Bildwelten des Wissens: BAND 4,2 Bilder ohne Betrachter 9783110551457

Zahllose Formen und Objekte sind dem menschlichen Auge entzogen, weil sie im Verborgenen lagern und zerstört oder zensie

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Bildwelten des Wissens: BAND 4,2 Bilder ohne Betrachter
 9783110551457

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Entropie des Films. Eine Geschichte des Kinos als Geschichte des Nicht-Sehens
(Un)verlangt eingesandt. Der ungesehene Tod und sein Weg in die Sichtbarkeit
Gegensichtbarkeiten
Photography Absorbed
Farbtafeln
Faksimile
Bildbesprechung
Der Imperativ der Sichtbarmachung. Zur Bildgeschichte des Unsichtbaren
Auf ewig dem Blick entzogen
Interview
Bücherschau: Wiedergelesen / Rezensionen
Projektvorstellung
Bildnachweis
Die AutorInnen
Bildwelten des Wissens

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Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik

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1: Arnold Czechowski: Aus Hitlerbüste umgestaltetes Porträt Konrad Adenauers, 1953 (Privatsammlung). 2: Jesus und Maria. Riefelbild, Italien, 1. Hälfte 17. Jahrhundert. 3: Caravaggio: Brustbild einer jungen Frau. Vermutlicher Kriegsverlust der Staatlichen Museen zu Berlin. 4: Edvard Munch: Der Schrei, 75 x 57 cm, 1893, aus dem Munch-Museum Oslo am 22.08.2004 gestohlen, wieder sichergestellt am 31.08.2006. 5: Thomas Struth: Rijksmuseum I, Amsterdam, 118 x 168 cm, 1990. 6-8:

Hartwig Thomas, IBM Forschungslabor Zürich, um 1983: Frühe Computergrafiken rastertunnelmikroskopischer Bilder unter Variation der Schwellenwerte (Privatbesitz). 9: Francisco de Goya: Desastre de la Guerra, Nr.15: „Y no hai remedio“, 14,2 x 16,8 cm, Druckplatte, 1863, Calcografía Nacional, Madrid. 10: 1-zu-1-Ritzzeichnung für den Wimperg des südlichen Querportals auf dem Dach des südlichen Langchores der Kathedrale zu Clemont-Ferrand. 11: Zeichnung eines unbekannten Zeichners, gefunden im Plenum des Deutschen Bundestages 1957 am Platz Nr. 8 (Arbeitsplatz Willy Brandt). 12-14: Pablo Picasso: Guernica, 349 x 777 cm, 1937, Museo Reina Sofia, Madrid: (12) Mitarbeiter des MoMA, New York, wo das Gemälde

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seit 1939 hängt, verpacken es am 09.09.1981 für den Transport nach Spanien; (13) am 10.09.1981 kehrt das Gemälde nach 44 Jahren Exil zurück; (14) von 1981 bis 1992 hängt das Gemälde hinter Sicherheitsglas im Casón del Buen Retiro, Madrid. 15: Bemaltes Cover des Reclam-Heftes: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. 16: Wasserspeier am Münster Unserer Lieben Frauen, Ulm. 17: Ludger tom Ring d. J.: Bildnis einer Frau, mit eingeschobenem Deckel, um 1560, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen. 18: Candida Höfer, Bilderdepot Sammlung Essel Klosterneuburg I, 2003. 19: Hans Brüggemann: Ehem. Hochaltarretabel der Bordesholmer Augustinerchorherren-Klosterkirche, vollendet 1521. Heute Schleswig, Dom St. Peter. 20: Geschlossenes Fotofachgeschäft am S-Bahnhof Friedrichstraße, Berlin. 21: Bild eines „Subfilms“ (Einschübe in die Bildfolge) zur unmerklichen Mitteilung von Werbebotschaften aus der McCarthy-Ära, USA 1950er. 22: Setfotografie während der Dreharbeiten zu „Satansbraten“, Regie: Rainer Werner Fassbinder, 1976. 23: Wachturm des Delta Camp V, Joint Task Force-Guantánamo, Kuba.

Herausgegeben von

Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Matthias Bruhn Redaktion

Das Technische Bild

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 4,2

Bilder ohne Betrachter

Akademie Verlag

Inhaltsverzeichnis

Editorial

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Vinzenz Hediger: Entropie des Films.

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Eine Geschichte des Kinos als eine Geschichte des Nicht-Sehens Tom Holert: (Un)verlangt eingesandt.

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Der ungesehene Tod und sein Weg in die Sichtbarkeit Peter Geimer: Gegensichtbarkeiten

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Kelley Wilder: Photography Absorbed

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Farbtafeln

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Faksimile

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Bildbesprechung: Lichtbildbelehrungen. Bilder im Grenzbereich

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Martina Heßler: Der Imperativ der Sichtbarmachung.

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Zur Bildgeschichte des Unsichtbaren Lothar Ledderose: Auf ewig dem Blick entzogen

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Interview: „Verschwunden in der Sammlung?“ Ein Gespräch mit Heinrich Schulze Altcappenberg, Direktor des Kupferstichkabinetts – Staatliche Museen zu Berlin

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Bücherschau: Wiedergelesen / Rezensionen

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Projektvorstellung: Gemälde alter Meister –

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gesehen mit den Augen der Neutronen Bildnachweis

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Die AutorInnen

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Editorial

Abb. 1.

Anfang der 1980er Jahre begann sich im Zürcher Forschungslabor von IBM abzuzeichnen, dass das neu entwickelte Rastertunnelmikroskop ein immenses Potenzial für Oberflächenuntersuchungen auf atomarer Ebene bieten würde. Weil parallel dazu bei IBM erprobt wurde, wie Messergebnisse digital bearbeitet und dargestellt werden könnten und die Computerabteilung des Forschungslabors zu jener Zeit auch mit der Ausgabe von Grauwerten auf Druckern experimentierte, begann der im Hause tätige Prädoktorand Hartwig Thomas, die neuen Techniken auf die bis dahin analoge Tunnelmikroskopie anzuwenden, so dass daraus ein digitales bildgebendes Verfahren entstand. Thomas probierte unterschiedlichste Darstellungsformen mit wechselnden Schwellenwerten aus (Abb.1). Allmählich gelangte er zu Einstellungen, die auch die Experimentatoren, Gerd Binnig und Heinrich Rohrer, zufriedenstellten. Als Binnig und Rohrer 1986 den Nobelpreis für ihre Entwicklung des Tunnelmikroskops erhielten, wurde von den internationalen Fernsehstationen ein vonThomas erstellter Film ausgestrahlt, in dem ein scheinbarer „Flug“ über eine beleuchtete Atomlandschaft animiert war; die zahllosen Bilder mit den diffusen Klecksen, die Thomas bis dahin angefertigt (und sorgfältig archiviert) hatte, fanden hingegen keine Beachtung. Die Titelseite dieses Bandes zeigt ein solches Bild, das nach seiner Verarbeitung obsolet geworden zu sein schien und das doch Bestandteil eines größeren Unternehmens war, welches schließlich zum Nobelpreis geführt hat.* Aus alltäglichen Bildpraktiken wie der Fotoreportage, Werbung oder Kunst ist bekannt, dass es zu jedem prominent gewordenen Motiv stets unzählige Bilder gibt, die verworfen oder unterdrückt werden, weil sie bestimmte Anforderungen oder Bildformate unterlaufen, prognostizierten Verwertungszielen nicht genügen oder ihre Herstellung misslingt. Auch führt die technische Reproduktion von Abbildungen zu undurchdringlichen Archivbeständen, differenzieren sich die Massenmedien, die für einige Jahrzehnte synonym mit dem „Licht der Öffentlichkeit“ waren, in Spartenkanälen, Internetforen und Spätabendsendun-

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Editorial

gen aus. Den wenigen Ikonen der Bildkommunikation steht damit wiederum ein gewaltiger Vorrat ungezeigter Formen gegenüber, auf die sie bezogen sind und ohne die sie nicht existieren würden. Die bildgebenden Verfahren fügen dieser Ökonomie der relativen Unsichtbarkeit eine weitere Überschussform hinzu. Deren Abb. 2: Demontage des D ­ ELPHI„Bilder“, durchweg in großen Serien und meist automatisiert Detektors, eines Teils des LEPhergestellt, scheinen in ihrer äußeren Anmutung nicht mehr Beschleunigers des CERN, im Dezember 2000. jener Bildlichkeit zu entsprechen, die mit der Tradition von Tafelgemälde und Fotografie verknüpft wird. Sie sind jedoch als operative Bilder den anderen Bildgebungsformen vergleichbar und Teil einer kollektiv verankerten Bildkultur, für die seit jeher das in diesem Band der Bildwelten des Wissens untersuchte Prinzip gilt, Zwischen- oder Endprodukt einer Fülle nicht oder nicht mehr sichtbarer Bilder zu sein. In neueren bildgebenden Verfahren wird deutlich, wie visuelle Erwartungen und mediale Zwänge bei der Konstruktion von Gerät und seiner Steuerung, bei der Auswahl oder Diagnose von Bildausgaben ineinandergreifen. Jegliches visuelle „Ergebnis“ verdankt sich einem längeren Verdichtungsprozess und liegt in unterschiedlichen Aggregatzuständen vor, als Messung, als Laborbild, als Pressefoto. Dementsprechend kann es in verschiedener Weise betrachtet – oder übersehen werden. Zur Geschichtlichkeit bildlichen Ausdrucks und bildlicher Kommunikation gehört es, dass Aufmerksamkeiten sich in den verschiedenen Zivilisationen strukturell wie intellektuell wandeln. Wo einst Heiligtümer an entlegener Stelle mit kostbarsten Bildwerken bereichert wurden, werden heute Teilchenbeschleuniger in Kirchengröße errichtet, deren Konstruktions- und Betriebskosten die Auktionspreise der teuersten Kulturschätze in den Schatten stellen würden (Abb. 2). Zugleich bleiben die Aufzeichnungen dieser Bildreaktoren, die nichts weniger versuchen, als die Gestalt der Welt selbst zu beobachten, einer größeren Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Je weiter die Frage gedacht wird, was denn ein Bild sein soll, welches keine Betrachtung erfährt, umso deutlicher wird, welch großer Bereich von Gegenständen einer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgeht, wenn diese nicht als kulturell geprägte Bilder verstanden werden. Die Herausgeber * Vgl. zur Bildgeschichte der Tunnelmikroskopie Jochen Hennig: Vom Experiment zur Utopie: Bilder in der Nanotechnologie. In: Bildwelten des Wissens, 2,2, 2004, S. 9–18.

Vinzenz Hediger

Entropie des Films. Eine Geschichte des Kinos als Geschichte des Nicht-Sehens Verschwindende Bilder

Wohl von keiner Institution werden mehr betrachterlose Bilder produziert und in Umlauf gebracht als von der Filmindustrie. Wenn eine Einstellung auf eine Leinwand projiziert wird, ist dies schon das Ergebnis einer Auswahl aus einer Vielzahl von Versionen derselben Einstellung. Wenn ein Kinobetreiber einen Vertrag über Aufführungsrechte abschließt, dann tut er dies oftmals ohne den Film gesehen zu haben. Und wenn ein Film ausgespielt ist, verschwinden zahllose Filmkopien ohne Wiederkehr im Archiv oder werden gleich ganz vernichtet. Wenn die Filmgeschichtsschreibung anstatt einzelner Werke auch die Praktiken von Herstellung, Vertrieb und Aufführung berücksichtigt,1 dann stellt sich die Filmbranche durchaus als eine ganze Industrie „betrachterloser“ Bilder dar. Das bedeutet aber auch, dass die Filmgeschichte nicht nur Teil einer Geschichte des Sehens ist. Sie ist ebensogut eine Geschichte des Nicht-Sehens und des NichtWissens. Im Folgenden sollen vier Prolegomena zu einer solchen Geschichte skizziert werden. Das erste betrifft die betrachterlosen Bilder, die bei der Produktion anfallen, sowie ihre Bedeutung für die Geschichte des Films. Das zweite betrifft – den klassischen Kategorien der Betriebswirtschaftslehre folgend – den Vertrieb und die Frage, weshalb es für Kinobetreiber offenbar besser ist, sich die Filme nicht anzusehen, die sie vorführen. Das dritte kreist um das Archiv, insbesondere um die Frage, wie die großen Studios Ende der 1920er Jahre auf die Idee kommen konnten, ausgespielte Filme zu vernichten, anstatt sie aufzubewahren. Das vierte schließlich handelt vom Betrachten der Ausschuss-Bilder, anders gesagt: vom „Verbrauch“, dem dritten Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit neben Produktion und Distribution. Diese Ausschuss-Bilder führen ein Nachleben im director’s cut, im Nachspann, in der Werbung und anderen Randzonen des Films. An der Figur des Zuschauers, der diese Bilder zu sehen bekommt, die eigentlich nicht zu sehen sein sollten, zeigt sich unter anderem, dass die Filmindustrie, durchaus mit Absicht und Methode, ihre eigene Geschichte als Geschichte des Nicht-Sehens und Nicht-Wissens schreibt.



1 Dies ist der Ansatz der sogenannten „new film history“, die in den USA und England seit den 1980er Jahren die filmhistorische Forschung bestimmt. Der französische Historiker Pierre Sorlin vertritt unter anderem die These, dass die Geschichte des Films überhaupt die Geschichte der Zirkulation von Filmbildern sei.Vgl. Pierre Sorlin: Ist es möglich, eine Geschichte des Kinos zu schreiben? In: Montage AV, 5/1, 1996, S. 23–37.

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Vinzenz Hediger

Die Ästhetik des Drehverhältnisses

Dass der Spielfilm um den Preis eines systematischen „Ausschlusses“ zustandekommt, und zwar nicht nur des Ausschlusses von Bildmaterial, ist schon eine zentrale These der kritischen Filmtheorie der 1970er Jahre; sie findet sich auch in der Philosophie jener Zeit, etwa bei Jean-François Lyotard. Während Autoren wie Laura Mulvey oder Jean-Louis Baudry davon sprechen, dass der MainstreamFilm die Blickposition des männlich-patriarchalen Subjekts produziere und perpetuiere und andere mögliche Subjektpositionen damit ausschließe,2 verbindet Lyotard die mathematische Informationstheorie mit der philosophischen Filmästhetik der 1950er Jahre3 und weist – gleichsam näher am Handwerk der Kino-Kommunikation – darauf hin, dass der Film Ergebnis eines Auswahlprozesses sei, in dessen Verlauf viele Bilder aus- und wenige eingeschlossen werden.4 Tatsächlich wird jede Einstellung eines Spielfilms mehrfach gedreht; sieben bis zehn takes oder Aufnahmen sind üblich. Jeder Film verfügt damit über ein sogenanntes „Drehverhältnis“, also einen Wert, der die Relation von gedrehtem zu verwendetem Material wiedergibt. Wenn jede Einstellung sieben Mal gedreht wurde, beträgt das Drehverhältnis demnach 1:7 (vgl. Abb. 1). Das Drehverhältnis hat sich als statistisches Maß für die Begabung der beteiligten Berufsleute etabliert. Bei Schauspielern ist ein hohes Drehverhältnis ein Indikator für Inkompetenz. Rock Hudson und Marilyn Monroe etwa konnten ihre Dialoge nicht behalten und zwangen die Crews zur dutzendfachen Wiederholung der Einstellung. Bei Regisseuren verhält es sich gerade umgekehrt. Ein amerikanischer Regisseur der 1930er Jahre, der den Sprung in den Kanon der großen Autoren des Kinos nicht schaffte, war unter dem Namen William „One shot“ Beaudine bekannt (das Drehverhältnis seiner Filme tendierte gegen eins), und auch Ed



2 Laura Mulvey:Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen 16/3, 1975, S. 6–18. J.-L. Baudry: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (Platons Höhle und das Kino). In: Psyche 48, 1994, S. 1047–1074. 3 Einschlägig ist dabei vor allem die Arbeit Etienne Souriaus über das „filmische Universum“, einer der Begründungstexte der akademischen Filmwissenschaft, den auch Lyotard mehrfach zitiert (Die Struktur der filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. Deutsch von Frank Kessler. In: Montage AV 6/2, 1997, S. 140–157. 4 Jean-Francois Lyotard: Das Anti-Kino [1973]. Abgedruckt in: Dimitri Liebsch (Hg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn, S. 85–99. Bei dem Titel „Anti-Kino“ handelt es sich um eine Fehlübersetzung von „a-cinéma“, das im Sinne der von Lyotard zugrunde gelegten Informationstheorie das „Rauschen“ des Kinos bezeichnet und nicht ein „Anti-Kino“ in einem wie auch immer gelagerten politischen Sinn.

Entropie des Films

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Abb. 1: Klappe für eine Testaufnahme mit Phylis Walker in David O. Selznicks Studio.,1941.

Wood, nach Meinung etlicher Chronisten der schlechteste Regisseur aller Zeiten, wird in der Filmbiografie, die Tim Burton ihm widmet, als jemand charakterisiert, der mit der ersten Einstellung immer gleich zufrieden ist. Am anderen Ende der Skala steht Stanley Kubrick, von dem erzählt wurde, dass er Einstellungen bis zu hundert Mal drehte. Solche Geschichten (und Legenden) suggerieren eine ästhetische Beurteilbarkeit, die sich direkt aus der mathematischen Informationstheorie herzuleiten scheint: Je größer der Ausschuss, je höher die Anzahl der nicht gewählten Optionen und je größer also der Betrag der Information, desto besser ist offenbar der Film und desto bedeutender der Regisseur. Ganz unabhängig davon aber, wie oft eine Szene gedreht wird, findet immer nur eine Einstellung Eingang in den Rohschnitt und damit Zugang zur Leinwand. Auf dem Schneidetisch werden die „besten“ takes – oft auch einfach diejenigen, die am besten zueinander passen – zu Sequenzen montiert. Der Rest sind outtakes, wie es im Englischen heißt, oder „nv“, wie deutschsprachige Schnittmeister sagen, das heißt „nicht verwendet“. Jeder Film kommt demnach nur um den Preis zustande, dass er sich selbst oder andere mögliche Versionen seiner selbst gleich mehrfach überflüssig macht. Das Bild, das ohne den Betrachter bleibt, für den es bestimmt war, ist in der Filmindustrie die Regel – das Bild, das gesehen wird, die Ausnahme.5 Es ließe sich eine quantitative Filmhistoriografie vorstellen, die ein Inventar solcher Drehverhältnisse erarbeitet und mit mathematischer Genauigkeit aufzeigt, um welchen Faktor die Summe des bislang in der Filmgeschichte entsorgten

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Vinzenz Hediger

und vernichteten Bildmaterials diejenige des gezeigten übertrifft,6 vergleichbar den empirischen Auswertungen von Einstellungszahlen und -längen Barry Salts (Abb. 2). Damit läge ein Maß für die Entropie des Films oder für den Gesamtbetrag der filmischen Information vor. Die herkömmliche, werkzentrierte Filmgeschichtsschreibung verfährt jedoch anders. Ihr Gegenstand ist das Bild, das übrig bleibt, unter Ausschluss aller nicht berücksichtigten Alternativen (also unter Nichtberücksichtigung seiner Information). Filmhistoriografie und Filmmontage als Teil der Filmproduktion basieren so gesehen auf vergleichbaren Ausschlussoperationen. „Buying Sight Unseen“

Das Schicksal der Betrachterlosigkeit bleibt auch dem fertigen Film nicht erspart. Seit den 1910er Jahren werden Filme im sogenannten blind bidding- und block booking-Verfahren vermarktet. „Blind bidding“ meint, dass der Verleiher einen Film mehreren miteinander in Konkurrenz stehenden Kinobetreibern anbietet, ohne ihn zu zeigen. Die Abnehmer müssen auf der Grundlage von Informationen über Genre, Besetzung, Regisseur und den ungefähren Umfang des Budgets, die sie entweder vom Verleiher bekommen oder der Branchenpresse entnehmen, ein Gebot für die Aufführungsrechte abgeben,7 wobei das Gebot seit Ende der 1920er Jahre und der Einführung von Verleihverträgen, die den Verleiher am Umsatz der Kinokasse beteiligen, die vorab zu bezahlende Garantiesumme betrifft.8 Es handelt sich außerdem um eine sealed bid auction, bei der die Bieter die anderen Gebote nicht kennen.





5 Eine ähnliche Geschichte könnte man im Übrigen, wenn man im Produktionsprozess noch einen Schritt zurück geht, über die Anzahl der geschriebenen und bis zur Produktionsreife entwickelten Drehbücher in ihrem Verhältnis zur Anzahl der tatsächlich verfilmten erzählen: Von hundert Drehbüchern wird in der amerikanischen Filmindustrie eines verfilmt (in Europa beträgt das Verhältnis nur 7:1). Für einen Kulturökonomen wie Richard Caves macht gerade das Merkmal des unberücksichtigen Überangebots an Input eine Spezifik von Kulturindustrien aus. Vgl. Richard Caves: Creative Industries. Contracts Between Art and Commerce, Cambridge, MA 2000. 6 Die statistische Analyse durchschnittlicher Einstellungslängen sowie Häufigkeit bestimmter Einstellungsgrößen gehört spätestens seit Barry Salt zu den Arbeitsmethoden der Filmgeschichtsschreibung. Mit diesem Verfahren lässt sich auch der Stil einzelner Regisseure statistisch erfassen und grafisch darstellen, wie dies Salt am Beispiel von Max Ophüls vorführt.Vgl. Barry Salt: Film Style & Technology. History & Analysis. London 1983, S. 297–315. 7 Vgl. dazu Marsha A. Blumenthal: Auctions with Constrained Information. Blind Bidding For Motion Pictures. In: The Review of Economics and Statistics, 190/2, 1988, S. 191–198.

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Abb. 2: Barry Salt: Statistische Stilanalyse von Filmen auf der Grundlage von Einstellungszahlen und Einstellungstypen (Big Close Up, Close Up, Medium Close Up usw.).

Der Verleiher kann sich aussuchen, was ihm am besten passt, wobei keineswegs in jedem Fall das höchste Gebot zum Zuge kommt.9 Da die Verleiher am Umsatz beteiligt sind, ist das Gebot des ertragsstärksten Kinos in der Regel das attraktivste, auch wenn es nicht das höchste ist; die höheren Kasseneinnahmen kompensieren die tiefere Garantiesumme. Block booking wiederum ist Paketverkauf: Zugkräftige Filme mit großen Stars werden nur dann abgegeben, wenn der Kinobetreiber sich zugleich verpflichtet, eine Reihe weiterer, weniger attraktiver Filme zu spielen.10 Für das gesamte Paket wird ein Pauschalpreis berechnet; in gleicher Weise läuft auch der Handel mit Fernsehausstrahlungsrechten. Beide Verfahren dienen der Risiko-Minimierung des Verkäufers. Im Fall des blind bidding nutzt der Verleiher eine Asymmetrie der Information zu seinen Gunsten aus. Er kennt den Film, der Käufer nicht, und wie später der Kinobesucher vor der Kinokasse muss der Kinobetreiber den Kaufpreis bezahlen, bevor er sich von der Qualität des Produktes selbst überzeugen konnte.11 Im Fall des block booking nutzt er seine Position, um für mutmaßlich schlechtere Filme einen höheren als

8 Vgl. zu den Gründen für die Einführung dieses Vertragsmodells Andrew F. Hanssen: RevenueSharing in Movie Exhibition and the Arrival of Sound. In: Economic Inquiry 40/3, 2002, S. 380–402. 9 Einen empirischen Nachweis hierfür liefen Darren Filson, David Switzer, Portia Besocke: At the Movies: The Economics of Exhibition Contracts. In: Economic Inquiry 43/2, 2005, S. 354–369. 10 Roy W. Kenney und Benjamin Klein: The Economics of Block Booking. In: Journal of Law and Economics, 26, 3, 1983, S. 497–540. 11 Zum Informationsproblem bei Kulturprodukten aus ökonomischer Sicht vgl. Joëlle Farchy: Die Bedeutung der Information für die Nachfrage nach kulturellen Gütern. In: Vinzenz Hediger, Patrick Vonderau (Hg.): Demnächst in ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung, Marburg 2005, S. 193–211. Andere Autoren wie Richard Caves und Arthur de Vany weisen darauf hin, dass das Problem von Kulturprodukten nicht eines der asymmetrischen Information, sondern eines der „symmetrischen Ignoranz“ sei: Auch die Produzenten, die den Film kennen, können nicht voraussagen, ob er erfolgreich sein wird oder nicht.

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den ihrer Qualität angemessenen Preis zu erzielen. Stets aber wird der Vertrag vom Käufer sight unseen abgeschlossen. Die beschriebenen Verkaufsformen haben sich in den USA durchgesetzt, als die Filmindustrie um 1915 ihre klassische Struktur annahm. Jedes Studio produzierte zwischen fünfzig und hundert Filmen unterschiedlicher Güteklasse pro Jahr; heute sind es noch zwanzig bis dreißig. Unabhängig vom Produktionsvolumen aber verteilt das block booking die Risiken auf die Gesamtproduktion, die erfolgreichen Filme finanzieren die fehlgeschlagenen; blind bidding bevorteilt den Verkäufer ohnehin. Deshalb waren beide Verfahren wiederholt Gegenstand von Gerichtsverfahren und wurden 1940 in den USA zum ersten Mal aus kartellrechtlichen Gründen für illegal erklärt. Die entsprechende Klage ging allerdings vom Kartellamt aus, also von der Regierung, und nicht etwa von Kinobetreibern.12 Bemerkenswert ist nun, dass beide Verfahren regelmäßig wieder aufkommen, obwohl etwa das block booking in den USA nach wie vor illegal ist. Ansätze einer möglichen Erklärung hierfür liefern ökonomische Studien, welche zeigen, dass der Markt nicht effizienter funktioniert, wenn alle Beteiligten über die gleiche Information verfügen, also wenn der Film vorab gezeigt wird und die Gebote öffentlich sind.13 Die Tatsache, dass keineswegs immer das höchste Gebot die Auktion gewinnt, unterstützt diesen Befund. Eine offene Auktion würde nichts daran ändern, dass tendenziell der Betreiber mit dem ertragsstärksten Kino den Zuschlag bekommt. Daraus lässt sich unter anderem folgender Schluss ziehen: Zu den Gegebenheiten der Filmindustrie gehört, dass es für einen Kinobetreiber keine ökonomisch zwingenden Gründe gibt, sich einen Film anzuschauen, dessen Aufführungsrechte er erwirbt. Da die Kinobetreiber kaum juristisch gegen das blind bidding vorgehen, ist davon auszugehen, dass sie das genauso sehen. 12 Zur Rechtsgeschichte des „blind bidding“ vgl. Michael Conant: Anti-Trust in the Motion Picture Industry, Berkeley 1960. Das Verfahren gegen die Filmindustrie benutzte die Roosevelt-Administration, um an einer Industrie, die in der Öffentlichkeit zwar stark wahrgenommen wurde, ökonomisch aber eher von untergeordneter Bedeutung war, ein kartellrechtliches Exempel zu statuieren. Die Filmindustrie zählte nicht zu den fünfzehn größten Industrien der USA. Die Anklageschrift, die zu dem Urteil von 1940 führte, verfasste im übrigen Robert L. Wright, der Sohn von Frank Lloyd Wright. Vgl.: Wright Feels Stake in Trust Principles. In: Motion Picture Herald, Vol. 177, No. 14, 31. Dezember 1949, S. 38. 13 Vgl. Blumenthal 1988 (s. Anm. 7). Ein Grund hierfür mag auch die in Anmerkung 11 erwähnte „symmetrische Ignoranz“ sein.

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Das Filmarchiv als nutzloser Ort und als Ressource

Ähnlich wie die europäische Kunstmusik erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer eigenen (Kunst-)Geschichte kam, sind fast vier Jahrzehnte vergangen, ehe der Film zum historischen Objekt wurde. Zwar erschien ein erster Abriss unter dem Titel Historique du cinématographe aus der Feder von Emile Kress in Paris schon 1912, doch die größeren Filmgeschichten, Terry Ramsayes A 1001 Nights und die Histoire du cinéma von Maurice Bardèche und Robert Brasillach, werden erst 1928 und 1935 publiziert. Das Bewusstsein für eine Geschichte der Kunstform Film reifte möglicherweise zuerst im bürgerlichen Heim, wo reduzierte Fassungen großer Kinofilme im 9,5-mm-Pathé-Baby-Format schon seit 1922 zirkulierten und gesammelt wurden wie die Bände einer Hausbibliothek.14 Entscheidend für das (Kunst-)Geschichtlichwerden des Films aber ist der Übergang zum Tonfilm, und da nicht die Einführung des Tons selbst, sondern die mit dieser einhergehende systematische Vernichtung von Filmbeständen aus Studioarchiven. Die kommerzielle Lebensdauer eines Films betrug vor der Einführung des Fernsehens und der Heimvideo-Technologie zwei Jahre; danach wurde der Film zurückgezogen und alle Kopien vernichtet. Von dauerhaftem Wert war nur das Drehbuch, das nach sieben bis zehn Jahren hervorgeholt und neu verfilmt wurde. Im Übrigen schufen die Filme ein Lagerproblem. Das Material war leicht brennbar und zersetzte sich rasch. Was immer überflüssig schien, wurde entsorgt. Die Einführung des Tonfilms ließ zudem in den Studios die Überzeugung reifen, dass die alten Filme, die ohnehin schon niemand mehr sehen wollte, nun vollends wertlos geworden seien, da niemals jemand wieder einen Film ohne Ton würde sehen wollen. Ausnahmen wie die Filme Chaplins bestätigten die Regel. In der Folge wurden ganze Archive vernichtet, weshalb von den Filmen, die in den USA vor 1928 produziert wurden, weniger als 20 Prozent erhalten sind. Aus der Asche des Studioarchivs aber erstand die Filmsammlung der Kinemathek. In direkter Reaktion auf die Vernichtung der Studioarchive legte Henri Langlois in Paris Ende der 1920er Jahre den Grundstock einer Filmsammlung, aus der die Cinémathèque Française entstand, und auch das Museum of Modern Art in 14 Diese Überlegungen verdanken sich Alexandra Schneider. Zu Pathé Baby siehe Vincent Pinel: Le salon, la chambre d‘enfant et la salle de village: les formats Pathé. In: Jacques Kermabon u. a. (Hg.): Pathé: premier empire du cinéma, Paris 1994, S. 196–217.

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NewYork sammelte aus einer vergleichbaren Motivation seit den frühen 1930er Jahren Filme.15 Ebenfalls in diesen Jahren nahmen das British Film Institute und das Reichsfilmarchiv ihre historische Sammeltätigkeit auf. Gesammelt wurde indes nicht alles, sondern vorwiegend kanonisches und kanonfähiges. Langlois sammelte große Autoren, wenngleich von diesen jeweils alles, einschließlich des Missratenen. Für den Rest reichten schon Platz und Geld nicht. Spätestens in den 1950er Jahren, als sich immer deutlicher abzeichnete, dass Zuschauer bereit waren, auch ältere Filme anzuschauen und dafür sogar zu bezahlen, gelangten die Studios zur Einsicht, dass die Vernichtung der Archive ein Fehler war. Unter den Bedingungen ihrer Zweitauswertung im Fernsehen und in Heimvideoformaten hörten Filme schließlich auf, an Marktwert zu verlieren, wenn sie nicht mehr neu waren. Nun, da Filme auf DVD gekauft und gesammelt und bald auch vollständig heruntergeladen werden können, kennt die kommerzielle Lebensdauer des Films im Prinzip keine Befristung mehr. Gerade das Archiv in seinen unterschiedlichen Formen der Lagerung und Verwertung ist zur zuverlässigsten Einkommensquelle der Industrie geworden.16 Digitale Utopisten wie Chris Anderson haben daraus die Vision einer totalen Sicht- und Verfügbarkeit von Archivbeständen abgeleitet. Nach Anderson würden selbst vergessene Filme und Musikstücke ihr Publikum finden und für ihre Rechteinhaber Profit abwerfen, sobald die derzeit laufende Einrichtung digitaler Vertriebsplattformen erst einmal abgeschlossen ist.17 Eine Studie über Filesharing im Internet zeigt allerdings, dass es dafür keine Evidenz gibt; das Konsumverhalten der Online-User folgt im Wesentlichen den Vorgaben der Marke 15 Vgl. zur Filmsammlung des Museum of Modern Art Haidee Wasson: Museum Movies. The Museum of Modern Art and the Birth of Art Cinema, Berkeley 2005. Das MoMa und die Cinémathèque arbeiteten von Anfang an eng zusammen und gründeten 1938 gemeinsam die FIAF, die Féderation Intérnationale des Archives du Film, die heute noch der Dachverband der Filmarchive ist. Vgl. Henri Langlois: The Cinémathèque Française. In: Hollywood Quarterly, Vol. 2, No. 2, 1947, S. 207. 16 Vgl. dazu Vinzenz Hediger: The Product that Never Dies. Die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films. In: Ralf Adelmann et al. (Hg.): Ökonomien des Medialen, Bielefeld 2006, S. 167–181. 17 Chris Anderson: The Long Tail. In: Wired 10, 2004, S. 170–177. 18 Felix Oberholzer-Gee und Koleman Strumpf: The Effect of File Sharing on Record Sales. An Empirical Analysis, Cambridge, MA 2004/2005. Damit soll umgekehrt keineswegs gesagt sein, dass allein Werbung ausschlaggebend für einen Absatzerfolg ist. Die Studie suggeriert einzig eine Koinzidenz von Marketingkampagnen und Konsumverhalten ; ein kausaler Nexus ist damit nicht behauptet.

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Abb. 3: Ein Bild, das der Regisseur nicht sehen wollte: Harrison Ford auf dem Weg in den Urlaub am Ende von „Blade Runner“ (USA 1982), ein erzwungenes Happy End, das der Regisseur Ridley Scott im „director`s cut“ eliminierte.

tingkampagnen für neue Titel.18 User communities, in denen (film-)historisches Wissen generiert und geteilt wird, bilden sich nur in bedingtem Ausmaß. So sehr das Archiv zur Ressource der Filmindustrie geworden ist, sind es auch hier institutionalisierte Operationen des Ein- und Ausschließens (und nichts anderes ist eine Marketingkampagne), die festlegen, welche Bilder ihre Betrachter finden und welche ohne Betrachter bleiben. Auch die Geschichte der intensiven Bewirtschaftung der Archive bleibt so noch eine Geschichte des Nicht-Sehens und Nicht-Wissens. Vom Sehen des betrachterlosen Bildes

Filmzuschauer kommen heute fast nicht mehr umhin, Bilder zu sehen, die eigentlich nicht zu sehen sein sollten. Zu fast jedem Film, der einen Regisseur hat, dessen Namen nicht ganz unbekannt ist, gibt es mittlerweile einen director’s cut. Es handelt sich dabei um die paradoxe Rekonstruktion eines Originals, das es so nie gegeben hat (vgl. Abb. 3). Der director’s cut ist die Fassung des Films, die der Regisseur veröffentlicht hätte, wenn er nicht durch äußere Umstände daran gehindert worden wäre. Hierzu gehören weniger die Zensoren (denen die US-amerikanischen Produzenten seit den 1920er Jahren geschickt aus dem Weg zu gehen wussten), als vielmehr die Produzenten, die den Regisseur zwingen, potenziell kontroverse Szenen zu eliminieren oder das Werk auf eine vermarktbare Länge zu bringen; Filme, die länger als zwei Stunden dauern, verärgern die Kinobetreiber, weil sie die Zahl der möglichen Vorführung pro Tag senken.

