Kunst des Städtebaus: Neue Perspektiven auf Camillo Sitte 9783205116004, 3205774302, 9783205774303

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Kunst des Städtebaus: Neue Perspektiven auf Camillo Sitte
 9783205116004, 3205774302, 9783205774303

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Bö h I a u

Klaus Semsroth · Kari Jormakka · Bernhard Langer (Hg.)

Kunst des Städtebaus Neue Perspektiven auf Camillo Sitte

BÜHLAU

VERLAG

WIEN

· KÖLN

·

WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 3-205-77430-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2005 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Lektorat: Jürgen Lenk Umschlaggestaltung: Wolfgang Nuk Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Ferdinand Berger & Söhne, 3580 Horn

Vorwort

Camillo Sitte ist unter Stadtplanern und Architekten in erster Linie durch sein Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 bekannt. Der durchschlagende Erfolg dieses Buches kam fur die Fachwelt völlig überraschend. Sitte war bis dahin als Schulleiter bekannt, der regelmäßig Kunst- und Architekturkritiken in österreichischen Tageszeitungen publizierte. Als Architekt war er kaum durch praktische Arbeiten hervorgetreten. Mit einer systematischen Abhandlung, die nicht nur die Geschichte des Städtebaus seit der Antike, sondern auch die drängenden Fragen der Gegenwart, der industrialisierten Stadterweiterung, einschließlich Fragen der Verkehrsfuhrung und der Hygiene behandelte, hatte niemand gerechnet. Camillo Sitte wurde am 17. April 1843 in W i e n als einziges Kind des Architekten Franz Sitte aus Weißenkirchen (Nordböhmen) und Theresia Schabes aus Grafenschlag (Niederösterreich) geboren. Er besuchte bis 1863 das Piaristengymnasium in Wien, um dann das Studium der Architektur an der Bauschule des Polytechnischen Institutes, der heutigen Technischen Universität, mit ihrem berühmten Lehrer und Architekten der Wiener Ringstraße Heinrich von Ferstel aufzunehmen. Sowohl sein Studium als auch die Mitarbeit im Atelier seines Vaters Franz Sitte vertieften sehr früh Sittes technische Kenntnisse und entwickelten seine künstlerischen Fähigkeiten. Während des Besuches des Polytechnischen Institutes studierte Camillo Sitte an der Universität Wien, wo er auch archäologische und kunsthistorische Vorlesungen hörte. Vor allem Übungen bei Rudolf von Eitelberger, der sich schon zu Beginn der Anlage der Ringstraßenzone eingehend mit städtebaulichen Fragen befasst hatte,

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: Klaus Semsroth

dürften Camillo Sitte stark beeinflusst und seine Liebe zum Städtebau geweckt haben.1 Bereits 1875 wurde ihm - wohl durch die Förderung durch Rudolf von Eitelberger - die Leitung der neu gegründeten Staatsgewerbeschule in Salzburg übertragen. Camillo Sittes Wirken in Salzburg war so erfolgreich, dass er 1889 nach Wien zurückgerufen wurde, um auch hier eine K.K. Staatsgewerbeschule aufzubauen. Im selben Jahr veröffentlichte er sein theoretisches Hauptwerk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, dessen unerwarteter Erfolg seinen Namen mit einem Schlag berühmt machte. In der Folgezeit wurde Sitte häufig als Juror eingeladen, hielt zahlreiche Vorträge, schrieb eine Vielzahl von Beiträgen und führte zahlreiche Bauprojekte und städtebauliche Arbeiten aus (z.B. Olmütz, Privoz, Eichwald, Marienberg). Nur in Wien blieb der große Erfolg als Architekt und Stadtplaner aus, da er aufgrund seiner kritischen Haltung zur Ringstraße äußerst umstritten war. Den geplanten zweiten Band - Der Städtebau nach seinen wissenschaftlichen und sozialen Grundsätzen - konnte Sitte angesichts dieser Arbeitsbelastung nicht mehr vollenden. Er starb am 16. November 1903 in Wien.

Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen Sitte sprach mit seinem Hauptwerk aus, was viele zeitgenössische Wiener Architekten im Zusammenhang mit der Gestaltung der Ringstraße kritisierten, wobei zwei gegensätzliche Standpunkte die seinerzeitige Diskussion beherrschten. Den einen vertrat Otto Wagner, den anderen Camillo Sitte - beide waren Architekten und beide hielten die theoretische Begründung ihrer Tätigkeit für besonders wichtig. Die Kritik Sittes richtete sich vor allem gegen rasterförmige, auf bloße Wirtschaftlichkeit und Rationalität orientierte Bebauung, wie sie von vielen Planern für Stadterweiterungen empfohlen wurde. Nach Sittes Meinung unterstrich eine Rasterbebauung lediglich den Vorrang der wirtschaftlichen Interessen. Platzgestaltungen, öffendicher Raum und Kunst kamen in diesem Fall zu kurz. Die Präferenz der wirtschaftlichen Interessen zerstört, wie Sitte ausführte, die humane Struktur der Stadt.

