente nicht nur nicht eindeutig, nicht nur widersprüchlich ist, sondern auch ein unvermitteltes Nebeneinander einzelner Elemente zeigt oder zeigen kann. Stets ist mit wechselnden Bedeutungsgefügen im Text und seinem Kontext zu rechnen. Diese neuen Aspekte zeit- und gegenwartsgeschichtlicher Archivarbeit und Überlieferungskritik nicht nur im ‚eigenen‘ Kulturraum, sondern auch in Regionen, denen öffentlich regulierte und finanzierte Archive, Museen, historische Sammlungen nur rudimentär vorhanden sind oder (noch) fehlen, erweisen einerseits, wie vielfältig und vielversprechend die Möglichkeiten sind, den Alltagsgewohnheiten, Milieugestaltungen, Verhaltensstilen und Rechtfertigungsweisen derjenigen Leute beizukommen, die gewöhnlich kaum in die Bewahroptik staatlicher Instanzen geraten. Aus dieser elementaren Ausweitung der Archivarbeit ergibt sich aber zugleich das ‚Aufbrechen‘ des klassischen Archivs als Institution und dementsprechend eine Entgrenzung der Archivarbeit selbst. Wo beginnt und wo endet dann beides? Über diesen Widerspruch ausführlich zu diskutieren, kann hier nicht der Ort sein. Dazu bedarf es doch einer wesentlich erweiterten institutionellen und erinnerungspolitischen Perspektive, zu der nicht nur das Feld der Archive gehört. Zudem, das wurde ja in den Beiträgen mehrfach thematisiert, haben im Problemhorizont der Postcolonial Studies zum Teil heftige Diskussionen über Status und Funktion des Archivs für die Erinnerungspolitik und Geschichtskultur stattgefunden, die bis zu epistemologischen Grundfragen zum Archiv, zum Dokument und zu ihrer Heuristik und Hermeneutik geführt haben.5 Von zeitgeschichtlich Forschenden wird leicht übersehen, dass die Bestände, Organisationsformen und Nomenklaturen der Archive, mit und in denen sie arbeiten, Eigenheiten haben, die in vormodernen, d. h. antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferungsumständen wurzeln. Gerade wer mit zeitgenössischen Archivformen und -bildungen in postkolonialen Gemeinwesen konfrontiert ist, kann im Vergleich mit alteuropäischen Vor- und Frühformen der memorialen, repräsentativen und legitimatorischen Schriftstück-Bewahrung an Basisorientierung und Sinn für Variationsvielfalt gewinnen. Die vielen partikularen Wege und Instanzen zur ‚Hortung‘ von Schrift- und Realgut, das für bewahrenswert gehalten wurde, zeigen vor allem zweierlei. Bei allen Basisähnlichkeiten, die im Profil der lateinisch-alphabetischen Schreib-, Schrift- und Lesekultur gründen – jede Macht(gruppe), sei sie kirchlich oder 5 Vgl. Anheim 2004, S. 153 – 182.