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Die große Anzahl der director’s cuts legt nahe, dass es kaum noch einen Film gibt, dem ein solches Schicksal nicht widerfährt. Als wäre eine Diktatur durch die Filmstudios zuende gegangen, erhebt heute praktisch jeder Regisseur Anspruch auf künstlerische Wiedergutmachung in Form eines director’s cut. Dahinter steht allerdings weniger das schlechte Gewissen oder die späte Reue der Produzenten als vielmehr der Geschäftssinn aller Beteiligten. Der director’s cut ist eine Strategie, einen Film, den es schon einmal gab, noch einmal (fast) neu und (ganz) neu vermarktbar zu machen: Verwertung wird als künstlerische Tat getarnt.19 Damit diese Strategie aber funktioniert, müssen die Zuschauer wissen, dass es einen Fundus von Bildern gibt, der ihnen vorenthalten wird und aus dem der Regisseur für seine Rekonstruktion schöpfen kann. Wäre dem nicht so, und wäre die Filmgeschichte nicht eine Geschichte des Nicht-Sehens und des Bild-Entzugs, dann würde es den director’s cut weder brauchen noch geben. Demnach hat die Industrie selbst ein vitales Interesse daran, ihre Geschichte als Geschichte des Nicht-Sehens und Nicht-Wissens zu schreiben. Erst die Suggestion eines unerschöpflichen Fundus von vergessenen, verlorenen und vorenthaltenen Bildern lässt es plausibel erscheinen, dass immer wieder neue, noch authentischere Originale auftauchen. Und es sind keineswegs nur die Produzenten und Regisseure, welche die Geschichte ihres Bildrecyclings als eine Geschichte der Neuentdeckungen und Wiederbelebungen schreiben und sich damit neue Märkte erschließen. Die Filmhistoriker gehen ihnen mit philologischen Apparaten für die DVD-Edition zur Hand und erhöhen damit den Mehrwert – eine Verwertung wissenschaftlichen Wissens, wie sie sonst nur aus den Natur- und Ingenieurswissenschaften bekannt ist. 19 Mit welcher Systematik diese Strategie verfolgt wird, zeigen auch zwei DVD-Editionen jüngsten Datums: „Superman II – The Richard Donner Cut“ ist eine Fassung eines Sequels zu einem mittelmäßigen Vorgänger, die der Regisseur Richard Donner in dieser Form nie fertigstellen konnte, weil er im Lauf der Produktion ausgetauscht wurde. Auf DVD veröffentlicht werden demnach nicht mehr nur unterdrückte, sondern auch bloß mögliche Fassungen. Die DVD zur Komödie „The Break-up“ wiederum enthält neben dem Happy End das ursprüngliche, unglückliche Ende, das für die Kinofassung ersetzt wurde. Auf Anhieb erscheint dies als künstlerische Wiedergutmachung, die ökonomische Logik dieses Vorgehens ist aber der Kritik nicht entgangen. So rezensiert Diane Garrett: „Maybe touting this material on the disc isn‘t so brave after all. It just gives Universal another marketing hook - and the chance to have the last laugh all over again.“ Vgl. Diane Garrett: Pix have no end in sight. Alternate endings change shape of pic on DVD, auf: www. variety.com [Stand Oktober 2006].

Entropie des Films

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Machen die vormals betrachterlosen Bilder, die der director’s cut endlich zeigt, den Film authentischer, dann gilt dies auch für die outtakes, die bisweilen im Abspann von Filmen vorkommen. Ein Pionier dieser Wiedergänger ist der Hongkong-Actionstar Jackie Chan, der alle seine Stunts selbst bestreitet und die Fehlschnitte misslungener Aktionen einsetzt, um seinen Fans zu beweisen, dass er sich bei den Dreharbeiten auch wirklich persönlich einsetzt, ja verletzen kann. In ähnlicher Weise dienen auch outtakes im Abspann von Hollywood-Komödien einer Authentifizierung. Die Zuschauer werden Zeugen der Fehler der Stars – echter Profis, die gerade durch ihre Missgriffe menschlich nähergebracht werden. Solches Ausschussmaterial, das in der klassischen Hollywood-Ära sorgsam unter Verschluss gehalten wurde, adressiert wiederum zunächst das bürgerliche Heim: Missgeschicke und Fehlleistungen sind wichtige Attraktionen im Familienfilm, und professionellen technischen Standards genügt auch dieser nicht.20 Dafür produziert er wie die outtakes eine besondere Intimität und Familienzugehörigkeit bei den Betrachtern, die sich im Falle von professionellen Ausschussbildern als ein Gefühl der Nähe zu den Stars auf die Betrachter überträgt. Darüber hinaus aber sind die Fehlschnitte auch Parerga im Sinne Derridas: „Weder Werk (ergon) noch Beiwerk (hors d’oeuvre), weder innen noch außen, weder unten noch oben, [bringen sie] alle Gegensätze aus der Fassung, ohne doch unbestimmt zu bleiben und [schaffen] Raum für das Werk.“21 Anders als etwa Vorspann und Abspann22 stellen die outtakes die Abgeschlossenheit des Werkes, für das sie einen Raum schaffen, von Innen heraus in Frage. Sie erinnern an den Informationsgehalt des Bildes, also daran, dass jeder Schnitt ein Ausschlussverfahren und ein Verfahren der Produktion von Ausschuss ist. Solches zu tun, war lange Zeit eine Strategie der Avantgarde. Ein Dokumentarist wie Emile de Antonio stellte seine Filme fast nur aus Ausschussmaterial zusammen, ebenso wie Bruce Conner seine found footage-Arbeiten, während Morgan Fisher ganze Filme damit bestreitet, Stücke von Ausschussmaterial aus den Abfallcontainern von Technicolor einer genaueren Betrachtung zu unterziehen (Abb. 4). Dass sich diese Strategie der Avantgarde auch als industrielle Strategie bewährt, mag ein Indikator dafür sein, in welchem Ausmaß die Industrie dazu übergegan 20 Vgl. dazu Alexandra Schneider: Die Stars sind wir. Heimkino als filmische Praxis, Marburg 2004. 21 Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 94. 22 Vgl. dazu Alexander Böhnke, Rembert Hüser, Georg Stanitzek (Hg.): Das Buch zum Vorspann. The Title is a Shot, Berlin 2006. Darin insbesondere Böhnke, S. 159–181.

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Abb. 4: In den Resten nistet die Kunst – Still aus „Standard Gauge“ (USA 1985), Regie Morgan ­­Fisher: ein Film aus Fundstücken vom Boden des Schneideraums, die einen Raum abwesender Bilder eröffnen.

gen ist, ihre eigene Geschichte als Geschichte des Nicht-Sehens und Nicht-Wissens zu erzählen. Während es sich für den Kinobetreiber nicht einmal lohnt, den fertigen Film anzuschauen, zahlt es sich für die Produzenten offenbar aus, dem Zuschauer die betrachterlosen Bilder des Ausschussmaterials zu zeigen. Womit ein zusätzlicher Anreiz gegeben wird, derartige Bilder weiterhin zu produzieren.

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(Un)verlangt eingesandt. Der ungesehene Tod und sein Weg in die Sichtbarkeit Särge und Fahnen

Am 18. April 2004 wurde der Bilder-Bann gebrochen. Auf der Titelseite der Sonntagsausgabe der Seattle Times, im Layout unmittelbar über dem Mittelfalz der Tageszeitung platziert und damit am Kiosk unübersehbar, prangte ein Foto, das flagrant gegen ein staatlich verhängtes Veröffentlichungsverbot verstieß (Abb. 1). Denn im Februar 1991 hatte das Verteidigungsministerium der USA in einem Memorandum einen ban über alle Bilder verhängt, die während der Rückführung gefallener Mitglieder ihrer Streitkräfte entstehen würden; dieses Bilderverbot wurde nach Eintritt in den Krieg gegen den Irak im März 2003 erneuert. Die Farbfotografie der Seattle Times zeigt, was nach Abb. 1: Seattle Times, 18. April 2004. Ansicht der US-Regierung auch und gerade 14 Jahre nach Erlass dieses Memorandums auf keinen Fall gezeigt werden sollte: etwa 20 Särge, sorgsam verhüllt von der Fahne der Vereinigten Staaten, in Dreiergruppen hintereinander aufgereiht, im Inneren eines Transportflugzeugs. Zur Linken der Särge ist mit Netzen und Gurten befestigtes Frachtgut aufgestapelt, Gestalten in khakifarbenen Overalls beugen sich über die Gehäuse für die Toten, scheinen diese festzuzurren. Wie in einer Tunnelröhre ziehen sich die Reihen der Särge perspektivisch bis in die hinterste Tiefe dieses Raumes. An dessen Ende fällt gleißendes Licht durch eine Öffnung, in der eine menschliche Figur steht, deren Umrisse von der Helligkeit aufgezehrt werden. Kein Foto, das gemeinhin eine sorgfältig komponierte Aufnahme genannt würde: groß im Vordergrund das verwischte Bild eines sich bückenden Mannes, dahinter weitere Figuren beim Befestigen der Särge am Boden des Flugzeuggehäuses. Ihre Bewegungen wirken sämtlich, als hätte die Kamera sie so erfasst, dass jede im konventionellen Sinne signifikante Körperhaltung oder Gestik verfehlt wurde. Offenbar ist das Bild in Eile entstanden, in einem unbeobachteten Moment. Doch die scheinbaren ästhetischen Defizite werden durch ein dominantes, formales wie semantisches Bildelement ausgeglichen, das unmittelbar dem militärischen Protokoll entspringt: Die Aneinanderreihung der mit Fahnen umhüllten Särge staffelt eine Vielzahl identischer Objekte in den Raum, wie eine Kunstinstallation, deren Autor sich um Serialität und Wiederholung bemüht.

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Die Durchmusterung einer technischindustriellen Umgebung – die Röhrenarchitektur eines Transportflugzeugs – mit der weltbekannten Kombination aus Sternen und Streifen in Blau, Weiß und Rot qualifiziert das Bild unweigerlich als visuelles Statement über die Abb. 2: Calendar of the Military Dead, cryptome.org. USA und verbindet sie zugleich mit dem Thema „Tod“, genauer: mit dem Tod von US-Bürgern. Seine grafische Einprägsamkeit führt dabei einen Grad an Ornamentalität und Abstraktion ein, die an statistische Diagramme über die Zahl der Gefallenen, den body count, erinnert (Abb. 2).1 Gerade die Kriege der Bush-Regierung seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind immer wieder mit der Trope des unseen war kommuniziert und diskutiert worden.2 Der ungesehene Krieg – ein kriegsbedingter „way of seeing“3, gekennzeichnet durch Strategien der Tarnung und Verbergung, nicht nur von militärischen ­Operationen, sondern auch von Bildern und Nachrichten – lädt allerdings zu Spekulationen über und zu Projektionen auf das der Sichtbarkeit Entzogene ein. Die Zensur verlangt implizit die Bilder, die sie zurückhält, und schürt ein Begehren, das ihren eigenen Anspruch auf Souveränität in Frage stellt.4 Der an der Schwelle zur öffentlichen Sichtbarkeit entstehende Bilderstau verschafft sich unweigerlich ein Ventil in einem Bildersturm; eine „Eruption ‚unlizenzierter‘ Bilder in den virtuellen Raum der ‚News‘ “, die sich so mit den „Apparaten der Zensur“ verbindet – für Abigail Solomon-Godeau „wirft das inte



1 Vgl. den „Calendar of US Military Dead“ auf der kriegskritischen, medienaktivistischen Website cryptome.org, http://cryptome.quintessenz.at/mirror/mil-dead-iqw.htm [Stand Juli 2006]. 2 Vgl. etwa Michael Massing: Now They Tell Us. The American Press and Iraq, New York 2004, S. 2–24 (Kap. „The Unseen War“); James Rainey: Unseen Pictures, Untold Stories. In: Los Angeles Times, 21. Mai 2005 [Stand Juli 2006]; Gary Kamiya: Iran: The Unseen War. In: Salon.com, 23. August 2005, http://dir.salon.com/story/news/feature/2005/08/23/iraq_gallery/index. html [Stand Juli 2006]. 3 Vgl. das Kapitel „War is a Way of Seeing“ in George H. Roeder: The Censored War. American Visual Experience During World War Two, New Haven/London 1993, S. 81–104. 4 „Eine Regulierung, die sagt, was nicht gesagt werden soll“, schreibt Judith Butler, „widersetzt sich ihrem eigenen Begehren, sie führt einen performativen Widerspruch aus, der die Fähigkeit der Regulierung in Frage stellt, das zu meinen und zu tun, was sie sagt, d.h. ihren Anspruch auf Souveränität“ (Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 185).

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ressante Fragen über das Wesen und die Begriffe transgressiver Bildlichkeit und ihre Beziehung zur Aktualität auf“.5 Die Unkontrollierbarkeit und Eigendynamik visueller Bilder, ihre latenten und manifesten Überschreitungen der Grenzen des Erlaubten und Erwarteten, soll im Bilderverbot stillgestellt werden. Aber im Fall der Sargbilder bedeutet der Fahnenschmuck zugleich, dass eine offizielle Regie dem Tod eine Sichtbarkeit geben will, die den militärischen Ehren genügt. Gerade die Wahrnehmung einer militärisch inszenierten Totenehrung wurde plötzlich zum Politikum, das zu einer unkontrollierten „Eruption“ führte. Geschichten der Sichtbarmachung

Die E-Mail, an der das Jpeg des Fotos angehängt war, welches die Seattle Times am 18. April 2004 veröffentlichte, trug den knappen Nachrichtenkopf: „Today it was 22“, heute waren es 22.6 Abgesandt wurde die E-Mail am Morgen des 8. April 2004 von einem Laptop in einem Appartement in Kuwait. Tami Silicio, eine 50-jährige Angestellte von Maytag Aircraft, einem Fracht- und Logistikunternehmen, das für die US-amerikanischen Streitkräfte arbeitet, hatte eine 12-Stunden-Schicht am Kuwait International Airport hinter sich, während der sie beim Verladen der Särge zugegen war. Es war eine Woche der Schlachten um Falluja, nicht zuletzt ausgelöst durch die Videobilder von vier ermordeten US-amerikanischen Mitarbeitern einer „security company“, deren Leichen Ende März 2004 in Anwesenheit von Fernsehteams durch die Stadt geschleift, zerteilt und an einer Brücke aufgeknüpft worden waren. Die Szenen erinnerten die Öffentlichkeit an die Bilder jenes toten US-Marines, der im Jahr 2003 durch Mogadischu geschleift wurde, die letztlich zum Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Somalia führten.7 Durch die Ereignisse in Falluja war das Bild der Toten im Irak plötzlich drastisch präsent. Die spektakuläre Visualität des Todes im April 2004 ging mit Meldungen einher, wonach über hundert der an den Kampfhandlungen beteiligten Amerikaner gestorben sein sollten. Zwangsläufig



5 Abigail Solomon-Godeau: Remote Control. Dispatches from the Image Wars. In: Artforum International, Bd. 42, Nr. 10, Sommer 2004, S. 61, 64, hier: 61. 6 Vgl. Hal Bernton, Ray Riviera: How Two Women, One Photo Stirred National Debate. In: The Seattle Times, 26. April 2004. 7 Vgl. Cori Elizabeth Dauber: The Shot Seen ’Round the World: The Impact of the Images of Mogadishu on American Military Operations. In: Rhetoric & Public Affairs, Bd. 4, Nr. 4,Winter 2001, S. 653–687.

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warf diese Koinzidenz ein dramatisches Licht auf das (ungesehene) Bild des toten Soldaten, des „soldier dead“8. Nachdem Silicio am 7. April die Gebete und militärischen Ehrenbezeugungen auf dem Rollfeld mitangesehen hatte, bestieg sie das wartendeTransportflugzeug, das später nach Deutschland abfliegen sollte, und machte – ohne Presseauftrag – mit einer Nikon-„Coolpix“-3.2-Mega-Pixel-Digitalkamera zwei Aufnahmen von den Verladearbeiten. Empfänger ihrer Bildbotschaft war Amy Katz, eine Kommunikationswissenschaftlerin, Therapeutin und Aktivistin, die Silicio 1999 im Kosovo kennengelernt hatte, als beide für die Firma Halliburton arbeiteten. Katz und Silicio teilten ein Interesse für Fotografie, aber auch an feministischen und arbeitsrechtlichen Fragen. Beide kündigten bei Halliburton im Herbst 1999 und klagten vor Gericht – Silicio wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, Katz wegen einer diskriminierenden und feindseligen Arbeitsatmosphäre. Die Fälle erreichten im US-Wahlkampf von 2000 kurz eine größere Öffentlichkeit, als Cheneys Verbindung zu Halliburton in der Presse diskutiert wurde. Obwohl Katz ihren Prozess gewinnen konnte, während Silicio ihren kostspieligen Fall verlor, blieben die Frauen befreundet. Amy Katz leitete das Foto Silicios nach Erhalt an die Seattle Times weiter. Zuvor hatte sie mit Bildredakteur Barry Fitzsimmons telefoniert, der berichtete, er habe nach Erhalt der Bilddatei sofort gewusst, was ihm dort angeboten worden war: „Das Bild war etwas, zu dem wir als Medien keinen Zugang hatten. Sein hoher Nachrichtenwert war unbestreitbar, ebenso seine Exklusivität.“9 Fitzsimmons beschloss dennoch, die Angelegenheit mit Bedacht zu behandeln, zumal er fand, dass die beiden Frauen, die ihm gegenüber „so naiv und unschuldig“ auftraten, über mögliche Konsequenzen einer Veröffentlichung dieses Fotos aufgeklärt werden müssten. Schnell zeichnete sich ab, dass die Zeitung und vor allem die beiden Frauen ein hohes Risiko eingingen, würden sie sich dem Bilderverbot der Regierung widersetzen. In den knapp zehn Tagen, die bis zur Veröffentlichung in der Sonntagsausgabe vom 18. April verstreichen sollten, wurde das Foto von der Zeitung mit allergrößter Geheimhaltung behandelt,

8 Vgl. den Titel von Michael Sledge: Soldier Dead. How We Recover, Identify, Bury, and Honor Our Military Fallen, New York 2005. 9 „The picture was something we didn’t have access to as the media, and it was undeniably news­ worthy and exclusive“ (zit. n. Kenny Irby: Women Responsible for Coffin Image Reunite. In: Poynter Online, 1. Mai 2004, http://www.poynter.org/content/content_view.asp?id=64967 [Stand Juli 2006]).

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nicht einmal ins redaktionelle Intranet wurde es eingestellt. Tami Silicio zögerte tagelang, ihren Namen im Kontext der Veröffentlichung überhaupt nennen zu lassen, doch war sie am Ende die erklärte Hauptfigur der sorgfältigen Inszenierung dieses ­journalistischen Scoops. Was diese Affäre zum Skandal machte, war die abrupte Enthüllung jener militärisch-visuellen Sphäre, die den Blicken der US-amerikanischen und damit auch der globalen Öffentlichkeit bis dahin entzogen gewesen war. Gleich unter der Schlagzeile „Die düstere Aufgabe, die Gefallenen zu ehren“ zitiert die Seattle Times in der Unterüberschrift die Amateurfotografin mit den Worten: „Alle salutieren mit solchem Gefühl, solcher Intensität, solchem Respekt … in diesem Monat haben wir sie bisher fast jede Nacht nach Hause geschickt.“10 Der einführende Artikel des Redakteurs Hal Bernton zielte darauf ab, die guten, das heißt patriotischen Absichten der Fotografin und der Zeitung herauszukehren. Silicio wird mit jenen emotional bewegten Eindrücken und Aussagen wiedergegeben, die sie auch im weiteren Verlauf dieser Bild-Affäre, in Interviews oder auf ihrer Homepage, in kaum variierter Form vertreten sollte.11 Die Familien der Gefallenen wären stolz, wüssten sie, mit welcher Fürsorglichkeit und Ehrenbezeugung ihren Angehörigen das letzte Geleit gegeben wird. Diese Argumentationsstrategie schien angezeigt, denn das offizielle Hauptargument des Pentagon und der Bush-Regierung war stets, dass den Angehörigen das medialisierte und damit unkontrollierte Bild der Gefallenen nicht zugemutet werden könne.12 Und so wird die Verletzung der militärischen Bildzensur zur Überzeugungstat einer Frau und Mutter, die zudem selbst bereits einen Sohn durch Krankheit verloren hatte. Darüber hinaus verwendet sich Silicio für ihre Kollegen hinter 10 Vgl. Hal Bernton: The Somber Task of Honoring the Fallen. In: The Seattle Times, 18. April 2004, S. A1. Übersetzung TH. 11 Vgl. z. B. Tami Silicio’s Official Website, http://www.tamisilicio.net/ [Stand Juli 2006]. 12 „[...] we don’t want the remains of our service members who have made the ultimate sacrifice to be the subject of any kind of attention that is unwarrented or undignified“ (Deputy Under Secretary of Defense [John] Molino Briefing on Remains Transfer Policy, United States Department of Defense, 22. April 2004, http://www.defenselink.mil/transcripts/2004/tr20040422-0648. html [Stand Juli 2006]); vgl. auch das Pressegespräch mit Bush-Mitarbeiter Trent Duffy an Bord der Air Force One, 23. April 2004: Duffy: „In all of this, we must pay attention to the privacy and to the sensitivity of the families of the fallen. And that’s what the policy is based on and that has to be the utmost concern“ (http://www.whitehouse.gov./news/releases/2004/04/2004 0423-6.html#3 [Stand Juli 2006]).

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der Front. Mit größtem Verantwortungsgefühl würden diese die Motive für jene Bilder schaffen, die das Pentagon der Öffentlichkeit und damit auch den Familien der Toten vorenthält. Gerade weil die Redaktion der Seattle Times davon überzeugt war, dass es sich bei Silicios Schnappschuss um „a very p­ owerful image“ handelte, „too powerful an image just to drop into the newspaper“,13 erschien ihr seine diskursive Einrahmung dringend geboten. „Es ist ein Foto, das einen Kontext braucht“, sagte der Nachrichtenredakteur Leon Espinoza. „Das Foto muss im Kontext der dahinter liegenden Story gesehen werden, einer Story, die das Bild – so stark es auch sein mag – nur teilweise erzählt. Einfach ausgedrückt: Wir müssen das ganze Bild [the whole picture] zeigen, und die Story richtig zu erzählen, gewährleistet genau dies.“14 Aber was ist die Story? Kampf um die Bilder der Toten

Kurz nach der Veröffentlichung der Seattle Times wurden plötzlich Hunderte von ähnlichen Bildern, das heißt Fotografien, die Särge mit der US-Fahne zeigen, öffentlich gemacht. Am 21. April stellte die Website „The Memory Hole“, deren Motto „Rescuing Knowledge, Freeing Information“ ist, hunderte solcher Aufnahmen ins World Wide Web. Die Bilder waren überwiegend auf dem Luftwaffenstützpunkt Dover im Bundesstaat Delaware entstanden. Dort befindet sich die größte Leichenhalle des US-amerikanischen Militärs, hierhin werden die Überreste aller im Krieg Gefallenen gebracht, vor ihrem Weitertransport zu den Friedhöfen des Landes. Der Betreiber der „Memory Hole“-Seite, der Gegeninformationsaktivist Russ Kick, hatte im November 2003 bei der US Air Force in Dover eine Anfrage im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes, des Freedom of Information Act (FOIA), eingereicht, um Bilder von den Ehrengardenritualen in Dover seit Kriegseintritt im Februar 2003 zu erhalten. Das Gesuch wurde zunächst abschlägig beschieden, aber nach einem erneuten Anlauf stellte die Air Force unerwartet über 361 Aufnahmen auf einer per Post zugesandten CD zur Verfügung. Beamte des Air-Mobility-Command-­Hauptquartiers auf der Scott Air Force Base in Illinois hatten die Herausgabe einer CD mit Bilddateien autorisiert. Allerdings währte diese Öffentlichkeit der Bilder nur kurz. Nachdem das Foto von Tami Silicio 13 Leon Espinoza, Nachrichten-Redakteur der Seattle Times, und Bildredakteur Barry Fitzsimmons, zit. n. Mike Fancher: Powerful Photograph Offered Chance to Tell an Important Story. In: The Seattle Times, 18. April 2004. 14 Zit n. Fancher (s. Anm. 13), Übersetzung TH.

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publiziert worden war, erwirkte das Verteidigungsministerium, dass die betreffende Seite auf „The Memory Hole“ vom Netz genommen wurde. Es habe sich um einen Verwaltungsfehler gehandelt. Am 22. April musste die Seite abgeschaltet werden, das Pentagon verlangte die Fotos von Russ Kick zurück. Am 23. April 2004 erschien daraufhin, unter anderem auf den Titelseiten des Boston Globe (Abb. 3) und der Washington Post, ein Foto aus der Serie, die das Pentagon der gerade geschlossenen Seite auf www.thememoryhole.org zur Verfügung gestellt hatte. Sie trugen den Copyright-Vermerk „Department of the Air Force Photo“ (Boston Globe) beziehungsweise „US Air Force via www. thememoryhole.org“ (Washington Post). Die zum Bild gelieferte Schlagzeile in der Washington Post Abb. 3: Boston Globe, 23. April 2004. lautete: „A Rare Look at Returning Coffins“. Mit dem Hinweis auf die Seltenheit des Blicks, die Ausnahme von der Regel der ­Blickverhinderung, war eine zensurkritische Haltung der Zeitung bereits angedeutet. Der dazugehörige Artikel handelt nicht nur von diesem Fall und dem Verbot der Verbreitung von Sargbildern, sondern auch von der zwei Tage zuvor vollzogenen Entlassung von Tami Silicio und ihrem Ehemann, der ebenfalls bei dem Logistikunternehmen Maytag in Kuwait beschäftigt war15 – eine Koinzidenz der Ereignisse, die zum Hauptthema der Abendnachrichten von ABC und NBC wurde.16 Das Unternehmen hatte die beiden Mitarbeiter zunächst verwarnt, ihnen dann aber auf Weisung des Pentagon gekündigt. Am gleichen Tag erschien Tami Silicios Aufnahme noch einmal auf der Titelseite einer Tageszeitung, diesmal der Chicago Sun Times (Abb. 4). Nachrichtlicher Vorwand war die Demission der Fotografin („This Picture Cost the Photographer Her Job“), wobei am Rande eine interessante Information wartete, denn in der Copyright-Zeile stand nun 15 Blaine Harden, Dana Milbank: Photos of Soldiers’ Coffins Revive Controversy. In: The Washington Post, 23. April 2004, S. A 10. 16 Vgl. Rachel Smolkin: Photos of the Fallen:The Controversy over Coffin Photos Illustrates News Organizations’ Frustrations with Depicting Death in the Iraq War. In: American Journalism Review, Bd. 26, Nr. 3, Juni-Juli 2004, S. 14–15, S. 15.

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mehr: „Tami Silicio/Zuma Press“. Das Foto war von Amy Katz im Namen von Silicio an eine Presseagentur verkauft worden. Diese wiederum sollte kurz darauf der Website von Russ Kick untersagen, das Foto von Tami Silicio unentgeltlich zu veröffentlichen. So stellte sich diese Bildersituation zwischen Zensur und Kommerzialisierung, zwischen Aufklärung und Verhüllung Ende April 2004 reichlich verfahren dar. Das Foto, das den Bilderbann des Pentagon gebrochen hatte, wurde seinerseits zur Bilder-Ware, die nicht Abb. 4: Chicago Sun Times, 23. April 2004. mehr frei zirkulieren konnte; während die Bilder, die das Verteidigungsministerium beziehungsweise die Air-Force-Stützpunkte produzieren ließen, aus der kurzfristig möglich gewordenen Zirkulation wieder herausgenommen wurden. Die vergleichende Betrachtung der Titelseiten des Boston Globe und der Chicago Sun Times vom 23. April 2004 lenkt den Blick sowohl auf die private, auftraglose Bildproduktion der Augenzeugin eines Geschehens, das ihr aufgrund seiner Feierlichkeit und wohl auch seiner visuell-ästhetischen Qualitäten dokumentierenswert erschien, wie auf das Foto aus der Serie, die Russ Kick zur Verfügung gestellt worden war. Letzteres ist das Werk eines vom Militär beauftragten Fotografen, der routinemäßig die Vorgänge auf der Air Base in Dover für die interne Militärgeschichtsschreibung aufzeichnete. Beide Bilder zeigen vermeintlich das Gleiche und – von geringen formalen Unterschieden abgesehen – tun dies auch mit den gleichen bildnerischen Mitteln. Doch sollte sich zum einen bald herausstellen, dass die Aufnahme, die der Boston Globe, die Washington Post, Reuters, AP und auch CNN verbreiteten, gar nicht die Rückkehr von im Irak gefallenen Soldaten zeigt, sondern die Särge der Opfer der am 1. ­Februar 2003 verunglückten Raumfähre Columbia;17 zum anderen gehören beide strikt getrennten politischen Bildsphären an: Während Silicios Aufnahme keine offizielle Legitimation besaß, aber dafür wegen der Geheimhaltungspolitik des Militärs einen hohen 17 Darauf hat am 24. April die New York Times aufmerksam gemacht: Thom Shanker, Bill Carter: Photos of Soldiers’ Coffins Spark a Debate Over Access. In:The NewYork Times, 24. April 2004, S. A 14.

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Nachrichtenwert und eine große Öffentlichkeit, waren die im Auftrag gemachten Bilder legal, aber ohne Publikum – ihre Bestimmung war der sofortige und ausschließliche Aufenthalt im digitalen Bildarchiv. Eine Konkurrenz 5: Website des sogenannten „National Security zwischen Fotografen, die zum Militär gehö- Abb. Archive“[Stand Juli 2006 ]. ren, und solchen, die keine Militärangehörigen sind, ist damit greifbar, wie sie seit langem die Zugänge und Bedingungen der Bildproduktion an der Front bestimmt.18 Dass die Mauern des militärischen Bildarchivs jedoch sehr durchlässig sein können, musste das US-Militär spätestens nach dem Öffentlichwerden der ersten Folterbilder aus Abu Ghraib am 28. April 2004 (im CBS-Nachrichtenmagazin 60 Minutes) feststellen, die eine kaum enden wollende Öffnung der militärischen Bildmagazine nach sich zog und zudem die neue Macht des Internets und der Blogs unter Beweis stellte.19 Auch die Sargbilder waren, wie sich herausstellen sollte, trotz des ­Verbots ihrer Publikation und der Entlassung von Tami Silicio im April 2004 nicht länger blicksicher im Archiv aufzubewahren. Ralph J. Begleiter, Dozent für Journalistik und Politik an der Universität von Delaware, begann am 4. Oktober 2004 einen Prozess mit dem Verteidigungsministerium und der für die Dover-Fotos zuständigen Luftstreitkräfte-Abteilung – mit Erfolg. Denn zumindest erhielt Begleiter zwischen Herbst 2004 und Frühjahr 2005 eine Reihe von CD-Roms mit einigen hundert Fotografien von Särgen, ihrem Transport und ihrer zeremoniellen Begleitung aus den Beständen des Verteidigungsministeriums. Freilich, ein Großteil dieser Bilder erreichte ihn „redigiert“ (redacted). Über die Gesichter der eskortierenden Soldaten und Mitarbeiter des Militärs hatte die Militärzensur schwarze Flächen gelegt. Auch weigerte sich das ­ Verteidigungsministerium etwaige Videoaufnahmen herauszugeben, obwohl Begleiter darauf in seinen verschiedenen FOIA-Eingaben immer wieder gedrängt hatte. Einige dieser Fotografien sind seither auf der in Kooperation mit Begleiter erstellten Website des „National Security Archive“ zu sehen, einer irri 18 Vgl. Roeder (s. Anm. 3), S. 91f. zum Verhältnis zwischen Signal Corps und Yank-Magazine-Mitarbeitern und Vertretern der zivilen Presse im Zweiten Weltkrieg. 19 Vgl. Daniel W. Drezner, Henry Farrell: The Power and Politics of Blogs, American Political Science Association, August 2004, http://www.utsc.utoronto.ca/~farrell/blogpaperfinal.pdf [Stand Juli 2006].

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tierend offiziös aufgemachten Seite, die auch den Hergang der Sargbilder-Affäre chronologisch aufbereitet (Abb. 5).20 Die im World Wide Web als PDF-Dateien verfügbare, faksimilierte juristische Korrespondenz ist ein höchst aufschlussreiches Dokument. Denn Begleiter entwickelt seine FOIA-Eingabe vor dem Hintergrund einer geschichtlichen Herleitung der aktuellen Zensursituation. Gleich zu Beginn seines ersten Schreibens macht er auf den Widerspruch aufmerksam, der zwischen der traditionell hohen öffentlichen Sichtbarkeit von Trauer- und Begräbniszeremonien für gefallene Soldaten und der Regelung, solche Bilder zu unterdrücken, besteht.21 Ein im kollektiven Gedächtnis und vor allem durch die fotojournalistische, filmische und später televisuelle Berichterstattung über den Zweiten Weltkrieg und den Krieg in Vietnam verankertes Motiv „fehlte“ auf eklatante Weise, seitdem das Pentagon auf Weisung von Präsident George Bush sen. 1991 das Verbot der Bilder des militärischen Sargzeremoniells verhängt hatte.22 Begleiter weist darauf hin, dass die Bilder von heimkehrenden Särgen seit Vietnam eine Probe auf die Unterstützung der Regierung durch die Bevölkerung im Kriegsfall sind. Das Wort vom „Dover Test“ hatte längst die Runde gemacht, bevor General Henry Shelton es am 19. Januar 2000 in einer Rede in Harvard erstmals vor Publikum benutzte, um die Wirkung von Sargbildern auf die öffentliche Meinung zu beschreiben. Die Regierungen Bush Vater und Sohn verweigerten diesen Test, indem sie sich strikt an den Wortlaut des besagten Pentagon-Memorandums vom ­­6. Februar 1991 hielten: „Media coverage of the arrival of the remains at the port of entry or at interim stops will not be permitted.“23 So blendeten die Bushs das Motiv aus der nationalen Ikonografie aus. Sie beug 20 Vgl. Return of the Fallen. Pentagon Releases Hundreds More War Casualty Homecoming Images; Freedom of Information Act Forces Opening of 360 New Photos; Confirms War Casualty Honor Ceremony Images Belong in Public. In: National Security Archive, Electronic Briefing Book No. 152, 28. April 2005, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB152/index.htm [Stand Juli 2006]. 21 Ralph Begleiter vs. Department of Defense, and Department of the Air Force: Complaint for Injunctive and Declaratory Relief. United States District Court for the District of Columbia, 4. Oktober 2004, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB136/complaint.pdf [Stand Juli 2006]. 22 George Bush sen. hatte sich maßlos geärgert, als er am 21. Dezember 1989, einen Tag nach der Invasion des US-Militärs in Panama, in Nachrichtensendungen auf ABC, CBS und CNN scherzend eine Pressekonferenz gab, während gleichzeitig, ohne sein Wissen, in einem anderen Bildfenster die Ankunft der ersten US-amerikanischen Toten der Panama-Kampagne auf der Dover Airbase gezeigt wurde.