1

Wurzer, Rudolf: »Camillo Sitte«, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hg.): Handwörterbuch der Raumforschung und Raumplanung, Bd. 3. Hannover: Gebrüder Jäneke Verlag 1966, S. 1774-84.

Vorwort

: VII

Sitte hielt die künstlerischen Faktoren in der Stadtplanung für wichtiger als die technischen: »An einer solchen Stelle begreifen wir auch die Worte des Aristoteles, der alle Grundsätze des Städtebaues dahin zusammenfasst, dass eine Stadt so gebaut sein solle, um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen. Zur Verwirklichung des letzteren dürfte der Städtebau nicht bloß eine technische Frage, sondern müsste im eigentlichsten und höchsten Sinne eine Kunstfrage sein.«2 Sitte verurteilte nicht den Historismus der Ringstraßengebäude. Im Gegenteil: Er wollte, dass die historischen Vorbilder in der Stadtstruktur erscheinen. Die großen, offenen Plätze der Ringstraße hingegen riefen seiner Meinung nach Beklemmungen bei den Bewohnern der Stadt hervor. Sitte vollbrachte in seinem Buch die Leistung, die Formprinzipien des traditionellen Städtebaus zu rekonstruieren und dadurch Kriterien fur aktuelle Planungen aufzustellen. Verkehrskreuzungen wollte er nach dem Vorbild monumentaler Platzanlagen gestalten und neue Stadtsilhouetten den Proportionen alter Ensembles angleichen. Er war ein Anhänger der Empirie, der nur über Städte sprach, die er selbst untersucht hatte. Sein oberster Gestaltungsgrundsatz war, dass im Städtebau nur die vom Beobachter überschaubaren räumlichen Situationen wertvoll sind. Seine meist gebrauchte Vokabel ist »Geschlossenheit«: geschlossene Platzwände, kontinuierliche Baufluchten, in das Platzgefuge eingesetzte Monumente. Sittes Theorie vom Städtebau als essentiell öffentliches und raumbezogenes Unterfangen wurde von vielen Zeitgenossen euphorisch empfangen und fand internationalen Niederschlag in Architektur und Städtebau der Folgezeit. Die avantgardistische Moderne reagierte jedoch mit programmatischer Ablehnung. Die Protagonisten der Avantgarde empfanden den Vermittler zwischen Tradition und Moderne als zu rückwärtsgewandt. Sigfried Giedion degradierte ihn zu »einer Art Troubadour, der mit seinen mittelalterlichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte.«3 Die Planungsgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit ordnete Sitte gar den Vorläufern des Nationalsozialismus zu.4 Ambivalenz kennzeichnete auch die weitere Rezeptionsgeschichte von 2

Sitte, Camillo : Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Reprint der ι. Auflage von 1889, in: Camillo Sitte Gesamtausgabe, Bd. 3. Hg. von Klans Semsroth, Michael Mönninger, Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003, S. 2.

3 Giedion, Sigfried: Raum., Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition. Zürich, München: Artemis 1976 (1941), S. 464Í 4

Fehl, Gerhard: »C. Sitte als Volkserzieher. Anmerkungen zum deterministischen Denken in der