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laikal, ländlich oder städtisch, regional- oder lokalherrschaftlich, findet eigene Übergänge von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung, eigene mediale Lösungen, bevorzugt andere Schriftgutarten bzw. Bauten und Bildwerke, sammelt sie anders, gestaltet das Bewahrgut abschriftlich oder umbauend oder übermalend im eigenen Interesse, sortiert anders aus, was vergessbar ist, zerstört, was vergessen werden muss. Und – für die archivorientierte historische Forschung mindestens ebenso wichtig – jede dieser Bewahrinstanzen strukturiert dadurch ihre eigene Tradition, ihre ständische Identität, ihre rechtliche Geltung, ihren politischen Rang, kurz: ihren ‚Namen‘, ihr ‚Wappen‘. Aber das ist noch nicht alles: Sie generiert dadurch auch eine ideologische Wirklichkeit, formiert eine Ausdruckweise und ein Begriffsensemble. Das beginnt mit der Vorstellung und dem Begriff von den Atomen des Archivs, der Akte6 bzw. der Urkunde, und endet, für aristokratische Gruppen etwa, bei deren Porträts als Ahnengalerie und einem eigenen Titel als Adels-‚Geschlecht‘7. MediävistInnen, denen ihre schriftzentrierten Gewohnheiten, ihre Textinterpretationen für ihr epochales Gesamtbild nicht mehr hinreichen, werden schnell aufmerksam auf Forschungen, bei denen ungemein reiche Überlieferungsbestände, Materialdepots bzw. Archive noch zu eruieren sind oder überhaupt erst entstehen. Gemeint sind vorrangig die Archäologie, die Bauten- und die Sachkulturforschung. Selbst in Fachkreisen macht man sich viel zu selten eine genauere Vorstellung davon, welche Mengen von Objekten bei Grabungen geborgen, klassifiziert, konserviert werden und, deponiert, zur Verfügung stehen. Für eine zur Epochenwissenschaft erweiterte europäische Mediävistik ist längst ein sachkultureller Wissensberg akkumuliert worden, der, wenn er nur ernst genommen und integriert werden würde, dem auf der Basis von edierten bzw. archivierten Schriftdokumenten geformten Epochenbild eine überraschend profilreiche materiale Grundlage geben könnte. Und mit ihr ganz wesentliche Ergänzungen zur Lebenswelt derjenigen, die in den Schriftdokumenten kaum eigene Stimmen haben! Nur wenige Beispiele. So etwa wüst liegende oder überbaute Siedlungen bzw. Dorfareale, die im Zuge von Großbauten (Braunkohleabbau, Autobahnen u. a.) ergraben und aufbereitet werden konnten (und können) und inzwischen auch geophysikalisch aufmessbar sind.8 Was dort über die Gebäudereste und Flurspuren hinaus an Überlebensdingen zusammenkommt, macht sich wie die wissenschaftliche Spätgeburt eines lokalen Alltags aus, eine Entbindung vom Boden, eine Archivierung von unten. Einzigartig in seiner Fülle von über 6 Grundlegend hierzu ist Vismann 2000. 7 Beispielhaft: Morsel 2004. 8 Allgemein einführend: Päffgen/Schopper 2011; großräumige Bestandsaufnahme: Peytremann 2003; regional exemplarisch: Küntzel 2008.

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sechstausend mobilen Objekten – Topfscherben‚ Textilien, Gürtel(schnallen), Nadeln, Schuhe, Schmuck, Spiele, Spielzeug, Musikinstrumente, Schreibwerkzeug, Devotionalien, Haushaltsgeräte, Maße, Münzen und Gewichte, Trinkgefäße, Kerzenhalter, Schlösser und Schlüssel usf. – ist der Bestand einer Flächengrabung im mittelalterlichen Teil von Winchester von 1961 bis 1971. Nahezu zwanzig Jahre lang waren über vierzig Archäologen und Techniker mit der Aufarbeitung dieses gigantischen ‚Stadtboden‘-Schatzes beschäftigt: über 1300 Text- und Bild-Seiten zeugen heute von diesen Anstrengungen.9 Man kann aber auch einen ganz anderen, regionalen Weg einer materialen Bestandsaufnahme gehen – z. B. die vielen romanischen Landkirchen im Mâconnais (Bourgogne) systematisch vermessen, um zu einem regionalen Gesamtbild vom Kultrahmen im 12 – 13. Jahrhundert beizutragen.10 Oder man sucht Einzelzeugnisse aus diversen Archiven, Museen, volkskundlichen Sammlungen über das längs gespaltene Kerbholz zusammen, um zu zeigen, über welch ein Universalgerät zur fälschungssicheren Hantierung von Sach- oder Geld-Schulden man seit dem Mittelalter bis weit in die Zeitgeschichte verfügte – eine Art Leitfossil vormoderner Reziprozität.11 Mit den Beispielen sollte angedeutet werden, wie vielfältig und offen in der multidisziplinären Epochenwissenschaft vom Mittelalter die Grenzen zwischen Archiv, Sammlung, Edition, Grabbefund, regionalem Baubestand, Museum, Forschungsdepot zu denken sind, wie ihre jeweiligen Konturen verschwimmen können und wie viel überraschende Flexibilität aufkommt, wenn man Sachen und Tatsachen des Alltags derjenigen ernst nimmt, die durch die Überlieferungen des offiziell Wissenswerten verschattet sind.12 Diese Situation der Mediävistik kann, so meine Hoffnung, wie ein Rückspiegel auf die Beiträge dieses Bandes verweisen und die Aufmerksamkeit für ähnliche Phänomene und Probleme schärfen. Der Suche nach dem Archiv erweist sich so als verkrustete Vorstellung.

