Entwicklungsfaktor Kultur: Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt [1. Aufl.] 9783839413531

Kultur gilt längst als zentraler Faktor der Stadtentwicklung. Doch wann und wie entstehen kulturelle Innovationen? Welch

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Entwicklungsfaktor Kultur: Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt [1. Aufl.]
 9783839413531

Table of contents :
INHALT
Grußwort
EINFÜHRUNG
Kulturelle Produktivität von Städten – ein Zusammenspiel von Kultur, Politik und Ökonomie
URBANITÄT UND KULTURELLE ENTWICKLUNG
Entwicklung und Selbstverständnis der europäischen Stadt
Die kulturelle Produktivität von Städten: Thesen zu unterschiedlichen Potentialen in Ost- und Westdeutschland
Kreativwirtschaft und Kulturhauptstadt: Katalysatoren urbaner Entwicklung in altindustriellen Ballungsregionen?
WISSENSARCHIV STADT
Kulturelle Vielfalt als produktives Potential? Zur Mobilisierung und Erzeugung von Anschlussfähigkeiten heterogener Wissensbestände
New York Undead: Globalisierung, Landschaftsurbanismus und der Geist der Twin Towers
Industriekultur: Gespeicherte Erinnerung und kulturelles Potential
ZWISCHEN DIVERSITÄT UND KONVERGENZ, KONFLIKT UND KOOPERATION
Die Grenzen der Toleranz und die Verhandlung der Differenz
„Urbane Civitas” errichten: Die Rolle der Städte im interkulturellen Dialog Europas
Von bilateralen Initiativen der Völkerverständigung zu multilateralen Foren der praktischen Kooperation – städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa gestern und heute
Autorinnen und Autoren

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Gudrun Quenzel (Hg.) Entwicklungsfaktor Kultur

2009-10-19 15-50-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0323223861052574|(S.

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2009-10-19 15-50-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0323223861052574|(S.

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Gudrun Quenzel (Hg.)

Entwicklungsfaktor Kultur Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt

2009-10-19 15-50-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0323223861052574|(S.

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) T00_03 titel - 1353.p 223861052598

Ein Projekt des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Wir danken der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, dem Land NRW und der Stadt Essen für die freundliche Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Image used courtesy of the City of New York Department of City Planning. All rights reserved. Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Satz: Gudrun Quenzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1353-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-10-23 13-38-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2224198710134|(S.

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INHALT

Grußwort OLIVER SCHEYTT

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EINFÜHRUNG Kulturelle Produktivität von Städten – ein Zusammenspiel von Kultur, Politik und Ökonomie GUDRUN QUENZEL/ANNINA LOTTERMANN

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URBANITÄT UND KULTURELLE ENTWICKLUNG Entwicklung und Selbstverständnis der europäischen Stadt BERNHARD SCHÄFERS Die kulturelle Produktivität von Städten: Thesen zu unterschiedlichen Potentialen in Ost- und Westdeutschland ALBRECHT GÖSCHEL Kreativwirtschaft und Kulturhauptstadt: Katalysatoren urbaner Entwicklung in altindustriellen Ballungsregionen? JÜRGEN MITTAG/KATHRIN OERTERS

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WISSENSARCHIV STADT Kulturelle Vielfalt als produktives Potential? Zur Mobilisierung und Erzeugung von Anschlussfähigkeiten heterogener Wissensbestände GERTRAUD KOCH

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New York Undead: Globalisierung, Landschaftsurbanismus und der Geist der Twin Towers 119 CHRISTOPH LINDNER Industriekultur: Gespeicherte Erinnerung und kulturelles Potential CHRISTA REICHER

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ZWISCHEN DIVERSITÄT UND KONVERGENZ, KONFLIKT UND KOOPERATION Die Grenzen der Toleranz und die Verhandlung der Differenz WILLIAM NEILL/BRENDAN MURTAGH

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„Urbane Civitas” errichten: Die Rolle der Städte im interkulturellen Dialog Europas LÉONCE BEKEMANS

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Von bilateralen Initiativen der Völkerverständigung zu multilateralen Foren der praktischen Kooperation – städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa gestern und heute ANNINA LOTTERMANN

Autorinnen und Autoren

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Grußwort OLIVER SCHEYTT Was sind die kulturellen Potentiale und die kreativen Kräfte von Städten im heutigen Europa? Was sind die historischen Kontexte, aus denen sich die kulturelle Dynamik der europäischen Städte entwickelte, und was sind die Bedingungen, unter denen Stadtentwicklung heute gestaltet werden kann? Können Konstellationen zur Förderung der kulturellen und künstlerischen Potentiale identifiziert werden? Solche Fragen stellt sich die Kulturhauptstadt Europas RUHR. 2010, um das Ruhrgebiet zu einer Metropole zu vernetzen und in den Dialog mit Europa zu treten. Eine interdisziplinäre Herangehensweise mit wissenschaftlicher Fundierung ist notwendig, um die geschichtlichen Erfahrungen einzubeziehen, den gesellschaftlichen Wandel zu reflektieren und eine integrative Stadtentwicklung anstoßen zu können. Darum hat die RUHR.2010 GmbH zusammen mit der Stadt Essen, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Initiative „Europa eine Seele geben“ das Projekt „Das kulturelle Potential von Städten und Regionen in Europa“ und die Umsetzung eines entsprechenden Forschungsauftrags am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen gefördert. Das Projekt umfasste auch zwei internationale Workshops im Oktober 2007 und Juli 2008 mit Praktikern aus der Kommunal- und Regionalpolitik, aus Städten und Regionen Europas sowie Vertretern der Kulturwissenschaften in der künftigen Kulturhauptstadt Europas 2010.

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OLIVER SCHEYTT

Der vorliegende Sammelband spiegelt den aktuellen, von den Workshops inspirierten Forschungsstand zur Frage nach den gegenwärtigen und zukünftigen Einflussgrößen kultureller Innovation und Integration wider. Deutsche, britische, belgische, schwedische und us-amerikanische Wissenschaftler richten ihr Augenmerk auf das Selbstverständnis der europäischen Stadt, auf Landschaftsurbanismus, Globalisierung und Industriekultur sowie kulturelle Vielfalt, Interaktionen durch Städtepartnerschaften und interkulturellen europäischen Dialog. Die Fragestellungen und Handlungsempfehlungen der Autoren helfen, neue kulturelle Dynamiken ausfindig zu machen, kulturelles Innovationspotential zu fördern sowie neue Qualitätsmerkmale und Strategien zu entwickeln. Dabei geht es auch um kreativwirtschaftliche Aspekte und die ökonomische Bedeutung der Kultur. Von diesen Erkenntnissen konnte und kann auch die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 profitieren. Ihr Gebiet erstreckt sich auf 4.400 Quadratkilometer mit elf kreisfreien Städten und vier Landkreisen; hier leben Menschen aus mehr als 170 Nationalitäten und hier werden etwa 90 verschiedene Sprachen gesprochen. Für diesen Raum und seine Einwohner ist es grundlegend, kulturelle Vielfalt als produktives, nicht als konfliktträchtiges Potential zu verstehen. Gelebte Toleranz hat hier tiefe Wurzeln – sie fußt auf der Bergbautradition des Ruhrgebiets. Heute entsteht auf der Basis des Mythos Ruhr ein neues, ein urbanes Gemeinschaftsgefühl, ein Selbstverständnis des drittgrößten europäischen Ballungsraums als Metropole im Werden. Ihre kollektive Identität gründet in ihrer Wandlungsfähigkeit – und bedeutsame Ressourcen hat sie auf kulturellem Terrain. Auf diese zukunftsträchtige Metropole lenkt RUHR.2010 den Blick Europas.

Prof. Dr. Oliver Scheytt Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH

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E INFÜHRUNG

Kulturelle Produktivität von Städten – ein Zusammenspiel v on Kultur, Politik und Ökonomie GUDRUN QUENZEL/ANNINA LOTTERMANN Kultur wird seit einigen Jahren als zentrales Element der Stadtentwicklung nicht nur in „geistiger“ und politischer Hinsicht, sondern auch auf wirtschaftlicher Ebene eine Reihe positiver Wirkungen zugeschrieben. Kultur gilt mittlerweile als zentraler Faktor der Imageentwicklung, der Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit ihrer Stadt und damit als Grundlage für ihre Partizipationsbereitschaft am städtischen Leben; sie gilt als Standortfaktor für die Ansiedlung von Unternehmen, als Motor bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und als Magnet für die Anziehung von hochqualifizierten Arbeitskräften sowie als Grundlage für die touristische Entwicklung. Diese im mehrfachen Sinne gewinnbringende Sicht auf Kultur spiegelt sich jedoch bislang nur sehr verhalten in den städtischen Kulturetats. Dennoch deutet die Diskussion darauf hin, dass von Kulturschaffenden, Politikern und Unternehmern vielfältige und bei weitem nicht ausgeschöpfte urbane, kulturelle Potentiale angenommen werden. Der Frage, um welche Potentiale es sich hier konkret handeln könnte, wie diese angeregt, ausgeschöpft und weiterentwickelt werden können, hat sich der vorliegende Sammelband verschrieben. Die Autorinnen und Autoren greifen in ihren Beiträgen die Frage nach den Bedingungen kultureller Produktivität und ihren ökonomischen Potentialen auf, untersuchen Beispiele aktueller

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GUDRUN QUENZEL / ANNINA LOTTERMANN

kultureller Stadtentwicklung, beschäftigen sich mit den Chancen und Grenzen kultureller Heterogenität und mit der Frage nach den Potentialen einer kulturellen europäischen Integration.

Kunst, Kultur, Kreativität – oder kulturelle Produktivität? Im westlichen Verständnis fungieren Kunst und Kultur als symbolische Produktionen, in denen sich kulturelle Deutungen und gesellschaftliche Sinngebungsprozesse materialisieren. Sie sind Schöpfungsleistungen, die – um verstanden werden zu können – sowohl auf tradierten Elementen aufbauen, als auch – um als zeitgemäße Kultur gewürdigt zu werden – neue gesellschaftliche und künstlerische Entwicklungen kreativ aufnehmen und verarbeiten müssen (Bourdieu 1997). Zeitgenössische Kunst und Kultur reklamieren für sich die Kraft, Neues – im Sinne des noch nicht Dagewesenen – zu produzieren. Nicht selten ist das Neue dabei im Schumpeterschen Sinne eine Abwandlung des bereits Vorhandenen, das durch eben diese Umwandlung, die in der Kunst häufig in Form einer Umwertung der existierenden Werte zu einer neuen sinngebenden Anordnung erfolgt, entsteht. Neu wird damit etwas durch den Bruch mit dem Alten und der Tradition; es wird als neu empfunden, weil es sich vom Alten abgrenzt, das Alte abwandelt und damit einen Blick auf das Alte (und das Neue) erlaubt, der so noch nicht dagewesen ist (Groys 1999). Diese Prozesse des Neuschöpfens, Brechens und Blickveränderns durch Kunst und Kultur lassen sich als kulturelle Produktivität verstehen. Erweitert man den Begriff der kulturellen Produktion dahingehend, dass nicht nur der Bruch mit dem gesellschaftlichen Sinnsystem, sondern auch die Schaffung neuer, ökonomisch verwertbarer kultureller Produkte, neue Technologien und das gesamte Feld der Wissensproduktion dazugehören, dann umfasst der Bereich der kulturellen Produktion nicht nur Kunst und Kultur im engeren Sinne, sondern auch die Kreativwirtschaft, die innovativen Bereiche der Wirtschaft und die Universitäten. Diese Erweiterung des kulturellen Produktionsbegriffs ermöglichst es, kulturelle und ökonomische Entwicklungen enger zusammenzudenken. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt nicht zuletzt darin, auf diese Weise das Zusammenspiel von künstlerischer und ökono-

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KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

mischer Innovationskraft und Kulturförderung als wichtige Voraussetzung für das ökonomische Wachstum besser untersuchen zu können.

Die ökonomischen Vorteile von Kreativität Im globalen Wettbewerb ist die Kreativität einer Stadt zu einem zentralen Standortfaktor geworden und scheint neben Rohstoffen, Wirtschaftskraft und Infrastruktur in den letzten Jahren mehr und mehr einen gleichberechtigten Platz einzunehmen. Nach dem im kulturökonomischen und städteplanerischen Diskurs viel diskutierten US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida (2002) hängt der ökonomische Aufschwung einer Stadt oder Region von ihrer kulturellen Innovationskraft ab, die wiederum an kreative Köpfe und attraktive Orte geknüpft ist. Florida unterscheidet zwischen zwei Kategorien von Kreativen und ihrem kreativen Output: Dem supercreative core gehören die an, die per se mit der Produktion von Neuem beschäftigt sind (z.B. Künstler, Wissenschaftler, Designer, Unternehmer); zu den creative professionals sind die zu zählen, deren Arbeit eigenständiges Denken voraussetzt und Problemlösungsprozesse beinhaltet (z.B. Anwälte, Ärzte, Manager, Facharbeiter). Zugfaktor für das kreative Humankapital ist die Attraktivität einer Stadt oder Region, die sich wiederum über die drei „Ts“ (Technology, Talent, Tolerance) bestimmen lässt. Mit den drei „Ts“ adressiert Florida den Grad vorhandener Technologien und Wissensbranchen, die Anzahl von in der Stadt oder Region vorhandenen Angestellten in kreativen Berufen und den Toleranzgrad bzw. die Offenheit einer Stadt oder Region, ihr Spektrum an verschiedenen Persönlichkeiten, das zu einem intensiven Austausch an Ideen führt. Kurz: Städte, in denen diese drei Aspekte stark vertreten sind, sind nach Florida weltoffen, bildungsstark und mit zukunftsträchtigen Wissensbranchen ausgestattet und ziehen als Folge dieser Eigenschaften mit großer Wahrscheinlichkeit weitere hochqualifizierte Kreative von außen an, denn für diesen Personenkreis sind diese Qualitäten grundlegende Faktoren der Standortwahl.

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Städte als besondere Orte kultureller Produktivität Neues kann aus prinzipiell allem und an allen Orten entstehen – und das tut es auch. Dennoch kommt es an manchen Orten zu Verdichtungen und Dynamisierungen in der kulturellen Produktionskraft. Historisch waren in Europa die Städte Orte des intellektuellen Austauschs und der künstlerischen Bewegungen und Entwicklungen. In den Städten konnte es aufgrund der Verdichtung von Menschen und Kenntnissen und des relativ hohen Problemlösungsbedarfs zu experimentellen Praktiken, Spezialisierungen und damit auch zu Weiterentwicklungen kommen. Dadurch etablierten sich Zentren des Wissenstransfers, wie etwa die Universitäten, Bibliotheken, aber auch Kunstakademien, Theaterschulen und Konservatorien. Charakteristisch für diese Zentren ist die Bündelung, Weiterentwicklung und der Austausch von kulturellen Ideen und Praktiken. Wichtige kreative Ressourcen von Städten sind ihre materiellen und immateriellen Wissensarchive. Diese stellen, sozusagen als „Steinbruch des Alten“, die Elemente, die dann neu kombiniert und zusammengesetzt zu Neuem werden. Beispielsweise reizt in Berlin die künstlerische Auseinandersetzung mit den materiellen und immateriellen Wissensarchiven der DDR, in New York die Auseinandersetzung mit dem World Trade Center und den Einwanderern aus aller Welt. Wissensarchive lassen sich in verschiedene Formen unterscheiden (Kunst, Kultur, Architektur, Sitten und Gebräuche, Weltanschauungen etc.). Angesichts dieser Unterscheidbarkeit stellt sich die Frage, ob die Unterschiedlichkeit und Zusammenführung möglichst diverser Elemente Auswirkungen auf die Innovationskraft hat. Innovation und kulturelles Potential speisen sich aus Kontrastivität und Differenzerfahrungen, so wie auch kulturelle Heterogenität eine höhere Inspirations-Wahrscheinlichkeit mit sich führt. Produktiv wirksam werden können Innovationen aber nur, wenn sie von ihren kreativen Schöpfern sinnvoll ein- bzw. rückgebettet und von ihren Rezipienten als sinnvoll erkannt und angenommen werden. Insofern können möglichst große Kontraste nur dann produktiv wirken, wenn sie verständlich und anschlussfähig aufbereitet werden.

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KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

Zu den Städten mit großen kulturellen Potentialen scheinen eher die Metropolen dieser Welt zu gehören – denn diese bieten offenbar Bedingungen, unter denen sich eine kulturelle und künstlerische Produktion stärker entfalten kann. Nicht von jeder größeren Stadt gehen jedoch in gleicher Weise kreative Impulse aus – die reine Verdichtung von Menschen, Arbeitsmöglichkeiten, Handelsströmen und Konsummärkten scheint dafür offenbar nicht auszureichen. Städte und Regionen mit einer großen kulturellen Heterogenität scheinen eine höhere Wahrscheinlichkeit zu haben, kulturell kreativ zu werden. Man denke an New York, London oder Berlin. Sie zeichnen sich durch Vielfalt – sozial und ethnisch –, durch Abwechslung, Variation und Kontraste und durch ein verhältnismäßig hohes Maß an Irritationen, Anregungen und Inspirationskraft aus. Kulturell heterogene Städte gelten außerdem als pluralistisch, offen und inklusiv.

Bedingungen und Wirkungen kultureller Produktivität Zu den Bedingungen kultureller Produktivität gehören zweifelsohne eine attraktive Umgebung und maßgebliche Akteure. Ausreichend ist das aber nicht. Denn zu belegen, dass ein Klima kultureller Vielfalt und Toleranz positiv mit dem Vorhandensein zukunftsträchtiger Unternehmen korreliert, gibt keine Antwort darauf, wie die kreativen Prozesse in Gang gesetzt werden. Die hier versammelten Aufsätze suchen nach Antworten auf die Frage, wie für Städte das Zusammenspiel von kreativen Ressourcen und kreativen Akteuren tatsächlich zur Schaffung von Neuem führt. Bernhard Schäfers zeichnet in seinem Beitrag „Entwicklung und Selbstverständnis der europäischen Stadt“ die Entstehungsgeschichte der europäischen Städte von ihren historischen Grundlagen in der Antike bis heute nach und beschreibt die Bewegung, in der die europäischen Städte zusammen mit Europa entstehen und es in gewisser Weise erst hervorbringen. Neben der römischen und griechischen Antike – mit der Entwicklung des öffentlichen Raumes, des Bürgertums sowie der gesetzlichen Regelung von privaten und öffentlichen Sachverhalten – kommt dem expandierenden Christentum mit der Gründung von Klöstern und dem

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GUDRUN QUENZEL / ANNINA LOTTERMANN

Bau von Kirchen – deren einheitliche Baustile das visuelle Bild der Städte bis heute prägen – eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Städten, wie wir sie heute in Europa kennen, zu. Weitere zentrale Merkmale der europäischen Stadt sieht Schäfers in der Herausbildung einer urbanen (intellektuellen) Kultur und der Nutzung von Städten zur herrschaftlichen Repräsentation. Städte waren außerdem Ausgangspunkt der politisch-emanzipatorischen und der technisch-industriellen Doppelrevolution, die die Voraussetzungen für die moderne europäische und industriell geprägte (Groß-)Stadt schufen. Schäfers schließt seinen Beitrag mit einem Exkurs über die europäische Kulturhauptstadt als Beispiel für die reflexive Selbstvergewisserung des 20. und 21. Jahrhunderts – eine Reflexion, die er besonders in der Ernennung von Istanbul zu einer der europäischen Kulturhauptstädte 2010 produktiv in Gang gebracht sieht. Albrecht Göschel unterscheidet in seinem Beitrag „Die kulturelle Produktivität von Städten: Thesen zu unterschiedlichen Potentialen in Ost- und Westdeutschland“ zwischen zwei Konzepten kultureller Produktivität von Städten. Im stadtsoziologischen Verständnis wird darunter der Vorgang einer Entstehung ständig neuer Lebensstile und Verhaltensweisen verstanden, der durch die Dichte und Heterogenität und den Wunsch, sich aus der Menge hervorzuheben, motiviert ist. In der Wirtschafts-, Regionalund Kulturpolitik wird unter einer kreativen Stadt hingegen diejenige verstanden, in der sich viele kreative Milieus bzw. Angehörige der kreativen Berufe finden. Die von den neuen Kreativen in den Städten präferierte Urbanität deutet Göschel als Ausdruck eines Wertewandels – von den Pflicht- und Akzeptanzwerten zu den postmaterialistischen Werten und der positiven Bewertung von Distinktion und Andersartigkeit –, der jedoch nicht überall gleichermaßen stattgefunden habe. Aufgrund eines in der DDR nur verzögert eingesetzten Wertewandels erscheinen für Göschel die Chancen der ostdeutschen Städte, in einem der beiden Konzepte kultureller Produktivität erfolgreich zu sein, eher gering. Jürgen Mittag und Kathrin Oerters belegen in ihrem Beitrag „Kreativwirtschaft und Kulturhauptstadt: Katalysatoren urbaner Entwicklung in altindustriellen Ballungsregionen?“ die Bedeutung des Kultur- und Kreativsektors für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Kultur kann heute keineswegs nur als „weicher“, indirekter Standortfaktor, der nach den von Richard

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KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

Florida geprägten Motti „jobs follow people“ und „place does matter“ Arbeitskräfte und Unternehmen in ihrer Standortwahl entscheidend beeinflusst, gesehen werden, sondern ist selbst ein ökonomischer Entwicklungsfaktor. Die Kultur- und Kreativwirtschaft verzeichnet im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich wachsende Umsatzzahlen und schafft Arbeitsplätze. Kultur gilt deshalb in der städtischen Politik als Motor und Ressource wirtschaftlichen Wandels. In ihrem Beitrag gehen sie der Frage nach, inwieweit die europäischen Städte und Industrieregionen ihr kreatives Potential im Rahmen ihrer Wahl zur Kulturhauptstadt Europas genutzt haben, um zur Entwicklung und Umstrukturierung urbaner Räume beizutragen. Als Beispiele werden die drei vom Niedergang der Industrien geprägten Städte Lille, Liverpool und Essen herangezogen, die ihr Kulturhauptstadtprogramm nicht auf Hochkultur und Tourismus ausrichteten, sondern auf die Aktivierung der Kultur zu Zielen des Stadtumbaus und des Strukturwandels setzten. Diversität und Interaktivität gelten als wesentliche Voraussetzungen für Innovation. Studien des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes formulieren einen positiven Zusammenhang zwischen ethnischer Diversität und Erfindungsgeist, der sich u.a. in einer erhöhten Rate an Patentanmeldungen ausdrückt. Jedoch führt die bloße Existenz kultureller Vielfalt in Städten weder zu kulturellen Leistungen noch zum konstruktiven Miteinander von sich als verschieden wahrnehmenden kulturellen Gruppen in den städtischen Quartieren. Eine hohe Dichte an ethnischer und sozialer Diversität allein reicht offenbar nicht aus, um Kreativität anzuregen. Vor diesem Hintergrund geht Gertraud Koch in ihrem Beitrag der Frage nach, was darüber hinaus in Städten und Regionen mit großer kultureller Vielfalt notwendig ist, damit sich kreative Milieus bilden und etablieren können. Sie vertritt die These, dass sich Kreativität dort entfalten kann, wo es gelingt, die kulturell diversen Wissensbestände zu mobilisieren und damit für einen großen Kreis an Akteuren verfügbar zu machen, die diese als Materialien für eigene Wissensproduktionen aufgreifen. Dieses Wissen ist an spezifische kulturelle Traditionen und an konkrete Praktiken gebunden und zudem in kosmologische Ordnungen eingebettet. Akteure, die Neues schaffen wollen, müssen kreative Energie und Anregungen aus den vorhandenen Ressourcen schöpfen können, d.h. sie müssen in der Lage sein, mit vorhandenen Res-

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sourcen in eine produktive Auseinandersetzung zu treten, sich ihre Eigenschaften und Qualitäten anzueignen und Inspiration daraus zu schöpfen. In die eigenen kulturellen Repertoires können dann „fremde“ und „neue“ kulturelle Symbole und Praktiken eingebaut werden und auf diese Weise ergänzt und erweitert, ja eventuell zu etwas Neuem entwickelt werden. Den kompetenten kulturellen Akteuren, die die Fähigkeit besitzen, vorhandenes Wissen aus dem kulturellen Kontext zu entbetten und wieder einzubetten, weist Koch damit eine Schlüsselstellung zu, um neue Dynamiken – der Ko-Evolution von Raum und Wissen – in Gang zu setzen. Wie materielle und immaterielle Wissensarchive einer Stadt aufgegriffen und transformiert werden können, wie in diesem Prozess neue Symbole geschaffen und alte umgedeutet werden, ohne ihre ursprüngliche Bedeutung in Gänze aufgeben zu müssen, beschreibt Christoph Lindner am Beispiel des Umgangs mit den Trümmern des World Trade Centers. In seinem Artikel „New York Undead: Globalisierung, Landschaftsurbanismus und der Geist der Twin Towers“ beschreibt er das Projekt Lifescape, in dem eine nicht mehr genutzte Mülldeponie, die neben dem Hausmüll New Yorks auch die Trümmer des World Trade Centers birgt, zu einem Naherholungsgebiet umfunktioniert wird. Die neu entstehende Parklandschaft behält auf der einen Seite die durch den Müll geschaffenen Landschaftsformationen größtenteils bei und erinnert auf diese Weise an die ursprüngliche Funktion des Geländes, auf der anderen Seite entsteht auf der Oberfläche des Mülls eine ökologisch wertvolle Naturlandschaft. Parallel dazu erinnert ein Denkmal, das das World Trade Center symbolisch nachzeichnet, an den Anschlag vom 11. September 2001 und der gelenkte Blick auf die Skyline New Yorks führt dem Besucher die Abwesenheit der Twin Towers vor Augen. Der Besucher wird auf diese Weise dazu aufgefordert, eine Abwesenheit zu empfinden und auf eine symbolisch aufgeladene Skyline zu schauen, bei deren Betrachtung das Anwesende mit dem Abwesenden verschwimmt und zur Re-Interpretation einlädt. Christa Reicher fragt in ihrem Beitrag „Industriekultur: Gespeicherte Erinnerung und kulturelles Potential“ nach der Wirkung der Internationalen Bauausstellung Emscher Park auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Mit der IBA Emscher Park vollzog sich ein Einstellungswandel, in dem die Industriebrachen nicht

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KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

mehr nur als Altlasten gesehen, sondern das industrielle Erbe als Chance und Identitätsträger für die Region betrachtet wurde. Heute sind die ehemaligen Hochöfen, Zechen und Gasometer zu den identitätsstiftenden Kulturdenkmälern der Region geworden. Die geschichtlich gewachsene Stadt bezeichnet Reicher als das geformte System von vielfältigen Sozialbezügen, dessen baulich sichtbarer Teil nicht nur materielle Hülle, sondern auch Produkt dieser sozialen Bezüge ist. Die stillgelegten Anlagen der Schwerindustrie im Ruhrgebiet sind Teil dieses Systems; durch Kultur als identitätsstiftenden Faktor können sie aufgewertet und weiterentwickelt werden und so in das produktive System der Stadt reintegriert werden. William Neill und Brendan Murtagh greifen die Frage nach den Bedingungen eines friedlichen und partizipativen Umgangs mit kultureller Heterogenität und nach den Grenzen der Toleranz kultureller Verschiedenheit auf. In „Die Grenzen der Toleranz und die Verhandlung der Differenz“ gehen sie auf das Problem des Separatismus verschiedener kultureller Gruppen ein – ein Problem, das aufgrund globaler Migration, religiösen Extremismus und ethnischer Fragmentierung in einigen Städten dazu geführt hat, dass diese zunehmend auseinanderbrechen. Es ist unklar, wie effektiv gegen dieses Phänomen vorgegangen werden kann. Maßnahmen sind oft wenig systematisch oder gar widersprüchlich und Konzepte, z.B. im Bereich der Zusammenarbeit verschiedener Institutionen, geben nur bedingt Hilfestellungen zum richtigen Handeln. In ihrem Artikel setzen sie sich mit der Frage auseinander, wie Verschiedenheit verstanden und organisiert werden kann, und beziehen sich dabei konkret auf die Situation Nordirlands. Sie heben hervor, dass Toleranz in der modernen Stadt nur bedingt wirksam ist. Insbesondere müsse eine lebhaftere Debatte über die Spannungen zwischen ethnischen- und Bürgerrechten und Möglichkeiten der Vermittlung zwischen ihnen in Gang gebracht werden. Abschließend diskutieren Neill und Murtagh Konzepte, wie diese Spannungen organisiert werden können, insbesondere gehen sie auf die „Gemeinsamen Grundprinzipien für die Integrationspolitik“ des Rats der Europäischen Union ein. Léonce Bekemans geht in seinem Beitrag „‚Urbane Civitas’ errichten: Die Rolle der Städte im interkulturellen Dialog Europas“ von der Annahme aus, dass die Städte des heutigen Europas als Zentren der Diversität in der Entwicklung einer demokratischen

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„urbanen Civitas“ – im Sinne einer tragfähigen Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen und geteilten Werten – eine bedeutende Rolle spielen. Bekemans geht der Frage nach, wie eine urbane Umwelt gestaltet sein muss, wenn sie einen wirklichen interkulturellen Dialog ermöglichen können soll. Um die Bedingungen für eine aktive Bürgerbeteiligung an demokratischen Prozessen bereitzustellen, muss die städtische Politik auf eine Reihe von aktuellen Herausforderungen reagieren. Zu diesen Bedingungen gehören u.a. die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrswesens, der Zugang zu gut funktionierenden und bezahlbaren öffentlichen Serviceangeboten sowie eine hohe Lebens- und Wohnqualität in der gesamten Stadt, Chancengleichheit und Anwohnersicherheit. Annina Lottermann veranschaulicht an der historischen Entwicklung der europäischen Städtepartnerschaften die Bedeutung der politischen Konstellationen für den Austausch von Ideen, Wissen und Praktiken. In ihrem Beitrag „Von bilateralen Initiativen der Völkerverständigung zu multilateralen Foren der praktischen Kooperation – Städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa gestern und heute“ setzt sie sich aus ethnologischer Perspektive mit Städtepartnerschaften als Praktiken der Europäisierung auseinander und zeigt, dass städtepartnerschaftliche Praxis stets eng mit dem Prozess der europäischen Integration verknüpft war und ist. Während Städtepartnerschaften in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ganz im Zeichen der Völkerverständigung und Friedenssicherung gestanden haben, sind heute zunehmend Praktiken des gezielten Wissenstransfers zur Bewältigung aktueller kommunalpolitischer Aufgaben zu beobachten. Es entsteht damit ein neuer Typ von Städtepartnerschaften, der strategisch Städtebündnisse zur Bewältigung kommunaler Herausforderungen eingeht und bei dem die gemeinsame Suche nach Lösungen von Problemen wie der modernen Verwaltung, der Städteplanung oder der Zuwanderung im Vordergrund steht. Europäisierung im Sinne eines Zusammenwachsens Europas über die Vernetzung von Bürgerinnen und Bürgern aus verschiedenen Nationen entsteht dann in Städtepartnerschaften nicht mehr primär über das gegenseitige Kennenlernen der Bewohner, wie etwa durch den Schüleraustausch, sondern vermehrt über die Kooperation auf Verwaltungsebene.

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KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

Literatur Bourdieu, Pierre (1997): Zur Soziologie der symbolischen Formen, 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class. New York: Basic Books. Groys, Boris (1999): Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt a.M.: Fischer.

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U RBANITÄT

UND KULTURELLE

E NTWICKLUNG

Entwicklung und Selbstverständnis der europäischen Stadt BERNHARD SCHÄFERS

1. Europäische Stadt und Stadt in Europa Es gibt einen Unterschied zwischen der „Stadt in Europa“ und der „europäischen Stadt“. Die Stadt in Europa ist eine geographische Festlegung, die europäische Stadt ist eine historische und kulturelle, soziale und politische Einheit mit bestimmten Eigenschaften und Gemeinsamkeiten. Eine weitere Variante signalisiert Leonardo Benevolos Werk „Die Stadt in der europäischen Geschichte“. Dort heißt es: „Die europäischen Städte entstehen zusammen mit Europa, und in gewissem Sinne sind sie es, die Europa erst hervorbringen.“ (1999: 13) Eines der letzten Kapitel in diesem Werk ist überschrieben: „Die Städte der europäisierten Welt“. In den nachfolgenden Ausführungen werden jene Etappen der Kultur- und Stadtgeschichte hervorgehoben, die zur Herausbildung der europäischen Stadt geführt haben. Die Perspektive ist dabei insofern „konstruktivistisch“, als erst im Nachhinein, praktisch erst seit dem 19. Jahrhundert, deutlich wird, welches die Grundlagen der europäischen Stadt sind und worin ihre Gemeinsamkeiten liegen. Der Topos „die europäische Stadt“ in der gegenwärtig so oft hervorgehobenen Bedeutung im Hinblick auf die kulturelle Einheit Europas, insbesondere der Europäischen Union, findet sich noch später, mit zunehmender Tendenz erst seit den 1970er Jahren.

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BERNHARD SCHÄFERS

Wie für andere Kultur- und Sozialbereiche liegen auch für die europäische Stadt die Wurzeln in der griechischen und römischen Antike. Der Konstruktivismus betont gegenüber dem Idealtypus von Max Weber (1864-1920) deutlicher den Stellenwert von Kommunikation und gemeinsam geteilten Vorstellungen im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand. Damit die europäische Stadt Teil des „kollektiven Bewusstseins“ – mit dem Ausdruck des französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) – werden konnte, musste sich zunächst eine Vorstellung von Europa als Raum mit gemeinsamen kulturellen Wurzeln entwickeln. Das geschah nicht zuletzt über den „Umweg“ des Christentums. Das Christentum hat sich, was in diesem Zusammenhang nicht unwichtig ist, von Städten der griechisch-römischen Welt her ausgebreitet. Die Briefe des Apostels Paulus gehen an die Römer und Korinther, an die Athener und die Thessaloniker. In vielen anderen Ländern Europas waren die von den Römern gegründeten Städte Orte zur Verbreitung des Christentums, zumal in Verbindung mit ersten Bischofssitzen: Köln und Trier, Chur und Worms, Mainz und Speyer sind bekannte Beispiele (vgl. Schmieder 2005: 18). Beflügelt wurde diese Entwicklung durch das Frankenreich Karls des Großen und die erste Abwehr des Islam, der von Spanien aus bereits im 8. Jahrhundert auf französisches Territorium vorgedrungen war. In diesem Zusammenhang bekam Karl der Große den Beinamen pater europea (de Rougement 1962: 47f.). Die seit der Kaiserkrönung Karls in Rom im Jahr 800 verstärkte Christianisierung Nordeuropas und die von Konstantinopel ausgehende Christianisierung Osteuropas dominierten und verbanden immer größere Räume des europäischen Kontinents. Hierzu trug eine schnell expandierende, von den christlichen Herrschern geförderte Klosterkultur in bereits vorhandenen oder zu diesem Zweck gegründeten Städten ebenso bei wie einheitliche Baustile, beginnend mit der Romanik: Von Sizilien bis Skandinavien, von Portugal bis nach England prägten und prägen diese Baustile das Gesicht der wiederbelebten ehemaligen römischen Städte und der vielen, seit dem 11./12. Jahrhundert vor allem in Mitteleuropa neu gegründeten Städte.

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ENTWICKLUNG UND SELBSTVERSTÄNDNIS DER EUROPÄISCHEN STADT

Nun konnte sich, auch durch partielle Wiederaufnahme der Stadtkultur der römischen Antike, entwickeln, was zu Recht als geistiges und kulturelles Fundament der europäischen Stadt angesehen wird: Sie ist der Ort, an dem die freiheitlich-bürgerliche Gesellschaft entstanden ist, mit einer besonderen, urbanen Lebensart, die Städter und Landbewohner klar unterscheidet; sie entstand und entwickelte sich in ihren entscheidenden Phasen durch bewusste Planung (vgl. Siebel 2004: 12ff.). Doch erst seit dem Mittelalter entstand eine Bürgergemeinde bisher unbekannter Art, auf der Grundlage eines Stadtrechts, dessen Umsetzung dem Rat oblag.

2. Theorie und Praxis der polis als Voraussetzung Zum ersten Mal in der Stadtgeschichte und mit nachhaltiger Wirkung auf die weitere Entwicklung im römischen Reich und schließlich in Europa gehen im antiken Griechenland die Gründung von Städten und die Theorie der Gesellschaft bzw. der polis eine enge Verbindung ein. „Wo immer Ihr sein werdet, werdet Ihr eine polis sein“, heißt es in einer Rede des Staatsmannes und Feldherrn Themistokles (um 525-460 v. Chr.) an die Athener. Er spielte damit auf bestimmte Tugenden und Verhaltensweisen der Stadtbürger an, die – so Mumford (1979: 179) – ebenso wichtig waren wie nachfolgende Staatstheorien und die Prachtbauten aus der Zeit des Perikles. Platon (427-347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) hoben die Bedeutung des griechischen Stadtstaates (polis) für das zoón politicon hervor. Nur in der Polis könne der Mensch die Vielfalt seiner Anlagen ausbilden. Aristoteles’ Schriften, zumal das Werk „Politik“, in dem gleich im ersten Band der wechselseitige Bezug von „Gemeinschaft und Staat (polis)“ dargelegt wird, gehören bis heute zu den Grundlagen einer freiheitlich-bürgerlichen (Stadt-)Gesellschaft. Das griechische Modell der Stadtplanung, das sich mit dem Namen des Hippodamus von Milet (ca. 520-460 v. Chr.) verbindet und dessen Bedeutung Aristoteles würdigte, begünstigte die Zuweisung spezifischer Stadträume für bestimmte Nutzungen. Die räumlichen Voraussetzungen, sich als Polisbürger zu begreifen

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und als freier Bürger zu leben, dürfen nicht unterschätzt werden. Erst mit der räumlichen Trennung bestimmter Gebäude und Funktionen vom Tempelbezirk, der in die Oberstadt (Akropolis) verlegt wurde, konnte sich die eigentliche Polis, mit der agora (griech. „Versammlung“) als Zentrum, entwickeln. Tonio Hölscher (2000: 29ff.) hat in einer archäologischen Untersuchung die Bedeutung der räumlichen Trennung von Agora und Tempelbezirk für die Entwicklung des öffentlichen Raumes und des Bürgertums herausgearbeitet und sie als „Gegenwelten“ bezeichnet. Das Kriterium der räumlichen Trennung wird in seiner Bedeutung erhellt durch die Frage, ob die großen Tempelanlagen und zumeist kasernenartigen Wohnbezirke im alten Ägypten Städte waren. Die Frage ist zu verneinen. Die von Alexander dem Großen um 330 v. Chr. gegründete Stadt Alexandria ist als erste Stadt auf ägyptischem Boden anzusehen (Kolb 2005: 123). Lewis Mumford (1979: 175ff.) misst der räumlichen Trennung vergleichbare Bedeutung zu und betont, dass sich die gesellschaftliche Funktion des freien Platzes vor allem in lateinischen Ländern erhalten habe: „Plaza, Campo, Piazza und Grande Place stammen unmittelbar von der Agora ab.“ Der berühmte Palio (ital. „Wettrennen“), ein Pferderennen von jeweils zehn der insgesamt siebzehn Contrades, der Nachbarschaftsgemeinden Sienas, findet noch heute auf dem zentralen Marktplatz Sienas, der Piazza del Campo, statt und erinnert daran, dass die Agora oft auch für Wettkämpfe unterschiedlicher Art gedient hat (vgl. über die Stadt im Altertum Kolb 2005). Durch die Kolonisierung des Mittelmeerraumes von Kleinasien, Unteritalien und Sizilien (Magna Graecia) aus durch griechische Pflanzstädte, ausgehend von einer Metropolis („Mutterstadt“), erreichte die griechische Polis im späteren Europa weite Verbreitung. Die Pflanzstädte („Kolonien“) in Südfrankreich und Spanien waren für die Städte des nachfolgenden römischen Imperiums eine Basis für die Herausbildung baulicher und kultureller Gemeinsamkeiten.

3. Das Erbe Roms für die europäische Stadt Für das spätere Europa und die europäische Stadt des Mittelalters und der Renaissance war das Erbe Roms prägend. „Das römische

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Reich, selbst das Produkt eines einzigen, sich ausbreitenden städtischen Machtzentrums, war wiederum ein riesiges städtebauliches Unternehmen.“ (Mumford 1979: 241) Die Römer übernahmen seit der Expansion des Römischen Reiches und der Unterwerfung Griechenlands (146 v. Chr.) den hippodamischen Plan der griechischen Stadtanlage – ausgenommen in Rom selbst. Unterschiede gab es vor allem durch eine sehr viel urbanere Bauweise als in Griechenland und die Freude der Römer an den leges, der gesetzlichen Regelung von privaten und öffentlichen Sachverhalten, auch im Stadtraum. Eine urbs, also eine größere Stadt, wurde erst durch die civitas zu einem municipium, also zu einer städtischen Einheit, die auf den Grundlagen des römischen Bürgerrechts beruhte. Municipium bezeichnete eine Stadt als administratives und politisches System, während die Begriffe urbs und civitas Namen gebend wurden für zentrale Elemente der Stadtkultur und des bürgerlichen Verhaltens, für Urbanität und Zivilisation. Schaut man in die Gründungsurkunden mittelalterlicher Städte, so sind sie nicht nur lateinisch verfasst, sondern bedienen sich auch der unter römischer Herrschaft entwickelten Begriffe (wie unterschiedlich das jus civitas und damit die Bürgerrechte in den einzelnen Städten ausgebildet waren, zeigen die Darstellungen von Planitz (1997) und Schmieder (2005). Der Beitrag Roms zur europäischen Stadt ist baulich und rechtlich, verhaltenstypisch („urban“) und zivilisatorisch von bleibendem Wert. Er liegt nicht nur in genialen Konstruktionen der Ingenieure, der Erfindung neuer Baumaterialien (inkl. Beton), und der rechtlichen Absicherung eines Freiraums der freien, über Eigentum verfügenden Bürger, sondern auch im Vorbild der Städte des Römischen Reiches und der Stadt Rom, die noch als Ruinen auf Möglichkeiten der Stadtbaukunst und des städtischen Lebens verwiesen. Als Beispiele für bedeutende, vorbildliche Bauwerke sind hervorzuheben: die Aquädukte und die befestigten Straßen, wie die um 300 v. Chr. erbaute Via Appia Antica; die Cloaka Maxima, deren weitsichtige Konstruktion aus dem vierten bis ersten vorchristlichen Jahrhundert noch heute in Betrieb ist; die mehrgeschossigen Wohnhäuser aus Stein und die überdachten zentralen Markthallen; die heute noch Staunen erregenden Thermen des Caracalla oder Diokletian und schließlich das Kolosseum der Flavier aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert (mit seinen baulichen

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Raffinessen, die u.a. das zügige Herein- und Herausbringen der rund fünfzigtausend Besucher ermöglichten, diente es dem erst im 20. Jahrhundert wiederbelebten Stadionbau als Vorbild).

4. Die europäische Stadt des Mittelalters Nach Felicitas Schmieder (2005: 54) lässt sich „die nachrömische Städtegeschichte Lateineuropas in zwei Großregionen, den Süden und den nordalpinen Raum, scheiden“. Für beide Großregionen gilt, was Max Weber für Europa als Besonderheit herausgearbeitet hat: „Eine Stadtgemeinde im vollen Sinn des Wortes hat als Massenerscheinung nur der Okzident gekannt.“ (Weber 1999: 84) Seit Ende des 11. Jahrhunderts gab es in Mitteleuropa mehrere Wellen von Stadtgründungen; Heinz Stoob (1979) schätzt ihre Zahl bis zum Ende des Mittelalters auf knapp fünftausend. Bis zum Jahr 1400 nahm die in Städten lebende Bevölkerung im deutschen Herrschaftsraum von einem auf rund zwölf Prozent zu (Henning 1974: 71). Damit war auch zahlenmäßig eine Basis gegeben, dem weiterhin dominanten Feudalismus der mittelalterlichen Ständegesellschaft eine städtisch-bürgerliche Gesellschaftsform entgegenzusetzen. Max Weber sah die Besonderheiten der mittelalterlichen Stadtgemeinde darin, „dass es sich um Siedlungen mindestens relativ stark gewerblich-händlerischen Charakters handelte, auf welche folgende Merkmale zutrafen: 1. die Befestigung, 2. der Markt, 3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht, 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren.“ (Weber 1999: 84)

Ein „gesonderter Bürgerstand“ als Träger dieser Merkmale und Rechte war „das Charakteristikum der Stadt im politischen Sinn“ (ebd.). Es gab, wie hervorgehoben, in der mittelalterlichen Stadt baulich und rechtlich viele Anklänge an die römische Stadt der Antike, aber ihre Eigenständigkeit bestand auch darin, etwas völlig Neues geschaffen zu haben. Leonardo Benevolo (1999: 46f.) sieht

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im schwindenden Einfluss der antiken Stadt eine Vorbedingung für „die enorme Vielfalt und Originalität der (mittelalterlichen; B.S.) Stadtlandschaften“. Frank Kolb (2005: 263) betont in diesem Zusammenhang eine andere, in der Folgezeit wichtige Errungenschaft der mittelalterlichen Stadt: ihre (relative) Eigenständigkeit auf der Basis eigenen Rechts. Max Weber habe in seiner Argumentation im Hinblick auf die Sonderstellung der Stadt des Okzidents polis und civitas mit der Kommune-Gründung der mittelalterlichen Stadt gleichgesetzt; die antike Stadt habe jedoch kein eigenes Stadtrecht besessen und keinen eigenständigen Bürgerverband gehabt. Die Stadt des Mittelalters (zu ihren Bürgern und Bewohnern, institutionellen Grundlagen usw. vgl. Schmieder 2005) ist die europäische Stadt an sich. Sie hat nicht nur in vielen Städten Europas Spuren in der Stadtstruktur hinterlassen, mit historischen Straßenzügen, Kirchen und Klöstern, Bürgerhäusern und Stadtmauern, sondern ihr Bild hat sich auch über die verbreiteten Stadtansichten in Holzschnitten und als Kupferdrucke seit dem 16. Jahrhundert tief in das Bewusstsein der Bürger eingegraben. Der Titel von Matthias Merians d.Ä. Sammlung von Stadtansichten aus ganz Europa, Theatrum Europaeum, betont die gesamteuropäische Perspektive: Die von Kirchtürmen beherrschte und von Mauern bewehrte Stadt ist gemeinsames Kennzeichen der äußeren Gestalt vieler europäischer Städte bis zum Beginn der Industrialisierung.

5. Die europäische Stadt der Renaissance und des Barock In Italien, das das römische Städtewesen auf breiter Linie konserviert hatte, erlangten bereits im Mittelalter viele Städte – Venedig, Florenz, Genua, Mailand, Pisa, Siena – den Status selbstständiger Stadtrepubliken und konnten ihn in der Zeit der Renaissance festigen. In Mitteleuropa hingegen – ausgenommen vielleicht die Stadtrepubliken der späteren Schweiz, Bern, Basel, Genf, Zürich – verloren die Städte seit Beginn des absolutistischen Zeitalters ihre Autonomie; sie wurden landesherrschaftlichen Territorien eingegliedert. Aber die Städte Italiens und Mitteleuropas zeigten als europäische Städte weiterhin viele Gemeinsamkeiten, ja

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steigerten sie durch Entwicklungen der Renaissance und des Barock in geistig-kultureller Hinsicht und durch städtebaulicharchitektonische Innovationen. Hinzu kam die Idee der Planstadt, deren antike Wurzeln in der Renaissance offengelegt und durch den neuen Geist des Rationalismus und der Geometrie belebt wurden (vgl. Seng 2003). So gab und gibt es von Portugal bis zum 1703 gegründeten St. Petersburg, von Rom oder Palmanova bis nach Kopenhagen europäisch geprägte Gemeinsamkeiten sowohl des Stadtumbaus als auch der Stadtneugründungen. Ihre Grundlagen und Merkmale sind in folgenden Punkten zu sehen: 1) Grundlegend war die Anlage von Planstädten aus dem Geist der Utopie, der Harmonie, der vollkommenen Ordnung, der Entsprechung von göttlichem und irdischem Plan (wie in der Papststadt Pienza in der Toskana besonders offenkundig). 2) Entscheidend war weiter der Ausbau einzelner Städte zu Residenz- und Landeshauptstädten, mit nachhaltiger Wirkung von Versailles auf ganz Europa: der Verbindung von Schloss, Gartenanlage und Stadt. Der Fürstenpark wurde – wie in Ludwigsburg oder Erlangen, Mannheim oder Karlsruhe – zum Mittelpunkt bzw. Ausgangspunkt der Stadtanlage. 3) Die durch die Vertreibung der Hugenotten und Protestanten in ganz Europa entstehenden Exulantenstädte zeigten ebenso den Geist der Spätrenaissance und des Barock wie die seit dem Absolutismus errichteten Militärgarnisonen mit zugehörigen Stadt- und Parkanlagen (wie in Potsdam). 4) Bedeutsam war schließlich auch der Ausbau oder Neubau einzelner Städte zu merkantilen Bürgerstädten aus primär ökonomischen Gründen, oft in Verbindung mit Manufakturen. In Portugal oder England, in Holland oder Frankreich diente der Stadtausbau, zumal von Küstenstädten, vor allem dem wachsenden Austausch mit den Kolonien und dem sich auf ganz Europa erstreckenden Handel. Nicht nur bauliche Gemeinsamkeiten und dynastische Verbindungen prägen das Bild Europas, sondern auch eine durch den Humanismus der Renaissance beflügelte „europäische Urbanität“. „Selten haben Intellektuelle in Europa so stark aus, für und in den Städten gelebt wie die Humanisten Europas des 16. Jahrhunderts.“ (Ribhegge 1988: 56) Oft war ihr Motiv, in der Nähe der

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immer wichtiger werdenden Druckerpresse zu sein, die es eben nur in der Stadt gab. Ihre Schriften, ihre sich über ganz Europa erstreckenden Briefwechsel mit Gleichgesinnten und ihr Lebenswandel – man denke an Erasmus in Basel, an Thomas Morus in London, an Castiello in Genf und Pirkheimer in Nürnberg – wurden zum Vorbild. Die nachfolgende Barockzeit und der Absolutismus führten zu einschneidenden Änderungen. In den meisten Ländern Europas erfolgte eine Urbanisierung der Residenzstädte mit großen Plätzen, Parks, Corsi, Avenuen – als Voraussetzung von Urbanität und Zivilität. Zumal der barocke Städtebau „verwandelte die Städte – so Venedig, London, Paris, St. Petersburg – in große Theaterbühnen, auf denen sich die gesellschaftliche Elite stilgerecht bewegen konnte“ (Ribhegge 1988: 65). Dass dies zum Teil auf Kosten des politisch entmachteten Bürgertums geschah, war eine der Ursachen für die bürgerlichen Revolutionen seit Ende des 17. Jahrhunderts. Die Grundlagen der europäischen Stadt beruhen seit der Renaissance nicht mehr allein auf autonomen städtischen Entscheidungen, sondern sie sind das Ergebnis kultureller, geistigreligiöser Strömungen und herrschaftlicher Bestrebungen der Landesherren. Die Stadt wird mehr zum Ausgangspunkt von absolutistischer Repräsentation und zum Ort des merkantilen Gewerbefleißes. Viele Städte sind so eindeutig von bestimmten, europäisch relevanten Vorbildern geprägt, dass sie als „KleinVersailles“ oder wie St. Petersburg als „Venedig des Nordens“ nicht nur als typisch für ein bestimmtes Land oder eine Nation zu gelten haben. Am Ende dieses Zeitalters stehen die europäischen Revolutionen von 1789 bis 1848, in denen der „dritte Stand“, das städtische Bürgertum, beanspruchte, dass seine Errungenschaften die Grundlage für eine allgemein freie Gesellschaft werden. Aus dem Bürger, dem bourgeois, wurde der Staatsbürger, der citoyen. Hierfür schuf letztlich die Industrielle Revolution die materiellen Voraussetzungen. In den Wirkkräften dieser Doppelrevolution (Hobsbawm 1962), der politisch-emanzipatorischen und der technischindustriellen, lagen und liegen die Voraussetzungen für die Modernisierung der europäischen Stadt.

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6 . D i e i n d u s t r i e l l e G r o ß s t a d t a l s n e u e r T yp u s der europäischen Stadt Um 1850 begannen überall in Europa – besonders sichtbar und bis heute oft beispielhaft genannt in Barcelona, Hamburg, London, Paris und Wien – die Umgestaltungen der zum größten Teil noch mittelalterlichen Stadtkerne zu Städten der Moderne und ihres expandierenden, zunehmend selbstbewussten Bürgertums. Überall stellten sich die gleichen Probleme und führten auch, nun erstmalig angeleitet durch eine systematische, mehr und mehr auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Stadtplanung, zu vergleichbaren Lösungen: 1) Integration des Fabrik- und Eisenbahnsystems in die expandierende Stadt; 2) Bau von Kaufhäusern und Passagen für den schnell wachsenden Massenkonsum; 3) Anlage eines repräsentativen Zentrums mit neuen, das Stadtbild prägenden Rathäusern, mit hohen Türmen, wie in Hannover oder München, Hamburg oder Wien; 4) Anlage innerstädtischer Parks und Grünanlagen, oft entlang der alten Stadtmauern und in den ehemaligen Befestigungsanlagen; 5) Vorsorge für die wachsenden hygienischen Bedürfnisse durch Ausbau der unterirdischen Infrastruktur für Wasser und Abwasser, Gas und erste Untergrundbahnen (1862 in London; 1897 erstmals auf dem europäischen Festland in Budapest). Gerd Albers hat in einer Untersuchung für 15 europäische Länder – unter ihnen Finnland und Portugal, Griechenland und Großbritannien – die vergleichbaren Probleme und städtebaulichen Lösungen beim innerstädtischen Eisenbahnbau, bei Bahnhöfen und beim infrastrukturellen Ausbau beschrieben. Gemeinsamkeiten zeigen sich auch bei der Einrichtung einer professionellen Stadtplanung. Wichtige Werke zum ingenieurwissenschaftlichen wie zum künstlerisch inspirierten Städtebau fanden europaweit Beachtung. In vielen Ländern Europas wurden Technische Universitäten gegründet und Lehrstühle für Architektur und Städtebau eingerichtet, die in einem lebhaften Austausch standen (Albers 1997: 269ff.). Geniale Ingenieursleistungen, wie die Abwasserka-

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nalisation in London oder die Berliner Lösung der Verkehrsprobleme, waren Vorbilder in ganz Europa. Im Hinblick auf die ästhetische Gestalt der schnell expandierenden Städte hatte ein Buch in ganz Europa Erfolg: Camillo Sittes „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (1889/2002). Sitte ging empirisch vor und fragte nach der überragenden ästhetischen Wirkung „schöner alter Platz- und Stadtanlagen“ (Vorwort zur ersten Auflage von 1889). Er beschränkte sich zwar auf anschaulich demonstrierte Beispiele in Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich, doch seine Überlegungen hatten wegen der vergleichbaren Anlagen auch in anderen europäischen Ländern nachhaltige Wirkung. Das Buch ist noch heute nützlich, um sich über beispielhafte Plätze in der Stadt und ihre Bedeutung als Schlüsselwerke des öffentlichen Raums eine Anschauung zu verschaffen.