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: Klaus S e m s r o t h

Sittes Städtebauschrift, bis sie von der Postmoderne wieder entdeckt wurde. Im deutschsprachigen Raum berief sich unter anderem Rob Krier explizit auf Sitte als Vorbild.5 Auf historiographischem Gebiet hat erst die jüngere Forschungsgeschichte Sitte seinen gebührenden Platz als führender Städtebautheoretiker wieder zuerkannt, wobei insbesondere die Arbeiten von George R. und Christiane C. Collins6, Françoise Choay 7 , Daniel Wieczorek8, Michael Mönninger 9 und Karin Wilhelm 10 hervorzuheben sind. Die Bedeutung von Sittes Hauptwerk spiegelt sich ebenso in der Tatsache wider, dass bis heute Ubersetzungen in fünfzehn Sprachen vorliegen. Anlässlich des 100. Todestages von Camillo Sitte hat das Institut für Städtebau der Technischen Universität Wien, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Architekturtheorie, Experten aus dem In- und Ausland zu einem Symposium eingeladen, um Sittes Buch einer Neubewertung zu unterziehen. Die thematischen Schwerpunkte waren eine Rekonstruktion und Analyse von Sittes Denken im kulturellen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts, eine Untersuchung der wechselhaften Rezeptionsgeschichte dieses Werks, eine Diskursanalyse von Sittes Schrift, sowie die aus Sicht der heutigen Sitte-Rezeption relevanten Fragen um Stadtraum und Identität. Das Symposium fand reges Interesse und wurde zu einem aktuellen Forum für Fachleute. Stadtbaukunst des 19. Jahrhunderts«, in: Ders. / J . Rodriguez-Lores: Städtebau um die Jahrhundertwende: Materialien zur Entstehung der Disziplin Städtebau. Köln : Deutscher Gemeindeverlag/ Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1980, S. 1 7 3 - 2 2 1 . - Karin Wilhelm weist d a r a u f h i n , dass diese Interpretation Sittes ebenso vereinfachend wie falsch ist. Siehe Wilhelm, Karin : »Zur Architekturtheorie der Wiener Moderne«, in: Acham, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. j : Sprache, Literatur und Kunst. W i e n : Passagen 2003, S. 445-469. 5 Krier, Rob: Stadtraum in Theorie und Praxis. Stuttgart: Karl Krämer 1975. 6 Collins, George R. / Collins, Christiane C.: Camillo Sitte: The Birth ofModern City Planning. N e w York: Rizzoli 1986 (2., überarbeitete Auflage der Erstausgabe von 1965). 7 Choay, Françoise : Das architektonische Erbe, eine Allegorie. Geschichte und Theorie der Baudenkmale. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1997 (1992). 8 Wieczorek, Daniel : Camillo Sitte et les débuts de l urbanisme moderne. Brüssel, Liège : Architecture + Recherches 1981. 9 Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk: Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig: Vieweg 1998. 10 Wilhelm, Karin: »Städtebautheorie als Kulturtheorie - Camillo Sittes ,Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen'«, in : Musner, Lutz / Wunberg, Gotthart / Lutter, Christina (Hg.): CulturalTurn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. W i e n : Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2001, S. 89-109.

Vorwort

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IX

Die nun fertig gestellte Publikation Kunst des Städtebaus. Neue Perspektiven auf Camillo Sitte ist ein Supplement der bei Böhlau erscheinenden Camillo Sitte Gesamtausgabe. Die Edition der Schriften Camillo Sittes erfolgt im Rahmen eines vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projekts und basiert auf Camillo Sittes am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen verwahrten Nachlass. Mit dieser auf sechs Bände angelegten kritischen kommentierten Gesamtausgabe werden erstmals Sittes Schriften in sämtlichen Tätigkeitsbereichen der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Einzelnen sind folgende Bände in Vorbereitung: Band ι : Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Band 2: Schriften zu Architektur und Städtebau. Band 3: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (2003 erschienen). Band 4: Schriften zu Pädagogik und Schulwesen. Band 5: Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Band 6: Entwürfe und städtebauliche Projekte. Die gesamte Edition soll bis 2007 erscheinen. Der vorliegende Band wäre ohne die Mitarbeit und Unterstützung zahreicher Personen nicht zustande gekommen. Mein besonderer Dank gilt Bernhard Langer, Projektassistent am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen der T U Wien, der die wissenschaftliche Redaktion und technische Organisation des Symposiums mit großem Einsatz und viel fachlichem Verständnis durchgeführt hat. Für die wissenschaftliche Unterstützung des Symposiums möchte ich dem Mitherausgeber Kari Jormakka vom Institut für Architekturwissenschaften der T U Wien, Abteilung Architekturtheorie, recht herzlich danken. Weiters geht mein Dank an Sonja Hnilica, Projektassistentin am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen, für ihre Mitarbeit am wissenschaftlichen Lektorat dieses Bandes. Mein Dank gilt ebenso dem Lektor Jürgen Lenk und Frau Eva Reinhold-Weisz von Böhlau, die die Verwirklichung dieser Publikation nach Kräften unterstützt hat. Die Durchführung des Symposiums im November 2004, welches die Basis für diese Publikation darstellt, sowie die redaktionelle Betreuung des vorliegenden Bandes wären ohne die großzügige Unterstützung durch Sponsoren nicht

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: Klaus Semsroth

möglich gewesen. Unser Dank gilt deshalb dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), dem Jubiläumsfonds der Osterreichischen Nationalbank, dem Bundeskanzleramt, der Kulturabteilung der Stadt Wien, der Technischen Universität Wien und der Fakultät für Architektur und Raumplanung. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung danken wir insbesondere dem FWF und der Camillo Sitte Gesellschaft recht herzlich. Klaus Semsroth