9 Biddle 1990; gute Verallgemeinerung ausgehend von einem sehr beschränkten Objektbereich: Müller 2006. 10 Guerreau 1998. 11 Kuchenbuch 1999. 12 Weggelassen werden muss hier die drängende Frage, wie die historischen Wissenschaften in naher Zukunft mit den rasant wachsenden Massen an digitalisierten, online frei verfügbaren Archivalien und Dokumenten(sammlungen) umzugehen haben, d. h. worin die Chancen und Risiken ihrer qualitativen, besonders aber ihrer quantitativen Erschließung und statistischen Nutzung liegen.

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III.

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Semantik

Kehren wir abschließend zur Sprache im Archiv zurück. Was für die Wort- und Begriffsgeschichte von Archiv charakteristisch ist – Polynymie und Polysemie –, das gilt auch für jeden Schlüsselwortschatz einer Zeit. Ich kann und will hier nicht darüber rechten, welches Dutzend von ‚Fahnenwörtern‘ da gegenwartshistorisch infrage käme. Die so produktive begriffsgeschichtliche Forschung deutscher Provenienz ‚pokerte‘ seit Jahrzehnten berechtigterweise mit Hunderten von Stichwörtern, natürlich deshalb, weil es ihr um die Eigenart der ‚Sprache der Moderne‘ als Repertoire ging. Doch auch deren Bestand, Sinn und Bedeutung selbst ist in enormer Bewegung und Umformung begriffen.13 Aber in welcher Hinsicht? Längst gibt es Versuche semantischer Historisierung. Nicht nur das Wörterbuch des Unmenschen wirft hier lange Schatten, es gibt auch das Phänomen einer internationalen Sprachdiktatur in der Maskerade von Plastikwörtern, und neuerdings schlägt ein Vokabular der Gegenwart neue kritische Schneisen ins neblige Deutungsgewoge der mondialisierten Moderne.14 Zum besseren Verständnis dieses aktuellen Diskurs-Geschiebes über wenige Fahnenwörter kann die semantische Mittelalterforschung tiefengeschichtliche Orientierung bieten. Warum? Die Wege der ‚Europäisierung‘ des sozialen und intellektuellen Bewusstseins sind mitbestimmt von Diskursen über drei maßgebliche Dimensionen der sozialen Synthesis: die Schrift, die Arbeit und die Politik. Und gerade hierzu haben die Bewegungen während des Mittelalters Grundlegendes beigetragen – und zwar im doppelten Sinne: begriffsgenetisch und sinnkontrastiv! Genaue semantische Untersuchungen mittellateinischer Einzelzeugnisse und ebenso umfangreicher Dokumenten-Serien zur Genese dieser Hegemonialbegriffe der Moderne zeigen mit gebieterischer Klarheit, wie elementar different die Wortfelder und Sinnstrukturen der Vormoderne im historisch-semantischen Vergleich sind – und wie zugleich das Selbstverständnis der Moderne auf ihnen fußt. Nur wenige Hinweise hierzu. 1. Kaum ein Schriftstück des ersten (lateinchristlichen) Millenniums galt per se als textus.15 Deshalb sollte man historisch solide begründen können, warum man ein solches heute als Text bezeichnet und versteht. Im damaligen SchriftVokabular hat das Wort einen selten genutzten Sonderstatus. Lateinisch textus bzw. mittelhochdeutsch-frühneuhochdeutsch text ist nur ein Wort unter anderen, kein Begriff, um dessen Sinn gerechtet wurde, kein diskursträchtiger Hegemonialterminus. Nur ab und an wird damit der liturgisch benutzte Evangelien-

13 Zur Diskussion über die Begriffgeschichte: Grundbegriffe Reloaded? 2012. 14 Sternberger/Storz/Süskind 1986; Pörksen 1988; Bröckling 2004. 15 Zum Folgenden Kuchenbuch/Kleine 2006; Kuchenbuch 2012.