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ten sich damit auch dem sogenannten casualty-aversion myth (oder „myth of the reactive public“), demzufolge die Bevölkerung auf Nachrichten und Bilder von Verlusten unter den eigenen Truppen immer auch mit dem Entzug an Unterstützung für die Krieg führende US-Regierung reagiert.24 Die Tendenz, im Krieg auf Vereindeutigung zu setzen, und jede Ambiguität oder Widersprüchlichkeit der Situation zu leugnen, führt aber unter Bedingungen einer global vernetzten Medienöffentlichkeit früher oder später zu einer Steigerung der kognitiven Dissonanzen. Nicht zuletzt das Verhalten von Privatpersonen wie Tami Silicio oder von Medienaktivisten wie Russ Kick löst die Krise der institutionellen Bildkon­ trolle aus und bringt das „imperiale Management der Präsentation des Todes zum Straucheln“.25 Das US-Verteidigungsministerium stellte nach der ersten Freedom-of-Information-Act-Eingabe im Frühjahr 2004 sämtliche Fotoaktivitäten auf der Air Base von Dover, Delaware ein. Aus diesem Archiv waren keine aktuellen Bilder mehr zu erwarten. Die neue Publizität der verborgenen Bildwelten des US-Militärs fand ihren Niederschlag dafür an unterschiedlichen Orten außerhalb der militärischen Institutionen. Auf einmal war die Bild-Geschichte der Begräbniszeremonien allgegenwärtig. Im Juni 2006 gab es erste Nachrichten über die P­ roduktion des Spielfilms Grace Is Gone, der von dem Mann einer im Irak gefallen ­Soldatin handeln soll und davon, „what happens when the coffins come home“ (­Hauptdarsteller John Cusack).26 Kriegsgegner legten sich am 14. Juni 2006 zwischen symbolische, mit der US-Fahne umhüllte Särge vor das Weiße Haus in Washington, ein offenkundiges Zitat der lange unterdrückten Sargbilder 23 Department of Defense Mem. Re Public Affairs Guidance – Operation Desert Storm Casualty and Mortuary Affairs, 6. Februar 1991; die Clinton-Regierung hob diesen Bann zwar nicht auf, sie ließ aber bei verschiedenen Gelegenheiten wie dem Staatsbegräbnis für Regierungsmitarbeiter, die 1996 in Kroatien bei einem Flugzeugunglück starben, oder den Rückkehr-Zeremonien für die US-amerikanischen Opfer der Anschläge auf die Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998 Nachrichtenbilder mit Fahnen umhüllten Särgen zu. 24 Vgl. Steven Kull, Clay Ramsay: The Myth of the Reactive Public. American Public Attitudes on Military Fatalities in the Post-Cold War Period. In: Philip Everts, Pierangelo Isernia (Hg.): Public Opinion and the International Use of Force, New York/London 2001, S. 205–228; Richard A. Lacquement: The Casualty-Aversion Myth. In: Naval War College Review, Bd. 57, Nr. 1, Winter 2004, S. 39–57. 25 Michael L. Budde: Formations and the Custodians of Death. In: Liturgy, Bd. 20, Nr. 1, 2005, S. 53–59, hier: 55. Übersetzung TH. 26 Zit. n. Tara Burghart: New John Cusack Film Grew From Iraq Grief, Associated Press, z.B. http://www.santacruzlive.com/ex/content/view/5195/104/ [Stand Juli 2006].

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Tom Holert

­­ (Abb. 6). Und im World Wide Web wurden slideshows mit historischem Bildmaterial eingerichtet, so als müsste sich die Öffentlichkeit mit Hilfe von Bilderserien von der Wirklichkeit der Abb. 6: Protestaktion von Gegnern des Irak-Krieges, Juni 2006, im Internet publiziertes Agenturfoto. Sargreihen überzeugen.27 Anfang 2006 gewann ein Foto den Pulitzerpreis für Feature Photography und den Preis als bestes Pressefoto des Wettbewerbs World Press Photo, das nicht nur die logistische und zeremonielle Betreuung des Sarges eines gefallenen US-Soldaten zeigt, sondern überdies ebenfalls einer Bilderstrecke entstammte (Abb. 7 zeigt diese Aufnahme, wie sie 2006 von der Stiftung World Press Photo publiziert worden ist.). Der Fotograf Todd Heisler hat die Rückführung des SarAbb. 7: Todd Heisler: Reno, NA, August 2006. ges von James Cathay, der im August 2005 im Irak gefallen war, in einer Bilderstrecke für die Rocky Mountain News dokumentiert. Die siegreiche Farbaufnahme zeigt, wie eine Ehrengarde von US-Marines im Laderaum eines Passagierflugzeugs auf dem Flughafen von Reno, Nevada, den Sarg des gefallenen Soldaten mit der US-Flagge verhüllt. Das Foto ist allerdings nicht, wie Tami Silicios Schnappschuss, im Inneren, sondern außerhalb eines Flugzeugs entstanden. In der erleuchteten Luke lassen sich die Vorbereitungen zur Ausladung des Sarges erkennen. Währenddessen blicken darüber die Passagiere durch die Fenster der Kabine hinaus – so als würden sie nicht nur die Familie des Toten auf dem Rollfeld betrachten, sondern zugleich allegorisch die Rolle der Öffentlichkeit unter den interagierenden Blickregimen von Zensur und Zensurkritik einnehmen. 27 Salon.com legte im April 2005 eine solche Bildergalerie an (s. Anm. 2), die u.a. von Spiegel Online („Pentagon zeigt erstmals Fotos von Soldatensärgen“, 29. April 2005, http:/www. spiegel.de/politik/ausland/0,1518,353974,00.html [Stand 7/2006]) und Stern.de („USA geben Sarg-Fotos frei“, 29. April 2005, http://www.stern.de/politik/ausland/539765. html?eid=505270 [Stand 7/2006]) übernommen wurde.

Peter Geimer

Gegensichtbarkeiten Die Räume der Betrachter

Wo gäbe es Bilder ohne Betrachter? Ist der Betrachter – nach den Worten eines bekannten Buchtitels – nicht immer schon im Bild? „Jedes Kunstwerk ist adressiert, es entwirft seinen Betrachter [...]“, so lautet die Grundannahme der Rezeptionsästhetik.1 Dieser implizite Betrachter muss allerdings nicht derselbe sein, der sich früher oder später tatsächlich vor der Leinwand einfindet.Vielleicht findet ein Bild seinen Betrachter nie oder nicht unter den richtigen Umständen. In der Regel mangelt es wohl schon an der anhaltenden Aufmerksamkeit, die der Betrachter den Bildern, zumindest nach Ansicht der meisten Kunsthistoriker, entgegenbringen müsste. Auch in der Geschichte der neuzeitlichen Kunsttheorie und Ästhetik ist die zeitliche Dauer, die jemand vor einem Bild verbringen soll, häufig thematisiert und eingefordert worden. Die Werke, so schrieb etwa Lessing, seien „gemacht, nicht bloß erblickt“, sondern „lange und wiederhohltermaassen betrachtet zu werden“.2 Man dürfe sie, so heißt es einige Jahrzehnte später in den romantisch hochgestimmten Herzensergießungen Wilhelm Heinrich Wackenroders, nicht „im Vorübergehen“ beurteilen, sondern müsse sie einer „langen, unverwandten Betrachtung“ unterziehen, die in einzelnen, besonders einzigartigen Fällen so beschaffen sein könne, „daß ein sterbliches Wesen sein ganzes Leben hindurch an einem einzelnen zu schauen und zu begreifen hat“.3 Theoretiker, die das Betrachten von Kunst als ein geistiges Nachschaffen der Werke betrachten, haben dieser Dauer und Intensität der Betrachtung besondere Aufmerksamkeit geschenkt und versucht, die Erfahrung der „wahren Gegenwart“ der Werke von einer „korruptiblen Zeit“ oder „Scheinzeit“ zu unterscheiden, die man uninspiriert, gelangweilt oder bloß neugierig vor den Bildern verbringt.4





1 Wolfgang Kemp: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. In: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, hg. v. Wolfgang Kemp, Köln 1985, S. 7–27, S. 22. Die gegenteilige Ansicht vertritt Stefan Heidenreich: Der Betrachter ist NICHT im Bild, http://www.iconicturn.de/iconicturn/home: „Die Rezeptionsästhetik hat mit der Figur des Betrachters eine wissenschaftliche Fiktion hervorgebracht.“ Diese Fiktion trage nicht dazu bei, „Bilder besser zu verstehen“. 2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. In: Ders.: Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, Stuttgart/Leipzig/Berlin 1893 Band 9, S. 16. 3 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Wie und auf welche Weise man die Werke der großen Künstler der Erde eigentlich betrachten und zum Wohl seiner Seele gebrauchen müsse. In: Ders.: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Stuttgart 1997, S. 71–75, S. 71–72. 4 Hans Sedlmayr: Das Problem der Zeit. In: Ders.: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Mittenwald 1978, S. 164–180, S. 167 u. 169.

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„Warten und Verweilen werden zu Kategorien für die Rezeption bildender Kunst [...]“.5 Aber wann, wie lange und wie oft steht jemand vor einem Tafelgemälde, einer Fotografie? Oder umgekehrt: Wann, wie lange und wie oft bleiben die Bilder unter sich, ohne Betrachter und von allen Blicken verlassen? Rein quantitativ überwiegen vermutlich die Zeiten der Nicht-Beachtung. Auch und gerade in den Räumen mit ausdrücklicher Betrachtungsfunktion – im Museum – sind die Meisterwerke der Kunstgeschichte weitgehend unter sich. Sobald die Pforten schließen und das Licht gelöscht wird, herrscht erhabene Verschwiegenheit in den Räumen der Betrachtung: Judith hält das Haupt des Holofernes in die Höhe, aber niemand schaut ihr zu, ein Blumenstillleben existiert nur für sich selbst und die Jünger des letzten Abendmahls schauen unverwandt in die Dunkelheit der Museumsräume hinein. Ein Betrachter würde diese stumme Versammlung ungesehener Meisterwerke vermutlich nur stören. Aber auch wenn am nächsten Morgen die Türen wieder geöffnet, die Lichter eingeschaltet und die Säle von neuem bevölkert werden, bleiben zahlreiche Möglichkeiten, die Bilder nicht zu sehen. Ausgerechnet das beflissene Kunststudium verleitet die Museumsbesucher zur Nichtbetrachtung der Bilder: „Die Deutschen schauen im Kunsthistorischen Museum die ganze Zeit in den Katalog, während sie durch die Säle gehen, und kaum auf die an den Wänden hängenden Originale, sie folgen dem Katalog und kriechen, während sie durch das Museum gehen, immer tiefer in den Katalog hinein, so lange, bis sie auf der letzten Katalogseite angelangt und also wieder aus dem Museum draußen sind.“6 Zu Vernissagen gehen die Besucher in der Regel nicht, um die ausgestellten Werke zu sehen – dazu ist es ohnehin zu voll –, sondern um Freunde und Bekannte zu treffen. Großausstellungen wie die Präsentation des Museum of Modern Art in Berlin 2004 rechnen nicht eigentlich mit Betrachtern, sondern eher mit Augenzeugen, die in den überfüllten Sälen einen kurzen, bestätigenden Blick auf die versammelten Werke werfen. Eine sonderbare Diskrepanz tut sich auf zwischen der Dauer der Anreise, den Stunden, die man stehend (teilweise sogar liegend und im Schlaf) in der Warteschlange verbracht hat und der vergleichsweise kurzen Zeit, die zur Betrachtung der Bilder bleibt.



5 Wolfgang Ullrich: Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone, Berlin 1998, S. 65. 6 Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt a. M. 1985, S. 49–50.

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Eine Frage der Zeit

In Ausstellungen zeitgenössischer Kunst stellt insbesondere die Präsentation von Video und Film zusätzliche Anforderungen an die Rezeption. Lessing konnte noch ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass die Zeit des Betrachters fließend und flexibel sei, die im Bild fixierte Zeit hingegen „nie mehr als einen einzigen Augenblick“ umfasse.7 Sobald aber auch die Bilder selbst in Bewegung geraten und eine ständig wechselnde Folge von Einzeleinstellungen bieten, bedeutet „Betrachten“ in mehrfacher Hinsicht etwas anderes. In einem sehr praktischen Sinne erweist sich der Besuch einer Ausstellung als eine Frage der Zeit. Nicht selten würde es Stunden dauern, sämtliche laufende Videobänder auch nur ein einziges Mal von Anfang bis Ende anzuschauen. Vermutlich werden die wenigsten Besucher diese Zeit aufbringen, und so lässt sich jeweils fragen, was genau gemeint ist, wenn jemand sagt, er habe die Ausstellung „gesehen“. Überhaupt wird, wie Wolfgang Ullrich schreibt, in Ausstellungen „ein Überfluß in Szene gesetzt, der alle Betrachter überfordert, die noch mit dem traditionellen Anspruch in eine Ausstellung gehen, jedem Bild eigens und einzeln Aufmerksamkeit zu schenken, um so viel wie möglich aufzunehmen“.8 Erweitert man den Blick über den Bereich der bildenden Kunst hinaus, zeigen sich noch andere Formen der Nichtbeachtung: Die Videoüberwachung an öffentlichen Orten erzeugt eine visuelle Überinformation, die es rein quantitativ nicht mehr zulässt, dass die produzierten Bilder später tatsächlich auch angeschaut werden. Die pausenlos erstellten Aufnahmen schaffen ein Potenzial der Sichtbarkeit, das nach Bedarf genutzt werden kann, aber ansonsten eine Folge ungesehener Bilder sendet. Auch wo die Aufnahmen in eigens eingerichteten Zentralen zusammenlaufen und dort auf professionalisierte Betrachter treffen, bleibt vieles ungesehen. „Gezielt wird nur beobachtet, wenn die anderen Aufgaben es zeitlich zulassen beziehungsweise wenn externe Hinweise [...] dies erfordern. Normalerweise werden die Monitore eher beiläufig ‚aus den Augenwinkeln‘ beobachtet.“9 Viele dieser Bilder existieren nur im Augenblick ihres Erscheinens und

7 Lessing (s. Anm. 2). 8 „Heutzutage müssen die Besucher [...] lernen, das Gezeigte als Angebot zu begreifen, dessen Qualität sich nicht erst erfüllt, wenn es im Ganzen wahrgenommen wird, sondern das ähnlich zu rezipieren ist wie ein gefülltes Warenhausregal: Man läßt sich vom Gesamtbild beeindrucken, staunt über eine Inszenierung und nimmt sich im übrigen, was einen gerade interessiert.“ Wolfgang Ullrich: Ohne Folgen? Bilder im Plural. In: Ders.: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003, S. 66–93, S. 86–87.

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verschwinden unbeachtet im digitalen Nichts. Gelegentlich werden sie aufgezeichnet, aber auch dann nur in Ausnahmefällen und bei Bedarf angeschaut. Eine Sequenz wie die berühmte gewordene Aufzeichnung von Mohammed Atta beim Abb. 1: Mohammed Atta in einer Videosequenz der FlughaDurchschreiten der Sicherheitskontrolfenüberwachung, 2001. len, am 11. September 2001 gegen 5 Uhr 45 morgens, ragt als „Ikone“ aus einem endlosen Strom ungesehener Aufzeichnungen heraus und erhält gerade dadurch ihre besondere Aura (Abb. 1). Es wäre also ein Irrtum anzunehmen, dass Bilder grundsätzlich auch Betrachter haben. Die Welt der Bilder ist mit blinden Flecken durchsetzt, und neben der Geschichte ihrer Wahrnehmung gibt es immer auch eine Geschichte der Nichtwahrnehmung, der Unaufmerksamkeit und der abwesenden Betrachter, die sich dann in Folgeerscheinungen wie den Depotexistenzen und Archivverlusten, den Fehlzuschreibungen und Fehlinterpretationen äußern. Zeigen oder Nicht-Zeigen?

Darüber hinaus gibt es jedoch auch Bilder, die nachweislich oder mutmaßlich vorhanden waren oder sind, die der öffentlichen Aufmerksamkeit aber vorenthalten werden. Damit ist eine ganz andere Form der Entzogenheit beschrieben als diejenige, die sich in den genannten Formen der Nichtbeachtung manifestiert. Im täglichen Nachrichtenfluss gibt es immer wieder einzelne Bilder (beinahe ausschließlich Fotografien oder Filmaufnahmen), deren Motiv die Frage aufwirft, ob es zulässig ist, sie öffentlich zu zeigen, ob ihr Anblick etwas lehrt oder eher verstört, verletzt und vielleicht sogar Schaden anrichtet. Hier sind nicht die zahllosen potenziellen Bilder gemeint, die theoretisch möglich gewesen wären, aus ethischen Gründen aber unterlassen wurden oder die einer politischen oder juristischen Bildzensur unterliegen.10 Vielmehr geht es um Bilder, die existieren, aber dennoch zurückgehalten werden, bzw. um Bilder, die zwar gezeigt werden, denen aber der rhetorische Zusatz beigegeben wird, dass ihre Zurschaustellung fragwürdig und aus ethischen Gründen bedenklich sei.

9 Frank Helten: Reaktive Aufmerksamkeit. Videoüberwachung in Berliner Shopping Malls. In: Bild-Raum-Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, hg. v. Leon Hempel und Jörg Metelmann, Frankfurt a. M. 2005, S. 156–173, S. 167.

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So publizierte das monatlich erscheinende Magazin der Neuen Zürcher Zeitung im Januar 2004 eine Farbfotografie, die den abgetrennten Kopf einer palästinensischen Selbstmordattentäterin zeigte. Dem Bild ging im einleitenden Editorial des Heftes folgende Stellungnahme des Chefredakteurs voraus: „Es gibt Bilder in diesem Heft, die möchte man lieber nicht sehen. Das grässlichste zeigt den abgerissenen Kopf einer jungen palästinensischen Selbstmordattentäterin. Sollte man es ungesehen lassen? Wir haben die Frage lange diskutiert. [...] Gewiss, es hätte andere Bilder gegeben: [...] Diese Bilder, in denen sich die Selbstmordattentäter als Märtyrer und Helden inszenieren, sind furchtbar genug. Aber sie zeigen nicht die Realität der Attentate [...] Sie zeigen nicht, was das heisst, wenn eine 20-jährige Frau sich ein paar Kilogramm Sprengstoff umschnallt und sich als Menschenbombe in die Luft sprengt. Das Bild auf Seite 31 zeigt es.“11 Offenbar war die Redaktion zu der Überzeugung gelangt, dass die Aufnahme nicht ohne eine zusätzliche Ebene der Reflexion präsentiert werden könne. Das Bild sollte nicht für sich stehen und wurde nicht – wie die anderen Bilder des Heftes – einfach der Obhut des begleitenden Textes überlassen. Wie um sein Erscheinen noch zu intensivieren, hebt der einleitende Kommentar hervor, dass die Aufnahmen im Folgenden gezeigt wird und dass sie möglicherweise beinahe nicht gezeigt worden wäre („Wir haben die Frage lange diskutiert [...]“). Diese Dramaturgie lässt den Lesern die Möglichkeit, das Foto nicht zu betrachten. Das Bild der Toten, so erfährt man, wartet auf Seite 31, dort kann man es aufsuchen oder aber für immer ungesehen auf sich beruhen lassen.12 Es sind beinahe immer Bilder physischer Gewalt, welche die Auseinandersetzung über Zeigen oder Nicht-Zeigen auslösen. Der Gewaltakt setzt sich meist darin fort, dass er die Betrachter verstummen lässt, indem er Grenzen des Zumutbaren überschreitet. Sollen die Videos, die Geißelnehmer von der Hinrichtung ihrer Opfer filmen, verbreitet werden oder nicht?13 Ist es zulässig, die Aufnahme eines durch die Straßen der somalischen Hauptstadt geschleiften Leichnams 10 In Ergänzung der Geschichte der Massenmedien ließe sich eine Reihe von Motivfeldern benennen, die aus (bild-)politischen Gründen zu bestimmten Zeiten ohne Darstellung geblieben sind, wie etwa die meisten heutigen Gerichtsszenen oder jüngere Militäraktionen (z.B. die Interventionen der USA 2001 in Afghanistan). 11 Daniel Weber: Das Grauen. In: NZZ Folio, Januar 2005, S. 3. 12 Demselben Thema widmet sich auch der Beitrag des Autors: Fotos, die man nicht zeigt. In: Fotografische Leidenschaften, hg. v. Katharina Sykora et al., Bielefeld 2006 (im Druck).

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Abb. 2: Standbild aus Claude Lanzmanns Film „Shoah“, Frankreich 1985.

eines US-Soldaten vorzuführen? Oftmals geht es bei diesen Entscheidungen um die Frage, ob die Schaustellung solcher Bilder das Andenken der Dargestellten verletzt oder den Opfern im Gegenteil zu einer Art nachgeholter Gerechtigkeit verhilft.14 Darüber hinaus wurden aber immer wieder ganz grundsätzliche Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Bilder geäußert. Zu den klassischen Schauplätzen dieser Auseinandersetzung gehört die Frage nach der Darstellbarkeit der Shoah. Mit seinem Film Shoah hatte Claude Lanzmann in den achtziger Jahren eine eindrückliche Montage aus Interviews mit Überlebenden der Vernichtungslager zusammengestellt und dabei bewusst auf historisches Bildmaterial verzichtet (Abb. 2).15 In den Jahren und Jahrzehnten danach hat sich Lanzmanns Bildpolitik allerdings zu einem regelrechten Darstellungsverbot ausgeweitet. Es gebe kein Bild der Shoah, so äußerte Lanzmann in einem Interview, gäbe es aber Filmaufnahmen aus dem Inneren der Gaskammern, so würde er diese Bilder vernichten.16 Jean-Luc Nancy hat darauf hingewiesen, dass Lanzmanns Verdikt letztlich diffus bleibt.17 Soll damit gemeint sein, dass man den Holocaust nicht 13 Siehe dazu das Interview mit Klaus Theweleit und Sonja Zekri: „Wir müssen diese Bilder zeigen“. In: Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2004, S. 15 sowie die Erwiderung von Horst Bredekamp im Gespräch mit Ullrich Raulff: „Wir sind befremdete Komplizen“. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Mai 2004, S. 17. 14 In einer vom Zweiten Deutschen Fernsehen veranstalteten Podiumsdiskussion äußerte sich die Auslandskorrespondentin Ariane Vuckovic zu dieser Frage: „Ich denke, das schuldet man auch den Opfern. Wenn man über Opfer der Gewalt berichtet und wirklich vermitteln will, was diesen Menschen passiert ist, warum es ihnen passiert ist, dann braucht man [...] auch Bilder.“ (Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder. Ein Gespräch über die Normalität des Terrors als Medieninhalt. In: Die offene Gesellschaft und ihre Medien in Zeiten der Bedrohung [= Mainzer Tage der Fernseh-Kritik, Bd. 35], hg. v. Peter Christian Hall, Mainz 2003, S. 253–298, S. 268.)

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darstellen kann? Worin genau läge diese Unfähigkeit aber dann begründet? Und müsste die Geschichte demzufolge in „darstellbare“ und „undarstellbare“ Ereignisse eingeteilt werden? Oder ist vielmehr gemeint, dass ein Ereignis wie die Shoah nicht dargestellt werden dürfe, weil eine solche Zurschaustellung des Verbrechens verwerflich sei? In diesem Fall wäre eine Darstellung der Shoah zwar prinzipiell möglich, aber verwerflich und aus diesem Grund auch verboten. Um ein solches moralisches Verbot zu begründen, bedürfe es aber einer Lehre oder eines Prinzips, in dessen Namen der Bann ausgesprochen wird. Dieses verbindliche Prinzip ist jedoch nicht erkennbar. Auch Jacques Rancière kritisiert daher den inflationären Gebrauch des Begriffs der Undarstellbarkeit und warnt davor, Phänomene mit einer „Aura des heiligen Entsetzens“ zu umgeben.18 Undarstellbar zu sein, sei keine Eigenschaft bestimmter Geschehnisse. „Das Ereignis an sich verlangt oder verbietet keine Mittel der Kunst.“19 Es gebe immer nur Möglichkeiten der Auswahl. Gezeigte und nicht gezeigte Bilder

Daher geht es nicht darum, die Frage nach dem Zeigen oder Nicht-Zeigen einmal hergestellter Bilder mit Ja oder Nein zu beantworten. Eine ­allgemeinverbindliche Ethik ist hier ebenso wenig denkbar wie eindeutige juristische Wegweisungen. Die Frage, welche Bilder gezeigt werden sollen und welche nicht, lässt sich ohnehin nicht pauschal entscheiden, sondern müsste in jedem Einzelfall gesondert abgehandelt werden. Ihre Beantwortung hängt jeweils davon ab, wer die Bilder gemacht hat, mit welchen Absichten sie aufgenommen wurden, welche Wirkung sie erzielen sollen, für wen sie gemacht wurden usw. 15 „Ich besitze genug davon: Ich habe eine Menge Fotos aus dem Warschauer Institut für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Das bedeutet aber überhaupt nichts. Es ging darum, einen lebendigen Film nur aus der Gegenwart zu machen.“ Claude Lanzmann: Der Ort und das Wort. Über Shoah. In: Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, hg. v. Ulrich Baer, Frankfurt am Main 2000, S. 101–118, S. 108) 16 Claude Lanzmann: Holocauste, la représentation impossible. In: Le Monde, 3. März 1994, S. VII. 17 Jean-Luc Nancy: Das Darstellungsverbot. In: Ders.: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 51–89. 18 Jacques Rancière: Über das Undarstellbare: In: Ders.: Politik der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 127–159, S. 127. Zur Kritik an Lanzmann siehe vor allem auch: Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris 2003. 19 Rancière (s. Anm. 18), S. 150.

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Bilder der Gewalt, die von den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ausgefiltert werden, sind beinahe immer auf anderen Kanälen sichtbar, wenngleich nicht flächendeckend, so doch in ­konzentrischen Kreisen der Zugänglichkeit, etwa im Internet. Bilder werden hergestellt, kommen in Umlauf, und zu ihrer einfachen Auslöschung ist es dann in aller Regel zu spät. Selbst Bilder, die tatsächlich nicht gezeigt werden, sind Abb. 3: Alfredo Jaar: The Rwanda Project, 1994–1998. durch ihre Verborgenheit nicht einfach und ausschließlich „unsichtbar“. In seinem Rwanda Project hat der chilenische Künstler Alfredo Jaar diese Schwelle der Sichtbarkeit ausgetestet (Abb. 3). Im August 1994 reiste Jaar nach Ruanda und nahm dort über 3000 Fotos des Völkermords auf. Wie viele Fotojournalisten wollte auch Jaar dem Tatbestand des Genozids ein Bild geben. Nach New York zurückgekehrt, zögerte er jedoch, seine Bilder anzuschauen oder gar in Umlauf zu bringen. Für eine Installation, die zuerst im Chicago Museum of Contemporary Photography gezeigt wurde, wählte er schließlich 60 Fotografien aus, die verschiedene Szenen des Völkermords dokumentieren. Jaar hat diese Aufnahmen jedoch in einem „Friedhof der Bilder“ versenkt. Die Fotografien waren in schwarzen Kästen verborgen, die wie ­Grabsteine im Raum standen und mit Inschriften wie etwa dieser versehen waren: „Niamara Church, Nyamata, Ruanda, 40 Kilometer südlich von Kigali, Montag, 29. August 1994. Diese Fotografie zeigt Benjamin Musisi, 60 Jahre alt, zusammengekauert im Türrahmen der Kirche, umgeben von Leichen, die im Tageslicht umherliegen. Vierhundert Tutsi, Männer, Frauen und Kinder, die hier Zuflucht gesucht hatten, wurden während der Sonntagsmesse abgeschlachtet. Benjamin schaut unmittelbar in die Kamera, als wolle er ihren Blick festhalten. Er bat darum, zwischen den Toten fotografiert zu werden. Er wollte seinen Freunden in Kamapala, Uganda beweisen, dass das Grauen wirklich war und dass er seine Folgen gesehen hatte.“20 Die Bilder sind da, aber man sieht sie 20 Siehe: At War, Ausst.Kat., Centre de Cultura Contemporània de Barcelona, Barcelona 2004, S. 350.

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nicht. Letztlich weiß man nicht einmal, ob die beschrifteten black boxes nicht leer sind. Jaars Ökonomie des Entsetzens ist bewusst ambivalent. Die detaillierte Beschreibung eines Fotos, das der Ausstellungsbesucher nicht sieht, löscht aber dieses Bild nicht aus, sondern bringt sofort neue, andere Bilder hervor. Diese Bilder materialisieren sich jedoch nicht, und die Toten, die nur vor dem geistigen Auge erscheinen, bleiben unbestimmt und ohne Identität. Es ist eigenartig, dass Jaar auf dem genannten Epitaph genau jene Bitte Benjamin Musisis zitiert, der er dann nicht nachgekommen ist: der Bitte, dieses Foto als Beweis des Geschehenen in Umlauf zu bringen. In den Augen Jaars war die Gefahr, die Bilder dem Begehren des Voyeurismus preiszugeben, größer als der Nutzen, den ihre Präsentation gezeitigt hätte. So bleibt festzuhalten, dass Jaar seine Bilder aus Ruanda letztlich weder eindeutig zeigt, noch sie eindeutig nicht zeigt: Vielmehr zeigt er, dass er sie nicht zeigt; was er in Anschlag bringt, ist die labile Grenze zwischen der Skepsis gegenüber der Bilderschau des Entsetzens und der Möglichkeit – sogar dem Wunsch –, diese Bilder dennoch zu sehen. Das Unsichtige

Jaars Arbeit macht deutlich, dass es keine festgelegte Demarkationslinie zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem gibt. Insbesondere phänomenologische Arbeiten haben immer wieder hervorgehoben, in welchem Maße das Sichtbare in ein Feld des „Unsichtigen“ eingebettet ist. In jeder Betrachtung bleiben weite Teile ungesehen. Diese „unsichtigen“ Teile sind in der Wahrnehmung zwar „mitgemeint“ und „symbolisch angedeutet“, aber „selbst fallen sie gar nicht in den anschaulichen (perzeptiven oder imaginativen) Gehalt der Wahrnehmung“.21 Umgekehrt ist auch das Unsichtbare kein bloßes Nichts, keine tabula rasa der Perzeption, sondern ein mehr oder weniger konturierter Vorstellungsraum. Vor allem Georges Didi-Huberman hat in seinen Arbeiten immer wieder auf die Fragwürdigkeit der statischen Opposition von „Sichtbarkeit“ und „Unsichtbarkeit“ hingewiesen. Anstelle dieser „trivialen Gegenüberstellung“ zu gehorchen, sei die Geschichte der Bilder immer der Versuch einer „visuellen Überschreitung“ gewesen.22 Eine solche Überschreitung wird in der Regel auch durch das 21 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. II. Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Hamburg 1992, S. 589. Siehe auch Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen. In: Kritik des Sehens, hg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 1997, S. 272–298. 22 Didi-Huberman (s. Anm. 18), S. 167.

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Nicht-Zeigen von Bildern inszeniert. Das Nicht-Gezeigte ist nicht einfach nichts, sondern haust zwischen Sichtbarkeit und Imagination. Der Leser der erwähnten Zeitschrift hat bereits nach der Lektüre der redaktionellen Vorwarnung eine Vorstellung der Bilder („Das grässlichste zeigt den abgerissenen Kopf einer jungen palästinensischen Selbstmordattentäterin.“). Vor allem hier erweist sich der ambivalente Status nicht-gezeigter Bilder: Ihr Vorhandensein wird in der Regel nicht einfach mit Schweigen bedeckt. Die Redaktion, die die fraglichen Bilder kennt, erklärt, dass sie diese nicht zeigt; und nicht selten wird wortreich hinzugefügt, was auf ihnen zu sehen gewesen wäre. Eine visuelle Überschreitung stellt sich auch dann ein, wenn eine Filmaufnahme aus Gründen der Rücksichtnahme unvermittelt abbricht, der ausgesparte Rest dann aber doch zumindest vorstellbar wird. In einer Podiumsdiskussion des ZDF tauchte die Frage auf, ob man die Bilder der am 11. September 2001 aus den Türmen des World Trade Center stürzenden Menschen zeigen dürfe oder nicht. „Das Aufprallen eines Menschen steht völlig außerhalb jeglicher Diskussion“, äußerte Peter Kloeppel, Chefmoderator von RTL Aktuell.23 Bilder, auf denen dieselben Menschen während ihres Sturzes zu sehen waren, unterlagen dieser skrupulösen Zurückhaltung hingegen nicht und wurden auf allen Kanälen ausgestrahlt. Zweifellos macht es einen Unterschied, ob ein Zuschauer ein solches Bild tatsächlich physisch vor Augen hat oder nicht. Gleichwohl kann daraus nicht gefolgert werden, dass sich das „Unsichtige“, das Ausgesparte und Nicht-Gezeigte an einem Ort ohne Bilder aufhält. 23 Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder (s. Anm. 14), S. 262.

Kelley Wilder

Photography Absorbed Spectroscopy and visual culture

In the days before photography, the projection of spectra was one of the most visually compelling optical experiments, and also one of the most transient. Spectators shut in the darkness of a demonstration chamber were captivated by the clarity and beauty of both natural and artificial spectra.1 Fixing these fugitive bands became, for some, a lifelong obsession. The very roots of photography lie in this tradition, where the spectrum was observed by exposing it on phosphorescent material, which tantalizingly reproduced some colors accurately.2 By the mid-1830’s, with the aid of silver salts, it was possible to fix images of spectra, and in the final third of the 19th century technical advances in emulsion sensitivity and registration equipment allowed spectroscopists to begin mapping the solar spectrum. Spectroscopic analysis and advances in the understanding of photographic sensitivity became inextricably linked, and work on one very often entailed the employment of the other. It seemed at this point that photography would come to dominate the output of spectroscopic investigations. But seventy years on, in the second half of the 20th century, photography relinquished its autonomy and disappeared into spectroscopy, absorbed by the field it once accompanied. This transformation in the status of photography took two forms. On the one hand, the photographic plates created by spectroscopic methods like Raman spectroscopy were measured, algorithms were applied to those measurements, and the data was crunched into tables of numbers.The images themselves became merely a part of the process, and were no longer delivered to an audience as a (or even the) result. On the other hand, the concept of photography as a distinct, and



1 Many comments about the wonder produced by these experiments can be found in the correspondence between William Henry Fox Talbot, Sir David Brewster, and Sir John Herschel. Transcriptions of Talbot’s letters are available online at http://foxtalbot.dmu.ac.uk [27 Sep 2006]. Correspondence between Brewster and Herschel is available in the Herschel collection at the Royal Society Library, London. 2 Of course, not all the inventors or proto-photographers had this in mind, but Louis Jacques Mandé Daguerre began his experiments this way in 1824, adapting what he knew of luminous paints to the project of fixing the spectrum in phosphor. A description of these experiments was given in a letter from Nicéphore Niépce written to his son Isidore, in Bonnet and Marignier: Niepce correspondance et papiers (Saint-Loup-de-Varennes: Maison Nicéphore Niépce, 2003) p. 427; and reported by François Arago in: “Phosphorescence du sulfate de baryte calciné. Communication de M. Arago sur quelques expériences de M. Daguerre”. In: Comptes Rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des Sciences, Paris, 1839, n.8, pp. 243–246.

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somehow separable technique, as conceived in the minds of spectroscopists, also seems to have disappeared. In the words of one chemical spectroscopist: “[b]efore your message, I had never articulated for myself the implications of these objects as photographs: they were not images for viewing, they were images for measuring. We never published pictures or prints from the plates themselves – only tables of measured numbers or graphical plots of densitometer scans.”3 This paper discusses the complexity of the visual culture of “photographic” spectroscopy, with particular reference to its audience of spectroscopists, by dipping in at three points in its history to sample transformations in the status of the photographic image in spectroscopy. There are three distinct but overlapping phases: the fugitive image of the accurately reproduced solar spectrum; the dominant visual form of the photographed and mapped spectrum; and the absorption of photographic techniques into the practice of Raman spectroscopy. Each phase is also accompanied by a shift in the relationship between photography and spectroscopy. In the early years they were independent but equally infant processes. In the dominant phase, photography appeared likely to define spectroscopy, later, this trend was reversed in many areas, where the audience dismissed the pictorial photographic results, in favor of spectroscopic information generated in other ways. In his epilogue to Mapping the Spectrum, Klaus Hentschel puts forward an argument for treating spectroscopy as a visual culture, rather than a “fully-fledged scientific discipline”.4 Although he carefully distinguishes many reasons for doing so, the most compelling assertion is that spectroscopy rests essentially on the proficiency of its scientists in a “specialized visual, nonverbal skill” – that spectroscopists practice a particular sort of trained seeing when they analyze and represent spectra.5 He argues very persuasively that visual images rest at the center of spectroscopic methods, and that these visuals have their own culture, one that developed occasionally independently of sea changes in the theories of light. He exhorts the reader to see this visual culture as a complex entity, one that



3 Extract of e-mail correspondence with Dr Mike Ware, chemical spectroscopist, photographer, and photographic historian, 22 March 2006. His doctoral studies were conducted using the Raman method of spectroscopy. See for instance Gager, Lewis and Ware: Metal-Metal Stretching Frequencies in Raman Spectra. In: Chemical Communications, vol. 17, 1966, pp. 616–617. 4 Klaus Hentschel: Mapping the Spectrum, Oxford 2002, p. 421. Hentschel has also given an excellent history of the photography of spectra in §6.4. 5 Hentschel (as cited in footnote 4), p. 426.