Inhalt

Kari Jormakka

Der Blick vom Turm

1

Michael Mönninger

Naturdenken und Kunstgeschichte. Camillo Sitte und die ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert

27

Ákos Moravánszky

Erzwungene Ungezwungenheiten. Camillo Sitte und das Paradox des Malerischen

47

Wolfgang Sonne

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus

63

Bernhard Langer

Künstlerischer Städtebau vs. Junkspace

91

Stanford Anderson

Camillo Sitte : Methoden der Rezeption

111

Christiane Crasemann Collins

Sitte : Übertragung und Verbreitung über den Atlantik. Die frühen Boten : Raymond Unwin, John Nolen und Werner Hegemann 129

XII

: Inhalt

Riitta Nikula Camillo Sitte und Finnland

149

Mario Schwarz Ideologie und Stilbegriff

171

Sonja Hnilica Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

183

Ruth Hanisch »Die Ursache der schönen Wirkung«. Eine Parallellektüre von Camillo Sittes Schriften zu Kunstgewerbe und Städtebau

209

Gabriele Reiterer Wahrnehmung - Raum - Empfindung. Anmerkungen zu Camillo Sittes Städtebau

225

Heleni Porfyriou Camillo Sitte und das Primat des Blicks

239

Anthony Vidier Stadtängste und Städtebau

257

Anhang Bildnachweis

275

Kurzbiographien der Autoren

281

Sach- und Ortsregister

285

Personenregister

287

Kari Jormakka

Der Blick vom Turm

Als Michel Foucault das Panopticon zum Paradigma der Moderne erklärte, mag er der zeitgleichen Erfindung des Panoramas zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.'Jeremy Bentham begann 1787 sein Konzept des Panoramas zu entwickeln. Im selben Jahr ließ Robert Barker seine Erfindung unter der Bezeichnung »la nature à coup d'ceil« patentieren, die er später in »Panorama« umbenannte. Beide Gebäudetypen ähneln einander formal: sie sind Rundbauten mit einem Betrachter im Zentrum. In funktioneller Hinsicht sind sie jedoch sehr verschieden. Während das panoptische Gefängnis das Wesen der Disziplinargesellschaft darstellt, verkörpert das Panorama die Unterhaltungsgesellschaft. Barkers Erfindung, das erste Massenmedium in der Geschichte der Menschheit, trug dazu bei, eine neue, verdinglichende und totalisierende Art des Sehens einzuführen, die darauf abzielt, die Stadt oder die Landschaft gleich einem

1

Foucault war sich jedoch der Ähnlichkeit zwischen Panopticon und Panorama bewusst: »Bentham stellte sich den steten Besucherstrom so vor, daß die Besucher durch einen unterirdischen Gang in den Zentralturm gelangen und von da aus die Kreislandschaft des Panopticon beobachten würden. Darum ist anzunehmen, daß er die Panoramen kannte, die gerade damals von Barker erbaut wurden.« Siehe Foucault, Michel: Überwachen undStmfen. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 266, Anm. 12. Robin Evans wies darauf hin, dass Bentham auch eine panoptische Wohnung mit trompe /W/-Ansichten und beweglichen Teilen aus buntem Glas entwarf. Siehe Evans, Robin: »Bentham's Panopticon: An Incident in the Social History of Architecture«, in: AA Quarterly 3.2, 1 9 7 1 , S. 2 1 - 3 7 . Siehe auch Oettermann, Stefan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/M.: Syndikat 1980, S. 34-36.

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I Kari Jormakka

Kunstwerk als ein Objekt zu erfassen.2 Wie Walter Benjamin beobachtete, dehnt sich die Stadt in den Panoramen zu einer Landschaft, wie sie es auf subtilere Art fiir den flâneur tut.3 Für diese Art des Sehens wurde jüngst der Ausdruck »der touristische Blick« (the tourist's gaze) geprägt. Eine solche Wahrnehmung ist nur durch eine bestimmte Art der Entfremdung des Betrachters vom Objekt möglich, und nur innerhalb eines bestimmten kulturellen Rahmens: der touristische Blick schließt Erfahrungen mit ein, die, indem sie auf typische Weise visuell objektiviert oder in konventionellen Darstellungen eingefangen sind, endlos reproduziert werden können. Der touristische Blick beeinflusste ebenso den Städtebau des 19. Jahrhunderts. Marshall Berman untersuchte die visuelle Obsession in Baron Haussmans Konstruktionen der Pariser Boulevards, seine Vorliebe für großartige, weitläufige Blickachsen mit Monumenten an den Enden der Boulevards. Er meint, dass diese Qualitäten Paris zu einem einzigartig anregenden Spektakel machen, einem visuellen und sinnlichen Fest: »after centuries of life as a cluster of isolated cells, Paris was becoming a unified physical and human space.«4 Für einen flâneur, der auf Boulevards und unter Arkaden umherzieht, wie Charles Baudelaire oder Emile Souvestre, sollte die Welt nach dem Muster der Straßen von Paris, des Rummelplatzes der Welt, aussehen. In La Dernière Mode vom September 1874 schrieb Stéphane Mallarmé, dass nur Paris stolz auf sich sein kann, die Summe des gesamten Universums zu sein, sowohl in Form eines Museums als auch eines Kaufhauses. 5 Der touristische Blick auf die Welt wurde durch nichts besser exemplifiziert als durch den Eiffelturm. Roland Barthes schrieb: »Objekt, wenn man ihn 2