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Codex bezeichnet; oder man nennt den Wortlaut der Heiligen Schrift textus – im Gegensatz zur glossa, die ihn auslegt. Diese sehr engen Bedeutungen gelten recht konstant bis in die Frühe Neuzeit hinein. Nur ganz allmählich verbreitet sich der Wortgebrauch in anderen Schriftstückgattungen. Man kann seit dem 9. Jahrhundert vom Text eines Gebetes, einer Urkunde, eines Traktates, eines Briefes, einer Rechtsaufzeichnung sprechen, muss es aber nicht, es gibt Alternativen genug. Der Sachsenspiegel etwa, ursprünglich als mündlich ‚gewiesenes‘ Gewohnheitsrecht verstanden, wird erst durch mehrere Abschriften bzw. Bearbeitungen, vor allem aber durch die Hinzufügung einer rechtsgelehrten Auslegung (Glossierung) zum text – weit über 100 Jahre nach seiner Entstehung (ca. 1220). Vom Gesetzes-Text ist nicht vor dem 13., vom Text eines Liedes nicht vor dem 16. Jahrhundert die Rede. Seit wann ein Schauspieler seinen Text beherrscht, seit wann die Partitur einer mehrstimmigen Komposition als Text gelten kann, harrt noch texthistorischer Aufklärung. Dass sich so gut wie alles rechtliche und literarische Deuten und Interpretieren auf Texte bezieht, ist nicht vor dem 18. Jahrhundert denkbar. Die textogenetische Transformation jedweden Schriftguts, seine umfassende Subsumtion unter den Text, seine Qualifikation und Betrachtung als Text gehört im Wesentlichen in die Moderne. Und dies gilt natürlich zu guten Teilen auch für die Selbstbezeichnungs-Struktur der modernen Bewahrstätten vormodernen Schriftguts – für die Archive. Mit den Erweiterungen des Wortfeldes um den Kontext, die Textualität, die Intertextualität, die Hypertextualität usf. verfügt das aktuelle schriftbezogene Denken über zusätzliche postmoderne Neulinge. Wer dieses Begriffsgut insgesamt zur ‚Erschließung‘ der Bezeichnungs- und Bedeutungswelt vormoderner Schrift-, Bild- und Gestaltwerke benutzt, riskiert grundsätzliche Mißverständenisse, läuft Gefahr, sich den Zugang zu deren Eigensinn modernistisch zu verbauen.16 2. Und die Arbeit?17 Kluge Historiker wie Jacques Le Goff haben dem Mittelalter ernsthafte, d. h. theologische Debatten über die Arbeit (lat. labor) als gesellschaftliche Basisimagination abgesprochen. Andere haben die Entdeckung der Arbeit als sozialen Wert erst im Mittelalter gesehen. Sie haben Recht. Warum? Wenn im Mittelalter – selten genug – von den Überlebensmühen für sich und andere gesprochen und geschrieben wird, geht es lexikalisch und inhaltlich stets um Mehreres: vorrangig ums Dienen für Herren (servire) und ums Werken für sich bzw. für einander (operari), weniger gewichtig um leibhaftige Mühsal (labor/arebeit) und seelischen (Erlösungs-)Lohn (merces) und – ab und an auch – 16 Eine ähnliche Bedeutungsgeschichte könnte man unschwer über das geschichtswissenschaftliche Hegemonialwort ‚Quelle‘ erzählen. Vgl. Kuchenbuch 2012, S. 184 – 216. 17 Kuchenbuch 2012; Postel 2006; Kuchenbuch 2014.