7. Die Europäische Kulturhauptstadt als Beispiel der europäischen Stadt Die Städte in Europa wurden sich ihrer Gemeinsamkeiten zunehmend bewusster. Heute ist das Wissen um die Grundlagen so fundamental und selbstverständlich, dass die europäische Stadt als Beispiel für die „reflexive Moderne“ (Ulrich Beck) angesehen werden kann: Die Vergewisserung ihrer Grundlagen wirkt auf eine Verstärkung ihrer Prinzipien zurück. Als Beispiel für diese These kann die immer mit Spannung erwartete Ausrufung der Europäischen Kulturhauptstadt angesehen werden. Die Idee einer Europäischen Kulturhauptstadt geht zurück auf das Jahr 1983; sie wird der damaligen griechischen Kultusministerin Melina Mercouri zugeschrieben. Ziel war die Stärkung der kulturellen Identität in Europa; zum visuellen Angelpunkt sollte das sichtbarste Erbe dieser Identität – die Städte in Europa – werden. Die erste Europäische Kulturhauptstadt war dann im Jahr 1985 Athen. Für das zweite Jahr hätte man nun Rom erwarten können; stattdessen wurde 1986 Florenz Kulturhauptstadt. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft der EU wurde im Jahr 1999 die Bedeutung der Kulturhauptstadt Europas verstärkt. Seit 2005 ist auch das Europäische Parlament an der Vergabe des Titels durch den Europäischen Rat beteiligt, der wiederum einer

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Empfehlung der Europäischen Kommission folgt (zur Idee und Entwicklung der Europäischen Kulturhauptstadt vgl. Mittag 2008). Deutschland hatte bisher zwei Städte, die diesen Titel verliehen bekamen: Berlin (1988) und Weimar (1999). Damit ist deutlich: Nicht die Größe der Stadt ist ausschlaggebend, sondern der kulturelle Beitrag, den die betreffende Stadt für das „europäische Erbe“ einmal geleistet hat. Das Jahr 2010 wird mit besonderer Spannung erwartet; dann dürfen gleich drei Städte den Ehrentitel einer „Kulturhauptstadt Europas“ tragen: Essen (stellvertretend für das ganze Ruhrgebiet), Pécs (Fünfkirchen) in Ungarn und Istanbul in der Türkei. Die Wahl Istanbuls wird nicht nur die Diskussion um die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union neu beleben, sondern einen Brennpunkt der antiken, der christlich-abendländischen und der islamischen Geschichte ins „kollektive Bewusstsein“ heben. Istanbul, das im Kern auf dem europäischen Festland, aber auch in Kleinasien liegt, verbindet in einzigartiger Weise zwei Kontinente und repräsentiert alle Kulturstufen, die das Abendland geprägt haben. Bis heute sind die Vorgängernamen dieser Stadt geläufig: Byzanz und Konstantinopel. Byzanz, von den Griechen im fünften vorchristlichen Jahrhundert gegründet, spielte zumal seit dem Jahr 330, als Konstantin der Große (306-337) die Hauptstadt des Römischen Reiches hierher verlegte und die Stadt ihm zu Ehren Konstantinopel genannt wurde, für die Entwicklung des Christentums eine überragende Rolle: In der Nähe von Byzanz/Konstantinopel fanden entscheidende Konzilien statt – Nicäa 325, Chalcedon 451 –, die den Kanon des christlichen Glaubens festschrieben. Auch nach der Umbenennung der Stadt in Konstantinopel blieb der alte griechische Name erhalten und lebt bis heute fort: Von der byzantinischen Kunst über das byzantinische Reich bis zum Byzantinismus spannt sich der Bogen. Die Eroberung von Byzanz durch die Türken im Jahre 1453 ist ein zentrales Datum der europäischen und der islamisch-osmanischen Geschichte. Der Fall, nach den vorhergehenden Plünderungen durch die Venezianer und die Kreuzritter wohl unvermeidlich, führte zur Flucht vieler griechischer Gelehrter in die aufstrebenden italienischen Stadtrepubliken – ein Motor für die Blütezeit der Renaissance.

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Das Jahr 2010 wird mit der Wahl von Byzanz-Konstantinopel-Istanbul als Europäische Kulturhauptstadt Gelegenheit geben, im Spiegel einer Stadt über die Grundlagen und die wechselvolle Geschichte zentraler Städte in Europa und der europäischen Stadt nachzudenken. Die kulturelle und urbane, religiöse und zivilisatorische Geschichte in und außerhalb Europas ist ohne Athen und Rom, Byzanz, Venedig und Florenz, Paris und London und viele andere, auch kleinere Städte, nicht denkbar. Diese Städte sind es, um an das einleitende Zitat von Leonardo Benevolo zu erinnern, „die Europa erst hervorbringen“.

Literatur Albers, Gerd (1997): Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen. Bauwelt Fundamente 117. Wiesbaden: Vieweg. Benevolo, Leonardo (1999): Die Stadt in der europäischen Geschichte. München: Beck. Henning, Friedrich-Wilhelm (1974): Das vorindustrielle Deutschland 800-1800. Paderborn: Schöningh. Hobsbawm, Eric (1962): Europäische Revolutionen, 1789 bis 1848. Zürich: Kindler. Hölscher, Tonio (2000): Gegenwelten. Zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike. München: Saur. Kolb, Frank (2005): Die Stadt im Altertum. Düsseldorf: Albatros. Mittag, Jürgen (Hrsg.) (2008): Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik. Essen: Klartext. Mumford, Lewis (1979): Die Stadt. Geschichte und Ausblick, 2 Bände. München: dtv. Planitz, Hans (1997): Die deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen. Wiesbaden: VMAVerlag. Ribhegge, Wilhelm (1988): Europäische Urbanität 1500-1800. In: Die alte Stadt 1, S. 53-67. Rougemont, Denis de (1962): Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit. München: Prestel. Schäfers, Bernhard (2006): Stadtsoziologie. Stadtentwicklung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder. Wiesbaden: VS.

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Schmieder, Felicitas (2005): Die mittelalterliche Stadt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Seng, Eva-Maria (2003): Stadt – Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts. München/Berlin: Deutscher Kunstverlag. Siebel, Walter (Hrsg.) (2004): Die europäische Stadt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sitte, Camillo (2002): Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Reprint der 4. Aufl. von 1990. Basel: Birkhäuser. Stoob, Heinz (1979): Stadtformen und städtisches Leben im späten Mittelalter. In: Heinz Stoob (Hrsg.), Die Stadt. Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter. Köln: Böhlau, S. 157194. Weber, Max (1999): Die Stadt, Teilbd. 5 von Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: J.C.B. Mohr.

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Die kulturelle Produktivität von Städten: Thesen zu unterschiedlichen Potentialen in Ost- und Westdeutschland ALBRECHT GÖSCHEL

1. Kulturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland Fast 20 Jahre nach der deutschen Vereinigung scheint die Frage nach den kulturellen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen den alten und den neuen Bundesländern zwar von der aktuellen Tagesordnung verschwunden, im Hintergrund aber immer noch virulent zu sein. Während in der Öffentlichkeit, vor allem aber in der Politik die deutsche Vereinigung von Vorstellungen des „Zusammenwachsens, was zusammen gehört“ geprägt war, sehen zum einen tiefer gehende Untersuchungen, die nach der Vereinigung in großer Zahl entstanden (z.B. Koch 1991; Reißig 1993), zum anderen aber auch ausländische Beobachter sehr viel deutlicher die gravierenden Differenzen zwischen den beiden Deutschlands vor allem im Bereich von Kultur, also von Werten, Einstellungen oder Normen. Dem deutschen Emigranten und Wahlamerikaner Albert Hirschman z.B. scheint hier einer der „unteilbaren“ Konflikte, wie er es nennt, vorzuliegen, also ein Gegensatz, für den es keine Kompromisslösungen gibt, im Gegensatz etwa zu Einkommensunterschieden und entsprechenden Konflikten, die durch Umverteilung, also durch „Teilung“ entschärft werden können und die Hirschman daher als

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„teilbare“ Konflikte bezeichnet (1996: 243). Allerdings erwecken laut Hirschman Konflikte, für die nicht unmittelbar Lösungen zu erkennen sind, die also neu sind, und das war im Vereinigungsvorgang offensichtlich der Fall, zunächst häufig diesen Eindruck, „unteilbar“ zu sein, während sich später durchaus Lösungen zeigen können. Auch wenn diese Alternative im Ost-West-Verhältnis nach wie vor schwer zu entscheiden ist, scheint doch sicher zu sein, dass ein tiefer Gegensatz und Konflikt vorliegt, der auch die Entwicklungsperspektiven von Städten und ihre jeweilige „kulturelle Produktivität“ je nach großregionaler Lage beeinflusst. Als zwar nicht unumstrittene, dennoch aber vielfach akzeptierte Erklärung der kulturellen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland (Grunenberg 1992: 7), zumindest unmittelbar nach der Wende bzw. der Wiedervereinigung, gelten Unterschiede zwischen den Bevölkerungen der beiden Teile Deutschlands im Hinblick auf den Wertewandel.1 Während sich im Westen seit Beginn der 1960er Jahre ein rapider Wertewandel vollzieht, der zu stabilen Neuorientierungen in großen Teilen der Bevölkerung geführt hat, scheint dieser Wertewandel in der DDR in eigenartiger Weise verzögert oder gebrochen gewesen zu sein (Meulemann 1996). Allerdings hatte ein Wertewandel, der seit den 1950er Jahren alle – westlichen – Industriegesellschaften erfasste (Inglehart 1998, 1989), doch auch in der DDR seine Spuren hinterlassen. Es fanden sich dort zu entsprechenden Zeiten Ansätze dieses Wandels, die denen des Westens durchaus entsprachen. Aber 1

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Als Indikator für einen Wertewandel auch in der DDR gilt z.B. die wachsende Zahl von Ehescheidungen, die Entwicklung alternativer Lebensgemeinschaften, der Rückgang körperlicher Züchtigung oder die Entwicklung eines Prestigekonsums (Schmidt 1991: 243). Vor allem bei jüngeren Generationen könnten sich diese Werte als Zeichen eines Wertewandels durchgesetzt haben, aber sie scheinen doch weniger umfassend und weniger tief in die DDR-Bevölkerung eingedrungen zu sein, als dies im Westen der Fall war. Zumindest blieben essentialistische Vorstellungen als Ausdruck tradierter Werte in der DDR relevanter als im Westen (Meulemann 1996). Dass es keine Differenzen im Wertewandel gegeben habe, sondern die kulturellen Unterschiede nur Ausdruck der unterschiedlichen politischen und ökonomischen Systembedingungen gewesen seien (Gensicke 1996: 101), kann nicht recht überzeugen, da Wertewandel ja von diesen Bedingungen beeinflusst und voran getrieben bzw. gebremst wird.

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diese Ansätze konnten sich nicht durchsetzen. Sie wurden durch eine übermächtig erscheinende Staatsmacht und die sie stützenden alten Eliten zurückgedrängt, zerstört, diskriminiert, so dass sich ein Eindruck von „Kontrast und Parallele“ (Göschel 1999) zwischen dem Wertegefüge in Ost und West aufdrängt. Auch im Westen hatte es selbstverständlich massive Konflikte bei der Durchsetzung des Wertewandels gegeben, die sich z.B. in der Studentenbewegung der 1960er Jahre ausdrückten, aber hier waren die neuen Eliten, die den Wertewandel aufnahmen, gegenüber den retardierenden Gruppen erfolgreich, und gerade die so genannten „68er“ als eine der Trägergenerationen des Wertewandels sind eine der erfolgreichsten Generationen der deutschen Sozialgeschichte. Sie besetzten innerhalb weniger Jahre alle kulturellen Schlüsselpositionen im westdeutschen Kultur- und Geistesleben, also in den „kulturellen“ Karriereleitern, die sie gegenüber solchen, die auf „materielles Kapital“ gründeten, gravierend aufwerteten, und entwerteten damit die alten Eliten nachhaltig für mehrere Jahrzehnte. In ihren Kontexten setzen sie den Wertewandel ungebrochen durch, so dass umfassende Revisionen kaum denkbar sind. In der DDR dagegen blieben die alten Eliten derjenigen, die um die vorige Jahrhundertwende geboren waren und die wesentliche Prägungen aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik erfuhren, für die gesamte Politik und Kultur prägend (Niethammer 1990: 258), und das wurde von den Jüngeren auch gespürt.2 Immer wieder ist in biographischen Aussagen von dem lastenden Druck der Alten die Rede (Adler 1991: 177), die jeden Wandel verhinderten und mit massiver politischer und moralischer Repression Anpassung an ein autoritäres Normengefüge (Bender 1992: 34) erzwangen. Für einen zumindest 2

Die Forschungsergebnisse sind auch zu diesem Punkt nicht ganz eindeutig. So behaupten z.B. Land und Possekel (1995), dass dieser „Diskurs“, der auf einen moralischen Geltungsanspruch aus dem Widerstand gegen den Faschismus gründete, bereits in den 1960er Jahren ausgelaufen sei. Als Rechtfertigung von Autorität und Elitenposition scheint er aber noch weit in die 1980er Jahre hinein gewirkt zu haben. Erst Mitte der 1980er Jahre, mit einer schwindenden Akzeptanz der DDR in der Bevölkerung (Herbert/Wildenmann 1991: 72), begann sich auch die Anerkennung der alten Eliten aufzulösen.

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verzögerten, unterdrückten Wertewandel spricht auch, dass es offenbar keine Wertekonflikte oder Differenzen waren, die zur Wende von 1989 führten. Diese, auch als „friedliche Revolution“ bezeichnet, resultierte in dieser Sicht weniger aus einem kulturellen Konflikt, wie das für die Jugend- und Studentenkonflikte der 1960er Jahre im Westen galt, sondern aus offensichtlichen und unerträglich gewordenen Diskrepanzen zwischen Behauptungen oder Versprechungen der alten Eliten und der ökonomischen Realität, die zu diesen Versprechungen in schreiendem Widerspruch standen. Neben dieser Dominanz der alten Eliten haben möglicherweise auch die Abwanderungen aus der DDR zu einer Erstarrung der „Verbleibenden“ geführt (Hirschman 1996: 16), ein Vorgang, der sich in irritierender Weise über das Ende der DDR hinaus fortgesetzt haben könnte. Im Gegensatz also zum Westen, in dem Selbstverwirklichungswerte dominieren, muss für die neuen Bundesländer zumindest für den Zeitpunkt der Vereinigung und die unmittelbar anschließenden Jahre doch noch eine Dominanz von Pflicht- und Akzeptanzwerten unterstellt werden (z.B. Becker 1992: 33). Der Vorwurf an die Adresse der DDR-Eliten war seitens der Mehrheit der DDR-Bevölkerung zum Zeitpunkt der Wende auch nicht der, „falschen“ Normen und Werten zu folgen, sondern eher, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, also die selbst vertretenen und propagierten Normen – im Sinne von Pflichten und Verantwortungen – nicht zu erfüllen. Bereits während der deutschen Vereinigung ist vermutet worden, dass der Zusammenbruch der DDR weniger kulturell oder politisch, sondern eher ökonomisch bedingt war.3 Der absinkende Lebensstandard, nicht der verhinderte Wertewandel war Auslöser tiefer Unzufriedenheit und der Wende. An der D-Mark, am westlichen Wohlstand wollte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung partizipieren, nicht an den Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungswerten des Westens, von denen im Osten kaum eine Vorstellung bestand. Man könnte sogar behaupten und vermuten, dass es eben diese

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Eine eher politisch begründete Ablehnung der DDR, wenn auch nicht unbedingt des Sozialismus, scheint es vor allem im so genannten Alternativmilieu gegeben zu haben, das jedoch gerade in den letzten Jahren seinen engen Kontakt zur Mehrheitsbevölkerung der DDR verlor (vgl. Rink 1995: 217).

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Werte, ihr Ausdruck im Alltagsleben waren, die im Zuge der Vereinigung in der ostdeutschen Bevölkerung tiefe Aversionen gegen den Westen ausgelöst haben. Und umgekehrt gilt das Gleiche. Die Bindung der DDR-Bevölkerung an tradierte Werte aus der Zeit vor dem Wertewandel löste im Westen Befremden und Spott aus. Diese Diskrepanz im Wertewandel bedeutet selbstverständlich nicht, dass die DDR keine kulturellen Leistungen im Sinne künstlerischer Produktion hervorgebracht hätte. Aber gerade in dieser zeigte sich sehr häufig die Orientierung an einem tradierten Wertemuster, das allerdings der DDR-Kunst vor allem in konservativen Kreisen des Westens auch eine gewisse, manchmal sehr ausgeprägte Zustimmung und Wertschätzung sicherte.4 Es dominierte z.B. in der bildenden Kunst eine hohe Bewertung des Handwerklichen und Narrativen, während der Autonomie des Kunstwerks, die sich im Westen vor allem im Hang zur Abstraktion ausdrückte, geringe Bedeutung beigemessen oder sogar mit Ablehnung begegnet wurde. Andererseits konnten sich neue künstlerische Szenen während der letzten Jahre der DDR fast nur in einer Art Untergrund artikulieren, in einer Boheme, wie es sie in dieser Art im Westen schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, da neue Kunsttendenzen eventuell Schwierigkeiten haben, sich im Kunstmarkt oder in der Konkurrenz um die knappe Ressource Aufmerksamkeit durchzusetzen, niemals aber einer Unterdrückung im Sinne von Verfolgung und politischer Gefährdung der Künstler ausgesetzt sind. Die Kunstzentren der DDR waren bis in die Nachwendezeit hinein von dieser spezifischen subkulturellen Atmosphäre, wie sie im Prenzlauer Berg in Berlin, im Leipziger Stadtteil Connewitz oder in einer kleinen Chemnitzer Szene

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In exemplarischer Weise findet sich diese Wertschätzung z.B. beim Kunstkritiker der FAZ, Eduard Beaucamp (1998), der die Traditionsbindungen der DDR-Kunst gegen die Beliebigkeit der Westkunst ausspielt. Auch in der Kulturpolitik, z.B. bei einem konservativen Personal des westdeutschen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), finden sich in den 1990er Jahren diese Wertungen, während zahlreiche Künstler und Kunstwissenschaftler, die eher der 68er-Bewegung angehören oder vom Wertewandel geprägt sind, die DDR-Kunst bestenfalls für eine „Fußnote in der Kunstgeschichte“ und eine mehr oder weniger skurrile Veranstaltung halten.

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herrschte, geprägt. Häufig drückte sich diese Wertediskrepanz bei Intellektuellen der DDR in unverhohlen antiwestlichen und häufig ausgesprochen aggressiven anti-amerikanischen Positionen aus, die sich nicht wie bei der Studentenbewegung allein auf eine Ablehnung der Politik, sondern auch der Kultur der USA richteten, vor allem aber natürlich eine bis ins Absurde übersteigerte Ablehnung der USA-Politik zum Ausdruck brachten.5 Aber selbstverständlich waren derartige Haltungen auch gebrochen von hoher Attraktivität der westlichen, besonders der US-amerikanischen Kultur, auch wenn diese in der DDR wohl niemals den Kultstatus erreichte wie z.B. in Polen. Es scheint diese nachhinkende, verspätete oder ganz ausgefallene Modernisierung der DDR gewesen zu sein,6 die vielen Westdeutschen nach der Vereinigung das Gefühl gab, beim Zusammentreffen mit Ostdeutschen einem „deutscheren Deutschland“ (Becker 1992: 33; Greiffenhagen/Greiffenhagen 1994) zu begegnen, so wie sich auch die Ostdeutschen häufig als die „echteren und besseren“, die wahren, die typischeren Deutschen empfanden. All die Werte, die bei diesen Begriffen mitschwingen, Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Verlässlichkeit, also all die Pflichtwerte, die vor dem Wertewandel dominierten und gerade in der deutschen und vor allem in der preußischen Geschichte eine so große – und fragwürdige – Rolle spielten, wur5

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So ließt sich der DDR-Soziologe Wolfgang Engler, inzwischen immerhin Präsident der Berliner Kunsthochschule Weißensee, kurz nach der Vereinigung in einer Veranstaltung, die ausschließlich von Ostdeutschen besucht war, zu der Behauptung hinreißen, die sozialpolitischen Unterschiede zwischen den USA und Europa müssten über kurz oder lang zu einem bewaffneten Konflikt, also zu einem Krieg zwischen diesen beiden Kontinenten führen; und diese Behauptung wurde nicht etwa in der Hitze einer Debatte spontan geäußert, sondern findet sich wohl formuliert im Vorbereitungspapier zur Tagung. Auch der Ausdruck eines Sendungsbewusstseins, eines historischen Auftrags findet sich bei Engler (2002), obwohl er in früheren Veröffentlichungen (1991) durchaus auch DDR-kritische Töne anschlug. Häufig ist von einer unausgeglichenen Modernisierung der DDR die Rede: Technisch modernisiert, kulturell und mental aber eher „vormodern“, in vieler Hinsicht im 19. Jahrhundert befangen, ähnelte sie auch hierin einer deutschen Tradition von der „verspäteten Nation“ (vgl. Hradil 1992).

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den von der DDR-Bevölkerung in ungebrochener, selbstverständlicher Weise repräsentiert (Becker 1992: 33), wenn auch nicht unbedingt immer konsequent verfolgt und verwirklicht, zumindest aber geschätzt und betont. Als entscheidendes Merkmal, das auf diesen Unterschied verweist, gilt in der Forschung zur Alltagskultur die große Zurückhaltung der Bevölkerung der ehemaligen DDR bei der Betonung der eigenen Person, die sich z.B. im Vermeiden des „ich“ ausdrückt. Statt eines „ich“ ziehen die Ostdeutschen durchgängig ein „man“ vor, wenn sie von sich selber sprechen. Und sie nehmen es den Westdeutschen übel, dass diese nicht nur explizit „ich“ sagen, sondern auch in Gesprächen, welcher Art auch immer, ganz selbstverständlich zuerst einmal ihre Position zu einem Sachverhalt oder Problem äußern.7 Als letzte exemplarische Facette dieses Problems eines ausgefallenen, weil repressiv verhinderten und unterdrückten Wertewandels in der DDR mit allen Konsequenzen könnte das kaum verhohlene Sendungsbewusstsein dienen, von dem einige Intellektuelle der ehemaligen DDR in Bezug auf ihr Land, ihre Geschichte und Kultur getragen sind (z.B. Engler 2002). Es sei dahingestellt, ob auch hier eine makabre deutsche Tradition – „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – fortgesetzt oder nur der kulturellen, politischen und ökonomischen Entmündigung im Vereinigungsprozess ein Selbstbehauptungsanspruch entgegengesetzt wird, um sich nicht völlig aufzulösen und einem „Sieger“ zu unterwerfen, ob also keine Sendung, sondern nur ein Punkt gesucht wird, der in das neue, das gemeinsame Deutschland auch etwas Eigenes einbringt, das über den Rechtsabbiegerpfeil und das Ampelmännchen hinausgeht. Die Attitüde allerdings, mit der sich im Bereich von Kunst und Kultur nicht nur „Kulturschaffende“ und Intellektuelle der DDR, sondern auch Rezipienten als Bewahrer echter kultureller Werte gegen westliche Oberflächlichkeit und Beliebigkeit – aber auch gegen ein Kulturbanausentum kleinbürgerlicher Parteikader8 – verstanden und wohl noch verstehen, scheint über diesen Selbstbehauptungs7

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Aus dieser Sicht wird die provokative Bedeutung des Romantitels „Ich“ von Wolfgang Hilbig (1993) für dieses DDR-Endzeitbuch erkennbar. In seinem Roman „Der Turm“ hat Uwe Tellkamp (2008) dieser eskapistischen Kulturbewahrung ein monumentales Denkmal gesetzt.

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anspruch doch hinauszugehen. Auch dieses kulturelle Sendungsbewusstsein in seiner anti-westlichen (Gensicke 1991: 268) Attitüde steht in einer tiefen, unguten deutschen Tradition, die im Westen doch weitgehend überwunden zu sein scheint.9 Zu diesem psychosozialen und psychohistorischen Bild, das hier skizziert wird, gehört allerdings auch die pflicht- und akzeptanztypische Schnelligkeit und Bereitschaft, mit der es der ostdeutschen Bevölkerung gelang, mit der seit der Wende weitgehend westdeutschen Bürokratie umzugehen. Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit in diesem Sektor waren beachtlich, während sie in anderen alltagskulturellen Feldern gering blieben. So haben sich zumindest für die Altersgruppen, die die Wende und das Ende der DDR mit vollem Bewusstsein erlebten, Verkehrskreise kaum mit westlichen Bekannten durchmischt. Die privaten Felder blieben vermutlich bis heute homogen, zumindest wie gesagt für die etwas Älteren – über jüngere Gruppen liegen kaum klare Daten vor. Für den Zeitpunkt der deutschen Vereinigung herrschen an diesen Befunden eines ausgefallenen Wertewandels nur geringe, eher modifizierende Zweifel. Die Frage ist allerdings, was sich von den mentalen Verfassungen bis heute erhalten hat und ob diese in einer Stärke erhalten blieben, die ausreicht, um auch die gegenwärtige Politik – wie z.B. die kulturelle Produktivität von Städten – noch zu beeinflussen; oder ob dieser Modernisierungsrückstand der ehemaligen DDR-Bevölkerung durch das Leben in einem Land, in einem Staat mit den Westdeutschen aufgeholt und ausgeglichen werden konnte bzw. werden musste. 9

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Es ist der Anspruch von Innerlichkeit, Tiefe, Wahrhaftigkeit, der hier für deutsche Kultur behauptet wird, der die Oberflächlichkeit, Beliebigkeit, das Schillernde und Glänzende um des Glanzes willen der westlichen, anfangs der französischen, im Fall der DDR häufig der amerikanischen Kultur entgegengesetzt wurde. Berühmtestes historisches Beispiel sind vermutlich Thomas Manns „Bekenntnisse eines Unpolitischen“, dieses Pamphlet gegen den Bruder und „Asphaltliteraten“ Heinrich Mann, dem aber bedeutende Autoren des 19. Jahrhunderts vorausgehen, z.B. Jacob Burckhardt mit seinen Notizen „Zur deutschen und französischen Geistesentwicklung im 18. Jahrhundert“ (1985: 1196). In diese Richtung zielt auch die Charakterisierung der DDR-Gesellschaft als eine „tragische Gesellschaft“, der die westdeutsche als eine ironische gegenübergestellt wird (Bude 1991).

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In der Regel geht man nun davon aus, dass die Werte und Orientierungen, die vom Wertewandel erfasst werden, sich in den ersten zwanzig bis dreißig Jahren einer Biographie herausgebildet und so verfestigt haben, dass sie für den Rest des Lebenslaufes nicht mehr gravierend zu verändern sind. Das würde bedeuten, dass die Einwohner der DDR, die zum Zeitpunkt der Wende um zwanzig Jahre oder älter waren, ihre Einstellungen ungeachtet der veränderten politischen Situation weitgehend beibehalten haben. Erst bei den deutlich Jüngeren, eventuell erst bei denen, die kurz vor oder zum Zeitpunkt der Wende geboren wurden, könnten die Werte und Einstellungen vermutet werden, die für den Wertewandel als typische gelten.10 Man wird diese Grenze in ein so frühes Alter verlegen müssen, weil der Einfluss von Eltern und anderen Bezugspersonen Wandlungsvorgänge bei Jugendlichen verhindert oder verzögert haben dürfte. Das würde bedeuten, dass nur bei denjenigen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Mitte zwanzig oder jünger sind, westliche, am Wertewandel orientierte Einstellungen zu erwarten wären, während bei den Älteren die beschriebenen „DDR-typischen“ Mentalitäten auch heute noch dominieren könnten. Für die gegenwärtigen Bedingungen in ostdeutschen Städten verstärkt sich allerdings die Dominanz älterer Einstellungen durch die Abwanderung gerade der Jüngeren und Mobileren, also derjenigen, von denen man annehmen kann, dass sie sich am Wertewandel orientieren. Besonders also die Städte und Regionen, die gravierend unter Einwohnerverlusten leiden, die „schrumpfenden Städte“ werden in ihren Bevölkerungsmehrheiten von den Pflichtund Akzeptanzwerten aus einer Zeit vor dem Wertewandel geprägt sein. Die vielfältigen Enttäuschungen, die mit dem Ablauf 10 Studien zu Jugendlichen der DDR konstatierten allerdings schon in den 1980er Jahren große Ähnlichkeiten zwischen ost- und westdeutschen Schülern, weniger allerdings bei den etwas älteren Studenten (Friedrich 1991: 225), und behaupteten, dass es keine in Jahrzehnten messbaren Mentalitätsrückstände zwischen Ost und West gegeben habe. Die unterschiedlichen Auffassungen können daher rühren, dass bei den jüngeren Schülern eher grundlegende Werte erfasst wurden, die sich insgesamt im Wertewandel kaum ändern, dass sich aber dennoch in Ostdeutschland häufiger konventions- und traditionsgebundene Lebensstile fanden als im Westen (Hradil 1999: 436).

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der Wende verbunden waren, und die in manchen besonders stark schrumpfenden Regionen oder bei besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu Resignation und ablehnenden oder gar aggressiv-depressiven Haltungen geführt haben (Friedrich 1991: 229), können die Innovationsbarrieren, die im tradierten Wertemuster enthalten waren, verstärken. Auch wenn keine entsprechenden Untersuchungen vorliegen, muss man allerdings davon ausgehen, dass die regionalen Unterschiede doch beträchtlich sind. Zumindest für zwei Zentren, für die Städte Leipzig und Jena, dürfte die beschriebene Dominanz depressiver oder tradierter Einstellungen deutlich gebrochen sein. Für mehrere Jahre bestand die Hoffnung, auch notorisch schrumpfenden Städten z.B. durch Universitätsgründungen neuen Auftrieb zu geben und Anreize für den Zuzug jüngerer Einwohner zu bieten, die die beschriebenen mentalen Modernisierungsrückstände nicht aufweisen. Diese Hoffnungen scheinen sich aber in etlichen Fällen nicht zu erfüllen. So hat sich z.B. die Einwohnerzahl Magdeburgs nach Wiedereröffnung der Universität kurzfristig exakt um deren Studentenzahl erhöht, sinkt aber jetzt wieder. Das bedeutet vermutlich, dass die meisten Studenten nach Abschluss ihres Studiums nicht in der Stadt bleiben, also auch nicht zur Belebung von Ökonomie, Politik und Kultur der Stadt beitragen. Und in Frankfurt/Oder scheint die Situation noch weit prekärer zu sein. Die überwältigende Mehrheit der Studenten lebt nicht in Frankfurt, sondern pendelt für Universitätstermine ein, die meisten aus Berlin. Sie sind damit in und für die Stadt nicht präsent, nicht während des Studiums und noch viel weniger danach, so dass auch diese Stadt nach wie vor schrumpft und eine überdurchschnittliche Arbeitslosenzahl aufweist. Leipzig dagegen scheint nach anfänglichen Verlusten seine Einwohnerzahl zu stabilisieren und die Einwohnerschaft durch Zuzüge von Studenten und jüngeren Berufstätigen zu verjüngen. Die schrumpfenden Städte der neuen Bundesländer dagegen leiden unter der Konkurrenz mit den Kultur- und Wirtschaftszentren Westdeutschlands, die alles daran setzen, ihre Einwohnerzahlen durch Zuzug jüngerer, gut ausgebildeter deutscher Einwohner zu erhöhen (Göschel 2008). Ohne den Zuzug dieser Einwohner aus den neuen Bundesländern hätten weder Hamburg noch Hannover noch Stuttgart u.a. ihre Einwohnerzahlen in der erreichten Weise halten können.

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Die Frage ist nun, was das für die kulturelle Produktivität der ostdeutschen Städte bedeutet.

2. „Kulturelle Produktivität von Städten“: Zwei Konzepte In der Diskussion um die kulturelle Produktivität der Stadt werden zwei gegensätzliche und konkurrierende Konzepte unterschieden, ein urbanistisches der klassischen Stadtsoziologie und ein ökonomisches neuerer städtischer Wirtschaftsförderung. In beiden bedeutet kulturelle Produktivität völlig Unterschiedliches. Im urbanistischen oder stadtsoziologischen Verständnis besteht die kulturelle Produktivität der Stadt in dem urbanistischen Vorgang einer Entstehung ständig neuer Lebensstile und Verhaltensweisen allein aus der Dichte und Heterogenität der Stadt (Siebel 2008). Die städtische Verdichtung vieler Menschen scheint diese demnach durch den Zwang und den Wunsch, sich in der Menge herauszuheben und von anderen zu unterscheiden, also über Distinktionsvorgänge, zur Herausbildung distinktiver Lebensformen, Lebensstile, Lebensweisen zu motivieren, so dass sich die kulturelle Heterogenität der Stadt nicht nur ständig fortsetzt, sondern sogar laufend steigert. Diese Entstehung neuer Lebensstile aus der Verdichtung von großen Einwohnerzahlen, wie sie für Städte kennzeichnend ist, stellt aus stadtsoziologischer Sicht das dar, was man „kulturelle Produktivität“ von Städten nennen könnte. Der Begriff der „Kultur“ meint in diesem Zusammenhang selbstverständlich keine Kunstproduktion, sondern Lebensformen und Lebensstile, entsprechend dem Gebrauch dieses Begriffes in der Stadt- oder Kultursoziologie. Dem gegenüber wird in der Wirtschafts-, Regional- und Kommunalpolitik, also in der Wirtschaftsförderung, unter einer kreativen Stadt diejenige verstanden, in der sich viele Angehörige einer „kreativen Klasse“, eines kreativen Milieus oder so genannter kreativer Berufe finden. Kreativität bezieht sich hier auf Qualifikationen von Einzelpersonen mit Ausbildungen oder in Berufen, denen in besonderem Maße Kreativität oder Innovationsfähigkeit zugeschrieben wird. Künstler, Designer, alle Arten von Kulturschaffenden, aber auch Ingenieure, Software-Entwickler, Naturwissenschaftler in wissenschaftlichen Labors, Marketingspezialis-

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ten etc. gelten als solche Berufsgruppen. Sind sie in einer Stadt in besonders großer Zahl vertreten, gilt diese Stadt wie gesagt als „kreative Stadt“. Für die Wirtschaftsförderung liegt der besondere Reiz dieser Berufsgruppen in der These, dass sie sich ihre Arbeitsplätze selber schaffen, dass sie also von sich aus und ohne anhaltende Förderung, aber auch ohne großbetrieblichen Kontext, zum Wirtschaftswachstum beitragen (Florida 2004). Ohne dieses Konzept hier im Einzelnen zu diskutieren (vgl. Göschel 2009) – allein die Aufzählung der so genannten Kreativgruppen macht deutlich: Die Annahme von Arbeitsplätzen, die sie sich selbst herstellen, kann nicht ganz ungebrochen zutreffen. Denn unter den Künstlern oder Kulturschaffenden, einer Kerngruppe der „Kreativen“, gelingt es nur einem sehr geringen Anteil von ca. zehn bis fünfzehn Prozent, jemals vom erlernten Beruf zu leben, und dies in der Regel auch nicht für das gesamte Berufsleben. Die Mehrheit dieser Kreativen muss in anderen Bereichen ein meist eher behelfsmäßiges, bescheidenes Auskommen suchen oder bleibt von der öffentlichen Förderung abhängig.

3. Kulturelle Produktivität von Städten in den neuen Bundesländern Betrachtet man nun beide Konzepte der „kreativen Stadt“ unter den Bedingungen, die für die neuen Bundesländer im Sinne eines verspäteten oder verpassten Wertewandels und unter Konkurrenz mit westdeutschen Städten bestehen, so erscheinen die Chancen der ostdeutschen Städte, in einem der beiden oder gar in beiden Konzepten erfolgreich zu sein und sich zu „kreativen Städten“ oder „Städten mit kultureller Produktivität“ zu entwickeln, in den meisten Fällen als eher gering. Das erste Konzept verlangt, dass zum einen Verdichtung besteht, dass zum anderen Distinktion, also Unterscheidung, Andersartigkeit, letzten Endes Heterogenität gesucht und in gewissem Sinne auch honoriert wird, so dass sich diese Heterogenität ständig steigert. Die überwiegend schrumpfenden Städte der neuen Bundesländer weisen aber die Dichte, die hier erforderlich wäre, nicht auf. Vor allem aber dominiert in der Bevölkerung vermutlich nach wie vor nicht Anerkennung und positive Bewertung

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von Distinktion und Andersartigkeit, sondern von Konformität, Normalität, Anpassung oder unauffälligem Verhalten. Zugehörigkeit und nicht Abweichung wird belohnt oder zumindest gebilligt. Die Schaffung und Entstehung neuer Lebensstile gilt tendenziell als bedrohlich, so dass man ihnen gleichfalls mit Bedrohungen begegnet. Die für diese Potentiale vor allem in Frage kommenden Jüngeren, meistens auch diejenigen mit besseren Qualifikationen, tendieren dazu, aus den Städten und Regionen der neuen Bundesländer abzuwandern, und tragen so zur anhaltenden Dominanz konventionellen, konformen Verhaltens bei. Verbleibende konservative Gruppierungen können darüber hinaus durch depressiv-aggressives Verhalten, wie es vielfach aus den neuen Bundesländern bekannt ist, zur Abwanderung der Aufbruchsorientierten beitragen und mehr noch den Zuzug neuer Gruppen verhindern. Es ist hinreichend bekannt, dass es neue, tendenziell abweichende Lebensstile in den neuen Bundesländern schwer haben, dass ihre Repräsentanten stellenweise ausgesprochen gefährlich leben: Exotisch wirkende Theatergruppen werden auf offener Straße zusammengeschlagen, häufig unter still zustimmender Beteiligung von Anwohnern. Ausländern, denen man ihre nichtdeutsche Herkunft ansieht, wird nach wie vor dringend empfohlen, die neuen Bundesländer und sogar die östlichen Stadtteile von Berlin, z.B. Friedrichshain, zu meiden, es sein denn, sie lebten in einer der wenigen heterogeneren Städte mit größeren Bevölkerungsanteilen im Wertewandel.11 Auch im zweiten Kreativitätskonzept, dem einer Konzentration kreativer Berufsgruppen, bestehen keine günstigen Bedingungen für die meisten Städte der neuen Bundesländer, denn an ei-

11 Aggressive Verhaltensformen vor allem von Jugendlichen in den neuen Bundesländern sind nach Ergebnissen der Jugendforschung kein Resultat der Vereinigung und einer damit einhergehenden Abwertung der DDR-Vergangenheit oder Ausdruck gegenwärtiger ökonomischer Benachteiligung, sondern basieren auf entsprechenden Entwicklungen bereits aus den 1980er Jahren, in denen sich aggressive Umgangsformen in der DDR ausbreiteten (Brück 1991: 194). Allerdings scheinen sich diese Verhaltensformen seit den 1990er Jahren noch verstärkt zu haben (Förster et al. 1993). Es scheint sich hier die immer behauptete These von der „zivilisatorischen Lücke“ (Engler 1991: 84) in der DDR-Gesellschaft zu bestätigen.

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nem Punkt berühren sich die beiden Kreativitätskonzepte. Vorliegende Untersuchungen (Florida 2004), die allerdings auch als fragwürdig kritisiert worden sind (Siebel 2008), weisen darauf hin, dass diese neuen Kreativen Städte mit urbanem Flair bevorzugen. Dieses Flair aber stellt sich nur als andere Begrifflichkeit für genau die Heterogenität dar, die im stadtsoziologischen Verständnis aus urbaner Kreativität entsteht. Je heterogener, vielfältiger, „exotischer“, bunter eine Stadtbevölkerung sei, so wird behauptet, umso eher sei sie Anziehungspunkt für die Kreativberufler. In der Mehrheit der ostdeutschen Städte dürfte aber dieser Standortfaktor „Urbanität“ fehlen oder doch äußerst schwach ausgeprägt sein, immer natürlich mit den genannten Ausnahmen, bei denen vor allem Leipzig hervorzustechen scheint, zu denen trotz anhaltender Einwohnerverluste aber auch Jena gehören könnte. Ob auch Dresden gleichfalls eine solche „Ausnahme“ bildet oder doch in einer bestimmenden Konformität und dominierenden alten Wertemustern befangen bleibt, scheint nicht ganz entschieden zu sein.12 12 Es ist hier nicht möglich, alle Städte der neuen Bundesländer gesondert und detailliert zu beschreiben. So weisen z.B. die kleineren Universitätsstädte des Nordens, also etwa Greifswald, aber auch das Brandenburgische Cottbus, hohe Lebensqualität und Beliebtheit bei Studenten auf. Ob diese aber nach dem Studium auch bleiben und so dauerhaft zur Erneuerung der städtischen Atmosphäre beitragen, erscheint zumindest sehr unsicher, wenn nicht unwahrscheinlich. Sowohl Greifswald als auch Cottbus verlieren nach wie vor Einwohner, wenn auch vermutet wird, dass sich die Geschwindigkeit der Schrumpfung in beiden Städten verlangsamen könnte. Für Rostock gilt das Gleiche (Berlin Institut 2006: 70, 80). Eine Sonderstellung dürfte Potsdam einnehmen, das sich als „Berliner Vorort“ mit stellenweise exzellenten Wohnbedingungen zum bevorzugten Wohnort westlicher Eliten herausgebildet hat. Dennoch erscheint diese Stadt als eher konservative Verwaltungsstadt, von der nicht sicher ist, ob sie das Potential für eine der beiden Arten „kultureller Produktivität“ entfalten kann. Die Einwohnerverluste der letzten Jahre könnten jedoch zum Stillstand kommen und sich sogar in einen leichten Anstieg verwandeln (Berlin Institut 2006: 80). Ganz unsicher ist diese Perspektive für Dresden. Zwar lebt diese Stadt in hohem Maße vom Image der Kulturstadt. Dies reduziert sich aber auf einige bauliche Monumente und auf Ensembles, also auf solche Aspekte, die für „kulturelle Produktivität“ sowohl nach stadtso-

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Bei allen Unterschieden und Differenzierungen, die zwischen den ostdeutschen Städten ohne jeden Zweifel bestehen, drängt sich doch der Eindruck auf, dass, abgesehen von eben den wenigen Ausnahmen, Stadtentwicklung und Kulturpolitik in den neuen Bundesländern eher auf zählbare Großeinheiten, auf Bauten und „Beton“, auf technische Infrastrukturen und Einrichtungen orientiert sei, ohne ein Gespür für „Atmosphäre“, für die Bedingungen „produktiver Szenen“, für Unsicheres, Neues, Innovatives. Es dominieren Präferenzen für das handwerklich Solide, das Greifbare, das Organisierte, für Institutionen oder Einrichtungen, für Technik, wie sie in der grausamen Zerstörung des Elbetals durch die Dresdener „Waldschlösschenbrücke“ erkennbar wird. Damit zeigt sich eine Orientierung an klassischen Fortschritts- und Wohlstandsvorstellungen der „Ersten Moderne“, ohne Gespür für die Flexibilität und Offenheit, für das Experimentelle und Selbstorganisierte, wie es die „Zweite Moderne“ oder den Wertewandel kennzeichnet. All die Präferenzen, die die neuen Kreativen in eine Stadt locken sollen, können auch als Ausdruck von Wertewandel verstanden werden (Göschel 2007), und dieser kommt gegenwärtig in den Städten der neuen Bundesländer nur sehr zögerlich, sehr verhalten oder eben gar nicht zum Ausdruck. In den Indikatoren, die zum einen auf aktive „urbane Kreativität“ nach dem stadtsoziologischen Modell schließen lassen, die zum anderen als Bedingungen einer ökonomisch interpretierten „kulturellen Produktivität“ gelten, weisen die meisten Städte der neuen Bundesländer – vermutlich – unterdurchschnittliche Werte auf: im Ausländeranteil, in der Zahl und öffentlichen Präsenz von Homosexuellen,13 im Anteil der Grünenwählerschaft usw. Das gilt

ziologischen wie nach ökonomischen Bedingungen nicht von zentraler Bedeutung sind. Am Streit und an der schließlichen Entscheidung für die fatale „Waldschlösschenbrücke“ wird erkennbar, dass auch Dresden von einer konservativ-reaktionären Mentalität geprägt sein dürfte, die neueren Entwicklungen im Sinne „kultureller Produktivität“ nicht zuträglich ist. Auch der Einwohnerverlust hält an (Berlin Institut 2006: 91). 13 Dies sind einige der Indikatoren, die Richard Florida (2004) zur Beschreibung einer „kreativen Stadt“ nach dem ökonomischen Modell verwendet. Sie alle charakterisieren die heterogene, von einer Vielfalt von Lebensstilen, von Unterscheidungen, von Distinktion geprägte Stadt, also die Stadt mit kultureller Produk-

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natürlich besonders für die große Zahl der schrumpfenden Städte, so dass man annehmen kann, dass sich nicht nur oder vielleicht nicht einmal vorrangig ein Gegensatz zwischen west- und ostdeutschen, sondern zwischen schrumpfenden Städten und Regionen einerseits und wachsenden oder zumindest stabilen Städten andererseits herausbildet, der für die neuen Bundesländer nur deutlicher zutage tritt als im Westen, weil es zumindest gegenwärtig und auf absehbare Zukunft dort eben mehr schrumpfende Städte und Regionen gibt als im Westen und weil die schrumpfenden Städte der neuen Bundesländer in sehr viel größerem Ausmaß Einwohner verlieren als die von Schrumpfung betroffenen westdeutschen. Aber auch in den alten Bundesländern waren es die „altindustriellen“ Städte und Regionen – die im Wertewandel zurücklagen und in denen die Werte der „Ersten Moderne“ sich noch länger behaupten konnten –, die zuerst Einwohner und Arbeitsplätze verloren. Und erst seit die in diesen historischen und normativen Kontexten stehenden Eliten ihren Einfluss verloren haben, beginnen auch diese Regionen aufzuholen und könnten Anschluss gewinnen, wie z.B. die Städte des Ruhrgebietes. Aber entschieden ist auch das bislang nicht. Auf dieser Basis sind nun vorsichtige Aussagen zu zukünftigen Entwicklungen möglich. Angesichts des gravierenden Einwohnerverlustes durch den demographischen Wandel in Deutschland und angesichts der damit verbundenen massiven Konkurrenz der Städte und Regionen um Einwohner, und zwar um jüngere, gut ausgebildete deutsche Einwohner (Göschel 2008), ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Gegensätze zwischen den wachsenden und den schrumpfenden Städten und Regionen ausgleichen werden. Sie werden sich im Gegenteil vermutlich vertiefen, und sowohl die Sieger wie die Verlierer in diesem Wettbewerb stehen bereits weitgehend fest. Es sind diejenigen, die in den tivität und Kreativität im stadtsoziologischen Sinn, die Florida als „Infrastruktur“ oder „Standortfaktor“ für „ökonomische Kreativität“ bewertet. Zwar ist durchaus nicht sicher, ob auf der Basis dieser ökonomisch interpretierten neuen Kreativität und kulturellen Produktivität stabiles Wirtschaftswachstum möglich ist, wie Florida das postuliert, aber wenn es um „kulturelle Produktivität“ von Städten geht, kann nur diese Qualität gemeint sein, und sie ist in den – schrumpfenden – Städten der neuen Bundesländer deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägt.

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letzten Jahren entweder als Sieger Einwohner gewonnen oder als Verlierer Einwohner verloren haben. Die Gewinnerstädte werden aber nicht einfach nur einen Zuwachs an Einwohnern verzeichnen, sondern vor allem einen Gewinn an eben den Gruppen, die die „kulturelle Produktivität“ der Stadt tragen, sei es im urbanistischen Sinne als Vielfalt der Lebensstile, sei es im ökonomischen Sinne als Konzentration von so genannten „kreativen“ Berufsgruppen. Sie werden damit das Wachstum in diesen Städten und Regionen stabilisieren. In den schrumpfenden Städten und Regionen werden exakt diese Gruppen vorzugsweise abwandern, auf jeden Fall nicht zuziehen, und auch in abnehmendem Maße entstehen, so dass sich hier die Abwärtsbewegung zumeist fortsetzen wird. Die Kluft zwischen „wachsend“ und „schrumpfend“ wird also nicht geringer; sie wird in der Regel größer werden – und einer ihrer Auslöser ist eine unterschiedliche Position, eine unterschiedliche Affinität der jeweiligen Stadttypen zum Wertewandel. Da die Differenzen in dieser Hinsicht zwischen Ost und West besonders ausgeprägt sind, werden vor allem die schrumpfenden Städte Ostdeutschlands weiter schrumpfen und den Anschluss an „kulturelle Produktivität“ verlieren. In dieser insgesamt eher rückläufigen Großregion aber wird es mit Sicherheit einige gravierende Ausnahmen geben: Städte wie Leipzig, Jena14 oder Weimar – und das könnten beinahe die einzigen sein –, denen eventuell

14 Demographische Analysen weisen für Jena allerdings sogar einen sich beschleunigenden Einwohnerverlust aus (Berlin Institut 2006: 100). Es wäre aber denkbar, dass sich eine derartige Stadt trotz rückläufiger Einwohnerzahl zur typischen Universitätsstadt mit kleiner aber junger Bevölkerung entwickelt und dann, wenn diese Phase des „Gesundschrumpfens“ durchlaufen ist, neuen Auftrieb gewinnt. Für die Mehrheit der schrumpfenden Städte vor allem in den neuen Bundesländern ist allerdings ein derartiges „Gesundschrumpfen“ nicht zu erwarten. Es ist im Gegenteil völlig unklar, bis zu welchem Punkt Städte wie Guben, Schwedt, Hoyerswerda u.a. schrumpfen werden, ob dieser Prozess für sie überhaupt jemals zu einem Stillstand kommt und was sie dann sein werden, wenn der Einwohnerverlust tatsächlich beendet werden kann. Dass in weiterer Zukunft zumindest kleinere Städte von der Landkarte verschwinden könnten, scheint ziemlich wahrscheinlich zu sein, auch wenn nicht mit Sicherheit gesagt kann, welche das sein werden und wann dieser Punkt eintritt.

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der Anschluss an eine „kulturelle Produktivität der Stadt“, und zwar nach beiden Modellen, gelingt.

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DIE KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

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ALBRECHT GÖSCHEL

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DIE KULTURELLE PRODUKTIVITÄT VON STÄDTEN

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Kreativwirtschaft und Kulturhauptstadt: Katalys atoren urbaner Entwicklung in altindustrielle n Ballungsregionen? JÜRGEN MITTAG/KATHRIN OERTERS

1. Kultur- und Urbanisierungsforschung: Neue Akzente und traditionelle Interaktionen Seit etwa Mitte der 1990er Jahre mehren sich in Europa die Stellungnahmen, die dem Kultursektor auch für zahlreiche nicht unmittelbar kulturbezogene Entwicklungen erhebliche Bedeutung zusprechen – und ihn vor diesem Hintergrund zum neuen Hoffnungsträger von Kommunen, Regionen oder ganzen Ländern küren. Sowohl seitens der fachwissenschaftlichen Literatur als auch in den Reihen der Politiker, Ökonomen und Kulturfunktionäre wird dabei namentlich die so genannte Kultur- oder Kreativwirtschaft hervorgehoben, der insbesondere in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht Relevanz beigemessen wird. Aktuelle Studien betonen dabei in erster Linie das ökonomische Potential des Kultursektors. Ein wichtiges Argument stellen statistische Daten dar, die belegen, dass Kultur- und Kreativindustrie im Raum der EU-25 im Jahr 2002 über 556 Milliarden Euro jährlich erwirtschafteten und damit annähernd einen ähnlichen Umsatz erzielten wie traditionelle Industriebereiche ï so etwa die AutomobilIndustrie (721 Mrd. Euro) oder die Chemie-Industrie (601 Mrd. Euro) (Söndermann 2007: 398f.). Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums wird die Kultur- und Kreativbranche als

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boomender Arbeitsmarkt sträflich unterschätzt, zählt sie doch mit einer Million Erwerbstätigen und einem Umsatz von 132 Milliarden Euro zu den wirtschaftlichen Schwergewichten in Deutschland (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009). Etwa zeitgleich mit der „Entdeckung“ der Kultur- und Kreativwirtschaft hat auch das Projekt der Kulturhauptstädte Europas eine erhebliche Aufwertung erfahren. Insbesondere die Konzeption und Durchführung des rege diskutierten Kulturhauptstadtjahres 1990 in Glasgow bzw. die Auswahl einer Stadt, die weniger mit ausgeprägten kulturellen Traditionen aufwartete als vielmehr für die vielfältigen Probleme industriellen Niedergangs im Zeichen eines schwierigen Strukturwandels stand, sorgte für Furore (Dieterich-Buchwald/Dieterich/Steiner 1988). Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen zielte die Kulturstadt Glasgow mit ihrem Programm nicht in erster Linie auf die Präsentation nationaler Hochkultur, sondern vielmehr darauf, die gesamte Bandbreite kultureller Angebote abzudecken und darüber hinaus die Lebensqualität der Stadt durch architektonische oder infrastrukturelle Maßnahmen nachhaltig zu erhöhen. In den 1990er Jahren wurde das weitgehend als erfolgreich bewertete Konzept Glasgows von zahlreichen anderen Kulturhauptstädten teils aufgegriffen, teils zugunsten verwandter Formen modifiziert. Mittlerweile gilt das Kulturhauptstadtprogramm als eine der erfolgreichsten Initiativen der europäischen Integration überhaupt (Henning/Kuschej 2004; Rydzy 2005). Sowohl hinsichtlich der Medienresonanz als auch mit Blick auf die kulturelle und sozioökonomische Entwicklung der beteiligten Städte wird von einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte gesprochen (Mittag 2008: 56). Begründet wird dies nicht zuletzt damit, dass die Anzahl der Kandidatenstädte kontinuierlich gewachsen ist und sich aus einem zunächst zeitlich eng begrenzten „Sommerevent“ sukzessive ein spektakuläres Ganzjahresprogramm herausschälte. Der folgende Beitrag setzt sich mit beiden hier ins Blickfeld gerückten Entwicklungen auseinander und bezieht sowohl die Kultur- und Kreativwirtschaft als auch das Projekt der Kulturhauptstadt Europas auf die Entwicklung und das Entwicklungspotential der europäischen Städte. Allgemein wird die Entwicklung der Städte ï vor allem der Großstädte ï in Europa nach 1945 als problematisch betrachtet (Lenger/Tenfelde 2006). Tendenzen wie die Abwanderung der Bevölkerung, namentlich der Mittelschichten,

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in Vororte und Umlandgemeinden, der Verlust von Arbeitsplätzen an Standorte, die günstiger produzieren oder aus anderen Gründen attraktiver erscheinen, die Enturbanisierung alter Industrieräume, aber auch soziale Segregations-, Quartier- und Viertelbildungsprozesse, einhergehend mit räumlicher Manifestation von Klassen- und Schichtmilieus, stehen exemplarisch für die vielfältigen Probleme europäischer Städte im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Während die bisher kaum untersuchten „Mittelstädte“ zwischen 20.000 und 100.000 Einwohnern als die eigentlichen „Gewinner“ der Urbanisierungsprozesse nach 1945 gelten, fällt das Urteil über die Großstädte weitaus skeptischer aus. Besondere Skepsis wird in diesem Zusammenhang den alten Industriestandorten entgegengebracht. Bis heute prägen die Bilder von unüberschaubaren Häusermeeren, von kulturellen Armutszonen, von Orten defizienter Lebensqualität sowie die Vorstellungen von einer industriell zerstörten Umwelt die Wahrnehmung entsprechender Stadtregionen. Im Folgenden wird zunächst das Konzept der Kultur- bzw. Kreativwirtschaft sowie das der Kulturhauptstadt vorgestellt. Besondere Beachtung wird in diesem Zusammenhang der jeweiligen Herausbildung, Differenzierung und Entwicklung von Begrifflichkeiten und Ausprägungen gewidmet. Sodann werden die Chancen und die Grenzen beleuchtet, die mit beiden Konzepten verbunden sind. Die Kultur im Allgemeinen, das zeigt der hier vorgelegte Sammelband an zahlreichen Beispielen, besitzt für die Entwicklung von Städten ein nicht zu unterschätzendes Potential. Bei der Überwindung der Strukturprobleme moderner Gesellschaften spielt die Kultur eine maßgebliche Rolle. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, inwieweit auch die Faktoren „Kreativwirtschaft“ und „Kulturhauptstadt“ Potential besitzen, zur Entwicklung und Umstrukturierung urbaner Räume beizutragen bzw. diese prägend zu beeinflussen. Besondere Beachtung wird altindustriellen Regionen und Kommunen wie dem Ruhrgebiet, aber auch Lille (Nord-Pas-de-Calais) und Liverpool (Merseyside) gewidmet. In diesem Sinne zielt dieser Beitrag in erster Linie auf die Frage, inwieweit europäische Städte und Industrieregionen bisher ihr kreatives Potential und ihre Wahl zur Kulturhauptstadt Europas genutzt haben, um die lokale Umgebung mit kulturellen Instrumentarien zu verbessern. Zugleich wird aber auch auf die

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Frage rekurriert, ob sich neue Schnittmengen zwischen Urbanisierungs- und Kulturforschung abzeichnen.