Bis zu seinem Tod 1806 stellte Barker seine Panoramen in einem Gebäude aus, das 1792 von Robert Mitchell am Leicester Place, nahe Leicester Square, errichtet wurde. Die Einrichtung war bis 1865 aktiv und zeigte neben Panoramen auch andere Attraktionen, unter anderem das Sans Souci Theater, welches 1796 eröffnet wurde, und eine Schießbude (1836-1855). Auch seriösere Einrichtungen befanden sich an diesem Ort, unter anderem das Royal Panopticon of Science and Art, welches in einem neo-maurischen Gebäude 1854 eröffnet wurde. Mehr auf die Unterhaltungswelt des Leicester Square abgestimmt war der Große Globus von James Wyld. Das sphärische Gebäude (welches im Schnitt an Boullées Kenotaph fiir Newton erinnert) bot eine Weltkarte mit einem Durchmesser von über 18 Metern, umgeben von Ausstellungsräumen.

3

Benjamin, Walter: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V / i . H g . von RolfTiedermann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 45-59, S. 48.

4

Berman, Marshall: AllThat Is Solid Melts Into Air. N e w York: Simon and Schuster 1982, S. 1 5 1 .

5

Hamon, Philippe: Expositions. Aus dem Französischen übersetzt von Katia Sainson-Frank und Lisa Maguire. Berkeley: University of California Press 1992, S. 9, 1 1 , 67, 96.

Der B l i c k v o m T u r m

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ι. Der totalisierende Blick: Ildefonso Cerdas Planfiir Barcelona, ι#59.

betrachtet, wird er seinerseits doch zum Blick, wenn man ihn besucht, und macht nun jenes Paris, das vorhin ihn betrachtete, zu einem zugleich ausgedehnten und versammelten Objekt.« 6 Anstatt selbst auf irgendeine eindeutige Referenz zu verweisen, transformiert der Eiffelturm die Erfahrung der Stadt. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass zur Zeit seiner Errichtung Künstler zunehmend die standardisierte Perspektive zurückwiesen und eher objektzentrierte Darstellungsmethoden zur Anwendung brachten, wie die axonometrische Projektion oder die geschichteten, fragmentierten, multiplen Ansichten des kubistischen Raums. Aber nicht alle waren von in den Himmel ragenden Türmen oder weiten Boulevards, die sich über Kilometer durch das alte Stadtgefüge erstrecken, begeistert. Im selben Jahr, als der Eiffelturm errichtet wurde, publizierte Camillo Sitte sein Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, welches sich einem Stadtideal verschrieb, das Welten von der »Hauptstadt des 19. Jahrhun6

Barthes, Roland / Martin, André: Der Eiffelturm. Aus dem Französischen übersetzt von Helmut Scheffel. München: Rogner & Bernhard 2000, S. 28.

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: Kari Jormakka

2. Höhensehnsucht: Wiener Prater um 1870.

derts« (Walter Benjamin) entfernt war. »Was soll man aber zu der 142 Meter breiten Avenue zum Triumphbogen in Paris sagen ?«, schrieb Sitte »Je größer der Raum, desto kleiner ist aber in der Regel die Wirkung.« 7 Nicht nur würden die immens weiten Straßen notwendigerweise die Gebäude zu klein aussehen lassen, sondern die offenen Räume wären auch der Luftqualität abträglich und erzeugten obendrein Agoraphobie. Daher bevorzugte Sitte anstelle breiter, weit entfernte Monumente verbindender Boulevards gewundene Straßen und geschlossene Plätze; anstelle monumentaler Skulpturen, riet er, sollte man Elemente im öffentlichen Raum platzieren, die eigentlich einem Innenraum zugehörten. Diese und andere Prinzipien Sittes mögen Joseph Hoffmanns Bühnenbildern für Wagners Opern geschuldet sein.8 Sitte wollte aber nicht nur die Art und Weise verändern, in der Architekten Fragen der Stadtplanung angingen; er beobachtete ebenso eine Veränderung der Öffentlichkeit, die not7

Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Reprint der 1. Auflage von 1889, in: Camilla Sitte Gesamtausgabe, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger, Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003.