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um geldliche Vergütung (pretium), ganz selten jedoch um Gewinn (lucrum), und dann immer hart an der Kante des Neides, des Betruges und der Gier. Die Hypothese hat viel für sich, dass jeder schriftlich überlieferte Fall einer konkreten ‚Arbeits‘-Situation eine eigene Kombination dieser Komponenten bezeugt. Aber damit sind die analytischen Kategorien der industriellen Arbeitswelt im wesentlichen ‚aus dem Spiel‘. Kaum einmal lässt sich etwa erweisen, dass die Verbindung von Rohstoff (Arbeitsgegenstand), Instrument (Arbeitsmittel) und Aktion (Arbeitskraft) die Beschreibung leitet, was ja deren Getrenntsein voraussetzt! Stets zeigt sich in der Überlieferung, dass es für mittelalterliche Gemein-Wörter wie Arbeit, Dienst, Werk, Notdurft, Nahrung, Kauf, Lohn (und ihre mittellateinischen Äquivalente) keine modernen Entsprechungen gibt. Häufig übersehen, aber wesentlich wichtiger ist, dass ohnehin meist gar nicht auf solcher generalisierend-begrifflichen Wortebene gesprochen und geschrieben wird, sondern mit dem Vokabular unverwechselbarer Vollzüge. Man arbeitet nicht mit dem Hammer, sondern schlägt mit ihm. Man bearbeitet nicht den Acker, sondern pflügt ihn. Man produziert kein Messer, sondern schmiedet und schleift es. Aber: Bei aller semantischen Grunddifferenz, die die Dokumente ja auszeichnet, ist nicht außer Acht zu lassen, dass aus dieser so anderen Dienst- und Werk-Welt und -Sprache gerade die Bedingungen hervorgehen, die dann für die Moderne bestimmend werden: die Lösung des Arbeitsvermögens von seinen Realisierungsmitteln (Werkstatt, Werkzeug, Werkstoff) und seine Verwandlung in bezahlbare Ware. Die mittelalterlichen ‚Arbeits‘-Zeugnisse, die in den Archiven, Bibliotheken und Depots auf Befragung und Erschließung ‚warten‘, sind also mit erheblichen semantischen Sperren versehen. Gerade das Wissen um diese Fremdartigkeit und Distanz bietet jedoch die Chance, sie vor vorschneller Eingemeindung in betriebs-, volks- oder welt-‚wirtschaftliche‘ Bedeutungsfelder zu bewahren. Insofern bietet eine solide historische Semantik der ‚Arbeit‘ beste Gewähr, sie nicht modernistisch zu ökonomisieren. Economia galt mittelalterlich ohnehin als (biblische und neoaristotelische) ‚gute Haushaltung‘, nicht als Ökonomie. 3. Die Politik schließlich. Jeder wortgeschichtliche Suchgang im mittelalterlichen Schriftgut nach dem Politischen führt in die Wüste – und insofern in die Irre. Erst eine vollständige Übersetzung der Politica des Aristoteles gegen 1265 aus dem Griechischen ins Lateinische brachte dieses Wort und seinen (ja griechischen) Bedeutungsraum ins Bewusstsein der Gelehrten zurück.18 Aber auch die nun einsetzenden Auseinandersetzungen um politica (und res publica) zeitigten nur wenig diskursive und staatsbildende Wirkung. Der ‚Sieg‘ des Politi-