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has more characteristics than just being visual. An examination of three different aspects of photographic spectroscopy is able to bear his argument out, but at the same time raises questions about the pictorial value placed on things labeled “photographic”. What is photographic in spectroscopy appears to have acquired different values at different points in history, and in some cases, although photography comprises the dominant visual output, it also comprises a great deal of the not-so-visible working practice of spectroscopists. Spectroscopic studies existed long before photography was made public in 1839, but by the end of the 19th century, photography had enabled its visual representations to flourish in quite extraordinary ways. Although the entry of photography into spectroscopy was fraught with difficulty, photomechanical reproducibility eventually triumphed in the form of photographic maps of the late 19th century.6 Thus within the visual culture that was spectroscopy, a special sort of “photographic” visual culture arose. Within this photographic subset, which is the subject of this paper, a curious trend appeared. Photography, as a pictorially superior process of rendering information, became so absorbed into the laboratory practice that it essentially (in the minds of spectroscopists) and often materially (in their published output), disappeared. The fugitive spectrum, captured photographically

Photographing spectra in the 19th century was a complicated enterprise. Its two greatest problems, fixed photography’s monochromatic nature and its uneven sensitivity to different parts of the spectrum, were equally problematic. In these early years, one-to-one representations of the color spectrum were highly desirable, but proved to be entirely elusive. From January 1839, the opinion was often voiced that photography was lacking in one respect, namely, that it failed to represent the colors of the spectrum. Although there was no apparent immediate solution, the optimistic atmosphere projected the certainty of success at some point. It was to take longer than they imagined. The three names associated most often with the earliest photographic experiments on spectra were Becquerel, Herschel and Draper. Each of these physicists developed different solutions to the problems, and generated different sorts of pictorial representations with photographic materials.



6 Hentschel (as cited in footnote 4), §6.9, p. 229.

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Fig.1: Edmond Becquerel: Photograph of the solar spectrum, obtained by direct colour reproduction, Becquerel colour process plate, 16.50 x 22.5 cm, 1848.

Working first with silver nitrate, phosphorescent materials and silvered plates, the latter being variants of the daguerreotype process, Edmund Becquerel succeeded in registering the spectrum beyond the visible violet end as early as 1842, publishing his improved method in 1848.7 (fig. 1) Certain phosphorescent materials, as Daguerre had found in the 1820’s, also reproduce certain colors of the spectrum accurately. Becquerel briefly examined the possibility of fixing these fleeting colors, but soon returned to the more promising daguerrian method. Daguerreotype plates, the sensitive layer consisting of silver iodide, and, after the first year, silver bromide, can also register colors when treated correctly, but the colors are destroyed in the fixing process. Although Becquerel’s daguerreotype plates were less transient than the phosphorous images, they remain unfixed, and so sensitive to light. In these experiments, Becquerel was not only attempting to imitate the image of the spectrum as it was seen in dark-room demonstrations, he was investigating the photosensitive substances as well. Although he was able to demonstrate the equivalence between the “chemical” spectrum and its visual



7 Edmond Becquerel: De l’image photographique colorée du spectre solaire. In: Annales de chimie et de physique, series 3, number 22, Paris 1848, pp. 451–159. And: De l’image photochromatique du spectre solaire. In: Annales de chimie et de physique, series 3, numer 25, 1849. Becquerel was continuing the experiments he had begun with Jean Baptiste Biot, who was one of the first scientists to investigate the chemical possibilities of both Daguerre’s and Talbot’s processes. His correspondence on these experiments can be read in the Talbot Correspondence Project as cited in footnote 1.

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counterpart, he was never able to fix the spectrum in color in any permanent form. Daguerreotypes of spectrum could be fixed, as in the case John William Draper (fig. 2), and represented in black and white. This method of course required a large amount of captioning in order to “read” the result (fig. 3). Nonetheless, representing the color spectrum in black and white was not new to spectroscopists or to the viewing public, and was quite acceptable, when it was labeled properly and corresponded to the observations of known lines. Although hand colored plates were available in some rare cases, even Fraunhofer supplied his famous spectrum in black and white.8 Representations of spectra in terms of these dark lines was a common visual trope in the mid-19th century, and there is relatively little difference between a photographic representation such as Draper’s, and its engraved, lithographed or woodcut counterpart. Lesser known perhaps are Sir John Herschel’s photographic spectra made on paper with ­different experimental processes. He used a multitude of substances, from the photogenic drawing (often called salted paper) and the calotype as invented by Henry Talbot, to organic matter produced from his flower garden. But the capture of the awe inspiring projected spectrum as it was seen in a darkened room eluded him, although he devoted many years and hundreds of experiments to that end. For working purposes, Herschel often converted his spectra into diagrams or graphs of the maxima and minima, to aid the “reading” and comparison of his photographic spectra. His

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Fig. 2: John W. Draper: Experimental spectrum with extensive captions, Daguerreotype, 9 x 7.5 cm, 27 July 1842.

Fig. 3: Jean B. L. Foucault and Armand H. Fizeau: Solar Spectrum on a daguerreotype plate, without captions, 12.8 x 9.4 cm, 1844.

8 Josef von Fraunhofer: Bestimmung des Brechungs- und Farbenzerstreuungs-Vermoegens verschiedener Glasarten, in Bezug auf die Vervollkommnung der achromatischen Fernroehre, In: Denkschriften der koeniglichen Akademie der Wissenschaften, Munich, number 5, 1817, pp. 193–226 plus 3 copperplate engravings.

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Fig. 4a: Sir John Frederick Herschel: Comparative analysis of thermic, chemical and luminous spectra.

results, as shown here in ­­Figure 4, were often conveyed to fellow scientists by letter – often with the photographic image attached to the writing paper itself (either made on the paper, or clipped from the original and pasted to the letter). This very early phase could be distinguished from the beginnings of spectrum analysis, generally considered to have begun in the 1860’s. In each of the cases mentioned so briefly here, and in many more experiments made by researchers in the 1840’s, 50’s and 60’s, the accurate color spectrum, that is, the one to one correspondence of colors in the image to colors in the spectrum, remained elusive and transient. What was cast on the emulsion was not recorded there in the way it was seen, and each scientist developed methods to represent these spectra as visual images that corresponded to the spectrum. One could consider this a phase of different attempts at spectral representation. At the same time, as much as photography was used to analyze light, spectrographic methods were applied to photographic substances in a similar process of interrogation. These early experiments were as much about investigating the nature of photography as they were about investigating the nature of light. Fig. 4b: Spectral study showing the action of Hydriodate of potash on a spectrum already impressed, salted paper process, Letter from Herschel to William Henry Fox Talbot, 3 March 1840.

Photographic mapping of the spectrum

Writing in his Map of the Normal Solar Spectrum as it was republished in 1889, Henry Rowland stated, “The ­photograph is the work of the sunlight itself and the user of this map has the solar spectrum itself before him …”9 . It is so similar to the addendum Henry Talbot had added to the second

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Fig. 5: Henry Rowland: Photographic Map of the Spectrum, 1889.

fascicle of The Pencil of Nature in 1844, it could be mistaken for merely a repetition of Talbot’s attempt to convince sceptical audiences of the natural veracity of the photographic method.10 But Rowland had little need to do so. His map was an item in great demand from the time of its publication.11 Rowland’s assertion, unlike Talbot’s, was not merely an attempt to underscore the difference between photography and the graphic arts. Rowland was invoking the rhetoric of natural authority to strengthen his claims of better observation in spectral analysis. And he was, for the most part, taken at his word. The rise of photographic mapping of the solar spectrum coincided with the rise of photographic atlases in general, which detailed everything from the moon and stars to anatomy and shells (fig. 5). Although technical difficulties meant that photographic spectra lagged behind the swell of photographic atlases in other sciences, it can nonetheless be seen as part of the same phenomenon. Daston and Galison have described the notion of mechanical objectivity in relation to this escalation of atlas publication in the latter half of the 19th century.12 This sort of objectivity involved a certain amount of “eliminat[ing] the mediating presence of the observer” while lauding “care and exactitude, infinite patience, unflagging perseverance, preternatural sensory acuity, and an insatiable appetite for work”.13 When applied to photographic spectroscopy, and especially to spectroscopic mapping through photography, this holds true only to a certain extent. Tracking and tracing the innumerable lines of all sorts of emission and absorption spectra of artificial and natural light became a high priority among spectroscopists, but they could only advance as fast as they discovered keys to the photographic sensitivity to the different wavelengths of the spectrum. 9 Henry Rowland: Photographic Map of the Normal Solar Spectrum, Baltimore 1889, p. 80. 10 Henry Talbot: The Pencil of Nature (Reading, 1844–46), as reprinted in Larry Schaaf ed. Pencil of Nature Anniversary Facsimile (New York 1989). See especially Schaaf’s introductory essay. 11 Hentschel (as cited in footnote 4), p. 234. 12 Daston and Galison: The Image of Objectivity. In: Representations, 40, Fall 1992, pp. 81–128. 13 Daston and Galison (as cited in footnote 12), pp. 82–83.

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Fig. 6: Hermann Krone: Interference color spectra, Lippmann process, 1892.

It should not be assumed here that the use of photography by spectroscopists was naively accepting. Hentschel has carefully detailed the training of spectroscopists, especially the visual training, awareness to conventions of retouching, and active knowledge of printing techniques. In spite of the problems confronting spectroscopists who preferred photography, they persisted in asserting that this method, although it was flawed, was a better tool both for observing and for printing, that is, disseminating the spectra among their peers. It was a highly visible period for photography in spectroscopy. The photographs were meant to be consumed not only in laboratories where spectroscopists worked, but also in schools and universities where the spectrum was studied, and by the public in general. The format of the spectrum as it was captured by photography became widely known, and the recognition of certain patterns was expected to aid spectroscopists in their research (fig. 6). The rise of the photographic spectral map made the photographic visual culture of spectroscopy especially visible for this period of time, but it was not to last. By the 1930’s new sorts of spectral analysis had begun to take hold, diversifying the experience of photographic spectra and multiplying the ways in which photography was used in spectroscopy. Quantitative spectroscopy

In the early part of the 20th century, C. V. Raman began publishing his results on obliquity factors of diffraction, measured photometrically (fig. 7). Measuring diffraction in this way, using both solar light and x-rays, became a dominant area of study in spectroscopy, and led to notable achievements in studying objects at the structural level as well as the molecular level. It was accompanied by a rise

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in the use of photometry, and the electrical measurement of spectral line intensities as well. Early Raman photometric measurement resembled the spectroscopic map described in the previous section, but its “information” was contained in the diffraction measurements, not in the visual form. Eventually, this method would lead to the measurement of molecules and molecule bonds by the inelastic ­scattering of monochromatic light. Raman was awarded the Nobel Prize in 1930 for the work, and it provides a striking example of images that are not images in the conventional sense (if scientific photographs could be considFig. 7: C. V. Raman: Enlarged photograph showing ered conventional), but are data, to be generated diffraction pattern, 1911. into measured numbers and graphical plots. In the Raman method, light of a monochromatic nature is ­scattered over a molecule. Most of the light continues in its same wavelength, but a small amount is ­scattered sideways in different wavelengths, producing a ­spectrum that can be measured and calculated in different ways to ascertain the molecule size, shape and bond characteristics. It is a case of creating a spectrum that isn’t there. Although this type of spectroscopy produces images that resemble the early black and white spectral line maps, the images themselves represent only the spectral bands created by a given molecule. Instead of the image producing visual information, it is the measurements generated from these plates that constitute the “information” collected (fig. 8). Recalling Ware’s statement, the activity of recording these spectra was considered less and less to resemble the activity normally associated with “photo­ graphy”. Spectroscopists were no longer creating a pictorial representation of the spectrum, but measuring readings of light emissions, and publishing those measurements. One could say they come to the same thing, but this seems to signal an important shift in the understanding of how photography does or does not integrate into a particular science. In the case of Raman spectroscopy, the photograph was not made for any audience. Instead it formed a part of the working practice of spectroscopy.

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When spectroscopists photographed a spectrum for mapping purposes, they were doing much what they had done when they drew the spectral lines in preparation for lithography or engraving. They imposed a graphic process that was seen as inherently separate from the act of spectral analysis. In contrast, it seems that the integration of a photographic plate into the experiment of Raman spectroscopy introduced the acceptance of photography as an integral part of spectroscopy, and one that this type of spectroscopy could not function without. Photography, in other words, became completely absorbed into spectroscopy, as if it had no identity of its own as a “mechanically objective recording device”. Interestingly, the use of spectral analysis for the development of newly sensitive photographic material did not parallel this trend. Spectroscopy applied to photography remained critical to the development of photographic chemistry. In a way, photography remained critical to spectroscopy as well. In fact, in areas where photography continued to be used, it became so important that its representational ability, its ability to capture the form and shape of the spectral lines as they are projected, came to be of secondary importance. In fact, the pictures not only were not regarded as pictorial objects, the information that was derived from them could not be gathered by looking, only by measuring. The tendency for Raman and other types of quantitative spectroscopy to absorb its own pictures is underscored by the lack of value placed on the plates created, according again to Ware, “with loving care”.14 For the purposes of this paper, no original plates could be found, even in centers specializing in the Raman technique. They were simply of no informational value after the data was extracted. These photographs not only were made with no audience in mind, they were not meant to be “looked at”, and have disappeared even from the archives. Conclusion

It is obvious from this treatment of photography and its interaction with spectroscopy that the “photographic” in spectroscopy needs to be examined in a context where its own internal changes can be evaluated over time, comparing

14 Ware, e-mail as cited in Footnote 4.

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Fig. 8 : C. V. Raman: Spectrum of carbon tetrachloride, used to illustrate ‘The molecular scattering of light‘, Nobel Lecture, December 11, 1930.

it not to the graphic arts used to exhibit findings but to its own widely varying situation within the visual culture of spectroscopy. Although within this broader visual culture there are subcultures of printing techniques, in which photography plays a role, there are also subcultures of observation in which photography plays arguably an even greater and more widely varied role. Although none of these statements refutes Hentschel’s categorization of spectroscopy as a visual culture, it is possible that spectroscopy of the second half of the 20th century wanders away from this model so dependant on the appreciation of a particular form by a specially trained audience. Even this small study shows that photography within spectroscopy is anything but a homogenous entity. It is a conglomeration of trends, practices and histories that need to be seen in the context of one another, and not necessarily against the foil of the graphic arts.

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Tafel 1: Museum der Terrakotta-Armee des Ersten Kaisers von China, Lintong, 221-210 v. Chr.

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Tafel 2: Textile Nachbildungen von Eingeweiden in der Statue des Buddha ´S¯akyamuni, Seiryôji, Kyoto, 985.

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Tafel 3: Alessandro Pampurino: Hl. Evangelist mit Buch, um 1510/15; Feder und Pinsel in Braun, laviert, weiß gehöht, über schwarzem Stift auf blauem Tonpapier; 23,8 x 17,5 cm. Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, KdZ 5097 Recto.

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Tafel 4: Alessandro Pampurino: Studie eines lesenden Mannes, um 1510/15. Schwarzer Stift, auf blauem Tonpapier; 23,8 x 17,5 cm. Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, KdZ 5097 Verso. Die Rückseite gibt entscheidende Hinweise auf das Verfahren, wie Modellstudien in typisierte, rhetorische Formen umgewandelt werden. So werden auf den beiden Seiten eines Blattes zwei Seiten der Renaissance sinnfällig.

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Faksimile „siehe oben“

Die Fotografie (Abb. 1) zeigt eine breite, von Bäumen gesäumte Straße, die vom vorderen Bildrand in den Bildmittelgrund fluchtet und auf diesem Wege eine helle Schneise durch das Dickicht der grobkörnigen Finsternis schlägt. Eine zweite Straße läuft von der unteren rechten Bildecke auf das Zentrum zu, wo sie dem Anschein nach auf die erste trifft. Links unterhalb der mutmaßlichen Kreuzung befindet sich ein weißes Haus. „Das Bild läßt an Schärfe und Deutlichkeit ja sehr zu wünschen übrig, andererseits glaube ich [...] mit gutem Gewissen behaupten zu dürfen, daß dieses Bild das erste auf unserer Erde ist, welches von einem Vogel im Fluge hergestellt wurde“,1 kommentierte der Apotheker Julius Neubronner 1909 dieses Bild. Im Anflug auf Kronberg im Taunus hatte eine von ihm mit dem Testpiloten einer Brieftaubenkamera ausgestattete Taube wenn auch kein perfektes, so doch überhaupt ein Bild in ihren Schlag zurückgeflogen – und damit die Vogelperspektive, die als Begriff bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Gebrauch war,2 erstmals im wortwörtlichen Sinne visuell realisiert. Belegen empirische Studien von 1964, dass Tauben in der Lage sind, unterschiedliche Motive anhand von Fotografien kategorial zu unterscheiden,3 so hatte Neubronner bereits um 1906 unter Beweis gestellt, dass Brieftauben mit Hilfe seiner Erfindungsgabe in der Lage waren, diese auch „selbständig“ anzufertigen. Mittels Riemen wurde der Taube ein Aluminium-Kürass umgeschnallt, an dem sich eine von dem Liebhaberfotografen entwickelte MiniaturKamera mit Selbstauslöser befestigen ließ (Abb. 2). Bei dieser in der Patentschrift als „Zeitgesperre“4 bezeichneten Vorrichtung handelt es sich um einen pneumatisch gesteuerten Verzögerungsmechanismus: Durch das langsame Entweichen von Luft wird eine Sperre gelöst und in Folge durch eine Feder die Schlitzöffnung der Kamera an dem zu belichtenden Film vorbeigezogen. Das „Motiv“ der Aufnahme wird also nicht

durch den direkten Blick durch das Objektiv, sondern vorzeitig rechnerisch anvisiert: Die Menge der vor Abflug in einen Gummiball an der Kamera zu pumpenden Luft ergibt sich aus der Fluggeschwindigkeit der Taube und der Distanz des aufzunehmenden Objektes zum Startpunkt. Neubronner führte zwar aus, dass sich die Auslösung des Momentverschlusses vor dem Auffliegen der Taube exakt kalkulieren ließe und mit „ziemlicher Sicherheit“ die Aufnahme des gewünschten Objekts gewährleiste,5 bezeichnete aber das Entwickeln der Bilder als umso spannender, „je weniger man auf das Ergebnis vorbereitet“6 sei. Für den anspruchsvollen Betrachter stellten die Fotos eine Herausforderung dar: „Die Bilder sind oft so grundverschieden von denen, die wir zu sehen gewohnt sind, daß es große Mühe kostet, sich zurecht zu finden. – Dieses übt einen ganz eigenartigen Reiz aus, den freilich nur wenige kennen. Daß der Sinn für die Entzifferung von Bildern in der menschlichen Natur liegt, läßt sich aus den nun schon seit drei Jahrzehnten beliebten Vexierbildern erkennen. – Ich selbst muß zugeben, daß das einzige Taubenbild, welches zu entziffern mir bis jetzt nicht gelang, mich und meine Freunde lange Zeit in Aufregung versetzte.“7 War der Moment der Belichtung gerade durch die Abwesenheit eines kontrollierenden Betrachters geprägt, so erforderte die nachzeitige Betrachtung des Resultats einen fokussierten Blick – zumal wenn die Aufnahme topografische Informationen lediglich uneindeutig vermittelte (Abb. 3 und 4). Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich die Brieftaubenfotografie bei öffentlichen Präsentationen wie der Internationalen Photographischen Ausstellung Dresden 1909 großer Beliebtheit erfreute. Vor den Augen der Besucher flogen Neubronners Tauben einen im Park positionierten fahrbaren Taubenschlag an, wo ihnen das belichtete Material abgenommen und vor den Augen der Besucher in Postkarten verwandelt wurde (Abb. 5). Das ins Bild gesetzte Missgeschick einer den Taunus überfliegenden Taube, das formal als „fotografischer Unfall“ zu bestimmen wäre,

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avancierte zur Inkunabel der Brieftaubenfotografie (Abb. 6). Die unfreiwillige Fixierung der im Moment der Exposition nach unten geschlagenen Flügel8 – oder, allzu unmittelbar verstanden, die „Betrachterin“ im Bild – gab der Familie Neubronner Ende der 20er Jahre Anlass für einen erbitterten Bildrechtsstreit und fand zudem die weiteste Verbreitung. „Die Brieftaube dient nicht mehr lediglich zur Übermittlung von Beobachtungen, sie beobachtet – ausgerüstet mit dem Photographenapparat – gewissermaßen selbst und trägt somit zur Aufklärung bei“,9 wurde 1910 in einem Beitrag zur Militärluftschiffahrt und Brieftaubenphotographie konstatiert. Offensichtlich setzte man in die Leistungsfähigkeit der Taube anfänglich derart große Hoffnungen, dass die bloße „Bildträgerin“ als aktive Späherin und bewusst operierende Fotografin imaginiert wurde. Im Rahmen einer Überprüfung des tatsächlichen Potenzials dieser neuen Technik seitens des Militärs trat Neubronner im August 1912 mit vier Tauben an, die Tegeler Wasserwerke zu fotografieren (Abb. 7). Doch gerade jene Entzifferung der Vexierbilder, wie Neubronner sie als vergnüglichen Teil der Brieftaubenfotografie angeführt hatte, konnte im Hinblick auf die auch von ihm als gewinnbringende Anwendung seines Verfahrens sondierte militärische Nutzbarmachung zum Nachteil gereichen. Als er nach Jahren der Ungewissheit vom Ministerium einen definitiven Bescheid über eventuelle Patenterwerbungswünsche einforderte, wurde ihm 1918 schließlich mitgeteilt, „daß der Erfindung ‚Methode des Photographierens von Geländeabschnitten mit Hilfe von Brieftauben‘ keinerlei militärischer Wert beizulegen“ sei und weitere Versuche „nach Einführung der Photographie aus dem Flugzeuge nicht mehr gerechtfertigt“10 seien. In der Kombination von lebendigem Organismus und Kamera, als einem fliegendem Auge, scheint die Brieftaubenfotografie die biomechanischen Fantasien des Futurismus ebenso antizipiert zu haben wie die vitalistischen Utopien der russischen Avantgarde – die buchstäblich im Fluge entstandenen Bilder Neubronners blieben von der Foto-

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geschichtsschreibung jedoch weitgehend unbetrachtet. Franziska Brons 1 Julius Neubronner: Die Photographie mit Brieftauben. In: Richard Wachsmuth (Hg.): Denkschrift der Ersten Internationalen Luftschiffahrts-Ausstellung (Ila) zu Frankfurt a. M. 1909, Bd. 1: Wissenschaftliche Vorträge (Sonderdruck), Berlin 1910, S. 84f. 2 Siehe Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 2, 1902, Heft 4, S. 312f. 3 Siehe R. J. Herrnstein, D. H. Loveland: Complex Visual Concept in the Pigeon. In: Science, Vol. 146, 1964, Nr. 3643, S. 549–551. 4 Deutsches Technikmuseum Berlin, Historisches Archiv, I. NL 52, Carl Neubronner, 025. 5 Vgl. Julius Neubronner: Die Brieftaube als Photograph. In: Die Umschau, Jg. 12, 1908, Nr. 41, S. 816. 6 Julius Neubronner: Die Brieftaubenphotographie und ihre Bedeutung für die Kriegskunst, als Doppelsport, für die Wissenschaft und im Dienste der Presse, Dresden 1909, S. 27. 7 Neubronner (s. Anm. 6). 8 Neubronner gibt die Flügelspitzen als die der fotografierenden Taube aus. Vereinzelt werden die Flügel einer die „Fotografin“ begleitenden Taube zugeschrieben. Vgl. Deutsches Technikmuseum Berlin, (s. Anm. 4), 069. 9 Oesele: Militärluftschiffahrt und Brieftaubenphotographie. In: Münchener Allgemeine Zeitung, 10.09.1910, Nr. 37, S. 699. 10 Deutsches Technikmuseum Berlin, (s. Anm. 4), 066.

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Abb. 1: Julius Neubronner: „Das erste Bild, welches von einem Vogel im Fluge aufgenommen wurde“, Anflug auf Kronberg um 1906, Brieftaubenfotografie.

Abb. 3: Julius Neubronner: nicht näher bestimmbare Brieftaubenfotografie.

Abb. 2: Atelier H. Kirchhoff Vienenburg: Brieftaube mit dem Doppel-Apparat von 4 cm Brennweite (sehr bewährt).

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Abb. 4. : Julius Neubronner: Bilder von Brieftauben aufgenommen.

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Abb. 5: Julius Neubronner: „Brieftauben Ansichts Postkarte. Kaiser Friedrich Park bei Cronberg“.

Abb. 6: Julius Neubronner: Schloss Friedrichshof bei Kronberg im Taunus. Rechts und links die Flügelspitzen einer Taube, aufgenommen mit der Panorama-Kamera „Doppel-Sport“, um 1908.

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Abb. 7: Julius Neubronner: Brieftauben – Photographie. Die Aufgabe des Herrn Major Groß lautete 1909: „Aufnahme der Berliner Wasserwerke am Tegeler See aus der Entfernung von 2 Kilometern. Die Benutzung eines bereits vorhandenen Taubenschlages ist nicht gestattet .“, 1912.

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Bildbesprechung Lichtbildbelehrungen. Bilder im Grenzbereich. Die ePass-Fotomustertafeln der Bundesdruckerei

„Wenn man Ost-Berlin am Grenzübergang Friedrichstraße verläßt, hält der Mann in Uniform den geöffneten Reisepaß in der Hand, und sein Kopf und seine Augen gehen zwischen Photo und Gesicht bald dutzendmal in ruckartig-mechanischen, aber präzisen Bewegungen hin und her, um die Deckungsgleichheit, die Gleichartigkeit jeder einzelnen Stelle zu überprüfen“.1

Abb. 1: Mustertafel.

So beginnt eine der Prosaskizzen in Hervé Guiberts Phantom-Bild von 1981: mit der Beschreibung einer von einem menschlichen Beamten ausgeführten, jedoch wie automatisiert ablaufenden Bildverarbeitung. Das Gesicht wird in einzelne Zonen und Parzellen aufgeteilt, die sich wie in einem Puzzlespiel auseinander- und wieder zusammenfügen lassen. Dieser sukzessive Abgleich von Gesicht und Bild endet in einem schlichten Signal: dem grünen Licht, das die Passage erlaubt. An der Grenze stellt sich die Frage nach der Evidenz der Fotografie mit existenzieller Schärfe; 2 so gibt Guibert dem kurzen, kaum zwei Seiten langen Text einen Titel von scheinbar schlichter Eindeutigkeit: Der Beweis. Was dem Grenzbeamten mühsam antrainiert wurde, nämlich eine Gesichtserkennung als Abgleich von aktuellen und gespeicherten Daten auf der Basis rigider Codes, lässt sich seit einiger Zeit auch technisch realisieren. Die Integration biometrischer Daten in die am 1. November 2005 eingeführten sogenannten ePässe, verschlüsselt gespeichert auf kontaktlos auslesbaren RF-Chips, dient diesem Zweck.3 Die ePässe enthalten so das digital erfasste, maschinenlesbare „Gesichtsbild“ in doppelter Form: als sichtbares Abbild und als unsichtbaren Datensatz. Später sollen auch Fingerabdruckdaten auf dem Chip gespeichert werden, ebenfalls mit dem Ziel, „eine stärkere Bindung zwischen Person und Reisedokument herzustellen“.4 Wie die

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Lichtbilder gestaltet sein müssen, die den Vorgaben der Internationalen Luftfahrtbehörde ICAO genügen, erklärt die Bundesdruckerei auf Flyern und Plakaten. Anders als die Porträts, zu deren korrekter Anfertigung sie anleiten sollen, richten sich diese sogenannten Fotomustertafeln ausschließlich an menschliche Betrachter: professionelle Porträtfotografen ebenso wie Mitarbeiter der ausstellenden Behörden (Abb. 1).5 Die Mustertafeln präsentieren ihre Regeln und Anweisungen zur korrekten Bildproduktion in einer Abfolge, die von der Gesamtheit zum Detail, vom Universellen zur Ausnahme fortschreitet; dem allgemein verbindlichen Format, der richtigen Kopfhaltung und Blickrichtung folgen Regelungen für Brillenträger und schließlich für jene Personen, denen aus „glaubhaft gemachten religiösen Gründen“ das Tragen einer Kopfbedeckung auf dem Foto gestattet wird. Es gilt: Das Gesicht muss frontal, zentriert, scharf und kontrastreich aufgenommen, von der unteren Kinnkante bis zur Stirn klar erkennbar sein und 70-80 Prozent des Bildes ausfüllen (Abb. 2) – das entspricht im normierten Passfoto-Format einer Höhe von 32–36 mm. Ob diese Vorgaben erfüllt sind, kann der Sachbearbeiter der passausstellenden Behörde mit einer Schablone nachprüfen, die ebenfalls von der Bundesdruckerei erhältlich ist. Biometrie basiert zugleich auf Einmaligkeit und Wiederholbarkeit. Die Natur wiederholt sich nicht – diesem Axiom jeder biometrischen Identifizierung6 steht ein zweites zur Seite: Die wiederholte Messung an derselben Person muss stets annähernd gleiche Ergebnisse zeitigen. Das Layout der Plakate mit seinem Raster von Beispielen macht diese Dialektik von Differenz und Wiederholung anschaulich. In Leserichtung von links nach rechts werden zeilenweise Darstellungsmöglichkeiten ausgeschlossen: das zu groß oder zu klein abgebildete Gesicht, die geneigte oder gedrehte Kopfhaltung, spiegelnde oder getönte Brillen usw. Je drei exemplarisch inszenierte, fehlerhafte Bilder werden mit rotem X als ungültig gekennzeichnet, ein grünes Häkchen markiert die zulässige Variante (Abb. 3).7 Für jede mögliche Fehlerquelle wurde ein anderes

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Abb. 2: Mustertafel, Detail: Kopfschema.

Modell verpflichtet – so lässt sich die letzte Spalte von oben nach unten als Katalog der Differenz, ja Diversität lesen. Wie der Grenzübergang operiert das Raster mit einem schlichten binären Signal: grün oder rot, akzeptabel oder unzulässig, passieren oder alarmieren. De facto jedoch ist die Unterscheidung zwischen geeigneten und ungeeigneten Bildern eine, die nicht mit exakten Grenzen, sondern mit Toleranzen, mit Bereichen des Zulässigen operiert.8 Konsequenterweise werden die Regeln von der Bundesdruckerei daher als „Qualitätsmerkmale“ begriffen. Das fotografische Programm der Mustertafeln zielt auf Optimierung des Gesichtbildes und schließt zugleich aus, was die Toleranzgrenzen überschreitet. Dies sollte eigentlich bloß die Regeln der Darstellung betreffen, nicht die Dargestellten selbst. Doch werden auch regelkonform erstellte Bilder von den Behörden beanstandet, wo die Gesichter selbst nicht ganz der Norm entsprechen, nämlich bei Menschen mit asymmetrischen Gesichtszügen. Da sich ihre Aufnahmen weder als sicher geeignet noch sicher ungeeignet einstufen lassen, werden sie bei Ausstellung ihres Reisepasses aufgefordert, eine „Lichtbildbelehrung“ zu unterschreiben.9 Bei solchen „Bildern im Grenzbereich“, so der Jurist Gerrit Hornung, dient die Belehrung als schriftliche Abtretung von Schadensansprüchen, etwa wegen möglicher Schwierigkeiten beim Grenzübertritt.10 Denn wer von der Software nicht erkannt

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Abb. 3: Mustertafel, Detail: Reihe „Religiöse Gründe“ und Nachbarreihe.

wird, der hat, so das Bundesinnenministerium, immer wieder mit einer „verschärften Kontrolle“ zu rechnen.11 Die in den Mustertafeln vorgeführten Regeln dienen der Zurichtung des Porträts in Hinblick auf seine spätere Vergleichbarkeit. Dass der Vergleich automatisiert erfolgt, scheint für die Regeln beinahe sekundär – deutlich erinnern sie an Vorschriften, wie es sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für ethnografische und kriminalistische, für anthropometrische Fotografie im weitesten Sinne gibt. Der erkennungsdienstliche Gebrauch der Fotografie diente Autoren wie Philip Dubois gern als Beleg für deren indexikalischen Charakter – das Foto „bestätigt, beglaubigt, bescheinigt“ die Existenz dessen, was es zeigt.12 Dubois verweist in diesem Zusammenhang auch auf Guiberts kleinen Text – und übersieht die Ironie des Titels. Denn Der Beweis ist letztlich keiner, Guiberts Text ist weitaus mehr einer über den Zweifel als über die Sicherheit: „Was wäre, wenn der Blick plötzlich an einer Parzelle hängenbliebe und dabei einen Alarm auslöste? Wenn mein Gesicht dem Photo auf einmal nicht mehr ähnelte?“13 Was zunächst als „absoluter Beweis“ erscheint, der über den Grenzübertritt entscheidet, ist am Ende

kaum mehr als „ein schwächlicher Beweis einer polizeilichen Scheinhandlung“.14 Das Passbild soll nicht die Spur eines einmaligen Ereignisses bezeugen, sondern stabile Vergleichsdaten erfassen. Darin liegt die pragmatische Wahrheit der Fotografie: Statt eine eindeutige und objektive Sicht der Dinge aufzuzeichnen, erfordert sie Regeln der Objektivierung, um ihre Kontingenz zu zähmen: „Wahr ist ein Photo, das es erlaubt, Fakten zu verifizieren.“15 Wo Passbilder sich jedoch nicht mehr, wie noch in Guiberts Szene, an einen menschlichen Blick wenden, sondern an eine biometrische Erkennungssoftware, stellt sich umso mehr die Frage nach der Funktion der Bilder. Für die Algorithmen, die über Identität und Nicht-Identität entscheiden sollen, taugt nämlich „Blick“ nur noch als bloße Metapher – im Analyseprozess des Mediums, so formuliert es Wolfgang Ernst, werden „aus Körpern und aus Blicken ... diskrete Charaktere“.16 Die fotografische Erfassung17 ist bloß der erste Schritt dessen, was in der Biometrie als enrolment bezeichnet wird: die erstmalige Messung des biometrischen Merkmals, die Umwandlung der „Rohdaten“ in einen Referenzdatensatz und dessen Speicherung. Gesichtserkennung vergleicht weder

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Gesichter noch Bilder von Gesichtern, sondern deren algorithmisch generierte Abstraktionen, die sich umso effizienter speichern lassen, je weiter sie vom Bild abstrahieren. Auf den ePässen sind allerdings nicht diese sogenannten templates, sondern das gesamte digitalisierte Gesichtsbild gespeichert. Denn die Gesichtserkennungsalgorithmen, die für Generierung und Abgleich der templates eingesetzt werden, variieren nicht nur von Hersteller zu Hersteller, sondern unterliegen zudem strenger Geheimhaltung. Beim Grenzverkehr zwischen Staaten mit verschiedenen technischen Standards wären die reinen biometrischen Vergleichsdaten also nutzlos. Aus den templates lässt sich das vollständige Gesichtsbild nicht wieder gewinnen, die normierten Bilddaten können dagegen von den unterschiedlichsten Systemen verarbeitet werden.18 Der Normierung des Sichtbaren steht so das Fehlen von Standards auf der Ebene des unsichtbaren Codes gegenüber. Das rigide Regelsystem, das die Fotomustertafeln für die manuelle Bildproduktion vorführen, dient also gewissermaßen einem doppelten Zweck: eindeutige Identifizierbarkeit der Körper sicherzustellen, zugleich aber unterschiedlichste automatisierte Lektüren der Bilder zu ermöglichen. Roland Meyer



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1 Hervé Guibert: Phantom-Bild. Über Photographie, [Paris 1981] Leipzig 1993, S.130. 2 Der Schauplatz ist nicht zufällig gewählt. Im innerdeutschen Grenzverkehr kam der Personenidentifizierung eine besondere Bedeutung zu, sie galt als Akt staatlicher Souveränität wie als „konkrete Feindbekämpfung“. Denn zu den häufigsten Methoden der „Republikflucht“ zählte die Ausreise mit einem westdeutschen Pass, der aber nicht der ausreisenden Person gehörte, sondern einem Fluchthelfer, der ihr ähnlich sah, mit dem Pass in die DDR eingereist war und ihn dort nach der Übergabe als verloren oder gestohlen gemeldet hatte. 15–20 Sekunden standen den Beamten der „Hauptabteilung Paßkontrolle und Fahndung“ zur Verfügung, um zu entscheiden, ob die Person vor ihnen und die auf dem Passbild dieselbe war. Laut Dienstanweisung erfolgte die Personenidentifizierung in drei Etappen: zunächst der Vergleich der Gesamterscheinung, sodann das Studium der relativ unveränderlichen Merkmale des Kopfes. Blieb auch nur der geringste Zweifel übrig, sollte der Reisende „aus dem Reisestrom herausgelöst“ werden, um ihn mittels Befragung, Unterschriftenvergleich und Einsicht in Fahndungshilfsmittel einer verstärkten Kontrolle zu unterziehen. Vgl. Karin Hartewig: Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit. Berlin 2004, S. 23. 3 Über technische und juristische Fragen im Zusammenhang mit den biometrischen Reisepässen informieren ausführlich neben der Bundesdruckerei (http://www.bundesdruckerei.de/ de/buerger/index.html) u.a. auch der Heise-Verlag (http://www.heise.de/ct/ hintergrund/meldung/65898) und der Chaos-Computer-Club (http://www. ccc.de/epass/). Wo nicht genauer angegeben, beziehen sich im Folgenden alle Ausführungen zu diesen Aspekten auf die genannten Quellen. 4 Digitale Sicherheitsmerkmale im ePass, Pressemitteilung des Bundesamtes für Sicherheit in der Infomationstechnik. 5 Sie richten sich außerdem auch an jene Bürger, die den nicht unbedingt empfeh-

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lenswerten Versuch unternehmen wollen, in einem Fotoautomaten ein gültiges Passbild selbst anzufertigen. 6 Vgl. Milos Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1870–1933), Baden-Baden 2002, S. 61. 7 Die Starrheit des Rasters erzwingt es, jede Regel mit exakt drei Verstößen zu illustrieren. So wird nicht jeder mögliche Fehler visualisiert – blitzbedingte rote Augen etwa sind ebenso zu vermeiden, werden aber nicht eigens in Szene gesetzt. 8 Auch der spätere biometrische Vergleich arbeitet nicht mit eindeutigen Übereinstimmungen, sondern mit Fehlertoleranzen. Dabei gilt: Je enger die Grenzen der Toleranz, umso geringer die Benutzerfreundlichkeit. Und umgekehrt: Wo das System höhere Abweichungen gelten lässt, umso geringer die Sicherheit. Im ersten Fall produziert die Erkennungssoftware bei nicht völlig systemkonformer Bedienung zu viele „false rejections“, im zweiten Fall möglicherweise zuviele „false positives“, verweigert oder gewährt also irrtümlich den Zugang. 9 Deren genauer Wortlaut ist folgender: „Hiermit bestätige ich, dass ich von der Ausweisbehörde über die Qualität/Beschaffenheit meines vorgelegten Lichtbildes belehrt wurde. Ich bestehe auf Annahme dieses Lichtbildes durch die Passbehörde. Entstehende Schadensersatzansprüche, wegen Abweisung an einer Landesgrenze oder auf Grund polizeilicher Identitätsvorstellungen, kann ich gegenüber der Passbehörde nicht geltend machen. Die Kosten für einen neuen Ausweis habe ich voll zu tragen.“ Zit. nach: http://www.heise.de/newsticker/meldung/65711/. 10 Zit. nach heise.de (s. Anm. 9). Deutschland ist eines der ersten Länder, in denen das Anfertigen der ICAO-normierten Fotos den BürgerInnen selbst überlassen ist. In Schweden z.B, wo schon früh biometrische Reisepässe ausgegeben wurden, ist dagegen die Meldebehörde identisch mit der Polizeibehörde, und als einzige berechtigt, die Fotos für den ePass herzustellen.