2. Kultur- und Kreativwirtschaft: Definitions- und Profilsuche mit Hindernissen Die in den letzten Jahren zahlreicher erscheinenden publizistischen Beiträge und Interviews zum Thema der Kultur- und Kreativwirtschaft lassen hinsichtlich des Begriffsverständnisses und der genauen Definition der Konzepte viele Fragen offen.1 Die Begriffe „Kulturwirtschaft“ und „Kreativwirtschaft“ scheinen beinahe beliebig verwend- und austauschbar zu sein: Welche Grenzen aber markieren den Kultursektor? Welche Bereiche gehören hierzu und welche nicht? Und was genau zeichnet die Kreativbranche aus? Ist damit die Ausweitung wirtschaftlicher Spielregeln auf den künstlerischen Bereich gemeint oder handelt es sich bloß um einen neuen Sammelbegriff für verschiedene Wirtschaftszweige? Welchen Stellenwert haben wirtschaftliche Überlegungen, welche Bedeutung bleibt für die künstlerischen? Sieht man von allgemeinen Untersuchungen zur Interaktion von Kultur, Ökonomie und urbanen Räumen in der Geschichte sowie von dem bis in die Antike zurückreichenden Topos von der Stadt als Ort der Kreativität ab (Heßler 2007: 37-62; Heßler/Zimmermann 2008: 20-22), stellen die Themen Kulturwirtschaft bzw. Kreativwirtschaft vergleichsweise junge Forschungsfelder der Wissenschaft dar. Während sie in Deutschland bisher noch keine universitäre Verankerung in Form von Lehrstühlen gefunden haben ï gleichwohl aber an drei Universitäten Studiengänge in Form von Querschnittsbereichen eingerichtet wurden ï, finden sich an den Universitäten in Venedig, Harvard und Rotterdam sowie an der London School of Economics and Politics bereits Lehrstühle, die schwerpunktartig die Beschäftigung mit diesem Themenfeld zur Aufgabe haben. Dennoch ist auch in Deutschland bereits für die 1990er Jahre eine stärkere Beachtung der ökonomischen Aspekte des Kultursektors sowohl von politischer als auch 1

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Für zahlreiche Hinweise zur Kreativwirtschaft sei Bernd Fesel gedankt.

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von wissenschaftlicher Seite zu konstatieren. Eine Pionierfunktion kommt dabei dem Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Kulturwirtschaftsberichte, die 1992 zunächst im Auftrag des nordrheinwestfälischen Wirtschaftsministers Reimut Jochimsen, später dann auch von anderen Bundesländern erstellt wurden, behandeln neun Branchen, darunter sowohl die Kulturwirtschaft im engeren Sinne ï also den Buchmarkt, die Musikwirtschaft, den privatwirtschaftlichen Fernseh- und Theatermarkt sowie die wirtschaftlichen Aktivitäten freischaffender Künstler ï als auch die Kulturwirtschaft im weiteren Sinne, etwa in Gestalt von Architekturund Designerateliers.2 Als Selektionskriterium wurden die Bereiche gewählt, die im engeren Sinne nicht durch die öffentliche Hand finanziert werden, sondern sich am „Markt“ behaupten müssen bzw. denen eine Gewinnorientierung zugrunde liegt. Retrospektiv betrachtet kommt den Kulturwirtschaftsberichten eine wichtige Funktion im Zusammenspiel von Politik, Kultur und Ökonomie zu. Mit ihrer Hilfe war erstmals eine umfassende Erfassung verschiedener kulturbezogener Wirtschaftsbereiche ï vor allem in quantitativer Hinsicht ï möglich. Die Berichte dienten der Erhebung statistischer Kennzahlen und dokumentieren so bis heute die Dynamik der Kulturwirtschaft. Zu den Bereichen, die in den Kulturwirtschaftsberichten untersucht werden, zählen Angaben zu Unternehmensgründungen, zur Anzahl der Beschäftigten, zu Betriebsgrößen und Umsätzen, zur Rolle der selbstständigen Künstler, zur Kapitalausstattung, zum Verhältnis zwischen Kulturwirtschaft und öffentlichem bzw. gemeinnützigem Kulturleben, zur Einstellung gegenüber (neuen) Technologien und schließlich auch zu den europäisch-grenzüberschreitenden Kooperationsbeziehungen (Wiesand 2006: 13). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich der Definitionshorizont des Begriffs „Kulturwirtschaft“ jedoch deutlich verschoben. Geprägt durch die angloamerikanische Debatte, die insbesondere um den Begriff der „creative industries“ kreiste, wurden auch Be2

Zu den gewissermaßen „klassischen“ neun Bereichen der Kulturwirtschaft zählen Verlagsgewerbe/Musikindustrie; Filmwirtschaft einschließlich TV-Produktion; Rundfunkwirtschaft; Darstellende, bildende Künste, Musik und Literatur; Journalistenund Nachrichtenbüros; Museumsshops, Kunstausstellungen; Einzelhandel mit Kulturgütern (Buchhandel, Musikfachhandel, Kunsthandel); Architekturbüros und Designwirtschaft.

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reiche wie die Werbe- und die Softwareindustrie in das Feld wirtschaftlich bedeutender „Kultur“-Branchen einbezogen. Die Bezeichnung „Kreativindustrie“ tauchte vermutlich erstmals in einem australischen Bericht auf, der im Jahr 1994 als Reaktion auf eine zunehmende „homogenised international mass culture” verfasst wurde. Der Bericht zielte auf das Potential zukünftiger kultureller Perspektiven in Zeiten des „global economic and technological change” (Commonwealth of Australia 1994: 1-9). In diesem Sinne wurde die Kulturpolitik der „kreativen Nation“ mit zukünftigem wirtschaftlichen Wohlstand verknüpft. In Europa trug die Regierung des früheren britischen Premiers Tony Blair wesentlich zur Verbreitung des Konzepts der Kreativwirtschaft bei. Sie errichtete 1997 eine Task Force, die die Wirkung kreativer Industrien als Motoren wirtschaftlicher Entwicklung untersuchen sollte. In diesem Zusammenhang wurde von einem erweiterten Kulturbegriff ausgegangen, der nicht notwendigerweise nur Handlungsfelder umfasst, die direkt mit Kunst oder Kultur konnotiert sind. Der Bericht des britischen Ministeriums für Kultur, Medien und Sport aus dem Jahr 1998 behandelte vielmehr auch „those industries which have their origin in individual creativity, skill and talent and which have a potential for wealth and job creation through the generation and exploitation of intellectual property” (Department for Culture, Media and Sport 2001: 5). Besondere Aufmerksamkeit haben im Kontext der Debatten um die „kreative Klasse“ schließlich auch die Studien des amerikanischen Ökonomen Richard Florida gefunden, dessen Ausgangspunkt die Frage nach der Entwicklung der erwerbstätigen Bevölkerung in den Städten der USA war. Seine Kernthese basiert auf dem Argument, dass treibende Kraft der Arbeitsbevölkerung eine wachsende Anzahl von so genannten „Kreativen“ ist, die im Wesentlichen über drei Kategorien bestimmbar ist: Technik, Talent und Toleranz. Zur „kreativen Klasse“ zählt Florida ein breites Spektrum qualifizierter Berufe: von den Fachleuten in Technik und Naturwissenschaft über höhere Positionen im Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigten in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und öffentlichen Sicherheit; in erster Linie aber Künstler und andere Kulturberufe und die Angehörigen der Medien- und Kommunikationsindustrien sowie Teile der ethnischen Minderheiten und die städtischen Schwulen- und Lesben- sowie andere Subkulturszenen.

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Für Florida spielt dabei primär die Sichtbarkeit dieser Klassen in der Stadt und deren wirtschaftliche wie kulturelle Aktivitäten ï mithin deren „Kreativität“ ï eine ausschlaggebende Rolle für ein zukünftiges und nachhaltiges Wachstum (Florida 2002: 67-82). Der Einfluss der angloamerikanischen Diskussionen und Forschungen hat dazu geführt, dass der Begriff der Kreativwirtschaft auch Einzug in die deutsche Debatte gefunden hat und Studien zur Kulturwirtschaft in zunehmendem Maße auf Kategorien der Kreativwirtschaft rekurrieren. Nachdem besonders in Deutschland lange Zeit Vorbehalte gegen eine Vermengung der Sphären der Wirtschaft und der Kultur bestanden hatten, betonen Schlagzeilen wie „Kultur lohnt sich“ (taz: 29.3.2007) oder „Geld machen mit der Kreativindustrie“ (Welt am Sonntag: 19.8.2007) heute die Potentiale, die im Kultursektor vermutet werden. Dass häufig positiv über das Zusammenspiel von Kultur und Wirtschaft berichtet wird, deutet auf einen grundlegenden Wandel der Wahrnehmung der Interaktion zwischen beiden Bereichen hin. Mit Blick auf „gängige Argumentationsmuster“ konstatiert Peter Bendixen: „Kulturelle Aktivitäten befeuern auf verschiedene Weise den Wirtschaftsprozess; sie fördern menschliche Kreativität, machen Städte und Regionen attraktiv, beleben die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.“ (Bendixen 2008: 33) Dennoch würden sich Künstler heute kaum als „Kreative“ bezeichnen und auch die Ausweisung von Produkten als „Kultur“ wird von Seiten der „Kreativen“ zumeist lediglich dem subventionierten Kulturbereich zuerkannt. Somit stellt sich der Eindruck ein, dass privater und subventionierter Kulturbereich sowie Kulturproduktion im engeren und im weiteren Sinne auch heute noch vielfach als unabhängige, den jeweiligen Sphären von Kultur und Wirtschaft nur getrennt zurechenbare Bereiche wahrgenommen werden. Dessen ungeachtet wird auf europäischer Ebene an einer Vielzahl weiter reichender Definitionen gearbeitet, die der wirtschaftlichen Seite von Kreativität und Kultur gerecht werden sollen. Entstanden ist so etwa der – erneut britische – Begriff der „Experience Economy“, der auch Tourismus und „Wellness“ berücksichtigt, oder Ansätze, die sich auf die so genannten CopyrightIndustrien beziehen (Hartley 2005). „Content Industries“, „Creative Potential“ und „Intellectual Property“ sind weitere Äste dieses Stammes. Angesichts der national ï und auch regional etwa zwischen den deutschen Bundesländern ï differierenden Katego-

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rien dreht sich ein guter Teil aktueller Debatten um die Frage nach einem einheitlichen Definitionsmaßstab, der trotz erster Anhörungen und Treffen auf europäischer Ebene aber gegenwärtig noch nicht in Sicht ist. Eine mögliche Lösung zeichnet sich hier ab in einer Form, die an Zwiebelschalenmodelle erinnert: Sie sieht im engeren Kern den eigentlichen Kulturbereich vor, während man in den äußeren Schichten stärker auf ökonomisch orientierte, lediglich partiell kulturbezogene Bereiche trifft. Vor dem Hintergrund der weitgehenden Unklarheit der Begriffe und der geringen Kompatibilität hat die Europäische Kommission 2006 eine Studie zur „Ökonomie der Kultur“ veranlasst. In einem eigenen Modell differenziert der Bericht der Kommission zwischen Kernbereichen der Kunst, den Kulturbranchen, 3 den Kreativbranchen4 und verwandten Industrien.5 Das Modell, das sich durch konzentrische Kreise darstellen lässt, ermöglicht es, einen engeren und einen weiteren Kulturbegriff zu integrieren. Dass in diesem Definitionsansatz das kulturelle Erbe neben den bildenden und den darstellenden Künsten eine herausragende Stellung als Kerngebiet der Kunst erhält, ist vor allem auf den Einfluss zurückzuführen, den Südeuropa mit seinen zahlreichen Kultur(erbe)stätten im eigenen Interesse geltend gemacht hat. Als Kulturbranchen werden vor allem kulturellen Inhalt produzierende Bereiche definiert, die zwar auf eine industrielle Massenproduktion hin angelegt, deren Ergebnisse jedoch urheberrechtlich geschützt sind. Als Kreativbranchen sind die nichtkulturellen Sektoren bezeichnet, die auf dem Einsatz von Kreativität, d.h. „kreative Fähigkeiten und kreative Personen aus den Bereichen Kunst und Kulturindustrie“, beruhen. Der Bericht der Europäischen Kommission bezieht im Unterschied etwa zu dem nordrhein-westfälischen Modell den öffentlichen Bereich in die Auflistung ein (KEA 2006: 3). Die aktuelle Debatte kreist darüber hinaus ï in Anlehnung an die Untersuchungen Richard Floridas ï um die Frage nach den neuen Motoren der Wirtschaftsentwicklung. Die These „jobs follow people“, der zufolge sich Firmen und kreative Unternehmen

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Es werden hier genannt: Film und Video, Fernsehen und Rundfunk, Videospiele, Musik, Bücher und Presse. Hierunter fallen: Gestaltung, Architektur und Werbung. Hersteller von PCs und MP3-Playern, Mobiltelefonen etc.

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in ihrer Standortwahl nach den Kreativen richten, beschreibt einen Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Die Annahme, dass Firmen mobil werden und dorthin ziehen, wo sie die so genannten „high potentials“ finden, verbindet sich mit einer weitreichenden Neuausrichtung der Werte und Strategien von Standortpolitik und Wirtschaftsplanung. Es geht nicht mehr allein darum, Arbeitsplätze zu schaffen und in der Folge vom Zuzug von Fachkräften und weiteren Firmen zu profitieren. Hochschulabsolventen und Kreative richten sich in der Entscheidung, wo sie leben wollen, nicht ausschließlich nach Arbeitsplatzangeboten. „Place does matter“ ï wenn Floridas Maxime gilt, dann zählen ein urbanes Flair und eine tolerante, diversifizierte Gesellschaft zu den Grundvoraussetzungen, die geschaffen werden müssen, um Kreative und Fachkräfte in Städte und Region zu locken bzw. ihren Wegzug in attraktivere Regionen zu verhindern. Der Anziehungskraft solcher Standorte können sich auch Unternehmen nicht entziehen, die auf die hier ansässigen Fachkräfte angewiesen sind (Florida 2002: 44-45). Im Hinblick auf die kontrovers diskutierte Frage, aus welchen Gründen einige Standorte mehr Kreative anziehen als andere, betont Florida den Aspekt der Toleranz: „In my view, tolerance acts indirectly, given places have an edge in attracting varied talent from across the entire demographic spectrum. This ability to attract talent in turn bolsters their ability to build and mobilize creative capital, which in turn leads to the ability to innovate, create new business, attract other companies, and ultimately to create new wealth and prosperity.“ (Florida 2002: 53)

Nicht minder entscheidend sind ihm zufolge Kunst, Kultur und Diversität. So ist es letztlich die Überlegung, inwieweit Standorte attraktiv für die „Kreativen“ gestaltet werden können, die Kultur über den Umweg ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch auf die politische Agenda bringt.

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3. Probleme altindustrieller Ballungsräume: Chancen für die Kreativwirtschaft? Lange Zeit galten im Hinblick auf Standortfragen jedoch andere Parameter. Richtet man den Blick auf die so genannten altindustriellen Großstädte des Kontinents, rücken vor allem die Montanregionen ins Blickfeld. Jahrzehntelang galt die Industrialisierung als ein regionales Phänomen, das aus älteren Gewerbelandschaften hervorging und in der Folge vor allem durch die Montanwirtschaft geprägt wurde. Die Fundorte und der Abbau von Kokskohle wurden für die Urbanisierung prägend ï zuerst im Nordwesten Englands und in Schottland, sodann auch in Mittelengland und in Süd-Wales, in den 1830er Jahren in Belgien, später auch in Nordfrankreich und etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Das Größenwachstum der Montanunternehmen im 19. Jahrhundert ging nicht spurlos an deren Standorten vorbei. Die Inbesitznahme des Raums durch Bergbau und Stahlindustrie hatte erhebliche Auswirkung auf die Bevölkerungs- und Stadtentwicklung. Das Wachstum verlief explosionsartig, unreguliert und oftmals chaotisch ï prägende Wirkung übten dabei vielfach die Lagerstätten der Kohle aus. Jahrzehntelang galt die Kohle dabei als zentrale Grundlage für industrielles Wachstum. Selbst für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Kohle noch die zentrale Triebkraft. Erst mit der Kohlekrise zum Ende der 1950er Jahre und der Verfügbarkeit des „neuen“ Rohstoffs Öl veränderten sich hier die Parameter grundlegend. Die Folgen für die Menschen und Städte in den Industrieregionen sollten sich als drastisch erweisen: Waren 1950 im Ruhrgebiet in über 140 Zechen noch rund 360.000 Menschen beschäftigt, so waren es 1970 nur noch 140.000. Allein 1963, auf dem Höhepunkt der Bergbaukrise, machten 13 Zechen im Revier dicht. Dieser Prozess hält bis heute an. Während in Frankreich 2003 im Norden und 2004 in Lothringen die letzten Zechen geschlossen wurden, wird dies im Ruhrgebiet vermutlich 2018 der Fall sein. Die Politik reagierte zeitverzögert auf diese Entwicklung mit Investitionen und Neuansiedlungsprojekten. Diese politische Strategie wird heute allgemein unter dem Begriff des Strukturwandels subsumiert (Goch 2002). In dem bis dahin montanindustriell geprägten und eher wissenschaftsfernen Bochum beispielsweise er-

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folgte der Strukturwandel nicht nur durch die Ansiedlung von Weltfirmen wie dem Automobilkonzern Opel, dem Mineralölkonzern Aral/BP oder ï zumindest für einen begrenzten Zeitraum ï dem Mobilfunkausrüster Nokia, sondern auch durch den Bau der ersten Volluniversität des Ruhrgebiets. In den 1960er Jahren standen mit den Baustellen des Opel-Werks und der Ruhr-Universität gleich zwei der größten europäischen Bauvorhaben auf dem Terrain der Stadt Bochum. Anderen Ruhrgebietsstädten gelang es, mit anderen Industrieunternehmen und wissenschaftlichen Institutionen von vergleichbarem Rang nachzuziehen. Heute verfügen die Städte des Ruhrgebiets  mit insgesamt fünf Universitäten, acht Fachhochschulen sowie einer Hochschule für Musik, Theater und Tanz  über eine der dichtesten Hochschullandschaften der Welt. Für etwa 130.000 Studierende, 14.000 Wissenschaftler und 10.000 Angestellte in Verwaltung und Technik bilden die Hochschulen des Ruhrgebiets Ausbildungs- und Arbeitsstätte. Nicht zuletzt das Beispiel der Opel- und der Nokia-Werke in Bochum hat aber gezeigt, dass die Strukturwandel- und Ansiedlungspolitik auch an Grenzen stoßen kann. Vermeintlich moderne Industrien wie die Automobil- oder Telekommunikationsindustrie stellten ï im Gegensatz zum Bildungssektor ï bereits ein halbes Jahrhundert später keine sicheren Garanten für Arbeitsplätze mehr dar. Umso mehr wird nach Alternativen Ausschau gehalten, wobei in zunehmendem Maße auch die Kultur Berücksichtigung findet. Der Kultursektor verspricht dabei nicht nur indirekte Beiträge zur Standortentwicklung, wie sie Richard Florida hervorhebt. Das Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft hebt, wie Oliver Freundt in seiner auf das Ruhrgebiet und die Merseyregion bezogenen Untersuchung betont, auch darauf ab, dass Kultur selbst als ökonomischer Entwicklungsfaktor zu Buche schlägt. „Die Kulturwirtschaft ist nicht der weiche Standortfaktor, als der er häufig interpretiert wird. Ganz im Gegenteil ist die Kulturwirtschaft ein harter Standortfaktor, der Arbeitsplätze schafft und die Beschäftigung sichert und auch für altindustrielle Stadtregionen in Europa eine immer größere Bedeutung erhält.“ (Freundt 2007: 168)

Wie der aktuelle Kulturwirtschaftsbericht NRW resümiert, hat sich die Kultur- und Kreativwirtschaft seit den 1980er Jahren im

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Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich entwickelt. Zwischen 1980 und 2000 haben die verschiedenen kulturwirtschaftlichen Branchen ihre Umsätze fast verdreifacht. Während die Gesamtumsätze der Kulturwirtschaft sich 1980 auf 28 Mrd. DM und nach stetigem Anstieg 1994 bereits auf mehr als 72 Mrd. DM beliefen, wurde im Jahr 2005 ein Umsatzvolumen von 36,2 Mrd. Euro allein in der Kulturwirtschaft Nordrhein-Westfalens erreicht. Zusätzlich erwirtschaftete die in den frühen Berichten noch nicht eigens ausgewiesene Kreativwirtschaft 32,1 Mrd. Euro (Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie 2007: 10; Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen 1998: V-VII). Im Ruhrgebiet werden davon allein 6,2 Mrd. Euro, in der gesamten Metropolregion Rhein-Ruhr 22,2 Mrd. Euro umgesetzt. Der 5. Kulturwirtschaftsbericht NRW weist für den „Teilraum Ruhrgebiet“ insgesamt 9.837 Unternehmen aus den Bereichen Literatur-, Buchund Pressemarkt, Musikwirtschaft, Kunst und Kunsthandwerk, Designwirtschaft, Film- und TV-Wirtschaft, Darstellende und Unterhaltungskunst aus (Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie 2007: 208). Die Anzahl der Unternehmen liegt damit im Ruhrgebiet deutlich über derjenigen der Teilräume Düsseldorf und Köln; bezogen auf die Umsätze allerdings fällt das Ruhrgebiet hinter die beiden anderen Räume zurück. In der Metropolregion Rhein-Ruhr sind über 70 Prozent der steuerpflichtigen Betriebe und Selbstständigen der Kulturwirtschaft Nordrhein-Westfalens ansässig, die insgesamt rund 80 Prozent der Umsätze der Kulturund Kreativwirtschaft des Landes erwirtschaften (Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie 2007: 206-208). Mittlerweile gilt die Kulturwirtschaft mit über 10.000 Betrieben und Selbstständigen als eine wichtige Größe im Ruhrgebiet. Zum „kreativen Kern“ – Künstler, Musiker, Designer und Architekten – gehören dabei etwa 40 Prozent der Kulturwirtschaft, die zwar mit 3,1 Mrd. Euro gut die Hälfte des Umsatzes erzielen, oft jedoch unter der eigenen äußerst schlechten wirtschaftlichen Situation leiden. Dass von einer Größenordnung von etwa 52.000 in der Kulturwirtschaft tätigen Beschäftigten ausgegangen werden kann, unterstreicht ihre Bedeutung und ihr Beschäftigungspotential. Zudem ist die Kulturwirtschaft im Ruhrgebiet stark international geprägt, viele Unternehmen und Betriebe sind von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet worden (Schilling

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2007: 66-68). Eine Reihe von Initiativen hat diese Entwicklung im Ruhrgebiet begünstigt: So wurde etwa auf die überregionale Ausstrahlung von Großprojekten gesetzt, beispielsweise die Ansiedlung von Musicalhäusern oder die Umnutzung der Zeche Zollverein als Standort der Wirtschaft, des Designs und der Kultur. Auch wurden regionale Entwicklungskonzepte zur Kulturwirtschaft und der Ausbau von Netzwerken ebenso wie Existenzgründungen in diesem Bereich gefördert. Darüber hinaus wurden vielfältige städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen ergriffen. In diesem Zusammenhang wird häufig von einer „nachholenden Urbanisierungsstrategie“ gesprochen (Schilling 2007: 69-70). Diese knappen Verweise auf das Ruhrgebiet deuten an, dass auch altindustrielle Regionen Potential im kultur- und kreativwirtschaftlichen Bereich haben. Im Ruhrgebiet stellen dabei insbesondere die industriekulturellen Standorte einen Vorteil dar. Hier, in einer der größten Agglomerationen Europas, existieren für kreativwirtschaftliche Unternehmen zahlreiche Nachfrager und auch die hohe Dichte an Hochschulen stellt eine wichtige Basis für die kreativwirtschaftliche Produktion dar. Die Kulturszene des Ruhrgebiets ist vielfältig und von größerer internationaler Bedeutung als häufig wahrgenommen. Des Weiteren sind wichtige Schnittstellen etwa im Bereich Design ebenso vorhanden wie zahlreiche kulturelle Institutionen und eine ausgeprägte Migrantenkultur (Freundt 2007: 115-116). Dem stehen allerdings auch zahlreiche Hindernisse gegenüber; die Imageprobleme bilden hier nur die Spitze des Eisbergs (Blotevogel 2002; Prossek 2004). Als zentrales Manko ist etwa anzuführen, dass im Ruhrgebiet bedeutsame Medienstandorte fehlen. Das Ruhrgebiet muss ohne einen zentralen Impulsgeber mit entsprechenden regionalen „forward- and backward linkages“ auskommen (Ebert/Gnad 2006: 37). Der jüngste Kulturwirtschaftsbericht empfiehlt daher, „die in den letzten zwei Dekaden relativ erfolgreiche integrierte Entwicklungsstrategie zur Stärkung der Kulturwirtschaft durch Projekte und Initiativen in den zentralen Politikfeldern Wirtschaft, Stadtentwicklung bzw. Kulturförderung fortzusetzen“ (Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie 2007: 217). Ein „innenpolitischer“ Ansatz, der die Akteure zu gewinnen versucht, die Stadtentwicklung z.B. durch den Ausbau von „hot spots“ vorantreibt sowie zukünftig Zugangsmög-

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lichkeiten zu kulturellen Angeboten verbessert, erscheint dabei ebenso wichtig wie eine gezielte „Außenpolitik“ der Region.

4. Die Kulturhauptstadt Europas: Kultur-, Städtebau- oder Marketinginstrument? In den 1950er Jahren, in den Anfangsjahren der europäischen Integration, spielte Kultur als europäisches Politikfeld kaum eine Rolle (Viehoff/Segers 1999; Schwencke 2001). Die im Wesentlichen auf Jean Monnet zurückgehende funktionalistische Methode europäischer Kooperation war vor allem auf die technische Zusammenarbeit der Experten in ökonomischen Bereichen (EGKS und EWG) ausgelegt, während die Mitgliedstaaten kulturelle Fragen weiterhin als nationale Domäne betrachteten. Wenn kulturelle Überlegungen auf europäischer Ebene behandelt wurden, dann vor allem im Rahmen des Europarats, der lediglich unverbindliche Entscheidungen produziert bzw. nationale Vorbehalte und Vetos erlaubt (Kruse 1993). Diese Sichtweise hat sich im Kern bis heute nicht verändert. Nach wie vor bringen die Mitgliedstaaten ihre Sorgen und Bedenken zum Ausdruck, die nationale oder regionale kulturelle Identität an einen anonymen europäischen „Superstaat“ zu verlieren. Als die Idee einer Kulturstadt/Kulturhauptstadt Europas im November 1983 von der griechischen Kultusministerin Melina Mercouri vorgeschlagen und im Juni 1985 erstmals auch in die Praxis umgesetzt wurde, war dieser überraschende Vorstoß nur deswegen möglich, weil er im Rahmen einer zwischenstaatlichen Vereinbarung der Nationalstaaten  außerhalb der Gemeinschaftsverträge und ohne Vertragsgrundlage  getroffen wurde (Mittag 2008: 65-81). Die Initiative Melina Mercouris zielte in Zeiten einer europäischen „Sklerose“ mit erheblichen Problemen im Agrarund Haushaltsbereich der EG (Gaddum 1994) darauf, deutlichere Bezüge zu den Wurzeln einer gemeinsamen europäischen Kultur herzustellen, um so die noch vergleichsweise schwach ausgeprägte europäische Identität und zugleich die Zustimmung zum europäischen Integrationsgedanken zu stärken. Die Initiative zur Kulturstadt Europas  wie der Titel ursprünglich hieß  schien dabei eine ideale Projektion im Sinne einer Interessenkonvergenz aller

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Mitgliedstaaten zu eröffnen: Sie kostete die Mitgliedstaaten kein Geld; jeder Staat kam zum Zuge, da ein fester Zeitplan vereinbart wurde, nach dem jährlich eine Stadt aus einem anderen Staat mit dem Kulturstadttitel werben durfte; darüber hinaus profitierten die einzelnen Städte von der Initiative und schließlich sahen sich die nationalen Minister auch nicht veranlasst, Kompetenzen an die europäische Ebene abzugeben. In konzeptioneller Hinsicht wurde vorgesehen, dass die auserkorene Stadt in ihrem Kulturstadtjahr einen lebhaften Dialog zwischen den verschiedenen europäischen Kulturen entfalten sollte. Darüber hinaus wurde aber in der Entschließung der im Rat vereinigten Minister vom 13. Juni 1985, die das Kultur(haupt)stadtprojekt begründete, lediglich ein Minimalkatalog an Kriterien festgelegt. Die für Kulturfragen zuständigen Minister vertraten die Auffassung, „dass durch die Veranstaltung ,Kulturstadt Europas’ einer Kultur Ausdruck verliehen werden sollte, die sich in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer zeitgenössischen Entwicklung sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch einen aus der Vielfalt hervorgegangenen Reichtum auszeichnet. Zwar wird das Projekt in Angriff genommen, um die Völker der Mitgliedstaaten einander näher zu bringen, doch sollten dabei auch weitgehende kulturelle Affinitäten in Europa berücksichtigt werden. Durch diese Veranstaltung sollten der europäischen Öffentlichkeit besondere kulturelle Aspekte der Stadt, der Region oder des betreffenden Landes zugänglich gemacht werden. Auch könnte die betreffende Stadt zum Mittelpunkt einer Reihe von kulturellen Beiträgen aus anderen Mitgliedstaaten gemacht werden, die vor allem den Einwohnern der betreffenden Region zugute kommen.“ (Zit. n. Quenzel 2008: 145)

Mit diesen betont vagen Formulierungen wurde das Fundament für eine der bisher erfolgreichsten kulturellen Initiativen in Europa gelegt, deren Strahlkraft mit insgesamt 25 Auflagen zwischen 1985 und 2010 in 41 Kultur- bzw. Kulturhauptstädten Europas mittlerweile weit über die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus reicht und die sogar in anderen Regionen der Welt kopiert wird. Mit Athen 1985, gefolgt von Florenz (1986), Amsterdam (1987), Westberlin (1988) und Paris (1989) wurden in den ersten Jahren ebenso bekannte wie ausgewiesene Metropolen als Titelträgerinnen ausgewählt, deren kulturelle Bedeutung von vornherein un-

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bestritten war. In ihren Programmen konzentrierten sich diese Städte weitgehend auf Beiträge zur Hochkultur, die im Rahmen eines Sommerevents präsentiert wurden. Mit einer gewissen Skepsis wurde dabei die nur verhaltene Einbeziehung lokaler Künstler und die begrenzte Breitenwirkung betrachtet. Zwar fanden bereits in Athen 1985 die Auftritte der Künstler und Schauspieler nicht bloß an den bekannten zentralen Spielstätten, sondern auch in lokalen Theatern und Stadtbezirken statt  so wurde etwa ein Steinbruch in ein Theater für Peter Steins „Orestie“ umgewandelt , aber es dominierte ein weitgehend klassischer Zugang. Folgt man den wenigen vorliegenden Berichten über die ersten Kulturstädte, kann bilanziert werden, dass die ersten Jahre nur in begrenztem Maß zur Profilbildung im Sinne einer Konversion durch Kultur genutzt wurden (Dittrich von Weringh 1988). Stattdessen wurden seit langem geplante oder regelmäßig stattfindende Veranstaltungen und Festivals in die Initiative einbezogen oder aufwändiger als ursprünglich geplant ausgestattet. Die Kulturstadt Glasgow steht für eine weitgehende Neuinterpretation der Idee im Jahr 1990, mit der in konzeptioneller Perspektive eine zweite Phase eingeleitet wurde (García 2005). Sowohl durch die endgültige Ausweitung der Initiative zum Ganzjahresprogramm und die systematische Imagewerbung als auch durch die neu hinzugekommene städtebauliche Dimension und die Berücksichtigung von Aspekten der Nachhaltigkeit wurde die Kulturhauptstadtidee in Glasgow geradezu revolutioniert. Im Gegensatz zu ihren ebenso prominenten wie glamourösen Vorgängerinnen galt Glasgow als eine Stadt, die vor allem unter den Relikten der industriellen Ära und einem nicht bewältigten Strukturwandel litt. Bemerkenswert an der Wahl Glasgows war zudem, dass sich die schottische Stadt einem nationalen Wettbewerb mit sechs weiteren Städten hatte stellen müssen. Zu diesem Zweck hatte Glasgow eine professionelle Bewerbung erstellt, die den Slogan der Kampagne „Glasgow’s miles better“ aufgriff, unter den das bereits Ende der 1970er Jahre von der Stadt begonnene Konversionsprogramm gestellt wurde. Im Gegensatz zu den Vorgängerinnen zielte das Programm von Glasgow damit nicht in erster Linie auf die Präsentation nationaler Hochkultur, sondern vielmehr darauf, eine gewisse Bandbreite kultureller Angebote abzudecken und vor allem die Lebensqualität der Stadt nachhaltig zu erhöhen. Hierzu zählte etwa die Erneuerung der viktoriani-

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schen Sandsteingebäude im Stadtzentrum Glasgows, die Modernisierung des Straßenbahnsystems und die Eröffnung der Royal Concert Hall. Dieses Konzept wurde aufgrund des erfolgreichen Zusammenspiels von Politik, Stadtverwaltung und Kulturverantwortlichen sowie bis dahin nicht gekannter Investitionshöhen  der Etat von Glasgow betrug umgerechnet rund 60 Millionen Euro  weithin als Erfolg gewertet (Oerters 2008: 100f.). Da die Bewohner Glasgows sowohl unmittelbar wie auch langfristig von diesen Aktivitäten profitierten, wurde die Interpretation des Kulturstadtjahres 1990 fortan als Referenz betrachtet. Glasgow ist damit zu einer Art Modell für Städte geworden, die sich von dem Titel der Kulturhauptstadt Europas vor allem Impulse für eine städtische Erneuerung und wirtschaftliche Vorteile versprechen. Bis heute werden europäische Kulturhauptstädte infolgedessen nicht mehr nur nach ihren kulturellen Gütern und Produktionen bewertet, sondern auch nach ihren kreativen Strategien und ihrem Erfindungsreichtum, den sie im Kontext des Kulturstadtjahres entwickelt und über dieses hinaus zur Geltung gebracht haben. Es sollte sich jedoch zeigen, dass nicht alle Beteiligten mit der modifizierten Interpretation der Initiative einverstanden waren. Kritiker wie Spyros Mercouris, Direktor des ersten Kulturstadtprogramms von Athen 1985 und Ehrenvorsitzender des ECCM-Netzwerkes der Kulturhauptstädte (European Cultural Capital Cities and Months) argumentierte, dass die ursprüngliche Idee von Kultur „verraten“ wurde, indem man sich eine stärker funktionalistische Sichtweise von Kultur zu eigen machte. Beginnend mit der Kulturstadt Dublin 1991 wurde die Idee der Ganzjahresveranstaltung fortgeführt, bei weitem aber nicht in jedem Jahr der Aufwand von Glasgow betrieben. Zugleich rückten die europäischen Bezüge der Kulturhauptstadtinitiative in den 1990er Jahren weitgehend in den Hintergrund. Dabei ist eine bemerkenswerte Differenzierung auszumachen: Während in den etablierten europäischen Kulturmetropolen der Ehrgeiz vor allem in die künstlerische Ausgestaltung des Kulturjahres und die Hochkultur gesteckt wurde, begannen andere Städte, Gebäude und Kirchen zu renovieren oder neue Theater oder Konzertsäle zu bauen. Der gemeinsame Nenner fast aller Kulturhauptstädte während der 1990er Jahre bestand dabei in dem Ziel, das Image der jeweiligen Stadt zu verbessern und die Umsatzzahlen des Stadt-

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tourismus zu erhöhen – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Tendenz zu kurzen, aber immer häufigeren Städtereisen. Mit dem Kulturhauptstadttitel wurden erfolgreich Hunderttausende von Touristen angesprochen, die ihrerseits wiederum als Multiplikatoren dazu beitrugen, dass weitere Besucher folgten. Der Titel einer Kulturhauptstadt bot eine geradezu ideale Projektionsfläche, um das Interesse an der eigenen Stadt auf einem zunehmend umsatzträchtigeren, aber auch immer stärker umkämpften Tourismusmarkt zu steigern. Ungeachtet der bescheiden anmutenden finanziellen Zuwendungen der Europäischen Gemeinschaft und trotz hoher Schuldenberge der Städte entfaltete das Kulturstadtprogramm damit erhebliche Wirkung: Die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen im Zeitraum nach dem Kulturhauptstadtjahr im Durchschnitt um mehr als zwölf Prozent, während der längerfristige Imagegewinn, den ein Titelträger verbuchen kann, in Zahlen kaum zu beziffern ist. Die überwiegende Mehrzahl der ehemaligen Kulturhauptstädte gibt an, von der Ernennung profitiert zu haben (Myerscough 1994; Palmer/Rae Associates 2004). Dies galt insbesondere für Städte, die über kein ausgeprägtes Image als Kulturstadt verfügten und nicht mit Museen oder Theatern von Weltruf aufwarten konnten. So wurde etwa das Ringen Luxemburgs um ein neues Image als Kulturmetropole 1995 ï die Hauptstadt des Großherzogtums besaß weder eine Oper noch ein Nationalballett und bis 2003 auch keine Universität ï als Erfolg gewertet. Auch Kopenhagens Programm 1996, an dem sich über 50.000 Personen mit über 3.000 Vorschlägen zur Gestaltung beteiligten, galt als gelungen, da hier die Ausarbeitung eines ehrgeizigen Programms mit der Restaurierung von Gebäuden, der Neugestaltung von Plätzen, Parks und Grünanlagen verknüpft wurde. Aus konzeptioneller Perspektive können die 1990er Jahre insgesamt als Transformationsphase der Kulturhauptstadtidee gelten. Auf der einen Seite sind Städte wie Dublin (1991), Madrid (1992) oder Lissabon (1994) oder auch Weimar (1999) auszumachen, die auf eine Verstärkung und Neubelebung der bereits vorhandenen kulturellen Stärken hinwirkten und das Kulturjahr infolgedessen eher im traditionellen Sinn der ersten Jahre ausgestalteten. Demgegenüber standen mit Antwerpen (1993) und Thessaloniki (1997), aber auch mit Kopenhagen (1996) und Stockholm (1998) Städte, die bis zum Kulturstadtjahr nur begrenzt als Kul-

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turmetropole wahrgenommen worden waren und zum Teil auch Probleme in infrastruktureller Sicht zu bewältigen hatten. Der Wandel in programmatisch-konzeptioneller Ausrichtung lässt sich grundsätzlich auch noch für die folgenden Jahre ausmachen, in denen ï sieht man von Porto (2001), Rotterdam (2002) und Genua (2004) einmal ab ï durchweg kleinere Städte die Chancen des Kulturhauptstadttitels zur Imagewerbung nutzen konnten. Neben den angeführten Großstädten legte auch Lille (2004) besonderen Wert auf die Aufwertung der urbanen Umgebung und die infrastrukturelle Ausgestaltung, um ebenfalls vom viel beschworenen „Glasgow-Effekt“ zu profitieren. Nicht zuletzt wissenschaftliche Studien, wie die Untersuchungen von John Myerscough und Robert Palmer, dokumentieren die Wirksamkeit des Projekts und seine positiven Auswirkungen auf den Tourismus. Bereits ein Jahrzehnt nach ihrem Pilotlauf galt die Initiative als erfolgreiches und bewährtes Projekt. Allein hinter den unmittelbaren Nutzen für die Bewohner der designierten Kulturstädte und den Zugewinn an europäischer Integration wurden noch Fragezeichen gesetzt. Mit dem Kulturhauptstadtjahr 2007 in Luxemburg und Sibiu zeichnet sich in konzeptioneller Sicht schließlich ein dritter Zeitabschnitt der Initiative ab, der auch auf ihre Verrechtlichung zurückzuführen ist. Da mit der Verankerung des Kulturartikels 128 im EG-Vertrag (bzw. nach der Neunummerierung durch den Vertrag von Amsterdam im Art. 151 EG-Vertrag) zum ersten Mal rechtsverbindlich eine Zuständigkeit der Gemeinschaft für Kultur bzw. kulturpolitisches Handeln festgeschrieben wurde, trat die Europäische Kommission dafür ein, eine formale Rechtsgrundlage für die Veranstaltung zu etablieren. Auf diese Weise sollte dafür gesorgt werden, dass das Verfahren künftig auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage erfolgt und zudem das Europäische Parlament in die Entscheidung eingebunden wird. Im Juni 1999 verständigten sich Rat und Parlament nach längeren Verhandlungen und der Einschaltung des Vermittlungsausschusses darauf, basierend auf Artikel 151 EG-V, das bisherige zwischenstaatliche Auswahlverfahren zur Kulturhauptstadt in eine „Gemeinschaftsaktion“ umzuwandeln (Mittag 2008: 75-80). Die Vergemeinschaftung der Initiative stellte nach der inhaltlichen Neuprägung im Gefolge des Kulturhauptstadtjahrs von Glasgow die bisher wohl wichtigste, jedoch nicht die einzige Re-

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form des Kulturhauptstadtkonzepts dar. Nach längeren Verhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Rat, die sich bis in das Jahr 2005 hinzogen ï und an denen auch die neuen Mitgliedstaaten beteiligt waren ï, wurde beschlossen, dass die neuen Mitgliedstaaten so bald wie möglich ebenfalls in die Veranstaltung „Kulturhauptstadt Europas“ einbezogen werden, ohne die vorgesehene Reihenfolge für die alten Mitgliedstaaten abzuändern. Festgelegt wurde vor diesem Hintergrund, dass von 2009 an jährlich zwei Städte aus zwei verschiedenen Mitgliedstaaten ausgewählt werden. Dabei stellen ab 2009 jeweils einer der „alten“ 15 EU-Staaten und einer der zwölf „jungen“ Mitgliedstaaten der vierten Erweiterungsrunde von 2004 bzw. 2007 eine der beiden Kulturhauptstädte. Vereinbart wurde zudem, dass die Veranstaltung ab 2011 nicht mehr von Drittstaaten ausgerichtet werden kann. Der Kombination einer ost- und einer westeuropäischen Stadt, die damit in den Jahren von 2009 bis 2019 zum festen Strukturprinzip wird, scheint erhebliche Bedeutung zuzukommen. Das Zusammenspiel von Ost und West wird aufgrund dieser eng verwobenen Symmetrie mutmaßlich stärker in den Vordergrund rücken und den integrativen Aspekt sowie die europäische Dimension stärker konturieren ï dies nicht zuletzt auch, weil die Staatenpaare hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Stellung zur Europäischen Union etc. so zusammengelegt wurden, dass sich zahlreiche Schnittmengen ergeben.

5. Industriestädte als Kulturhauptstädte – Instrumentalisierung der Kultur Inwieweit aber haben nun die Kulturhauptstädte im 21. Jahrhundert das Potential der Kultur nutzen können – vor allem im Hinblick auf Zielsetzungen, die außerhalb des engeren kulturellen Bereichs liegen und eher der urbanen Entwicklung zugute kommen? Dass das Beispiel von Glasgow insbesondere in altindustriellen Städten bzw. Regionen aufgegriffen wurde, soll im Folgenden am Beispiel der drei Städte Lille, Liverpool und Essen (für das Ruhrgebiet) näher beleuchtet werden. Lille, Titelträgerin des Jahres 2004, nutzte das Kulturhauptstadtjahr, um im Bereich des Stadtumbaus umfangreiche Ziele zu realisieren. Im Palmer-Report von 2004 heißt es hierzu:

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„We dreamt of Lille as a spaceship changing the fabric of time, a place where everyone can live at their own pace, cross through exotic parallel worlds, stroll through the new frontiers opened up and already dissolved […] a process of metamorphosis with the ability and energy to perpetually remodel the world.” (Palmer/Rae Associates 2004: 48)

Im Sinne dieser hohen Ambitionen ging es Lille in erster Linie darum, den Kulturhauptstadttitel zu nutzen, um die verbreitete Wahrnehmung als altindustrielle Problemregion ï als „Aschenputtel Frankreichs“ ï abzuschütteln und ein positiveres Images zu erzielen. Um dieses Ziel zu erreichen, plante Lille, seine Aktivitäten weit über das Stadtzentrum auszudehnen und auch weite Teile der Nord-Pas-de-Calais-Region und sogar Teile Belgiens mit einzuschließen – insgesamt 193 Gemeinden und Dörfer, darunter so prominente Orte wie Roubaix, wo zahlreiche arbeitslose Textilarbeiter und viele Immigranten, aber auch einige der reichsten Familien Frankreichs wohnen. Im Rahmen der rund 2.500 kulturellen Ereignisse in Lille 2004 wurde nicht nur die Zielsetzung verfolgt, diesen Räumen einen stärker kulturbezogenen Anstrich zu geben; Ziel war auch, wirtschaftliche Investitionen in diese Gebiete zu lenken. Folgt man den ersten Berichten, die über die Ergebnisse vorliegen (Sacco/Blessi 2007: 132), scheint dieses Unterfangen so erfolgreich gewesen zu sein, dass andere Kulturhauptstädte wie etwa Luxemburg (2007) die Idee aufgriffen und ebenfalls das regionale Umfeld einbezogen. Das Ziel der Aktivierung einer gesamten Region richtete sich auch an die Bevölkerung und die Künstler. Straßenfestivals und Workshops, aber auch Maßnahmen für Kinder und Menschen in sozialen Problemvierteln waren einige der Angebote, die Lille entwickelte, um unmittelbar vor Ort am Programm mitzuwirken. Das gesamte Programm war derart vielschichtig, dass rund 17.500 Künstler und die bis zu diesem Zeitpunkt höchste Zahl von Besuchern mobilisiert wurden. Laut Palmer und Richards zählte Lille im Jahr 2004 etwa 9 Millionen Besucher (Palmer/Richards 2009: 54). Von Bedeutung war auch ein Freiwilligen-Programm, das rund 17.800 Menschen einbezog, die als „relais d’informations” hinter den Kulissen in der Betreuung von Künstlern und Besuchern oder organisatorisch mitwirkten. In der Tradition Glasgows im Jahr 1990 wurde der Neubau von Spielstätten, öffentlichen Plätzen und Wohnungen betrieben. Städtische Entwicklungsprog-

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ramme führten sowohl im französischen wie im belgischen Raum zu einer attraktiveren Gestaltung der Veranstaltungs- und Wohnorte. Starke Beachtung fanden zwölf so genannte „Maisons Folies“; ehemalige Fabrikgebäude, Brauereien und Gehöfte wurden hier mit großem Aufwand saniert, um Wohnungen für Künstler oder Treffpunkte für die Bevölkerung des jeweiligen Viertels zu eröffnen. Hinzu kamen ein neuer Sportpark, eine Freestyle-Bahn für Skateboard- und BMX-Fahrer, aber auch aufwändig restaurierte Opernhäuser, Kirchen und Denkmäler. Das Budget, das für infrastrukturelle Maßnahmen eingesetzt wurde, belief sich auf knapp 70 Millionen Euro (Lille Metropole 2004: 6). Im Gegensatz zu Lilles Kulturhauptstadtpendant im Jahr 2004, Genua, das weitaus stärker auf Hochkultur und Tourismus ausgerichtet war, setzte die nordfranzösische Metropole damit in erster Linie auf die Aktivierung der Kultur zu Zielen des Stadtumbaus und Strukturwandels. In diesem Sinne versuchte man mit der Etablierung der Initiative „Lille 3000” auch die Dynamik des Jahres 2004 weiter aufrechtzuerhalten und dem Anspruch der Nachhaltigkeit gerecht zu werden, um so den kulturellen und den strukturellen Wandel der Region weiter zu forcieren. Die Stadt Liverpool, die sich gegen fünf namhafte Konkurrentinnen als Titelträgerin des Jahres 2008 durchsetzte, blickte zwar auf keine montanindustrielle Vergangenheit zurück, hatte aber als eine der wichtigsten Hafenstädte Großbritanniens, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast 40 Prozent des Welthandels abwickelte und große Mengen an Stahl und Textilien aus Nordwestengland verschiffte, ebenfalls eine stark industriell geprägte Historie. In ganz anderer Form als Lille, aber mit ähnlichen Folgewirkungen sah sich auch Liverpool in den 1950er Jahren mit einem beträchtlichen Niedergang konfrontiert: Hatte die Stadt um 1930 noch rund 850.000 Einwohner gezählt, so sind es mittlerweile nur etwa halb so viele Menschen. Und die Stadt am Mersey-River hatte auch mit zahlreichen Problemen zu kämpfen: Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinter dem Stadion des legendären FC Everton durch die Arbeitersiedlungen fuhr, konnte zahlreiche heruntergekommene Straßenzüge, mit Brettern vernagelte Häuser und sogar eine beträchtliche Zahl von Wohnruinen erblicken. Auch wenn zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres 2008 bei weitem nicht alle Projekte in Liverpool fertig gestellt waren ï so etwa das aufwändige neue Stadtmuseum oder die neue Anlege-

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stelle für die Fähre über den Mersey ï, gelang es der Stadt dennoch, mit ihrem industriekulturellen Erbe für Furore zu sorgen. Mit mehr als 10 Millionen Besuchern (Palmer/Richards 2009: 54) gilt Liverpool als bisher bestbesuchte Kulturhauptstadt überhaupt. Zu den Programmschwerpunkten gehörten vor allem musikalische Aufführungen, aber auch 3.000 Workshops und einmal mehr ein aufwändiges Stadtbauprogramm. Deutlich kam dabei zum Tragen, dass die Europäische Kommission immer früher den Titelträger bekannt gibt ï im Fall von Liverpool fiel die Entscheidung bereits vier Jahre zuvor. Diese Terminierung eröffnete der Stadt die Möglichkeit, einen längerfristigen Entwicklungsprozess einzuleiten, der im Fall von Liverpool vorsah, rund 7,5 Milliarden Euro auch noch nach dem Kulturhauptstadtjahr in Bauvorhaben zu investieren sowie 225 Millionen Pfund in ein neues Straßenbahnsystem. Obgleich im Budget des Kulturjahres in Liverpool erhebliche Deckungslücken auftraten, schien sich mit Blick auf statistische Parameter – wie Besucherzahlen, Museumsgäste und Hotelübernachtungen, aber auch steigende Häuserpreise – in den einstmals vom Verfall bedrohten Arealen der Stadt das Investment gelohnt zu haben. Das Experiment, Kulturhauptstadt und Kreativwirtschaft zusammenzubringen und an den Schnittstellen auszuloten, inwieweit beide voneinander profitieren können, läuft derzeit im Ruhrgebiet, der Kulturhauptstadt für das Jahr 2010. Auch das Ruhrgebiet stellt eine Region dar, die lange Zeit vor allem als vom Strukturwandel geplagtes „Sorgenkind“ wahrgenommen wurde. In seiner stellvertretenden Bewerbung für die Region machte Essen jedoch die Tatsache zum Programm, dass spätestens seit den 1980er Jahren Kultur eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung des Strukturwandels spielte. Mit dem Leitgedanken der Bewerbung „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ thematisierte das Ruhrgebiet, was bereits im regionalen Raum ï wenn vielleicht auch noch nicht in der Außenwahrnehmung ï erreicht worden war und welche Aufgaben sich noch stellten. Auch für die Entscheidung der Auswahl-Jury war die Thematisierung der Transformation einer altindustriellen Ballungsregion entscheidend. „Essen’s candidacy takes as its theme the metamorphosis and the concomitant upheavals that are likely to dominate the development of

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many cities in the future, including those in the new member states of the European Union. It is thus an issue of international relevance. ‚Essen for the Ruhr’ clearly indicates the enormous significance that culture has in this process and underlines the cultural potential that can be found and released when dealing with the witnesses to and monuments of a bygone industrial age […].“ (City of Essen/Ruhr Regional Association 2005: 87)

Mit der „Stadt der Kreativität“ wurde einer von vier Schwerpunktbereichen der Kulturhauptstadt der Kreativwirtschaft gewidmet, vertreten durch den künstlerischen Direktor Dieter Gorny, selbst Musiker und Medienmanager. Die Stadt der Kreativität hat es sich zum Ziel gemacht, die kreativwirtschaftlichen Unternehmungen der Region durch weitere Vernetzungen und neue Initiativen zu fördern. Der kreativwirtschaftliche Ansatz reicht dabei auch in andere Bereiche der Kulturhauptstadt hinein, wie etwa in die städtebaulichen Aktivitäten der „Stadt der Möglichkeiten“ und in die Projekte der „Stadt der Kulturen“, die sich der kulturellen Vielfalt des Ruhrgebiets widmen. Hier werden einmal mehr die Potentiale beschworen, die Projektionsfläche der Kulturhauptstadt zu nutzen, damit sich eine ganze Region gewissermaßen neu erfindet. Dieser weitreichende Ansatz ist neuartig und stößt vor dem Hintergrund der Erwartungen eines Kulturfestivals auch auf Unverständnis in der Region. Wo bleibt die Kunst? Dass die Initiative der Kulturhauptstadt nicht mehr allein der Kunstförderung dient, sondern wichtige Impulse für die Regionalentwicklung liefern kann, hat kritische Fragen, nicht zuletzt der Kulturschaffenden selbst, hervorgerufen. Die Macher der Kulturhauptstadt zielen indes auf eine nachhaltige Wirkung und investieren bewusst nicht in einzelne Kunstprojekte, sondern in Strukturen, die sich möglichst schnell selbst tragen sollen.