8

Michael Mönninger nennt vier Prinzipien, die Sitte vom Bühnendesign übernahm: Kontiguität, Konkavität, Kontinuität, Irregularität. Siehe Mönninger, Michael : Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden : Vieweg 1998, S. 66-68.

Der Blick vom Turm

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wendigerweise auch die Arbeit der Entwerfer beeinflusste. In einem Kommentar über die Wiener Villenzone von 1893 meinte Sitte: »Der moderne Großstädter strebt mit all' seiner Sehnsucht ans Meer, ins Gebirge, in die Wälder; an Bildung und Kultur hat er schon genug im Magen.« 9 Einen Grund dafür sah Sitte darin, dass die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts durch ein materialistisches und mathematisches Selbstverständnis gekennzeichnet war, im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, als das Leben künstlerischer orientiert und durch volkstümliche Feste, Maskeraden, religiöse Prozessionen, theatrale Aufführungen geprägt war - genau jenes, was ein moderner Tourist in einem exotischen Land zu sehen wünscht. 10 Sitte bestand darauf, dass es profitabel wäre, gemäß seinen künstlerischen Grundsätzen in Patriotismus und Tourismus zu investieren.11 Die Wahl von Beispielen, die im Städtebau diskutiert werden, entspricht populären touristischen Zielen. Neben Wien sind die am häufigsten genannten Städte Florenz, Venedig, Rom, Pompeji, Athen, Vicenza und Dresden, während die Illustrationen sich auf Florenz, Rom, Siena, Verona, Palermo, Vicenza, Brescia und Triest konzentrieren; die perspektivischen Ansichten zeigen am häufigsten Florenz, Rom und Athen. 12 Die Erinnerung an Besuche dieser Städte liegt dem ganzen Argument des Städtebau zugrunde, wie dessen erster Satz verrät: »Zu unseren schönsten Träumen gehören angenehme Reiseerinnerungen. Herrliche Städtebilder, Monumente, Plätze, schöne Fernsichten ziehen vor unserem geistigen Auge vorüber, und wir schwelgen noch einmal im Genüsse alles des Erhabenen oder Anmuthigen, bei dem zu verweilen wir einst so glück-

9 Sitte, Camillo: »Wiener Villenzone«, in: Neues Wiener Tagblatt, 3. September 1893. 10 Sitte: Der Städtebau, S. 113,144. 11 Sitte: Der Städtebau, S. 144: »Da aber der Kunst überhaupt auch ein socialer und ökonomischer Werth innewohnt, so könnte es sein, dass selbst hartherzige Stadtökonomen finden dürften, es wäre am Ende nicht schlecht, auch einmal einige Summen am Wege der Kunstpflege bei Stadtanlagen in Heimatsgefühl, Localpatriotismus und eventuell auch in Fremdenverkehr umzusetzen.« 12 Im Städtebau Sittes finden sich Abbildungen aus 54 Städten. Am häufigsten scheint W i e n mit zehn Abbildungen auf, dann Florenz mit sechs, Rom, Siena und Verona mit vier sowie Palermo, Vicenza, Brescia und Triest mit drei. Es gibt siebzehn perspektivische Darstellungen. Von diesen sind je vier Darstellungen aus Rom und Florenz, je zwei zeigen Athen und Wien, während Pompeji, Venedig, Vicenza, Breslau und Straßburg mit einer Abbildung vertreten sind. Im Register sind 118 Städte erwähnt. Am häufigsten scheint Wien mit 3 2 Erwähnungen auf, dann Florenz mit achtzehn, Venedig und Rom mit neun, Pompeji, Athen, Dresden und Vicenza mit sechs, Palermo, Nürnberg, Lübeck und W ü r z b u r g mit jeweils fünf. M a n sollte nicht vergessen, dass bis etwa i860 Teile Italiens, darunter die Lombardei und Venetien, die Toskana, Modena

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Kari J o r m a k k a

lieh waren.«13 Auch entsprachen Sittes Methoden, eine Stadt kennen zu lernen, üblichen touristischen Praktiken. Bei Ankunft in einer neuen Stadt nahm Sitte immer als Erstes ein Taxi zum Hauptplatz, ging dort in die beste Buchhandlung und stellte drei Fragen : wo befindet sich der höchste Turm, wo findet man die beste Stadtkarte, und wo ist das beste Restaurant?14