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11 Das gleiche gilt für die Personen, bei denen der Funkchip im Pass unbrauchbar geworden ist. Zwar gilt auch ein Pass mit defektem RF-Chip weiterhin als gültiges Reisedokument, er setzt seine TrägerInnen jedoch einem verstärkten Verdacht aus. 12 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Hg. und mit einem Vorwort von Herta Wolf, Dresden 1998, S. 75. 13 Guibert (s. Anm. 1), S. 130. 14 Guibert (s. Anm. 1), S. 131. 15 Ronald Berg: Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001, S. 76. 16 Wolfgang Ernst: Hinter der Kamera. Speichern und Erkennnen. In: Leon Hempel und Jörg Metelmann (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a. M. 2005, S. 122–138, hier: S.126. 17 Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. 18 Vgl. ICAO: Biometrics Depolyment of Machine Readable Travel Documents. ICAO TAG MRTD/NTWG. Technical Report Version 2.0 Development and Specification of Globally Interoperable Biometric Standards for Machine Assisted Identity Confirmation Using Machine Readable Travel Documents, S. 31.

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Der Imperativ der Sichtbarmachung. Zur Bildgeschichte des Unsichtbaren Schon in dem Augenblick, als die Amerikaner Edwin Aldrin und Neil Armstrong am 20. Juli 1969 ihre Füße auf den Mond setzten und die amerikanische Flagge in dessen Boden rammten, ging ein Bild des Geschehens um die Welt und zeigte den Menschen auf der Erde, was auf dem Mond zu sehen war. Hans Blumenberg hat später die Frage gestellt, warum die NASA von der Mondlandung denn überhaupt ein Bild gemacht hatte (Abb. 1), anstatt der Welt davon in Worten zu berichten. Ironisch merkte er an, dass es sich wohl kaum gelohnt hätte, den Menschen auf den Mond zu schicken, wenn er nur das Wort und nicht ein Bild mit zurück zur Erde gebracht hätte.1 Dies gilt allemal für eine „visuelle Kultur“, in der Ereignisse zunehmend mit Bildern verbunden werden. Das Bild der Mondlandung war auch, wie bereits Blumenberg erkannte, das Ergebnis von Visualisierungszwängen einer visuellen Kultur, die vor allem in den letzten Jahren beschrieben, gefeiert oder kritisiert wird. Nach Nicholas Mirzoeff zeichnet sich eine „visuelle Kultur“ gerade dadurch aus, dass sie Unsichtbares sichtbar macht.2 Nicht nur die Verdopplung der Welt, die Simulakren und Konstruktionen virtueller Räume dominieren demnach die kollektiven Bildvorstellungen, sondern auch Bilder von Gegenständen, Vorgängen oder Eindrücken, die sich dem „unbewaffneten“ menschlichen Auge entziehen oder die per se nicht visuell sind, wie beispielsweise Töne, Gedanken, Theorien oder das Numinose. Dinge, die insofern keinen Betrachter haben, als sie nicht visuell erfahrbar sind, sollen auf diese Weise einen Betrachter finden. Es herrscht damit ein „Imperativ“ der Sichtbarmachung, der letztlich zur paradoxen Konsequenz hat, dass angesichts der Fülle des zu Betrachtenden nicht mehr alles die gleiche Aufmerksamkeit erfahren kann. Immer mehr Bilder werden produziert, und folglich immer weniger Bilder überhaupt betrachtet. Gerade vor diesem Hintergrund wäre jedoch zu fragen, wieso der „Imperativ“ der Sichtbarmachung zu einer selbstverständlichen Prämisse der westlichen Kultur werden konnte, der heute zu dem fast zwanghaften Bedürfnis führt, Unsichtbarkeit zu verdrängen, sie durch Sichtbarkeit zu ersetzen. Unsichtbarkeit kann heute geradezu als eine „Restkategorie“ bezeichnet werden, sei es in der Religion, im öffentlichen Raum oder in den Naturwissenschaften. Die Strategien dieser Verdrängung geben dabei Aufschluss über die jeweilige Kultur; „Unsichtbarkeit“ ist

1 Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Sechster Teil: Die kopernikanische Optik, Frankfurt a. M. 1985, 2, Auflage, S. 783ff. 2 Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London/New York 1999, S. 5.

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daher eine Kategorie, aus der sich eine eigene Kulturgeschichte entwickeln ließe, die den Wandel der Kategorie „Unsichtbarkeit“ in der Zeit beschreiben und nach Kontinuitäten und Brüchen im Umgang mit ihr fragen würde. So war die Sichtbarmachung von Nicht-Sichtbarem in der Neuzeit beispielsweise mit Kontrolle und Überwachung, mit Herrschaft und Macht oder mit Existenzbeweisen und Abb. 1: Edwin E. Aldrin, Jr. verlässt am 20. 7. 1969 das Lunar Module und betritt den Mond. Fotografie von Wahrheitsansprüchen verbunden. Eine solche Neil A. Armstrong mit einer 70mm-Kamera während Kulturgeschichte existiert erst in Ansätzen der Apollo-11 Mission der NASA. und ist noch nicht systematisch geschrieben.3 Schon Hans Blumenberg hatte festgestellt, dass es noch keine „Geistesgeschichte“ des Unsichtbaren gebe, in welcher die allmähliche Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem nachvollzogen würde. Zugleich wäre eine solche Geschichte der Unsichtbarkeit auch und gerade eine „Bildgeschichte“, weil sie Formen des Sehens und Betrachtens behandelt, welche eng mit den Bedingungen der Bildlichkeit verknüpft werden. Im Folgenden soll an zwei markanten – und sehr unterschiedlichen – Beispielen aus verschiedenen Jahrhunderten ein historisch sich wandelnder Umgang mit Unsichtbarem in den Naturwissenschaften demonstriert werden. Nimmt man die Entstehung neuzeitlicher Naturwissenschaft in den Blick, so zeigt sich, dass die Sichtbarmachung von Unsichtbarem im 17. Jahrhundert noch einen Skandal, eine Irritation bedeutete, wie sich am Beispiel von Galileis Blick durch das Teleskop zeigen lässt. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war sie dagegen zur Selbstverständlichkeit naturwissenschaftlicher Forschung geworden. Besonders deutlich wird dies an den Parawissenschaften, die sich in ihrem Bestreben nach Wissenschaftlichkeit der Sichtbarmachung von Unsichtbarem bedienten und glaubten, damit naturwissenschaftlichen Beweisstrategien genügen zu können.



3 Vgl. Hartmut Böhme: Das Unsichtbare – Mediengeschichtliche Annäherungen an ein Problem neuzeitlicher Wissenschaft. In: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität,München 2004, S. 215–245; Hans-Jörg Rheinberger: Invisible Architectures. In: Science in Context, 13,1 (2000), S.121–136. Siehe auch den Titel der jüngsten Publikation von Karlheinz Lüdeking: Grenzen des Sichtbaren, München 2006, die sich in einzelnen Aufsätzen mit dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in der bildenden Kunst befasst.

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Neuzeitliche Unsichtbarkeit – der Drang zur Sichtbarmachung

Die Verbildlichung von unsichtbaren Phänomenen in der Natur stellt etwas Neuzeitliches dar. Noch im Mittelalter fehlte im Hinblick auf die Natur die Vorstellung von Dingen, die dem menschlichen Auge entzogen waren und die mittels Visualisierungstechniken in die Sichtbarkeit gebracht werden konnten. Der Betrachter sah das, was sein Auge ihm bot, und begriff das, was sein Verstand ordnen konnte. Blumenberg spricht hier vom „Sichtbarkeitspostulat“ der Abb. 2: Salomon von Konstanz, Glossar: Der Mensch als Naturforschung, das davon ausging, dass Mikrokosmos, Buchmalerei, Prüfening, 1165. nichts jenseits der menschlichen Wahrnehmung existiere: „Dass es in der Welt für den Menschen nicht nur zeitweise und vorläufig, sondern seiner natürlichen Ausstattung definitiv Entzogenes und Unsichtbares geben könnte, war eine der Antike wie dem Mittelalter unbekannte (…) Vorstellung.“4 Hans-Jörg Rheinberger zeigt auf, dass beispielsweise für William Harvey oder für René Descartes – trotz aller substanziellen Unterschiede der beiden – Unsichtbarkeit noch kein epistemisches Problem darstellte, insofern sie die Funktionsprinzipien und Mechanismen des Sichtbaren auf den Bereich des Unsichtbaren übertrugen.5 So konnten etwa die Gestalt des Menschen und die Gliederung seines Leibes mit einem größeren Kosmos zur Gleichung gebracht werden. (Abb. 2 zeigt eine Variante des weit verbreiteten Schemas vom Menschen als Mikrokosmos, der in Relation zu den Elementen gebracht wird und als Spiegel der Natur erscheint.)6 Es bestand somit noch kein epistemologischer Riss zwischen der Welt des Sichtbaren und dem Bereich des Unsichtbaren – und so gab es auch keine Notwendigkeit der Sichtbarmachung. Erst mit der neuzeitlichen Endeckung des Unsichtbaren in der Natur lernten die Menschen – vermittelt über Bilder – , Dinge zu sehen, die zuvor keinen Betrachter gehabt hatten. Teleskop und Mikroskop spielten dabei eine wesentliche Rolle,

4 Blumenberg (s. Anm. 1), S. 13. 5 Rheinberger (s. Anm. 3), vor allem S. 121ff. 6 Für Otto Pächt (Buchmalerei des Mittelalters, München 1984, S. 155ff) ist dies ein Beispiel für die „didaktischen Bildseiten“ des Mittelalters, die lehrtafelartigen Charakter besaßen.

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indem sie den Blick eröffneten auf völlig neue, ungeahnte Welten und damit auf neue Wissensräume. Sichtbarkeit wurde das Ergebnis eines technischen Prozesses. Galileis Blick in den Himmel

Gewissermaßen den „Sündenfall“ in dieser Geschichte stellt Galileo Galileis Blick durch das Teleskop dar. Galilei war weder der erste, der ein Fernrohr benutzte, noch der erste, der die Unebenheit der Mondoberfläche entdeckte, und auch nicht der erste, der das ptolemäische Weltbild in Frage stellte. Seine Biografie, die Verurteilung durch die Inquisition, sein Widerruf und sein wissenschaftliches Denken waren immer wieder Thema der Forschung. In der ­Wissenschaftsgeschichte gilt er als einer der Begründer der modernen beobachtenden mathematisch-wissenschaftlichen Methode. Und – das ist im Folgenden zentral – Galilei steht dafür, entscheidend zur visuellen Evidenz der kopernikanischen Überzeugung beigetragen zu haben. Nachdem Galilei ein Teleskop nachgebaut hatte, entdeckte er im Januar 1609 die vier Jupitermonde. Dieses Planetensystem sowie der Blick auf die Unebenheit der Mondoberfläche waren ihm ein Nachweis der Richtigkeit der ­kopernikanischen Theorie, für die er – nachdem er durch das Sehen Beweise für die Theorie zu haben glaubte – öffentlich eintrat (Abb. 3). Aus der Perspektive einer Geschichte der Unsichtbarkeit wird die Ungeheuerlichkeit des Anspruchs deutlich, einen empirisch-sichtbaren und technisch hergestellten Beweis einer Theorie zu liefern, die den kirchlichen Dogmen widersprach und die zudem mit der instrumentellen Sichtbarmachung von den menschlichen Sinnen Unsichtbarem argumentierte. Das Fernrohr selbst war damals alles andere als ein anerkanntes w ­ issenschaftliches Instrument. Weigerten sich einige, überhaupt durch das Fernrohr zu sehen, weil sie es für Gaukelei und optische Täuschung hielten, so insistierten andere, die Beobachtungen Galileis seien per se unmöglich, da sie mit den D ­ efinitionen des Aristoteles in Widerspruch stünden. Der Beobachtung wurde mit Hinweis auf traditionelles Wissen widersprochen und sie deshalb als unmöglich eingeschätzt. Andere behaupteten schlichtweg, nichts zu sehen, wenn sie durch das Fernrohr blickten. Während der nächtlichen Beobachtung im Haus Maginis in Bologna, einem Widersacher Galileis, im Jahr 1610, konstatierten alle Beteiligten,

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nichts von den Jupitertrabanten sehen zu können. Galilei war darüber überaus verstimmt und kritisierte, dass sie „­lieber die Augen schließen“ und nicht von ihren Sinnen Gebrauch machen wollten.7 Womöglich erblickten die geladenen Kollegen zwar wirklich nichts, aber dass eben dies den Forscher erboste, lässt erkennen, wie sehr sich die Auffassungen verschoben hatten. Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren stellte für die Zeitgenossen in jedem Falle eine Herausforderung dar. Probleme des teleskopischen Sehens

Abb. 3: Galileo Galilei: Tuschezeichnung der Mondpha-

Wissenschaftsgeschichte und Kunstgeschich- se vom 17.12.1609, 5 Uhr morgens. Detail aus dem te bieten sich ergänzende Perspektiven, um Manuskript MS Gal.48 f. 28r. zu verstehen, was Galilei sehen konnte bzw. warum er sah, was er sah, während es andere nicht sahen. In der Wissenschaftsgeschichte lassen sich zwei Lager ausmachen:8 Auf der einen Seite bewerteten Historiker die Einwände der Gegner als naiv, rückständig und auf die Weigerung zurückführbar, die Augen zu öffnen, ganz im Sinne Galileis. Dass es etwas mit dem bloßen Auge Nicht-Sichtbares geben könne, das der herkömmlichen Kosmologie widerspreche, sei ihnen nicht akzeptabel gewesen. Unüberholt ist Paul Feyerabends Hinweis auf den problematischen Status des Fernrohrs als Beweismittel und auf die Probleme des teleskopischen Sehens. Er unterstreicht, dass die ersten Himmelsbeobachtungen mit dem Fernrohr undeutlich, unbestimmt, widersprüchlich waren und zudem allem zuwiderliefen, was jedermann mit unbewaffnetem Auge sehen konnte.9 Vor allem resultierten aus der technischen Unvollkommenheit des Fernrohrs Probleme. Das Fernrohrbild war stark verzerrt oder durch farbige Ränder entstellt. So erschienen beispielsweise die Fixsterne in einigen frühen Fernrohren quadratisch und sehr farbintensiv; manche

7 Blumenberg (s. Anm. 1), S. 764. 8 Zum Folgenden vgl. die prägnante Zusammenfassung bei Mario Biagioli: Galileo’s Instruments of Credits. Telescope, Images, Secrecy, Chicago/London 2006, S. 77f., Fußnote 1 und 2. 9 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1975, S. 161.

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Fixsterne waren auch doppelt zu sehen. Um vor Augen zu haben, was auch Galilei tatsächlich gesehen haben könnte, mussten einige Bedingungen erfüllt sein. Albert van Helden zählt hierzu ein gutes Fernrohr, eine gute Beobachtungsgabe, ein scharfes Auge und das Wissen um und den Glauben an die kopernikanische Theorie. 10 Kunsthistoriker wie Ernst Panofsky, Samuel Y. Edgerton und Horst Bredekamp haben wiederum auf Galileis künstlerische Ausbildung verwiesen, die ihm zu sehen erlaubte, was andere nicht sahen. Horst Bredekamp betont, wie Galileis künstlerischer Erfahrungshorizont ihm das Sehen beispielsweise der Mondoberfläche ermöglichte, während Thomas Harriot, der vor Galilei den Mond und die Planeten durch das Teleskop betrachtet hatte, nicht in der Lage war, die Unebenheiten des Mondes zu erfassen. Galilei dagegen war es möglich, anderes zu sehen als die herrschenden Theorien behaupteten:11 „Galileis Fähigkeiten als Meister des disegno haben bewirkt, dass er nicht nur seinen Augen zu trauen wagte, sondern auch, dass er das Gesehene darzustellen verstand.“12 Neben der Rolle der kirchlichen Dogmen, der Einschreibungen des Instruments in das Gesehene sowie der Abhängigkeit von den geschulten (oder eben nicht geschulten) künstlerischen Beobachtungsfähigkeiten und dem optischen Erwartungshorizont derjenigen, die es wagten, durch das Fernrohr zu sehen, war der Blick in die unsichtbare Welt des Universums vor allem aufgrund der fundamentalen Frage nach dem Status des Sichtbargemachten als Argument grundsätzlich umstritten. Denn der Blick durch das Teleskop in eine unsichtbare Welt kollidierte mit der mittelalterlichen Wissenschaftstradition, die auf Textauslegung basierte. Die Sichtbarmachung von Unsichtbarem war damit im 17. Jahrhundert etwas Umstrittenes, dessen Sinn, dessen Legitimität und dessen Methodik noch nicht zum Kanon moderner Wissenschaft gehörten. Unsichtbare Geister und ihre Sichtbarmachung

Eine Kulturgeschichte der Unsichtbarkeit müsste sich, wie das schon Hartmut Böhme in einem Aufsatz begonnen hat, ausführlich auch dem Mikroskop oder 10 Albert van Helden: The Invention of the Telescope. In: Transaction of the American Philosophical Society, 67 (1977), 4, S. 1–67. 11 Horst Bredekamp: Galileo Galilei als Künstler. In: Bogomir Ecker, Bettina Sefkow (Hg.): Übergangsbogen und Überhöhungsrampe. Naturwissenschaftliche und künstlerische Verfahren. Symposion I und II / Hochschule für Bildende Künste, Hamburg. 1996, S. 54–63. 12 Bredekamp (s. Anm. 11), S. 63.

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dem Vakuum widmen, die Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts detailliert in den Blick nehmen, die Konjunkturen der und die Debatten um die Sichtbarmachung von Unsichtbarem und um dessen epistemischen Status analysieren und vor allem die hervorgebrachten Bilder betrachten.13 Das 19. Jahrhundert zeigt dann eine völlig gewandelte Konstellation. Die Zahl der Visualisierungsinstrumente stieg im Laufe des Jahrhunderts erheblich an: Die Mikroskopie wurde zur Selbstverständlichkeit biologischer Forschungen, Helmholtz entwickelte Instrumente wie den Augen- und den Kehlkopfspiegel, selbstregistrierende Instrumente wie der Auxanometer maßen und visualisierten das Pflanzenwachstum und das Röntgen erlaubte die Betrachtung des Knochenbaus, ohne den Körper zu öffnen. Die These liegt nahe, dass für eine Geschichte der Unsichtbarkeit das späte 19. Jahrhundert eine Umbruchsphase darstellt, in der die technische Sichtbarmachung von Unsichtbarem zu einem selbstverständlichen Bestandteil moderner Naturwissenschaft wurde. Zwar blieben die Bilder, die gezeigt wurden, umstritten; die Frage, was man sah, war (und ist bis heute) immer wieder ein Topos der Auseinandersetzung, vor allem in der jeweiligen Anfangsphase der neu hervorgebrachten Bilder. Gleichwohl stellte die Sichtbarmachung von Unsichtbarem keinen visuellen Schock mehr dar, wie es noch zu Zeiten Galileis der Fall gewesen war. Der Wandel in der Bedeutung des Sichtbarmachens von Unsichtbarem lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Parawissenschaften zeigen, insofern diesen die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde, sie aber bemüht waren, wissenschaftliche Beweise zu führen und sich daher dessen bedienten, was in den Wissenschaften Geltung versprach, in der Hoffnung, damit naturwissenschaftlichen Beweisstrategien zu genügen. Ende des 19. Jahrhunderts rückten Parawissenschaften übersinnlichen und damit unsichtbaren Phänomenen einerseits mittels quantitativer Methoden zu Leibe, andererseits mit Hilfe von Bildmedien. Dazu nutzte vor allem die Parapsychologie die Fotografie. Die Fotografie als „Indiz des Realen, einer Realität, die der menschliche Blick nicht durchdringen konnte“14, geriet in das Fahrwasser des Spiritismus: Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland und in Frankreich die ersten Versuche angestellt, okkulte Phänome 13 Böhme (s. Anm. 3). 14 Michel Frizot: Das absolute Auge. Die Formen des Unsichtbaren. In: Ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 273–284, hier S. 274.

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ne, vor allem Geister, mit Hilfe der Fotografie zu zeigen und damit ihre Existenz zu beweisen.15 Gerade die Fotografie als vermeintliches Medium der Selbstaufzeichnung schien einen Existenzbeweis für das Unsichtbare führen und damit einen Wahrheitsanspruch erheben zu können. Diese Bilder bedienten sich der Idee der Indexikalität als Grundprinzip der Fotografie und gleichzeitig unterhöhlten sie es mit ihren retuschierten Geisterfotografien (Abb. 4). Zwar sollten diese Fotos dem Nachweis der Existenz von Geistern dienen, doch ­verweisen sie vor allem auf das, was man mit „Evidenz durch Konvention“ bezeichnen könnte. Denn wenig überraschend, Abb. 4: Paul Nadar/Albert de Rochas: o. T. („corps astral sehen die Geister auf den Fotos genau so par truc“), Paris, um 1896. aus, wie sie gemeinhin vorgestellt werden (Abb. 5):16 Sie sind in weiße Gewänder und Tücher gehüllt, Wesen ohne Arme und Beine, gesichtslos, lediglich aus Kopf und einem großen Rumpf bestehend; sie schweben im Raum, manchmal mit Flügeln, während die Fotografierten die Anwesenheit des Geistes gar nicht bemerken. Nur der Betrachter kann – dank Fotografie – Geister sehen. Die sichtbaren Beweise bedienen sich dabei unübersehbar der erwarteten Darstellungskonventionen – sonst würden wir sie ja auch nicht erkennen. Anders als im Falle Galileis handelt es sich hier um die Visualisierung eines kategorial Unsichtbaren, also die Visualisierung von Phänomenen, die per se nicht visuell sind.17 Der Umgang mit dem Unsichtbaren verweist dabei auf eine rational-positivistische Kultur, in der Wahrheit und Geltung an Sichtbarkeit gebunden sind. Diese Sichtbarmachung 15 Vgl. dazu: Eva Bracke (Hg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Mönchengladbach 1997. 16 Eine Geschichte der Geisterbilder und ihrer Bildtraditionen wäre erst noch zu schreiben. 17 Zum Begriff der „kategorialen Unsichtbarkeit“ vgl. auch Böhme (s. Anm.3). Davon könnte man eine „relative Unsichtbarkeit“ unterschieden, die, wie im Falle Galileis, Phänomene bezeichnet, die zwar dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind, die aber prinzipiell in die Sichtbarkeit geführt werden können.

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des Unsichtbaren steht für eine Kultur, in der das als wahr, als existent gilt, was sichtbar, messbar und berechenbar ist, weshalb auch Geister sichtbar gemacht werden mussten. Drang und Verdrängung: Traditionen des Unsichtbaren

Je stärker die Naturwissenschaften in den Bereich des Unsichtbaren ­vordrangen und im Unsichtbaren agierten, desto größer, so die These, wurde die Bedeutung von Visualisierungen. Phänomene, die vorher kein Betrachter je gesehen hatte und die häufig prinzipiell nicht zu betrachten sind, wurden sichtbar. Unsichtbares zu sehen, musste Abb. 5: Anonyme „Geisterfotografie“, Deutschland, um 1900. dabei erst gelernt werden, wie der Fall Galilei zeigte; und für das Unsichtbare, vor allem für das kategorial Unsichtbare, müssen jeweils erst die adäquaten Bilder entwickelt werden. Die Rolle der Bildtraditionen bei der Visualisierung des Unsichtbaren wird vor allem an der Geisterfotografie überdeutlich, das als kategorial Unsichtbares umso mehr der Bildtraditionen bedarf. Begann die neuzeitliche, naturwissenschaftliche Sichtbarmachung von Unsichtbarem im 17. Jahrhundert mit dem Streit um dessen grundsätzliche Legitimität, so wurde sie seit dem 19. Jahrhundert zu einem selbstverständlichen und noch viel mehr zu einem konstitutiven Teil moderner Naturwissenschaften. Unsichtbarkeit, die Eroberung von Räumen, die den menschlichen Sinnen nicht zugänglich sind, stellt einen Stachel, ein Movens in der Geschichte der Naturwissenschaften dar, die sich als der permanente Versuch einer weiteren Eroberung des Unsichtbaren schreiben lässt, bis hin zur Nanowelt der Gegenwart, die in allerkleinste, sinnlich nicht erfassbare Bereiche eindringt – und uns Bilder davon zeigt. Auf den ersten Blick stellt sich die Geschichte der Unsichtbarkeit somit als eine lineare Geschichte einer steten Verdrängung des Unsichtbaren dar. Aber auch wenn der Drang zur Sichtbarmachung – wie ein erster heuristischer Blick

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ergibt – in der Geschichte der Neuzeit ungebrochen zu sein scheint, so stößt das Unterfangen doch an verschiedene systematische, ihm immanente Grenzen. Denn auch wenn es der Ehrgeiz ist, in das jeweils noch Kleinere, Fernere und Unzugänglichere vorzudringen, so erweist sich die Verschiebung der Grenze der Sichtbarkeit als ein schier unendlicher Prozess. Zu leicht wird vergessen, dass jedes Sichtbare immer das Unsichtbare mit sich führt, dass im Schatten des Sichtbaren das Unsichtbare haust. Zudem erweist sich der Status des Sichtbargemachten und, allgemeiner gesprochen, der Status des Visuellen als ambivalent. Ist einerseits in der Moderne von der „Hegemonie des Sehens“ die Rede, so machte die Entdeckung eines Unsichtbaren die Unzulänglichkeit, die Beschränktheit der menschlichen Sinneswahrnehmung deutlich. Galileis Blick durch das Fernrohr bedeutete auch eine narzistische Kränkung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens. Mit der „Hegemonie des Sehens“ ging die Entthronung des menschlichen Sehens durch technisches Sehen einher. Zudem brachte die Nutzung der Visualisierungstechniken und das Eindringen in das Unsichtbare keineswegs eine Aufwertung sinnlicher Erkenntnis mit sich. Vielmehr können gerade die Visualisierungstechniken als ein Versuch der Mechanisierung, der Beherrschung und Kontrolle der Sinneswahrnehmung betrachtet werden. „Die Wahrnehmung des Auges wurde durch Beobachtungsdisziplin und Visualisierungstechniken und schließlich beides durch Berechnung kontrolliert“, so Hartmut Böhme.18 Er konstatiert denn auch eine Doppelstruktur der Wissenschaften: Um Wissenschaft erzeugen zu können, sei der Welt des Augenscheins einerseits radikal zu misstrauen; zugleich werden jedoch mittels Visualisierungstechnologien visuelle Darstellungen von bisher völlig unbekannten Welten geschaffen.19 Das Unsichtbare brachte damit die Naturwissenschaften in ein Dilemma, indem der Umgang mit ihm, seine Beweisbarkeit, die Möglichkeiten seiner Visualisierung je neu verhandelt werden mussten. Entsprechend war die Eroberung des Unsichtbaren keine ungebrochene Erfolgsgeschichte, sondern ein konfliktreicher Prozess. Die Weigerung von Galileis Zeitgenossen, durch das Fernrohr zu sehen, sowie der von Arthur Miller und Peter Galison dargestellte Bilderstreit zwischen Niels Bohr, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg um die Visualisierungen in der Quanten-

18 Böhme (s. Anm. 3), S. 223. 19 Böhme (s. Anm. 3), S. 217.

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mechanik sind nur prominente Beispiele, die auf einen grundlegenden Streit um den sinnlichen Zugang zu wissenschaftlicher Erkenntnis verweisen.20 Und schließlich bleibt zu erwähnen, dass Bilder selbst wiederum Unsichtbares mit sich führen, wenn sich das Gezeigte als Verdichtung komplexer Sachverhalte vor diese schiebt. Es ist der „Schleier des Unsichtbaren“ (Klaus Krüger). Zudem verweist Lambert Wiesing – mit Referenz auf Merleau-Ponty – auf die „sinnliche Selbstverleugnung des Bildes“, denn „die Sichtbarkeit des Dargestellten verlangt eine Unsichtbarkeit des Darstellenden“.21 Das unmittelbar Sichtbare ist mithin nicht unbedingt das interessanteste Element einer Darstellung Damit kehrt der Beitrag an den Beginn zurück, nämlich zur Mondlandung und zum Zwang der Sichtbarmachung. Eine Kultur, in der es sich, wie Hans ­Blumenberg sarkastisch beobachtete, nicht lohnt, den Menschen auf den Mond zu schicken, wenn er nur das Wort mit zurückbrächte, ist eine „visuelle Kultur“ ­– eine Kultur, die alles in die Sichtbarkeit überführt, damit es geglaubt, erinnert, bewiesen wird und als wahr gilt.22 Kurz: eine Kultur, in der Unsichtbarkeit keinen Platz mehr hat. Blumenberg hätte dies allerdings mit einigem Spott kommentiert. Sein Credo lautete: „Die Hauptsache bleibt immer unsichtbar.“ 20 Vgl. Arthur I. Miller: Visualization Lost and Regained: The Genesis of the Quantum Theory in the Period 1913–23. In: Judith Welcher, Judit Wechsler (Hg.): On Aesthetics in Science, Boston/ Basel 1988, 3. Auflage, S, 73–103; sowie Peter Galison: Images Scatter into Data. Data Gather into Images. In: Bruno Latour, Peter Weibel: Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, Cambridge 2002, S. 300–323. 21 Vgl. z.B. Lambert Wiesing: Phänomene im Bild, München 2000, S. 64. 22 Vgl. hierzu „Unser Bild der Mondlandung beruht auf einem Kopierfehler“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. August 2006 (zu den wahrscheinlich verlorenen Originalmagnetbändern der Apollo-11-Mission).

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Überraschend viele Artefakte chinesischer visueller Kultur waren nicht dafür gemacht, gesehen zu werden, sondern wurden bereits unmittelbar nach ihrer Fertigstellung dem Blick schon wieder entzogen. Das gilt für so gut wie alle heute noch erhaltenen Gegenstände vom Neolithikum bis einschließlich zur HanZeit (206 v.Chr. – 220 n.Chr.). Dazu gehören Tausende von exquisit gegossenen Bronzegefäßen der Shang- und Zhou-Zeit (16. –3. Jh. v.Chr.), die weltberühmte Terrakotta-Armee in der Grabanlage des Ersten Kaisers von China (221–210 v.Chr.) oder auch die in den letzten Jahren immer häufiger auf Seide, Bambusund Holzleisten gefundenen klassischen und anderen Texte aus den Jahrhunderten um die Zeitenwende. Alle diese Objekte wurden von ihren Herstellern oder Besitzern für immer in Gräbern deponiert. Doch auch in späterer Zeit wurden viele Gegenstände hergestellt, die nicht dazu bestimmt waren, von menschlichen Augen betrachtet zu werden. Im Folgenden werden zunächst drei Gruppen von solchen Artefakten in einem buddhistischen Kloster vorgestellt, um dann kurz auf weitere Beispiele und (in einem Epilog) auf die Implikationen einzugehen, die aus diesen Beobachtungen deutlich werden. Sutra-Steine

Im Bezirk Fangshan 房山, etwa 70 Kilometer südwestlich von Beijing, liegt das Wolkenheim-Kloster (Yunjusi 雲居寺). Die Anlage ist berühmt für ihre Sutra-Steine (shijing 石經), Steintafeln, auf denen die kanonischen Schriften des Buddhismus eingemeißelt sind. Dieses wohl größte epigrafische Projekt der Weltgeschichte begann um 600 nach Christus und kam gegen 1200 zum Abschluss. In den sechs Jahrhunderten meißelten die Mönche über 25 Millionen Schriftzeichen auf circa 15.000 Tafeln. Immer wenn eine Gruppe von Steinen fertig war, wurde sie in eine Berghöhle oder in eine unterirdische Grube verbracht. Abb. 1 zeigt die Grube neben der Südlichen Pagode des Klosterareals bei ihrer Öffnung im Jahre 1956. Sie enthielt mehr als zehntausend steinerne Schrifttafeln, die im 12. Jahrhundert eingelagert worden waren, um das Tageslicht nie wieder zu erblicken. Unterhalb des Kamms des etwa fünf Kilometer entfernten Steinsutrenberges (Shijingshan 石經山) schlug man neun Höhlen in den Fels. Acht * Der folgende Text basiert auf einem auf Englisch gehaltenen Kongressvortrag. Ich danke ­Matthias Bruhn für eine deutsche Übersetzung und Anregungen für die weitere Überarbeitung.