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6. Potentiale und Grenzen: Altindustrielle Stadtregionen zwischen Struktur- und Imagewandel In den beiden letzten Dekaden hat sich im Zeichen eines breiten Kulturbegriffs eine modifizierte Sichtweise auf Kultur etabliert. Während die Grenzen zwischen Hochkultur und Massenkultur zunehmend verwischen, hat Kultur mittlerweile sowohl unter den Kulturschaffenden als auch unter „Kulturfunktionären“ und in der Wissenschaft einen Bedeutungsgehalt erlangt, der sie zu einem zentralen Wirtschafts- und Standortfaktor macht. Gerade in denjenigen Städten und Regionen, die bisher nicht mit ausgewiesenen (klassischen) Kulturgütern ausgestattet sind ï namentlich in den hier näher betrachteten altindustriellen Ballungsräumen ï, wird Kultur als ein Instrument für Wandel und Modernisierung betrachtet und auch genutzt. In diesem Zusammenhang kommt den beiden in diesem Beitrag untersuchten Phänomenen ï der Kultur- und Kreativwirtschaft einerseits sowie der Initiative der Kulturhauptstadt andererseits ï eine wichtige Rolle zu. Mit Blick auf empirische Erhebungen vermag Robert Palmer dementsprechend zu konstatieren, dass das Projekt der Kulturhauptstadt Europas betrachtet werden kann als „powerful tool for cultural development that […] offers unprecedented opportunities for acting as a catalyst for city change” (Palmer/Rae Associates 2004: 188). Ähnliches gilt für die Kreativwirtschaft, die „in ganz Europa zu einem neuen Hoffnungsträger der wirtschaftlichen Entwicklung in Städten und Regionen geworden“ ist (Essener Erklärung II 2007). Bereits in seinen Schlussfolgerungen auf dem Frühjahrsgipfel 2007 hat der Europäische Rat festgestellt, „dass kreative Unternehmer und eine lebendige Kulturindustrie eine einzigartige Innovationsquelle für die Zukunft darstellen“ (Europäische Kommission 2007: 3). Ob Richard Floridas Modell hinsichtlich der Rolle der Kreativen die Standortentscheidungen von Unternehmen indes umfassend erklären kann, bleibt nicht zuletzt mit Blick auf die Standortverlegung von Nokia fraglich – aus der Metropole Ruhr, Kulturhauptstadt 2010, in ein unter Produktionsgesichtspunkten zwar günstigeres, aber auf der grünen Wiese gelegenes Werk in Rumänien. Jenseits der Debatte, inwieweit zwischen Produktion und Entwicklung zu differenzieren ist, bleibt es aber Floridas Ver-

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dienst, generell für neue Parameter der Standortpolitik sensibilisiert zu haben. Gerade altindustrielle Metropolen und industrielle Ballungsräume wie Lille, Liverpool oder das Ruhrgebiet sind Orte, an denen sich die Herausforderungen moderner Gesellschaften nicht nur beobachten lassen, sondern an denen sie auch bewältigt werden müssen. Da bisweilen ganze Industrien abgewickelt wurden, konnte selbst mit intensiver kommunaler Wirtschaftsförderung der Verlust, der durch den Niedergang der Schwerindustrie oder der Hafenbetriebe bedingt war, nicht aufgefangen werden. Alternative Kompensationsversuche scheiterten vielfach an begrenzten Ressourcen. Es ist bemerkenswert, welche Mittel gerade im Kontext der Kulturhauptstadtjahre mobilisiert werden konnten, um einen oftmals verzögerten oder auch verschleppten Strukturwandel zu forcieren oder neu zu beleben. Zugleich gelang es, mit Hilfe der kultur- und kreativwirtschaftlichen Branchen die Wirtschaft auch strukturell zu reaktivieren. Insofern kann gefolgert werden, dass beiden kulturellen Phänomenen ein erhebliches Potential für urbane Räume innewohnt, das weit über den engeren Kulturbereich hinausgeht. Im Fall des Ruhrgebiets weist die Ressourcenmobilisierung allerdings auch noch Erweiterungspotential auf. Im Frühjahr 2009 beträgt der Etat rund 53 Millionen Euro, womit in etwa beispielsweise die Größenordnung des Etats von Linz erreicht wird. Die oberösterreichische Landeshauptstadt zählt allerdings gerade einmal 189.000 Einwohner und spielt damit in einer ganz anderen Liga als die 5,3 Millionen Ruhrgebietsbürger, die auf einer Fläche von etwa 4.435 Quadratkilometern leben. Zum gleichen Zeitpunkt zeichnet sich die Realisation zentraler Bauvorhaben, wie etwa die Neugestaltung des so genannten Bochumer „Viktoria Quartiers“ zu einem „urbanen Raum“, erst schemenhaft ab. Ob es in Bochum gelingt, zwischen Schauspielhaus, Bermuda3Eck und der geplanten Bochumer Symphonie ein neues Zentrum für Performing Arts, Musik und Literatur zu etablieren, bleibt abzuwarten. Auch Dortmund könnte durch das geplante Kreativquartier, das in der alten Union-Brauerei ab 2010 auf 80.000 Quadratmetern eröffnet werden soll, zu einem wichtigen Zentrum für Kreativwirtschaft avancieren. Erstes Zeichen der Veränderung ist die frische Vergoldung des weithin sichtbaren „U“ an der Spitze des Turmes. Neben derlei Leuchttürmen verfolgt die Kulturhauptstadt jedoch auch Projekte, die weit weniger in der Öffent-

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lichkeit wahrgenommen werden. So wurde etwa das „Living Games Festival“ als erstes europäisches Kulturfestival zu Computerund Videospielen etabliert, das auf deren kulturelle Dimension verweist. Die Gründung der „Ruhr Music Commission“ im Jahr 2008 verspricht zukünftig bessere Vernetzung, Kommunikation und Abstimmung der Interessen zwischen den Akteuren der Musikindustrie. Hier scheint berücksichtigt worden zu sein, dass nachhaltige urbane Erneuerungsprozesse nicht nur auf investiertes Geld und die physische Infrastruktur begrenzt werden können. Um einen erfolgreichen Stadtumbau in die Wege zu leiten, bedarf es auch entsprechender Ideen und Wahrnehmungsprozesse. Soziale und wirtschaftliche Kohäsion scheint ohne das Band kultureller Möglichkeiten kaum möglich und zukunftsträchtig zu sein. Zentral scheint vielmehr ein gewisses Raumbewusstsein oder Raumbild zu sein. Soziale und wirtschaftliche „Wirklichkeit“ spiegeln sich nicht nur in statistischen Parametern, sondern sie resultieren auch aus einer sozial konstruierten Realität, in der sich Akteure und Strukturen gegenseitig konstituieren. Räumliche Realität wird demzufolge nicht allein durch objektivierbare Strukturen und materielle Ressourcen, sondern auch durch intersubjektive Bedeutungen geprägt, die ihrerseits in Prozessen kultureller Interaktion (re-)produziert werden (Briesen/Gans/Flender 1994). Aus diesem Grund ist zu beachten, dass „Programme zur Stärkung der Kultur- und Kreativwirtschaft […] nicht von oben verordnet werden (können), weil sie auf lokal engagierte und motivierte Menschen und auf vielfältige regionale Kompetenzen und Kooperationen angewiesen sind. Beides lässt sich nur langfristig in einer Region entwickeln.“ (Essener Erklärung II 2007) Und es gilt auch, Images und Vorstellungswelten Beachtung zu schenken. Die ebenso knappe wie eingängige Formel „Kultur(haupt)stadt Europas“ verspricht gerade für altindustrielle Problemregionen symbolträchtiges Prestige. Infolgedessen nutzten in der Vergangenheit zahlreiche Städte den Titel, um ihr Image aufzubessern und den Tourismus anzukurbeln. Das Kulturhauptstadtprojekt hat sich vor diesem Hintergrund in den 1990er Jahren immer stärker in Richtung eines „Städtelifting-“ und Marketinginstruments entwickelt ï ohne notwendigerweise die hochgesteckten kulturpolitischen Erwartungen erfüllen zu können. Die „Macher“ der Kulturhauptstädte zielen selbst zunehmend auf eine nachhaltige

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Wirkung und investieren bewusst nicht in einzelne Kunstprojekte, sondern in Strukturen, die sich möglichst schnell selbst tragen sollen. Zumindest unter den Entscheidungsträgern schien diese Sicht auf Zustimmung zu stoßen. Adolf Muschg, eines der prominentesten Kommissionsmitglieder bei der Auswahl des Ruhrgebiets zur Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2010, notierte im März 2006 mit Blick auf das Ruhrgebiet, dass „eine ganze Landschaft […] den Untergang verweigerte. Wo immer wir hinkamen, waren Häuser, Siedlungen, Industriedenkmäler mit dem Umlernen im größten Stil beschäftigt, und die neue Sprache war nicht nur diejenige einer spezialisierten ‚Kultur’: Sie schlug Brücken über den ebenso monumentalen wie unvermeidlichen Bruch mit der industriellen Vergangenheit. Was die Zeit schon abgeschrieben hatte, war ihr, als urbanistische Avantgarde, plötzlich wieder voraus. Das ehemalige Revier atmete nicht mehr Staub, sondern Zukunft.“ (Muschg 2005: 49)

Im Sinne dieser weiter zu entwickelnden kulturellen Angebote zeichnet sich eine Perspektive ab, Kultur als Avantgardefunktion zu nutzen, die Auswirkungen auf ganze Regionen ï auch in wirtschaftlicher Hinsicht ï hat. „Ohne Kultur“, so auch Andreas Freundt in seiner Studie, „hat auch die Ökonomie in altindustrialisierten Regionen keine Perspektiven und die Gesellschaft keine Zukunft.“ (Freundt 2007: 192) Die Anstöße, die von der Kreativwirtschaft und von der Kulturhauptstadtinitiative ausgehen, sind zwar nicht umfassend in konkret messbaren Kausalzusammenhängen zu beziffern. Langfristig aber, über erste sichtbare Spuren hinaus, ist das Potential der Kultur als Motor und Ressource sozialen und wirtschaftlichen Wandels jedenfalls nicht als gering zu erachten.

Literatur Bendixen, Peter (2008): Kultur und Wirtschaft – Zwei Seiten einer Medaille? In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2008. Thema: Kulturwirtschaft und kreative Stadt, Band 8. Bonn/ Essen: Klartext, S. 33-44.

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W ISSENSARCHIV S TADT

Kulturelle Vielfalt als produktives Potential? Zur Mobilis ierung und Erze ugung von Anschlussfähigkeiten heterogener Wissensbestände GERTRAUD KOCH

Einleitung: Räumliche Verortung kultureller Potentiale In der Frage, was das kulturelle Potential von Städten und Regionen ist, ist die Aufmerksamkeit längst von der Angebotsseite kultureller Einrichtungen und Events – gemäß dem kulturpolitischen Glaubenssatz der 1980er Jahre: „Kultur für alle“ – hin zu den lokalen Traditionen, den stadträumlichen Infrastrukturen, den ansässigen Menschen, dem Stadtraum als Lebensumfeld und auch den Netzwerken gewandert. Diese Perspektive basiert auf einem Kulturbegriff, der die gesamten Lebensumstände einschließt und somit eine große Breite an Zusammenhängen in den Blick nimmt, wenn es um die Bestimmung kultureller Potentiale geht. Die Bestimmung dessen, was in den Blick zu nehmende kulturelle Dynamiken sein könnten, ist aufgrund dieses weiten Verständnisses von Kultur ein ebenso weites Feld, das sich erst durch die Zielperspektive des städtepolitischen Diskurses über kulturelle Potentiale etwas eingrenzen lässt. Die Suche nach den kulturellen Potentialen geschieht meist vor dem Hintergrund, neue Gestaltungsoptionen und Entwicklungs-

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möglichkeiten für Sozialräume zu entdecken und Kultur als Ressource für strukturpolitische Entscheidungen zukünftiger Profilbildungen eines Sozialraumes nutzbar zu machen. Es geht somit um diejenigen Bezugspunkte in der kulturellen Tradition wie auch um jene Merkmale lokaler Kultur, die anschlussfähig, aber vor allem auch mobilisierbar sind für mögliche Zukünfte. Kulturelle Ressourcen sind somit zum einen relational zu den optionalen Zukünften. Sie können sich erst von diesen her bestimmen lassen, also in Bezug zu den im weitesten Sinne gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen, an die Anschluss gesucht oder auf die in distinktiver Absicht reagiert wird. Zum anderen können nur jene Elemente aus der enorm vielfältigen, historisch gewachsenen lokalen Kulturalität auch in diesem Sinne nützlich sein, die als Ressource erschlossen und zum Material werden können, das entsprechend der Zukünfte modifiziert, gestaltet und umgeformt werden kann. Damit dies geschehen kann, sind diese Elemente aus bisherigen Zusammenhängen zumindest soweit herauszulösen, dass sie als Material sichtbar werden und von diversen Akteuren aufgegriffen werden können. Ich spreche deswegen von Mobilisierung, die sich nicht auf Kultur als Ganzes beziehen kann, sondern sich immer nur auf einzelne Elemente der kulturellen Tradition richten wird und deswegen treffender mit dem Begriff Wissen bezeichnet ist.1 In der Bestimmung kultureller Potentiale für zukünftige Entwicklungen geht es neben den potentiell vorstellbaren Zukünften insofern wesentlich auch um die Mobilisierbarkeit verfügbaren Wissens aus dem lokal vorhandenen kulturel-

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Die Disaggregierung von Kultur als Wissen wird von Fredrik Barth (2002) vorgeschlagen und begründet. Nach diesem Verständnis lassen sich kulturelle Zusammenhänge anhand ihrer Wissensbestände, -repräsentationsformen und -vermittlungsformen bestimmen. Dieses Vorgehen korrespondiert mit der hier verfolgten Zentrierung auf die kulturellen Dynamiken, die unter Bezugnahme auf kulturelle Ressourcen in Gang gebracht werden sollen. Es bedeutet zugleich, dass es nicht notwendig ist, an dieser Stelle von „kulturellem Wissen“ zu sprechen, da Wissen immer kulturell gebunden ist und eine tautologische Verwendung zum Zwecke der Verstärkung sinnvoll sein kann, aber nicht zwingend notwendig ist – zumal dadurch der Anschein erweckt werden könnte, dass es „extra-kulturelles“ Wissen gebe.

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len Repertoire als Entscheidungsgrundlage und auch als Ausgangspunkt zukünftiger Gestaltungsansätze. Es sind somit drei wesentliche Bezugspunkte von Kultur als Ressource zukünftiger Entwicklung identifiziert, die bei näherer Betrachtung auch Hinweise darauf geben, wie es um das Material für kreatives Handeln bestellt ist: (a) die möglichen Zukünfte, die in den weiteren Ausführungen weniger eine Rolle spielen sollen, weil sie als spezifische imaginative Ressource zwar auf gegenwärtige gesellschaftliche und globale Entwicklungen bezogen sind, im Wesentlichen aber in der Hand der Akteure vor Ort liegen und auch hier verbleiben müssen, (b) die Identifikation von für die verfolgten Aufgaben und Ziele anschlussfähigen kulturellen Ressourcen, wobei deren Anzahl, deren Vielfalt und deren Intensität bzw. Prägekraft eine entscheidende Rolle spielen dürften, und (c) „die Hebung“ dieser kulturellen Ressourcen, die erst zu solchen werden, wenn sie auf eine gewisse Tradition an diesem Ort zurückblicken können und im Alltag nicht schon automatisch als anschlussfähiges Wissen zur Verfügung stehen, aber dennoch mobilisiert werden können als Material für zukunftsoffene Gestaltungen. Erst der gestaltende, immer wieder modifizierende und anpassende Gebrauch von kulturellen Repertoires im Sinne eines Materials, das für Handeln genutzt wird (Swidler 1986), lässt Neues entstehen2 und ist Voraussetzung für jene Innovationsdynamiken, anhand derer wir – in der Regel retrospektiv, wenn die dort stattgefundenen Inventionen populär geworden sind – kreative Umgebungen identifizieren. Im Unterschied zu Ansätzen, welche in der Charakterisierung von kreativen Umgebungen wesentlich einen Containerbegriff von Raum zugrunde legen und folglich die „Ingredienzien“ eines Raumes bestimmen – wie dies etwa Richard Florida (Florida/Gates 2001) mit seiner Triple-T-Formel: Technology, Talent, Toleranz (hoch technisierte Arbeit, die Anziehungskraft für Menschen mit hoher Bildung und die kulturelle Diversität in der Bevölkerung) tut –, liegt der hier vorgestellten Perspektive ein Raumbegriff zugrunde, der diesen als sozial konstruiert und ima-

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Dieser aktive „Gebrauch“ von kulturellem Material ist zugleich Voraussetzung dafür, dass es sich nicht verbraucht im Sinne eines „Sich-Abnutzens“ von immer wieder gleichen Formen der Verweisung bis zu deren völliger Redundanz.

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giniert, somit als von verschiedenen Akteuren unterschiedlicher Verortung diskursiv erzeugt und von spezifischen politischen Interessen wie auch Konstellationen durchzogen versteht (vgl. z.B. Luutz 2005). Dieses sozialräumliche Verständnis von Städten und Regionen bezieht somit über die Akteure in diesem Umfeld hinaus auch das auf die räumlichen Gegebenheiten und Strukturen bezogene Handeln der Akteure in die Analyse ein (Hannerz 1980). Es hat seinen Ausgangspunkt in einer anthropomorphen Vorstellung von Städten und Regionen, nach der diese geprägt sind von den Funktionen, die sie im Laufe ihrer Geschichte eingenommen und die sich in einem spezifischen Habitus der Stadt niedergeschlagen haben. Die ökonomischen und funktionalen Besonderheiten einer Stadt bringen „Konventionen und Routinen mit sich, die den Charakter des Ortes im Sinne einer distinkten Geschmackslandschaft prägen“ (Lindner 2003: 52).3 Es sind also gerade die auf Räume bezogenen Praktiken, die hier in den Blick zu nehmen sind, weil sie wesentliche Ansatzpunkte für die Entstehung von Innovationen im Kontext von Stadt- und Regionalentwicklung sind (Matthiesen 2007; Matthiesen/Bürkner 2004).

2. Kulturelle Vielfalt als Ausgangspunkt kreativer Dynamiken Dass Monokultur wenig Anlass zu kreativen Neuerungen bietet, ist ein sich nahezu selbsterklärendes Argument, das weitere Überlegungen kaum herausfordert. Die Vielfalt metropolitaner Städte, die als ein wesentliches Element für deren kreative Dynamik wahrgenommen wird, bedarf umgekehrt jedoch genauerer Analyse dessen, wie und wodurch sie letztlich zustande kommt. Schon früh in der Stadtforschung ist die Vielfalt auf engem Raum von Louis Wirth (1938) – in einem Versuch, eine Definition von Urbanität als Lebensform für die soziologische Forschung zu entwickeln –, als eines von vier Merkmalen des Urbanen, neben Größe, Dichte und Permanenz der Besiedlung, benannt worden. Dieses 3

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Lindner sieht diesen Habitus wesentlich durch die Geschmackslandschaften vermittelt, die sich in Städten manifestieren und rasch in ihrer Prägekraft wahrgenommen werden, z.B. der mondäne Lebensstil von Paris, das multikulturell geprägte London oder auch das von Arbeiterkultur geprägte Ruhrgebiet.

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bis heute immer wieder zitierte Schlüsselwerk soziologischer Stadtforschung im Kontext der Chicago School of Sociology nimmt, wohl wissend um die Reibungs- und Konfliktpotentiale, die damit einhergehen, eine wertschätzende Haltung gegenüber Diversität ein. Toleranz, Rationalität und säkulare Orientierung werden als urbane Haltungen festgestellt, die aus solcher Vielfalt im städtischen Zusammenleben resultieren. Herausgestellt werden zudem die Anregungspotentiale der Diversität, welche wiederum nicht losgelöst von Unsicherheit und Instabilität zu bekommen sind, gleichzeitig aber auch Gelegenheit für identitäre Mehrfachbezüge bieten. Bei Louis Wirth gilt die Stadt als Ort der Diversität schlechthin, bedingt durch permanente Zuwanderung. „The city has thus historically been the melting-pot of races, peoples, and cultures, and a most favorable breeding-ground of new biological and cultural hybrids. It has not only tolerated but rewarded individual differences. It has brought together people from the ends of the earth because they are different and thus useful to one another, rather than because they are homogenous and like minded.” (Wirth 1938: 10, Hervorh. im Original)

Nach diesem Verständnis ist Diversität untrennbar mit der Lebensform Stadt verbunden, wird von dieser sogar eingeladen – und nicht als notwendiges Übel erduldet –, weil alle jeweils vom anderen profitieren. Ähnlich wertschätzende Haltungen gegenüber kultureller Vielfalt nimmt eine Reihe weiterer Autoren ein, wobei solche Einschätzungen überwiegend auf die produktiven Qualitäten und insbesondere das kreative Potential solcher Mischungen in der Bevölkerung referenzieren. Die damit verbundenen Dynamiken werden von dem skandinavischen Anthropologen Ulf Hannerz mit dem Begriff „cultural swirl“ beschrieben: „(A) metaphor playing on the centrifugal force of a vortex, drawing in and throwing together all that is within reach, leaving no cultural segment and strand in isolation. In a sense, though, this theory of the urban process also implies the opposite, the centripetal movement of these new ideas, practices and artefacts that make up a cultural flow reaching out from these urban sources, often achieving transnational, sometimes global, spheres and influences.” (Welz 2003: 263)

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Dieser Modus interaktiven Produzierens – durch Umgehen, Einsetzen und Experimentieren – von Ideen und Praktiken, die man in seinem Umfeld aufschnappt, wird von Gisela Welz, Kulturanthropologin aus Frankfurt, darüber hinaus als in jedem Umfeld nützlicher Modus kulturellen Produzierens beschrieben, der wesentlich zur menschlichen Fähigkeit beitrage, Lebensumständen gestaltend zu begegnen (Welz 2003: 267). Auch in anderen Disziplinen wird die Bedeutung von kultureller Differenz – im Sinne eines innovativen Elements – hervorgehoben. Für den mit seiner Analyse der kreativen Klasse (Florida/Gates 2001) berühmt gewordenen amerikanischen Regionalforscher Richard Florida ist, wie oben bereits dargestellt, der wertschätzende Umgang mit kultureller Differenz, also Toleranz, eine Mindestvoraussetzung für innovative Milieus. Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut formuliert einen Zusammenhang zwischen Diversität und Erfindungsreichtum anhand einer quantitativen Studie, die die Häufigkeit von Patentanmeldungen mit dem Migrationsanteil in Zusammenhang bringt (Niebuhr 2006). Ebenfalls aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive wird Diversität positiv im Zusammenhang mit Agglomeration herausgestellt (Cooke 2002), womit allerdings auch eine neue Akzentuierung in der Vorstellung von Vielfalt als produktivem Element vorgenommen wird. Die ungeheure Variationsbreite möglicher Diversitäten wird in dieser Betrachungsweise eingegrenzt, indem sie relational auf spezifische wirtschaftliche Schwerpunkte innerhalb eines Sozialbzw. Wirtschaftsraumes bezogen wird.4 In dieser systematischen Bezogenheit auf bestehende Kapazitäten wird Vielfalt als produktiv wahrgenommen und so die Kontingenz metaphorischer Konzepte kulturellen Mischens – wie dem „cultural swirl“ – frühzeitig selektiert. Wie vielschichtig Diversität in urbanen und regionalen Zusammenhängen jenseits ausschließlich wertschätzender Perspek4

Der Historiker Wolfgang Weber stellt in seiner kommunikationsgeschichtlichen Analyse, wie Regionen diskursiv konstituiert werden, fest, dass staatlich-politische Aspekte in der Konstitution von Regionen zunehmend in den Hintergrund treten zugunsten von sozialökonomisch-kulturellen Bestimmungsfaktoren. Die Region erscheine geradezu als alternative Form der räumlichen Abgrenzung gegenüber Gebieten politischer Herrschaft und Verwaltung (Weber 2001).

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tive auch wahrgenommen wird, wird dort deutlich, wo sie keinesfalls produktiv, sondern im Gegenteil als Ursache für negative, weil konfliktträchtige Entwicklungen identifiziert wird. In dieser Perspektive stehen die Herausforderungen im Vordergrund. Der Migrationsforscher Wilhelm Heitmeyer (Heitmeyer/Dollase/Backes 1998) wendet gegen den Lobgesang städtischer Diversität kritisch ein, dass dies weniger mit Vielfalt als mit Segregation zu tun habe. Denn gerade in der Stadt sei es möglich, „monokulturelle“ Bedingungen in ethnisch entmischten Wohnvierteln zu schaffen. Es gehe weniger um erlebte als um eine konsumorientierte Vielfalt, weil Kontaktflächen selektiv hergestellt werden könnten und Integrationsleistungen nicht abverlangt würden. Lediglich in einigen wenigen Bereichen wie der Schule seien diese unumgänglich (Heitmeyer 1998: 445). In diesem Zusammenhang verweist er auf die Raumqualität urbaner Quartiere, die unbedingt in wissenschaftliche Analysen von Segregation einzubeziehen seien. Dabei geht es ihm weniger um die Bausubstanz von Wohnungen, die häufig genug Faktor für ethnische und soziale Entmischungen ist, als vielmehr um jeweils unterschiedliche Zuschreibungsprozesse, Raumdefinitionen und -praktiken von einzelnen Bevölkerungsgruppen in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. Häufig regiere das Prinzip der Störungsvermeidung und werde zum Anlass für Wegzug als Ausgangspunkt für Segregation (Heitmeyer 1998: 450), etwa dort, wo an sommerlichen Abenden das Familienleben auf den Balkon verlagert wird oder Jugendliche Plätze und Straßen als Treffpunkte nutzen. Der Rückzug in ethnisch und sozial entmischte, also monokulturelle Quartiere, wird so als Ausgangspunkt einer Krise der Städte angesehen (Heitmeyer/Dollase/Backes 1998). Die produktive Nutzung von kultureller Vielfalt, so wird aus diesen kritischen Anmerkungen deutlich, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, die sich überall dort einstellt, wo in großer Dichte hohe Diversität herrscht. Konflikte und Reibung, die als Ausgangspunkt für konstruktives Miteinander oft unumgänglich sind, scheinen gerade auch in städtischen Kontexten des 21. Jahrhunderts vermeidbar geworden und wenig erwünscht zu sein. Unabhängig davon, ob man diese Diagnose urbaner Lebensformen teilt, verweist sie doch darauf, dass Vielfalt alleine nicht schon zu einem „cultural swirl“ mit kreativer Leistung führt. Die eingängige Metapher der „cultural flows“ (Hannerz 1997), die

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zum Synonym kultureller Globalisierung geworden ist, ist in diesem Sinne wenig hilfreich, appelliert sie doch an Vorstellungen von fluider, reibungsfreier Verbreitung und gibt wenig Auskunft über Logiken der Verbreitung, über Konflikte und Verweigerungen oder auch nur die Notwendigkeit von Aushandlungs- bzw. Adaptionsprozessen. „Cultural flows“ sind keine Zwangsläufigkeiten, die sich ungehindert mit der Globalisierung einstellten; stattdessen ist von einem Neu-Arrangement spezifischer Formationen (Appadurai 1991) nach ganz unterschiedlichen Interessen, Imaginationen und Anlässen auszugehen, deren Konstitutionsbedingungen zudem hochgradig kontingent sind. Wer also die Dynamiken ergründen will, die im Kontext kultureller Vielfalt kreative Potentiale fördern können, wird konkrete Praktiken, insbesondere interkulturelle Kontaktzonen, Interaktionen wie auch die Akteure selbst in den Blick nehmen müssen.5

3. Interaktion zwischen kulturell diversen Akteuren Auf die große Bedeutung von Interaktion als Ausgangspunkt kreativer Entwicklungen und damit auch für städtische und regionale Innovationsdynamiken verweisen eine Reihe von Begrifflichkeiten, die in der Stadt- und Regionalforschung verwendet werden: Führungsvorteile, Kontaktzonen, regionale Absorptionsfähigkeit, „cultural bazaar“ (Gaon 2006), „moving metaphors“ (Löfgren 2000) und andere Konzepte mehr, die je nach disziplinärer Tradition variieren. Der englische Regionalforscher Philip Cooke geht davon aus, dass wir in einem Zeitalter der interaktiven Innovation leben und regionale Beziehungen dabei eine ganz besondere Rolle spielen. Aufgrund von Forschungsergebnissen einer europaweiten Vergleichsstudie zu Innovationsregionen, in der auch nach Kooperationsbeziehungen sowie „sourcing inputs“ gefragt wurde, kommt er zu der Einschätzung: „We may say that the region is at the heart of interactive innovation.” (Cooke 2002: 5

Zu ähnlichen Befunden kommt auch die wirtschaftsbezogene Regionalforschung, die feststellt, dass die Existenz von Clustern nicht schon bedeutet, dass Interaktion zwischen den diversen Akteuren aufkommt und zu lokalen Lernnetzwerken führt (Giuliani 2005).

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201) Sogar „informelle“ Beziehungen, die sich über Schattenmärkte ergeben, gelten inzwischen als produktiver Interaktionsmodus (Goan 2006), wobei es einerseits erstaunt und andererseits dann doch kaum wundert, dass diese Form gerade im Zusammenhang mit illegaler Migration thematisiert wird. Die herausragende Bedeutung, die der Interaktion und Vernetzung für kreative Prozesse zugeschrieben wird, ist bisher jedoch kaum in interaktionsbzw. kommunikationsanalytische Perspektiven gemündet.6 Eine wesentliche Dimension, die im Zusammenhang mit Intensität und Dichte von Interaktion thematisiert wird, ist deren Qualität. Eingebettet in eine Kooperationskultur oder auch in eine Konkurrenzkultur kann der Effekt intensiver Interaktion ganz unterschiedlich sein. Erst eine Kooperationsorientierung im gegenseitigen Umgang, die sich in vertrauensvoller Zusammenarbeit, im Wohlbefinden der Mitarbeiter, in der Offenheit gegenüber Einflüssen von Außen, Interesse an neuem Wissen, Lern- und Konsensorientierung und der Fähigkeit zur assoziativen Erzeugung von Anschlüssen ausdrückt, ermöglicht interaktive Innovation, die auch zu systemischen Verbesserungen führt. Konkurrenzkulturen hingegen bringen vor allem solitäre Erfindungen hervor, wie sie heute immer seltener sind (Cooke 2002: 184). Für das Herstellen von Interaktionsdynamiken sind nicht zuletzt Akteure notwendig, die in der Lage sind, durch das Knüpfen von Netzwerken viele unterschiedliche Gruppen und Personen in Aktivitäten vor Ort einzubinden7 und in unterschiedlichen Kontexten zu überzeugen.8 6

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Auch Mahnken (2006) konstatiert dieses Defizit im Kontext seiner Überlegungen zur Vermittlung von überzeugenden Raumbildern als Steuerungsinstrument für regionale Identitätsprozesse; auch kritisiert er in diesem Zusammenhang die ökonomischen Ansätze der Markenkommunikation, die im Zusammenhang mit stadträumlichen Entwicklungen zu verkürzt argumentierten. Das Knüpfen von Netzwerken kann mit Pierre Bourdieu als Akkumulation von sozialem Kapital verstanden werden, das dann wiederum einsetzbar ist, um ökonomisches oder auch kulturelles Kapital (Bildung und Kulturgüter) zu erwerben (Bourdieu 1983). Mahnken (2006: 6) spricht beispielsweise im Zusammenhang mit Profilbildungsprozessen von Regionen davon, dass Akteure und kommunikative Netzwerke in der Lage sein müssen, mit ihren Strategien und Instrumenten heterogene Teilöffentlichkeiten zu integrieren und zu überzeugen.

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Welche Kompetenzen Akteure mitbringen, die sich in diversen kulturellen Milieus bewegen können, hat Hannerz für Kosmopoliten formuliert – und dabei Weltenbummler im Sinn gehabt, also Menschen, die weltweit reisen. Was dabei als Merkmale kultureller Kompetenz skizziert wird, liest sich darüber hinaus als hochgradig nützlich für alle kulturell diversen Alltagskontexte. „There is the aspect of a state of readiness, a personal ability to make one’s way into another culture, through listening, looking, intuiting, and reflecting. And there is cultural competence in the stricter sense of the term, a built-up skill in manoeuvring more or less expertly with a particular system of meanings.” (Hannerz 1996: 103) Voraussetzung für eine kosmopolitische Orientierung ist die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Hannerz (1996) beschreibt dies als eigentümliche Mischung aus „mastery“ (Meisterschaft/ Herrschaft/Beherrschung) und „surrender“ (Hingabe), wobei er dem Kosmopoliten eine narzisstische Ader zuschreibt, die ihn immer wieder Selbsterfahrung im Spiegel anderer Kulturen suchen lässt. Allerdings ist der Kosmopolit aus dieser Sicht nicht auf Vermischung aus, sondern kennt stets den Weg aus der fremden Kultur hinaus. Es geht ihm eher um eine idiosynkratische Sammlung kultureller Erfahrung als um die Vermischung kultureller Praktiken und symbolischer Formen. Die Migrationsforscherin Ayüe Çaùlar, die nicht Weltenbummler, sondern interkulturelle Begegnungen unter Bedingungen der Sesshaftigkeit in Berlin untersucht hat, also in einem Setting, das der hier verfolgten Fragestellung näher ist und das zugleich eine gewisse Unvermeidlichkeit interkultureller Begegnung bedeutet, erkennt auch bei den Mitgliedern der von ihr erforschten Gruppe der Deutschtürken eine kosmopolitische Orientierung. Allerdings macht sie diese im Gegensatz zu Hannerz an einem spielerischen und kreativen Set von „crossovers“ zwischen Deutsch und Türkisch fest, die eine neue Sprache generieren und nicht an der Idee eines „ursprünglichen Zuhause“ festgehalten hätten (Çaùlar 2002). Hier ist es also gerade die Fähigkeit, kulturelle Formen zu vermischen und damit eine eigenständige Position – jenseits von Assimilation an die Gegebenheiten in Berlin und rückwärtsgewandter Gebundenheit an die Traditionen türkischer Heimatorte – zu entwickeln, in denen sich nach Çaùlar kosmopoli-

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tische Orientierungen ausdrücken (vgl. auch Çaùlar 1998; Pécoud 2004).9 Auch wenn solches „cultural borrowing“ als ein Originalmodus jeglicher kultureller Praxis und nicht als Ausnahmefall zu verstehen ist (vgl. u.a. Nederveen Pieterse 2007), so ist dieser Prozess doch bemerkenswert und aufschlussreich, gerade wenn es um regionale und urbane Innovationsdynamiken geht. Der kubanische Ethnograph und Schriftsteller Fernando Ortiz hat diese Generierung von Neuem aus der unter Konflikt und spezifischen Machtverhältnissen entstehenden Vermischung verschiedener kultureller Traditionen mit dem Begriff der Transkulturation belegt (Ortiz 1995 [1940]), um gegenüber der allgemein üblichen Bezeichnung der Akkulturation von Zuwanderungsgruppen auf die Wechselseitigkeit der Anpassung und der Übernahme kultureller Repertoires zu verweisen. Anders als nach der Lesart solcher Mischungsprozesse durch Homi Bhabha (2000), dem die ursprünglichen Traditionen einmal entstandener Hybridität bedeutungslos erscheinen, werden hier gerade diese als wesentlicher Ausgangspunkt für Neuerungen verstanden, sind doch sie dafür entscheidend, welche Optionen des Anschlusses in der Interaktion verschiedener Gruppen zur Wahl stehen und unter welchen Umständen diese hergestellt werden.10 Dass für solche Einschätzungen gute Kenntnisse lokaler Kultur notwendig sind und auch der Erfindungsreichtum lokaler Akteure nicht zu unterschätzen ist, wird am Beispiel der LingerieProduktion Syriens deutlich (Halasa 2008). Aus der Sicht und mit dem Vorverständnis westlicher Beobachter zunächst schwer nach

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An dieser Stelle wäre zu prüfen, inwieweit beide Varianten unter dem Begriff des Kosmopolitismus zu subsumieren sind oder ob die von Çaùlar beschriebene Version nicht sinnvoller mit dem Konzept der Transkulturalität zu fassen wäre. Dieser notwendigen Klärungsarbeit stehen nicht nur ein relativ knapper Raum und ein anders geartetes Ansinnen dieses Beitrags entgegen. Auch die weitgehende Unschärfe in der Ausarbeitung beider Konzepte macht dies zu einem schwierigen Unterfangen. 10 Das Verständnis von Transkulturalität, das der Philosoph Wolfgang Welsch unabhängig von den Überlegungen durch Ortiz entwickelt, zielt darauf, die generell hybride Verfasstheit von Kulturen auch theoretisch im Kulturbegriff zu verankern (Welsch 1995).

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vollziehbar, hat sich in der islamischen Kultur Syriens eine Lingerie-Produktion entwickelt, die in ihrer Raffinesse der französischen wohl nicht nachsteht, zudem inzwischen auch eigene Designs entwickelt werden, welche in Farb- und Formenreichtum die französischen Vorbilder noch zu übertreffen scheinen. Bemerkenswert ist dabei, dass die syrische Lingerie nicht nur vor Ort in kleinen Handwerksbetrieben produziert wird, sondern auch frei sichtbar für alle auf Basaren ausgestellt und gehandelt wird. Nicht selten werden dabei die vorwiegend weiblichen Kundinnen von männlichen Ladenbesitzern beraten. Für das Verständnis von Interaktion unter Bedingungen kultureller Diversität ist das Beispiel in verschiedener Hinsicht interessant. Es zeigt, dass durch geschickte Deutungsarbeit – die in diesem Fall für Außenstehende ganz erstaunliche Argumente ins Feld führt, wie das geringer werdende Interesse der Ehemänner an Prostituierten – und Berücksichtigung von bestehenden Bedürfnissen auch Ressourcen für lokale Handlungsfelder erschlossen werden können, die zunächst grundsätzlich unvereinbar mit der dominierenden lokalen Weltanschauung bzw. Kosmologie erscheinen mögen.11 Kosmolo11 Auch hier bietet sich nochmals eine theoretische Einlassung zum Begriff der Transkulturalität an. Vor dem Hintergrund, dass „cultural borrowing“ ein Originalmodus kultureller Praxis ist und damit jegliche Übernahme von symbolischen Elementen und Praktiken aus fremden Kontexten schon Bestandteil dessen ist, was mit dem Kulturkonzept zu fassen ist, macht es wenig Sinn, hierfür einen weiteren Begriff zu generieren. Wie wenig erhellend ein inflationärer Gebrauch des Begriffs der Transkulturalität ist, wird insbesondere dort deutlich, wo jegliche Begegnung distinkter Gruppen als transkulturelles Geschehen interpretiert wird. Selbst das Tragen von schwarz-rot-goldenen Blumenketten nach Art der Südsee-Bevölkerung, das sich hierzulande im Zuge von internationalen Fußball-Events eingebürgert hat, wäre dann schon als transkulturelle Praktik zu bezeichnen. Solche inklusiv angelegten Modi der Benennung bedingen, dass die begriffliche Trennschärfe verloren geht. Jegliche Diffusion von Artefakten, Praktiken und Deutungen wird damit als transkulturell definierbar. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun grundsätzlich fragen, ob ein Begriff der Transkulturalität überhaupt notwendig ist, wenn der Kulturbegriff doch schon die Übernahme fremdkultureller Formen einschließt. Die Einführung einer neuen Terminologie macht in der Tat nur dann Sinn, wenn damit ein neuer Sachverhalt zu bezeichnen ist oder mehr Eindeutigkeit gewon-

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gien geben Menschen Orientierung in ihrer Einschätzung von Neuem und helfen ihnen dabei, Gutes und Falsches, Wichtiges und Unwichtiges, Verwertbares und Redundantes zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die kreativen und kommunikativen Leistungen, die in einem solchen Prozess der Vermarktung von Lingerie in einem islamischen Land zu erbringen sind, beachtlich sein werden. Kulturelle Wissensbestände und Erfahrungen über das Leben einer Frau unterscheiden sich im islamischen Syrien und im europäischen Frankreich ganz enorm oder sind gar gegensätzlich; dennoch gelingt es in einem kosmopolitischen Brückenschlag, kulturelle Praktiken französischer Lingerie-Verwendung und -Produktion aufzugreifen und lokal einzubetten. Unabhängig davon, welcher der beiden Deutungen von Kosmopolitismus man folgen oder ob man unter Umständen auch eine Synthese beider Modi als sinnvoll erachten mag, scheinen doch beide Haltungen für die Interaktion in kulturell vielfältigen Umgebungen hochgradig hilfreich zu sein. Wer in heterogenen Netzwerken die Jonglage kultureller Codes à la Hannerz beherrscht, ist in der Interaktion mit Akteuren aus diversen Kontexten sicher im Vorteil. Wer, wie von Çaùlar beschrieben, zudem die Fähigkeit besitzt, kulturelle Symbole und Praktiken in eigene Repertoires einzubauen, diese damit anzupassen, zu ergänzen und zu erweitern, in diesem Prozess vielleicht auch gänzlich Neues zu generieren, wird ebenso einen wesentlichen Beitrag für lokale Wissensgenerierung wie auch den Anschluss an globale Ideen und Konzepte leisten können. Wesentlich erscheint, dass beide Vorstellungen von kosmopolitischen Kompetenzen jeweils ein

nen werden kann. Die Rede von Transkulturalität hat deswegen vor allem dort Berechtigung, wo tatsächlich Ungewöhnliches entsteht, etwas nicht Erwartbares geschieht und neue Qualitäten generiert werden, wie im geschilderten Fall die Herauslösung und Neudeutung von Wissensbeständen widersprüchlicher kosmologischer Ordnungen. Überträgt man solches Vorgehen auf den oben erwähnten Blumenschmuck der Fußballbegeisterten, so wäre dieser wohl kaum im Sinne einer Transkulturalisierung, sondern eher im Sinne einer Erweiterung des Begrüßungsrepertoires zu sehen, da eine explizite Herausforderung kosmologischer Ordnungen, indiziert durch die Notwendigkeit einer begleitenden Deutungsstrategie, nicht gegeben ist.

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gewisses Maß an Verinnerlichung sowohl von kulturellen Repertoires als auch von spezifischen Haltungen im Umgang mit Diversität beinhalten. Sie könnten somit unter Anschluss an die Bourdieu’sche Feldtheorie mit dem Begriff des kosmopolitischen Habitus belegt werden, der hier im Sinne von Çaùlar explizit auch Lebensstile jenseits bürgerlicher Orientierungen und mit geringeren Einkommensverhältnissen einschließt. Wesentlicher Gewinn einer solchen Perspektive im Hinblick auf die Frage nach den kulturellen Potentialen von Städten und Regionen wäre, dass damit die habituellen Dispositionen der hier lebenden Gruppen in den Blick kommen, also auch verfügbare Kompetenzen und Wissensbereiche, an die sinnvoll in Prozessen der Neuerungen angeschlossen werden kann, die andererseits aber auch Interaktions- und Handlungsmöglichkeiten begrenzen (Bourdieu/Kremnitz 1990; Bourdieu/Schwibs/Russer 1982). Habituelle Perspektiven auf die Akteursgruppen legen dabei nicht zwangsläufig eine Containermetapher von Raum zugrunde, sondern lassen sich vielmehr verschränken mit sozialräumlichen Konzepten, die im Sinne eines Stadthabitus (Lindner 2003) Raum als von sozialen Akteuren symbolisch und auch materiell produziert verstehen.12 Ein kosmopolitischer Habitus bei Akteuren eines Sozialraums, welcher in diesem Abschnitt als Ausgangspunkt bzw. Voraussetzung für eine produktive Entfaltung kultureller Diversität erkennbar wurde, kann somit nicht unabhängig von räumlichen Strukturen zur Wirkung kommen. Im Folgenden soll deswegen erkundet werden, in welchem Zusammenhang die Habitƈs von Individuen einerseits und von Städten bzw. Regionen anderseits stehen und welche Merkmale den Habitus einer kosmopolitischen Stadt bzw. Region charakterisieren.

12 Lindner (2003) verdeutlicht diese enge Verbindung am Beispiel des Ruhrgebietes, in dessen Städten sich die hier vorherrschende Arbeiterkultur in vielfältiger Weise im Sinne einer „Geschmackslandschaft“ eingeschrieben hat, die im Sinne von Bourdieu dadurch bestimmt ist, was man hat und was man ist. Nicht NobelRestaurants, sondern Imbiss-Stände, nicht Konsumtempel, sondern Discounter, nicht Villenviertel, sondern Arbeitersiedlungen prägen so die Stadtgestalt.

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4. Räume als Wissensspeicher und Interaktionsanlässe Es ist dem Wesen des Habitus eigen, dass er sich anderen mitteilt. Einwohner wie auch Städte und Regionen – auf die sich der Ansatz des Stadthabitus zweifellos übertragen lässt – informieren durch ihre Erscheinung, ohne große Worte machen zu müssen (oder auch zu können), diejenigen, die ihnen begegnen, en passant darüber, was sie sind und was sie können. Lokale Orientierungen, Kompetenzprofile und Geschmackslandschaften sind nicht zu leugnen, weil sie in der Erscheinung der Akteure und auch in der Gestalt des Raumes gespeichert sind.13 „Eine soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz. In der Disposition des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt.“ (Bourdieu/Schwibs/Russer 1982: 279)

Greift man diese kommunikative Dimension des Habitus auf, so können die mitgeteilten Merkmale zum Material für kulturelle Produzenten werden. Für kulturelle Produktionen sind solche Informationen, die sich en passant mitgeteilt haben, allerdings nicht 13 Den Gedanken, dass städtische Funktionen in den gebauten Raum eingeschrieben sind und über diesen mitgeteilt werden, formuliert unter anderem auch Richard Sennett, der eine historisch angelegte Perspektive auf Stadtgestalten mit dem Ziel durchgeführt hat, „die Architektur, die Planung, das Erscheinungsbild und die Ereignisräume der Stadt in einen Zusammenhang mit ihrer kulturellen Formensprache zu stellen“ (Sennett 1991: 15). Auch er besetzt Diversität – auch solche, die nicht gefällt und deswegen auffällt – im urbanen Umfeld positiv, wenn er die Stadt als Kultivierung des Unterschieds durch die Beherzigung des Unvertrauten, des Fremden und des Befremden bezeichnet. Die wechselseitige Verschränkung von Raum und Wissen gehörte allerdings lange nicht zur vorherrschenden Perspektive in der sozialwissenschaftlichen Forschung. „Raumvergessenheit und Informationsgesellschaftsparadigma bildeten in diesem Sinne bis Ende der 1990er eine unheilige Allianz.“ (Matthiesen 2007: 648)

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mehr als erste Hinweise auf komplexe Wissensbestände und -strukturen, die sich dem Bourdieu’schen Theoriegebäude zufolge auch als Kapitalien für die weitere Gestaltung des jeweiligen Sozialraums verstehen lassen.14 Vielfältige Wissensformen sind hier einzubeziehen: Museen, Bibliotheken und andere Archive mediatisierter Wissensrepräsentationen zählen hierzu ebenso wie gebaute Umwelt oder Kulturlandschaften. Derart vorhandene Wissensbestände entfalten ihre Wirkung nicht automatisch. Erst in interaktiven Prozessen der Sinnerschließung können diese für spezifische Interessen und Entwicklungsaufgaben nutzbar gemacht werden. Es bedarf also der Akteure, die dieses Wissen mobilisieren, in Umlauf bringen und als Material für Zukunftsentwicklung ins Spiel bringen können. Wie Stadtentwicklung sich auf solche Wissensspeicher im Stadtraum beziehen und diese im Sinne einer Ressource aktivieren kann, zeigt eine Studie zur Verwendung historischer Bilder Dresdens im Kontext der Diskussionen um die Gestaltung der Stadt (Christmann 2008). Die Visualisierung von Ansichten aus der Zeit vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wird hierin als wichtige Quelle für Dresdens Image eines architektonisches Kunstwerks identifiziert. Dieses Selbstverständnis hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Stadt eingeschrieben. „In this context the visualizations of old sights of the city may be supposed to have played a significant role. They made sure that the concrete design of buildings and sights of the city could be passed on as a visual experience that escaped destruction. These visualizations, however, ought not to be looked at in an isolated way. They are embedded into the verbal discourse on buildings, into various kinds of communication, where their meaning is negotiated. Together with regularly em-

14 Hierfür müssen diese in symbolisches Kapital umgewandelt werden, dessen Verfügbarkeit eine generelle Voraussetzung ist, um die jeweiligen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien zur Geltung zu bringen: „Wenn man weiß, daß symbolisches Kapital Kredit ist und dies im weitesten Sinne des Wortes, das heißt eine Art Vorschuß, Diskont, Akkreditiv, allein vom Glauben der Gruppe jenen eingeräumt, die die meisten materiellen und symbolischen Garantien bieten, wird ersichtlich, daß die (ökonomisch sehr aufwendige) Zurschaustellung des symbolischen Kapitals einer der Mechanismen ist, die (sicher überall) dafür sorgen, daß Kapital zu Kapital kommt.“ (Bourdieu 1987: 218)

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phasizing the aesthetic nature and cultural significance of the buildings, historic photographs of Dresden influenced the construction of ,mental images‘ of the city. By way of a distinctive verbal and visual discourse the historic sights of the city even became an effective model for urban development. Thus, we can explain why it was that after the Second World War GDR plans, which aimed at extendedly clearing away the ruins and reconstructing a new, socialist Dresden, were thwarted by the resistance of the inhabitants of the city.“ (Christmann 2008: 29)

Das Beispiel aus Dresden zeigt, wie Handlungsoptionen unter Bezug auf lokale Traditionen entwickelt werden und wie diese sich umgekehrt auch wieder auf historische Ausgangspunkte beziehen müssen, also einschränken, um als eine von möglichen Zukünften Akzeptanz zu gewinnen. In Bildern kodifiziertes Raumwissen spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dieses Raumwissen hat im Fall von Dresden eine hohe Passung mit den Raumwahrnehmungen vieler Bürger und damit wohl auch den habitualisierten, raumbezogenen Wissensformen der hier lebenden Individuen. Solche Habitualisierungen sind als Wissen verinnerlicht und können damit nur schwer vergessen oder ersetzt werden, sie sind in Verhandlungen über städtische Entwicklungen kaum hintergehbar.15 Es wird mehr noch deutlich, dass die Erschließung von Wissen aus örtlichen Archiven kaum als solitäre Aktion gedacht werden kann, sondern an die Interaktion in Netzwerken gebunden ist, die diverse Akteure und Interessenlagen miteinander verbinden, wie auch vermögen, eine Öffentlichkeit für diese Wissensbestände herzustellen und diese dort kursieren zu lassen. Erst indem sie eine größere Zahl an Akteuren erreichen, können sie wirksam werden.

15 Beeindruckend verweist die Studie somit auch auf die soziale Substanz dessen, was die wirtschaftsbezogene Raumforschung mit dem Begriff „sticky“ zu fassen versucht, also jene Beständigkeit, die für langfristige Bindungen an einen Ort sorgt. Stickyness, so die hier ableitbare These, kann dort entstehen, wo Raumgestalt als Wissensspeicher, die raumbezogenen Praktiken der hier lebenden und wirtschaftenden Menschen sowie deren Raumwahrnehmungen eine hohe Passung aufweisen, sich also immer wieder im Sinne eines Reservoirs neu aufeinander beziehen können und damit Bindung erzeugen.

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Interaktive16 Praktiken, die sich auf in den Raum eingeschriebenes Wissen beziehen und dieses als Material für die symbolische Produktion – im Sinne einer plausiblen Selbstauslegung lokaler Identität – zur Verfügung stellen, bilden hier den Hintergrund für neue (alte) Entwürfe der Stadtentwicklung. Der Zusammenhang von räumlichen Qualitäten und der Interaktion kulturell diverser Gruppen ist bisher in der Forschung nur selten thematisiert – und wenn überhaupt, dann mit Blick auf die Raumnutzung kulturell diverser Akteure, ähnlich der oben aus einer Problemperspektive skizzierten Position von Heitmeyer.17 Im Sinne der hier vorgeschlagenen Perspektive müsste es stattdessen mehr noch um Räume als Wissensspeicher interkultureller Erfahrung gehen, aus denen solches Wissen mobilisiert werden kann. Auch in Ländern mit langen Traditionen der Einwanderung wie Großbritannien rücken erst in jüngerer Zeit die besonderen Herausforderungen der stadträumlichen Gestaltung als eine interkulturelle Aufgabe in den Blick (Wood/Landry 2008). Leben unter Bedingungen der Diversität wurde hier wie dort bisher vor allem unter dem Paradigma der Multikulturalität gesehen, das die Spezifik der jeweiligen Gruppen im Sinne einer friedlichen Koexistenz betont. Wo

16 Es gibt Positionen, welche die Selektion von Inhalten aus einem Medium bereits als Interaktion deuten. In diesem Sinne wäre die hier beschriebene Nutzung von historischen Bildern als Interaktion zu fassen. Neuberger (2007) hingegen schlägt vor, in einem solchen Zusammenhang von Selektion zu sprechen. Zur präziseren Benennung unterschiedlicher Sachverhalte – der Abruf von Informationen aus Medien unterschiedlicher Art ist ein anderer Vorgang als eine auf Gegenseitigkeit beruhende Interaktion – ist diesem Vorschlag viel abzugewinnen. In dem hier beschriebenen Zusammenhang sind Abruf von Informationen aus Medien und diskursive Aktivitäten in Netzwerken ineinander verschränkt, so dass unter Einbeziehung dieser Gesamtperspektive hier tatsächlich die „Interaktivität“ im Vordergrund stehen soll. 17 Dabei spielen räumliche Praktiken für die Wissensgenerierung eine erhebliche Rolle, worauf nicht zuletzt die pädagogische Erforschung von Lernorten hinweist. Raumpraktiken und Wissensgenerierung sind auch überall dort ein Thema, wo es um Praktiken der Globalisierung zwischen Lokalisierung und Entbettung geht. Solche transkulturellen Modi der Wissensproduktion werden allerdings meist analysiert, ohne zugrunde liegende Raumpraktiken explizit analytisch zu bearbeiten (Koch 2008).

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dies nicht gegeben ist, werden auch Möglichkeiten der Organisation einer solchen thematisiert, jedoch weniger die produktiven Dynamiken zwischen den Kulturen in den Blick genommen (Bukow et al. 2001; Eade 1996). In den kulturell diversen Städten selbst wird eher die kulturelle Vielfalt zur Vermittlung urbaner Buntheit stadtpolitisch inszeniert, als dass die spezifischen kulturellen Bedürfnisse der jeweiligen Gruppen aufgegriffen und auch im umfassenderen Sinne als produktive Potentiale für die Stadtgestaltung verstanden werden (Welz 1996). Der Gedanke, Interkulturalität auch als Leitbild städtebaulicher und genereller urbaner Entwicklungslinien aufzugreifen, beispielsweise durch die Gestaltung oder Analyse interkultureller „trading zones“ oder „fusion zones“, ist vor diesem Hintergrund noch kaum als Option wahrgenommen worden – selbst dort noch nicht, wo lange Einwanderungstraditionen bestehen.

5. Fazit: Urbane „Interaction Scapes“ Die hier vorgestellte Perspektive auf das kulturelle Potential von Sozialräumen folgt der Auffassung, dass es mehr noch als um die Existenz von kulturellen Ressourcen wesentlich um die Mobilisierbarkeit bzw. dann tatsächlich erfolgte Mobilisierung eines in der Regel umfangreichen optionalen Repertoires geht. In der KoEvolution von Raum und Wissen haben solche kommunikativen Prozesse eine Schlüsselfunktion, die, Wissen aus kulturellen Kontexten herauslösend, den Fokus auf die Prozesse der Mobilisierung von Wissen im Übergang zur Information lenken. Eine solche Mobilisierung kann allerdings nicht ausschließlich diskursiv erfolgen, also im Symbolischen verhaftet lediglich einen neuen Rahmen der Selbstdeutung zur Verfügung stellen. Dieser wird erst in dem Maße zu Innovationsdynamiken führen, wie er auf Materielles Bezug zu nehmen und dabei auch Konsequenzen hervorzurufen vermag, die sich materiell niederschlagen. Nur wenn Deutung und materielle Grundlage auch in einem tatsächlich sinnhaften Zusammenhang stehen, können neue Selbstsichten auch wirksame Leitbilder für innovative Dynamiken werden. Neben den Aspekten der Technologien, der Talente und der Toleranz, die Akteure in einen Raum bringen, ist die Qualität des Raumes selbst ganz entscheidend, wie auch die auf ihn bezogenen

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Praktiken in einer Bestimmung des kulturellen Potentials unverzichtbare Elemente darstellen. Um räumliche Qualitäten und Kompetenzen von Einwohnern als Potential für zukünftige Entwicklungen zu entfalten, kommt kulturell kompetenten Akteuren eine Schlüsselrolle zu. Denn um neue Dynamiken in Gang zu setzen, bedarf es der Personen, die ideenreich initiieren, in Netzwerken zwischen diversen Gruppen mediieren und einen interaktiven Prozess zwischen vielfältigen Akteuren in Gang halten können. Diverse Wissensbestände sind dabei aus ihrer kulturellen Bindung zu lösen, durch eine solche Entbettung oder auch Übersetzung für eine Vielzahl an verschiedenen Akteuren als Material für kreative Produktionen verfügbar zu machen. Durch eine neuerliche Einbettung dieser neuen Kreationen in konkrete Zusammenhänge können diese wiederum in lokalen Kontexten wirksam werden. Interaktion, Transformation, Adaption, Übersetzung, Vernetzung und Reibung sind Schlüsselbegriffe solcher kreativer Umgebungen. Sie signalisieren zugleich, dass die prominente Idee der „cultural flows” als Leitbild für die kreativen Produktionen kulturell diverser Kontexte den Blick auf die eigentlichen Prozesse verstellt und in diesem Sinne aus einer Gestaltungsperspektive wenig hilfreich ist. Kulturelles Potential von Städten und Regionen erwächst durch die Menschen, die dort leben, und auch durch jene, die sich dorthin gezogen fühlen. Erst in dem Maße, wie diese den Habitus einer Stadt gestaltend aufzugreifen vermögen, kann Neues entstehen. Fähigkeiten, mit bestehenden sozialräumlichen Arrangements zu explorieren, mit diesen zu experimentieren und – Bezug nehmend auf diese – auch Neues zu etablieren, können sich dort besonders gut entfalten, wo sie zum einen auf eine anregende Umgebung mit einer großen Vielfalt an unterschiedlichen materialisierten Wissensformen wie Institutionen, Wirtschaftsformen, Stadt- und Kulturlandschaften, Archiven und Büchereien etc. treffen und zum anderen diese mit einem kosmopolitischen Habitus in der Bevölkerung einhergehen. Interaktive Erschließung raumgebundenen Wissens kann so zum Ausgangspunkt neuer kultureller Produktionen werden, welche als neues Wissen diskursiv etabliert über die damit verbundenen Praktiken auf räumliche Gegebenheiten einwirken und sich hier einschreiben.

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New York Undead: Globalisierung, Landschaftsurbanismus und der Geist der Twin Towers 1 CHRISTOPH LINDNER „A tricky business, that of understanding New York. The city is always on the move, forever shifting.“ (Mario Maffi) „Although the two towers have disappeared, they have not been annihilated. Even in their pulverized state, they have left behind an intense awareness of their presence. No one who knew them can cease imagining them and the imprint they made on the skyline from all points of the city. Their end in material space has borne them off into a definitive imaginary space.“ (Jean Baudrillard)

Cityspace Als kontinuierlich im Entstehen begriffene Metropole stellt New York City eine stete Mahnung an die Veränderbarkeit urbaner 1

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen unter dem Titel: „New York Undead: Globalization, Landscape Urbanism, and the Afterlife of the Twin Towers“ im Journal of American Culture 31.3 (2008). Wir danken dem Journal of American Culture und dem Blackwell Verlag für die freundliche Genehmigung, den Artikel zu übersetzen und ihn auf diese Weise auch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen.