Die Ursprünge des touristischen Blicks Die erste Überlieferung eines touristischen Erlebnisses in der europäischen Geschichte stammt von Petrarca: seine Besteigung des Mont Ventoux in der Provence am 26. April 1336. Dabei trieb ihn »einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen«. Obwohl er an die Besteigung schon Vorjahren gedacht hatte, brachte ihn die wiederholte Lektüre von Livius' Geschichte Roms darauf, in der er »zufallig« auf die Passage stieß, wo Philipp von Mazedonien den Berg Hämus in Thessalien besteigt, von wo aus man angeblich zwei Meere erblicken könne : das Adriatische und das Schwarze Meer. O b das stimme oder nicht, habe er nicht ergründen können, »denn die Sache wird dadurch unsicher«, so Petrarca, »daß der Berg von unserer Welt so weit entfernt ist und die Schriftsteller verschiedener Meinung sind«. Petrarca erwähnt Pomponius Mela, »den Kosmographen«, der mit Entschiedenheit die Meinung vertrat, dass es so sei, während Titus Livius die Fabel für falsch hält.15 Obwohl Petrarca die direkte Erfahrung als Kriterium der Wahrheit zu betonen scheint, rahmt er seinen Anstieg sorgfältig mit literarischen Formeln und antizipiert so die Dialektik des touristischen Erlebens wie dessen Schilderungen. Etwa als er den Gipfel erreicht und die Landschaft überblickt: »Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. Ich schaute zurück nach unten: Wolken lagerten zu meinen Füßen, und schon sind mir Athos und Olymp u n d P a r m a , u n t e r österreichischer H e r r s c h a f t s t a n d e n . E s ist ebenso interessant, dass die italienischen Städte, die Sitte n e n n t , in d e n i 8 6 o e r n alle m i t d e m Z u g erreichbar waren. 13 Sitte: Oer Städtebau, S. 1. 14 Collins, G e o r g e R. / Collins, Christiane C.: Camillo Sitte: The Birth ofModern City Planning. N e w York: Rizzoli 1986 (1965), S. 63. Siehe auch M ö n n i n g e r 1998 (s. A n m . 8), S. 9, 17. 15 Petrarca, Francesco : Die Besteigung des Mont Ventoux. Aus d e m Lateinischen übersetzt von H a n s N a c h o d u n d Paul Stern. F r a n k f u r t / M . : Insel 1996, S. 11, 14.

Der Blick vom Turm

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minder unglaublich geworden, da ich das, was ich über sie gelesen und gehört, auf einem Berge von geringerem Rufe zu sehen bekomme. Ich richte nunmehr meine Augen nach der Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so sehr gezogen fühlt. Die Alpen selber - eisstarrend und schneebedeckt -, über die einst der wilde Feind des Römernamens hinüberzog, der, wenn wir dem Gerücht Glauben schenken wollen, die Felsen mit Essig sprengte - sie erschienen mir greifbar nahe, obwohl sie durch einen weiten Zwischenraum getrennt sind. Ich seufzte, ich gestehe es, nach italischer Luft, die mehr vor dem Geist als vor den Augen erstand.«16 Wie Theoretiker des Tourismus, etwa Dean McCannell und John Urry, betonten, rühren Petrarcas Emotionen gleichermaßen vom Blick selbst als auch von der Antizipation her, welche durch eine Vielfalt nichttouristischer Praktiken konstruiert und erhalten wird, ζ. B. durch Literatur. Tatsächlich nimmt Petrarca, als die Sonne untergeht und der Zeitpunkt der Rückkehr angebrochen ist, ein Buch zur Hand, nämlich die Bekenntnisse des Augustinus, und schlägt es an einer beliebigen Stelle auf. Aus der Distanz von neun Jahrhunderten adressiert der heilige Augustinus Petrarca in erstaunlich angemessenen Worten: »Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst.«17 Petrarca antwortet auf Augustinus, indem er seine Erfahrung als Parabel des menschlichen Lebens präsentiert. Wir sollten jedoch Augustinus' Rat beachten und den Betrachter selbst untersuchen.

Panorama

Walter Benjamin argumentierte in seinem Passagen-Werk, dass Menschen, wenn sie zum Panorama gingen, die wahre Stadt sehen wollten, die ganze, vollstän16 Ebd., S. 22. Petrarca fährt fort: » M a n mahnte mich, die Zeit dränge zum Abmärsche, denn schon neige sich die S o n n e und der Bergeschatten wachse in die Länge, und nun wandte ich mich, gleichsam erwacht, um und blickte zurück gen Westen. D e r Grenzwall der gallischen Lande und Hispaniens, der G r a t des Pyrenäengebirges, ist von dort nicht zu sehen, nicht daß meines W i s sens irgendein Hindernis dazwischenträte - nein, nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermögens. Hingegen sah ich sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den G o l f von Marseille, und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, w o doch all dies einige Tagereisen entfernt ist. Die Rhone lag mir geradezu vor Augen.« Ebd., S. 2 7. 17 Ebd., S. 30.