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Abb. 1: Grube von 1117 mit den versenkten Sutra-Steinen im Wolkenheim-Kloster, bei ihrer Öffnung 1956.

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Abb. 2: Metallregale mit den Sutra-Steinen, Wolkenheim-Kloster, Zustand vor 1999.

davon sind heute noch bis an den Rand mit steinernen Tafeln angefüllt und mit steinernen Türen versiegelt, die ohne Schlösser sind. Die Mönche hofften, dass ihre heiligen Texte im Schutz der Erde das gewaltsame Ende dieses Weltzeitalters überdauern würden. Erst nach der Apokalypse sollten in einem nächsten Weltzeitalter die Schriften wiederentdeckt werden, auf dass sich die Lehre des Buddhas von neuem verbreiten würde. Natürlich hatten die Mönche keine Zweifel, dass die Menschen des nächsten Zeitalters Chinesisch lesen könnten. Allerdings haben neugierige Archäologen unserer Zeit so lange nicht warten mögen; sie hoben die Steine aus der Grube im Klostergelände aus, um sie auf Regalen aus- und aufzustellen (Abb. 2). Auch die Höhlen am Steinsutrenberg wurden 1956–1958 geöffnet. Von allen Steinen wurden damals Abreibungen mit Tusche auf Papier hergestellt, dann aber die Steine wieder in den Höhlen gestapelt. Heute lassen sich die Tafeln nur noch im Halbdunkel durch Schlitze in den schlosslosen Türen (Abb. 3) erspähen. Obwohl die Sutra-Steine verborgen waren, wünschten sich die Mönche aber doch, dass ihre Existenz bekannt bliebe. Im Jahre 1117 brachten sie eine steinerne Inschriftentafel außerhalb der Hauptgrube an, die vorsorglich auch deren StandAbb. 3: Eine der acht Berghöhlen mit schlossloort angab: „Einen Schritt vor der Pagode befinden sen Steintüren, Steinsutrenberg, Anfang 8. Jh.

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sich in einer unterirdischen Krypta Stelen mit Sutren, 4.500 Stück an der Zahl.“1 Die Ausgräber der 1950er Jahre mussten nicht lange nach ihnen suchen, sie waren damit genau genug instruiert. Dieselbe Inschrift erwähnt auch gleich die Steine auf dem Steinsutrenberg: „Es sind nun fast 300 Bündel von Maha¯ ya¯ na-Sutren eingemeißelt; sie liegen verborgen unter dem östlichen Gipfel, wo sie acht Felshöhlen füllen.“2 Weitere jüngere wie ältere narrative Inschriften außerhalb der betreffenden Höhlen enthielten dann noch zusätzliche Angaben, etwa eine aus dem Jahre 625, deren Rückseite mit der Reihenfolge der Tafeln anhebt: „Insgesamt sechs Reihen [von Steinen] wurden hergestellt. Auf der Nordseite [der Höhle] befindet sich die erste Reihe: (…) [Zweite Reihe:] 20 Steine. Dritte Reihe: 18 Steine (…)“ und so weiter. Die Inschrift schloss mit einer Aufforderung: „Falls jemand später diese Steine herausnehmen sollte, so ist es mein Wunsch, dass er sie nach dem Kopieren zurückbringen und wieder in der richtigen Reihenfolge anordnen möge; dass diese Version des Sutra niemals entfernt werde, ist mein Wunsch.“3 Die langfristige Aufbewahrung der Sutren ließe sich natürlich am einfachsten mit den tiefsitzenden apokalyptischen Ängsten erklären. Der Gründer des Klosters und des großen Meißelprojektes, Mönch Jingwan 靜琬 (er starb 639), nennt in seinen narrativen Inschriften ausdrücklich die Furcht vor dem Weltuntergang als sein Motiv. Allerdings wird durch eine solche Erklärung die Praxis des Abschreibens und Einlagerns nicht restlos verständlich, denn auch die Christenheit, die den Weltuntergang zu Zeiten immer wieder unmittelbar bevorstehen sah, hat





1 Alle seinerzeit bekannten historischen Inschriften im Wolkenheim-Kloster wurden zusammengestellt von Pu Ru 溥儒, Baidaishan zhi 白帶山志 (Chronik des Weißgürtelberges), erste Ausgabe, Beiping 1948. Revidierte Ausgabe vonYang Lu 楊璐, Beijing 1989. Die historischen Texte sind ebenfalls transkribiert in Beijing tushuguan jinshizu 北京圖書館金石組 und Zhongguo fojiao tushu wenwuguan shijingzu 中國佛教圖書文物館石經組 (Hg.), Fangshan shijing tiji huibian 房山石經題記彙編 (Corpus der Kolophone auf den Stein-Sutren in Fangshan), Beijing 1987. Der zitierte Satz findet sich S. 27. Einige Fehler sind korrigiert in ChenYan­zhu 陳燕 珠, Xinbian buzheng Fangshan shijing tiji huibian 新編補正房山石經題記彙編 (Revidierte und ergänzte Ausgabe des Corpus der Kolophone auf den Stein-Sutren in Fangshan),Taibei 1995. 2 Beijing tushuguan jinshizu (s. Anm. 1), S. 27. 3 Zu dieser erst 1989 entdeckten Inschrift und den vier anderen frühesten Inschriften im Kloster vgl. Lothar Ledderose: Changing the Audience: A Pivotal Period in the Great Sutra Carving Project at Cloud Dwelling Monastery near Beijing. In: John Lagerwey (Hg.): Religion and Chinese Society, Bd. 1, Ancient and Medieval China. Hong Kong: Chinese University Press und Paris: École française d’Extrême-Orient 2004, S. 385–409.

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darum nicht ihr gesamtes heiliges Schrifttum in Stein gehauen und in der Erde versenkt. Andererseits waren aber die Sutra-Steine auch nicht das einzige, was im Wolkenheim-Kloster geschaffen wurde, nur um dann niemals wieder angeschaut zu werden. Zwei weitere Beispiele können dies verdeutlichen. Grabinschriften

Aus einer nur als Abreibung auf Papier erhaltenen Grabinschrift für den Abt Yiqian 義謙 (1127–1200) geht hervor, dass dieser im Jahre 1180 in sein Amt gewählt wurde und unmittelbar darauf das Patrozinium des Klosters zu Chan (jap. Zen) wechselte.4 Damit war das Ende des großen Meißelprojekts eingeläutet, denn Chan-Mönche räumen in ihrer Glaubenspraxis den heiligen Texte nicht eine derartig zentrale Rolle ein wie andere buddhistische Schulen. Die Inschrift war an den sechs Schaftseiten von Yiqians Grabpagode eingemeißelt, welche seine Schüler 1201, ein Jahr nach dem Tod des Abtes, errichteten. Das Monument existiert heute nicht mehr; es dürfte jedoch einem Pagodenpfeiler von 1118 geähnelt haben, der sich noch im Kloster befindet und der ebenfalls eine Inschrift auf den acht Seiten des Schaftes aufweist (Abb. 4).5 Yiqians Grabpagode war demnach ein öffentlich zugängliches Denkmal, und die Grabinschrift darauf für jedermann lesbar. Anders verhält es sich mit der Grabinschrift für den Klostergründer Jingwan. Auf dessen Grabpagode sind außen am Schaft nur einige Zeichen mit seinem Namen



Abb. 4: Pagodenpfeiler mit historischer Inschrift auf dem achtseitigen Schaft, 1118.

Abb. 5: Abreibung der Grabinschrift für Mönch Jingwan, 1093.

4 Zu der Inschrift vgl. Lothar Ledderose: The End of the Project. In: Georges-Bloch-Jahrbuch, Zürich: Kunsthistorisches Institut der Universität, im Druck. 5 In dieser narrativen Inschrift wird die Einlagerung der Sutra-Steine in die Grube im Klostergelände beschrieben. Dazu Lothar Ledderose: Carving Sutras into Stone before the Catastrophe: The Inscription of 1118 at Cloud Dwelling Monastery near Beijing. Proceedings of the British Academy, Bd. 125 (2004), S. 381–454.

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zu sehen, die den Bestatteten identifizieren. Die eigentliche ausführliche Grabinschrift wurde auf einer separaten Steintafel eingemeißelt (Abb. 5) und zusammen mit den Gebeinen des Mönches im Innern des Gebäudes abgelegt, wiederum in der Absicht, beides vor dem menschlichen Auge auf immer zu verbergen. Nur zufällig kam die Inschriftentafel im Jahre 1987 ans Licht, als die Grabpagode innerhalb der Klosteranlage versetzt werden sollte. Überraschenderweise stellte sich dabei auch heraus, dass die Inschrift nicht im Jahre 639, dem Abb. 6: Ausgrabung der im Jahre 616 deponierTodesjahr Jingwans, geschrieben worden war, ten Reliquien in der Donnerklang-Höhle, 1981. sondern erst über vierhundert Jahre später, nämlich 1093, wie die Tafel selber mitteilt. Daraus ließ sich schließen, dass auch die Grabpagode nachträglich erst in jenem Jahr errichtet worden war und nicht schon im siebten Jahrhundert, wie die meisten modernen Forscher bis dahin vermutet hatten. Abgesehen davon, dass dies kein gutes Licht auf die Zuverlässigkeit der Datierung chinesischer Architektur wirft, hätte man schon früher annehmen können, dass sich im Innern des Baus eine Inschriftentafel befinden müsste; allein, deren Inhalt war völlig unbekannt und nirgends überliefert, und niemand zeigte offenkundig ein Bedürfnis, diesem Beispiel mönchischer Erinnerungskultur intensiver nachzugehen. Im Unterschied zur öffentlichen Grabinschrift für Abt Yiqian von 1201 war die ein Jahrhundert ältere Inschrift für den Patriarchen Jingwan also ein verborgenes Dokument. Hier geht es um zwei unterschiedliche Traditionen, die sich im Kloster treffen. Yiqians Schüler könnten den öffentlichen Typus gewählt haben, weil ihr Lehrmeister nicht länger an Sinn und Zweck verborgen gehaltener Sutrentexte glaubte und die Arbeit an dem großen Meißelprojekt einstellte. Allerdings bleibt dies Spekulation – umso mehr, als es sogar noch eine dritte Variante verborgener Zeugenschaft im Wolkenheim-Kloster gab. Reliquien

Im November 1981 legte Professor Luo Zhao 羅炤, Mitglied der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, die Buddha-Reliquien in der sogenannten

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Donnerklang-Höhle (Leiyindong 雷音 洞) frei. Es ist die einzige der neun Höhlen auf dem Steinsutrenberg, welche zugänglich ist. Abbildung 6 zeigt die Ausgrabung im Zentrum der Höhle. Aus dem Boden kamen vier ineinander geschachtelte Kassetten zu Tage. Die Inschrift auf der innerAbb. 7: Abreibung der Inschrift mit dem Gelübde des Zibo sten Kassette ist zugleich das älteste Zhenke (genannt Daguan) auf dem Reliquienkasten von 1592. epigrafische Zeugnis des Klosters; es datiert auf das zwölfte Jahr der Ära Daye 大業, also das Jahr 616 nach Christus, und endet mit Jingwans Schwur, die drei Körner der Buddha-Reliquien für immer in der Kassette zu bergen. Allerdings wurde sein Gelübde nicht beherzigt. Die Reliquien haben den Weg aus der Donnerklang-Höhle gefunden und werden nun in Peking aufbewahrt. Eben diese Reliquien waren schon einmal ausgehoben und in die Hauptstadt gebracht worden, nämlich 1592. Zu jener Zeit wurden sie in den Palast überführt, um von der Kaiserinwitwe Cisheng 慈聖 (1546–1614), der Mutter von Kaiser Wanli 萬曆 (1573–1620), verehrt zu werden. Bei dieser Gelegenheit wurde auch eine neue Außenkassette angefertigt, auf die wiederum ein Gelübde eingemeißelt ist (Abb. 7). Es stammt von dem Meditationsmeister Zibo Zhenke 紫柏真可, genannt Daguan 達觀, (1543–1603), der damals die Ausgrabung leitete, und endet mit den folgenden Versen: Wann immer sie bewahrt oder herausgenommen werden, muss dies vor meinem Herzen und meinen Augen geschehen. Falls jemand gegen diesen jetzigen Schwur verstößt, soll deren Aufbewahrung und Entfernung entsprechend enden. Ich ersuche alle Heiligen wie alle einfachen Menschen, die Macht meines Schwures zu bezeugen. Sollte diese Macht nicht standhalten, so will ich in die ewige Hölle hinabfahren.

Wie schon Mönch Jingwan 616 geschworen hatte, so verlangte auch Daguan von der Nachwelt, dass sie die Reliquien für immer in der Höhle verbleiben lasse, andernfalls drohe ihm selber ewige Verdammnis. Daguan hoffte, dass jeder mögliche Ausgräber seinen Schwur sehen und lesen würde, und damit unentrinnbar darauf verpflichtet wäre, die Reliquien in Frieden ruhen zu lassen.

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Daguans Gelübde war dem menschlichen Blick entzogen, aber Daguan selbst erwähnt die Geschichte der Freilegung der Reliquien in seinen gesammelten Schriften. Außerdem berichtet sein Freund, Mönch Hanshan Deqing 憨山德清 (1546–1623), darüber in der Inschrift auf einer Stele, die in demselben Jahr 1592 im Kloster aufgestellt wurde.6 Jedoch weder auf dieser öffentlichen Stele, noch in Daguans Schriften ist das Gelübde erwähnt oder gar der Text zitiert. Daguans Schwur blieb verborgen. Die Reliquienkassetten mit den Inschriften darauf konnten also über Jahrhunderte wohlbehalten unter der Erde überdauern, ohne von irgendjemandem in Augenschein genommen zu werden. Allein durch ihre bloße Gegenwart strahlten sie Kraft und Macht aus, wie auch die Stele von 1592 bezeugt: Als Daguan den Stein über den Reliquien im Boden der Donnerklang-Höhle anhob, „erfüllten plötzlich Lichtstrahlen die Hänge und Schluchten“.7 Drei Arten von Objekten im Wolkenheim-Kloster, nämlich Sutra-Steine, Grabinschriften und Gelübdetexte, sind also Beispiele dafür, dass dort Dinge für immer weggeschlossen wurden, kaum dass sie hergestellt waren. In jedem der drei Fälle waren die Motive jedoch verschieden. Die Vielfalt der Möglichkeiten verweist auf die ältere, wirkungsmächtige vor-buddhistische Tradition, der zufolge es sinnvoll war, Artefakte dem Blick auf ewig zu entziehen und aufzubewahren. Die Terrakotta-Armee

Die Entdeckung der Terrakotta-Armee 1974 ist als einer der größten Triumphe der modernen Archäologie gefeiert worden. Bilder mit den Kolonnen der tönernen Soldaten sind vielfach um die Welt gegangen und in Zeitungen und Büchern, auf Videokassetten und im Fernsehen millionenfach reproduziert (Farbtafel 1). Gleichwohl vermitteln alle bekannten Abbildungen einen irreführenden Eindruck von der einstigen Gestalt des tönernen Heeres. Denn zum einen waren die lebensgroßen Figuren in mühevoller Kleinarbeit mit lebhaften Farben bemalt, was sie noch weitaus veristischer erscheinen ließ.8 Aber auch der heutige atemberaubende Anblick war zur Zeit ihrer Entstehung völlig unmöglich. Die Soldaten standen in langen unterirdischen Stollen, deren Wände und Decken aus kräftigen Holzbalken gefügt waren. Diese schwere ­Architektur musste schon fertig sein, ehe die zerbrechlichen Figuren Stück für Stück in

6 Text in Pu Ru (1989; s. Anm. 1), S. 103–105. 7 Pu Ru, ibid., S. 103.

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die fackelbeleuchteten Korridore eingestellt wurden. Nur wenige ­Soldaten konnten so zu einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt auf einmal angeschaut werden, und niemand, nicht einmal der Erste Kaiser selbst, hat die Armee je in ihrer Gänze gesehen. Ungeachtet der Nichtwahrnehmung durch menschliche Abb. 8: Grundriss des Grabes von Liu Sheng. Augen, erfüllten die Soldaten dennoch ihren Zweck, nämlich den Kaiser in seinem Grab zu beschützen. Die Armee funktionierte wie die inneren Organe eines Körpers. Sie wirken in ihm, auch ohne von außen gesehen werden. Im Gegenteil, die Eingeweide dem Blick freizugeben, würde bedeuten, den gesamten Organismus einer tödlichen Gefahr auszusetzen. Terminologie

Die Analogie zwischen inneren Organen und unter der Erde versteckten Artefakten ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Im Chinesischen besteht hier ein terminologischer Zusammenhang. Das Schriftzeichen cang/zang 藏 bedeutet als Verb soviel wie „bergen, behüten, wertschätzen“ und substantivisch „Gruft, Sammlung“. In dem Schriftzeichen „Eingeweide“, welches ebenfalls zang ausgesprochen wird, ist links lediglich das Element „Fleisch“ hinzugefügt (臟). Auch eines der Wörter, die „begraben, bestatten, beisetzen“ bedeuten, wird zang (葬) ausgesprochen. In der visuellen Kultur wird diese Parallele augenfällig. Viele chinesische Gräber, so etwa dasjenige des Han-zeitlichen Fürsten Liu Sheng 劉勝 (er starb 113 v.Chr.) in Mancheng 滿城, Provinz Shandong, bestehen aus mehreren Kammern (Abb. 8). Wie Teile eines Organismus sind sie mit diversen organischen Vorräten und anderen Beigaben gefüllt, die das Nachleben des Verstorbenen auf immer sichern.

8 Seit Anfang der 1990er Jahre erproben Experten des Bayrischen Landesamtes für Denkmalpflege zusammen mit chinesischen Wissenschaftlern Methoden der Restaurierung und Erhaltung der Farbfassung. Siehe u.a. Catharina Blänsdorf, Erwin Emmerling, Michael Petzet (Hg.): Die Terrakottaarmee des Ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuang, The Terracotta Army of the First Chinese Emperor, 秦始皇陵兵馬俑. (Arbeitshefte des Bayrischen Landesamtes für Denkmalpflege, 83). München: Bayrisches Landesamt für Denkmalpflege 2001.

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Abb. 10: „Schatz-Gruft“. Inschrift von Dong Qichang (1555-1634) neben Höhle 6 auf dem Steinsturenberg, 1631.

Bekanntlich enthalten auch buddhistische und daoistische Statuen in ihrem Innern Objekte. In der Regel sind es heilige Schriften, bei den Buddhisten meist Sutren oder Auszüge davon. Aber oft finden sich auch Nachbildungen realer Organe, wie im Falle der berühmten hölzernen Figur des Buddha S´¯akyamuni, die ein japanischer Pilgermönch 985 in China herstellen ließ und dann mit in seine Heimat nahm. Heute wird sie im Seiryôji 清涼寺 in Kyoto 京都 aufbewahrt (Abb. 9). Nonnen haben elf Organe kunstvoll aus farbiger Seide zusammengenäht, die im Inneren der Statue Abb. 9: Holzstatue des Buddha ´S¯akyamuni, Seiryôji, Kyoto, hergedeponiert wurden (Farbtafel 2). In einer beigelegten Nachstellt in China 985. schrift sind sie aufgezählt und über ihre Farben identifiziert, darunter Herz, Leber, Galle, Magen, Niere, und Darm.9 Wie eine Gruft „birgt“ (cang/zang 藏) auch die Statue wirkungsmächtige Eingeweide. Dank ihrer Innereien sind alle die hier genannten Behälter mehr als bloße Hüllen. Auch im Wolkenheim-Kloster, um noch einmal darauf zurückzukommen, bezeichnet man das Bergen der Steinsutren mit dem Wort zang. Der berühmte Kalligraf Dong Qichang 董其昌 ­(1555–1634) setzte im Jahr 1631 auf die Außenseite einer der ­­­Speicher-Höhlen am Steinsutrenberg die aus zwei Zeichen bestehende Inschrift baozang 寶藏, was soviel heißt wie „Schatz-Gruft“ (Abb.

9 Einen ausführlichen Fundbericht in einer westlichen Sprache über die 1954 geöffnete Figur verfassten seinerzeit Gregory Henderson und Leon Hurvitz: The Buddha of Seiryoôji. New Finds and New Theory. Artibus Asiae 19 (1956), S. 4–55. Die japanische Literatur ist naturgemäß sehr reichhaltig. Vgl. u.a. Kurata Bunsaku 倉田文作, Zônai nônyu¯ hin 像内納入品. Nihon no bijutsu 日本の美術 86. Tokyo: Bunkachô 文化庁 etc., 1973, bes. S. 19–27.

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10).10 Die Sutren im Inneren der Höhle wirken also ebenfalls wie kostbare und empfindliche Organe, welche im Verborgenen ihren Dienst erfüllen. Epilog

Die Erbauer der Qin- und Han-Gräber, die Mönche, welche heilige Sutren und die Grabinschrift ihres Patriarchen in Stein meißelten und sie dann verbargen, Daguan, der die Reliquien nach ihrer Offenlegung wieder in die Erde versenkte: Sie alle verfolgten die gleiche Absicht, nämlich Objekte, die für sie zu den wertvollsten gehörten, auf ewig aufzubewahren. Ihre Motive hierfür waren religiöser Natur und die Maßstäbe ihrer Wertschätzung waren religiöse Maßstäbe. Moderne Archäologen teilen diese religiösen Werte nicht länger. Sie glauben nicht an die magische Kraft der tönernen Armee, noch halten sie es für notwendig, den Fürsten Liu Sheng in seinem Nachleben schützen zu müssen. Auch sind sie nicht überzeugt, dass ein Daguan in die Hölle hinabfahren muss, wenn sein Gelübde enthüllt ist und die von ihm deponierten Reliquien entfernt werden. So haben Ausgräber keine Skrupel, Gräber und Schreine zu öffnen, Artefakte und Reliquien zu entnehmen, auszustellen und wissenschaftlich zu untersuchen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind allerdings enorm. Archäologische Funde ergänzen und korrigieren das Bild, welches wir uns auf Grund von schriftlichen historischen Quellen über die Geschichte gebildet haben. Sie enthalten eine Fülle von technischen, naturwissenschaftlichen und anderen Informationen über die materielle Kultur vergangener Zeiten, die in Texten nie zu finden sein werden. All dies hat das Verständnis für die Entwicklung und das Potenzial der Menschheit grundlegend verändert, erweitert und präzisiert. Denn das kulturelle Gedächtnis materialisiert sich nicht nur in Texten, sondern auch – und vielleicht noch mehr – in Bildern und Objekten. Auch der politische Nutzen der Archäologie ist nicht zu unterschätzen. Die Terrakotta-Armee ist inzwischen ein wesentlicher Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses, und sie prägt Chinas Image in der Welt. Doch jede Öffnung von verborgenen Gruften birgt die Gefahr, ein aufwendig und kunstvoll konserviertes Erbe dauerhaft zu dezimieren. Wer die organische Verbindung zwischen dem Behälter und seinem Inhalt, zwischen dem Körper und seinen inneren Organen, zertrennt, setzt damit in der Regel einen Zerfalls 10 Zu dieser Inschrift vgl. Lothar Ledderose: Tung Ch’i-ch’ang’s Treasure Trove. National Palace Museum Research Quarterly, Bd. 23.1 (September 2005), S. 413–427.

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prozess in Gang, der schließlich zur Vernichtung von beidem führt. Wer schon seine eigene Leber mit bloßem Auge sehen kann, weiß, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat. Dieser Prozess erinnert an die Beschleunigung, die bei der Vernichtung von biologischen Spezies in den letzten Jahrzehnten oder bei der Ausbeutung fossiler Energien eingetreten ist: Geologen haben errechnet, dass in nur einem einzigen Jahrhundert die seit Millionen von Jahren in der Erde gelagerten Ölvorräte zur Hälfte aufgebraucht worden sind. Ob die in den letzten drei Jahrtausenden in der chinesischen Erde deponierten Artefakte ebenfalls bereits zur Hälfte ans Licht gebracht und damit einem beschleunigten, irreversiblen Verfallsprozess anheim gegeben worden sind? Auch wenn wir religiösen Werte und Motive früherer Generationen nicht mehr teilen folgt daraus jedoch nicht notwendigerweise, dass wir auch deren Absichten nicht mehr ernst nehmen müssen und uns unbekümmert über ihre Intentionen hinwegsetzen dürfen. Die Religion gab seinerzeit nur den Referenzrahmen für ein Bedürfnis, das doch ein universell menschliches ist, nämlich Artefakte dauerhaft zu erhalten. Für diese Aufgabe mobilisierte die chinesische Kultur zwar besonders viel Energie, Vergleichbares findet sich aber in allen Kulturen. Womöglich ist die Fähigkeit des langfristigen Aufbewahrens von materiellen Gütern sogar eine Voraussetzung für unser Überleben als biologische Spezies. Natürlich kann die Wissenschaft nur mit dem arbeiten, was ihrem Blick zugänglich ist. Sie muss aber auch um ihre Grenzen wissen. Denn wenn sie Gegenstände zu Tage fördert, die eigentlich nie mehr gesehen werden sollten, werden diese eines Tages wirklich endgültig dem Blick entzogen sein.

Interview

„Verschwunden in der Sammlung?“ Ein Gespräch mit Heinrich Schulze Altcappenberg, Direktor des Kupferstichkabinetts – Staatliche Museen zu Berlin Bildwelten: Herr Schulze Altcappenberg, unser Themenheft bezieht sich auf

Bilder, die unsichtbar oder verborgen sind, etwa weil sie im Abfallkorb landen, unter Verschluss gehalten werden oder aus den unterschiedlichsten Gründen in Archiven oder Datenbanken unauffindbar bleiben. Sie selber stehen einer berühmten Bildersammlung vor, die schon vom Umfang her ihresgleichen sucht. Nun berichtet die Fachpresse immer wieder einmal, dass in Sammlungen Bilder auftauchen, von denen man meinte, sie seien verschollen, einfach weil sie in der schieren Menge an gesammelten Objekten untergegangen sind. Haben Sie schon alle Werke Ihres Hauses gesehen? Schulze Altcappenberg: Das Kupferstichkabinett ist, überspitzt gesagt, das größte Kunstmuseum in Deutschland; wir würden die ganze Museumsinsel brauchen, um nur die wichtigsten Stücke zu zeigen. Zwar beherbergen auch Antikensammlungen zahllose Bruchstücke, kulturhistorische Sammlungen haben ihre Postkartenarchive, und in Fototheken lagern Bestände in Millionenhöhe. Aber mit etwa 650.000 originalen Kunstwerken ist unser Haus in der Tat das umfangreichste Museum für bildende Kunst hierzulande. Diesen Kosmos kann kein Mitarbeiter in Gänze gesehen haben. Bildwelten: Wo könnte denn die Grenze des Sichtbaren in etwa liegen? Schulze Altcappenberg: In der Wahrnehmungspsychologie wurden Versuche gemacht, wie viele Bilder ein Mensch speichern und abrufen kann. Trainierte Köpfe hatten, wenn ich mich recht erinnere, „nur“ maximal 4.000 Bilder abrufbereit, versehen mit einer kurzen Adresse, zum Beispiel Ort oder Name. Um eine Vorstellung zu haben: Das ist etwa das Gleiche, was ein PC mit seiner Hardund Sofware vor 15 Jahren in kleiner Auflösung verwalten konnte. Andererseits habe ich alle 70.000 Kunstwerke der von mir betreuten Abteilungen italienischer Grafik gründlich angeschaut, so wie alle Mitarbeiter ihre jeweiligen Teilsammlungen, die manchmal viel umfangreicher sind: Das ganze 19. Jahrhundert hat über 200.000 Objekte, und die altdeutsche Grafik bis 1800 auch. Dennoch gilt: Jemand kann alles gesehen haben, aber dem Gedächtnis sind Grenzen gesetzt. Bildwelten: Heißt das, dass die Menschen das eigene Memorisierungsvermögen zuweilen überschätzen? Und sind auch berufsmäßige Betrachter, etwa Kunsthistoriker, weit mehr auf Reproduktionen als Gedächtnisstützen angewiesen, als sie selber annehmen? Schulze Altcappenberg: Als Hilfsmittel sind Reproduktionen in jedem Fall unerlässlich. Es ist ja kein Wunder, dass man der frühesten Form der mecha-

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Interview

nischen Reproduktion im 16. und 17. Jahrhundert kleine Räume neben den Bibliotheken eingerichtet hat – eben die Kupferstichkabinette –, in denen aus Planschränken die Blätter hervorgeholt wurden. In der Regel waren es Tiefdrucke, also Stiche, Holzschnitte, Radierungen. Auf dieses Bildgedächtnis war die Betrachtung schon lange vor der Fotografie angewiesen, welche diese medialen Möglichkeiten technisch nur noch potenziert hat. Im Europa der Dürerzeit gab es daher schon eine umfassende Bildverbreitung von Sizilien bis Stockholm. In der Folge war es eine Grundaufgabe von Kupferstichkabinetten, diese Bilderströme aufzunehmen und zu speichern. Im Speisesaal des Schlosses hing vielleicht ein Raffael oder Rubens, im Kabinett nebenan konnten sich die Liebhaber dann das ganze Werk ansehen. In früherer Zeit wurde daher auch viel häufiger nach den Künstlern geordnet, das ist heute nur noch gelegentlich der Fall. Bildwelten: Sollten die Kabinette anfangs nur die zirkulierenden Blätter aufnehmen oder galt es schon, Sammlungen mit eigenem Konzept aufzubauen? Schulze Altcappenberg: Letzteres gehört in gewisser Weise schon zum Gründungsleitbild des Kupferstichkabinetts, wie es Wilhelm von Humboldt als Geburtshelfer des Hauses in einem Einlass beim preußischen König formuliert hat. Er war überzeugt, dass zur Königlichen Gemäldegalerie und Antikensammlung als drittes wichtiges Museum ein Kupferstichkabinett gehöre. Dieses müsse aus zwei Teilen bestehen, nämlich einer Reproduktionssammlung mit Kupferstichen und einer Zeichnungssammlung. Erstere sollte die Kunstgeschichte vollständig vor Augen zu führen – was eine Gemäldegalerie nicht kann –, während die Zeichnungssammlung Einblick geben sollte in die Vorstellungen von Künstlern und den Prozess der Werkentstehung. Gerade Entwurfszeichnungen haben ja mit dem ausgeführten Werk, das nachher irgendwo dunkel in einer Kapelle hängt und kaum zu sehen ist, oft nicht viel zu tun. Da ist die Skizze viel dynamischer, das Detail viel schöner für sich auf dem Blatt, anstatt in einer Menge von Gestalten unterzugehen. Das große Auftragswerk, etwa ein Fresko, war dagegen die reine „Bildmaschine“ – sie konnte in großen Ateliers weitgehend von Gesellen bedient werden. Dieser eigenständige Wert der Zeichnung wurde von Anfang an bewundert, darin unterschied sie sich von der Reproduktionsgrafik. Wenn Giorgio Vasari Entwürfe und Studien gesammelt und daraus die Kunstentwicklung von dreihundert Jahren abgeleitet hat, ist darin die Wertschätzung gegenüber der Autonomie solcher Kunst zum Ausdruck gebracht. In seinem „Museum“, dem „Libro de’ Disegni“ eine Figuren- oder Gewandstudie von Fra Filippo Lippi zu haben, herrlich leuchtend auf blauem Papier, muss von

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Anfang an ein wichtiges Moment gewesen sein. Das „künstlerische“ Original war und ist in großen Bereichen die Zeichnung. Und so wurde auch das Kupferstichkabinett tatsächlich als selbstständiges Museum 1831 eingerichtet. Bildwelten: Und wie ist der Aufbau dieser Sammlung vonstatten gegangen? Schulze Altcappenberg: Die Erwerbungen wurden von Anfang an auf eine breite Basis gestellt: Schon in der ersten angekauften Sammlung des preußischen Generalpostmeisters von Nagler mit etwa 50.000 Kunstwerken war alles dabei, Reproduktionsgrafik, frühe Handschriften des Mittelalters, einiges aus der Gegenwart. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde dann Schlag auf Schlag angekauft: Man erwarb Konvolute von 10.000 italienischen Zeichnungen, dann eine komplette Spezialsammlung von Probedrucken vor der Schrift, und so vervollständigte sich alles. Natürlich kam so auch eine große Zahl von Dubletten zustande, die später wieder abgestoßen wurde. Erst das 20. Jahrhundert ist dann das Jahrhundert des „wissenschaftlichen Sammelns“, in dem vorgegeben wird, dass dieses eine Blatt noch fehlt, jener Tiepolo oder Rembrandt. Seither ging es vor allem darum, das Vorhandene sinnvoll zu ergänzen und auszubauen. Eine solche Entwicklung vom enzyklopädischen zum konzeptionellen Sammeln geht einher etwa mit geringeren Auflagen in der modernen Grafik. Bildwelten: Der Auftrag hat sich damit also mehrmals deutlich verschoben. Schulze Altcappenberg: Ja. Berlin hat allerdings neben den teilungsbedingten Schwierigkeiten die besondere Ausgangsbedingung, dass mit der Berufung Friedrich Lippmanns zum Direktor 1876 eine eigene Systematik eingeführt wurde. Bis dahin lag das Ordnen oftmals in der Hand von Künstlern. In einem Kraftakt von zwanzigjähriger Arbeit hat Lippmann eine Kartei angelegt, bei der nach dem alten Durchschlagverfahren von einer Karte Kopien hergestellt wurden. Die erste Karte wurde unter dem ausführenden Grafiker abgelegt, nach dem auch die Sammlung sortiert ist. Dann erst kam der Inventor (z.B. der Maler oder Zeichner), zuweilen noch der Verleger, dann eine Titel- beziehungsweise Schlagwortkartei. Die Druckgrafik wurde damit ziemlich systematisch erschlossen, so dass nach diesen Kriterien relativ punktgenau gesucht werden kann. Nicht alle Kabinette sind in vergleichbarer Lage! Wenn jemand Affendarstellungen ansehen möchte, dann schaut er bei uns im Katalog unter „Tier“ nach – einer Rubrik, in der selbst die Hasen von den Kaninchen unterschieden werden – und dann unter dem Stichwort „Affe“. Dort finden sich weit über 50 Einträge, ergänzt um ein weiteres Dutzend „Affen, satirisch“. Die Blätter werden dann Mappe für Mappe herausgesucht. In Sammlungen ohne ikonografischen Katalog stellt sich das Pro-