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Landschaft und an die radikale Unbeständigkeit von Städten dar. Mit den Terrorattacken 2001 wurde die Stadt zudem zu einem berühmt-berüchtigten Symbol für die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Gewalt. Diese Themen des New York nach dem 11. September fließen in ein urbanes Landschaftsarchitekturprojekt namens Lifescape ein. Seit seinem Baubeginn 2008 steht Lifescape für den ehrgeizigen und langfristigen Plan, die Müllhalde Fresh Kills auf Staten Island (Abbildung 1) in einen öffentlichen Park und ein Naherholungsgebiet zu verwandeln. Für das Interesse an dem Projekt der Sanierung einer Müllhalde gibt es zwei Gründe – beide sind verbunden mit einem weiter gefassten Interesse an der Wechselwirkung zwischen den materiellen und imaginativen Räumen der globalen Stadt.

Abbildung 1: Luftaufnahme der Fresh Kills Müllhalde, 2001. (Mit freundlicher Genehmigung Field Operations)

Erstens stellt Lifescape eine erhebliche Anstrengung dar, eine brach liegende Landschaft, die sowohl in materieller wie auch symbolischer Hinsicht mit dem belebten Raum der Stadt verbunden ist, wiederzugewinnen und wieder gestaltbar zu machen. Zweitens wurden nach dem 11. September die Trümmer von

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Ground Zero zu der Müllhalde Fresh Kills transportiert, die speziell zu diesem Zweck, die 1,2 Millionen Tonnen Material aufzunehmen, wieder geöffnet wurde. Wie ein Kommentator bemerkte, ist „Fresh Kills […] not just the place where, for more than 50 years, the rest of the city sent its potato peels, broken dishes and ever kind of household trash. For several months after the terrorist attacks on the World Trade Center, the sad bits of busted buildings and broken lives were sifted on mound 1/9 of Fresh Kills, piece by shattered piece.“ (DePalma 2004: 1)

Eine wichtige Funktion des Lifescape-Projekts besteht darin, dass es die Existenz dieser Überreste würdigt und die Vision verkörpert, den Twin Towers und der Wiedergewinnung des Landes in Form eines riesigen Erdbaumonuments ein Andenken zu setzen. Wie dieses Denkmal die Erinnerung an die Türme wachrufen und wie es die Parklandschaft mit New Yorks Stadtlandschaft erneut verbinden soll, sind in diesem Zusammenhang wichtige Fragen. Die im Lifescape-Projekt zum Tragen kommende gestalterische Vision und insbesondere die Pläne für das Erdbaumonument zur Erinnerung an den 11. September lassen Rückschlüsse darauf zu, wie die Twin Towers auch in der Gegenwart die Vorstellungswelt heimsuchen, indem sie als beinahe geisterhafte Präsenz die Skyline New Yorks prägen. Die Logik Lifescapes besteht darin, dass es die Wandelbarkeit der Stadtlandschaft gleichzeitig offenlegt und verbirgt, wodurch es nicht nur der außergewöhnlichen Wandlungsfähigkeit des Stadtraums Rechnung trägt, sondern auch die imaginativen Möglichkeiten – als Reaktionen auf ein kollektives Trauma – verkörpert, mit denen solch ein Raum im gegenwärtigen Zeitalter der „21st-century green, global connectedness“ (Hamilton 2006: 14) recycelt, erneuert und wiederhergestellt werden kann. Im Grunde steht die Müllhalde Fresh Kills auf mehrere interessante Weisen mit New York als globalem Standort in Beziehung. Die offensichtlichste Verbindung besteht darin, dass sie, als Ort, an dem die Bergung des World Trade Centers durchgeführt wurde, eine Schlüsselrolle in den staatlichen Untersuchungen der Vorgänge des 11. September spielte und damit in einem Zusammenhang steht mit den Anstrengungen, die unternommen wur-

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den, um zu begreifen, wie und warum New Yorks symbolisches Zentrum des transnationalen Kapitalismus Opfer der Terrorattacken werden konnte. Fresh Kills bezeugte auf die detaillierteste und persönlichste Art die Gewalt und den Schrecken, die bei der Zerstörung der Hochhausarchitektur der Globalisierung zum Ausdruck kamen: Über einen Zeitraum von zehn Monaten, in dem die Müllhalde Ort der staatlichen Verbrechensermittlung war, wurden die Trümmer Ground Zeros bis ins Kleinste nach menschlichen Überresten, persönlichen Habseligkeiten und Objekten des alltäglichen Lebens durchsucht und sortiert. Der daraus resultierende Prozess der Inspektion und Introspektion – in der nationalen Vorstellungswelt von den Medien und Wanderausstellungen wie der WTC Recovery Exhibition des New York State Museums angeheizt – trug dazu bei, dass eine größere Öffentlichkeit das Trauma des 11. September zu bewältigen suchte.

Abbildung 2: Blick auf Lifescape aus Südost. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Die Müllhalde Fresh Kills ist auch auf eine weitere, ganz andere Art und Weise verbunden mit New York als globaler Stadt. In ihrer Funktion als Abladeplatz für New Yorks Haushaltsmüll repräsentiert Fresh Kills seit mehr als fünfzig Jahren „the largest

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symbol of American waste“ (Hayden 2002: 62). Die Überproduktion von Müll mag vielleicht nicht zu den die Globalisierung definierenden Prozessen gehören, doch sie ist Resultat einer Kultur des unkontrollierbaren Konsums, der zunehmend die gegenwärtige Szene globaler (und globalisierter) Städte auf der ganzen Welt dominiert. Tatsächlich ist es inzwischen so, dass, wie Harold Crooks (1993), Mike Davis (2006) und andere zeigen, die Müllpolitik – die schon seit langem Städte wie New York, London, Tokyo, Lagos, Jakarta und São Paulo stark beschäftigt – unauflösbar mit der Politik der Globalisierung verbunden ist.

Abbildung 3: Die High Line, NYC, Ausschnitt. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Fresh Kills repräsentiert eine deutliche Mahnung an die materiellen Exzesse globaler Metropolen. Die vielleicht bedeutungsvollste Verbindung zwischen Fresh Kills und dem globalen Standort New York ist jedoch das Lifescape-Projekt. Der Grund hierfür liegt darin, dass Lifescape – mit seinen radikalen Plänen einer Neudefinition von Fresh Kills’ Raum und Funktion – Teil der „new spatial order“ ist, die Peter Marcuse und Ronald van Kempen (2000: 3) als definierendes Merkmal der Globalisierung von Städten seit den 1970er Jahren ansehen. Während dieser Prozess

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der Neuordnung typischerweise in der Ausweitung und stärkeren Akzentuierung räumlicher Trennung zwischen den Armen und der reichen Elite der Stadt zum Ausdruck kommt, wird er auch im Rückzug der Mittelklasse/n aus den städtischen Zentren in Randgebiete und sichere Enklaven sichtbar. Vor diesem Hintergrund und (hauptsächlich) wegen seiner Lage am Rand der Stadt kann Lifescape als ein Projekt verstanden werden, das darauf abzielt, das Bedürfnis einer räumlich separierten außerstädtischen Mittelklasse nach Erholung in der Natur zu befriedigen – und es würde damit ein etabliertes Muster der Separierung nachdrücklich bestätigen. Lifescape kann aber ebenso gut in einem positiveren Licht als Interventionsmaßnahme im Prozess der räumlichen Reorganisation der globalen (Groß)stadt betrachtet werden, die bewusst dem Trend zur Trennung in der gegenwärtigen Stadtentwicklung widersteht, indem sie einen ungastlichen, vergifteten Standort dauerhaft zur Nutzung durch die Öffentlichkeit zurückgewinnt. Auf diese Weise stellt Lifescape eine tiefgreifende Herausforderung des konventionellen Denkens über die Bedeutung von Müll (und verschwendetem Raum) in den heutigen postindustriellen Weltstädten dar. Fresh Kills ist damit ein Ort, der in einem kritischen Verhältnis zum heutigen New York steht und der von den vorliegenden Stadtentwicklungsanalysen der Globalisierungsära in der Regel übersehen wird. Als hervorstechendes Symbol der Konsumverschwendung, als ein Überbleibsel notorischer architektonischer Ruinen des neueren Kapitalismus und als Experiment einer neuen räumlichen Ordnung ist Fresh Kills jedoch mehr als nur ein kontrovers diskutierter Müllabladeplatz. Neben anderen urbanen Plätzen, wie z.B. der Wall Street oder dem Times Square, ist Fresh Kills einer der wirklich außergewöhnlichen Orte, an denen die Spannungen, Trends und Möglichkeiten der globalen (Groß)stadt auf einzigartige und bedeutungsvolle Art und Weise zusammentreffen. Bevor aber Fresh Kills und das Lifescape-Projekt in den Vordergrund der Betrachtung rücken, soll zunächst auf die Türme des World Trade Center und auf die Skyline, zu der sie gehörten, eingegangen werden; denn es ist derzeit ausgeschlossen, zeitgenössische Umbildungen der Stadtlandschaft New Yorks zu diskutieren, ohne dabei wenigstens kurz den Blick auf das Phantom der

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Twin Towers und die Bedeutung des 11. September zu richten. Da vermieden werden soll, lediglich schon Gesagtes zu wiederholen – schließlich wurde ein Großteil der wichtigsten Analysen zum Leben und Tod dieser ikonischen Gebäude in architektonischer, kultureller und historischer Hinsicht von Publikationen wie „After the World Trade Center“ (Sorkin/Zukin 2002) bereits geleistet –, werden hier im Rahmen dieser Überlegungen zunächst einige philosophische Gedankengänge zweier bekannter Außenseiter New Yorks aufgegriffen und wird dann daraus eine Idee entwickelt, die als konkreter Diskussionsbeitrag dienen kann. Die Idee besteht darin, die Skyline New Yorks als einen Schauplatz der Instabilität und Wandlung zu betrachten, der in der zeitgenössischen urbanen Vorstellungswelt Visionen hervorruft, die irgendwo zwischen dem Erhabenen und dem Unheimlichen angesiedelt sind. Dieser Gedankengang ergab sich aus der erneuten Lektüre von Michel de Certeaus Blick von oben auf Manhattan in „The Practice of Everyday Life“ (1988), dem hier im Anschluss die von Jean Baudrillard in „Requiem of the Twin Towers“ formulierte, seltsam distanziert anmutende Perspektive auf die Hochhaussilhouette gegenübergestellt werden soll. Weit entfernt davon, nichts mit den Themen „Globalisierung“ und „Müll“ zu tun zu haben, liefert dieser Exkurs in die Philosophie der Hochhausarchitektur elementare Grundlagen für die sich anschließende Analyse des Lifescape-Projekts.

Abbildung 4: Eingang Gansevoort – abgeflachte Treppe und begrünte Galerie. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

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Cityscape In „The Practice of Everyday Life“ beschreibt Michel de Certeau (1988) auf eindrucksvolle Weise die Empfindungen, die er auf der Besucherterrasse des World Trade Centers in New York in den späten 1970er Jahren hatte. Beim Anblick Manhattans vom Dach des Hochhauses stellt de Certeau fest, er sei „transfigured into a voyeur“ (92). Und unter seinem voyeuristischen Blick kommt die wogende Großstadt in einem ganzen, fassbaren Bild zum Stillstand: „Seeing Manhattan from the 110th floor of the World Trade Center. Beneath the haze stirred up by the winds, the urban island, a sea in the middle of the sea, lifts up the skyscrapers over Wall Street, sinks down at Greenwich, then rises again to the crests of Midtown, quietly passing over Central Park and finally undulates off into the distance of Harlem. A wave of verticals. Its agitation is momentarily arrested by vision. The gigantic mass is immobilized before the eyes. It is transformed into a texturology in which extremes coincide – extremes of ambition and degradation, brutal oppositions of races and styles, contrasts between yesterday’s buildings, already transformed into trash cans, and today’s urban irruptions that block out its space […] A city composed of paroxysmal places in monumental reliefs. The spectator can read in it a universe that is constantly exploding […] On this stage of concrete, steel and glass, cut out between two oceans (the Atlantic and the American) by a frigid body of water, the tallest letters in the world compose a gigantic rhetoric of excess in both expenditure and production.“ (Michel de Certeau 1988: 91)

Eines der besonderen Merkmale von de Certeaus Stadtlandschaft ist seine Beschreibung der Hochhausarchitektur in Begriffen der Bewegung und des Fließens. Und doch wirkt im Blick vom Hochhausdach der Wahrnehmung von Bewegung der Eindruck von Immobilität entgegen, so dass eine Spannung entsteht zwischen Bewegung und Stillstand. Dieses „eingefrorene Bild“ New Yorks aus der Distanz kontrastiert de Certeau dann mit dem Chaos und der Begrenztheit der städtischen Straße – also dem Raum und der Ebene des täglichen Lebens. Für de Certeau liegt die Freude am Voyeurismus gerade in der Befreiung von dem Gedränge der Straße; eine Befreiung, die in der distanzierenden, entfremdenden Perspektive des Blicks

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aus der Höhe – des Blicks vom Hochhaus – begründet liegt. Es ist jedoch fraglich, ob eine solch extreme räumliche Dichotomie zwischen den vertikalen und horizontalen Achsen der Stadt tatsächlich aufrecht erhalten werden könnte, würde sie einer genaueren Betrachtung unterzogen. Problematisch ist insbesondere de Certeaus Aussage, der Blick vom Hochhaus biete ein auch nur annähernd totalisierendes Bild der Stadt – wenn auch, wie de Certeau umsichtig hervor hebt, nur eine „imaginary totalization“ (93). Sieht man jedoch von diesem Einwand ab, so ist es de Certeaus grundsätzliche Idee, die Beachtung verdient: dass der Blick vom Hochhaus das Bild einer leeren und bewegungslosen Stadt produziert, eingefroren im Zustand unterbrochener Bewegung, gefangen irgendwo zwischen dem Leben und dem Tod. In seinem Essay „Requiem for the Twin Towers“, in dem er ihre Zerstörung kommentiert, knüpft Baudrillard (2002) an dieses Thema an. Auch wenn der Essay mit gewagten Bemerkungen darüber durchsetzt ist, dass der Zusammenbruch der Twin Towers eine Art von Suizid darstelle und die Ästhetik der „twinness“ zu einer gewaltsamen Rückkehr zu „a-symmetry“ und „singularity“ (46-47) einlade, bietet er einige kritische Einsichten: „All Manhattan’s tall buildings had been content to confront each other in a competitive verticality, and the product of this was an architectural panorama reflecting the capitalist system itself – a pyramidal jungle, whose famous image stretched out before you as you arrived from the sea. That image changed after 1973, with the building of the World Trade Center […] Perfect parallelepipeds, standing over 1.300 feet tall, on a square base. Perfectly balanced, blind communicating vessels […] The fact that there were two of them signifies the end of any original reference. If there had been only one, monopoly would not have been perfectly embodied. Only the doubling of the sign truly puts an end to what it designates […] However tall they may have been, the two towers signified, none the less, a halt to verticality. They were not the same breed as the other buildings. They culminated in the exact reflection of each other.“ (Baudrillard 2002: 42-44)

Wie zuvor de Certeau, bringt auch Baudrillard für die moderne Architektur New Yorks die Begriffe der Energie und des Chaos ins Spiel und betont die Lesbarkeit der Stadt, sofern sie aus der Distanz betrachtet wird. De Certeaus „tallest letters in the world“ (91) werden bei Baudrillard zu (ver)doppelten Zeichen. Was diese

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sich endlos spiegelnden Zeichen verkörpern, ist natürlich das gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung – und Baudrillard schließt mit der Feststellung, dieser Symbolismus sei der Grund für die Zerstörung der Twin Towers: „the violence of globalization also involves architecture, and hence the violent protest against it also involves the destruction of that architecture“ (45). Im Fall der Twin Towers ist die Verbindung zwischen Architektur, Globalisierung und Gewalt jedoch erheblich komplexer, als Baudrillards Kommentar es suggeriert. Bedenkt man die globalen Auswirkungen des 11. September, so gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Zerstörung der Twin Towers auf Faktoren zurückzuführen ist, die zwar die symbolischen Dimensionen der Twin Towers einschließen, doch auch über sie hinausgehen. So argumentiert z.B. Stephen Graham (2004) in „Cities, War, and Terrorism“, die Angriffe auf das WTC stünden auch in einem Zusammenhang mit der kulturellen und ethnischen Heterogenität der Stadt: „The 9/11 attacks can be seen as part of a fundamentalist, transnational war, or Jihad, by radical Islamic movements against pluralistic and heterogeneous mixing in (capitalist) cities. Thus it is notable that cities that have long sustained complex heterogeneities, religious pluralism, and multiple diasporas – New York and Istanbul, for example – have been prime targets for catastrophic terror attacks. Indeed, in their own horrible way, the grim lists of casualties that bright New York day in September 2001 revealed the multiple diasporas and cosmopolitanisms that now constitute the often hidden social fabric of ‚global‘ cities like New York.“ (Graham 2004: 9)

Auch wenn das Argument, seine kulturelle und ethnische Heterogenität habe New York zum Ziel der Angriffe gemacht, allzu sehr vereinfacht, hebt Graham hier auf einen wichtigen Aspekt des globalen Charakters New Yorks ab, der vielfach übersehen wird. Baudrillard hat diesbezüglich zumindest partiell Recht, wenn er sagt, die Twin Towers selbst forderten ihre Zerstörung heraus – wenn auch nicht auf die Art und Weise und nicht aus den Gründen, die er angibt. Im Zusammenhang betrachtet, machen Baudrillard und de Certeaus Überlegungen eines der markantesten und beständigsten Merkmale New Yorks deutlich: Die Stadt hat eine der visuell beeindruckendsten und symbolisch aufgeladensten Skylines der

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heutigen Welt – und zwar in einem solchen Maße, dass, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eine Art „untotes Nachleben“ der Twin Towers möglich wird. Bemerkenswert ist, dass die Reaktionen beider Philosophen auf die Hochhäuser New Yorks sich prinzipiell darin ähneln, dass sie die Skyline als seltsam anmutende (Ver)mischung des Erhabenen (im Sinne Burkes als eines ästhetischen Wunders, das den Betrachter in ehrfürchtiges Staunen versetzt und ihn überwältigt) und des Unheimlichen (im Sinne Freuds als eines Bekannten, das plötzlich seltsam und fremd wird) wahrnehmen.

Abbildung 5: Beleuchtungskonzept der High Line. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Der Grund dafür, diese Beobachtungen Baudrillards und de Certeaus anzuführen, liegt darin, dass ihre urbanen Panoramen Teil einer umfassenderen Vision der Stadt sind; diese Vision wird nicht nur von vielen heutigen Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern New Yorks geteilt, sondern auch von New Yorks Department of City Planning – sie findet sich in seinen ehrgeizigen Plänen, den toten Raum der Müllhalde Fresh Kills wiederzubeleben. Anders gesagt: Der Gedanke einer urbanen Landschaft, die sich durch ihre Spannung zwischen dem Erhabenen und Unheimlichen auszeichnet, findet eine gewisse Resonanz in der Vision der

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Stadt New York – der Vision von einem neuen öffentlichen Parkgebiet auf einem Gelände, das sowohl die größte Hausmülldeponie als auch ein Hauptschauplatz der Bergung des World Trade Center war.

Lifescape Michael Bloomberg bezeichnet Lifescape im Vorwort zum Entwurf des Generalbebauungsplans des Projekts als „a green oasis for all New Yorkers“ (New York City Department of City Planning 2006: 2). Seinen befürwortenden Äußerungen folgt eine Reihe gleichermaßen gewagter und überschwänglicher Stellungnahmen verschiedener Repräsentanten der Stadt. So erklärt z.B. der Bezirksbürgermeister von Staten Island, Lifescape sei ein „simultaneous ending and beginning“ (2), ein „life within a landscape“ (2). Der Leiter des New Yorker Department of Parks and Recreation ist wiederum der Ansicht, Lifescape sei „reminiscent of the popular movements that gave rise to Central Park, Prospect Park and many of our other greatest parks“ (3) und dieser neueste grüne Ort der Stadt könne „a tangible symbol of renewal“ (3) werden. In seinem Kommentar zur kulturellen Bedeutung von Lifescape hofft der Leiter des New Yorker Department of Cultural Affairs, dass „the expansive parkland will serve as a cultural destination like no other, engaging New Yorkers and visitors in the city’s unique and vibrant creative community“ (3). Abgesehen von der positiven Wendung, die Politiker und Repräsentanten der Stadt ihren Darstellungen erwartungsgemäß geben, da hohe Ausgaben ins Haus stehen, die aus öffentlichen Mitteln bestritten werden sollen, lenkt diese Rhetorik der Erneuerung die Aufmerksamkeit auf eines der wichtigsten Merkmale des Fresh-Kills-Park-Projekts. Lifescape zielt nicht so sehr darauf ab, einen neuen Raum zu gestalten, sondern vielmehr darauf, einen toten Raum wiederzubeleben und ihn, wie im Entwurf des Generalbebauungsplans festgehalten, zu einem Ort zu machen, der „rejuvenating to the spirit and the environment“ (60) ist. Ein solches Projekt gewinnt an Bedeutsamkeit und gestaltet sich schwieriger aufgrund der Tatsache, dass dieser Standort die Trümmer des World Trade Centers beherbergt. Ein zentrales Element im Gesamtkonzept des Parks – im

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Sinne eines Bewältigungsangebotes – stellt das 9/11-Erdbaumonument des 11. September dar: ein symbolisches Zentrum, das eine wesentliche Rolle dabei spielen wird, das Potential des Projekts, den Körper und die Seele eines New York im Angesicht städtischen Verfalls und der Erneuerung nach der Katastrophe zu realisieren.

Abbildung 6: Ausschnitt des Parkinneren. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Bevor jedoch dieses symbolische Herzstück in Augenschein genommen werden kann, soll das Erdbaumonument in den größeren Kontext des Gesamtkonzepts des Parks eingeordnet und einige Fakten und Informationen zum Hintergrund des Standorts und des Projekts betrachtet werden. Die Fresh-Kills-Müllhalde auf Staten Island ist seit 1948 ein Müllabladeplatz für den Haushaltsmüll New Yorks. Die Halde erstreckt sich über ein Gebiet von 809,7 Hektar und ist damit beinahe um das Dreifache größer als der Central Park. Die Halde wurde Anfang 2001 stillgelegt und kurz darauf wieder in Betrieb genommen, um die 1,2 Millionen Tonnen Trümmer von Ground Zero aufzunehmen. Die Entscheidung, das Terrain zum Zweck der erneuten öffentlichen Nutzung wiederzugewinnen, war zu diesem Zeitpunkt schon gefallen; doch das für die Umstrukturierung von Fresh Kills gewählte Konzept wurde erst Ende das Jahres 2001 vom städtischen Bauamt bestätigt: Im Rahmen eines zweistufigen und international ausgeschriebenen Wettbewerbs für die Entwicklung eines Planungsentwurfs zum Zweck der adaptiven Verwendung des Areals wurde das Konzept

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für das Projekt Lifescape im Dezember 2001 zum Sieger gekürt. Der erste Entwurf des Generalbebauungsplans wurde 2005 fertiggestellt und die Realisierung des Projekts wurde 2008 in Angriff genommen, wobei der erste große Bauabschnitt innerhalb der folgenden zehn Jahre abgeschlossen werden soll. Für die vollständige Umwandlung des Areals, einschließlich der Wiedernutzbarmachung des Bodens, wurden dreißig Jahre angesetzt (Abbildung 2). Das interdisziplinäre Planungsteam wird von James Corner und seinem Landschaftsplanungsbüro, Field Operations, geleitet. Interessanterweise ist Field Operations auch an einem weiteren Projekt zur Wiedernutzbarmachung in New York City beteiligt. Im Rahmen dieses Projekts namens High Line (2006) soll eine nicht mehr genutzte Hochbahnanlage im Randgebiet der West Side Manhattans in einen öffentlichen Spazierweg, Garten und Park umgewandelt werden (Abbildungen 3-5). Im Konzeptpapier beschreibt Corners Team das Ziel von High Line als „the retooling of an industrial conveyance into a post-industrial instrument of leisure, life, and growth“. Corners Team betont außerdem, wie wichtig es sei, „an experience of slowness, otherworldliness, and distraction“ zu schaffen. Diese Beschreibungen gelten zwar für High Line, sie können jedoch ebenso gut auf den Fresh-Kills-Park bezogen werden. Dies ist kein Zufall. Beide Projekte, Lifescape und High Line, wurden nicht nur nach den gleichen Prinzipien entworfen, sie repräsentieren auch Beispiele eines weiter gefassten Trends in der modernen Landschaftsarchitektur, der sich dadurch auszeichnet, dass ehemals wichtige Objekte der städtischen Infrastruktur im Rahmen neuer, imaginativer und nachhaltiger Projekte für die öffentliche Nutzung wiedergewonnen werden. Dieser Trend zur kreativen, nachhaltigen Erneuerung infrastrukturellen Stadtraums zeigt sich am deutlichsten in der Vision des Lifescape-Projekts, eine Müllhalde nicht nur lediglich in eine Landschaft zu verwandeln, sondern in ein ökologisch wertvolles Parkgebiet, zu dem sowohl öffentliche Plätze als auch Spielwiesen, Geh- und Radwege, Feuchtbiotope, Wiesen, bewaldete Flächen bis hin zu Tierschutzgebieten gehören. In einem 2005 in einer Fachzeitschrift veröffentlichten Artikel über die Philosophie und die Werte, für die dieses Projekt steht, erklärt James Corner: „Lifescape is both a place and a process“.

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„Lifescape as a place is a diverse reserve for wildlife, cultural and social life, and active recreation. The aesthetic experience of the place will be vast in scale, spatially open and rugged in character, affording dramatic vistas, exposure to the elements, and huge open spaces unlike any other in the New York metropolitan region. Lifescape as a process is ecological in its deepest sense – a process of environmental reclamation and renewal on a vast scale, recovering not only the health and biodiversity of ecosystems across the site, but also the spirit and imagination of people who will use the new parkland.“ (Corner 2005: 15)

Abbildung 7: Darstellung der Anlegestelle mit Marktdach. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Abbildung 8: Darstellung der schwimmenden Gärten und Maschinenexponate der ehemaligen Müllhalde. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

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Diese doppelte Betrachtungsweise von Lifescape – als Ort und Prozess, als heilige Stätte und nachhaltiges Geschehen – kommt in den Illustrationen des Bauplans zum Ausdruck, von denen viele idealisierte Szenen pastoraler Heiterkeit und utopischer Momente der Gemeinschaftlichkeit und des Müßiggangs graphisch darstellen und die insgesamt durch die Neugestaltung der Natur und die räumliche Neuorganisation des Geländes (Abbildungen 6-8) ermöglicht werden.

Abbildung 9: Darstellung des 9/11-Erdmonuments des 11. September. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

In Anbetracht der Betonung der räumlichen und ökologischen Transformation kann in dem Plan, einen Großteil der artifiziellen Topographie zu erhalten – die durch die Müllberge, von denen einige über siebzig Meter hoch sind (Abbildung 6), entstand –, eines der interessanteren Details des Lifescape-Konzepts gesehen werden. Diese Hügel werden mit einer schützenden Polymerfolie versiegelt und mit einer dicken Schicht Erde bedeckt, um auf diese Weise die ökologische Wiedergewinnung des Gebiets zu ermöglichen. An der Oberfläche von Lifescape wird somit eine pulsierende und vielfältige Naturlandschaft entstehen – eine Idee, die bereits mit der Verwendung des Begriffs „life“ im Projekttitel zum Ausdruck kommt. Unter dieser Naturlandschaft wird sich jedoch der angesammelte Müll einer der verschwendungsfreudigsten Städte der Welt befinden. Während also Lifescape auf den ersten Blick in

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keinem Zusammenhang mit der Stadt zu stehen scheint – tatsächlich wirkt die Parklandschaft, als biete sie eine Möglichkeit zur Flucht aus den Alltagserfahrungen des Stadtraums – wird sie auf einer viel grundlegenderen Ebene trotzdem auf das Engste untrennbar mit der Stadt verbunden sein. Auf eine sehr reale Art und Weise wird diese wiedergewonnene Naturlandschaft von einer versteckten Stadtlandschaft des urbanen Mülls geformt und getragen werden.

Abbildung 10: Lage und Ausrichtung des Erdmonuments. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations)

Bestandteil dieses Mülls sind natürlich auch die materiellen Überreste der Twin Towers, derer mit dem Erdbaumonument (Abbildung 9) gedacht wird. Das Denkmal selbst wird von zwei sich neigenden Erdformen gebildet, die in ihrer Höhe und Breite beiden Türmen, würden sie auf die Seite gelegt, entsprechen. Und in einer weiteren Geste des Andenkens wird das Denkmal so an der Skyline ausgerichtet, dass es auf einer Achse mit dem ursprünglichen Standort der Türme steht (Abbildungen 10 und 11). So wird ein Panoramablick auf das weit entfernte Lower Manhattan geschaffen – ein Ausblick, der schließlich auch den Freedom Tower auf dem neu gestalteten Areal Ground Zeros einschließen wird. Entsprechend wird der neue Turm nicht nur für sich gesehen ein Monument der urbanen Erneuerung repräsentieren, sondern er

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wird, wie die beiden Hügel in Fresh Kills, auch auf die Unvollständigkeit New Yorks verweisen. In diesem Sinn ist das Erdbaumonument ein starkes Bindeglied zu dem belebten Raum der Stadt. Die Ausrichtung der Erdformen stellt einen direkten visuellen und symbolischen Zusammenhang zur Skyline New Yorks her, da sie Besucher dazu einlädt, vom Aussichtspunkt der recycelten Müllhalde auf die Stadt zu blicken. Gleichzeitig beschwört die Form des Denkmals die Herkunft der urbanen Trümmer, die ganz in der Nähe unter dem Erdboden ruhen. Es verwandelt die Landschaft in eine symbolische Grabstätte der beiden Hochhäuser der Stadt, die einst als prominenteste Ikonen der Globalisierung galten.

Abbildung 11: Earthwork. Gesamtüberblick der Region. (Mit freundlicher Genehmigung von Field Operations) Betrachtet man diese Aspekte des Denkmals im Zusammenhang, so wird deutlich, dass das Denkmal den Besuchern den Rahmen für eine Seherfahrung bereitstellt, die wesentlich mehr umfasst als nur das, was sichtbar in der Skyline Manhattans präsent ist. Das Denkmal wird auch dafür sorgen, dass die Besucher sich an die gewaltsamen urbanen Neuformungen erinnern, die sich am 11. September 2001 ereigneten, und sich diese erneut vergegenwärtigen. Eine solche meditative Erfahrung der Stadt-Schau, in deren Rahmen sich die entfremdenden Wirkungen des Blicks vom Hochhaus, wie sie de Certeau in „The Practice of Everyday Life“

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(1988) beschreibt, letztlich von der horizontalen und nicht der vertikalen Perspektiven aus einstellen, ist genau das, was James Corner (2005: 20) im Sinn hat, wenn er sich vorstellt, wie Besucher auf das Denkmal reagieren werden: „the slow, simple durational experience of ascending the incline, open to the sky and vast prairie horizon, will allow people to reflect on the magnitude of loss“. Anders formuliert, wird das Denkmal seine Besucher dazu auffordern, eine Abwesenheit zu empfinden – voyeuristisch auf eine urbane Ansicht zu schauen, die nicht mehr existiert. In diesem abstrakten Sinn sind die Twin Towers nicht vollständig aus der Skyline New Yorks verschwunden. In Fresh Kills werden sie vielmehr auch weiterhin die zeitgenössische Vorstellungswelt aufrütteln und gefangennehmen, da sie sowohl den Park als auch den Blick auf die Stadt in Gestalt ihrer geisterhaften Reinkarnationen dominieren. Mit dem Bau des Erdmonuments erhalten die Twin Towers folglich ein „untotes Nachleben“. In ihrer neuen horizontalen Form werden sie wieder einmal Sehenswürdigkeiten werden, von denen aus die ständig in Wandlung begriffenen Vertikalen der New Yorker Architektur der Globalisierung betrachtet werden können – eine Skyline, die jetzt von einer Spannung nicht nur zwischen Abwesenheit und Präsenz, sondern auch zwischen Erinnerung und Verlust, zwischen Bewegung und Stillstand und zwischen dem Geisterhaften und dem Spektakulären geprägt wird.

Landscape In seinem Essay „Scapeland“ stellt Jean-François Lyotard (1988) fest, Landschaft sei ein Übermaß an Präsenz, das zu einer Erfahrung der Entfremdung führe – die er „de’paysement“ (39) nennt. Auch wenn die Behauptung, Entfremdung sei in Landschaft angelegt, durchaus in Frage gestellt werden kann, treffen Lyotards Worte doch genau die Dynamik, die das Lifescape-Erdbaumonu ment ausstrahlt. Es ist ein Übermaß der Präsenz, das mit größter Sorgfalt entworfen wurde, um eine Erfahrung des Erstaunens und Unbehagens zu schaffen – ein Ort des urbanen Unheimlichen, ausgerichtet auf die ultimative Quelle des urbanen Erhabenen. In der Erinnerung an die Twin Towers, wie sie an ihrem ursprünglichen Standort in Lower Manhattan standen, beschreibt der Archi-

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tekturhistoriker Mark Wigley (2002) sie als „a pure, uninhabited image floating above the city, an image forever above the horizon, in some kind of sublime excess, defying our capacity to understand it“ (82). Dieses Bild der Türme als schwebendes, jenseitiges Übermaß an Präsenz, das zur Interpretation einlädt und ihr doch widersteht, ist genau das, was das Erdbaumonument wieder zum Leben erwecken will. Von ihrem neuen Standort auf Staten Island aus und ihrem neuen imaginären Dasein werden die untoten Türme auch weiterhin ihre Funktion als New Yorks mächtigstes und konfliktbeladenes Symbol der Globalisierung wahrnehmen.

Anmerkung Für ihre hervorragende Hilfe bei der Recherche für diesen Artikel möchte ich Elizabeth Bowman danken – insbesondere für das Aufspüren und Beschaffen der Illustrationen. Mein Dank gilt außerdem Field Operations, die uns diese Abbildungen großzügig zur Verfügung gestellt haben.

Literatur Baudrillard, Jean (2002): The Spirit of Terrorism and Requiem for the Twin Towers. London: Verso. Corner, James (2005): Lifescape – Fresh Kills Parkland. In: Topos. The International Review of Landscape Architecture and Urban Design 51, S. 14-21. Crooks, Harold (1993): Giants of Garbage. The Rise of the Global Waste Industry and the Politics of Pollution. Toronto: Lorimer. Davis, Mike (2006): Planet of Slums. New York: Verso. De Certeau, Michel (1988): The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press. DePalma, Anthony (2004): Landfill, Park … Final Resting Place? Plans for Fresh Kills Trouble 9/11 Families Who Sense Loved Ones in the Dust. In: The New York Times, 14.7.2004, B1. Graham, Stephen (2004): Introduction. Cities, Warfare, and States of Emergency. In: Stephen Graham (Hrsg.), Cities, War, and Terrorism. Towards an Urban Geopolitics. Oxford: Blackwell, S. 1-25.

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Hamilton, William L. (2006): A Fence With More Beauty, Fewer Barbs. In: The New York Times, 18.6.2006, D14. Hayden, Thomas (2002): Fields of Dreams. Turning „Brownfields“ and Dumps into Prime Real Estate. In: U.S. News & World Report, 13.1.2002, 132/2, S. 62. High Line (2006): Team Statement. www.thehighline.org/design/ fieldop.html, Mai 2006. Lyotard, Jean-François (1988): Scapeland. In: Revue des Sciences Humaines 209, S. 39-48. Maffi, Mario (2004): New York City. An Outsider’s Inside View. Columbus: Ohio State University Press. Marcuse, Peter/Ronald van Kempen (2000): Introduction. In: Peter Marcuse/Ronald van Kempen (Hrsg.), Globalizing Cities. A New Spatial Order? Oxford: Blackwell, S. 1-21. New York City Department of City Planning (2006): Fresh Kills Park. Draft Master Plan. www.nyc.gov/html/dcp/html/fkl/ fkl3a.shtmli, April 2006. Sorkin, Michael/Sharon Zukin (Hrsg.) (2002): After the World Trade Center. Rethinking New York City. New York: Routledge. Wigley, Mark (2002): Insecurity by Design. In: Michael Sorkin/ Sharon Zukin (Hrsg.), After the World Trade Center. Rethinking New York City. New York: Routledge, S. 69-85.

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Industriekultur: Gespeicherte Erinnerung und kulturelle s Potential CHRISTA REICHER Spätestens seit das Centre Pompidou mehr Besucher als der Eiffelturm gezählt und das Guggenheim Museum in Bilbao den so genannten „Bilbao-Effekt“ ausgelöst hat, gilt Kultur als Motor für Stadtentwicklung und urbane Regeneration. Die Wirkung des weichen Standortfaktors „Kultur“ wird verstärkt, wenn dieser mit dem Faktor „Freizeit“ überlagert wird. Aufgrund ihrer Bedeutung ist gerade die Kultur dazu geeignet, Städte und Regionen zu kommunizieren und damit zu vermarkten (Kearns 2000). Der augenblickliche Boom im Städtetourismus lässt sich auf das Anwachsen des Kulturtourismus zurückführen (Matt/Flatz/ Löderer 2001). Die weichen Standortfaktoren gewinnen also enorm an Einfluss und sind als wichtige Impulsgeber der Stadtentwicklung mitzudenken. Im Ruhrgebiet lässt sich genau diese Gesetzmäßigkeit beobachten, seit die IBA (Internationale Bauausstellung) Emscher Park den Fokus auf das industrielle Erbe als wichtiges Alleinstellungsmerkmal der Region gerichtet hat und die Hinterlassenschaften der Montanindustrie nicht mehr (nur) als Belastung, als „Altlast“, gesehen werden, sondern auch als Chance und positiver Identitätsträger für die Region. Zahlreiche Projekte bestätigen diesen Wahrnehmungswandel. Die „Route der Industriekultur“ hat sogar als Vorbild für ähnliche Projekte auf europäischer Ebene, zur „European Route of Industrial Heritage“, gedient. Und wenn in internationalen Zeitschriften davon die Rede ist, dass eine so

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genannte „Industrial Revolution“ das Ruhrgebiet in eine der attraktivsten Regionen verwandelt hat, dann bestätigt dies die Bedeutung des industriellen Erbes für einen positiven Imagewandel, selbst im internationalen Kontext (Eames 2007). Industrie und Kultur, zwei zunächst gegensätzlich erscheinende Phänomene, verbinden sich zu einem neuen spezifischen Aggregatzustand, der städtebauliche Impulswirkungen entfachen kann, zur Industriekultur. Nicht nur die Ernennung des Ruhrgebietes zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 hat den Stellenwert industrieller Hinterlassenschaften als Kulturgut gestärkt. Auch die intensive Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen und dem notwendigen Risiko, räumliche Charakteristika aufzugeben, stärken das Bewusstsein für urbane Identitäten – nicht nur im Ruhrgebiet.

1. Von der Notwendigkeit urbaner Identitäten Gehen wir einmal der Frage nach, warum sich Stadttouristen insbesondere in den historischen Innenstädten bewegen und nicht etwa in den Stadterweiterungsgebieten der 1960er oder 1970er Jahre. Auch hier gäbe es doch einiges an Gebautem zu besichtigen. Dieses Alltagsphänomen hat mit Wahrnehmung zu tun. Die konzentrierte Vielfalt von Gebautem, von prägnanten Stadträumen, beeindruckenden Fassaden und Baustilen bleibt eher in unserem Gedächtnis haften, wird eher als bleibende Erinnerung in unserem Bewusstsein gespeichert, als das Erlebnis in der „Zwischenstadt“ (Sieverts 1997), die von einer Verlandschaftung von Stadt und einer Verstädterung von Landschaft gezeichnet ist, als diffus bezeichnet wird und Prägnanz vermissen lässt. „Im Erinnern, Nachdenken und Zusammenschauen fügen sich, Gesehenes und Erlebtes, Teil um Teil im Räumlichen zusammen zu einem Gesamteindruck, zum Ganzen der Gestalt mit je besonderen und prägenden Eigenschaften“, stellt Ernst Schirmacher (1988: 20) in seinen Studien zur Gestalt der mittelalterlichen Stadt heraus. Zu einer ähnlichen Aussage kommt der Tessiner Architekt Luigi Snozzi, indem er die Städte gerne als „Orte des kollektiven Erinnerns“ bezeichnet. Die zentrale Voraussetzung für das Erinnern ist die Wahrnehmung; ohne die Wahrnehmung entstünden keine Erinnerungen.

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1.1 Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung als Voraussetzung für Identität Für die Entstehung von Identitäten ist die Wahrnehmung bedeutsam. Seit den 1980er Jahren hat der Begriff Stadt-Identität Einzug in die Diskussionen um Stadtgestaltung gehalten. Eine der grundlegenden Arbeiten in diesem Bereich hat George Herbert Mead 1973 unter dem Titel „Geist, Identität und Gesellschaft“ veröffentlicht. Nach Meads Theorie ist Identität keine angeborene Eigenschaft des Menschen. Sie wird erworben, indem ein Individuum seinen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozess innerhalb einer Gesellschaft reflektiert. Identitätsbildung erfolgt über die Kommunikation mit der Gesellschaft. Die Stadt selbst kann im ursprünglichen Verwendungskontext des Wortes keine Identität haben. Von der Stadt kann aber sehr wohl eine identitätsstiftende Wirkung ausgehen, die auch durch den „Genius loci“, also den „Geist des Ortes“ unterstrichen wird. Einer Örtlichkeit – und damit auch einer Stadt – wird im kulturellen Gedächtnis der Menschen eine Seele gegeben: Der spezifische Ort ist damit „mehr als die Summe seiner (physischen) Teile“ (Krause 1999). Städte unterscheiden sich anhand zahlreicher Merkmale, u.a. durch ihre Geschichte, ihren „Genius loci“, ihre Kultur – die wiederum von gesellschaftspolitischen Einflüssen und der stadträumlichen Erscheinung geprägt werden. Der größte Stellenwert kommt dabei solchen Merkmalen zu, „die als besonders charakteristisch und typisch angesehen werden“ (Lalli/Plöger 1991: 239). Dadurch wird eine Differenzierung gegenüber anderen Städten möglich. Die Identität befreit sich aus der neutralen Anonymität. Identität kommt in den gebauten Zeichen zum Ausdruck. Das Vorhandensein materieller Anhaltspunkte ist eine notwendige Voraussetzung für das Erinnern. Morphologische Vereinheitlichung, aber auch die Überbeanspruchung einzelner „Identitätsstifter“ in der gebauten Umwelt ermöglichen keine Erinnerung, sie erschweren das Aufkommen von Identität. Demgegenüber haben gerade die konstanten baulichen Strukturen, geprägt über Jahrhunderte, also die gebauten Spuren der Geschichte, großen Einfluss auf die Identität eines Quartiers, einer Stadt oder auch einer Region. Die Erfahrbarkeit der Vergangenheit und die Begegnung mit ihr ist elementar. Wir können von einem Grundbedürfnis nach Geschichte sprechen. Dies äußert sich in vielen Berei-

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chen: in der Sprache, im Recht, in überlieferten Schriften und in besonderem Maße im Anspruch auf eine dahingehend lesbare Umwelt. Gebaute Geschichte wird aus dieser Sicht nicht verstanden als eine Konstante, die sich über Jahrhunderte hinweg gehalten hat und auch in Zukunft unangetastet bleiben soll. An nahezu jedem Ort existieren – mehr oder weniger ausgeprägt – erkennbare und datierbare Abfolgen von Ge-Schichten. Sie stellen keine feststehende Einheit dar, sondern sie überlagern sich mit neuen Schichten. In der Konsequenz dieses Geschichtsverständnisses ist die Tradition, auf die wir uns als Orientierungsgröße berufen, immer eine Erfindung in ihrer jeweiligen Zeit gewesen. Das bedeutet nicht, dass die Tradition mit dieser Erkenntnis wertlos geworden ist, es relativiert lediglich das Verständnis von Tradition, ohne jedoch ihren Wert zu mindern. Aus diesem Geschichtsverständnis heraus ist es notwenig, Gebäude und insbesondere Denkmale in ihrem eigenen Sinn und Sinnzusammenhang zu sehen und entsprechend zu schützen. Dies gilt auch für die industriellen Bauten und die Industriedenkmäler. Die Gebäude einer Stadt könnten mit einem Schneckenhaus verglichen werden. Wie die Schnecke sowohl mit ihrem Organismus ihr Haus baut als auch ihren Organismus in der Form des Schneckenhauses abbildet, ist die geschichtlich gewachsene Stadt das geformte System von vielfältigen Sozialbezügen, ist der baulich sichtbare Teil dieser Formung nicht nur materielle Hülle, sondern auch Produkt dieser sozialen Bezüge in der ihr entsprechenden Form. In diesem Sinne ist die geschichtlich gewachsene Stadt nie nur „schön“. Sie ist Träger des „genetischen Potentials“, das sich über Jahrhunderte gebildet hat. Vor diesem Hintergrund ist die alte Stadt vor allem auch identifizierende Begründung der heutigen Stadt und informationsreicher Wegweiser in die Stadt von morgen (Mörsch 1989). Diese Werte, die eine Stadt aus ihrer Vergangenheit gewinnen kann, können auf einfachen Tatsachen fußen, z.B. einem innerstädtischen Straßen- und Platzsystem, Baumaterialien, Klima, … – Fakten, die dabei nicht nur einer Funktion dienen wie dem Handel oder der industriellen Produktion, sondern dem ganzen Wirkungsgefüge der Gesamtstadt. Die baulichen Strukturen haben sich dem Gefüge angepasst. Eine Anpassung, die nicht erst eine Aufgabe der Stadt des Industriezeitalters ist, sondern auch in den Jahrhunderten zuvor zu leisten war.

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1.2 Erweiterung des Denkmalverständnisses Vor dem Hintergrund dieses Wirkungszusammenhanges wird deutlich, dass eine Bewahrung baulicher Geschichte – die ureigenste Aufgabe des Denkmalschutzes – sich nicht nur auf ästhetische Äußerlichkeiten beziehen kann. Die materiellen geschichtlichen Spuren des Bezugssystems „Stadt“ sind zu vernetzt und zu vielschichtig, als dass man sie z.B. auf zu erhaltende Fassaden reduzieren könnte. Für denjenigen, der in der Stadt wohnt und arbeitet, sind die geschichtlichen Spuren mehr als ein kunsthistorisches Bildungsgut oder touristischer Werbeträger, sie sind ein vertrauter Verfügungsraum, ein sich mit ihm verändernder Teil seiner Welt. In diesem Zusammenhang werden auch Zugänge zu dem Begriff der „Maßstäblichkeit“ der alten Stadt sichtbar. Dieser Begriff wurde häufig reduziert auf die Bedeutung von oberflächlicher ästhetischer Manipulation, um einen Neubau nicht auf den ersten Blick in einem Altstadtgefüge auffallen zu lassen, z.B. durch übermäßige Höhe oder Breite. Maßstäblichkeit ist jedoch weiter zu fassen und betrifft den komplexen Zusammenhang unterschiedlicher Kriterien, vom Inhalt bis zur Ästhetik. So führten beispielsweise die industriellen Bauten einen neuen Maßstab in den Kontext der Stadt ein; sie hoben sich in ihren Dimensionen vom urbanen Gefüge ab. Grundsätzlich darf an der gebauten Stadt nichts völlig unberührbar sein. Mit anderen Worten: Es gibt in ihr weder Zonen, die für beliebige Ausbeutung freigegeben, noch solche, die einer totalen Immobilität ausgeliefert werden dürfen. In beiden extremen Fällen ist nicht nur der heutige Bestand der Stadt in Frage gestellt, sondern auch die Rolle der gebauten Strukturen als Potential für die Zukunft. Dieses erweiterte Verständnis von Denkmalpflege als Disziplin, die unterschiedliche Erkenntnisse und Sichtweisen integriert, ist eine wichtige Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit den industriellen Bauten und ihren Chancen für die zukünftige Stadtentwicklung.

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1.3 Kultur als Impulsgeber urbaner Regeneration Neben der Rolle, die sich die gebaute Geschichte im komplexen Wirkungszusammenhang der Stadt „erobert“ hat, richtet sich der Blick verstärkt auf den Stellenwert der Kultur in der Stadtentwicklung: „Kreative Kultur plus historische Besonderheit, das ergäbe eine glänzende Zukunft der modernen Stadt“, mutmaßen Experten (Beyer et al. 2009). Gemeint ist in diesem Kontext nicht nur die kreative Kultur. Denn von Kultur geht ein breites Spektrum an Wirkungen aus: „Kultur stiftet Sinn und Orientierung, Kultur verbindet Menschen, Kultur erhöht das lokale Kreativitätspotential, Kultur fördert Urbanität, Kultur wertet Stadtteile auf, Kultur bewahrt das architektonische Erbe, Kultur prägt und verbessert das Image der Stadt, Kultur zieht Besucher und Touristen an, Kultur erleichtert die kommunale Wirtschaftsförderung, Kultur hält qualifizierte Arbeitskräfte am Ort, Kultur ist selbst Wirtschaftspotential, Kultur schafft Arbeitsplätze.“ (Ebert/Gnad/Kunzmann 1992: 12)

In ihrer gesellschaftlichen Bedeutung dienen Kulturprojekte als Motor urbaner Regeneration und Stadterneuerung (Grunenberg 2003), weil Kultur als identitätsstiftender Faktor Stadtteile aufwerten und überkommene Bausubstanz weiterentwickeln kann. Kultur kann in unspektakulären Nischenräumen operieren oder – wie in den 1990er Jahren im Ruhrgebiet geschehen – im Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft deutliche Zeichen setzen. Kultur und Kulturen als Impulsgeber im Stadterneuerungsprozess, im Strukturwandel oder auch als Tourismuskatalysator im Wettbewerb der Städte sind seit den 1990er Jahren vielfach herausgestellt worden. Klaus Kunzmann führt den Beitrag der Kultur als Impulsgeber für die Stadtentwicklung auf sieben Leistungen zurück: „Kultur stärkt das Image einer Stadt (und umgekehrt), Kultur stärkt die Identität einer Stadt (und umgekehrt), Kultur wertet Standorte auf (und umgekehrt), Kultur unterhält (und umgekehrt), Kultur erzieht (und umgekehrt), Kultur fördert Kreativität (und umgekehrt) und schließlich stärkt Kultur sowohl die lokale als auch die regionale Ökonomie und produziert Arbeitsplätze.“ (Kunzmann 2004)

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Die bedeutsame Rolle der Kultur als Instrument städtebaulicher Planungsstrategien hat sich in vielerlei Hinsicht inzwischen bestätigt und das Ruhrgebiet nimmt in dieser Hinsicht eine aufschlussreiche Vorbildfunktion ein. Vor dem Erfahrungshintergrund des Strukturwandels im Ruhrgebiet nennt Bernhard Butzin (Butzin 1998; El Khafif 2008) drei Kategorien, die aus planerischer Perspektive relevant sind: 1) Hardwarestrategien, die in Bezug auf die bauliche Gestalt der physischen Umwelt relevant sind – neben Museen, Kulturzentren und Kreativclustern gehören auch Infrastrukturbauten, die im Rahmen von Großprojekten errichtet werden, dieser Kategorie an; 2) Softwarestrategien, die als Pläne und Programme den so genannten „Top down“-Ansatz darstellen – hierunter fallen beispielsweise Festivals, Events, Ausstellungen, Europäische Kulturhauptstädte; 3) Orgwarestrategien, so genannte „Buttom up“-Ansätze, die sich über den Aufbau von Trägerstrukturen oder Netzwerkkommunikation etablieren – Netzwerke können dabei als „soziale Infrastruktur des Wahrnehmens, Denkens und Handelns“ Motoren für die lokale und regionale Kommunikationsfähigkeit und Netzwerkkompetenz sein.

2. Von den Orten der Arbeit im Wandel der Zeit „Allzu oft ist Industrialisierung ausschließlich als sozialökonomischer Prozess verstanden worden. Sie war jedoch gleichzeitig eine kulturelle Umwälzung sondergleichen.“ (Kocka 2001: 54)

Mit diesen Worten hebt Jürgen Kocka die Bedeutung der Industrialisierung als einen Prozess hervor, der zu einer enormen Beschleunigung der Zeit und zu einer Schrumpfung des Raumes geführt hat. Der Industrialisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts wird in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Wesentlichen in drei Phasen gegliedert: 1) Phase der vorindustriellen Jahrzehnte mit proto- und frühindustriellen Elementen (vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1840er Jahre),

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2) Phase des Durchbruchs der Industrialisierung (von den 1840er Jahren bis 1873), 3) Phase der Hochindustrialisierung (von 1873 bis 1914) (Hassler/Kohler 2004; Henning 1996; Henning 1979). Diese Entwicklungsstufen skizzieren den Prozess, der Deutschland bis 1914 zu einem Industriestaat gemacht hat und der die Voraussetzung dafür war, dass das Bauwesen mit dem Bau von Fabrikbauten und der Entwicklung von großstädtischen Strukturen neue Wege eingeschlagen hat. Innovative Materialien wie Beton und Stahl kamen zum Einsatz und haben insbesondere auch die industriellen Bauten in ihrer Konstruktion und ihrem Erscheinungsbild beeinflusst. Die Industrialisierung hat einen irreversiblen Strukturwandel in Gang gesetzt, der die Berechtigung zu einer eigenen Epochenbezeichnung gestärkt hat: das Industriezeitalter. Das Industriezeitalter spiegelt sich in einem eigenen Typus des Bauens wider. Dabei unterlagen die industriellen Gebäude seit ihrer Entstehung, im Rahmen einer eigenen Bautypologie, auch spezifischen Gesetzmäßigkeiten. Die Ursachen hierfür waren vielfältig und hatten vielfach mit Aspekten der Produktionssteigerung durch technische Errungenschaften und Rationalisierung zu tun. Insgesamt haben Raum, Zeit und Geschwindigkeit mit der industriellen Revolution eine neue Bedeutung erhalten. Der Trend zur Kurzlebigkeit von Gebäuden, insbesondere industriell genutzten Bauten, hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm gesteigert und mittlerweile einen Höhepunkt erreicht. Die projektierte Lebensdauer von Produktionsgebäuden richtet sich nach den jeweiligen Zeitspannen der Herstellungszyklen. Im Bereich der Logistikbauten ist die Amortisationsphase mittlerweile auf bis zu drei Jahre gesunken (Clausen/Reicher 2006). Auch die städtebaulichen Zusammenhänge werden inzwischen durch andere Parameter bestimmt. Standortentscheidungen für Unternehmensansiedlungen werden nach logistischen Kriterien getroffen und längst nicht mehr – wie dies in früheren Zeiten der Fall war – nach der Nähe zum Energie- und Rohstoffstandort. In den Schriften zur Stadtgeographie hat sich Elisabeth Lichtenberger mit dem Phänomen der Verkürzung der Lebenserwartung der „physischen Struktur der Stadt“ auseinandergesetzt. Sie kommt zu der Erkenntnis, dass die Lebenserwartung der Menschen künftig die durchschnittliche Dauer der gebauten Kubatur

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übersteigen werde. Die Flächeninanspruchnahme für die Neubauten bedingt indirekt den Verfall der existierenden Bestände und Infrastrukturen, da die Investitionen für die Erneuerung des bereits existierenden „physischen Anlagevermögens“ nicht zusätzlich zu den Erweiterungsaktivitäten finanzierbar sind (Lichtenberger 1998). Demgegenüber spricht Hermann Lübbe von dem Phänomen der „Gegenwartsschrumpfung“, welches das gestiegene Bedürfnis nach der Erhaltung von Geschichtszeugnissen erklärt (Lübbe 1992). Es stellt sich die Frage, welche industriellen Bauten können künftig noch Bestand haben? Der Produktionsablauf hat sich zunehmend von der Immobilie gelöst. Die Konsequenzen für mögliche Nachnutzungen des industriellen Baubestandes lassen sich nur schwer einschätzen. Eine Untersuchung der Überlebenswahrscheinlichkeiten des Industrie- und Gewerbebaubestandes nach Altersklassen bestätigt eine stetig abnehmende Lebenserwartung der Bauten. Je jünger die Alterskasse, umso kleiner ist die durchschnittliche Chance auf Dauer (Hassler/Kohler 2004). Die Qualität der industriellen Altbaubestände wird im Neubau nicht mehr erzielt.

3. Die Gedächtniskultur des Ruhrgebiets Das Image des Ruhrgebiets wird über das industrielle Erbe entscheidend mitgeprägt. Dies ist keine neue Erkenntnis. Karl Ganser hat bereits 1970 ein sehr umfassendes Modell zur Entstehung von Stadtimage erarbeitet (Ganser 1970). Er stellt als Erster die Bedeutung des Image als die entwicklungsbestimmende Einflussgröße in der zukünftigen Stadt- und Regionalentwicklung heraus. Im Konkurrenzkampf der Städte um Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum reichen seiner Meinung nach die klassischen harten Standortfaktoren dauerhaft nicht aus, um die Attraktivität eines Standortes nachhaltig zu sichern.