18 Meier/Papenheim/Steinmetz 2012, S. 11 – 44.

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schen im Blick auf alles staatliche Denken und Handeln gehört in die (frühe) Moderne. Aber um welche Wörter bzw. Termini wurde damals gerangelt und gerechtet? In einem langwierigen Prozess hat sich die heutige Mediävistik sowohl von nationalen als auch staatlichen Normvorstellungen und Deutungsimperativen entweder gelöst bzw. zu reflektierter Distanz gefunden. Man könnte von einer Verschiebung der Optik vom Fürstenspiegel zur Herrschaftspraxis, von der normativen Ethik zum situativen Handeln und Aushandeln sprechen. Dabei ist die Aufmerksamkeit für die praktisch wirksame Worte-Welt gewachsen, die um Macht, Reichtum, Ansehen und damit Herrschaft kreist. Es geht um den Sprachgebrauch der Regierenden und ihrer literaten Diener, um die steten ‚Ausdrucks‘-Konflikte – auf welcher Machtebene immer. Die Situationsflexibilität des monarchischen Machthandelns wird genauso thematisiert wie die Polysemie der Gewalt (violentia), das Konzept der weisen Herrschaft (virtus) und vieles andere – ein überlieferungszentriertes Ensemble von Einzelwortsemantiken ist im Entstehen.19 Fehlen nur noch Ausleuchtungen der Hegemonialbegriffe ecclesia und potestas und ihrer Beziehungen.20 Alles in allem: Zukunft braucht Herkunft – so das Diktum Odo Marquards (2003). Die Zukunft der Archive liegt in ihrer historisch begründeten Pluralisierung und Semantisierung.

Literatur Etienne Anheim, „Singulières archives. Le statut des archives dans l’épistémologie historique, une discussion, une discussion de de La Mémoire, l’histoire, l’oubli de Paul Riqueur“, in: Revue de synthèse 125 (Fabrique des archives, fabrique de l’histoire), 2004, S. 153 – 182. Thomas Bedorf, „Spur“, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 401 – 420. Martin Biddle, Object and Economy in Medieval Winchester, 2 Bde., Oxford 1990. Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann u. Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004. Michael Borgolte, Juliane Schiel, Bernd Schneidmüller u. Annette Seitz (Hg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008.

19 Jussen 2005; Borgolte/Schiel/Schneidmüller/Seitz 2008, S. 305 – 556; Schwandt 2014. Das von B. Jussen initiierte Frankfurter Leibniz-Projekt Politische Sprache im Mittelalter steht maßgeblich für diese neuen Aktivitäten. Von dort ist demnächst eine Zwischenbilanz zu erwarten: Historische Semantik. Probleme und Perspektiven aus der Mediävistik, hg. B. Jussen. 20 Kuchenbuch 2012, S. 464 – 474.

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Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Latinitatis, Frankfurt/M. 1857 (ND Darmstadt 1997). Franz Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 51959. „Grundbegriffe Reloaded? Writing the Conceptual History of the Twentieth Century“, in: Contributions to the History of Concepts 7, 2012, S. 78 – 128. Alain Guerreau, „Vingt et une petites églises romanes du Mâconnais: irrégularités et métrologie“, in: Patrice Beck (Hg.), L’innovation technique au Moyen Âge, Paris 1998, S. 186 – 210. Bernhard Jussen, Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl. bearb. v. Elmar Seebold, Berlin u. a. 1989. Ludolf Kuchenbuch, „Kerbhölzer in Alteuropa – Zwischen Dorfschmiede und Schatzamt“, in: Balázs Nagy u. Marcell Sebök (Hg.), … The Man of Many Devices, Who Wandered Full Many Ways… Festschrift in Honor of János M. Bak, Budapest 1999, S. 303 – 325. Ludolf Kuchenbuch, Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus, Frankfurt/M. u. a. 2012. Ludolf Kuchenbuch, „Dienen als Werken – eine arbeitssemantische Untersuchung der Regel Benedikts“, in: Jörn Leonhard u. Willibald Steinmetz (Hg.), Semantiken der Arbeit, Köln/Wien (im Druck). Ludolf Kuchenbuch u. Uta Kleine (Hg.), ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006. Thoman Küntzel, „Quedlinburg und sein Umland. Siedlungsforschung für das OSCARProjekt der Hochschule Anhalt (FH)“, in: Siedlungsforschung 26, 2008, S. 53 – 74. Ulrich Meier, Martin Papenheim u. Willibald Steinmetz, Semantiken des Politischen. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2012. Joseph Morsel, „Le médiéviste, le lignage et l’effet du réel. La construction du Geschlecht par l’archive en Haute-Allemagne à partir de la fin du Moyen Âge“, in: Revue de synthèse 125 (Fabrique des archives, fabrique de l’histoire), 2004, S. 83 – 110. Ulrich Müller, Zwischen Gebrauch und Bedeutung. Studien zur Funktion von Sachkultur am Beispiel mittelalterlichen Handwaschgeschirrs (5.–16. Jh.), in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 20, Bonn 2006. Bernd Päffgen u. Franz Schopper, „Dorfarchäologie: Perspektiven in das Mittelalter“, in: Archäologie in Deutschland 4/27, 2011, S. 18 – 21. Emile Peytremann, Archéologie de l’habitat rural dans le nord de la France du IVe au XIIe siècle, Saint-Germain-en-Laye 2003. Uwe Pörksen, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1988. Verena Postel (Hg.), Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, Berlin 2006. Silke Schwandt, Virtus. Zur Semantik eines politischen Konzepts im Mittelalter, Göttingen 2014. Dolf Sternberger, Gerhard Storz u. Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Frankfurt/M./Berlin 31986. Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/M. 2000.