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blem so nicht, da kann man dem Affenforscher nur antworten: „Ja, dann suchen sie mal alle Blätter durch, und in zwei Jahren sprechen wir uns wieder.“ Bildwelten: Wenn nun selbst Affenforschung theoretische Berücksichtigung findet, wie kann dann noch die Zielsetzung einer wissenschaftlichen Sammlung umrissen werden? Schulze Altcappenberg: Die Ziele werden sich erneut ändern. Das 21. Jahrhundert könnte, aus finanziellen Gründen ebenso wie aufgrund einer gewissen Sättigung, wieder ein Jahrhundert des Sammelns von ganzen Sammlungen werden. Damit wird auch auf die Komplexität der Nachfrage reagiert, denn eine solche Praxis könnte durchaus in eine mediale Breite und Tiefe gehen, die bei einem programmatischen Ankauf von Einzelstücken nicht erreicht wird, weil da vorab enge Zielsetzungen feststehen. Bildwelten: Laufen die Kupferstichkabinette dadurch aber nicht auch wieder Gefahr, zu Depots zu werden, in denen man auf Vorrat Bildermengen aufhäuft? Schulze Altcappenberg: Ich würde gegen den Begriff „Depot“ höchste Einwände erheben! Ein Kollege aus Dresden hat berichtet, dass in den betreffenden Unterlagen, auch und vor allem für die zuständigen Finanzbehörden, stets vom „Depot“ gesprochen wurde – mit dem Effekt, dass die Budgets heruntergehandelt wurden, weil es so klang, als seien die Depots dunkle Kellerräume, in denen Papier und Bleistifte gelagert werden. Seither wird in allen Unterlagen statt von Depot nun richtigerweise nur noch von Sammlung gesprochen. Die Sammlung ist eben kein Depot im gängigen Verständnis, sondern das Herzstück eines Museum der Grafischen Künste, ein Speicher, das physische Bildgedächtnis. Bildwelten: Stellen wir die Frage anders: Kann ein Kupferstichkabinett so sichtbar sein, wie es beispielsweise der öffentliche Geldgeber sich vorstellt? Schulze Altcappenberg: Ja natürlich, wir sind mit unserer Kunst flexibler und mobiler als manch anderes Museum. Dass man aber nicht alles ausstellen kann und darf, ist klar. Seit Adam Bartsch mit seinem peintre–graveur die Malergrafik von der Künstlergrafik getrennt hat, sind die unendlichen Serien von grafischen Kunstreproduktionen nur noch eine Fußnote wert, etwa wenn sie ein verlorenes Werk ersetzen können. Als eigene Gattung sind sie, zu Unrecht, kunsthistorisch bedeutungslos geworden, selbst wenn sie in großen Sammlungen 100.000 Blätter ausmachen und technisch wie optisch eine große Brillanz haben. Diese Doppelstruktur unterscheidet ein Kupferstichkabinett von den meisten anderen Museen. In der Gemäldegalerie sind die 3.000 Bilder schon 1931 in der neunten

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Auflage katalogisiert gewesen, bei uns liegt nur ein kleiner Teil publiziert vor. Auch gibt es die besonderen konservatorischen Gründe, die den Charakter eines Kupferstichkabinetts ausmachen: Die Sammlung muss konstant klimatisiert sein, es müssen beste Materialien zur Aufbewahrung verwendet werden, alles muss emissionsfrei sein – dafür sind bedeutende Mittel nötig. Bildwelten: Wird nicht sogar der Druck auch aus eigenen Reihen noch stärker, etwa in Konkurrenz zu Gemäldesammlungen, nämlich sobald Häuser nach ihren Besucherzahlen gemessen werden? Schulze Altcappenberg: Intern bleibt dieser Spagat der Profilbildung über die Gattung Grafik, über das Medium Papier, über die Technik und die Entwicklung von druckgrafischen Dingen; damit wird man erst mit nachhaltiger Arbeit ein Massenpublikum ansprechen. Einfacher ist es mit interessanten Themen oder vielleicht mit großen Namen, van Gogh oder Rembrandt. Wer aber Rembrandt in Gemäldeform ausstellt, bekommt trotzdem einen größeren Topf. Wir hatten auf der anderen Seite im letzten Jahr bei unserer Ausstellung Brücke und Berlin 170.000 Besucher. Auch der Studiensaal hat mit 3.500 Besuchern im Laufe von 13 Jahren eine Verzehnfachung erlebt. Das sind rund etwa 1.1000 Gruppenbesucher, meist Studenten der Berliner Universitäten, und 2.400 individuelle Gäste. Wir leben daher mit dem Paradox, einerseits eines der verborgensten Museen zu sein, da wir keine Dauerausstellung haben, andererseits das präsenteste Museum überhaupt zu sein, da wir jedes einzelne unserer über 600.000 Werke innerhalb von zehn Minuten vorlegen können. Sie kommen damit schneller an einen Dürer als in der Staatsbibliothek an einen Suhrkamp-Band der sechziger Jahre! Wir verlangen nicht einmal Eintritt oder eine Leserkarte, nur den Ausweis aus Sicherheitsgründen. In 99,9 Prozent der Fälle bekommt man die Originale vor Augen gestellt. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Für den Touristen mit der Fotokamera („I want to see Dürer’s mother“) zeigen wir oft ein schönes, gerahmtes Faksimile, wo der Restaurator selbst die Knickfalten nachgezogen hat. Auch bei den sehr empfindlichen alten Handschriften oder raren Werken kann man das meiste an hochwertigen Faksimiles studieren. Bildwelten: Gilt das denn für alle Häuser gleichermaßen? Studierende stellen häufiger fest, dass sie durchaus schief angesehen werden, wenn sie eine seltene Zeichnung von Dürer oder Botticelli im Original sehen wollen. Schulze Altcappenberg: Das gilt es vollkommen aufzubrechen. Ich will mir keine Kollegenschelte einhandeln, aber es gibt durchaus Häuser, die bekannt

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Abb. 1: Rembrandt: Landschaft an einem Deich mit Frau und Kind, um 1647/48. Schwarze Kreide, auf Papier; 9,8 x 5,1 cm. Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, KdZ 1109 Recto.

dafür sind, dass sie kaum jemanden an das Material heranlassen, nur auf schriftliche Empfehlung die Tür öffnen oder über bauliche Verzögerungen den Zugang auf lange Zeit behindern. Selbst in den sonst so publikumsfreundlichen USA wird das Kabinett häufig noch als stiller Raum der Kennerschaft missverstanden. Dagegen sind der Studiensaal und auch unsere Ausstellungen nur ein Zugang unter mehreren. Unsere Mobilität ist viel höher als etwa bei Antiken oder Malerei. Wir haben zur Zeit drei komplette Ausstellungen außerhalb von Berlin mit rund 800 Kunstwerken, also fast so viele wie in einer großen Gemäldegalerie permanent zu sehen sind.Wir haben außerdem etwa 1.500 Werke jährlich ausgeliehen in aller Welt: von Stockholm bis Kairo, von Dublin bis Moskau, von Tokio bis New York. Damit sind wir das größte leihgebende Museum Deutschlands. Bildwelten: Andererseits ist es doch wohl nicht so, dass Besucher einer Ausstellung in München oder Karlsruhe auf die Bildlegende schauen und sagen: „Eigentümer: Kupferstichkabinett Berlin! Potzblitz! Da muss ich hin!“ Ist in den Köpfen nicht immer noch der Gedanke ausgeprägt, dass ein „Kabinett“ seine Schätze vor allem unter Verschluss hält? Schulze Altcappenberg: Durchaus, und zwar aus mehreren Gründen: Der erste Grund ist ja ein struktureller, dass es keine permanente Galerie gibt, wo die gleichen Dinge jederzeit sichtbar sind. Im Studiensaal muss man die Besucher

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Abb. 2: Rembrandt: Studie eine Mannes mit aufgestütztem Kopf, um 1647/48. Schwarze Kreide, auf Papier; 9,8 x 5,1 cm. Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, KdZ 1109 Verso. Die Rückseite gibt entscheidende Hinweise auf die Datierung einer ganzen Gruppe von Landschaftsstudien Rembrandts. Darüber hinaus bestätigt sie die Authentizität dieser Gruppe.

erst einweisen, und die Abschreckung ist schon vorher da, weil man klingeln, etwas bestellen muss. In eine Galerie kann man anonym hinein, schlendern, zwischendurch an andere Dinge denken, hier konzentriert sich der Betrachter. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass die Kupferstichkabinette in der Regel keine selbstständigen Museen sind, sondern Museumsabteilungen. Da besteht immer die Sorge, von den anderen Abteilungen als „Zulieferer“ für Ausstellungen benutzt zu werden: „Ich habe noch zwanzig Meter Wand frei, da können wir doch noch eine Serie ...“ Das geht schnell, das ist billig, das ist „Flachware“. Der dritte Grund ist der Name selber: In unseren englischen Flyern und Ankündigungen benutzen wir den Begriff Museum of Prints and Drawings – nicht Collection oder Department. Das trifft die Sache. Wer aber „Museum der Grafischen Künste“ bei der Internetsuche eingibt, bekommt zigtausend Treffer, weil sich auch jede kleine Galerie so nennt. Die Adresse „Kupferstichkabinett.de“ hingegen ist einzigartig. Und die haben wir uns vor zehn Jahren gesichert. Ich hoffe und arbeite daran, dass wir aus dem Kupferstichkabinett bei Bewahrung der großartigen Tradition durchaus auch eine moderne Marke machen können. Bildwelten: Und wie könnte das geschehen? Schulze Altcappenberg: Wir haben im letzten Jahr einen Schritt gemacht mit unserer Brücke-Ausstellung in der Nationalgalerie. Da gab es eine heftige

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interne Diskussion, die Ausstellung in den eigenen Räumen einzurichten oder auswärts unter eigenem Namen in Erscheinung zu treten. Wir hatten die Idee, die jahrelange wissenschaftliche Vorarbeit, den Großteil der Objekte und das Gesamtkonzept geliefert, das Ergebnis jedoch nahm man in größerer Öffentlichkeit als Ausstellung der Nationalgalerie wahr. Was macht man da? Geht man mit seinen Schätzen unter die schönen Dächer und locations, dorthin, wo das Publikum strömt? Wir bleiben Vagabunden, geben uns ein Stückweit auf, jedoch mit dem Ziel, soviele Orte wie möglich zu besetzen. Ich befürworte das sehr, habe aber immer die Identität des eigenen Hause zu beachten und die strategischen Ziele gegenüber und mit den Mitarbeitern zu entwickeln. Bildwelten: Ließe sich umgekehrt nicht auch der arkane, etwas verschlossene Charakter der Sammlung nutzen? Schulze Altcappenberg: Es ist zumindest eine Option. Zum Beispiel können wir gegenüber Sponsoren oder der Politik exquisite Angebote machen, die noch nicht vom Massentourismus entdeckt sind. Wenn fünf Leute von einer großen Firma sich einmal mit echtem, starkem Interesse eine Stunde freinehmen und genau wissen, dass sie diese in eine Sternstunde verwandeln wollen, dann gibt es ein klares Angebot: „Sie haben jetzt das Privileg, Dürers Mutter hier im Original zu sehen, die nur einmal in fünf Jahren öffentlich ausgestellt wird.“ Das ist ein exklusiver Zug, der auch der Werbung dienen kann. Im Grunde aber widerspricht es meiner Auffassung, bestimmte Werke als „verborgene Schätze“ zu etikettieren. Dürers „Mutter“ und Botticellis Divina Commedia würde ich gern permanent zeigen. Das ist aber konservatorisch nicht möglich. Bildwelten: Andererseits gibt es auch bei den großen Namen einen Zuwachs an Aufmerksamkeit und auch einen Schwund an Aufmerksamkeit, oder? Geringgeschätzte Werke werden plötzlich wichtig.Viele Museumswärter kennen auch die Situation, dass Bilder auf Blockbusterausstellungen umlagert werden, die sonst völlig unbeachtet in der ständigen Sammlung hängen. Schulze Altcappenberg: Ich glaube, dass diese Ära der Blockbuster irgendwann auch wieder zu Ende geht. Es sind teure Unternehmen, sie sind konservatorisch bedenklich, und zum Teil hängt ihr Erfolg nur mit Bildungsverlusten zusammen: Wer die Bedeutung vieler Bildinhalte nicht mehr kennt (etwa eines Christus in Emmaus), nimmt das Gemälde „nur“ noch als Kunstwerk wahr; und dann muss es eben der große Name sein, der die Geschichte ersetzt, die eigentlich in so einem Bild steckt.

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Bildwelten: Könnte im Gegenzug die Grafik im 21. Jahrhundert vielleicht auch

eine Renaissance erfahren? Schulze Altcappenberg: Da liegt, meiner Meinung nach, die große Herausfor-

derung für die Zukunft: indem die Ausstellungspolitik auf die Besucher anders eingeht. Besucher sehen in den Bildern nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch Technik- oder Kulturgeschichte, Umweltthemen und anderes. Die Kunst wiederum hat die breitesten Möglichkeiten des Zugangs, um alle diese Dinge auszuschöpfen, neue Seiten aufzuzeigen, alle Leute anzusprechen. Eines der frappierenden Dinge für mich ist immer, dass jeder Mensch in den ersten Jahren seiner Entwicklung draufloszeichnet, seine Kreise auf dem Papier macht, seine Körperlichkeit bestimmt, sich seiner selbst versichert. Allein schon die Skizze im Alltag, das schnelle Piktogramm, die Telefonkritzeleien, die Einrichtungsnotizen beim Umzug: das macht noch jeder Erwachsene. Und wie hat sich das nun anthropologisch und historisch in Europa entwickelt? Im vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert, an Projekten wie Freskenzyklen, die arbeitsteilig waren, konnte man schon nicht mehr an irgendeiner Stelle anfangen, alles musste geplant werden, einem „Concetto“ folgen. Unser ganzes Empfinden von „Planung“ hängt seither mit dem visuellen Ausdruck zusammen. Indem man die Geschichte des Vorstellungsvermögens zusammenbringt mit der Geschichte der Zeichenkunst, kann man sehr weit in den Gebrauchsalltag eines jeden Menschen vordringen. Solche Bereiche bergen ein sehr großes Potenzial, ein ganz neues, breites Publikum, das man im Innern, durch die eigenen Erfahrungen mitnehmen kann auf große Reisen durch die Kunst. Bildwelten: Gibt es, aus dieser Perspektive, dann überhaupt noch den Besucher klassischen Zuschnitts, der in den Studiensaal kommt? Schulze Altcappenberg: Absolut gesehen ist dieser Besuchertyp keinesfalls zurückgegangen, nur haben andere Zugänge stark zugenommen. Die Kenner, die nach Zuschreibungen gucken, die Sammler, die vergleichen, die Kollegen, die ihre Bestands- und Ausstellungskataloge schreiben, die Studenten, die ihre Dissertationen vorbereiten: Alle Gruppen haben nochmal zugenommen. Die Wissensverbreitung durch die ständige Nutzung, der Multiplikatoreneffekt, ist schon sehr hoch. Wenngleich solch geistiger Mehrwert auch sehr fein differenziert ist. Die Nutzer unseres Bilderspeichers sind Historiker oder Religionswissenschaftler, die Illustrationen suchen, Botaniker oder Mediziner, Sammler oder Kunsthistoriker. Es ist wirklich ein Museum zu vielen verschiedenen Bereichen.

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Die Modernität, Offenheit, Zugänglichkeit, der hohe Informationswert der Grafik muss deshalb wieder stärker deutlich gemacht werden. Es ist ein viel demokratischeres Medium als gemeinhin angenommen wird, der Sicherheitsabstand zum Objekt ist viel kürzer, man kann es selbst in die Hand nehmen, da verliert jeder irgendwann auch die Schwellenangst, Kunst wird zum Du. Bildwelten: Und was machen Sie, wenn die jüngeren Gäste einfach die Handykamera zücken? Schulze Altcappenberg: Die Leute dürfen bei uns Bleistift und Papier mitbringen, nur in genau beschriebenen Ausnahmefällen auch die Kamera. Wir verweigern uns dem „Durchkopieren“. Auch wenn da gerade ein sehr hoher Anfragedruck herrscht, denn jeder kommt mit seiner Digicam und will „den Schinkel durchfotografieren“. Heute ist das Abknipsen die Regel geworden und man staunt zu Hause vor dem Bildschirm. Gerne, aber nicht auf physische Kosten der Originale. Das sind wir ganz ein klassisches Museum mit dem Grundauftrag zu bewahren. Bildwelten: Sind es konservatorische Gründe, wegen denen Sie das abblocken möchten? Schulze Altcappenberg: Im Kern ja, sie treten jedoch erst durch das Massenaufkommen auf. Wir haben drei Magaziner, die die Grafiken zum Tisch bringen, nebenbei noch Rahmungsarbeiten vornehmen, die Vorlage und die Aufsicht machen. Wenn jemand nur „Klick“ macht und nach dem nächsten Bild verlangt, findet eine unglaubliche Beschleunigung statt, die das Material beschädigt und den Betrieb überfordert. Bildwelten: Wäre es da nicht angeraten, gleich selber eine digitale Datenbank aufzubauen, um derlei Anfragen zu begegnen? Schulze Altcappenberg: Klar, das ist die große Zukunftsaufgabe, möglichst viel der Sammlung digital vorzuhalten und dann online ins Netz zu stellen. Viele andere Museen sind da weiter, die mit größeren finanziellen und strukturellen Privilegien ausgestattet sind als wir. Unser Partnerinstitut unter dem Dach des Louvre, das Departement des Art Graphiques, sonst eher etwas verschlossener, ist hier vorbildhaft mit sämtlichen 130.000 Zeichnungen im Netz, wenn auch nur mit knapper Grundbeschreibung. Allerdings gehen bei solchen Digitalisierungskampagnen, die in großen Schüben erfolgen, Informationen verloren, die mit großem wissenschaftlichen Aufwand zusammengetragen werden müssten: Wenn jemand in Singapur „heilige Theresa“ anklickt, erhält er vielleicht einen

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„Bernini, braune Tusche auf Papier“, obwohl in der Stichwortkartei oder im Hinterkopf des Kenners seit langem „19. Jahrhundert“ steht. Bildwelten: Das heißt, ein Kupferstichkabinett im Internet müsste auch anders aussehen als eine herkömmliche Galerie. Aber kann es das? Führt die Sichtbarkeit im Netz nicht zu einem Verschwinden bestimmter Aspekte, deren besondere Materialität sich so nicht fassen lässt? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, das papierne Kunstwerk par excellence elektronisch zu reproduzieren? Schulze Altcappenberg: Das ist die Aufgabe, die noch zu lösen ist, aber zugleich ist es ein Weg, das Bilderwissen von Grafischen Sammlungen bekannt zu machen. Es muss aber geklärt werden, wie dieses „Wissen“ grafischer Kunst ohne Verluste weitergegeben werden kann. Der Louvre ist etwa so verfahren, dass er eine Arbeit von Raffael auch unter alternativen Zuschreibungen führt oder angibt, von wann bis wann genau etwas als Raffael gegolten hat. Hier ist das Internet also nur der Einstieg in die Recherche. Das ist allerdings auch wieder sehr für den Kenner gemacht und im Ergebnis etwas unübersichtlich.Wir können jedoch mit Hilfe der EDV nur erfassen, was auf einem Blatt zu sehen, begrifflich zu fassen ist. Das Idealziel bleibt immer die persönliche Anschauung des Originals. Die kann im Übrigen auch durch Digitalisierungskampagnen wieder angeregt werden. Bildwelten: Und dabei gibt es manchmal dann auch Wiederentdeckungen? Schulze Altcappenberg: Ja, das kommt häufiger vor. Über längere Zeit, fast bis in die 1980er Jahre hinein, konzentrierte sich die Forschung auf die Bildmotive, den Stil, die Autorschaft. Alles andere, über das ein solch komplexes Werk wie eine Zeichnung oder Grafik hätte Auskunft geben können – über seine Provenienzen, also seine Geschichte, über Material, Technik, über seine Funktionen – hat wenig interessiert. Das merkt man daran, dass viele Rückseiten von Zeichnungen, die alte Stempel, Aufschriften oder gar Skizzen trugen, bis zu über hundert Jahren überhaupt nicht zugänglich waren, da man sie in Passepartoutfenster fest auf Untersätze montierte. Es wurde eine Entscheidung getroffen, das Recto oder das Verso aufzukleben. Heute werden die aufgeklebten Blätter nach und nach abgelöst und frei aufgehängt, so dass man sie von allen Seiten betrachten kann. Ab und zu entdeckt man auf der Rückseite Zeichnungen oder Notizen, es werden aber auch Zuschreibungen wiedergewonnen. So kommt es vor, dass ein Blatt von einem Kenner zum nächsten gereicht wird, der dann in einer italienischen Villa ein Fresko findet, das dazu passt – und dann dreht der Kustos das Blatt

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um und findet auf der Rückseite diese Zuschreibung schon vor, von Beckerath oder Bode. Das ist heute immer noch möglich. Bildwelten: Denken Sie da an ein bestimmtes Beispiel? Schulze Altcappenberg: Ja, wir treffen im eigenen Haus häufig auf Fälle, wo durch mangelnde Dokumentation oder durch die beschriebenen Montagen altes Wissen verlorengegangen ist. Ein bekannter Fall ist die wunderbare Michelangelo-Zeichnung, die in einem Folianten, sozusagen als Lesezeichen, im englischen Castle Howard über zwei Jahrhunderte hängengeblieben war und 2001 wiederentdeckt wurde. Anschließend wurde sie bei Sotheby’s für fast sechs Millionen Pfund versteigert. Daneben gibt es auch Wiederentdeckungen aus historischen Gründen, etwa von vermeintlichen Kriegsverlusten. So besitzen viele Menschen, vielleicht ohne es zu wissen oder auch mit schlechtem Gewissen, Kunstwerke, die zu bewegten Zeit unter welchen Umständen auch immer in ihre Obhut geraten sind. Ob man aber nun „mitgenommen“, „aufgefunden“, „gerettet“, getauscht“ oder „im Glauben erworben“ vermuten darf – aufklären lässt es sich in der Regel nicht mehr. Die Kunstsammlungen sind froh, wenn derlei Objekte wieder auftauchen, die in den Werkverzeichnissen als vermisst oder gar zerstört geführt wurden. Bildwelten: Und Sie konnten in letzter Zeit auch von derlei Entdeckungen profitieren? Schulze Altcappenberg: Durchaus, wir haben vor kurzem zwei herausragende Gouachen von Menzel wiedergewinnen können, die im Kriege verlorengegangen sind. Der für uns spektakulärste, jedoch nicht mit der Geschichte der eigenen Sammlung verknüpfte Fall ist der erste Lebensalterzyklus von Casper David Friedrich. Er nimmt den Hamburger Sepiazyklus vorweg, wird im Werkverzeichnis als die Inkunabel der Deutschen Romantik beschrieben, galt aber seit über 70 Jahren als verschollen: hier taucht der „Watzmann“ zum ersten Mal in einem Bild von Friedrich auf, die Ruine Eldena in romantisch überhöhter Form, der Greis am Grab und viele andere der markanten Motive. Und genau dieser Zyklus ist, bis auf eine immer noch vermisste Arbeit, nun tatsächlich wieder aufgetaucht in einer Schublade bei Privatleuten. Wir konnten ihn erwerben, er wird zum Ende des Jahres ausgestellt. Andererseits: Wenn hier irgendwo ein verborgener Caspar David Friedrich läge, denke ich, dass wir den schon gesehen hätten.

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Abb. 3: Caspar David Friedrich: Der Winter (aus dem Berliner Jahreszeiten-Zyklus), 1803. Sepiatusche, über Vorskizzen mit Bleistift, auf Papier; 19,2 x 27,5 cm. Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, KdZ 29942 (Inv. 135-2006; erworben mit Unterstützung der Hermann Reemtsma Stiftung und der Kulturstiftung der Länder). Ein Blatt aus dem bis vor kurzem verschollenen, im II. Weltkrieg zerstört geglaubten ersten Jahreszeitenund Lebensalterzyklus von C.D. Friedrich. „Frühling“, „Herbst“ und „Winter“ konnten kürzlich wieder entdeckt und vom Berliner Kupferstichkabinett erworben werden. Der „Sommer“ bleibt weiterhin vermisst und ist nur durch Reproduktionen bekannt.

Bildwelten: Eine große Zahl von unsichtbaren Objekten gibt es auch andernorts,

insbesondere in Naturkundemuseen mit ihren vielen Tier- und Pflanzenproben. Das muss ein Naturkundemuseum haben, aber man kann eben nicht alles zeigen. Da macht man’s dann doch auch thematisch: Inwieweit unterscheidet sich ein Papiermuseum von einem Naturkundemuseum, die Artenvielfalt der Natur von der Artenvielfalt der Bilder? Schulze Altcappenberg: Das ist gerade interessant, denn das erste Naturkundemuseum war ja auf Papier! Die ganzen Musterbücher der Frührenaissance, Natur- und Heilkundewerke, die codices mit ihren Antikenzeichnungen, sie waren auf Papier. Sogar die ersten archäologischen „Museen“ waren rein papierne Sammlungen, Cassiano dal Pozzo zum Beispiel. Insofern macht es schon Sinn,

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von dem museo cartaceo als Grundgedanke des Museums überhaupt zu sprechen, gerade auch als Universalmuseum. Bildwelten: Zum Abschluss gefragt:Wird es auch in Ihrem Bestand Bilder geben, die niemals wieder aus dem „Speicher“ herauskommen werden? Schulze Altcappenberg: Man hat vielleicht ein Messinstrument in der Fotobestellung, wo man sieht, dass wir von unseren Beständen vielleicht 180.000 Negative haben. Das ist etwa ein Drittel. Zwei Drittel sind also niemals als Fotoreproduktion verlangt worden. Das bedeutet nicht, dass sie nicht betrachtet worden wären, doch sind sie in keinem Fall nach einem Original aus dem Berliner Kupferstichkabinett für Publikationen oder für die Forschung mitgenommen und entsprechend abgedruckt worden. Insofern ließe sich von mehr als etwa der Hälfte reden, die ungesehene Bilder, die ohne Betrachter sind und die der neuen Entdeckung harren. Ich muss zugeben, ich weiß nicht genau, wie gut wir Bestellungen archivieren. Bislang wird das meines Wissens nach zehn Jahren vernichtet. Daran habe ich noch nie gedacht. Was da alles an Geschichte verloren geht! Bildwelten: Herr Schulze Altcappenberg, wir danken für dieses Gespräch. Das Gespräch führten Matthias Bruhn, Angela Mayer-Deutsch, Florian Horsthemke und Hanna Felski.

Bücherschau: Wiedergelesen

Bücherschau: Wiedergelesen Ernst H. Gombrich: Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation (The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Bd. 5), New York 1960.

Ernst H. Gombrichs bekanntestes Buch, mit dem er sich auf den Direktorensessel des Londoner Warburg Institute und schließlich in die Adelsliste britischer Kulturschaffender geschrieben hat, weckt Erinnerungen – alte und neue. Zunächst weckt es Erinnerungen an die Emigrantenlaufbahnen deutschsprachiger Kunsthistorik und an deren Hintergründe, Gemeinsamkeiten und Kontroversen, die so weit über die Grenzen des Fachs hinausreichten. Es führt dabei kein Weg vorbei an Gombrichs eisiger Verachtung gegenüber „kulturphysiognomischen Trugschlüssen“, die er – mit seinem Mentor Karl Popper – der Hegelianischen Philosophie und deren mutmaßlichen Gefolgsleuten anlastete. Anzahl und Rang der Verdächtigen, die das expressionistische Trauma in Gestalt aller möglichen Kulturmorphologien befördert haben sollten, waren beeindruckend; unter ihnen Carl Schnaase, Jacob Burckhart, Wilhelm Dilthey, Warburgs Lehrer August Schmarsow und Karl Lamprecht, Wilhelm Worringer, Arnold Hauser, Max Dvorák, Hans Sedlmayr, Erwin Panofsky, Johann Huizinga, André Malraux – und nicht zuletzt auch Alois Riegl, der geistige Vater des Kunstwollens. Das Bestreben Riegls, stilistische Veränderungen jeweils sämtlicher Kunstbereiche aus einem einzigen einheitlichen Prinzip zu erklären, sei ihm zum Fallstrick geworden, so Gombrich. Er sei jener vorwissenschaftlichen Denkweise zum Opfer gefallen, in der sich einheitliche Prinzipien so leicht und kräftig vermehrten – der mythologischen Denkweise. Das Kunstwollen gleiche einem unsichtbaren Geist, der künstlerische Entwicklung „nach ehernen Gesetzen“ vorwärtstreibe. In dieser Geschichtsauffassung lasse sich unschwer ein Wiederaufleben jener romantisch-mythologischen Vorstellungen erkennen, die in Hegels Philosophie gipfelten. Er habe an anderer Stelle ausein-

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andergesetzt, warum er derartige Erklärungen in der Kunstgeschichte für so gefährlich halte: Indem sie die Gewohnheit bestärkten, in Kollektiven zu denken und von „Menschheit“, „Rassen“ oder „Zeit­altern“ zu sprechen, schwächten sie die innere Widerstandskraft gegen totalitäre Denkweisen. Damit war nicht nur der schlimme Vorwurf angedeutet, dass Riegl ein verkappter Hegelianer und ideologischer Vorläufer totalitärer Kunstgeschichte gewesen sein könnte. Es war auch eine gegen andere Wiener Emigranten gerichtete Provokation. 1963 antwortete Otto Pächt – wie Gombrich lange Zeit Exil-Wiener in England (Oxford) – in der Rubrik „Art Historians and Art Critics“ des Burlington Magazine mit einer nur wenige Seiten umfassenden, aber nicht weniger grundsätzlichen Darstellung der Leistungen Riegls. Mehr noch: Pächt unternahm eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Ansichten seines Kollegen. Gombrichs auf rund vierhundert Buchseiten ausgebreitete Kernthese von Art and Illusion besagte, dass neuzeitliche Künstler (in einer Popperschen Abfolge von „conjectures and refutations“) wie Naturwissenschaftler experimentierten und demnach in gegebenen „frames of reference“ eine relativ freie Wahl der Gestaltungsmöglichkeiten hätten. Dagegen machte Pächt geltend, dass solche Freiheit, die an Beliebigkeit grenze, nicht zu erklären vermöge, wieso sich bestimmte allgemeine Tendenzen abzeichnen und durchsetzen können. Für Riegl seien bedeutende Künstler gerade jene gewesen, die ein allgemeineres Kunstwollen mit höchster Intensität und Qualität verwirklichten. Solcher Kritik hat Gombrich dann elf Jahre später, 1974, seine Logic of theVanity Fair entgegengehalten, in der er „Alternativen zum Historismus beim Studium von Mode, Stil und Geschmack“ als ein gesellschaftliches „Fortschrittsmodell“ propagierte. Der theoretische Schlagabtausch der beiden wichtigsten Vertreter der so janusköpfigen Wiener Schule, die man sich um die Leitfiguren Alois Riegl und Julius von Schlosser gruppiert vorstellen kann, war weitläufig, nicht immer subtil und nicht immer nur

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zwischen den Zeilen zu lesen. Auch solche scheinbar nebensächlichen Auseinandersetzungen, deren Reflexe in Gombrichs Art and Illusion so grell in die Augen springen, sind heute noch von Interesse – vor allem angesichts des legendären Rufs, der Gombrichs englischen Schriften mittlerweile vorauseilt, während das Riegl-Verständnis seither mit dem von Gombrich lancierten Hegelianismus-Verdacht zu kämpfen hat. Dabei hatte doch der tief im österreichischen Herbartianismus, einer dezidiert anti-hegelianischen Staatsdoktrin, verwurzelte Riegl sogar den Grundgedanken zu einer anderen Hauptthese in Art and Illusion geliefert: die Absage an den Naturalismus als durchgängiges Universalziel der abbildenden Künste. Auch dieser Konfliktstoff war von Gombrich bereits 1950 in einem Textscharmützel thematisiert worden: Otto Pächt hatte in einer detaillierten Untersuchung über „Early Italian Nature Studies and the Early Calendar Landscape“ (im Journal of the Warburg and Courtauld Institute) gezeigt, wie sich frühe Landschaftsdarstellungen Schritt für Schritt aus pharmakologisch-kalendarischen Pflanzenporträts anreicherten. Gombrich konterte im selben Jahr mit einem Vortrag über „The Renaissance Theory of Art and the Rise of Landscape“, in dem er darlegte, dass das Genre der Landschaftsmalerei nur dank der antiken Sparteneinteilung der Malerei-Themen habe (wieder)entstehen können. So gelehrt diese Herleitungen auch sein mochten, sie hatten nicht den gleichen kunsthistorischen Evidenzgrad. Es waren generelle Prämissen, die Gombrich dann in Art and Illusion zu einer seiner Generalthesen ausgebaut hat: Sie besagt, dass immer schon bildliche Schemata vorhanden sein müssen, um daran neuerliche Darstellungsexperimente durchführen zu können. Dass solche Argumentation schließlich zur heiklen Frage führt, wann und wie solche Ausgangsschemata – innere Bilder, Erinnerungsbilder, Konzepte öder ähnliches – individuell und gesamthistorisch entstehen, liegt ebenso auf der Hand wie die Beobachtung, dass sich Gombrich zuweilen von seinen eigenen Schemata hat dazu hinreißen lassen, vorgefasste Blickwinkel einzunehmen. Hier nur ein charakteristisches Beispiel, das

Bücherschau: Wiedergelesen

an gegenwärtige Hirnforschungsperspektiven heranführt: die Synästhesie. Obwohl schon seit den ersten Untersuchungen als „zwangsmäßige“ Begleitung beschrieben und definiert, hat Gombrich synästhetische Doppelempfindungen im Kontext seiner „choice situations“ als letztlich konventionenabhängig hingestellt. Roman Jakobson habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass „Synästhesie“ eine Frage von Relationen sei; und er habe daraufhin ein kleines Gesellschaftsspiel erfunden: Den Silbenklängen ping und pong sollten anderssinnige Eigenschaften und Wesenszüge zugeordnet werden (so, wie man i-Laute als „hoch“ oder „hell“ und u-Laute als „tief“ oder „dunkel“ einordne). Gombrichs Auslegung dieses Spiels war abzusehen. Das Beispiel zeigt umso mehr, wie sehr Wissenschaft zur Ansichtssache werden kann. Karl Clausberg

Bücherschau: Rezensionen

Bücherschau: Rezensionen Claudia Blümle, Anne von der Heiden (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Berlin/Zürich: diaphanes 2006, 469 S.