3.1 Der Strukturwandel im Ruhrgebiet Mitte des 19. Jahrhunderts hatte in der Region, für die später der Name „Ruhrgebiet“ aufkam, endgültig der Wandel von einer Agrar- zu einer Industrielandschaft eingesetzt. Von nun an prägten

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in diesem Raum für mehr als ein Jahrhundert Kohle und Stahl die Arbeits- und Lebenswelt der Menschen und schon innerhalb weniger Jahrzehnte wandelte sich das Ruhrgebiet zu einem der größten und am dichtesten besiedelten montanindustriellen Gebiete Europas. Die Montanindustrie hat die Gestalt des Raumes vollständig überformt. Sowohl die räumliche als auch die städtebauliche Struktur des Ruhrgebiets wurden hierdurch nachhaltig und zum Teil mit irreversiblen Folgen geprägt. Die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Leistungen der Montanindustrie zeigen sich im Stadtbild und in der Landschaft dieser Region z.B. in Form von Fördergerüsten, Hochöfen, Abraumhalden und nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Arbeitersiedlungen. Wahrnehmungsprägend sind auch heute noch die vielfältigen Netzstrukturen wie Eisenbahntrassen sowie Gas- und Stromleitungen. Somit hat die Montanindustrie im Laufe ihrer Geschichte Anlagen geschaffen und hinterlassen, die wichtige Zeugnisse der Wirtschafts-, Technik- und Sozialgeschichte sowie des Städtebaus darstellen. Nach 1945 galt die Kohle zunächst noch als „Motor“ für den Wiederaufbau Westdeutschlands wie auch Westeuropas, bis Ende der 1950er Jahre die Kohle unter wachsenden Anpassungsdruck geriet und die Krise im Ruhrgebiet einsetzte. Der beginnende Strukturwandel hatte zur Folge, dass die nicht mehr rentablen Standorte nach und nach aufgegeben wurden. Diese vielfach großflächigen Areale lagen inmitten der städtischen Siedlungsflächen und es stellte sich also die Herausforderung, diese ehemals „verbotenen Städte“ neu zu entwickeln. „Hochöfen und Maschinenhallen, Fördergerüste und Zechenanlagen, Gasometer, Kokereien und Kolonien gehören zu den markantesten baulichen Zeugnissen dieser Epoche. Mit der Krise der Montanindustrie und dem einsetzenden Strukturwandel hat die Frage nach dem Umgang mit dem industriekulturellen Erbe und seinem Wert für Gegenwart und Zukunft an Bedeutung gewonnen.“ (IBA Emscher Park Projektkatalog 1999)

Neue Nutzungen der montanindustriell geprägten Areale erfolgten in Form von klassischen Gewerbeansiedlungen und der Entwicklung von Industrie-, Gewerbe- und Technologieparks, aber auch in Form von Siedlungs- und Wohnungsbauprojekten sowie neuem Freiraum und industriekulturellen Projekten. Dazu wur-

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den beispielgebende und nachhaltige strukturpolitische Strategien für die Transformation der industriellen Brachflächen entwickelt und umgesetzt. Einen maßgeblichen Beitrag zu dieser Entwicklung – der zu einer neuen Qualität in der Strukturentwicklung im Ruhrgebiet führte –, hat die IBA Emscher Park geleistet.

3.2 Die IBA Emscher Park als Impulsgeber für Industriekultur Die Neubewertung von Zeugnissen aus Industrie und Technik hat bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt, wie dies in den Worten des Architekten Henry van de Velde zum Ausdruck kommt: „Nichts ist hässlich in dieser Welt der technischen Erfindungen, der Maschinen und der tausend Gebrauchsgegenstände, die ebenso wichtigen Zwecken dienen wie Architektur und Kunstgewerbe. Ja, ihre durch Wahrheit und Kühnheit erschütternden Formen haben all jene, die der neuen, der zukünftigen Schönheit leidenschaftlich entgegenharrten, zu Ausbrüchen höchster Bewunderung hingerissen.“ (van de Velde 1918: 41)

Eine Ahnung der zukünftigen Bedeutung der industriellen Bauten äußerte auch bereits im Jahre 1925 Paul Clemen in seiner Beschreibung der künstlerischen Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert: „Vielleicht aber werden für den Kultur- und Kunsthistoriker, der nach einem Menschenalter dies erste Viertel des 20. Jahrhunderts übersieht, nicht die repräsentativen Hochbauten im alten Sinne, sondern die monumentalen Werkbauten als die eigentlich charakteristischen Denkmäler erscheinen. Wir haben erst langsam gelernt, die absolute Schönheit zu verstehen, die in der restlosen Bejahung der Nutzform und der Konstruktion liegt. Neben den großen, machtvollen Leistungen der Ingenieurkunst, den Maschinenhallen, Fabrikanlagen, den Kraftwerken, Hochöfen, Stauwerken und vor allem den Brücken, erscheint alles, was die Architektur und das Kunsthandwerk daneben zu geben imstande waren, als kleinlich und dünn.“ (Clemen 1925: 451)

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Seit den 1960er Jahren ist dann insgesamt der Blick der Denkmalpfleger und Architekten verstärkt auf industrie- und sozialgeschichtlich bedeutsame Bauten gerichtet, fort von den kulturhistorisch bedeutsamen Solitären, hin zu den Bauten der Arbeit. Dieses neue Feld der Denkmalpflege ist also keine Entdeckung der IBA Emscher Park, aber sie hat den Fokus auf das industrielle Erbe im Ruhrgebiet verstärkt und Strategien einer neuen In-Wert-Setzung propagiert. Die Bauten der Industrie werden nun vielfach mit der Funktion „Kultur“ verknüpft. Manfred Sack spricht in diesem Zusammenhang von dem „Lebensmittel Kultur“, von Kultur als neuer Zutat, um die alten Mauern zu beleben, und von „Chancen, die in alten Mauern lauern“ (Sack 1999: 140).

Abbildung 1: Zeche Zollverein, Essen.

Mit der Thematisierung und Beförderung der „Industriekultur“ als authentischem Kern der regionalen Identität des Ruhrgebiets hat die IBA Emscher Park einen nachhaltigen Beitrag geleistet, der weit über die Wirkung der einzelnen Projekte und Orte sowie über die Laufzeit der IBA selbst hinaus reicht. Was vormals achtlos abgerissen wurde, als rostiger Schrott oder nutzlos gewordenes Gebäude möglichst besenrein entsorgt werden sollte, ist heute

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Ausgangspunkt und Ziel für Entdeckungsreisen, ist Spielort für künstlerische Inszenierungen auf hohem Niveau und Gegenstand neuer kultureller Transformationen. Das Doppelbock-Fördergerüst der Zeche Zollverein (siehe Abbildung 1) ist zur Ikone und zum internationalen Markenzeichen der Region geworden. Mit dem Konzept der „Landmarken“ sind gezielt Wahrnehmungsmechanismen in Gang gesetzt worden, um über äußere Gestalteindrücke innere Raumbilder und darüber wiederum regionale Identitäten zu schaffen (Prossek 2008). Ausgangspunkt dieses Wirkens der IBA Emscher Park waren die Entwicklungen und Erfahrungen im nordrhein-westfälischen Denkmalschutz und in der Denkmalpflege seit Ende der 1970er Jahre. Die Unterschutzstellung der Zeche Zollern in Dortmund hatte den Anfang gemacht. Denkmalpfleger, Museumsfachleute und Historiker sowie Laien, Bürgerinitiativen und Vereine begannen sich für die kulturellen Qualitäten und die Einmaligkeiten der Industrieepoche zu interessieren. Ein Aufruf der IBA beförderte eine Vielzahl von lokalen Geschichtsinitiativen und -vereinen, die sich vor Ort und im unmittelbaren Umfeld alter Zechen, Stahlwerke oder in den Arbeitersiedlungen bereits um die historischen Quellen, Objekte und Dokumente kümmerten. Das damals aus Schweden kommende Denkmal-Motto „Grabe, wo Du stehst“ brachte auf Anhieb eine Fülle von Quellen und Zeitzeugen im Ruhrgebiet hervor und begründete ein erstes regionales Netzwerk der Industriekultur, das „Forum für Geschichtskultur an Ruhr und Emscher“. Mit der „Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur“, vom Land NRW und der Ruhrkohle AG 1995 gestiftet, wurden neue Wege der Projektpartnerschaft und der Finanzierung von Denkmalaufgaben im Bereich der Industriekultur eröffnet. Dabei galt es nicht nur, die ästhetischen und technikgeschichtlichen Qualitäten der Altanlagen, der Maschinenhallen, der Zechen, Fördergerüste und technischen Infrastrukturen zu erfassen und zu erhalten, sondern Transformationen zu ermöglichen und zuzulassen. Ein markantes Beispiel einer solchen Transformation ist der Gasometer in Oberhausen (siehe Abbildung 2). 1928 wurde er – der größte seiner Art in Europa – errichtet, und 60 Jahre später wurde er nicht mehr gebraucht. Als im Sommer 1994 die erste Ausstellung im Gasometer eröffnet wurde, war das Staunen

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über diesen gigantischen Innenraum groß. Eine Ausstellungsterrasse auf dem Dach eröffnet den Blick in die Umgebung. Der Gasometer hat in der jüngsten Vergangenheit viele Namen erhalten –

Abbildung 2: Gasometer Oberhausen.

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etwa „Kathedrale der Kohleindustrie“ oder „Koloss von Oberhausen“ – Namen, die nicht zuletzt seinem beeindruckenden Maßstab geschuldet sind. Mit seiner Höhe von 117 Metern und einem Durchmesser von 68 Metern ragt er imposant aus dem Siedlungsbild heraus. Die Entscheidung, den Gasometer Oberhausen nicht abzureißen, sondern in ihm das Potential für einen möglichen Ausstellungsraum mit über 100 Metern Innenraumhöhe zu sehen, bedurfte Phantasie und Mut.

Abbildung 3: Jahrhunderthalle in Bochum. Zur IBA gehörten auch diese Experimente: die Nutzung industrieller Hinterlassenschaften als Veranstaltungs- und Aufführungsort für „Kunst im Industrieraum“, wie beispielsweise die Jahrhunderthalle in Bochum (siehe Abbildung 3). Oder die Idee, große Teile einer ganzen Industrieanlage der Wildnis, der Natur im Sinne einer „Industrienatur“ zu überlassen, wie dies auf dem Gelände der Kokerei Hansa geschehen ist. Die umfassende Transformation eines ganzen Hochofenwerkes zum Landschaftspark Duisburg-Nord (siehe Abbildung 4) war ein Impuls der IBA, der überregionale Aufmerksamkeit erfahren und neue Wege in der Landschaftsgestaltung gefördert hat.

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Abbildung 4: Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Aufnahme des gesamten Zollverein-Ensembles in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO im Jahre 2001 stellte unmittelbar nach der IBA den nationalen und international bedeutsamsten Meilenstein für die Industriekultur im Ruhrgebiet dar. Als verbindende Themenroute in einem über einen 400 Kilometer langen, ausgeschilderten Rundkurs stellt die „Route der Industriekultur“ die unterschiedlichen Zeugnisse aller Epochen der industriellen Entwicklung des Ruhrgebiets in einen Zusammenhang. Dazu gehören Industrieanlagen, Arbeitersiedlungen, technik- und sozialgeschichtlich bedeutsame Museen und imposante Aussichtspunkte in die Industrielandschaft sowie ausgewählte Standorte der Industrienatur. Diese „Route der Industriekultur“ hat europaweit zu einem verzweigten Netzwerk von regionalen Routen geführt. Das ERIH-Netzwerk (European Route of Industrial Heritage) reicht mittlerweile von Großbritannien bis in die Türkei; auch nichteuropäische Länder beschäftigen sich mit dem Vorbild aus dem Ruhrgebiet und denken über die Übertragbarkeit auf ihren jeweiligen Kontext nach. Von zentraler Bedeutung sowohl für die regionale als auch für die internationalen Routen ist, dass über ein solches räumliches Netzwerk das vielschichtige industrielle Erbe in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht wird.

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4. Das industrielle Erbe als Chance für die Stadtentwicklung Das Erbe, das die industrielle Entwicklung in einer Phase mit hohem Anspruch an Bautradition geprägt hat, ist nicht nur als Bote der Vergangenheit zu sehen, sondern als Potential für die Stadtentwicklung der Zukunft. Das Ruhrgebiet hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Erfahrungen im Umgang mit seinem industriellen Erbe gesammelt. Es knüpft an die Erkenntnisse im Strukturwandel und den dadurch bedingten Umgang mit den alten montanindustriellen Flächen an. Dieser Prozess hatte nicht nur massive Auswirkungen auf das Wirtschafts- und Sozialgefüge der Region, er zeigte sich auch räumlich in den Städten des Ruhrgebiets. So wie zunächst Fördergerüste, Hochöfen, Abraumhalden, Kokereien und weitere Anlagen das Stadtbild und die Landschaften prägten, führte die Aufgabe von nicht mehr rentablen Standorten zum Brachfallen von großflächigen Arealen inmitten der Siedlungsflächen. Der in den letzten zwanzig Jahren gesammelte Erfahrungsschatz im Umgang mit den industriellen Bauten hat verschiedene Dimensionen. Für die Denkmalpflege ist der Umgang mit dem baulichen Erbe der industriellen Epoche zu einer alltäglichen Aufgabe geworden. Der Stellenwert der industriellen Bauten in der Stadtentwicklung wird kaum noch bestritten, im Gegenteil: Diese technischen Denkmäler sind anerkannt als Meilensteine, die den gesellschaftlichen Wandel anschaulich machen. „Wo könnte man die Emanzipation des gehobenen Bürgertums besser ablesen als an all den ‚Fabrikschlössern’, mit denen Industrielle ihr neues Selbstbewusstsein bewiesen und zugleich ihren patriarchalischen Herrschaftsanspruch?“ (Sack 1999: 124) So weisen beispielsweise die Zeche Zollern 2/4 oder auch die Zeche Zollverein XII in Essen Katernberg große Ähnlichkeiten mit einer Schlossanlage auf. Die industriellen Anlagen stehen in enger Verbindung mit den Arbeitersiedlungen, die wiederum wichtige Hinweise auf die Sozialgeschichte liefern (Sack 1999). Selbst wenn die Industriebauten als solche nicht mehr in Betrieb sind, so haben sie dennoch eine Funktion als Orientierungszeichen für die Bewohner. In den Industriebauten spiegeln sich – über die reine Architekturgeschichte hinaus – die gesellschaftspolitischen Verhältnisse und Geschehnisse einer

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Epoche wider und werden auch für spätere Generationen erfahrbar. Das Ruhrgebiet selbst kann von den vielfältigen Erfahrungen für weitere Entwicklungen profitieren, ist doch der Prozess des Strukturwandels nicht abgeschlossen und harren zahlreiche altindustrielle Flächen einer zukunftsgerichteten Entwicklung. Lernen aus den bisherigen Erfahrungen bedeutet somit auch, einen Blick auf die mögliche Zukunft zu öffnen und Entwicklungsoptionen aufzuzeigen. Als Pionier im Umgang mit seinem montanindustriellen Erbe ist das Ruhrgebiet bereits jetzt wegweisend für viele weitere Regionen Europas und der Welt, die erst am Anfang ähnlicher Entwicklungen stehen. Dies spüren auch die beteiligten Projektpartner in ihrem Alltagsgeschäft, erreichen sie doch zahlreiche Anfragen aus der ganzen Welt zu diesen Themen und mit dem Wunsch, von den Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet lernen zu können.

5. Fazit Industriell geprägte Transformationen hat es weltweit gegeben. Bauliche Relikte bezeugen die Phase der Industrialisierung, aber auch industrielle Krisen und Veränderungsprozesse, die zur Aufgabe von Bauten geführt haben und die Frage nach ihrer Rolle in dem Kontext einer Stadt oder einer Region aufwerfen. Zahlreiche Projekte beschäftigen sich mit der Bedeutung des industriellen Erbes im Zuge einer Nachnutzung frei gezogener Flächen – so beispielsweise im Süden von Luxemburg, in der Grenzregion zu Frankreich, wo auf einem ehemals montanindustriell genutzten Standort die neue Universität von Luxemburg, die so genannte „Cité de Science“, entstehen soll. Das Entwicklungskonzept und die weiteren städtebaulichen Vertiefungsstudien sehen vor, diese Relikte der Vergangenheit in das Gesamtensemble einzubeziehen und insbesondere in der dritten Dimension, der Höhenentwicklung des Standortes, die Hochöfen mit den Bauten für die Wissenschaft in einen Dialog treten zu lassen (siehe Abbildung 5). Der Blick nach Kuba legt einen anderen Vergleich nahe. Die Krise der Zuckerproduktion hat zur Stilllegung zahlreicher industrieller Bauten geführt, die diesem Produktionssektor dienten.

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Abbildung 5: Hochöfen in Esch-sur-Alzette, Luxemburg. Nach der Erkenntnis, dass die Zuckerfabrikation nicht nur in der Vergangenheit die Entwicklung und die Identität in Kuba entscheidend geprägt haben, sondern auch relevant für die Stadtentwicklung der Zukunft sein werden, stellt sich jetzt die Frage nach einer Aktivierung der leer stehenden oder untergenutzten Bauten. Mario Coyula, einer der bekanntesten Stadtplaner Kubas, verweist auf die identitätsstiftende Wirkung, welche von diesen industriellen Hinterlassenschaften auch im Rahmen von innerstädtischen Stadtentwicklungsprojekten – wie dem „Metropolitan Parc“ in Havanna – ausgehen kann. Dem Ruhrgebiet kommt in dieser internationalen Perspektive bei der Entwicklung von Nachnutzungsstrategien eine Schlüsselrolle zu, insbesondere bei der Fragestellung, wie aus der Beschäftigung mit Industriebauten eine Diskussion um Industriekultur entfacht werden kann. In einer Welt, in der zugleich das Innovationstempo und das Bedürfnis nach Langsamkeit gesteigert werden, fällt es schwer, ein eindeutiges Plädoyer für die Kontinuität des baulichen, insbesondere des industriell geprägten baulichen Erbes abzugeben. Einerseits ist eine „Neutralisierung“ der Traditionen die notwendige Basis für eine Beschleunigung, andererseits steigt das menschliche Bedürfnis nach einer „eisernen Ration an

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Vertrautem“ (Marquard 2004). Dieses Bedürfnis nach den vertrauten Bildern hat die IBA Emscher Park in eine Strategie überführt: Sie hat die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebiets zu einem kulturell bedeutsamen Faktor erhoben – zur Industriekultur. Die Geschichte der Gebäude ist auch immer die Geschichte ihrer Nutzung durch den Menschen. Indem der Mensch das Gebäude verändert und umnutzt, erhält er es. Die Alternative zum Umbau heißt Abbruch. Es gehört deshalb zur Tradition denkmalpflegerischer Arbeit und planerischen Handelns, die Nutzbarkeit vorhandener Bausubstanz zu überdenken und an positiven Wirtschaftsbedingungen für Baudenkmäler und ihre Besitzer mitzuwirken. Die industriellen Hinterlassenschaften sind dabei längst nicht mehr ein störendes Glied in unserem Stadtbild. Diese Einschätzung teilten schon Schupp und Kremmer, die Baumeister der Zeche Zollverein, wenn sie von dem industriellen Erbe sprechen als einem „Symbol der Arbeit, einem Denkmal der Stadt, das jeder Bürger mit wenigstens eben so großem Stolz den Freunden zeigen soll wie ein öffentliches Gebäude“ (1931 zit. nach Buschmann (1987: 3) – wie ein Rathaus oder eine Kirche.

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Z WISCHEN D IVERSITÄT

UND

K ONVERGENZ , K ONFLIKT K OOPERATION

UND

Die Gre nzen der Tole ranz und die Verhandlung der Dif ferenz WILLIAM NEILL/BRENDAN MURTAGH

Einleitung Städte sind in zunehmendem Maße „Städte der Differenzen“ – gekennzeichnet von multikultureller Prägung sowie globaler und ethnischer Zersplitterung. Da wird die Frage, was zu tun sei, zu einer sowohl planerischen als auch stark ortsgebundenen Herausforderung. Das vorherrschende Paradigma in der Theorie und Praxis der Stadtentwicklung impliziert die Annahme, dass Zusammenarbeit und diskursive Methoden die verschiedenen ethnischen (und anderen) Interessenvertreter in die Lage versetzen, sich als zusammengehörig wahrzunehmen und (Meinungs-)Verschiedenheiten auszugleichen. Für Jean Hillier besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Theorie der Kollaboration nur bedingt eine adäquate Analyse oder Handlungsplanung ermöglicht, da sie über Unterschiede hinweggeht, oder, was schlimmer ist, zugunsten dominanter staatlicher Interessen manipuliert. Kurz gesagt: „Difference cannot be negated by reason. It is irreducible to consensus.“ (Hillier 2007: 82) Agonistische Strategien, die Widerstand zum Markt und zur bürokratischen oder politischen Herrschaft hochhalten, bieten eine realistische Alternative in der Stadt der Differenzen. Zwar ist die Dichotomie zwischen Konsens und Chaos eindeutig simplifizierend, aber sie spricht Fragestellungen

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zu moralischen und praktischen Möglichkeiten des Umgangs miteinander in ethnisch gespaltenen Orten an. Das Wesen der Differenz ist für sich genommen bereits ein umstrittenes und komplexes Thema. Huntington (1993: 23) argumentiert, dass: „differences among civilizations are not only real; they are basic. Civilizations are differentiated from each other by history, language, culture, tradition and, most important, religion […] the world is becoming a smaller place. The interactions between peoples of different civilizations are increasing; these increasing interactions intensify civilization consciousness and awareness of differences between civilizations and commonalities within civilizations. North African immigration to France generates hostility among Frenchmen […] In conflicts between civilizations, the question is ‚What are you?’ That is a given, that cannot be changed. And as we know, from Bosnia to the Caucasus to the Sudan, the wrong answer to that question can mean a bullet in the head. Even more than ethnicity, religion discriminates sharply and exclusively among people. A person can be half-French and half-Arab and simultaneously even a citizen of two countries. It is more difficult to be halfCatholic and half-Muslim.“

Huntingtons Theorie wurde scharf kritisiert. Seine Anstrengungen, die Mehrzahl der gegenwärtigen Konflikte in ein Theorem der kulturellen/ethnischen/religiösen Unterschiede zu komprimieren, scheinen zu eindimensional, um Konflikte erklären zu können. Barth (1969) stellte in der Publikation „Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Cultural Difference“ heraus, dass ethnische Identität nicht unveränderbar sei; dass sie zwar bis zu einem gewissen Grad eine ihr wesentliche Essenz habe, jedoch potentiell flexibel und verhandelbar sei. Barth nahm Verschiedenheiten der Identität nicht einfach hin, um dann zu erwägen, wie sie soziale Interaktion ungebrochen beeinflusse, sondern er versuchte – wie Jenkins es formuliert –, mit seinem Ansatz im Gegenteil zu verstehen, wie Identität und Verschiedenheit sozial und kontextuell strukturiert sind. Aus dieser Position argumentierte Barth, dass Kulturen von Kollektiven nicht als Fortführung irgendeiner, ursprünglich in der Vergangenheit verorteten, essentiellen Kultur zu verstehen seien, sondern als Resultat einer über die Zeit andauernden permanenten Neuverhandlung der Gruppenidentität und -grenzen. Hier ist der größere soziale und

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politische Kontext wichtig und wir können also „assume no simple one-to-one relationship between ethnic units and cultural similarities and differences. The features that are taken into account are not the sum of ‚objective‘ differences, but only those which the actors themselves regard as significant […].“ (Barth 1969: 14) In diesem Zusammenhang können Herrschaftsverhältnisse nicht außer Acht gelassen werden. Wie Barth deutlich macht, sind einige Kollektive in einer stärkeren Position, ihre eigenen Identitäten zu konstruieren und Bedrohungen derselben durch Dritte zu widerstehen, während andere nicht so viel Glück haben. Indem er die zeitliche Beständigkeit ethnischer Identität beleuchtet und darlegt, wie neue ethnische Symbolstrukturen (und nicht jene der traditionellen ethnischen Gruppenzugehörigkeit) aus dem Kontext entstehen, bietet Barth eine Erklärung für die Tatsache, dass sich optimistische Einschätzungen der „Nation“ und der „Theorie der Staatenbildung“ als mit der Realität unvereinbar erweisen. Die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Identität und ihre Instrumentalisierung zu dem Zweck, territorial begründete Ansprüche auf staatliche Fördergelder zu erheben, stellt den empirischen Schwerpunkt dieses Artikels dar. Ausgangspunkt sind die besonderen Umstände Nordirlands, doch geht der Blick darüber hinaus, auf die weiteren Implikationen der Duldung von Verschiedenheit, insbesondere wenn dadurch Sektierertum gefördert und Ansprüche produziert werden, die schlicht und einfach nicht von einem urbanen kollaborativen oder anders gearteten städtischen Regierungssystem aufgefangen werden können. Dieser Artikel beleuchtet insbesondere die Grenzen der Toleranz im Kontext der globalen Migration, der ethnischen Segregation und des religiösen Extremismus. Im Rückbezug auf den Ansatz der Europäischen Union zur kulturellen Integration fordert er, das Konzept der geteilten Werte, das Verschiedenheiten weder nivelliert noch ignoriert, erneut zu überprüfen.

Assimilation, Kollaboration und Differenz Das Spannungsverhältnis zwischen Bürgerrechten und ethnischen Rechten ist kein neues Thema in der Stadtplanung. In ihrer Evaluation des israelischen Systems untersuchte Fenster (1996) drei mögliche Positionen, die Städteplaner hierzu einnehmen können.

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Als Erstes ist das Assimilationsmodell zu nennen, demzufolge Städteplaner zusammen mit anderen (politischen) Interessenvertretern unter Berufung auf die Gleichberechtigung dank der Bürgerrechte versuchen, Verschiedenheiten der ethnischen Gruppen stufenweise zu mindern und sie so zu integrieren. Das pluralistische Modell erkennt die Besonderheit ethnischer Identität an und befürwortet Andersartigkeit eher, als dass es sie eingrenzen will. In diesem Fall werden Ethnizität und Bürgerrechte mehr als komplementäre denn als konkurrierende Faktoren verstanden. Im Rahmen des letzten Modells gehen Stadtplaner hingegen von einem diskriminierenden Modell aus. Diskriminierung entsteht, wenn ethnische Minderheiten in vergleichbaren Situationen anders als die Mehrheit behandelt werden, was darauf hindeutet, dass die Einhaltung ihrer Bürgerrechte nicht gänzlich gewährleistet ist. Diskriminierung besteht auch dann, wenn Minderheiten in unterschiedlichen Situation ähnlich behandelt werden, d.h., „when their unique ethnic needs are not taken into consideration in policies and planning schemes, and they are not permitted to retain their uniqueness in the society as a whole“ (Fenster 1996: 414). Fensters Analyse zufolge sprechen die drei Modelle jeweils unterschiedliche Gruppen bzw. Bedürfnisse an: „These new models could direct planners to accurately determine the situation of a community at a given point in time and space. This would facilitate the formulation of a planning framework flexible enough to accommodate the changing needs of communities. Each of the models can be applied to the processes of social change, and allow for varying degrees of assimilation, while preserving ethnic uniqueness where possible. They permit the recognition of and respect for diversity.“ (Fenster 1996: 415)

Anlässlich der ethnischen Unruhen in nordbritischen Städten 2001 überprüfte Robinson (2005) die britische Agenda zum Zusammenhalt von Gemeinschaften. Er bezeichnete sie als ein explizit assimilatorisches Modell, das auf der besonderen Form des britischen Staatsbürgerschaftsverständnisses beruht, welches ethnische Segregation insbesondere im Hinblick auf Wohnsituation und Bildung zu bewältigen versuche. Dies, so seine Argumentation, bringe eine besondere Form kommunikativen Handelns ins Spiel, die sich dadurch auszeichne, dass Konsens und vereinbarte

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Definitionen über die Qualität des Wohnumfeldes nicht vereinbar seien mit ethnischen Identitäten und segregierten Gemeinschaften. Kommunikationstheoretiker sind der Ansicht, unterschiedliche Arten der Argumentation und unterschiedliche Bedeutungssysteme sollten bei Diskussionen grundsätzlich den gleichen Stellenwert haben und die Aufgabe der Stadtplaner, die für ethnisch gespaltene Orte zuständig sind, bestehe darin, Strategien zur Verbesserung der kollektiven Handlungsfähigkeit durch Interaktion und Dialog zu entwickeln (Coaffee/Healey 2003). In diesem Kontext spielt Sprache eine wichtige Rolle und in der Planung liegt der Fokus auf der Entwicklung eines Prozesses der interaktiven gemeinschaftlichen Argumentation oder Diskursführung, die wiederum einen gewissen Grad an Zusammenarbeit, Vertrauen und Gegenseitigkeit voraussetzt (Habermas 1987). „In the end, what we take to be true and right will lie in the power of the better argument articulated in specific socio-cultural contexts.“ (Healey 1997: 54) Booher und Innes (2002) entwickelten das DIAD-Modell – einen Ansatz, der davon ausgeht, dass die Beachtung von Diversität, Interdependenz und authentischem Dialog (DIAD) in spezifischen Kontexten zum Erfolg führe: „Interdependence among the participants is the source of energy as it brings agents together and holds them in this system. Authentic dialogue is the genetic code, providing structure within which agents can process their diversity and interdependence […] Diversity is the hallmark of the informational age. The wide range of life experiences, interests, values, knowledge and resources in society is a challenge for planning and the efforts to produce agreements and collective action.“ (Booher/Innes 2002: 227)

Der wichtigste Ansatzpunkt für Kritik an der kommunikativ ausgerichteten Planung ist deren Herangehensweise an die Problematik von Herrschaftsverhältnissen. Das DIAD-Modell gibt kaum Aufschluss darüber, wie sich Verschiedenheit und gegenseitige Abhängigkeit mit Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft und mit der Identifikation von Interessen, die miteinander in einen Diskurs treten sollen, in Bezug bringen lassen. Yiftachel weist z.B. darauf hin, dass die gemeinschaftliche Planung den Schwerpunkt eher auf den „critical commentary about planning“ als auf die

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„societal critique of planning“ lege. Das Hauptaugenmerk solle jedoch nicht dem stadtplanerischen Handeln gelten, sondern den Herrschaftsstrukturen im weiteren Sinne und den „legitimization dynamics within which public agencies often act“ (Yiftachel 2001: 253). In diesem Sinne heben auch Tewdwr-Jones und Allmendinger (1998) hervor, dass verschiedenartige – insbesondere lokale – Interessengruppen verschiedene Zugänge zu Informationen haben und Wissen auf sehr unterschiedliche Weisen mobilisieren und interpretieren können. Gunder äußert sich besonders kritisch über die vorwiegende Beschäftigung mit Konsens, Rationalität und Ordnung: „This seeking of certainty and the avoidance of conflict that this entails – harmony – is at best an unrealisable fantasy, an unfulfillable desire for security and modernity, and one that has considerable costs in its continuous unsuccessful implementation.“ (Gunder 2003: 239)

Diese Kosten schließen die Ausgrenzung des marginalisierten Anderen mit ein: ethnische Minderheiten, Frauen und arme Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, deren Rechte und Ansprüche durch Prozesse, die auf Kontrolle und Normalisierung – auf die Umsetzung eines geplanten rigiden Zukunftskonsenses – zielen, verdrängt werden. Flyvbjerg (2004) bemerkt deshalb, der Theorie Habermas könne vorgeworfen werden, dass ihr eine Ethik des Respekts für das menschlich Andere fehle, insbesondere, wenn es um Genderfragen sowie um Fragen der Volkszugehörigkeit, Sexualität und Ethnizität gehe. Er äußert sich besonders kritisch gegenüber ‚losgelösten‘ Strukturen, die lediglich Engage ment vorspiegeln, und fordert „devices that acknowledge and account for the working of power and for passionate engagement of stakeholders who care deeply about the issues at hand“ (Flyvbjerg 2002: 364). Im Rückbezug auf Foucault (1991) fordert Flyvbjerg eine Genealogie der Planung, in deren Rahmen ‚verlorene‘ oder ‚ausgeschlossene‘ Wissensfragmente wichtige Strategien des Widerstands gegen Macht und Staatsräson darstellen. Hillier (2003) plädiert für agonistische Strategien – für Diskurse und Werte, die ständig im Wettstreit für oder gegen ein gegebenes Thema, einen Plan oder Vorschlag miteinander stehen. Demokratischer Wettstreit sei intersubjektiv, vielsprachig, kontinuierlich, komplex, nicht wiederholbar und taktisch. Sie kritisiert

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die utopischen und idealistischen Zielsetzungen des Kollaborationsmodells: „The ideas of complete information, a harmonious society and of consensus are the Lacanian impossible Real of utopian dreams rather than actual lived reality.“ (Hillier 2003: 45) Lacan wies darauf hin, dass Konsensbildung eine Illusion sei, Streit und Konflikt für den sozialen Fortschritt wesentlich seien und dass es eine Lücke zwischen der Wirklichkeit und dem Realen gebe (Hillier 2003). Der Theorie Lacans zufolge ist es unabdingbar, die Kluft zwischen realem Konsens und der unvollständigen, friktionalen Wirklichkeit (an)zuerkennen – und dies nicht etwa, um sie abzuwerten oder zu ignorieren, sondern um sie als Schauplatz der Zusammenarbeit und des Wettstreits im Streben nach sozialer Weiterentwicklung zu nutzen. Diese Sichtweise kann Stadtplanern helfen, „to recognize the symptoms of ireducible conflict and rather than forge ahead with intended strategies of revolutionary consensus-formation, to think through strategies aimed at settlement“ (Hillier 2003: 54). Konflikte und Interessen werden immer ihren Anteil an „politics-laden communication“ (Pløger 2004) haben; Pløger (2001: 226) weist darauf hin, dass Stadtplaner zumeist grundsätzlich eine negative, problematische Einstellung gegenüber dem Streitgespräch haben. Er unterscheidet zwischen Antagonismus und Agonismus, indem er auf das Konzept des Wettstreits zurückgreift. Wetteifern sei die „expressive form of agonism, and essential to disputes about words said and written and therefore to meaning, schemes of significance, interpretations and discourses in play“ (Pløger 2004: 75). Die Probleme, die durch den Agonismus geschaffen würden, könnten und sollten nicht durch Gesetze behoben werden. Vielmehr regten sie dazu an, in neuen Bahnen über Macht und Konflikte nachzudenken und darüber, „how to make strife the constitutive centre of planning“ (ebd.). Kommunale Mitwirkungsstrategien, die das Bürgerbewusstsein im Hinblick auf Entscheidungsfindungsprozesse erhöhen und damit die Zonen der Macht und der politischen Arbeit abstecken, tragen zur Realisierung einer Agenda des Wettstreits bei. So beschreibt Mouffe (1999) die zentrale Herausforderung für die Planung in ethnisierten Umfeldern als Herausforderung, den Antagonismus zwischen Feinden in ei-

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nen Agonismus zwischen potentiellen Gegnern zu wandeln, wobei Lösungen zwar nur zum Teil oder vorläufig möglich seien, letzten Endes jedoch die Lebensqualität des Anderen beeinflussten. Um diese Änderung in Gang zu bringen, muss eine Bewegung von statisch liberalen Formen der Politik hin zu Mitwirkungsmöglichkeiten einsetzen: „The wish to empower local citizens politically within the heterogeneous, multicultural and individualized city makes it more difficult to govern through rules and predetermined goals and programmes, because the political space of action will depend more on the ability to include and legitimate multiple voices and demands.“ (Pløger 2004: 77)

Fallbeispiel: Narrationen des Teilens und der Separation Der Konflikt in Nordirland und der sich daran anschließende Friedensprozess bietet ein interessantes Umfeld, um mögliche Herangehensweisen an territorialisierte ethnische Konflikte empirisch zu überprüfen. Der räumliche Charakter ethnisch-religiöser Separation und die Intensität des Konflikts an den Rändern der segregierten Gemeinschaften zog im Prozess der Konfliktumgestaltung besondere Aufmerksamkeit auf sich. Nach der Unterzeichnung des Belfast-Abkommens 1998 begann die Regierung schnell damit, eine rigorose Gleichstellungspolitik einzuleiten und das soziale und wirtschaftliche Erbe der Gewalt anzugehen. Eine Studie über die Politik der Gemeindebeziehungen, in deren Rahmen umfangreiche Konsultationsgespräche durchgeführt wurden, wurde in Auftrag gegeben und führte 2005 zur Veröffentlichung von „A Shared Future“ (OFMDFM 2005). Der Bericht begegnete getrennten Identitäten mit wenig Toleranz, insbesondere, wenn es um die Segregation des Wohnraums ging. Die Herangehensweise, die verschiedene Regierungsabteilungen und -behörden einschloss, setzte einen erheblichen Schwerpunkt auf die räumliche Verteilung und betrachtete planungs-, wohnungs- und städtepolitische Maßnahmen zur Integration und Vermischung primär als Frage der Raumnutzung. Im gleichen Jahr gab das Department for Social Development, das für die Stadterneuerung zuständig ist, einen Projektbericht über die Lebensgemeinschaften der protes-

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tantischen Arbeiterklasse (DSD 2005) in Auftrag, dessen Ziele „building confidence, renewing hope and restoring pride in Loyalist areas“ (DSD 2006: 1) waren. In diesem Abschnitt sollen die beiden politischen Dokumente als Manifestationen eines Ansatzes der Bürgerbeteiligung an Raumplanung und kommunaler Verwaltung hinterfragt werden sowie ein weiteres Paradigma, das individualisierte ethnische Ansprüche einer lokalen religiösen Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Rydin (2003) entwickelt eine Methodologie, mit deren Hilfe die in politischen Dokumenten und Prozessen im Bereich der Umweltplanung enthaltenen Erzählstrukturen verstanden werden können. Murdoch (2004) diskutiert ebenfalls die konkurrierenden Denkweisen und verschiedenen Interpretationsansätze politischer Arenen im Bereich der Landverwendung und -entwicklung. Rydin (2003: 4) argumentiert, dass: „the key to understanding these claims is to see them as socially constructed, as constituted through discourse. The essence of claims of rationality is that such claims embody certain assumptions about what is the appropriate, even logical course of action. It suggests a way of thinking that will lead to the best outcome.“

Das „Shared Future“-Dokument benennt die Prämissen für die zu einer integrierten Gesellschaft führende Planung eindeutig, wenn es festhält: „separate but equal is not an option. Parallel living and the provision of parallel services are unsustainable morally and economically.“ (OFMDFM 2005: 15) Es werden einige Hauptlinien der Landverwendungspolitik hervorgehoben und die Notwendigkeit, territoriale Demarkationslinien, symbolische Markierungen wie z.B. Flaggen und Graffiti und das aggressive Potential rassistischer Wandgemälde etc. zu thematisieren. Sozialem Kapital, das verbindende Netzwerke aufbaut und eingefahrene Ansätze der Gemeinschaftsentwicklung in Frage stellt, wird Priorität zugesprochen. Die Arbeit an der singularen Identität (die das Selbstbewusstsein von unterschiedlichen Gemeinschaften, die isoliert voneinander existieren, aufbaut) wird aus drei Gründen kritisiert: „First, that single identity work may reinforce entrenched attitudes and stereotypes and avoid reality. Second, there is a concern that single identity work becomes an excuse, delaying the shift from work ‚within‘

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a community to cross community work. Third, single identity work can only ever be partial in a community where others share the public space.“ (OFMDFM 2005: 41)

Die Einrichtung geteilter Räume, integrierte Ansätze zur Wohnungs- und Lebensgemeinschaftsentwicklung – die Gemeinschaften verbinden und dazu befähigen, sich für gemeinsame Interessen einzusetzen –, werden ebenfalls positiv hervorgehoben. Das oberste Ziel der Strategie ist der Aufbau einer gemeinsamen sozioräumlichen Zukunft, mit dem Fokus auf die Bereiche der Bildung, der Serviceeinrichtungen und insbesondere der Wohnungspolitik und kommunalen Entwicklung. „The establishment over time of a normal, civic society, in which all individuals are considered as equals, where differences are resolved through dialogue in the public sphere, and where all people are treated impartially. A society where there is equity, respect for diversity and a recognition of our interdependence.“ (OFMDFM 2005: 7)

Die in den strategischen Berichten enthaltenen Wirksamkeitsüberlegungen sowie die Betonung des Aufbaus einer Bürgerschaft werden in der unten stehenden Tabelle deutlich. Tabelle 1: Politische Berichtstrukturen – „A Shared Future“. Narrative Struktur Gebietsabgrenzung

Lenkungsformen

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Belegbeispiele Seite 19 Aktive Förderung des kommunalen Dialogs zwischen ausgewählten Repräsentanten, Gemeindevorstehern, der Polizei und anderen Interessenvertretern, um die Zurschaustellung sektiererischer und rassistischer Aggression zu reduzieren bzw. zu beenden. 55 Die Entwicklung von sozialem Kapital und Investitionen darin – insbesondere „bridging capital“ – durch die Gemeinschaftsentwicklung als Unterstützung des Aufbaus von Beziehungen innerhalb und zwischen Gemeinschaften.

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Geteilte Räume

Integration

Gemeinschaftsentwicklung

Bekämpfung der Segregation der Wohngebiete

Ökonomische Rationalität

Die Entwicklung und der Schutz von städtischen und großstädtischen Zentren, so dass sie sichere und einladende Orte für Menschen aller Gesellschaftsschichten werden. Sicheren und gemeinsamen Raum für Treffen, Teilhabe, Spielen, Arbeit und Leben schaffen. Den öffentlichen Raum von Gefahren, Aggression und Einschüchterung befreien und dabei den legitimen Ausdruck kultureller Eigenart zulassen. Lebensgemeinschaften entwickeln, in denen Menschen verschiedener Hintergründe leben, arbeiten, lernen und zusammen spielen können. Bereits bestehende Gebiete, in denen Menschen verschiedener Hintergründe zusammenleben, unterstützen und schützen. Gute Beziehungen, Gemeinschaftsentwicklung fördern und Benachteiligungen angehen. Entwicklung zunehmend aufeinander abgestimmter Strategien der Abteilung für die Pflege der nachbarschaftlichen Beziehungen (Community Relations Unit) des OFMDFM und der Abteilung der Freiwilligen- und Gemeinschaftsdienste (Voluntary and Community Unit) des DSD. Identifikation bester Praktiken in der Entwicklung der kohäsiven Gemeinschaftsentwicklung und in Praktiken zur Verbesserung der Beziehungen. Unterstützung von Aktivitäten, die das Selbstvertrauen innerhalb und das Vertrauen zwischen Gemeinschaften aufbauen, bei gleichzeitiger Bekämpfung von Ansätzen, die der Segregation zugute kommen. Anerkennung der ökonomischen Notwendigkeit, den Kostenaufwand der

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Segregation anzugehen, sowie der Notwendigkeit, Sicherheitsbedürfnissen zu entsprechen.

Es ist nicht klar, wie und ob Stadtplaner, Wohnraumverwalter und Akteure aus dem Quartier solch eine Agenda für das Gemeinschaftsleben in die Praxis umsetzen können. Während des dreißig Jahre andauernden Konflikts entwickelten die staatlichen Planungsbehörden technokratische und bürokratisierte Routinen, die die Bedeutung der Frage der ethnischen Segregation für die Bauplanung oder die Wohnraumverwaltung umgingen oder gar bestritten. Die Notwendigkeit, den Staat vor tiefgreifenden Krisen zu schützen, und die Komplexität unheilvoller urbaner Probleme wurden zum Teil als Grund für dieses Verhalten angegeben und trotz der wohlmeinenden Rhetorik von „A Shared Future“ hat seitdem kaum eine fortschrittliche Entwicklung hin zum Entstehen wirklich integrierter Räume eingesetzt. Es ist schwierig, der Option, mit diesen Problemen in einem stärker segregierten räumlichen Umfeld umzugehen, zu widerstehen, und acht Monate, nachdem die Strategie erstmals umgesetzt wurde, veröffentlichte die Regierung die Resultate in einem Arbeitsgruppenbericht über die Situation der Lebensgemeinschaften der protestantischen Arbeiterklasse. Anlass für die Einrichtung der – vom Staatssekretär der Abteilung für Soziale Entwicklung (Department for Social Development) geführten – Arbeitsgruppe waren eine Reihe von organisierten Unruhen in loyalistischen Gebieten, Straßenproteste und Einschüchterungsversuche der paramilitärischen Truppe, der Ulster Defence Association. Die wichtigsten narrativen Strukturen, die dieses Dokument aufweist, sind in Tabelle 2 umrissen; sie zeigen eine erheblich andere Interpretation kommunaler Probleme und politischer Prioritäten als diejenigen von „A Shared Future“. Im Rahmen einer interessanten Analyse des Problemfelds stellt der Bericht weder Besonderheiten in der Struktur noch in der Intensität der Benachteiligung fest. Er besagt vielmehr, dass die besonderen Umstände in den protestantischen Quartieren Sonderregelungen und Programme erforderlich machen, mit deren Hilfe eine Wiederbelebung ermöglicht und das Selbstwertgefühl gesteigert werden könne. Auf der Grundlage von Äußerungen dahingehend, dass man sich entfremdet und verlassen und im erweiterten Friedens-

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prozess im Stich gelassen fühle, erhalten loyalistische Gemeinden den Status legitimer „Interessenvertreter“, die der besonderen Aufmerksamkeit der Regierung, von Arbeitsgruppen und von Programmen bedürfen. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen wird selten hinterfragt oder überprüft. So stellte der Arbeitsgruppenbericht fest, dass diese Gegenden im Hinblick auf die Qualität des Lebensraums weniger benachteiligt als katholische Gegenden seien; auch die Ergebnisse zu Schlüsselindikatoren wie z.B. Arbeitslosigkeit, Einkommen und Gesundheit seien nicht schlechter als diejenigen nationalistischer Gegenden. Paramilitärische Einheiten werden im Rahmen eines umfassenderen Erneuerungsprozesses lediglich als örtlich begrenztes Problem angegangen, obwohl sie dazu beitragen, das Entstehen sinnvoller Allianzen im Kampf gegen Armut zu verhindern, und obwohl sie den Gegenden, in denen sie ansässig sind, durch das von ihnen organisierte Verbrechen und ihre brutale Zensur schaden. Die Regierung reagierte auf den Bericht mit einer neuen Strategie zur Erneuerung der Gemeinden, die auf fünf wesentlichen Grundsätzen beruht: • Lebens-/Zukunftsaussichten verbessern, • Gemeinschaften und sozialen Zusammenhalt aufbauen, • bürgerliche Führungskräfte und aktive Bürgerbeteiligung fördern, • öffentliche Dienstleistungserbringung und -ergebnisse unterstützen und • Gemeinden von paramilitärischen und kriminellen Einflüssen befreien. Viele dieser Vorschläge, wie z.B. die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungsangebote, waren nicht speziell für die protestantischen Gegenden gedacht und Aktionen, die der Stärkung der Gemeinden dienen sollten, standen im direkten Gegensatz zu der Schwerpunktsetzung der „Shared Future“-Politik. Eine neue Kategorie „Gefährdete Gebiete“ wurde eingeführt, die die Unterstützung protestantischer Wohngegenden ermöglichte, auch wenn sie nicht zu den am meisten benachteiligten Gegenden gehörten, da auf diese Weise „the often fragmented nature of Protestant communities (where) there is clear evidence of reluctance of constituent parts of many of these communities to work together with any unity of purpose“ (DSD 2006: 20) anerkannt werden konnte.

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Tabelle 2: Politische Berichtstrukturen und Renewing Communities. Narrative Struktur

Belegbeispiele

Charakteristische Probleme

Es gab weitreichende Übereinstimmung dahingehend, dass viele Probleme aus dem ökonomischen Abstieg und wirtschaftlichen Benachteiligungen resultierten, die in keiner Weise nur für die Gruppe der Protestanten oder für Nordirland allein gelten, wo das besondere politische Umfeld zu einem Vertrauensverlust und einem Mangel an Leistungswillen beitrug.

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Zersplitterung innerhalb der Gemeinschaften

Innerhalb beider Gemeinschaften konnten Anzeichen der Fragmentierung nachgewiesen werden, obwohl es daneben auch Anzeichen einer erheblichen Leistungsfähigkeit gab, wie das breite Angebot vieler gesunder Gemeindeorganisationen und -aktivitäten zeigte.

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Geringe Leistungspotentiale

Es fehlt oft an der effektiven kommunalen Führung, weshalb sich wiederum die Unzufriedenheit in den unteren Klassen vergrößert, die keinen Zugang mehr zum sozialen und politischen Leben haben und in wirkliche Entscheidungsprozesse nicht mit einbezogen werden. Die Resultate dieser Entwicklung werden durch den Rückzug der berufstätigen und Mittelklassen aus diesen Arbeiterklasse-Gebieten begünstigt.

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Paramilitärische Gruppen

Es wird allgemein akzeptiert, dass paramilitärische Organisationen in vielen, wenn nicht den meisten Wohngegenden der Arbeiterklasse agieren und diese mehr oder weniger kontrollieren.

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Seite

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Entfremdung

Weite Teile der PUL-Gemeinden (Protestant Unionist Loyalist) fühlen sich weiterhin benachteiligt und von der Regierung als minderwertig und unwichtig wahrgenommen.

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Vernachlässigung

Streit um die Gebietszugehörigkeit, insbesondere in Grenzgebieten der beiden Gemeinschaften, führen dazu, dass Gebäude verlassen werden, verkommen und nicht abgerissen werden. Das Wohnen in Häusern solcher Grenzgebiete ist wenig attraktiv, doch die Gemeinden befürchten, dass, wenn leerstehende Häuser (insbesondere durch private Anleger) durch neue ersetzt würden, dies zur weiteren Verdrängung der angestammten Bevölkerung führen würde.

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Ein Teil des Problems liegt darin begründet, dass der weiter gefasste Friedensprozess, das Belfast-Abkommen und die Gleichberechtigungsagenda, hauptsächlich auf einem konkordanzdemokratischen Modell statt auf einer Bürgergesellschaft basierte. „Consociationalism proposes that in deeply divided societies it is only realistic to accept group differences and try to construct stable institutions that can accommodate those differences.“ (Aughey 2005: 78)

Dixon (1997) kritisiert das Modell der Konkordanzdemokratie in den folgenden Hinsichten: Es sei exklusiv, da es die Interessen derjenigen ignoriere, die sich nicht im Rahmen des Zwei-Gemeinschaften-Modells erfassen lassen wollen; es sei konservativ, da es den Status der alten Elite stärke; und es sei elitär, da die Verhandlungen hauptsächlich von der Führungsriege der zwei größten politischen Parteien geführt würden. Dixon (2001) argumentiert zudem, dass jeder Bestandteil des Übereinkommens zu einem Großteil auf einem binären Modell basierte. Die NordirlandVersammlung (Northern Ireland Assembly) vertrat die Prinzipien des parallelen Konsens und der gewichteten Mehrheitsabstimmung, um eine gemeinschaftsübergreifende Übereinkunft zu le-

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gislativen Fragen zu gewährleisten; die Ten-Member-Executive, eingesetzt gemäß den Prinzipien d’Hondts, garantierte, dass die vier größten politischen Parteien in der Kabinettregierung eine privilegierte Stellung einnahmen, und zum North-South Ministerial Council wurde durch die Einrichtung des British-Irish Council und des Intergovernmental Council ein Gegengewicht geschaffen. Gruppenrechte wurden zwar im Rahmen der politischen Vereinbarungen abgesichert; doch indem die Ansprüche der alten sektiererischen Ordnung in den Vordergrund gestellt wurden, wurde die Lokalpolitik kompetitiver, besonders, wenn es um den Zugang zu Ressourcen – vor allem in den Bereichen des Land- und Wohnungswesens – ging, und sie zeichnete sich durch eine waghalsige Nullsummen-Politik aus, die charakteristisch war für praktisch jeden Schritt auf dem Weg zur Übereinkunft: „An arrangement based on the principle of conciliation or sharing required the cultivation of those genuinely committed to that principle rather than the accommodation of those who have been happier with the politics of ethnic rage.“ (Aughey 2005: 172)

Es ist somit kaum überraschend, wenn das Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach einer „Shared Future“-Agenda und der unvermeidbaren Anziehungskraft von sektiererischem Lokalismus zu Konfusionen führt. Die Unterschiedlichkeit wurde – trotz ihrer Schädlichkeit für den Fortschritt des Friedensprozesses – gefeiert und sämtliche Anstrengungen, eine auf gemeinsamen Bürgerrechten basierende Gesellschaft zu schaffen, geraten weiterhin ins Stolpern.