Zu den Autorinnen und Autoren

Anja Dreschke, Ethnologin, Kuratorin und Filmemacherin, Promotionsprojekt zu den Kölner Stämmen, Mitglied des Graduiertenkollegs „Locating Media“ der Universität Siegen. Zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Trance-Medien und Neue Medien in den beiden Globalisierungsschüben (1900 und Heute)“ ebendort und Lehrbeauftragte für Visuelle Anthropologie und Medienethnologie an der Universität zu Köln. Film u. a. Die Stämme von Köln (2011), Publikation u. a. Trance-Mediums and New Media. Spirit Possession in the Age of Technical Reproduction (hg. zus. mit Heike Behrend und Martin Zillinger, New York 2014). Tobias Ebbrecht-Hartmann, Medien- und Filmwissenschaftler, Promotion 2010 an der Freien Universität Berlin. Lecturer für Film und German Studies an der Hebrew University in Jerusalem. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFGForschungsprojekt „Regionale Filmkultur in Brandenburg“ an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Von 2010 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ (Weimar, Erfurt, Jena) an der Bauhaus-Universität Weimar. Derzeit Forschungen zu deutsch-israelischen Filmbeziehungen und Operationen kinematographischer Archive. Autor von Übergänge: Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte (Berlin 2014). Heike Gfrereis, Literaturwissenschaftlerin, seit 2001 Leiterin der Museumsabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Promotion 1994 mit einer Arbeit über Heinrich von Kleist, Erzeugte Bedeutungen. Das literarische Werk um 1800, von 1994 bis 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur der Universität Stuttgart, bis 2001 zuständig in einem Stuttgarter Architekturbüro für Ausstellungs- und Museumsprojekte. Kuratorin der Dauerausstellungen im Literaturmuseum der Moderne und im Schiller-Nationalmuseum sowie zahlreicher Wechselausstellungen (zuletzt „August 1914. Literatur und Krieg“, „Der ganze Prozess“ und „Reisen. Fotos von unterwegs“).

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Zu den Autorinnen und Autoren