Der Name Jacques Lacan steht in den Kultur- und Geisteswissenschaften bis heute für eine tiefe Hassliebe und scheidet die Geister in jene, welche fasziniert in die Schriften Lacans eintauchen und nicht mehr von ihm lassen können, und jene, welche seine Texte nach den ersten Seiten verärgert zur Seite legen. Die Rezeption wurde durch die postume Herausgabe vieler seiner Seminare zusätzlich erschwert, da man hier auf Kommentare verzichtete und Unklarheiten bereitwillig in Kauf nahm, was, da Lacans Begriffe und Konzepte ohnehin kaum fassbar sind, ohne Bezug auf sein gesamtes Theoriegebäude zu nehmen, die Lektüre zusätzlich erschwert. Dies ist auch der Fall beim Seminar „Die vier G ­ rundbegriffe der Psychoanalyse“, welches Lacan im Jahre 1964, nach seinem Ausschluss aus der internationalen Psychoanalytiker-Vereinigung, am Hôpital de Saint-Anne in Paris abhielt und in welchem er seine Theorie vom Subjekt auf die Metapher von Bild und Sehen brachte und mithin kunsthistorische Themen ins Zentrum seiner Überlegungen rückte. Blümle und von der Heiden zeigen nun in einem bei diaphanes erschienenen Sammelband, dass die Lektüre Lacans weiterhin Neu­ erausgeberinnen igkeiten bieten kann. Die H haben das Seminar von 1964 als Ausgangspunkt genommen, um Lacans diverse Äußerungen zu den Themen „Bild“ und „Sehen“ zusammenzuführen. Zwanzig ­AutorInnen aus Kunstgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse lassen in ihren Einzelstudien erkennen, inwieweit Lacan als Sammler und Kenner in vielen seiner Überlegungen von kunsthistorischen Motiven inspiriert wurde und inwieweit er umgekehrt für die kunsthistorische Interpretation fruchtbar gemacht werden kann. Den meisten AutorInnen gelingt es dabei, Lacans metaphernreiche und nicht immer

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leicht zugängliche Äußerungen auf Gegenstände der Kunst- und Filmgeschichte ­anzuwenden. Einige der Beiträge können neue Belegstellen und Quellen anführen, die in der bisherigen Ausgabe des Seminars nur ungenau benannt waren. Durch diese Rückbindung an die historischen Quellen aus Kunstgeschichte, Physiologie, Zoologie und Phänomenologie wird ein fundierteres Verständnis der sonst so hermetisch ­wirkenden Texte möglich. Die Perspektive, die sich aus Lacans Seminarbeiträgen zu Fragen der Bildlichkeit und des Sehens ergibt, legt „Kunstgeschichte“ als eine Geschichte der Blicke frei. Lacan analysierte die fesselnde Faszination der Bilder und die Struktur des begehrenden Blicks, zugleich unterzog er die Annahme eines cartesianischen Subjekts einer fundamentalen Kritik. Die Analyse der Blicke kehrt die Pole um, innerhalb derer sonst Sehen und Gesehenes gedacht werden, indem da, wo zuvor die wahrgenommene Sache stand, nun der Blick steht (Rose-Paule Vinciguerra). Hier eröffnet sich eine psychoanalytische ­Bildbetrachtung, welche die Triebstruktur der „gefräßigen Augen“ (Ulrike Kadi) ins Zentrum rückt und welche von dem, was aus der Form der perspektivischen Darstellung herausfällt, bis zur Psychose reicht, bei der sich „ein Subjekt“ ständig durch ein Anderes erblickt fühlt. Dass sich „im Bild […] mit Sicherheit immer ein Blickhaftes“ manifestiere, wie Lacan schrieb, zeigen einige der Texte anhand von Beispielen, welche auch Lacan in seinem Seminar zitierte. Hier erhalten anamorphotische Kippeffekte eine neue ­ Bedeutung, wie sie in Holbeins berühmtem Bild der „Gesandten“ erscheinen, bei dem ein verzerrter Totenschädel wie ein Fleck im Bildraum schwebt (Edda Hevers), oder bei Stillleben, welche in der plastischen Darstellung der Speisen „das Lockende des imaginären Objekts zugleich zeigen und konterkarieren“ (Sebastian Leikert). Es gerät aber auch die perspektivische Darstellung des Baptisteriums in Florenz in den Fokus, bei welchem Brunelleschi an die Stelle des Himmels poliertes Silber setzte und somit das Problem umging, das perspektivisch nicht Darstellbare – die

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­ olken – darzustellen (z.B. Bernhard SieW gert). Joseph Vogl und Slavoj Žižek benutzen Lacans Bildbetrachtung für eine Analyse der Hitchcock-Filme Die Vögel, Psycho und Fenster zum Hof und befassen sich mit der Frage, wie der Regisseur Blickfolgen montiert und seine Einstellungen im Wissen darum gewählt hat, dass ein „Zeigen“ im Bild untrennbar mit einem „Verbergen“ verknüpft sei. Neben diesen bildhistorischen Beispielen gewinnen innerhalb Lacans breit angelegter Geschichte der Blicke aber auch die ­experimentelle Leseforschung und die Mimikry im Tierreich an Bedeutung (Philipp von Hilgers, Peter Berz). Es fällt dem Leser dabei manchmal etwas schwer, die von den Herausgebern gewählte Einteilung des Buchs in zentrale Begriffe Lacans unmittelbar nachzuvollziehen. Der Fokus auf vornehmlich solche Bildprodukte, in welche Künstler bereits die radikale Selbsterkenntnis des Mediums mit eingeschrieben haben, lässt leicht vergessen, dass Lacans Analyse des Sehens z.B. für moderne und abstrakte Malerei weiterhin fruchtbar gemacht werden könnte und nicht nur ein „Spiegel-Bild“ derselben ist. Lacans Hinweis auf Paul Cézanne, der, wenn er Äpfel male, etwas ganz anderes tue, als Äpfel zu malen, veranlasst Michael Lüthy zu zeigen, dass Lacans Vorstellungen vom Bild nicht nur von den Anamorphosen, Spiegelund Zerrbildern der Frühen Neuzeit geprägt sind, sondern von den Veränderungen des Blickes in der Malerei der Moderne. Die kunstwissenschaftliche Frage, was d­ieses oder jenes Kunstwerk „bedeute“, werde vielmehr durch die grundsätzliche Frage ersetzt, was den Maler überhaupt dazu bewege, ein Bild zu produzieren, und was widerfahre, umgekehrt einem Betrachter­­ wenn er Bilder anschaue. Vor allem die psychoanalytischen AutorInnen weisen immer wieder darauf hin, welche Rolle die Bilder in Lacans gesamtem Denken einnehmen. Indem zentrale ­Figuren in Lacans Metaphorik untersucht und erläutert werden (die ineinander gesetzten Dreiecke, die optische V­ orrichtung mit Rundspiegel, Blumenstrauß und Vase), wird deutlich, wie sehr Lacan bildhaft gedacht hat. Edda Hevers unterstreicht, wie Lacan seine Schü-

Bücherschau: Rezensionen

ler wiederholt dazu a­ufforderte, Freuds psychische Instanzen (Ich, Es und Über-Ich) von den Bilderphänomenen her zu begreifen und durch ein optisches Schema zu veranschaulichen, wie es ja bereits Sigmund Freud selbst ­ vorgeschlagen hatte. Denn der Analytiker hatte keine ­„Bildtheorie“ im Sinn, wie sie hier nun aus seinen Nachlässen sichtbar wird, ­ sondern die zwiespältige Selbstverortung des Subjekts. Doch wird am Gegenstand der Kunst auf verstörende Art deutlich, wie die Metaphern der optischen Modelle und die Symbolik von Bildern in eins fallen können und das psychische Subjekt in seiner Schaubegierde und Verlustangst entlarven. Birgit Schneider

Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.

Bernd Stieglers 276 Seiten umfassender Band zu fotografischen Metaphern besteht aus einer Zusammenstellung kurzer Texte, die sich den „Bildern der Photographie“ – also Sprach- und Vorstellungsbildern ­dieses Mediums wie auch seinen bildlichen ­Produkten selbst – zu nähern versucht. Entstanden ist ein „photographisch-metaphorischesWörterbuch“ (8), das anhand von rund 50 Einträgen und Abbildungen zur „Erkundung der Geschichte der ­Photographie als einer Geschichte von Bildern“ (9) einladen soll. Alphabetisch geordnet, sind die in dem Band behandelten „Metaphern“ ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt. Dies aber wird durch die einheitliche Struktur der Einträge aufgefangen, die jeweils rund vier Seiten lang sind und durchaus für sich gelesen werden können. Anhand der Schlagworte wird, einem historischen Wörterbuch gleich, die Entwicklung des ­jeweiligen Sprachbildes nachvollzogen und durch kanonische Zitate veranschaulicht. Jeder Text wird von einer Abbildung ­eingeleitet; zusätzlich wird ihm ein Zitat aus der Fotoliteratur vorangestellt. Weiterführende ­Literaturangaben und Abbildungsnachweise

Bücherschau: Rezensionen

ergänzen jeden Eintrag und machen ihn für weitere Recherchen zugänglich. Eine Qualität des Büchleins ist es, durch die ausgewählten Abbildungen ein über den Text hinausgehendes Nachdenken über fotografische Bilder anzuregen, so dass sich aus dem Verhältnis von Text und Bild zusätzliche Dichte ergibt. Dem Begriff der „Beute“ wird ein Jagdstillleben zugeordnet, dem Begriff des „Zeugen“ die Karteikarte eines Polizeiarchivs – ein sogenannter ­mugshot – und dem der „Blindheit“ das berühmte Porträt einer blinden Frau von Paul Strand aus dem Jahre 1916. So wird zum einen jede Metapher für die Fotografie „verbildlicht“, zum anderen verweist jede abgebildete Aufnahme auf die metaphorische Bilderfülle der Fotografie und deren Geschichte: Ein mugshot ist das Bild eines Täters (also kaum dasjenige eines unbeteiligten „Zeugen“ im üblichen Sinne), zugleich aber sehr wohl das Bild eines Zeugen par excellence. So ergibt sich aus dem Verhältnis von ­Texteintrag, Zitaten und Abbildung eine anregende Bilderdichte. Gegenstand der Untersuchung sind jene „Bilder [...], die man sich von der ­Photographie“ (8) macht und die mit ihr verbunden sind, seitdem Fotografien existieren. Exemplarisch sei der Eintrag zum „Silberspiegel“ angeführt: Diese Metapher stammt aus der Zeit der Daguerreotypie, die tatsächlich eine glänzend reflektierende Oberfläche besitzt. Der metaphorische „Silberspiegel“ des Fotografischen wird in Folge synonym für das neue Medium und letztlich auch für die Kamera als bildgebende Apparatur verwendet. Sie wird in dieser Überlagerung von materiellem Bild und Metapher „zum Spiegel, der [...] die Inszenierung des Subjekts und die fotografische ­Selbstdarstellung im doppelten Sinne reflektiert“ (202). Das „Subjekt“ meint hier den Fotografierten ebenso wie den Fotografierenden, das reflektierende „bewusst machen“ ist ­gleichermaßen Teil dieses Mediums wie das Zurückwerfen des Bildes – vergleichbar der Reflexion eines Spiegels. Der Autor zeichnet so die Geschichte einer Metapher vom Bild der Fotografie zu einem Bild für die Fotografie nach und löst damit auch den doppelten Wortsinn des Buchtitels ein. Mit der Auswahl der Schlagworte, der

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Abb. 1: Mayer & Person: Die Comtesse de Castiglione, Fotografie, um 1864. Abbildung aus dem besprochenen Band zum Eintrag „Auge“ („Denn schließlich hat die Photographie [...] zur Aufgabe, [...] das Auge bloßzulegen.“ S. 33f.).

Kürze der Einträge und der sie begleitenden Abbildungen verschreibt sich Stiegler jener subjektiven Exemplarität, die im Titel als „Album“ angesprochen wird. Oft umgeht er die analytische, bei seinem Thema durchaus wünschenswerte Reflexion auf den eigenen Gebrauch metaphorischer Sprache. So sind die Texte meist anekdotisch gehalten; leider werden auch verschiedene Themen, wie z.B. die digitale Fotografie, nur gestreift. Liest man den Band neben der Theoriegeschichte der Photographie (München 2006), die vom selben Autor fast zeitgleich erschienen ist, ergibt sich ein Zusammenspiel, das auf den ersten Blick wie ein Ähnliches in verschiedenem Format wirkt; nicht wenige der Abbildungen, Zitate und ­Literaturhinweise werden in beiden Veröffentlichungen verwendet. Als ­Bildwörterbuch und ­subjektive Positionierung des Autors besitzt das ­ „Album ­ photographischer Metaphern“ jedoch eigenständigen Charakter. Es bietet zahlreiche Anregungen, kanonische Texte der Fototheorie wiederzulesen und nicht zuletzt den Doppelcharakter der Fotografie – als Bild und als Bild ihrer selbst – neu zu vergegenwärtigen. Mareike Stoll

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Bücherschau: Rezensionen

Torsten Seidel und Friederike Meyer (Hg.): Röntgenportrait. Berlin: Bühler und Heckel, 2005.

Das Buch Röntgenportrait erschien begleitend zur Ausstellung Portrait of this mortal coil, die im Januar 2005 im Festspielhaus Dresden-Hellerau zu sehen war. Jahrzehntelang lagerten an eben diesem Ort, der der Sowjetarmee nach dem Zweiten Weltkrieg in Teilen als Lazarett gedient hatte, unbesehen und mäßig geschützt in einer Kiste auf dem Dachboden medizinische Röntgenbilder. Als sie 1992 entdeckt wurden, setzte eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Bildern ein. Diese hatten ihren ursprünglichen medizinischen Zweck längst erfüllt und seitdem keinen Betrachter mehr gefunden, wurden nun aber am gleichen Ort als Kunstwerke wieder gezeigt. Begleitend zu dieser Ausstellung, welche Dresden auch auf dem Festival Science et Cité in Zürich und im Berliner Medizinhistorischen Museum zu sehen war, ist ein Buch erschienen, welches die Bilder zeigt und in mehreren Aufsätzen ihren Status zu umkreisen sucht. Für die Ausstellung hat der Künstler Torsten Seidel die durch die lange Lagerung stark beschädigten, durch Bakterien halb zerfressenen und zum Teil aneinanderklebenden Bilder zunächst digitalisiert, bearbeitet und nach dem Druck auf PVC in stark vergrößertem Format auf Keilrahmen gezogen. Ihre Wirkung beziehen sie vor allem durch das Motiv der Köpfe in ungewöhnlichen Haltungen, mit offenen Mündern und klaffenden Augenhöhlen (Abb.1). Vor dem Betrachter entfalten die übermenschlich großen Schädel eine schaurige Wirkung. Sie blicken ihm mit hohlen Augen entgegen, scheinen sich mit schreienden oder qualvoll verzerrten Mündern mitteilen zu wollen und bleiben doch stumm. Unmittelbar werfen die Bilder zahlreiche Fragen nach ihrer Herkunft, nach dem Schicksal der ungewohnt Porträtierten sowie ihrem Status als Patient und als Mensch auf. Durch die Retusche der ursprünglich vorhandenen Namensschildchen hat der Künstler jegliche Information mit Anhaltspunkten zur Identifikation der Personen oder zum weiteren Kontext getilgt und zusammen mit der Übertragung ins plakatgroße Format die

Abb. 1: Torsten Seidel: Röntgenportrait 03, 2003, 150 x 200 cm, Inkjet auf PVC-Plane, Keilrahmen.

Wirkung der Bilder überhöht. Sie verweisen den in fragender Spannung gefangenen Betrachter auf die Eigenart der Sichtbarmachung im Röntgenbild, das den Körper auf die Knochen reduziert, dadurch verfremdet und entpersonalisiert und zugleich individuelle Züge enthält. Auch der Sammelband hat nicht zum Ziel, die Geschichte dieser Bilder oder die der Porträtierten aufzuarbeiten, sondern er hält die Spannung des Nichtwissens aufrecht und macht sich zur Aufgabe, die Sichtbarkeiten verwandter Bilder aus kultur- und wissenschaftshistorischer Sicht zu hinterfragen. Exemplarisch sei hier auf zwei Beiträge eingegangen: Monika Dommann beschreibt, wie die kulturelle Rahmung die Lesart von Bildern bestimmt: Während im medizinischen Kontext Röntgenbilder gewöhnlich als Bilder des Lebendigen entschlüsselt werden, um sie für die Krankheitsdiagnostik zu nutzen, bleiben diese – aus ihrem Kontext isoliert – mehreren Lektüren zugänglich. So wirken die ausgestellten Kopfporträts makaber und rufen Assoziationen sowohl mit dem Kontext des Krankenhauses, als auch mit Todessymbolen wie Skelett und Schädel auf. Mit Seidels Übertragung

Bücherschau: Rezensionen

der Bilder in den Kunstkontext wird laut Dommann eine „Vieldeutigkeit (…) aufs Neue inszeniert“, welche dem Medium bereits in seiner Frühzeit eigen gewesen ist, als die späteren Standardisierungen für Bildherstellung und -gebrauch noch nicht existierten: Damals wurden sie als Wahrzeichen technischer Durchleuchtungspotenz einerseits euphorisch begrüßt, andererseits aber auch angstvoll oder skeptisch mit den bekannten Ikonografien des Todes in Verbindung gebracht. Michael Hagner nimmt die Schädelaufnahmen zum Anlass, die Geschichte des Hirnspiegels, welcher in Anlehnung an Helmholtz’ Augenspiegel als fiktives Instrument des späten 19. Jahrhunderts das Innere des Gehirns offen legen sollte, mit dem Gefühl des Unheimlichen zu verbinden. Mit Bezug auf Sigmund Freud, der die Unheimlichkeit als Ergebnis eines Zusammenkommens von gemeinhin nicht zusammengehörigen Dingen beschreibt, führt er aus, wie mit der Idee des Hirnspiegels die visuellen Erzeugnisse technischer Sichtbarmachungen mit den grundsätzlich unsichtbaren und immateriellen Gedanken aufeinandertreffen. Mit dem Aufkommen der Röntgenbilder sei, so Hagner, die Fantasie einer Spiegelung des Gehirns „in den Bereich des Vorstellbaren gerückt“, wobei heutige bildgebende Verfahren die Vision des Hirnspiegels scheinbar eingeholt haben. Das Hirnbild wird zum „Symbol, das die Leistung und Bedeutung des Symbolisierten, also des Gedankens, übernehmen soll“. Bis heute sind die Ergebnisse der technischen Sichtbarmachung neuronaler Vorgänge der Fantasie des Betrachters überlassen, und bisweilen vertauschen sich Realität und Fantastisches, wenn die Visualisierungen von Hirnaktivitäten realer dargestellt werden als es die Gedanken selbst sind. Das von Hagner hervorgehobene Zusammenkommen von nicht Zusammengehörigem trifft auch den Kern des Projektes Röntgenportrait, dessen Titel bereits das Einfallstor solcher Zusammenkünfte darstellt: Während die Röntgenstrahlen unter die Haut gehen und ihre Bilder den gewohnten Anblick einer Persönlichkeit unterlaufen, scheinen in den gezeigten „Röntgenporträts“

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individuelle, emotionale Gesichtsausdrücke sichtbar zu werden, die gewöhnlich nur dem Äußeren, dem Porträt einer Person zugesprochen werden. Durch die Neukontextualisierung der Bilder vermag das Projekt den Betrachter auf die für technische Bilder gleichsam schlichte wie zentrale Frage zurückzuwerfen, was in den Röntgenportraits denn eigentlich zu sehen ist. Vera Dünkel und Jochen Hennig

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Abb. 1: Nicolas Poussin: Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo, ca. 1637, 120 x 150 cm, Öl auf Leinwand. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie Berlin.

Projektvorstellung Gemälde alter Meister – gesehen mit den Augen der Neutronen: Gemäldeforschung mittels Neutronenautoradiografie am HahnMeitner-Institut Berlin

Physikalische Methoden werden mehr und mehr zur Analyse von Kunstgegenständen herangezogen. Sie sind oftmals imstande, demAuge desWissenschaftlers manche sonst verschlossen bleibenden Strukturen und Entstehungszusammenhänge aufzudecken. Neben Röntgentransmissionsaufnahmen, der Infrarotreflektrografie und UV-Fluoreszenzaufnahmen stellt die Neutronenautoradiografie (NAR) eine effiziente Methode zur zerstörungsfreien Untersuchung von Gemälden dar. Während Röntgenstrahlen nur die Verteilung von schweren Elementen wie Blei oder Eisen sichtbar machen, enthüllen Neutronenstrahlen auch das Vorhan-

densein diverser leichter Elemente in den Farbpigmenten. Da Blei und Eisen nicht so leicht mit Neutronen nachgewiesen werden können, ergänzen sich beide Methoden. In einzelnen Fällen erlaubt die NAR sogar die Identifizierung des individuellen Pinselstrichs eines Malers. Am Hahn-Meitner-Institut Berlin (HMI) werden seit vielen Jahren in enger Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin (Gemäldegalerie Berlin) Gemälde mit Neutronen untersucht, um kunsthistorisch interessante Probleme wie z. B. Fragen der Bildgenese oder zur Konzeption des Künstlers zu lösen oder, in seltenen Fällen, zur Klärung von Zuschreibungen beizutragen. Zurzeit ist das HMI weltweit der einzige Ort, an dem eine systematische NAR-Gemäldeforschung stattfindet. Die hier untersuchten Bilder stammen zum überwiegenden Teil aus der Gemäldegalerie Berlin. Zu diesem Kooperationspartner ist 2005 die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg mit ihrer

Projektvorstellung

Sammlung französischer Maler des 18. Jahrhunderts hinzugetreten. Das HMI betreibt den Forschungsreaktor BER II, der Neutronen zur Untersuchung von Struktur und Dynamik komplexer Materialien erzeugt. Die Bestrahlungsanlage B8, ein Instrument am BER II, ist speziell für großflächige Proben, wie Gemälde sie darstellen, ausgelegt. Als elektrisch neutrale Teilchen haben Neutronen eine hohe Eindringtiefe. Da viele Atomkerne einen nennenswerten Aktivierungsquerschnitt haben, werden sie durch die Bestrahlung mit Neutronen aktiviert: Sie fangen ein Neutron ein und werden radioaktiv. Im Falle der Gemäldeforschung werden Gemälde mit Neutronen bestrahlt, wodurch einige Atome in den Farbpigmenten radioaktiv werden (im Durchschnitt nur etwa 4 von 1012 Atomen). Anschließend wird der Zerfall der radioaktiven Atomkerne über die dabei ausgesandte Beta- und Gamma-Strahlung (Elektronen bzw. kurzwellige, energiereiche elektromagnetische Strahlung) registriert. Die räumliche Verteilung der radioaktiven Kerne wird über die Schwärzung eines empfindlichen Filmes oder über sogenannte Image-Plates – wiederverwendbare Bildspeicherplatten, die mit Hilfe eines Lasers ausgelesen werden und direkt eine digitale Information liefern – nachgewiesen, die nach der Neutronenbestrahlung auf das Gemälde gelegt werden. Die radioaktiven Atomkerne unterscheiden sich durch ihre verschiedenen Zerfallszeiten. Durch Auflegen jeweils neuer Filme nach bestimmten Zeitabständen können so radioaktive Kerne unterschiedlicher Lebensdauer – und damit korreliert unterschiedliche Farbpigmente – bevorzugt sichtbar gemacht werden. Aus der Energieanalyse der radioaktiven Gamma-Strahlung erhält man außerdem die elementanalytische Zusammensetzung der Farbpigmente. Die wichtigsten mittels NAR nachweisbaren Elemente sind Mangan, das im Pigment Umbra oder in Erdfarben wie Ocker enthalten ist, Kupfer in Azurit und in Malachit, Arsen in Smalte, Realgar oder Auripigment, Antimon in Neapelgelb, Phosphor in Beinschwarz, Quecksilber in Zinnober und Kobalt in Smalte. Dabei ist Mangan mit einer Halbwertszeit von 2,6

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Abb. 2: Röntgenaufnahme von Nicolas Poussins „Armida ­ inaldo“. entführt den eingeschläferten R

Abb. 3 : Neutronenautoradiografie des Bildes „Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo“ (aus 12 einzelnen Filmen zusammengesetzt), 2002. Deutlich sind zusätzliche Bäume zu erkennen, die in der endgültigen Ausführung des Bildes fehlen und dort zum Teil durch eine Säule ersetzt sind.

Stunden sehr kurzlebig und wird auf der ersten Filmauflage detektiert. Quecksilber dagegen hat eine relativ lange Halbwertszeit von 47 Tagen und wird erst auf der letzten Filmauflage abgebildet. Mittels NAR können auf die beschriebene Weise konzeptionelle Änderungen und Korrekturen des Malers, die sogenannten Pentimenti, visualisiert werden. In einigen wenigen Fällen lassen sich auch Aussagen

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über die Authentizität eines Bildes machen. Kunsthistoriker und Restauratoren erhalten zudem wertvolle Informationen über die Bildgenese, die Maltechnik des Künstlers, den Zustand eines Gemäldes und die Möglichkeiten der Restaurierung. Die Aussagekraft der Methode soll an einem Beispiel näher erläutert werden: Das Bild mit dem Titel Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo aus der Berliner Gemäldegalerie (Abb. 1) wurde bisher als Werk eines Kopisten des französischen Malers Nicolas Poussin (1594–1665) angesehen. Ein Original Poussins mit ganz ähnlichem Sujet hängt in der Londoner Dulwich Picture Gallery (Armida und Rinaldo). Aufgrund verschiedener Hinweise lag der Verdacht nahe, dass es sich auch bei dem Berliner Bild um ein Original von Poussin handeln könnte. Zunächst wurde eine Röntgenaufnahme angefertigt (Abb. 2), die aber zur Lösung des Problems keine Beiträge liefern konnte. Auf der Autoradiografie des Bildes (Abb. 3) hingegen lassen sich zur Überraschung der Kunsthistoriker Formen zusätzlicher Bäume erkennen, die offensichtlich übermalt wurden. Verwendet wurden in diesem Fall Filme, die eingescannt und anschließend zur Verdeutlichung für den Betrachter an den signifikanten Stellen eingefärbt wurden. Die hier durch die Neutronenautoradiografie „sichtbar“ gemachten Bäume enthalten dieselben Farbpigmente (überwiegend Mangan) wie die anderen Bildelemente und passen auch in die Gesamtkomposition des Bildes. Daraus wäre der Schluss zu ziehen, dass der Maler sein Konzept während der Ausführung des Gemäldes änderte, um zu einer anderen künstlerischen Aussage zu kommen. Werden solche Pentimenti entdeckt, so gilt das bei Kunsthistorikern als wichtiger Hinweis dafür, dass es sich bei dem Bild um ein Original handelt, da eine Konzeptänderung während der Bildausführung für einen Kopisten unwahrscheinlich ist. Kunsthistoriker gehen daher inzwischen davon aus, dass das Gemälde Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo von Nicolas Poussin selbst gemalt wurde. Die Bildinterpretation ist in wenigen Fällen

Projektvorstellung

so einfach wie im angeführten Beispiel. Oftmals werden mehrere Gemälde eines Künstlers untersucht, um diese systematisch zu vergleichen und so letztlich die Handschrift eines Malers identifizieren zu können. Für das Projekt „Gemäldeforschung am HMI“ sind die in über 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit erworbenen Kenntnisse der Partner in der Galerie in Fragen der Auswertung, Interpretation und kunsthistorischer Einordnung unverzichtbar. Aus der langjährigen Zusammenarbeit ist eine einzigartige Expertise für die Untersuchung von Gemälden mit den „Augen der Neutronen“ hervorgegangen. Birgit Schröder-Smeibidl

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Bildnachweis

Titelbild: © Hartwig Thomas, ehemals IBM Forschungslabor Rüschlikon. Innentitel: Philipp Galle nach Marten van Heemskerck: Collage nach ‚Natura‘, 1572. In: The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450–1700, Roosendaal 1994, S. 183. Editorial: Abb. 1: © Hartwig Thomas, ehemals IBM Forschungslabor Rüschlikon. Abb. 2: L. Guiraud, © CERN. Vinzenz Hediger: Abb. 1: Ronald Haver: David O. Selznick’s Hollywood, München 1981, S. 328. Abb. 2: Barry Salt: Film Style and Technology. History and Analysis, London (2. Aufl.) 1992, S. 219. Abb. 3: blade runner: Nachtrag Abb. 4: © Deutsche Kinemathek. Tom Holert: Abb. 1: Seattle Times, 18.4.2004. Abb. 2:http://cryptome.quintessenz.at/mirror/mil-dead-iqw.htm (Stand 07/2006). Abb. 3: Boston Globe, 23.4.2004. Abb. 4: Chicago Suntimes, 23.4.2004. Abb. 5: “National Security Archive”, Electronic Briefing Book No. 152, 28. April 2005, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB152/index.htm (Stand Juli 2006).Abb. 6: Newsseite von www.yahoo.com (Stand 06/2006). Abb. 7: World Press Photo 06, hg. v. Stiftung World Press Photo, Düsseldorf 2006, S. 128f. Peter Geimer: Abb. 2: Shoa/Claude Lanzmann. Abb. 3: Alfredo Jaar: Let there be light. The Rwanda Project 1994–1998, Ausst. Kat. Primavera Fotografica 9/1998, Barcelona 1998, o. S. Kelly Wilder: Abb. 1: Ann Thomas: Beauty of another Order. Photography in Science, Ausst.Kat., New Haven u.a. 1997, Abb. 45. Abb. 2: Ebd., Abb. 29. Abb. 3: Société Française de Photographie, Paris, Inv.: 151-11. Abb. 4: British Library (former Lacock collection), Talbot Correspondence Number 04052. Abb. 5: George Kean Sweetnam: The Command of Light. Rowland´s School of Physics and the Spectrum, Philadelphia 2000, S. 45, Fig. 3.Abb. 6: Siehe Abb.1, Abb. 47. Abb. 7: Philosophical Magazine, May 1911, Fig. 1. Faksimile: Abb. 1-4, 6-7: © Deutsches Technikmuseum Berlin, Historisches Archiv. Abb. 5: Archiv der Verfasserin. Abb. 8: © Stadtarchiv Kronberg im Taunus. Bildbesprechung: Abb. 1-3: Bundesdruckerei. Martina Hessler: Abb. 1: NASA. Abb. 2: Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters, München 1984, S. 156. Abb. 3: Florenz, Biblioteca Nationale Centrale, MS. GaL.48, fol.28r. Abb. 4: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Ausst.Kat., Ostfildern-Ruit 1997, Abb. 35. Abb. 5: Ebd., Abb. 52. Lothar Ledderose: Abb. 1-10, Tafel 1-2: Autor Interview: Tafel 3-4, Abb. 1-3: bpk Berlin. Rezensionen: Mareike Stoll: Abb. 1: Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main 2006. Vera Dünkel/Jochen Hennig: Abb. 1: © Torsten Seide, 2006. Projektvorstellung: Abb. 1-2: Autor. Abb. 3: C. Laurenze-Landsberg und C. Schmidt (Gemäldegalerie Berlin), B. SchröderSmeibidl und L. A. Mertens (Hahn-Meitner-Institut Berlin). Bildtableau 1: 1: Historisches Museum Bern. 2: © Sammlung Werner Nekes, Mülheim a. d. Ruhr 2006. 3: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie. Foto Jörg P. Anders. 4: © The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VG Bild-Kunst, Bonn 2006. 5: © Thomas Struth, 2006. 6-8: © Hartwig Thomas, ehemals IBM Forschungslabor Rüschlikon. 9: José Manuel Matilla, Isla Aguilar: El Libro de los Desastres de la Guerra, Bd. 2, Madrid 2000, o. S. 10: Dieter Kimpel/Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich 1130-1270, München (überarb. Ausg.) 1995, S. 227, Abb. 225. 11: Karl-Heinz Schmitt. 12: Herschel B. Chipp: Picasso´s Guernica, Berkeley/Los Angeles/London 1988, S. 186. 13: Ebd., S. 181. 14: Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 1058. 15: Museum für Gedankenloses (Hg.): Reclam-Hefte. Begleitband zur Ausstellung. Galerie ON, Köln 1999, S. 29. 16: Bildarchiv Foto Marburg. 17: Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. 18: © VG Bild-Kunst, Bonn 2006. 19: Historische Aufnahme, Archiv Das Technische Bild. 20: © Jana August, 2006. 21: Roland Albrecht, Museum der Unerhörten Dinge. 22: © Rainer Werner Fassbinder Foundation. 23: © Richard Ross, 2005. Bildtableau 2: 1: © Violeta Sánchez y Lorbach, 2004. 2: © Museo Poldi Pezzoli, Mailand. 3: ChroTel, Kiepenheuer-Institut für Sonnenphysik, Freiburg. 4: Badische Landesbibliothek Karlsruhe. 5: Misereor, Plakat zu Fastenaktion 2006. 6: Historisches Museum Bern. 7: © Ulrich Poppe, Forschungszentrum (ehem. KFA) Jülich. 8: Yvonne Eriksson. 9 – 11: © VG Bild-Kunst, Bonn 2006. 12: Archivio Fotografico Soprintendenza Speciale per il Polo Museale Romano. 13: http://www.amelie-der-film.de (Stand 10/2006). 14: http://www.navajo.org (Stand 10/2006). 15: BRADY GmbH, SETON Division. 16: © Antenna Audio, 2006. 17: Archiv Das Technische Bild. 18: Archiv Florian Horsthemke. 19: Archiv Das Technische Bild. 20: Bundesamt für Naturschutz. 21: © Jana August, 2006. 22: Photo Vatican Museums. Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Es wird deshalb ggfls. um Mitteilung gebeten.

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Die AutorInnen

Franziska Brons M. A. Das Technische Bild, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Karl Clausberg FB III - Kunst/Ästhetische Gestaltung, Universität Lüneburg Vera Dünkel M. A. Das Technische Bild, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Peter Geimer Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Professor für Wissenschaftsforschung Prof. Dr. Vinzenz Hediger Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftungsprofessor für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen, Ruhr-Universität Bochum Jochen Hennig Dipl. Phys. Das Technische Bild, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Martina Heßler Hochschule für Gestaltung Offenbach Dr. Tom Holert Kunstkritiker und Kulturwissenschaftler in Berlin, z. Zt. Gastprofessor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst, Akademie der bildenden Künste Wien Prof. Dr. Lothar Ledderose Lehrstuhl Ostasiatische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Roland Meyer M. A. Graduiertenkolleg „Bild. Körper. Medium. Eine anthropologische Perspektive“, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Dr. des. Birgit Schneider Das Technische Bild, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Heinrich Schulze Altcappenberg Direktor des Kupferstichkabinetts – Staatliche Museen zu Berlin Dr. Birgit Schröder-Smeibidl Hahn-Meitner-Institut Berlin Mareike Stoll M.A. Galerie Kicken, Berlin Dr. Kelley Wilder Research Fellow, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin

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1: Eduardo Chillida: Lugar de Encuentros V, 1973/ 74, seit 1988 auf der Plaza de Alfonso VI nahe der Puerta Visagra, Toledo - heute ein öffentlicher Parkplatz. 2: Gian Pietro Rizzi: Jungfrau mit Kind, 1510–15, Rückseite des Gemäldes mit einem Icosadodecahedron, 27,1 x 20,6 cm, Museo Poldi Pezzoli, Mailand. 3: Erste Aufnahme eines neuen Teleskops während der Inbetriebnahme: Infrarotaufnahme der Sonne, welche das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. 4: Miniatur aus einer der 2006 vom Verkauf bedrohten Handschriften der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Sog. Evangelistar von Speyer, um 1220. 5: MISEREOR, Plakat zur Fastenaktion 2006. 6: Im Berner Bildersturm von 1528 zerstörte Pietà. Prager Werkstatt, um 1400/1410. 7: Ulrich Poppe, Forschungszentrum Jülich: Aufzeichnung einer Tunnelkennlinie im privaten Laborbuch, 27.10.1977. 8: Martin Kurz: Das Auerhuhn und der Hahn, Taktiles Bild zur Nutzung durch Blinde, o.J. 9–11: Maria Sewcz: aus

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whitewood, 1999, Polaroid, 10,3 x 10,2 cm. 12: Caravaggio: Narziss, ca. 1597, 113 x 95 cm, Galleria Nazionale d‘Arte Antica, Rom. 13: Nino (gespielt von Mathieu Kassovitz) sucht nach weggeworfenen Passbildern. Filmstill aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“, Regie: Jean-Pierre Jeunet, 2001. 14: Radiomoderator, Navajo Nation, USA, o.J. 15: Verkehrsspiegel. 16: Audioguide des Phoenix Art Museums, Phoenix (Arizona), USA. 17: Diego Velázquez: Las Meninas, 1656, 318 x 276 cm, Museo del Prado, Madrid. 18: Seite aus dem Fotoalbum des Vereins „BT“ Berlin, hier die Vereinsfahrt 1981. 19: Piktogramm: „No Cameras“. 20: Tiertarnung: Grünes Heupferd. 21: Portemonnaie mit Porträtfotografie in der Innentasche. 22: Ikone Sancta Sanctorum, um 600, Silberverkleidung um 1200, Lateran, Rom.

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Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 4,2 Bilder ohne Betrachter Herausgeber

Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Matthias Bruhn Redaktion

Das Technische Bild Mitarbeiter

Jana August, Violeta Sánchez, Hanna Felski, Florian Horsthemke, Heike Weber M. A., Dipl. phys. Jochen Hennig Lektorat

Rainer Hörmann Layout

Dr. des. Birgit Schneider Satz: Hanna Felski, Gesa Christian & aroma, Berlin Adresse der Redaktion

Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 D – 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093 2731 Fax:  +49 (0) 30 2093 1961 ISSN 1611-2512 ISBN-10: 3-05-004286-9 ISBN-13: 978-3-05-004286-2 © Akademie Verlag, Berlin 2006 Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung anderer Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Jahrbuches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen und übersetzt werden. Druck: Trigger Druck Berlin Printed in Federal Republic of Germany