Implikationen für Toleranz und Planung Im Folgenden soll geprüft werden, wie man ein Leben unter der Bedingung der Differenz ermöglichen könne, wenn diese Unterschiedlichkeit für viele eine Art kulturelles Minenfeld darstellt, auf dem man sich aus Sorge darum, jemanden zu verletzen, nur mit größter Vorsicht bewegen kann. Im Gegensatz zu Hilliers Vorstellung, derzufolge im Rahmen des Verhandelns von Differenz „transformation cannot only be concerned with ‚them‘, ‚the others‘, it must also dislocate the position and rupture the ‚prero-

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gative‘ of ‚us‘“, wird hier die Position vertreten, dass der Prozess, kulturelle Festlegungen aufzulösen, nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann und letzten Endes Toleranz in der Stadt ihre Grenzen hat. Das Dilemma besteht darin, dass in der Auseinandersetzung mit der Intoleranz dieser zuweilen nicht mit Toleranz begegnet werden kann. Es bleibt dann die Frage, wie eine stärker inklusive und die Bürger zur Teilnahme auffordernde Stadtkultur geschaffen werden könnte. Letztendlich kommt dieser Beitrag zu dem Schluss, dass „order must, nevertheless, be imposed on difference“ (Neill 2004: 7). Insbesondere spricht sich dieser Beitrag für einen Ansatz der Stadtentwicklung und städtischen Politik aus, der nicht einen alles beherrschenden Konsens zu finden sucht, sondern der auf der Akzeptanz eines „affable but agonistic dissensus“, einem agonistischen Pluralismus beruht – und somit einen Entwicklungsansatz darstellt, in dessen Rahmen Konflikt und Emotionen Raum haben (Gunder 2005b: 177). Unter Berücksichtigung der heute stärker als jemals zuvor bestehenden Notwendigkeit, Zusammenhalt in einem Kontext kultureller Verschiedenheit zu schaffen, warnt Gunder sinnvollerweise vor Phantasien über die Schaffung eines utopischen Staates, der Sicherheit und Inklusivität für beide, für „uns“ und für die „Anderen“, bietet. Der Wunsch nach Toleranz für den „Anderen“ „may run counter to society’s most fundamental desire for security, inclusiveness, and completeness“ (Gunder 2005a: 85). Dennoch muss Verschiedenheit verhandelt werden: „[…] the European traditions of the city must be separated from their past definitions and made flexible. An understanding of urban development as an everyday, continual process of negotiation between various milieus and different interest groups on the political level is now constituent of the European city. Such a concept of urbanity extends beyond simple participation, for it recognises and demands the active participation and contribution of urban protagonists.“ (Akbar/Kremer 2005: 34)

In dieser Art von Stadt werden, Amin (2005: 73) zufolge, praktische Vorgehensweisen benötigt, um ein Ideal von Inklusion zu fördern, das auf einem „fellow feeling“ basiert, welches entwickelt wird durch „dense everyday networks of institutional relations that bind difference“. Diese Einstellung wird von Benhabib (2000: 13) geteilt; sie hebt hervor, dass, wenn Gruppen in der Öffentlich-

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keit gute Gründe anführten, um andere in einer multikulturellen Gesellschaft zu überzeugen, die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer gemeinschaftlichen Einstellung gegenüber der erweiterten Gemeinschaft steige. Ausgehend von der Annahme, dass Unterschiede „more easily coexist in relation to the civic identity of a city than in the concept of a nation“, argumentierten Neill und Schwedler, Stadtplanung müsse im weitesten Sinne stattfinden unter Berücksichtigung einer „ethic of cultural inclusion“ (2001: 207ff.). Die wichtigste Frage kann dabei jedoch nicht umgangen werden: Wo liegen die Grenzen, die in der demokratischen multikulturellen Stadt nicht überschritten werden dürfen? Leonie Sandercock verlangt, auch wenn sie von einer postmodernen „togetherness in difference“ in einer utopischen „Weltstadt“ träumt – die übrigens in der Vorstellungswelt der Stadtplaner einigen Anklang findet –, dass dieses begründet sein müsse in einem „basic humanistic respect for others“ (1998: 198f.). Die neue Version dieses Traums vom Zusammenleben in der „mongrel city“ des 21. Jahrhunderts verortet jetzt eine solche multikulturelle Stadt innerhalb „an agonistic democratic politics that demands active citizenship and daily negotiations of difference in all the banal sites of intercultural interaction“ (Sandercock 2003: 103). Diese Aussagen scheinen einen im Entstehen begriffenen progressiven Diskurs über die Organisation des Lebens der Bürger in der multikulturellen Stadt zu reflektieren, in den Aspekte eines kommunitären Konzepts der Bürgerschaft miteinbezogen werden, dessen Anliegen die Wahrung des Respekts und die Erhaltung der kulturellen Identität sind und der das wesentliche Problem nicht in der Übereinkunft über einen moralischen Universalismus sieht, sondern in der Integration des Selbst und des Anderen (Neill 2004: 224). Der Versuch, eine solche Denkweise auf ein Konzept von Großbritannien als einer „Community of Communities“ anzuwenden, wie dies vom einflussreichen Parekh Report (2000) getan wurde, blieb jedoch nicht ohne Kritik. Die zu große Toleranz gegenüber Verschiedenheit führte zu dem Vorwurf, dass sie die Entwicklung einer verbindlichen Bürgerkultur der Zugehörigkeit verhindere – ein Vorwurf, der im Jahr 2005 besonders vom gegenwärtigen Vorsitzenden der britischen Commission for Racial Equality erhoben wurde und der zu einer Reaktion des Muslimischen Rats Großbritanniens führte, die als wenig maßvoll be-

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maßvoll bezeichnet wurde.1 Im Gegenzug wirkt es wie eine Anwendung des Grundsatzes „might makes right“ (Barry 2001), wenn die Mehrheit einer Minderheit ihre Werte aufzwingt. Es handelt sich hier um ein „verworrenes Dilemma“, das in absehbarer Zukunft kaum zu lösen sein wird. Dies ist keine Frage pragmatischen Entgegenkommens – wie z.B. die Verhandlung von Themen wie akzeptablen Beerdigungsriten oder architektonischen Merkmalen von Moscheen in der Stadt, bei denen die Erfahrung gezeigt hat, dass der interkulturelle Dialog es Kulturen ermöglicht, sich im Sinne des gegenseitigen Nehmens und Gebens erfolgreich aneinander zu reiben (Manço 2006), obwohl diese Auseinandersetzungen in einem Kontext stattfinden, in dem kulturellen Minderheiten immer noch mit erheblicher Intoleranz begegnet wird und sie nur mit Schwierigkeiten in der dominanten Kultur leben können (Dittrich 2006). Hier stehen Probleme der Redefreiheit, die Menschenrechte (insbesondere die Rechte der Frauen) bzw. der Grundsatz des Säkularismus der europäischen Demokratien im Vordergrund. Im Wesentlichen müssen die Grenzen „dezentrierender“ Maßnahmen der ‚dominanten Kultur‘ in der Praxis dort gezogen werden, wo Rechte einzelner Gruppen durch kulturelle Praktiken unterdrückt werden. An dieser Stelle ist es sinnvoll, auf Kants kategorischen Imperativ zurückzugreifen – auf das Prinzip, dass Freiheit dort eingeschränkt werden muss, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. Sicherlich fallen Ehrenmorde und -vergewaltigungen in diese Kategorie, ebenso wie paramilitärische Vergeltungskommandos, Erpressung und organisierte Kriminalität. Zwangsheiraten, die Diskriminierung Homosexueller und Polygamie können der Liste hinzugefügt werden. Es ist keineswegs sicher, dass die Aufregung auslösenden dänischen Cartoons als Akt der Provokation bezeichnet werden können – auch wenn man anerkennt, dass die Redefreiheit ein soziales Konstrukt ist und keinen Absolutheitsanspruch hat. Während kultureller Selbstdefinition möglichst viel Raum gelassen werden sollte und kein Versuch unternommen werden sollte, gewalttätiges Verhalten einer radikalen Minderheit mit den Ansichten der Mehrheit der ethnischen Gesellschaft gleichzusetzen, bedeutet Toleranz zu keinem Zeitpunkt, dass die Verletzung der Menschenrechte akzeptiert werden sollte, 1

Leitartikel der Times, 23. September 2005.

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was auch immer Wurzeln oder Grund einer solchen Verletzung sein mögen. Der Balanceakt zwischen der Vermeidung der „Dezentrierung“ von Werten der „Gastgebergesellschaft“ bei gleichzeitiger Beachtung des Gebots der Toleranz, Verschiedenheit zu respektieren, wird in den gemeinsamen grundlegenden Prinzipien zur Integration, wie sie vom Europarat angenommen wurden (s. Tabelle 3), vollzogen.

Tabelle 3: Vom Rat der Europäischen Union beschlossene Prinzipien der Integration, Groningen, November 2004. Integration is a dynamic, two-way process of mutual accommodation by all immigrants and residents of Member States. Integration implies respect for the basic values of the European Union. Employment is a key part of the integration process and is central to the participation of immigrants, to the contributions immigrants make to the host society and to making such contributions visible. Basic knowledge of the host society’s language, history, and institutions is indispensable to integration; enabling immigrants to acquire this basic knowledge is essential to successful integration. Efforts in education are critical to preparing immigrants, and particularly their descendants, to be more successful and more active participants in society. Access for immigrants to institutions, as well as to public and private goods and services, on a basis equal to national citizens and in a nondiscriminatory way is a critical foundation for better integration. Frequent interaction between immigrants and Member State citizens is a fundamental mechanism for integration. Shared forums, intercultural dialogue, education about immigrants and immigrant cultures, and stimulating living conditions in urban environments enhance the interactions between immigrants and Member State citizens. The practice of diverse cultures and religions is guaranteed under the Charter of Fundamental Rights and must be safeguarded, unless practices conflict with other inviolable European rights or with national law. The participation of immigrants in the democratic process and in the formulation of integration policies and measures especially supports their integration at the local level.

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Mainstreaming integration policies and measures in all relevant policy portfolios and levels of government and public services is an important consideration in public policy formation and implementation. Developing clear goals, indicators and evaluation mechanisms are necessary to adjust policy, evaluate progress on integration and to make the exchange of information more effective.

Quelle: EC-Commission of the European Communities (2005). Diese Prinzipien, im Rahmen der informellen Ministerkonferenz in den Niederlanden im November 2004 unterzeichnet, die inzwischen von der Europakommission als Basis für ein kohärentes europäisches Rahmenwerk der Integration bestätigt wurden, sind von den Richtlinien für eine verantwortungsbewusste Regierungsführung der kulturellen Integration geprägt, die beim Jahrestreffen der EuroCities 2003 beschlossen worden waren. Im Einklang mit den Richtlinien von EuroCities wird unter Integration, wie die gemeinsamen grundlegenden Prinzipien zeigen, ein wechselseitiger Prozess des gemeinsamen Einsatzes verstanden, in dem von Immigranten erwartet wird, dass sie die grundlegenden Normen und Werte der Gastgebergesellschaft respektieren und sich aktiv am Integrationsprozess beteiligen – während die Gastgebergesellschaft dies aktiv ermöglicht und genehmigt. Dieser Prozess setzt jedoch voraus, dass alle die gleichen Möglichkeiten zur Nutzung der Ressourcen einer Gesellschaft haben. Ist dies nicht der Fall, werden Integration und Dialog Euphemismen bleiben.

Fazit Das Europäische Jahr des Interkulturellen Dialogs 2008 stellt eine Initiative dar, die das Bewusstsein für diese Problematik erhöhen soll. Von besonderem Interesse ist für die Städte die Anerkennung des „value of a concept of ‚civic citizenship‘ as a means of promoting the integration of immigrants who do not have national citizenship“ (EC 2005: 22), wie sie im neusten Kommissionspapier diskutiert wird. Das im britischen Parekh Report benannte bzw. oben bereits angesprochene „verworrene Dilemma“ – die letztendliche Unmöglichkeit, im interkulturellen Dialog zu rechtfertigen, dass den Werten des Großteils der gesellschaftlichen Öffent-

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lichkeit gegenüber denjenigen der Minderheitengemeinschaften der Vorzug gegeben wird –, ist ein zentrales Thema der Gemeinsamen Europäischen Grundprinzipien. Letzten Endes, so kann festgehalten werden, muss dem Aspekt der Ordnung Vorrang eingeräumt werden, da eine liberale Haltung zu den viel kommentierten Schwierigkeiten führt, die sich auf den folgenden tief sitzenden Widerspruch zurückführen lassen: „On the one hand cultural differences must be respected and preserved; on the other culture is subordinate to a political theory of universalism in which difference is transcended in the doctrines of equality and human rights.” (Inglis 2006: 172) Wie die Fallstudie Nordirlands deutlich macht, ist Nachgiebigkeit in Fragen der Verschiedenheit kostspielig, nicht zuletzt aus dem Grund, dass sie Sektierertum anerkennt und reproduziert, wodurch sie zum Hindernis für Fortschritt und Modernität werden kann. Das Modell der Kollaboration bietet kaum einen Anhaltspunkt, wie verfahren werden soll, besonders wenn Verschiedenheit, mag sie authentisch sein oder nicht, ein allgemein akzeptierter Ausgangspunkt der Strategieplanung ist. Das Problem, das angegangen werden muss, ist die Aussöhnung von Verschiedenheit mit dem Bewusstsein, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt notwendig ist – und im schlimmsten Fall muss die Frage gestellt werden, wie Verschiedenheit und Andersartigkeit, wenn sie zu Teilung und Krieg führen, vermieden werden können – indem eine Politik entwickelt wird, die Konflikte kanalisiert und verhandelbar macht. Wie MacGregor richtig feststellte, als sie vor etwa zehn Jahren diese im Entstehen begriffene Landschaft überblickte, „there must be some shared notions or things will fall apart – the centre will not hold […] The old certainties about values may have gone but the awareness of the abyss beyond if we do not step cautiously has led to a searching for some agreed pathways and directions.“ (1993: 10) In den letzten Jahren häuften sich die Belege für das Vorhandensein eines solchen Abgrunds in Europa. Geht man von der Prämisse aus, dass es keine Analyse von Herrschaft ohne eine sie begleitende Analyse der Hoffnung geben sollte (Sandercock 2004: 142), so gibt es sogar im gegenwärtig kalten Klima Gründe für eine optimistische Einstellung gegenüber Initiativen wie der EuroCities Charta und den Gemeinsa-

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men Europäischen Grundprinzipien für die Integrationspolitik; sie sind ein Anfang, Wege und Richtungen für das tolerante Verhandeln von Verschiedenheit innerhalb der Stadtgrenzen aufzuzeigen.

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„Urbane Civitas“ errichten: Die Rolle der Städte im interkulturellen Dialog Europas LÉONCE BEKEMANS „I do not want my house to be walled in on all sides and my windows to be stuffed. I want the culture of all the lands to be blown about my house as freely as possible. But I refuse to be blown off my feet by any.“ (Mahatma Gandhi)

Einleitung: Das kreative Potential der Städte Im heutigen Europa erleben wir eine Wandlung in der Wahrnehmung der Rolle, die Städte in der Entstehung tragfähiger Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen und geteilten Werten spielen können. Städte werden zunehmend in einem größeren gesellschaftlichen Kontext betrachtet, da sie Orte, Regionen und Flächen über politische Steuerung, Inklusion und Identität verbinden. Städte sind Zentren der Diversität, der Integration und der interkulturellen Begegnung und als solche lebenswichtig für die Mobilisierung der Bürger. Für die in Wandlung begriffenen europäischen Gesellschaften stellen sie ökonomische, politische und soziale Aktivposten dar. Im Hinblick auf die im Entstehen begriffene neue, urbane Umwelt sind Kultur und interkultureller Dialog Potentiale, die bei dem Aufbau einer demokratischen „urbanen Civitas“ Kräfte mobilisieren und die Lebensgeister der Stadt zu erneuern vermögen.

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Der „Genius loci“, d.h. die geistige Atmosphäre des Stadtraums im 21. Jahrhundert, wird durch verschiedene Objekte oder Artefakte realisiert. Wir nehmen urbane Räume als lebendige Räume wahr, die kollektive Vorstellungswelten und kulturelle Entwicklungen prägen. Sowohl die Geschichte, die Architektur, die Traditionen und die Gewohnheiten als auch das Verhalten der Menschen und ihre kulturellen Ausdrucksformen prägen den Urbanisierungsprozess Europas, der sich zwischen Diversifizierung und Annäherung bewegt. Die Arbeitshypothese dieses Artikels ist, dass das kreative urbane Potential von Städten für den interkulturellen Dialog relevant ist. Die Städte des heutigen Europas sind Träger der Entwicklung einer „urbanen Civitas“, da sie lokale Gemeinschaften repräsentieren, in denen Bürger verschiedene Werte und Gepflogenheiten leben. Sie sind in Wandlung begriffene Orte, an denen Traditionen ständig mit Modernität konfrontiert werden. Heutzutage stellen sie als inklusive Umwelten den Raum für den gelebten Dialog. Dieser Artikel gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil wird der weitere konzeptuelle Kontext dargestellt, in dem Städte als Kommunikationsräume fungieren und der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf verschiedenen Ebenen des materiellen und immateriellen gesellschaftlichen Lebens begegnen. Im zweiten Teil werden die Herausforderungen und Möglichkeiten der Städte in ihrer Rolle als Träger des Aufbaus kreativer und zukunftsfähiger urbaner Wirklichkeiten in Europa analysiert.

Teil I. Konzeptueller Kontext: Die „urbane Civitas“ A. Schlüsselkonzepte: Inklusion, Integration und Vielfalt1 Zu der Thematik der „urbanen Civitas“ gehören die zusammenhängenden und sich überlappenden Themenbereiche der Inklusi1

Wir beziehen uns hier auf Peter Ramdsens (2006) konzeptuelle Einführung in das thematische Netzwerk UDIEX-ALEP, das den Erfahrungsaustausch über urbane Regeneration und Inklusion in 24 europäischen Städten ermöglichte.

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on, Integration und Vielfalt. Dieser Artikel geht davon aus, dass Integration nicht ohne Inklusion erreicht werden kann und dass eine Gesellschaft, die Vielfalt und Dialog ernst nehmen will, sowohl auf Bemühung der Integration als auch der Inklusion angewiesen ist. Das Konzept verbindet „demos” mit „polis”.

1. Inklusion Inklusion ist definiert als die Fähigkeit von Menschen, ungehindert am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben teilzunehmen. Das wachsende Interesse an einer umfassenderen Inklusion von sozialen, kulturellen und ökologischen Belangen in allen Bereichen und auf allen Ebenen der Politikgestaltung führte zu der Einführung des mittlerweile zum Modebegriff gewordenen Mainstreaming. Dadurch wurden Ansätze, die zunächst nur grundlegende menschliche Bedürfnisse berücksichtigt hatten, so erweitert, dass die Gesellschaft aus dem weiterem Blickwinkel ihres Inklusions- und Kohäsionspotentials betrachtet werden kann. Solche einbeziehenden Strategien der Inklusion können durch die Partizipation von öffentlichen Körperschaften, sozialen Partnern, NROs und anderen relevanten Akteuren gefördert werden. Eine wachsende Anzahl von führenden Persönlichkeiten aus der Gemeinde und gewählten Kommunalpolitikern gehen Partnerschaften mit dem Ziel ein, die Fähigkeit von Städten zu verbessern, inklusive Gemeinschaften zum gemeinsamen Vorteil aller Menschen zu schaffen und aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die diversen Stimmen in der Gemeinschaft Gehör finden können.

2. Integration Im Rahmen dieses Artikels bezeichnet Integration eine Vielzahl von Prozessen, die Individuen und Gruppen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Bereiche verbinden. Deshalb fordert die Integration im Wesentlichen sowohl die Akzeptanz, Toleranz und den Respekt für Menschen, die andere Werte, Ansichten und Verhaltensmuster haben, als auch den Einsatz und die Arbeit für eine gemeinsame Zukunft, an der wir alle gleichermaßen teilnehmen können.

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Das Leben mit Unterschieden in einer Gesellschaft erfordert die Organisation dieser Vielfalt. Es gibt zwei grundlegende Bereiche der Organisation: den Bereich der Kultur und den Bereich der materiellen Ressourcen bzw. des Zugangs zu diesen Ressourcen. Um in einer kohäsiven Gemeinschaft mit verschiedenen Kulturen zusammenleben zu können, ist es notwendig, die öffentlichen Räume aufeinander abzustimmen, so dass offene Konflikte vermieden sowie Zusammenarbeit und das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verstärkt werden können. Wir verstehen deshalb unter Integration nicht einen verflachenden Prozess der Assimilation, sondern einen wechselseitigen Prozess, der auf einem Bezugsrahmen grundlegender Werte basiert, nämlich dem Paradigma der Menschenrechte, das die Anerkennung der Chancengleichheit, der kulturellen Vielfalt und der gegenseitigen Toleranz fordert. Hinzu kommt, dass im europäischen Kontext Integration aus einer bestehenden multikulturellen Umwelt heraus verstanden wird. Multikulturalismus steht dafür, dass eine Gesellschaft die Existenz verschiedener kultureller Gruppen mit gleichem Status aber unterschiedlichen kulturellen Identitäten zulässt und einschließt. Ein nützlicher Hinweis in dieser Hinsicht ist die Differenzierung, die Amartya Sen in seinem kürzlich erschienen Buch „Identity and Violence” (2006) vornimmt, wenn er das Konzept der kulturellen Freiheit, die auf der Freiheit, Vorrechte zu erhalten oder zu ändern, beruht, absetzt von dem Konzept der Wertschätzung kultureller Konservierung. Tatsächlich führen multikulturelle Praktiken manchmal zu einer Abkapselung kultureller Identität, einer ‚Ghettoisierung’ bestimmter Gruppen oder zu einer Politik, die die getrennte Entwicklung ethnischer Minderheiten fördert.

3. Vielfalt Kulturelle Vielfalt ist ein wesentlich schwammigeres Konzept als Inklusion oder Integration. Im Rahmen dieses Artikels wird Vielfalt definiert als Wahrnehmung, Respektierung, Wertschätzung und Nutzbarmachung der einzigartigen Talente und Beiträge aller Individuen einer Gesellschaft, ungeachtet ihrer verschiedenen Wertvorstellungen, Überzeugungen und Lebensweisen, ihrer Kulturen, Sprachen, Religionen usw. Kulturelle Vielfalt bedeutet mehr als nur die Anerkennung und/oder Toleranz der Andersar-

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tigkeit. Der Weltentwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP 2005) fasst unter den Begriff der Vielfalt eine Anzahl bewusst ausgeübter Verhaltensweisen, zu denen die Folgenden gezählt werden: „a) understanding and appreciating interdepence of humanity, cultures, and the natural environment; b) practicing mutual respect for qualities and experiences that are different from our own; c) understanding that diversity includes not only ways of being but also ways of knowing; d) recognizing that personal, cultural and institutionalized discrimination creates and sustains privileges for some while creating and sustaining disadvantages for other; and e) building alliances across differences so that we can work together to eradicate all forms of discrimination.“ (UNDP 2005: Kap. 1)

Der UNDP Bericht schließt, dass ein für die Demokratie und den Fortschritt bereichernder Effekt durch die Wahrnehmung von Vielfalt erzielt werden kann, indem multikulturelle Demokratien und verschiedene Formen moderner Demokratien aufgebaut werden.

B. Konzeptuelle Erwiderungen 1. Die Entwicklung vom Multikulturalismus zum Interkulturalismus Das Konzept einer „urbanen Civitas”, das den interkulturellen Dialog mit der (Staats)bürgerschaft verbindet, entspricht Stavenhagens anthropologischer Definition von Kultur als Kapital, Kreativität und Lebensweise (1998). Er unterscheidet drei Hauptfunktionen von Kultur: • Die Erhaltung der Kultur: Kultur als materielles oder immaterielles Gut und als Träger lokaler Identität. Ihre Bewahrung bei räumlichen und ökonomischen Veränderungen prägt das städtische Umfeld. • Die Produktion von Kultur: Kultur als Gut, das nicht nur zum Zweck der Aufrechterhaltung des kulturellen Kapitals reproduziert wird, sondern, insofern es in den Produktionspro-

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zess eingebunden ist, auch als Quelle wirtschaftlicher Entwicklung betrachtet werden muss. • Die Valorisierung der Kultur: Kultur als Bündel von Normen und Fähigkeiten, das lokale Gemeinschaften aufwertet und dazu verwendet werden kann, Brücken zu bauen und gute Beziehungen für den sozialen und wirtschaftlichen Austausch zu schaffen. Ein dynamischer und interaktiver Austausch zwischen diesen drei Funktionen der Kultur fördert nicht nur die friedliche Koexistenz verschiedener Kulturen innerhalb der Gesellschaft, sondern auch einen sich gegenseitig befruchtenden und offenen Dialog zwischen den Kulturen. Mit Hilfe eines solchen konzeptuellen Wandels von der multikulturellen Koexistenz zum interkulturellen Dialog könnte die Falle des kulturellen Relativismus vermieden und eine Basis für den interreligiösen Dialog geschaffen werden.

2. Anerkennung unterschiedlicher Identitäten und kosmopolitischer Staatsbürgerschaft Die Debatte über Identität und Staatsbürgerschaft trägt wesentlich zum Verständnis der Rolle bei, die der interkulturelle Dialog in der Entwicklung fortschrittlicher Formen der Demokratie spielt. Der Aufbau von Identität ist kein konstanter und unveränderbarer Prozess, sondern wandelt sich im Laufe der Zeit, abhängig von Faktoren wie Geburt, Familie, Sprache, Religion, Staatsgebiet usw. Dieser Prozess ist mit der zunehmenden Individualisierung, intolerantem und misstrauischem Verhalten und aufgrund der Vagheit moralischer Normen der Gesellschaft komplexer und beunruhigender geworden. Kurz gesagt, wandelt sich Identität zunehmend zu einer relationalen Identität, der in modernen Gesellschaften keine verbindlichen Merkmale zugeschrieben werden können. Der Einbezug einer europäischen Dimension als einen zusätzlichen (bereichernden) Wert für unsere Identität bekräftigt unseren konzeptuellen Ansatz. Vielfältigkeit ist deshalb die Grundlage europäischer Identität, die von einer Gesellschaft mit geteilten Werten geformt wird (wie Solidarität, Rechtsstaatlichkeit, Respekt vor Andersartigkeit, Achtung der Person und der menschlichen Würde). Dieser bereichernde Effekt gilt sicherlich für die kulturel-

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le Identität, die Länder, Regionen und Personengruppen durch geteilte Erinnerungen und Erwartungen verbindet und eint. Die politische Bedeutung der Anerkennung unterschiedlicher Identitäten liegt im gegenseitigen Respekt für die Einzigartigkeit der Person. Verwurzelt im Paradigma der universell gültigen Menschenrechte, schafft er die Grundlage für den zunehmenden und besser werdenden Dialog und für die Solidarität innerhalb und außerhalb Europas (Papisca 2002).

3. Humanisierung der Globalisierung Eine weitere Reaktion stellt der als vielschichtiges Phänomen und Prozess definierte Humanisierungsprozess der Globalisierung dar. Der hauptsächlich von der Wirtschaft dominierte Prozess hat zu der Kommodifikation und der Entpersonalisierung wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen, zu einem drastischen Abnehmen staatlicher Einflussnahme in die Gestaltung sozio-ökonomischer Aktivitäten und zu einer verstärkten Kontrolle demokratischer Gesellschaften durch transnationale Netzwerke geführt. Jedoch ist Europa nicht allein ein Wirtschaftsraum, sondern vornehmlich eine Gemeinschaft mit geteilten Werten, die sich aufgrund der sich neu formierenden geopolitischen und wirtschaftlichen Lage dazu gezwungen sieht, ihre Voraussetzungen zu überdenken. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit den verschiedenen Auswirkungen der Globalisierung basiert auf geteilten Wertemustern und dem gegenseitigen Respekt vor Verschiedenheiten. Es bedarf einer stärker „compassionate globalisation” (Falk 2000) (oder eines kosmopolitischen Humanismus), um jede Art von kulturellem Relativismus vermeiden zu können. Notwendig sind Strukturen, die sowohl Bereiche gemeinsamer Interessen und geteilter Werte schaffen, als auch Strukturen, die Raum bieten für zivilisierte Konfrontationen und Meinungsverschiedenheiten. Gleichzeitig müssen die verschiedenen Kulturen ihre eigene Lage überdenken, um in dieser neuen Realität einen Platz finden zu können. Dies setzt das Entstehen eines globalen Bewusstseins und die Akzeptanz vielschichtiger Identitäten und multipler Modernen voraus (Eisenstadt 2002). Die Rolle einer Lernprozesse einleitenden Bildung, die eine Kultur der Konkurrenz, des Misstrauens und der Angst durch eine Kultur der Kooperation, des Friedens

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und des gegenseitigen Respekts ersetzen kann, ist hierfür von fundamentaler Bedeutung.

4. Revalorisierung der Rolle der Kulturen in Europa Mit der Übernahme einer anthropologischen Definition von Kultur identifizieren wir europäische Kultur(en) als dynamische Interaktion historischer, geistiger, religiöser, intellektueller, materieller sowie künstlerischer Merkmale und Verhaltensweisen. Diese Merkmale veranschaulichen die Mannigfaltigkeit und den Reichtum europäischer Kulturen, kultureller Ausdrucksformen und Traditionen. Die breit gefächerten und dennoch gemeinsamen kulturellen Ausdrucksformen bilden schließlich zusammen genommen Europas soziales, kulturelles und menschliches Kapital. Die kulturelle Mannigfaltigkeit ist zudem eine Quelle innerer Stärke und nach außen wirkenden Stolzes. Nicht eine einzige Kultur darf in der kulturellen Landschaft Europas fehlen. Obwohl Europa vorwiegend ein Raum kultureller Vielfalt ist, sollte der Respekt für kulturelle Vielfalt nicht zu ethnischen Reflexen und ausschließenden Verhaltensweisen führen. Die verbindende Funktion eines nach innen und außen hin offenen kulturellen Ansatzes garantiert die weitere europäische Integration und die fortgesetzte Kooperation mit anderen Kulturen. Deshalb nehmen wir Kultur vornehmlich als Quelle der Inspiration für soziale Integration, sozio-ökonomische Entwicklung und gesellschaftlicher Inklusion wahr. Sie kann für Bürger sicherlich einen Impuls darstellen, sich stärker für das europäische Projekt einzusetzen und an ihm teilzunehmen.

5. Förderung des interkulturellen Dialogs Der Begriff des interkulturellen Dialogs ist stark normativ und wird als Weg mit dem Ziel, Möglichkeiten des Zusammenlebens zu entwickeln, betrachtet. Raj Isars Definition (2002) des interkulturellen Dialogs als einer inhärent normativen und freiwilligen Praxis des „learning to live together”2 fügt sich sehr gut in das Konzept dieses Artikels ein. Der interkulturelle Dialog kann ein 2

Dieses Konzept wurde von Delors International Commission on Education for the 21st Century (1998) verwendet.

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Mittel sein, um die (negativen) Konsequenzen des Globalisierungsprozesses (d.h. das Minderheiten-, Migrations-, Armutsproblem usw.) abzuschwächen oder zu umgehen. Ein Dialog zwischen Völkern und Kulturen kann zudem konstruktiv sein, wenn er auf gemeinsamen und ethischen Werten fußt. Im gegenwärtigen Zustand der Spannung(en) zwischen der (wirtschaftlichen) Globalisierung, dem Bedürfnis nach innerer und äußerer Solidarität und dem Respekt für verschiedene Kulturen und Religionen kann ein solcher Dialog zum Träger einer Gastlichkeit werden, in deren Rahmen sich Kulturen gegenseitig beeinflussen können, ohne sich dabei zu zerstören oder in Konflikt zu geraten. Zur spezifisch europäischen Ausprägung des interkulturellen Dialogs lässt sich festhalten, dass eine wichtige Verantwortung Europas als globalem Akteur darin liegt, den interkulturellen Dialog zu ermöglichen und zu erleichtern (Bekemans 2002a: 191ff., 2002b: 152ff.). Europa sollte in einem solchen Dialog Brücken der Kommunikation bauen und Grenzen überschreiten. Die spezifische Ausprägung der grundlegenden Merkmale des europäischen Modells betont das gegenseitige Verstehen und Lernen im offenen Dialog. Innerhalb dieses Kontextes wurden Initiativen und politische Strategien entwickelt, um den Dialog zwischen Völkern, Kulturen und Zivilisationen zu fördern (Bekemans 2004a: 121-133). Als solcher ist der interkulturelle Dialog ein integrativer Faktor für die (Wieder-)Herstellung der „urbanen Civitas“ und öffnet urbane Räume auch für den interreligiösen Dialog. Bildung spielt hier eine zentrale Rolle. Der Lernprozess, der als Ziel den interkulturellen Dialog, den Respekt für religiöse Vielfalt und die Erziehung zum mündigen Bürger hat, basiert auf einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Soll Europas Einheit in der Vielfalt gelebt werden, so sind Räume für Bildung und kulturelle Begegnungen unverzichtbar.

Teil II. Kreative urbane Lebenswirklichkeiten in Europa: Warum Städte für den interkulturellen Dialog wichtig sind Im zweiten Teil dieses Artikels konzentrieren wir uns auf die Frage, wie eine urbane Umwelt gestaltet sein muss, wenn sie einen wirklichen interkulturellen Dialog ermöglichen soll. Urbane Ge-

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gebenheiten spielen eine immer bedeutendere Rolle bei der Ankurbelung einer der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung zugute kommenden Kreativität. Städte sind Brutstätten der Inklusion, Integration und Vielfalt. Unsere Arbeitshypothese ist, dass die „urbane Civitas”, wie im ersten Teil dieses Artikels ausgeführt, einen wesentlichen Einflussfaktor für die Förderung des interkulturellen Dialogs darstellt.

A. Der urbane Kontext Ein Verständnis der Bedingungen, unter denen urbane Entwicklungsprozesse stattfinden, ist unerlässlich, wenn dieser Prozess sowohl eine Veränderung der physischen Struktur als auch ein Verständnis von Kultur als verändernde Kraft umfasst. Zudem wird die spezifische Gestalt der urbanen Rahmenbedingungen von den verschiedenen politischen Entscheidungsebenen bestimmt, die sich von einer hierarchischen Strukturierung hin zu Netzwerkstrukturen bewegen. Viele Rahmenbedingungen urbaner Politik werden als Reaktion auf diese neuartige Rolle der Städte als wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Bezugsgrößen angepasst. Dies kann verschiedene Formen annehmen, von der Entwicklung globaler Strategien bis zur Schaffung sozialen Zusammenhalts und qualitativer Dichte in Raum und Umwelt, der Förderung innovativer und kreativer Kräfte, der Schaffung urbaner Vielfalt und Flexibilität für vielschichtige Identitäten und der Garantie von urbaner Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und der Akzeptanz kultureller Vielfalt. Die Schaffung eines solchen günstigen Umfelds setzt voraus, dass öffentliche, private und (staats)bürgerliche Akteure sowohl bei territorialen als auch thematischen Fragen aktiv und eng zusammenarbeiten.

B. Urbane Herausforderungen Die Herausforderungen, denen sich die Städte stellen müssen, um ein günstiges urbanes Umfeld zu schaffen, sind vielfältig. Für einige Städte sind es die ansteigende Bevölkerungszahl, die steigenden Immobilienpreise, der Mangel an zur Verfügung stehendem Bauland, die Verkehrsüberlastung und überlastete öffentliche Dienste; für andere Entvölkerung, Verarmung, die schlechte

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Arbeitsmarktlage oder ein niedriger Lebensstandard. Mindestens vier zentrale Themen müssen von der urbanen Politik berücksichtigt werden. Sie schaffen die (Vor)bedingungen für eine nachhaltige und kreative Stadtentwicklung und für den interkulturellen Dialog.

1. Verkehrswesen, Erreichbarkeit und Mobilität Probleme der Inklusion, der Bildung, des Wohnungswesens und des öffentlichen Raums können mit Hilfe von Innovationen im Verkehrswesen angegangen werden. Weniger Autos führen oft zu mehr städtischem Raum und städtischen Ressourcen. Viele Städte versuchen die negativen Effekte des Stadtverkehrs dadurch zu verringern, dass sie ein qualitativ hochwertiges öffentliches Verkehrswesen schaffen und den Verkehr besser regeln. Dabei sind günstige Preise für öffentliche Verkehrsmittel eine Schlüsselkomponente. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, bessere Bedingungen für Fahrradfahrer und Fußgänger zu schaffen. Zudem haben viele europäische Städte beträchtliche Summen in die Verbesserung von Straßenbahn- oder Stadtbahnsystemen investiert. Ein erfolgreiches Management des Stadtverkehrs setzt oft voraus, dass die Stadt und die umliegenden Gemeinden eng zusammenarbeiten, um die Verkehrsplanung, den Ausbau der Infrastruktur und die Flächennutzung koordinieren zu können. Zusammen genommen ermöglichen sie eine umfassende Koordination des städtischen Verkehrswesens und schaffen die notwendigen Rahmenbedingungen dafür, dass Bürger an lokalen Prozessen verstärkt teilhaben können.

2. Zugang zu Serviceeinrichtungen Gut funktionierende und bezahlbare Serviceangebote in den Bereichen Gesundheit, Kultur, Bildung, Ausbildung, Verkauf und öffentliche Verwaltung tragen wesentlich zur städtischen Lebensqualität bei. Sie machen eine Stadt und ihre Umgebung attraktiv und lebenswert. Eine unkonventionelle und innovative Lösung für diese Herausforderung besteht darin, in sozial benachteiligten Wohngebieten des gesamten Stadtgebiets öffentliche Einrichtungen zu schaffen. Dadurch werden Serviceangebote geschaffen, der Isolation entgegengewirkt, Begegnungen angeregt und das Image

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des jeweiligen Wohngebiets im größeren städtischen Umfeld verbessert. Eine weitere Möglichkeit, die Inklusion und Integration der Einwohner in das öffentliche Leben zu verbessern, kann darin bestehen, über das Internet einen einfachen Zugang zu öffentlichen Serviceeinrichtungen zu ermöglichen, wie dies z.B. beim eGovernment, eHealth und eLearning der Fall ist.

3. Natürliche und städtebauliche Umwelt Menschen wollen in Städten mit einem individuellen Profil leben und arbeiten, in denen sowohl die natürliche als auch die bauliche Umwelt hohen ökologischen sowie Standards der Lebens- und Wohnqualität entsprechen. Dies erfordert die Koordination verschiedener Arbeits- und Zuständigkeitsbereiche, die für die Stadtentwicklung eine Rolle spielen. Deshalb müssen Städte ihre Infrastruktur dahingehend verbessern, dass sie diesen im Entstehen begriffenen Ansprüchen gerecht werden, indem sie stadtgebietsweit bereits vorhandene und die jeweiligen Viertel auszeichnende Vorzüge und ihre spezifischen Geschichten zu diesem Zweck nutzen. Aktivitäten, die den städtischen Erneuerungsprozess in Gang bringen oder die städtische Lebensqualität verbessern, erfordern langfristige und ganzheitliche Entwicklungspläne, die bei den Bürgern ansetzen. Insbesondere Programme im Bereich des Wohnungswesens (wie z.B. die Sanierung gemeinschaftlich genutzter Räume), der Bau von Sozialwohnungen, Sicherheitsmaßnahmen und vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Kriminalität, effiziente Energie- und Wasserversorgung usw. erfordern eine solide Finanzierung, wenn die zunehmende Einbeziehung der Bürger in demokratische Prozesse vor Ort erfolgreich sein soll.

4. Kultur Kultur und der Umgang mit ihrer Vielfältigkeit stellt für die urbanen Gemeinschaften oft eine Herausforderung dar, da sie sowohl Gelegenheiten als auch Barrieren des Dialogs produzieren. Die Attraktivität einer Stadt hängt wesentlich von ihren kulturellen Vorzügen ab. Insbesondere ein lebhaftes und vielseitiges kulturelles Leben kann eine Stadt in den Augen vieler Menschen und kreativer Wirtschaftsunternehmen zu einem attraktiven Standort

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machen. Es kann Bedingungen schaffen, die individuelle und wirtschaftliche Kreativität ermutigen. Darüber hinaus bestimmt die Qualität der städtischen Kulturszene zu einem großen Teil den Grad, in dem sich Bürger mit einer Stadt identifizieren und stolz auf sie sind, und das Image, das eine Stadt nach außen verkörpert. Kultur ist für alle Städte wichtig, aber sie ist besonders wichtig für strukturschwache Städte, die ihr Image verbessern wollen. Welche Rolle sie spielt, ist oft ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg von Projekten, die der Regeneration städtischer Gebiete dienen. Festivals, Ausstellungen und andere kulturelle Ereignisse sind besonders wichtig, um das Image einer Stadt herauszubilden. Kultur kann auch im interkulturellen Dialog eine wichtige Funktion einnehmen. Ein kulturelles Zentrum, in dem sich Gemeinschaften begegnen können, oder ein städtisches Projekt, bei dem verschiedene Stadtteile kooperieren, kann den Raum für eine echte Begegnung zwischen Menschen verschiedener Kulturen schaffen. Kulturelle Vielfalt kann auch eine Quelle für Innovation und Unternehmergeist sein und sie kann eine positive Antriebskraft der sozio-ökonomischen Entwicklung von Städten sein.

C. Urbane Möglichkeiten Werden diese Herausforderungen angenommen, so können Städte die Hauptakteure bei der Schaffung der „urbanen Civitas“ in Europa werden, insbesondere indem sie die Voraussetzungen für den interkulturellen und interreligiösen Dialog schaffen.

1. Städte: Quellen europäischer Identität, Imagination und Integration In der gesamten Menschheitsgeschichte sind Städte seit jeher Antriebskräfte der Kultur, Zivilisation und Entwicklung in Europa gewesen (Hall 1998). Sie verkörpern den Reichtum Europas, sein kulturelles und geistiges Gedächtnis und seinen kreativen Willen, Geschichte zu machen. Städte sind Orte der Begegnung auf dem Weg zum interkulturellen Dialog.3 Die Atmosphäre eines Ortes

3

Die Programme zur Planung kultureller Entwicklungswege von der UNESCO, dem Europarat und der Europäischen Union beschreiben Wege, auf denen Menschen zusammengebracht wer-

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kann für Städteplaner und kommunale Entscheidungsträger die Antriebskraft für die Wiederentdeckung der europäischen Identität sein (Flanagan 1999). Städte sind die Geschichten, die sie von sich erzählen. Stolz, Selbstvertrauen und Identität entstammen der kollektiven Vorstellungskraft der Stadtbewohner. Die Chance besteht darin, die Vergangenheit aufzuarbeiten und sie dadurch, dass man die Öffentlichkeit zur Teilnahme an diesem Prozess ermutigt, auf realistische Art und Weise mit verschiedenen möglichen Zukunftsvisionen zu verbinden. Aus diesen Gründen sollte Politik auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene eine städtische Dimension haben: um sich über Erfahrungen und „best practices“ austauschen zu können, um sich dabei zu helfen, städtische (soziale und kulturelle) Spannungen zu überwinden, und um neue Investitionen in die Entwicklung des sozialen Kapitals auf den Weg zu bringen. Eine imaginative Herangehensweise, die bei den Städten ansetzt, kann den Stadtgebieten dabei helfen, Methoden zu entwickeln, die Kreativität und Experimentierfreudigkeit fördern und die aktive Teilhabe der Bürger an der Basis unterstützen.

2. Städte: Motoren nachhaltigen Wachstums, sozialen Zusammenhalts und urbaner Lebensqualität Städte waren auch häufig Motoren der ökonomischen und sozialen Entwicklung, da sie Wachstum, Innovationen und Arbeitsmöglichkeiten schufen. Wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit ist, aus dieser Perspektive betrachtet, ein Schlüsselkonzept der Stadtpolitik (Giradet 1999). Ökonomische, soziale und kommunale Politik unterstützen sich gegenseitig: Wirtschaftliches Wachstum ist nachhaltig, wenn es Hand in Hand mit Anstrengungen geht, Armut und soziale Ausgrenzung zu reduzieren und kommunale Probleme zu bewältigen. Vergleicht man jedoch Städte im Norden mit Städten im Süden Europas, kann man signifikante Unterschiede im Hinblick auf ökonomische, soziale und regionale Möglichkeiten sowie gegenläufige Entwicklungen feststellen. Dies

den können. Sie stellen die Förderung des Dialogs der Kulturen und Gesellschaften als einen Faktor der Schaffung einer Friedenskultur stark in den Vordergrund.

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macht oft eine Differenzierung verschiedener Arten von Städtepolitik und kommunalen Maßnahmen erforderlich. Aufgrund der Zunahme ihrer Einflussmöglichkeiten stehen Städten heutzutage diejenigen politischen Möglichkeiten zur Verfügung, die die Umsetzung ihrer Zielvorgaben des nachhaltigen Wachstums und des sozialen Zusammenhalts im Kontext der zunehmend wichtigen urbanen Lebensqualität ermöglichen. Menschen wollen in sicheren Städten mit sauberer Luft, Grünanlagen, einer attraktiven Architektur und Serviceeinrichtungen von hoher Qualität, die auch Kultur- und Erholungsangebote umfassen, leben. Wenn Städte über die Strukturen und Möglichkeiten verfügen, urbane Lebensqualität zu schaffen, dann schaffen sie für ihre multikulturelle Bevölkerung auch die Voraussetzungen für eine inklusive und demokratische „urbane Civitas“.

3. Städte: Förderer von Innovation und Unternehmergeist in der Wissensgesellschaft Städte bieten oft ein anregendes Umfeld für Kreativität, Innovation und das Wirtschaftsleben (Landry/Bianchini 2000). Im Rahmen der sich entwickelnden europäischen, kreativen, urbanen Gegebenheiten können Städte die Schaffung und Entwicklung von KMUs, Mikrounternehmen und Unternehmen im Bereich der Sozialwirtschaft anregen, Gründerzentren einrichten und Zugang zu Finanzierungs- und anderen Unternehmerdiensten schaffen. Zudem veranschaulichen Erfahrungen und Praktiken, dass Städte bürokratische Anforderungen vereinfachen, Bildungsangebote verbessern und Ausbildungsangebote schaffen, Netzwerkbildung zwischen Bildungseinrichtungen und Unternehmen unterstützen und die Kooperation zwischen Unternehmen, Forschungsinstituten und Universitäten anregen können. Als Laboratorien innovativer demokratischer Initiativen tragen sie wesentlich zu der Entwicklung zukunftsfähiger Wissensgesellschaften bei und können immer leichter einen neuartigen Ausgleich zwischen Wandel und Tradition in einem – (auch) von ihren Bürgern unterstütztem – anregenden städtischen Umfeld schaffen.

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4. Städte: Förderer von sozialer Eingliederung, Chancengleichheit und Anwohnersicherheit Innerhalb der Städte bestehen oft Ungleichheiten zwischen den einzelnen Wohngebieten, ein Problem, mit dem sich vor allem Europas große und mittelgroße Städte konfrontiert sehen. Das Urban Audit zeigt, dass zu beinahe allen Städten, in denen die Arbeitslosigkeitsrate bei oder über zehn Prozent liegt, bestimmte Gebiete gehören, in denen die Arbeitslosigkeitsrate mindestens doppelt so hoch ist wie im Rest der Stadt. In solch benachteiligten Gebieten geht mit der Arbeitslosigkeit eine schlechte Wohnqualität, ein unattraktives Umfeld, schlechte Gesundheitsstandards, schlechte Bildungsmöglichkeiten, ein niedriges Arbeitsangebot und eine hohe Kriminalitätsrate einher. Abgesehen von diesen offensichtlichen Ungleichheiten erleben bestimmte in einer Stadt ansässige Gruppen weitere Benachteiligungen. Städte sollten deshalb der Integration von Immigranten besondere Aufmerksamkeit schenken und die soziale Ausgrenzung junger Leute verhindern. Kurz gesagt können sie die soziale Eingliederung dadurch fördern, dass sie absichernde Maßnahmen ergreifen und die professionelle, soziale und kulturelle Integration bedrohter Gemeinschaften unterstützen. Soziale Ausgrenzung passt nicht zu einem europäischen sozialen Modell, das jedem Bürger Chancen garantieren will. Sie hat Konsequenzen für die ortsansässigen Geschäfte (weniger Kunden), für das Lebensumfeld (weniger Sicherheit, Vandalismus), für die Anwohner (Mangel an ‚positivem Denken‘, Kreativität und Begeisterung für die Arbeit) und für das Wachstumspotential der Stadt (die weniger attraktiv ist). Die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung ist deshalb für die nachhaltige Stadtpolitik unerlässlich. Die Notwendigkeit, soziale Eingliederung zu fördern, geht einher mit der Gewährleistung der Sicherheit der Bürger. Sicherheit und – was ebenso wichtig ist – die Wahrnehmung dieser Sicherheit, ist zum zentralen Thema der Stadtpolitik geworden. Städte sind dazu aufgefordert, günstige städtische Umfelder für die soziale Eingliederung und Sicherheit und den daraus resultierenden echten interkulturellen Dialog zu schaffen.

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Fazit Städte sind wichtige tragfähige und lebendige Ausgangspunkte für den Aufbau und die Erfahrung vielfältiger Identitäten der Bürger eines multikulturellen Europas. Im Verlauf der Geschichte waren sie immer formende Kräfte bei der Förderung und Unterstützung von Kreativität, Imagination und Integration. Sie waren immer Treffpunkte auf den Wegen des Dialogs. Heute sind sie Laboratorien und Nährböden für innovative demokratische Prozesse, für die der interkulturelle Dialog ein wichtiges Mittel sein kann. Sie stellen Bildungsorte bereit, schaffen ein materielles und immaterielles Umfeld und Orte der Begegnung für das tägliche Erleben des interkulturellen Dialogs und der Gastfreundschaft. Insgesamt gesehen können Städte unter bestimmten Voraussetzungen ein günstiges, attraktives und kreatives Umfeld für die aktive Bürgerbeteiligung an (formellen und informellen) demokratischen Prozessen schaffen. Die Straßen des Dialogs verbinden Städte dadurch, dass sie Gelegenheiten und Räume des Austauschs und der Begegnung gestalten. Die Zusammenarbeit von Städten kann, wie die Geschichte bewiesen hat, ein günstiges Umfeld für die interkulturelle Praxis zwischen Menschen und dem Stattfinden des echten interkulturellen Dialogs schaffen.

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Von bilateralen Initiativen der Völkerverständigung zu multilateralen Foren der pra ktischen Kooperation – städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa gestern und heute ANNINA LOTTERMANN An Ortseingängen, vor Rathäusern und auf öffentlichen Plätzen kann man sie sehen: Hinweise auf die Städtepartnerschaften einer bundesdeutschen Stadt oder Gemeinde.1 Mal ähneln sie Verkehrsschildern, die eine Gesamtübersicht angeben, mal findet man Wegweiser in der Himmelsrichtung und mit den Entfernungskilometern zu den Partnerstädten, mal sind es kreativere Varianten, wie etwa Originalortsschilder aus oder nach den jeweiligen Städten benannte Straßen und Plätze. In ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind sie alle eines: symbolische und materialisierte 1

Obwohl die Begriffe „Gemeindepartnerschaften“ oder „kommunale Partnerschaften“ übergreifender und umfassender wären, da sie neben den Städten auch die kleineren Gemeinden und Kreise einbeziehen würden, oder der Begriff „Städtekooperationen“ heutigen Formen städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit näher kommen würde, soll im Rahmen dieses Beitrags der Begriff „Städtepartnerschaften“ wegen seines Bekanntheitsgrades und der Anwendung durch die beteiligten Akteure weiter verwendet werden.

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Zeugnisse von den zahlreichen grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen Städten und Gemeinden in Europa und der ganzen Welt. Allein in Deutschland sind aktuell über 6.000 Städtepartnerschaften mit europäischen Partnern registriert.2 Deutschland ist damit das Land, das die meisten Städtepartnerschaften innerhalb der Europäischen Union und mit ihren Nachbarstaaten unterhält (Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions). Städtepartnerschaften in ihrer heute bekannten Form werden mehrheitlich als ein Produkt der Nachkriegszeit angesehen (vgl. z.B. Bausinger 1969: 81; Grunert 1981: 56). Sie gelten gemeinhin als Instrumente der Völkerverständigung und Friedenssicherung und werden gerne als „Abbild des europäischen Einigungsprozesses im kleinen“ (Europäische Kommission 1997: 11) oder als Europa „von unten“ bezeichnet (vgl. z.B. Bock 1994: 15; Gerhard/Heipcke/Richter 1994: 167). Liest man heute in Programmen und Selbstbeschreibungen, wie Partnerstädte ihre Beziehungen ausgestalten, kann man neben klassischen Begegnungsformaten, wie dem Schüleraustausch, weitere Aktivitäten und Tätigkeitsfelder finden, denen sich Städtepartner zuwenden. Hier ist z.B. von Praktika in der Partnerstadt, einem Austausch in bestimmten Berufsfeldern oder von einer verstärkten Zusammenarbeit mit mehreren Partnerstädten in Themenfeldern wie Umweltschutz, Integration und Kriminalitätsprävention die Rede (Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions; Europäische Kommission 1997: 25). Das lässt darauf schließen, dass sich Formen städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit in einem Wandel befinden. Nicht zuletzt eine veränderte geographische Ausdehnung von Städtepartnerschaften, etwa in die Türkei, weist darauf hin. Der Europawissenschaftler Hartmut Ullrich bringt diese Entwicklung bereits 1994 in der Einleitung zu einem Tagungsband, der Diskussionen zum Wandel von „Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas“ nach 1989 dokumentiert, exemplarisch zum Ausdruck: 2

Diese Zahl des Rats der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) errechnet sich aus Angaben der einzelnen Staaten von 2006 und bezieht sich auf Städtepartnerschaften innerhalb und mit Nachbarstaaten der Europäischen Union. Städtepartnerschaften in Bezug auf Asien, Südamerika oder die USA sind in dieser Rechnung nicht berücksichtigt.

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STÄDTEPARTNERSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA

„Eine allgemeine Entwicklung zeichnet sich – jedenfalls in den westeuropäischen Partnerschaften – deutlich ab: von der ursprünglichen Versöhnungs- und friedensförderlichen Funktion als Hauptinhalt, die als gleichsam ‚bewältigt’ registriert wird, zur vorrangigen Hinwendung zu konkreten Feldern der Kommunalpolitik und -verwaltung.“ (Ullrich 1994: 10)

Dass es sich dabei um eine Überwindung der einst versöhnungsorientierten Absichten handelt und diese mit einer Hinwendung zu „Sachfragen“ (ebd.: 7) gleichsam überholt sind, lässt sich möglicherweise behaupten. Feststellen lässt sich darüber hinaus auch, dass sich die Tendenz zu einer stärker themenbezogenen Zusammenarbeit inzwischen ebenso in den Städtepartnerschaften mit Mittel- und Osteuropa abzeichnet (Wagner 1995: 359f.).3 Ob mit dieser Veränderung städtepartnerschaftlicher Praxis jedoch gleichzeitig eine Abkehr von der ursprünglichen Ausrichtung städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit verbunden ist oder ob alte Ziele vielmehr mit neuen Mitteln verfolgt werden, sollte allerdings genauer überprüft werden. Immerhin weist die Entwicklung von Städtepartnerschaften in Europa stets eine enge Verbindung mit dem Prozess der europäischen Integration auf. Um diese Frage der Ausrichtung klären und eine Bewertung in dieser Hinsicht vornehmen zu können, soll im Rahmen dieses Beitrags die Entwicklung städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit in Europa von den Anfängen bis heute auf der Basis von bisher zu Städtepartnerschaften vorliegenden deutschsprachigen Studien und einer Analyse aktueller Dokumentationen von städtepartnerschaftlicher Praxis betrachtet werden. Dabei sollen nach einer Begriffsbestimmung zunächst die ursprüngliche Städtepartnerschaftsidee und ihre Umsetzung beschrieben werden. Anschließend sollen entscheidende Veränderungen im Verlauf der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit nachgezeichnet und aktuelle Formen städtepartnerschaftlicher Kooperation exemplarisch dargestellt werden. Abschließend soll gefragt werden, wel3

Mit der Bezeichnung „Mittel- und Osteuropa“ für die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts wird der Kritik an der vielfach homogenisierenden, dem Selbstverständnis von zahlreichen Akteuren aus den damit bezeichneten Staaten häufig widersprechenden und damit unzureichenden Bezeichnung „Osteuropa“ Rechnung getragen.

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che Konsequenzen sich aus den feststellbaren Veränderungen für den Charakter von Städtepartnerschaften und für ihre Rolle im heutigen Europa ableiten lassen. Hinter diesem Beitrag steht ein kulturanthropologisches Forschungsinteresse, das Teil eines Dissertationsprojekts zu deutschpolnischen und deutsch-türkischen Städtepartnerschaften im heutigen Ruhrgebiet ist. Das Projekt ist an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main angemeldet und läuft seit Anfang 2007. Neben der referierten Literatur werden die Ausführungen in diesem Beitrag durch Eindrücke unterstützt, die im Rahmen einer mehrmonatigen ethnographischen Forschung in städtepartnerschaftlichen Zusammenhängen und durch leitfadengestützte Interviews mit insgesamt 60 städtepartnerschaftlichen Akteuren4 gewonnen werden konnten. Der Begriff „Kultur“ wird hier nicht primär im Sinne von „Kunst“ verstanden, sondern folgt vielmehr einem alltagspraktischen Kulturverständnis (Greverus 1987).

Was sind Städtepartnerschaften? Begriffliche Überlegungen zum Phänomen Statt einer eindeutigen und allgemein anerkannten Definition des Phänomens „Städtepartnerschaft“ lassen sich in den Selbstbeschreibungen und auch der wissenschaftlichen Literatur zahlreiche und zum Teil ungleich verwendete Bestimmungen finden. So ist von „Städtepartnerschaft“, „Städtefreundschaft“, „Städtekontakt“ und „Städtebeziehung“ (Grunert 1981: 78), aber auch von „kommunaler Partnerschaft“ und „Kommunalkooperation“ (Wagner 1995: 18; 360) die Rede. Grund für die vielfältig auftretenden Bezeichnungen scheinen zum einen die jeweiligen (wissenschaftlichen Erkenntnis-)Interessen, zum anderen aber auch die in der Praxis häufig ineinander übergehenden und schwer kategorisch voneinander zu trennenden Prozesse zu sein, in denen sich ein loser Städtekontakt zu einer offiziellen Städtepartnerschaft entwickelt (Grunert 1981: 78). 4

Damit sind Personen gemeint, die sich auf der Ebene der Kommunen, als Vertreter von Institutionen oder als Bürger für Städtepartnerschaften engagieren.

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STÄDTEPARTNERSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA

Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE),5 ein europaweiter Kommunalverband, schlägt deshalb zum einen eine sich am Grad der Formalisierung und der Dauer der gegenseitigen Willensbekundung orientierende Einteilung vor: Er unterscheidet zwischen „Partnerschaften“ als „(f)örmliche, zeitlich und sachlich nicht begrenzte Partnerschaft, beruhend auf einem Partnerschaftsvertrag“, „Freundschaft“ als „(e)ine Verbindung, die auf einer Vereinbarung beruht aber zeitlich begrenzt ist und/oder genau spezifizierte Projekte der Beziehung benennt“, und „Kontakt“ als eine „Verbindung ohne förmliche Festigung“ (Rat der Gemeinden und Regionen Europas 2009). Hinsichtlich ihrer Ziele und Werte schlägt der Rat allerdings noch eine weitere Definition vor: Gestützt auf eine Formulierung eines seiner Mitbegründer, Jean Bareth, bezeichnet er Städtepartnerschaften als „Begegnung von zwei Gemeinden, die sich bereit erklären, gemeinsam mit einer europäischen Zielsetzung zu wirken, um ihre Probleme zu erörtern und immer engere Freundschaftsbande zu entwickeln“ (Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions). Hans Gerd von Lennep, ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Sektion des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, spricht darüber hinaus von Städtepartnerschaften als „Verbindungen kommunaler Gebietskörperschaften“ bzw. von „kommunalen Partnerschaften“ (von Lennep 1994: 57), um deutlich zu machen, dass es sich auch um Partnerschaften der Kreise, der französischen Verwaltungseinheiten, Departements, und der englischen Counties handelt (ebd.). In sozialwissenschaftlichen Beschreibungen lassen sich Definitionen, wie die der Politikwissenschaftlerin Beate Wagner, finden, die Städtepartnerschaften zusätzlich mit einem starken gesellschaftlichen Bezug als „dauerhafte Beziehungen zweier lokaler Gebietskörperschaften auf freundschaftlich-kooperativer Basis, die für alle ge-

5

Der RGRE, seine Entwicklung und Aufgaben, werden im folgenden Abschnitt noch näher beschrieben. Die englische Bezeichnung des RGRE ist Council of European Municipalities and Regions (CEMR), die französische lautet Conseil des Communes et Régions d’Europe (CCRE). Daraus ergeben sich die unterschiedlichen Abkürzungen.