Carolyn Hamilton, Ph.D. 1993 an der Johns Hopkins University (Baltimore, Maryland), hat den National Research Foundation Chair in Archive and Public Culture an der University of Cape Town inne. Zuvor Direktorin der ersten Graduate School for the Humanities an der University of the Witwatersrand und Leiterin des Constitution of Public Intellectual Life Project ebendort. Forschungen zur vorkolonialen Geschichte Südafrikas, zur Konzeption des Archivs und dessen politische Effekte. Buchpublikation u. a. Terrific Majesty, the Powers of Shaka Zulu and the Limits of Historical Invention (Harvard University Press, 1998). Wolfgang Hesse, ab 1984 Tätigkeit am Stadtmuseum Tübingen, 1989 Initiative zur „AG Fotografie im Museum“, 1993 Gründung der Zeitschrift Rundbrief Fotografie. 1994 Übersiedlung nach Dresden, Tätigkeiten u. a. für Kupferstich-Kabinett, Deutsche Fotothek, Museen der Stadt Dresden, Sächsische Landesstelle für Museumswesen. Februar 2009 bis Januar 2012 Bearbeiter des DFG-Projekts „Das Auge des Arbeiters“ am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden. Seit April 2013 Vorbereitung einer Ausstellung zu diesem Thema in den Kunstsammlungen Zwickau, dem Käthe-Kollwitz-Museum Köln und dem Stadtmuseum Dresden. Ludolf Kuchenbuch, von 1985 bis zur Emeritierung 2004 Professor für Ältere Geschichte an der FernUniversität Hagen; zuvor Konservator am Bayerischen Nationalmuseum in München und wissenschaftlicher Assistent sowie Assistenzprofessor an der FU Berlin bzw. TU Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des bäuerlichen Wirtschaftens im Mittelalter, die Geschichte der Arbeit, Feudalismustheorien und die Geschichte der Schriftlichkeit sowie die Abfallgeschichte. Mitherausgeber der Zeitschrift Historische Anthropologie und der Reihe Historische Studien (Campus). Britta Lange, Kulturwissenschaftlerin, Promotion 2005 und Habilitation für Kulturwissenschaft 2012, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, davor am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (2008 – 2010) und Postdoctoral Research Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin (2005 – 2007). Forschung und Veröffentlichungen zu Kulturgeschichte und Kulturtechniken, Kolonialismus, Erstem Weltkrieg, frühen Film- und Tonaufnahmen, sensiblen Sammlungen. Alf Lüdtke, bis Oktober 2008 wissenschaftlicher Referent am ehemaligen MaxPlanck-Institut für Geschichte, Göttingen; zugleich 1999 – 2008 Professor an der Universität Erfurt, seither dort Honorarprofessor; Mit-Antragsteller des DFG-

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geförderten Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ (Weimar/ Erfurt/ Jena, 2005 – 2013); seit 2009 Distinguished Professor of History, Hanyang University, Seoul. – Forschungen und Veröffentlichungen zu: Herrschaft und Gewalt in der Neuzeit; Praxis und Erfahrung von Arbeit; „Mitmachen“ im Nationalsozialismus, „Hinnehmen“ in der DDR; Fotografie und Visualität im 20. Jahrhundert; Alltagsgeschichte: Konzepte und Theorien. Tobias Nanz, Kultur- und Medienwissenschaftler, Promotion 2008 mit der Arbeit Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie; wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-Projekt „The Principle of Disruption“ (zunächst Universität Siegen, seit 2014 TU Dresden); zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar (Fakultät Medien), Justus Liebig Universität Gießen (Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse“) und Universität Erfurt (Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“, Weimar/Erfurt/Jena); derzeit insbesondere Forschung zu den Medienkulturen des Kalten Kriegs und zur Geschichte des Roten Telefons. Dietmar Schmidt, Promotion 1995 in Zürich mit einer Arbeit zum Geschlechterdiskurs um 1900, 2006 Habilitation an der Universität Erfurt mit der Arbeit Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen. Apl. Professor im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Zuvor Lehraufträge an der Universität Dortmund sowie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder wie auch Kollegiat der Graduiertenkollegs „Repräsentation – Rhetorik – Wissen. Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (Frankfurt/Oder) und „Geschlechterdifferenz & Literatur“ (München). Martin Zillinger, Juniorprofessor für Transformation of Life an der Universität zu Köln, zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen, u. a. im DFG-Projekt „Trance-Medien und Neue Medien in den beiden Globalisierungsschüben (1900 und Heute)“. Dissertation zu marokkanischen TranceBruderschaften (Die Trance, das Blut, die Kamera. Trance-Medien und Neue Medien im marokkanischen Sufismus, Bielefeld 2013); stationäre Feldforschungen in Meknes, Marokko, sowie in Brüssel zu den Netzwerken arabischsprachiger Migrantinnen und Migranten.