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sellschaftlichen Gruppen offen sind“ (Wagner 1995: 18) beschreiben.6 Aus den hier zu Rate gezogenen Definitionsversuchen lässt sich als kleinster gemeinsamer Nenner festhalten, dass von einer Städtepartnerschaft erst nach einer bestimmten Phase, nach Abschluss eines offiziellen Dokuments, eines Vertrags oder einer Urkunde, gesprochen werden kann, dass es sich dabei um eine freundschaftliche und dauerhafte Beziehung von mindestens zwei Partnern handelt, die nicht nur für Politiker, sondern auch für die Zivilgesellschaft zugänglich ist, und dass ihre Verbindung gemäß der Definition des Rats der Gemeinden und Regionen Europas einem bestimmten Ziel folgt: nämlich einem engeren Zusammenwachsen der Städte und ihrer Bürger und dem Prozess der europäischen Integration. Aus kulturanthropologischer Perspektive lassen sich Städtepartnerschaften damit als Praktiken der Europäisierung (Harmsen/Wilson 2000) beschreiben.

Entwicklungsphasen von Städtepartnerschaften Hinsichtlich der Entwicklungsphasen von Städtepartnerschaften sind verschiedene Einteilungen denkbar: Am geläufigsten ist eine geographische und chronologische Einteilung, die das Phänomen anhand seiner mehr oder weniger konsekutiven regionalen Ausdehnung erfasst (vgl. z.B. Grunert 1981; Wagner 1995). Für das im Rahmen dieses Beitrags verfolgte Interesse soll jedoch eine Einteilung nach veränderten Praktiken, Akteuren und europäischen Bezügen vorgenommen werden, da anhand dieser Unterscheidung die Entwicklungen und Veränderungen von städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit in Europa am deutlichsten nachgezeichnet werden können.

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Einen Überblick über die Definitionsproblematik von Städtepartnerschaften liefert auch Wimmer (1989: 4-7).

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Versöhnen und Frieden stiften als Mittel der westeuropäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg Die heute bekannten Städtepartnerschaften werden in der Literatur zumeist als eine unmittelbare Folge von Versöhnungsabsichten zwischen verfeindeten europäischen Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen. Der politische Soziologe und Politologe Hans Manfred Bock hat in seinen Arbeiten zu deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen allerdings herausgearbeitet, dass die Anfänge zumindest der deutsch-französischen Städtepartnerschaften weit in die Zwischenkriegszeit zurückreichen.7 Bock rückt ihren Beginn in unmittelbare Nähe zum Vertrag von Locarno im Jahr 1925,8 was er auch damit begründet, dass in der Städtepartnerschaftsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder rhetorisch Bezug zu diesem Ereignis („Locarno von unten“) genommen wurde,9 allerdings ohne dass die spätere Bewegung eine historische Selbstreflexion vorgenommen hat (Bock 1994: 13f.). In dieser Zeit ist laut Bock ein erster Versöhnungswille zwischen Deutschen und Franzosen sichtbar geworden, der eine 7

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Es gibt in der Literatur einen weitgehenden Konsens dahingehend, dass die Ursprünge der Städtepartnerschaften in ihrer heutigen Form auf die Bemühungen um die Versöhnung der ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich zurückgehen. Die Politikwissenschaftlerin Inge Maria Burgmer wirft allerdings zu Recht ein, dass die deutsch-britischen Partnerschaften – die erste wurde bereits im Jahr 1947 geschlossen – in dieser Sichtweise häufig vernachlässigt werden und unbedingt ebenfalls zu berücksichtigen sind (Burgmer 1989: 3). Mit dem Vertrag von Locarno ist genaugenommen das Schlussprotokoll einer Konferenz von Vertretern der Siegermächte des Ersten Weltkriegs sowie von Belgien, Polen und der Tschechoslowakei und des Deutschen Reiches im schweizerischen Locarno im Jahr 1925 gemeint, die mit dem Ziel durchgeführt wurde, die Beziehungen zum Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg zu normalisieren und Grenzfragen zu klären. Der Begriff „Städtepartnerschaftsbewegung“ ist in Anlehnung an ein soziologisches Verständnis von sozialen Bewegungen deshalb sinnvoll, weil die Entwicklung der Städtepartnerschaften seit ihrem Beginn zahlreiche Akteure (Bürger, Kommunen, Kreise, Nationalstaaten, transnationale Organisationen, europäische Institutionen) umfasst.

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deutliche kommunale Verbindung, größtenteils allerdings auch den Charakter einer bürgerlichen Bewegung „von oben“, aufwies. Eine Schlüsselfunktion ist ihm zufolge dem deutschen Kunsthistoriker und Literaturkritiker Otto Grautoff und seiner Idee eines deutsch-französischen Zeitschriftenprojekts zuzurechnen. Aus diesen Bestrebungen sei die Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG) hervorgegangen, die 1928 in Berlin gegründet wurde und sich auf Initiative von Oberbürgermeistern und leitenden kommunalen Mitarbeitern auf mehrere Großstädte des Deutschen Reichs verteilte (ebd.: 16). Parallel dazu habe sich in Frankreich die Ligue d’Etudes Germaniques (L.G.E.) aus dem Engagement französischer Deutschlehrer heraus entwickelt (ebd.: 17). Die Aktivitäten dieser beiden Organisationen drückten sich Bock zufolge in der Schaffung von Periodika und Verbandszeitschriften zum Ziel wechselseitiger Information, in gegenseitigen Besuchen und hochkarätigen kulturellen (Informations-)Veranstaltungen aus und dienten dem Ziel der Verständigung: „Die dem Nachbarland gewidmeten Veranstaltungen in den einzelnen Städten waren auf einem hohen kulturellen Niveau angesiedelt und variierten zwischen Autorenlesungen, Konzerten, Ausstellungen, Seminaren und verständigungspolitischen Vorträgen; sie waren in vielen Fällen von hunderten von Teilnehmern besucht.“ (Ebd.: 18)

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Wiederaufnahme bzw. Fortsetzung der deutsch-französischen Beziehungen zunächst denkbar schwierig, hat sich laut Bock dann aber differenzierter, politischer und institutionalisierter abgezeichnet als in der Vorkriegszeit. Auf zunächst von Frankreich ausgehenden katholischen Initiativen „zur geistig-moralischen Erneuerung des verwüsteten Deutschland“ (ebd.: 24) folgte im Jahr 1948 die Gründung des Deutsch-Französischen Instituts (DFI) in Ludwigsburg, das nach Bock schon bald zu einer zentralen Station der Kontaktaufnahme zwischen deutschen und französischen Bürgermeistern avancierte (ebd.: 25). 1950 kam es in Folge einer Konferenz deutscher und französischer Bürgermeister10 sowie Schweizer Intellektueller auf dem Mont Pèlerin in der Schweiz zur Gründung

10 Darunter waren zahlreiche Aktive der Zwischenkriegszeit (Bock 1994: 26).

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der Internationalen Bürgermeister-Union (IBU).11 Der Politikwissenschaftler Thomas Grunert fasst in seiner Dissertation zu Langzeitwirkungen von deutsch-französischen Städtepartnerschaften die Motive der Gründung ausführlich zusammen. Dahinter hat ihm zufolge aufgrund der gerade erst zurückliegenden Kriegserfahrungen die Überzeugung gestanden, dass Vereinbarungen politischer Funktionsträger allein keine ausreichende Garantie für dauerhafte friedliche Beziehungen sind (Grunert 1981: 58) und diese nur unter der Bedingung der deutsch-französischen Verständigung und auf Basis der europäischen Integration erreicht werden können (ebd.: 56ff.). Auch den Überlegungen des Schweizer Professors Adolf Gasser zur Bedeutung einer Kommunalautonomie als Grundbedingung für einen demokratischen Neuaufbau in Europa nach zwei Weltkriegen schreibt Grunert eine wesentliche Bedeutung bei der Gründung zu (ebd.: 57). Die von der Internationalen Bürgermeister-Union angestrebten Ziele waren ihm zufolge auf eine stärkere und dauerhafte Kooperation der Bürger beider Länder ausgerichtet gewesen. Als Empfehlung hätten sie u.a. ausgesprochen, eine Verbindung mit strukturähnlichen Städten einzugehen (ebd.: 58). Ihre Aktivitäten konzentrierten sich laut Grunert darauf, ein Forum zur Kontaktanbahnung für Kommunalpolitiker herzustellen sowie eine städtepartnerschaftliche Lobby gegenüber nationalen Entscheidungsträgern zu bilden (ebd.: 60). Die Internationale Bürgermeister-Union wird von Grunert und anderen als Wegbereiter der Gründung der ersten deutschfranzösischen Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard im Jahr 1950 angesehen (ebd.: 58). In den 1950er Jahren kam es mit der Gründung des Rats der Gemeinden Europas (RGE)12 zu einer weiteren Institutionalisierung der Städtepartnerschaftsbewegung mit explizitem Europabezug. Ihr sind gemäß Grunerts Darstellung ebenso wie der Grün11 Bock (1994: 25) datiert die Gründung der IBU auf das Jahr 1948. Hinsichtlich der Jahreszahl wird in diesem Beitrag jedoch der Datierung des Politikwissenschaftlers Thomas Grunert (1981: 58) gefolgt, der seine Dissertation auf Anregung eines ehemaligen Geschäftsführers der Internationalen Bürgermeister-Union geschrieben hat und zahlreiche Originaldokumente zitiert. 12 Die Umbenennung des Rats der Gemeinden Europas (RGE) in Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) erfolgte im Jahr 1984 (Rat der Gemeinden und Regionen Europas 2009).

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dung der Internationalen Bürgermeister-Union Überlegungen zur Förderung und Festigung der Gemeindeautonomie, auch unter Berufung auf den bereits erwähnten Schweizer Professoren Adolf Gasser, vorausgegangen (ebd.: 61). Gemeindeautonomie sollte, so Grunert, zum einen die Bürger gegenüber „zentralstaatlichanonymer Machtausübung“ (ebd.: 61) bewahren, zum anderen aber auch den Kommunen ein Gewicht gegenüber „kommunistisch-totalitäre(n)“ (ebd.: 62) Nationalstaaten im Osten Europas verleihen. Der Rat der Gemeinden Europas ist in der Auffassung Grunerts von Anfang an stärker europapolitisch orientiert gewesen als die Internationale Bürgermeister-Union und hat u.a. die Einrichtung einer europäischen Kommunalkonferenz als Vertretung der europäischen Gebietskörperschaften erwirkt. Er habe sich als eine „internationale Organisation zur Vertretung der Interessen kommunaler und regionaler Gebietskörperschaften“ (ebd.: 62) verstanden. Seine Aktivitäten fasst Grunert als Interessensvertretung der westeuropäischen Gemeinden gegenüber europäischen Institutionen, die Organisation und Vermittlung sowie die praktische Unterstützung von Städtepartnerschaften zusammen (ebd.: 63f.). Für die Internationale Bürgermeister-Union und den Rat der Gemeinden Europas hält Grunert insgesamt fest, dass sie sich vor allen Dingen der westeuropäischen Integration verpflichtet fühlten und dass sie „Partnerschaften mit Gemeinden aus Ostblockländern kategorisch ablehnen und ihre Mitglieder in diesem Sinne unterweisen“ (ebd.: 66). Mit der Gründung einer dritten Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg, des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) 1963,13 markieren Bock und Grunert eine veränderte Ausrichtung der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit, die stärker als jemals zuvor auf die Zielgruppe der Jugendlichen setzte (Bock 1994: 13 Im Jahr 1957 ist mit der Fédération Mondiale des Villes Jumelées (FMVJ) die Gründung einer weiteren – weltweit agierenden und auch den Osten Europas einbeziehenden – städtepartnerschaftlichen Institution erfolgt, die die Ziele der Städtepartnerschaftsbewegung (Friedenssicherung) im globalen Maßstab begriff und überdies einen Beitrag zur internationalen Gerechtigkeit leisten wollte (Grunert 1981: 66ff.; Wagner 1995: 88; Bautz 2002: 314-331). Da die Fédération Mondiale des Villes Jumelées Ziele weit über den europäischen Raum hinaus verfolgt, wird sie im Rahmen dieses Beitrags nicht näher behandelt werden.

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31f.) und nach einer anfänglichen Konzentration auf die Förderung der Beziehungen zwischen deutschen und französischen Jugendlichen ab 1976 auch Jugendliche aus anderen Nationen einbezogen hat (Grunert 1981: 71). Das Deutsch-Französische Jugendwerk wird von Grunert als eine direkte Folge des deutschfranzösischen Freundschaftsvertrags aus dem Jahr 1963 begriffen und als eine sowohl qualitative als auch quantitative Aufwertung der Städtepartnerschaften beschrieben.14 Die beteiligten Regierungen in Deutschland und Frankreich bezuschussten laut Grunert die Arbeit des Jugendwerks in erheblichem Maße und trugen damit zu einem zahlenmäßigen Anwachsen der teilnehmenden Personenzahlen an städtepartnerschaftlichen Maßnahmen sowie von Personengruppen bei, die bisher so gut wie gar nicht daran beteiligt waren (ebd.: 72). Die Aktivitäten des Deutsch-Französischen Jugendwerks beschreibt er als zwischenmenschliche Begegnungsmaßnahmen, wie Ferienfreizeiten, Bildungsveranstaltungen oder Fortbildungsmaßnahmen für Multiplikatoren der Jugendarbeit, die dem gegenseitigen Kennenlernen und dem Abbau von Vorurteilen dienen sollten und eng mit örtlichen Vereinen, Jugendverbänden und Schulen zusammen arbeiteten (ebd.: 73). Fasst man diese Phase der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit zusammen, zeigt sich, dass das primäre Ziel Versöhnung und Verständigung zwischen den einstigen Kriegsgegnern Deutschland und Frankreich bzw. Deutschland und Großbritannien war und in erheblichem Maße von Kommunalvertretern und Trägerinstitutionen mitbestimmt wurde, die in zunehmendem Maße europäische Bezüge und eine europäische Ausrichtung aufwiesen. Die Formen der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit erstreckten sich in dieser Zeit über verschiedene Informationsveranstaltungen, Begegnungsformate bis hin zu Maßnahmen der politischen Interessensvertretung. Ihre Ziele, insbesondere die der Internationalen Bürgermeister-Union und des Rats der Ge-

14 Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag oder auch ÉlyséeVertrag ist am 22.1.1963 von Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle im Élysée-Palast in Paris unterzeichnet worden. Er regelte Felder der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich und leitete damit eine Fortsetzung der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ein.

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meinden Europas, waren unmittelbar mit Zielsetzungen der (west-)europäischen politischen Integration verknüpft.

Helfen und Unterstützen als Methode der Integration mittel- und osteuropäischer Kommunen nach 1989 In den 1970er und 1980er Jahren, so schreibt die Politikwissenschaftlerin Beate Wagner in ihrer Dissertation zur Frage, inwiefern Kommunen über Städtepartnerschaften eigenständige Außenbeziehungen unterhalten und damit Beiträge zur internationalen Sicherheit leisten können, kam es aufgrund des Ost-West-Konflikts und der vergleichsweise anderen Stellung von Städten und Gemeinden in den Warschauer-Pakt-Staaten nur vereinzelt zur Aufnahme von städtepartnerschaftlichen Beziehungen in weitere Regionen Europas. Hinzu kam Wagners Auffassung nach, dass eine Isolierung dieser Kommunen von Institutionen wie dem Rat der Gemeinden Europas, wie bereits erwähnt, und auch dem Deutschen Städtetag, zusätzlich politisch vorangetrieben wurde (Wagner 1995: 88f.). Dennoch konnten in dieser Zeit einzelne Gründungen von Städtepartnerschaften mit Städten und Gemeinden in Mittel- und Osteuropa erfolgen; allerdings unterschieden sie sich sowohl hinsichtlich ihrer Art und Weise als auch hinsichtlich ihrer Aktivitäten stark von denen mit französischen oder britischen Partnern. Der Aufbau von städtepartnerschaftlichen Beziehungen mit polnischen Städten in den 1970er Jahren etwa gestaltete sich laut Wagner vor allem aus politischen Gründen als schwierig.15 Die Ratifizierung des deutsch-polnischen Vertrags zum einen sowie eine angespannte Situation aufgrund ausreisewilliger Polen deutscher Herkunft zum anderen behinderten ihr zufolge die ge15 Aufgrund des Fokus der hinter diesem Beitrag stehenden Dissertation auf Partnerschaften mit Städten und Gemeinden aus Polen und der Türkei kann hier nur der Aufbau von städtepartnerschaftlichen Beziehungen mit polnischen Partnerschaften, ergänzt durch eine kurze Betrachtung der deutsch-deutschen Städtepartnerschaften, betrachtet werden. Zu den Entwicklungen weiterer Städtepartnerschaften mit Städten und Gemeinden in Mittel- und Osteuropa siehe Wagner (1995: 126-170).

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genseitige Beziehungsaufnahme (Wagner 1994: 113).16 Nicht zuletzt hätten die so genannten Patenschaften, die bundesdeutsche Kommunen zur „sozialen Eingliederung“ (Wagner 1995: 109) von aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen übernahmen, die Beziehungen belastet. Erst im Jahr 1976 habe mit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen die erste deutsch-polnische Städtepartnerschaft zwischen Bremen und Gdaęsk geschlossen werden können.17 Gründe für diese Entwicklung sieht Wagner in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie im Besuch des polnischen Parteisekretärs Edward Gierek in Bonn, der zusammen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt plante, eine gemeinsame Jugendbegegnungsstätte in Polen einzurichten und den deutschpolnischen Jugendaustausch voranzutreiben. Im Zuge dessen sei es zur Gründung weiterer Städtepartnerschaften gekommen (ebd. 1994: 113; 1995: 94f.), die vordergründig durch den Wunsch motiviert gewesen seien, die Nachkriegsaussöhnung auch mit Städten aus dem Osten Europas voranzubringen. Seit dem Jahr 1985 ist auf der Grundlage der gesellschaftlichen Öffnung in Mittel- und Osteuropa ein regelrechter „Partnerschaftsboom“ (Wagner 1995: 172) eingetreten, der auch die deutsch-polnischen Städtepartnerschaften vervielfacht hat. Aber auch qualitativ veränderten sich die Beziehungen in den Folgejahren erheblich. Der rückblickende Bericht eines polnischen Pfarrers, der in einer Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes festgehalten ist, spiegelt den Wandel anschaulich wider: „Ich kann mich erinnern, in den achtziger Jahren war es eine große Sache bei uns in Polen, wie die ehemaligen Feinde, die Deutschen, uns

16 Gemeint ist der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen, von Bundeskanzler Willy Brandt und dem polnischen Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz sowie den Außenministern beider Staaten am 7.12.1970 in Warschau unterzeichnet, der aus polnischer Perspektive hinsichtlich der Festlegung der polnischen Westgrenze und der Frage nach der Entschädigung polnischer Zwangsarbeiter und Opfer der NS-Okkupation nicht zufrieden stellend ausfiel. 17 Im Folgenden werden für die polnischen Städte stets die polnischen Städtenamen verwendet.

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geholfen haben. Lange Zeit haben wir gesagt, wir wollten keine Hilfe von unseren Feinden haben. Aber dann mußten wir erklären, warum die ehemaligen Feinde uns helfen. Und da haben wir eben angefangen, zu unseren Gemeindemitgliedern von der Versöhnung zu sprechen. Aus einer ganz anderen Sicht. Die Leute konnten nicht nur etwas von der Versöhnung hören, sondern sie auch spüren; sie konnten etwas Praktisches, Konkretes sehen. Das war keine Theorie, es war eine praktische, brüderliche, partnerschaftliche Hilfe.“ (Evangelischer Pressedienst 1990: 27)

Als eine Folge der Systemtransformationsprozesse nach 1989 trat, folgt man Wagner, das ökonomisch und politisch asymmetrische Verhältnis der beiden Staaten Deutschland und Polen zueinander in das Zentrum der Partnerschaftsbeziehungen. Wirtschafts- und Verwaltungsaufbau, „materielle Hilfe und Kooperation“ (Wagner 1994: 124), die die Kommunen durch ihre Flexibilität als erste hätten leisten können, hätten die Aktivitäten dieser Städtepartnerschaften fundamental verändert. Deutsch-polnische Städtepartnerschaften in den 1990er Jahren seien schließlich mit den Beziehungsstrukturen vor 1989 nicht mehr vergleichbar gewesen. Wagner zufolge sind grundsätzliche Probleme konstant geblieben, z.B. hinsichtlich der Patenschaften (Wagner 1995: 124) oder des asymmetrischen Wohlstandsgefälles (Wagner 1994: 124f.), und es kamen neue Schwierigkeiten, wie Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus gegenüber Polen, hinzu (Wagner 1995: 124f.). Es seien aber auch neue Möglichkeiten, z.B. hinsichtlich grenzüberschreitender, interkommunaler Zusammenarbeit und der Bildung thematischer Arbeitsgruppen mit weiteren Partnern entstanden. Laut Wagner (1994: 129) zeichnete sich hierbei ein neuer Typ von Städtepartnerschaften ab, der strategische „Städtebündnisse zum beiderseitigen Vorteil“ und zur Bewältigung kommunaler Herausforderungen eingeht. Für die deutsch-deutschen bzw. innerdeutschen Städtepartnerschaften lässt sich eine ähnliche Entwicklung verfolgen.18 In den 1950er, 60er, 70er und frühen 1980er Jahren seien städtepartnerschaftliche Verbindungen hier aufgrund (system-)politischer Überlegungen jeweils von einer Seite unerwünscht und blockiert gewesen (von Weizäcker 1990: 21ff., 47; Pawlow 1990: 16f., 23). 18 Die Namensgebung scheint auf die jeweilige politische Einstellung des Namensgebers hinzuweisen (Pawlow 1990: 13f.).

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Nach der politischen Wende 1989 kam es der Politikwissenschaftlerin Nicole-Annette Pawlow zufolge dann aber nicht nur zu einer zahlenmäßigen Explosion der deutsch-deutschen Städtepartnerschaften, sondern auch zu einem Wandel der Aktivitäten: gezielte Hilfsprogramme in diversen kommunalpolitischen Aufgabenbereichen oder im Bereich der medizinischen Versorgung sowie im Verwaltungsaufbau hätten die Beziehungen geprägt (Pawlow 1990: 148ff.).19 Eine Zusammenfassung dieser Phase städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit zeigt, dass sich Formen und Akteure geändert haben. Neben den kommunalen Akteuren waren in Bezug auf die deutsch-polnischen Städtepartnerschaften auch zivilgesellschaftliche Kräfte, beispielsweise Kirchen, aktiv, die den Kontakt auch in Zeiten politischer Schließung nicht haben abreißen lassen. Zwar spielten versöhnungs- und friedenspolitische Absichten immer auch eine Rolle, doch sind sie durch eine Hinwendung zu materiellen und thematischen Kooperationsformen gestaltet worden. Das ist vor allen Dingen bei den deutsch-polnischen Städtepartnerschaften nicht zu übersehen. Diese helfenden Aktivitäten, ebenso wie beratende und unterstützende Maßnahmen beispielsweise zum Aufbau von Verwaltungen in Kommunen der ehemaligen DDR nach dem Systemwechsel, können als ein Beitrag zur Integration dieser Staaten und Regionen in westeuropäische Handlungsräume gesehen werden.

19 Neben den Städtepartnerschaften mit Städten und Gemeinden in Mittel- und Osteuropa und mit der DDR kam es in den 1980er Jahren auch zur Gründung von Partnerschaften mit Entwicklungsländern. Da es sich dabei um eine eigene Kategorie handelt, die überwiegend aus politischen Motiven „von oben“ zustande gekommen ist, und da diese Partnerschaften weit über den europäischen Raum hinausragen, sollen sie hier nicht näher behandelt werden. Einzelheiten sind zum Beispiel in Wagner (1995: 259327) nachzulesen.

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Unterstützung und Förderung von Städtepartnerschaften durch die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union seit 1989 Seit dem Jahr 1989 wird städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit verstärkt durch die Europäische Gemeinschaft bzw. durch die Europäische Union, wie sich der Staatenbund seit dem 1992 unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) bezeichnet, gefördert. Zwar haben Gremien der Europäischen Gemeinschaft Städtepartnerschaften und ihre Aktivitäten bereits seit den 1950er Jahren honoriert, etwa mit der stufenweisen Auszeichnung des „Europadiploms“, der „Ehrenfahne“, der „Ehrenplakette“ oder dem „Europapreis“ des Europarats „für besondere Verdienste einzelner Kommunen für die europäische Gemeinschaftsbildung“ (Grunert 1981: 76). Seit 1989 werden Städtepartnerschaften von der Europäischen Kommission mit folgender Begründung aber auch finanziell unterstützt: „Da Städtepartnerschaften eine hervorragende Grundlage für gemeinsame Vorhaben aller Art bilden, gewährt die Europäische Kommission […] finanzielle Hilfen für Städte, die Schwierigkeiten bei der Einrichtung oder Ausweitung von Städtepartnerschaften haben. Vorrangig gefördert werden Städte in den Randgebieten der Europäischen Union oder in Regionen mit wenig Städtepartnerschaften.“ (Europäische Kommission 1997: 3)

Die finanzielle Förderung der Europäischen Kommission gleicht einer Anerkennung der Städtepartnerschaftsbewegung und ihrer Akteure auf höchster europäischer Ebene. An den Fördermaßnahmen und -programmen lässt sich aber gleichzeitig auch ein eigenes Interesse der Europäischen Union ablesen, mit denen sie Städtepartnerschaften mit zu formalisieren und strukturieren versucht. Mit dem aktuellen Förderprogramm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ werden diese Zielsetzungen besonders deutlich: Das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ (Laufzeit 2007-2013) dient der Förderung von Städtepartnerschaften, Bürgerprojekten und Aktionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Aus Sicht der Europäischen Kommission soll das Programm der Herausbildung einer „aktiven europäischen Bürgerschaft“ (Europäische Kommission 2009b) dienen und diese ver-

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stärkt in den europäischen Integrationsprozess einbeziehen. Es hat mehrere so genannte „vorrangige Themenbereiche“, die in den Förderungsanträgen idealerweise bearbeitet werden sollen. Darunter befinden sich dauerhafte Themen („Zukunft der Europäischen Union und ihre Grundwerte“; „Aktive europäische Bürgerschaft: Beteiligung und Demokratie in Europa“; „Wohlbefinden der Menschen in Europa: Beschäftigung, sozialer Zusammenhalt und nachhaltige Entwicklung“; „Auswirkungen von EU-Politiken auf die Gesellschaften“) sowie entsprechend der Laufzeit des Programms jährliche Prioritäten. Das Programm ist weiter in vier verschiedene Förderbereiche, so genannte „Aktionen“ („Aktive Bürger/innen für Europa“; „Aktive Zivilgesellschaft in Europa“; „Gemeinsam für Europa“; „Aktive europäische Erinnerung“) mit jeweils verschiedenen Untereinheiten, „Maßnahmen“ genannt, unterteilt. Darüber hinaus legt die Europäische Kommission ihren Antragsstellern so genannte „horizontale Merkmale“ zur Beachtung bei der Projektdurchführung nahe (z.B. „Europäische Wertvorstellungen“; „Informelles Lernen für eine aktive europäische Bürgerschaft“; „Ehrenamtliche Arbeit – Ausdruck einer aktiven europäischen Bürgerschaft“; „Transnationalität und lokale Dimension“; „Kulturelle und sprachliche Vielfalt“; „Synergieeffekte“; „Gleichberechtigter Zugang zum Programm“; „Öffentlichkeitswirkung, Valorisierung und Verbreitung“). Für städtepartnerschaftliche Aktivitäten ist insbesondere die Aktion 1 („Aktive Bürger/innen für Europa“) mit den Maßnahmen „Städtepartnerschaften“ und „Bürgerprojekte und flankierende Maßnahmen“ relevant. Die Maßnahme „Städtepartnerschaften“ umfasst als Untereinheit die Maßnahme „Bürgerbegegnungen im Rahmen von Städtepartnerschaften“, um „die Partnerschaft zwischen den Gemeinden dafür zu nutzen, das gegenseitige Kennenlernen und Verstehen der Bürger/innen sowie der Kulturen zu unterstützen“ (Europäische Kommission 2009a: 33), und die Maßnahme „Netzwerke zwischen Partnerstädten“, um das „Potential der Netzwerke, die aus einer Reihe von Städtepartnerschaftsverbindungen entstehen, zur Entwicklung einer thematischen und langfristigen Zusammenarbeit zwischen Städten“ (ebd.: 43, Hervorh. im Original) zu nutzen. Antragsberechtigt sind neben den Kreisen und Kommunen Vereine, Gewerkschaften, Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Antragsbedingung ist, dass die Teilnehmer aus den EU-

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Mitgliedsstaaten, Norwegen, Island, Liechtenstein, Ländern von Beitrittskandidaten sowie aus Ländern des westlichen Balkans stammen. Bürgerbegegnungen müssen mindestens aus zwei Partnerstädten aus verschiedenen Ländern bestehen. Die Förderung erfolgt als pauschaler Zuschuss bei Bürgerbegegnungen, als anteilige Kostenerstattung bei Projekten oder als Betriebskostenzuschuss zu den Tätigkeiten von Organisationen. Das Programm verfügt über ein Gesamtbudget von 215 Millionen Euro. Eine Antragsstellung ist an spezifische Antragsfristen gebunden (Europäische Kommission 2009b; Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen 2006: 26ff.). Seit 1993 zeichnet die Europäische Kommission überdies jedes Jahr die zehn als beste empfundenen und geförderten Aktivitäten mit einem zusätzlichen symbolischen Preis aus. Diese „Goldenen Sterne der Städtepartnerschaft“ werden vom Generalsekretariat der Europäischen Kommission verliehen und von einem Gremium, bestehend aus Vertretern der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen, des Rats der Gemeinden und Regionen Europas und der Fédération Mondiale des Villes Jumelées (FMVJ) ermittelt (Europäische Kommission 1997: 15f.). Diese Zusammenfassung zeigt: Städtepartnerschaftliche Förderprogramme durch die Europäische Kommission seit 1989 sind immer auch Maßnahmen, die eng mit den Aufgaben, Zielen und Problemen der Europäischen Union selbst, etwa dem Legitimationsdefizit (Thränhardt 1998: 375) oder mit ihren Gestaltungsherausforderungen in unterschiedlichen Politikbereichen zusammenhängen (Europäische Kommission 1997: 18). Die Europäische Union schreibt Städtepartnerschaften in dieser Hinsicht besondere Potentiale und Leistungsmöglichkeiten zu und versucht, sie durch finanzielle Anreize zielgerecht zu mobilisieren. Deutlich wird mit Blick auf das Förderprogramm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ auch, dass die Europäische Union gezielt die Zusammenarbeit mehrerer Städtepartner in städtepartnerschaftlichen Netzwerken voranzutreiben versucht. In dieser Hinsicht ist auch der Solidaritätsbegriff erwähnenswert, den die Europäische Kommission in ihrem Handbuch für Städtepartnerschaften verwendet: „Solidarität bedeutet hier gemeinsame Suche nach Lösungen

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kommunaler Probleme, wie moderne Verwaltung, Städteplanung oder Zuwanderung.“ (Ebd.: 18)

Kooperation und Wissenstransfer als Maßnahmen gesamteuropäischer Integration heute Diese von der Europäischen Union unterstützte Tendenz lässt sich heute verstärkt in der städtepartnerschaftlichen Praxis finden. Sowohl entlang bekannter Formen von städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit, wie beispielsweise Jugendbegegnungen, als auch hinsichtlich neuer Formen der Kooperation, wie thematischen Workshops oder Konferenzen, zielt ein großer Teil städtepartnerschaftlicher Aktivitäten auf die Bearbeitung eines gemeinsamen Themas und auf eine Zusammenarbeit mit mehr als einem Städtepartner ab. Als ein Beispiel sei hier die vom Rat der Gemeinden und Regionen Europas auf seiner Website „twinning.org“ präsentierte Konferenz zum gemeinsamen Schutz europäischer Küstengebiete („Protecting Europe’s coastlines together“) genannt. Im Jahr 2006 kamen die Städte Jurmala (Lettland), Anadia (Portugal), Cabourg (Frankreich), Eskilstuna und Gävle (Schweden), Palanga (Litauen), Pärnu (Estland) und Terracina (Italien), die sich allesamt durch Lage in einer Küstenregion auszeichnen, im lettischen Jurmala zusammen. Im Rahmen der Konferenz trugen Vertreter der Städte einander ihre individuellen Herangehensweisen in Bezug auf Umwelt- und Küstenschutz vor und besichtigten ein Naturschutzgebiet in Jurmala. Auch die Konferenz, die in der westfälischen Stadt Iserlohn im Mai 2009 zum Thema „Frauen verändern EUROPA verändert Frauen“ stattgefunden und über Gleichstellungspolitiken in Europa ausgetauscht hat, und zu der Frauen aus nordrhein-westfälischen Städten und ihren europäischen Partnerstädten eingeladen wurden, ist ein Beispiel für eine kooperative Form der multilateralen thematischen Zusammenarbeit zwischen Städtepartnern im heutigen Europa. Nicht zuletzt die künstlerischen Projekte im Rahmen des Projekts „TWINS2010“, ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas 2010 „Essen für das Ruhrgebiet“, in der jeweils mindestens zwei Partner aus einer Stadt im Ruhrgebiet und einer europäischen Partnerstadt gemeinsame Produktionen

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zu den Themen Identität, Urbanität, Integration erstellen müssen, greifen diese Tendenz der Zusammenarbeit auf. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas hebt diese Ausrichtung städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit und die ihr zugeschriebenen Qualitäten in einer seiner Broschüren, „Twinning for tomorrow’s world. Practical handbook“, wie folgt hervor: „[…] twinnings today can provide an excellent framework in which to tackle issues such as social inclusion, youth participation in public life, sustainable development and economic co-operation, the preservation of cultural heritage, dialogue for peace in the Mediterranean region and development aid.“ (Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions 2007: 1)

Diese aktuellen Entwicklungen in der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit zeigen, dass sich Formen der multilateralen Zusammenarbeit zwischen europäischen Partnerstädten häufen, wobei neben dem Aspekt des Kennenlernens immer auch der Austausch von Positionen, Erfahrungen und Wissen und die Erarbeitung gemeinsamer Handlungs- und Lösungsentwürfe zu einem bestimmten Thema im Zentrum der Aktivitäten stehen.

Fazit und Ausblick: Neue Formen städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit unter alter Zielsetzung Ein Gang durch die verschiedenen Entwicklungsphasen städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit zeigt, dass städtepartnerschaftliche Praxis stets eng mit dem Prozess der europäischen Integration verknüpft war und ist. Im Fall der deutsch-französischen und deutsch-britischen Städtepartnerschaften haben Begegnungsforen und Institutionenbildungen den Prozess der westeuropäischen Integration begleitet, möglicherweise sogar mit vorangetrieben. Bei den deutsch-polnischen und deutsch-deutschen Städtepartnerschaften haben städtepartnerschaftliche Akteure Folgen des Systemwechsels durch Hilfs- sowie Beratungsleistungen abzufangen geholfen und den Anschluss an westeuropäische Handlungsräume erleichtert. Aktuell schließen sich europäische

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Partnerstädte gezielt zur „problemorientierten Zusammenarbeit“ (Richter 1994: 49), zur gemeinsamen Bewältigung von kommunalen und zur Bearbeitung europapolitischer Herausforderungen, zusammen. Dabei werden sie intensiv durch Förderprogramme der Europäischen Union unterstützt. Aus diesen Beobachtungen heraus lässt sich festhalten, dass sich die Formen städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit im Laufe ihrer Entwicklung von Austausch- und Begegnungsformaten hin zu Formen praktischer, themenbezogener und lösungsorientierter Zusammenarbeit und zu Feldern des gezielten Wissenstransfers gewandelt haben. Eine völlige Abkehr von der ursprünglichen Ausrichtung städtepartnerschaftlicher Zusammenarbeit ist dabei aber auf den ersten Blick nicht erkennbar: Städtepartner arbeiten gestern wie heute eng am Prozess der europäischen Integration, verhandeln ihn und gestalten ihn aus. Dieser Prozess und seine Herausforderungen an die Kommunen und ihre Bürger sind es, die sich gewandelt haben. Städtepartnerschaftliche Praxis reagiert darauf mit einer veränderten Themensetzung, eigenen Lösungsvorschlägen und einer zunehmend kooperativen Herangehensweise. Dabei scheint sie aufgrund von starken lokalen Bezügen, der Vielfalt der an ihr beteiligten Akteure und einer gewissen Eigenständigkeit ihrer Beziehungsausbildung über spezifische Möglichkeiten zu verfügen. Das alles macht Städtepartnerschaften nicht nur zu einem beliebten Partner der Europäischen Union, sondern auch zu einem äußerst fruchtbaren Feld, um verschiedene Modi, Praktiken und Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses über Grenzen hinweg untersuchen zu können. Wie dabei städtepartnerschaftliche Praxis im Einzelnen ausgestaltet wird, welche Effekte spezifische Formen der städtepartnerschaftlichen Zusammenarbeit für die europäische ebenso wie für die lokale Integration hervorrufen, wie städtepartnerschaftliche Netzwerke von unterschiedlichen Akteuren angeeignet werden, inwiefern sie dabei neben Prozessen der Europäisierung auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Auswirkungen der Globalisierung verhandeln – das alles können weiterführende Fragen für eine intensive Betrachtung städtepartnerschaftlicher Praxis sein, die aber nicht ohne eingehende empirische Untersuchung und ganz sicher nicht ohne einen Einbezug der an Städtepartnerschaften beteiligten Bürger in eine Untersuchung beant-

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wortet werden können. Im Rahmen der eingangs beschriebenen Dissertation sollen diese Fragen aus kulturanthropologischer Perspektive weiter behandelt werden.

Literatur Bausinger, Hermann (1969): Ortspartnerschaft. Organisierte kommunale Kontakte und ihre Auswirkungen auf das Volksleben. In: Wolfgang Jacobeit/Paul Neldo (Hrsg.), Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung: Berlin: Akademie-Verlag, S. 75-92. Bautz, Ingo (2002): Die Auslandsbeziehungen der deutschen Kommunen im Rahmen der europäischen Kommunalbewegung in den 1950er und 60er Jahren. www.ub.uni-siegen.de/ pub/diss/fb1/2002/bautz/bautz.pdf, April 2009. Bock, Hans Manfred (1994): Europa von unten. Zu den Ursprüngen und Anfängen der deutsch-französischen Gemeindepartnerschaften. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/ Hartmut Ullrich (Hrsg.), Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 13-35. Burgmer, Inge Maria (1989): Städtepartnerschaften als neues Element der innerdeutschen Beziehungen. Bonn: Europa-UnionVerlag. Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions (CCRE/CEMR). www.twinning. org, April 2009. Conseil des Communes et Régions d’Europe/Council of European Municipalities and Regions (CCRE/CEMR) (Hrsg.) (2007): Twinning for tomorrow’s world. Practical handbook. http://admin5.geniebuilder.com/users/ccre/bases/T_599_46 _3524.pdf, April 2009. Europäische Kommission (1997): Ein Europa der Städte und Gemeinden – Handbuch für Städtepartnerschaften. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Europäische Kommission (2009a): Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ 2007-2013. Programmleitfaden.

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STÄDTEPARTNERSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA

http://ecea.ec.europa.eu/citizenship/guide/documents/EAC EA_2008_0185_DE.pdf, Mai 2009. Europäische Kommission (2009b): Über das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ 2007–2013. http://eacea. ec.europa.eu/citizenship/programme/about_citizenship_de. php, Mai 2009. Evangelischer Pressedienst (epd) (1990): Auch ein ökumenisches Lernfeld: Städtepartnerschaften zwischen Ost und West. Frankfurt a.M. Gemeinden. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 361377. Gerhard, Simone/Corinna Heipcke/Emanuel Richter (1994): Städtepartnerschaften haben Konjunktur – und Konjunktur benötigt Impulse. Eine empirische Studie zu Partnerschaften hessischer Gemeinden und Städte. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 167-182. Greverus, Ina-Maria (1987): Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. Frankfurt a.M.: Kulturanthropologie Notizen. Grunert, Thomas (1981): Langzeitwirkungen von Städte-Partnerschaften. Ein Beitrag zur europäischen Integration. Kehl am Rhein/Straßburg: N.P. Engel Verlag. Harmsen, Robert/Thomas M. Wilson (2000): Introduction. Approaches to Europeanization. In: Yearbook of European Studies 14/2000, S. 13-26. Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2006): EU-Programme für Kommunen. EUFörderung 2007-2013. Düsseldorf, S. 26-31. Pawlow, Nicole-Annette (1990): Innerdeutsche Städtepartnerschaften: Entwicklung, Praxis, Möglichkeiten. Berlin: Verlag Gebr. Holzapfel. Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE). www.rgre.de, April 2009. Richter, Emanuel (1994): Die Gemeinde als Basis europäischer Integration – Subsidiarität und Bürgernähe. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Ge-

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ANNINA LOTTERMANN

meindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 37-55. Thränhardt, Dietrich (1998): Die Kommunen und die Europäische Union. In: Hellmut Wollmann/Roland Roth (Hrsg.), Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. Bonn : Bundeszentrale für politische Bildung, S. 361-377.. Ullrich, Hartmut (1994): Vorwort. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/Ders. (Hrsg.), Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 7-11. von Lennep, Hans Gerd (1994): Die Akteure: Zur Rolle der Kommunen, der Verbände und der lokalen Eliten. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 57-67. von Weizäcker, Beatrice (1990): Verschwisterung im Bruderland: Städtepartnerschaften in Deutschland. Bonn: Bouvier Verlag. Wagner, Beate (1994): Städtepartnerschaften zwischen Ost- und Westeuropa: Eine Analyse am Beispiel bundesdeutscher Städte und Gemeinden. In: Annette Jünemann/Emanuel Richter/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, S. 109-130. Wagner, Beate (1995): Partnerschaften deutscher Städte und Gemeinden. Transnationale Beiträge zur internationalen Sicherheit. Münster: LIT Verlag. Wimmer, Johann Wolfgang (1989): Städtepartnerschaften der Kommunen in Nordrhein-Westfalen. Eine kritische Bestandsaufnahme. Münster: LIT Verlag.

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Autorinnen und Autoren Léonce Bekemans, geb. 1950, ist Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls „Globalisation, Intercultural dialogue, and inclusiveness in the EU” an der Universität von Padua (Italien) am Interdepartmental Centre on Human Rights and the Rights of Peoples, Gastprofessor für Europäische Interdisziplinäre Studien an der Polonia Universität in Czestochowa (Polen) und ehemaliger Professor des College of Europe in Brügge (Belgien). Er ist außerdem Präsident der „Ryckevelde Stiftung“ (Belgien) und Vizepräsident des Forums „Europe of Cultures“. Er war als Experte für Europaerziehung und interkulturellen Dialog für den Europarat und die Europäische Union tätig. Seine gegenwärtigen Forschungsinteressen richten sich auf die Beziehung zwischen Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa. Erst vor kurzem nahm er an dem europäischen interuniversitären Forschungsprojekt „The Role of intercultural dialogue for the development of a new (plural, democratic) citizenship“ teil und veröffentlichte die Monographie Intercultural Dialogue and Citizenship. Translating Values into Actions. A common Project for Europeans and their partners (zusammen mit Maria KarasinskaFendler et al., Venedig 2007). Albrecht Göschel, geb. 1941, ist Stadtplaner in München und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Göttingen, Bremen und der Hochschule der Künste Bremen. Von 1987 bis 2006 war er Projektleiter am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin. Er studierte Architektur und Stadtplanung

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ENTWICKLUNGSFAKTOR KULTUR

an der TU Hannover und der TU Berlin sowie und Soziologie, Sozialplanung und Sozialpolitik an der University of Essex in England. Seine Promotion in Soziologie legte er an der Universität Bremen ab. Arbeitsschwerpunkte sind Kultur- und Sozialpolitik, Wertewandel, allg. Stadt- und Kommunalforschung, Zukunft der Stadt; zuletzt u.a. Projektleiter zum Forschungsverbund „Stadt 2030“ des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Zukunft von Stadt und Region (Wiesbaden 2007), Kontrast und Parallele (Stuttgart 1999) und Kultur in der Stadt (zusammen mit Volker Kirchberg, Opladen 1998). Gertraud Koch hat Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie bzw. Empirische Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft und Theater-, Film-, Fernsehwissenschaften in Frankfurt und Tübingen studiert und an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. Nach verschiedenen Tätigkeiten in Erwachsenenbildung und Wissenschaft ist sie seit 2003 Professorin für Kommunikationswissenschaft und Wissensanthropologie an der Zeppelin University, private, staatlich anerkannte Universität in Friedrichshafen. Forschungsinteressen: Transkulturalität/Interkulturalität und Diversity, Kulturalität von Technik und neuen Medien, Kulturanthropologie des Lernens, Sozialer Raum und Lebenswelt, Arbeits- und Lernkulturen. Jüngste Publikation: Transkulturelle Praktiken. Empirische Studien zu Innovationsprozessen. Wissen Kultur Kommunikation (St. Ingbert 2008). Christoph Lindner ist Associate Professor of Film and Literature an der Northern Illinois Universität und Research Affiliate am University of London Institute in Paris. Zu seinen neueren bzw. in Kürze erscheinenden Büchern gehören Globalization, Violence, and the Visual Culture of Cities (New York 2009), Urban Space and Cityscapes (New York 2003), Fictions of Commodity Culture (Aldershot 2003) und The James Bond Phenomenon (Manchester 2003). Er arbeitet gegenwärtig an der Fertigstellung einer interdisziplinären Studie über urbane Modernität, die den Titel Imagining New York City trägt.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Annina Lottermann ist Leiterin der Geschäftsstelle „Kontaktbüro Wissenschaft – Kulturhauptstadt 2010“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Sie hat von 2000 bis 2006 Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main studiert und anschließend als wissenschaftliche Hilfskraft im DFGProjekt „Der Umgang mit den Paradoxien politisch-moralischer Erziehung“ am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt gearbeitet. Ihr Promotionsprojekt „European twins. Transnationale kulturpolitische Zusammenarbeit unter EU-europäischer Aufsicht im Rahmen der Vorbereitung auf das Großereignis ‚Kulturhauptstadt Europas Ruhrgebiet 2010’“ wird von Prof. Dr. Gisela Welz am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt am Main betreut und von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Zu ihren Publikationen gehören „Es sind neue Leute gekommen“. Europäisierungsprozesse und Elitenwandel im Rahmen der Bewerbung von Görlitz und Zgorzelec zur ‚Kulturhauptstadt Europas 2010’ (Dresden 2007) und Erfahrung als „Efeu am Gerüst biomedizinischen Wissens“ Krankheitsmanagement und Alltagsbewältigung von chronischen SLE-Betroffenen (Frankfurt am Main 2005). Jürgen Mittag, geb. 1970, hat von 1992 bis 1997 Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Köln, Oxford und Bonn studiert und promovierte 2000 an der Universität zu Köln. Von 1997 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln. Seit 2003 ist er Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen der RuhrUniversität Bochum und der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets. Forschungsinteressen: Deutsche Zeitgeschichte, Europäische Integration, Soziale Bewegungen und politische Parteien sowie Ruhrgebietsforschung. Publikationen (in Auswahl): Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Münster 2008) und Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik (Essen 2008).

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ENTWICKLUNGSFAKTOR KULTUR

Brendan Murtagh, geb. 1960, ist Dozent am Institute of Spatial and Environmental Planning an der School of Planning, Architecture and Civil Engineering, SPACE. Er ist amtlich zugelassener Stadtplaner mit den Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkten Urbane Regeneration, Konflikt und Gemeindebeteiligung. Zu seinen derzeitigen Forschungsprojekten gehören u.a. eine Studie über planning skills and competencies für das ESRC und die Academy for Sustainable Communities (ASC), integrated housing für die Housing Executive (Wohnungswesen Exekutive) und Governance and European spatial planning (in Zusammenarbeit mit Universitäten in Frankreich, Belgien und der Irischen Republik) für die europäische Kommission – INTERREG. Seine neuesten Veröffentlichungen sind u.a.: The Politics of Territory (London 2002), Equity, Diversity and Interdependence: Reconnecting People Through Authentic Dialogue (zusammen mit Michael Murray, Aldershot 2004), Belfast. Segregation, Violence and The City (zusammen mit Peter Shirlow; London 2006) und Social Capital and the Social Economy (zusammen mit Simon Bridge und Ken O’Neill, London 2009). William Neill, geb. 1953, ist Professor für Raumplanung an der Universität Aberdeen und war zuvor Dozent für urbane Planung an der Queen’s University Belfast. 1978 hat er einen M.A. in urbaner Planung an der University of Michigan und 1986 einen PhD in urbaner und regionaler Planung an der University of Nottingham erworben. Zuvor war er beim Department of Landscape and Planning an der Universität Manchester beschäftigt und arbeitete in den 1970er und 1980er Jahren als Wirtschaftsentwicklungsplaner für die Abteilung Business and Community Development in Michigan, USA. Bis vor kurzem war er Mitglied des General Assembly of the Royal Town Planning Institute und ist derzeit Mitglied des internationalen Komitees des Instituts. Seine Forschungsinteressen in den letzten Jahren liegen u.a. in den folgenden Bereichen: Führung und Planung multikultureller Städte, in Zusammenarbeit mit der European Academy of the Urban Environment; die räumliche Dimension von Gedächtnis und Identität und Repräsentationen der Stadt und des Stadtmarketings. Zu seinen neueren Veröffentlichungen gehören Urban Planning and Cultural Inclusion (zusammen mit Hanns-Uve Schwedler, Hampshire/New York

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AUTORINNEN UND AUTOREN

2001), Urban Planning and Cultural Identity (London 2004) und Migration and Cultural Inclusion in the European City (zusammen mit Hanns-Uve Schwedler, Hampshire 2006). Kathrin Oerters, geb. 1981, studiert seit 2002 Geschichte und Philosophie in Bochum und Paris, 2006 erworb sie den B.A. an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2007 bis 2008 war sie Bronnbacher Stipendiatin des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen: Erinnerungskulturen, Ruhrgebietsgeschichte und Verbindungen zwischen Kultur und Wirtschaft. Zu ihren Publikationen gehören u.a.: Die finanzielle Dimension der europäischen Kulturhauptstadt: Von der Kulturförderung zur Förderung durch Kultur (zusammen mit Jürgen Mittag, Essen 2008) und Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik (Essen 2008). Gudrun Quenzel, geb. 1971, studierte angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg und promovierte 2005 an der Universität Duisburg-Essen im Fach Soziologie. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Assistentin im Forschungsprojekt „Handlungs- und Bildungskompetenzen funtktionaler Analphabeten“ an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mechanismen und Determinanten von Kultur in Europa, Jugend und europäische Integration und Geschlecht und Schulerfolg. Zu ihren Publikation gehören: Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union (Bielefeld 2005), Nationales Erbe und europäische Zukunft. Repräsentationsformen und Konstruktionsprozesse europäischer Kultur in den Kulturhauptstädten Salamanca und Graz. (Essen 2007) und Das Projekt Kulturhauptstadt Europas: Im Spannungsfeld zwischen regionalen, nationalen und europäischen Traditionen (München 2009). Christa Reicher studierte Architektur an der RWTH Aachen und der ETH Zürich. Seit 2002 leitet sie das Fachgebiet Städtebau, Stadtgestaltung und Bauleitplanung der Fakultät Raumplanung an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor war sie von 1998 bis 2002 Professorin für Städtebau und Entwerfen am Fachbereich für Architektur an der FH Bochum. Sie ist

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ENTWICKLUNGSFAKTOR KULTUR

Mitgründerin und Partnerin des Aachener Planungsbüros rha – reicher haase architekten + stadtplaner. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Urbanismusforschung im Ruhrgebiet sowie in der baukulturellen Bildung mit dem Fokus auf Kinder und Jugendliche. Sie hat verschiedene Bücher zum Ruhrgebiet sowie zu städtebaulichen Themen veröffentlicht, u.a. IBA Emscher Park – Die Projekte 10 Jahre danach (Essen 2008) sowie StadtPerspektiven (zusammen mit Silke Edelhoff und Päivi Kataikko, Stuttgard 2008). Bernhard Schäfers, geb. 1939, promovierte 1967 und habilitierte 1970 am Institut für Soziolgie der Universität Münster. Ab Mai 1965 arbeitete er als Assistent und Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster. Ab April 1971 war er a.o. Prof. für Soziologie an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Landbau; ab 1977 war er o. Prof. für Soziologie an der Universität Göttingen. Von 1983 bis 2007 war er Leiter des Instituts für Soziologie an der Universität Karlsruhe (TH). Zu seinen neueren Veröffentlichungen gehören: Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Aufl. (zusammen mit Wolfgang Zapf, Opladen 2001); Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 8. verb. Aufl. (Stuttgart 2004); Architektursoziologie, 2. Aufl. (Wiesbaden 2006) und Stadtsoziologie (Wiesbaden 2006). Oliver Scheytt, geb. 1958, ist Professor für Kulturpolitik und Kulturelle Infrastruktur an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Er studierte Klavier an der Folkwang Hochschule in Essen und Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Er promovierte 1989 mit einer Dissertation zum Musikschulrecht. Von 1993 bis 2009 war er Kulturdezernent der Stadt Essen und hat bis Anfang 2007 auch die Ressorts Bildung und Jugend betreut. Nachdem er die Bewerbung „Essen für das Ruhrgebiet. Kulturhauptstadt Europas 2010“ von 2004 bis 2006 moderiert hatte, wurde er Ende 2006 zum Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH bestellt. Daneben ist er Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. und Mitglied einer Reihe von Organisationen der Kunst und Kultur wie der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages, des Verbandes Deutscher Musikschulen, der Kulturausschüsse

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AUTORINNEN UND AUTOREN

der Deutschen UNESCO-Kommission und des Deutschen Städtetages, des Beirates der Bundeskulturstiftung. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Bereichen Kommunalpolitik, Kulturpolitik, Kulturmanagement, Kulturrecht, Personal- und Organisationsentwicklung. Zu seinen neueren Veröffentlichungen gehören: Kommunales Kulturrecht (München 2005) und Kulturmanagement und Kulturpolitik (Berlin 2006).

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Urban Studies Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik 2007, 402 Seiten, kart., 21,00 €, ISBN 978-3-89942-676-2

Georg Glasze, Robert Pütz, Manfred Rolfes (Hg.) Diskurs – Stadt – Kriminalität Städtische (Un-)Sicherheiten aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie 2005, 326 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-408-9

Martina Hessler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-725-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-10-19 14-39-49 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0322223856790630|(S.

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3) ANZ1353.p 223856790638

Urban Studies Bastian Lange, Ares Kalandides, Birgit Stöber, Inga Wellmann (Hg.) Governance der Kreativwirtschaft Diagnosen und Handlungsoptionen Mai 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-996-1

Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt 2007, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-789-9

Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2

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3) ANZ1353.p 223856790638

Urban Studies Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land April 2009, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1127-4

Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-497-3

Katrin Grossmann Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz 2007, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-718-9

Nicole Grothe InnenStadtAktion – Kunst oder Politik? Künstlerische Praxis in der neoliberalen Stadt 2005, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-413-3

Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung 2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-622-9

Susanne Heeg Von Stadtplanung und Immobilienwirtschaft Die »South Boston Waterfront« als Beispiel für eine neue Strategie städtischer Baupolitik 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-819-3

Andrej Holm Die Restrukturierung des Raumes Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse 2006, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-521-5

Uwe Lewitzky Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität 2005, 138 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-285-6

Annika Mattissek Die neoliberale Stadt Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte 2008, 298 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1096-3

Thomas Pohl Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne April 2009, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1118-2

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3) ANZ1353.p 223856790638