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dige Stadt, wie es nur auf Abbildungen möglich war.18 Die ersten Panoramen zeigten einen Blick auf die Stadt, in der sie sich befanden: Edinburgh, London, Paris. Trotz der enormen Größe der panoramischen Gemälde zeigten sie eine Miniatur der Welt und präsentierten die Stadt als ein intelligibles Objekt, das in einem totalisierenden Blick erfasst werden kann. Dazu passt, dass der Erfinder des Panoramas, Robert Barker, sich auf Porträts und Miniaturen spezialisiert hatte. 1787 kam ihm die Idee, in einem kontinuierlichen Bild alles zu malen, was er vom Gipfel des Calton Hill in Edinburgh aus sehen konnte. Er übertrug seine ursprünglichen vier Zeichnungen auf eine große Leinwand, um eine umlaufende Ansicht der Stadt in einer 360-Grad-Darstellung zu erzeugen, und stellte sie in einem Rund von 7,5 Meter Durchmesser auf. Obwohl der erste Kommentar von Sir Joshua Reynolds nicht gerade enthusiastisch ausfiel, patentierte Barker seine Idee am 19. Juni 1787 und stellte das Panorama von Edinburgh im folgenden Jahr in London aus. 1793 errichtete Barker ein von Robert Mitchell entworfenes Gebäude aus Ziegeln am Leicester Place in London. Das Gebäude besaß zwei Geschoße, jedes mit einem eigenen Panorama von etwa 27 Meter Durchmesser. Stoffe verbargen die Oberlichten, und eine Holzverschalung versteckte den unteren Rand der Bilder. Die gemalte Ansicht schien so rahmenlos zu sein und stellte gleichzeitig die einzige Lichtquelle dar. Von der Plattform der Betrachter aus war die Illusion, auf einem Hügel oder einem Gebäude zu stehen und eine tatsächliche Landschaft zu überblicken, perfekt. Panoramen von London und von der britischen Flotte in Spithead waren nur die ersten zwei der über 100 Darstellungen, die Barker und seine Nachfolger am Leicester Square Panorama bis zu seiner Schließung 1863 zeigten.19 Panoramen wurden auch rasch in anderen Ländern enorm populär. Schon 1795 zeigte man eine Kopie von Barkers Panorama von London in New York. Bald folgten europäische Städte nach. Panoramen tourten durch Paris, Leipzig, Hamburg, Wien und Amsterdam. 1799 wurden zwei Panoramen von Paris mit einem Durchmesser von etwa 17 Meter auf dem Boulevard Montmartre errichtet; als ein größeres Panorama mit dem Durchmesser von 32 Meter am Boulevard des Capucins 1807 hinzukam, ordnete Napoleon die Errichtung von acht

18 »Das Interesse am Panorama ist, die wahre Stadt zu sehen - die Stadt im Hause. Was im fensterlosen Hause steht, ist das Wahre.« Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. V/2. Hg. von Rolf Tiedermann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 661. 19 Oettermann 1980 (s. Anm. 1), S. 7 9 - 8 1 .

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Rotunden auf dem Champs-Elysées an. Berlin erhielt sein erstes Panorama 1800; ein anderes, 1808 konstruiert, zeigte Ansichten von Rom und Palermo von Karl Friedrich von Schinkel. Es wurde argumentiert, dass Schinkels Erfahrungen mit der Szenographie und dem Panorama es ihm ermöglichten, den zu seiner Zeit hauptsächlich zweidimensionalen Planungszugang im Städtebau zu überwinden und von der visuellen Entfaltung eines dreidimensionalen Ensembles verschiedener architektonischer Elemente auszugehen. In dieser Hinsicht ebneten Schinkels Panoramen den Weg zu Sittes künstlerischem Städtebau.20 In Sittes Analysen blickt der Betrachter auf ein öffendiches Gebäude oder einen Platz in derselben Weise, wie man auf ein Bild oder Gemälde blicken würde. So heißt er den kleinen Platz vor der Kirche der Madonna della Steccata in Parma gut, da »man wenigstens in den wichtigsten Richtungen des Blickes auf das Hauptgebäude etc. ein geschlossenes Bild bekommt«. 21 Er lobt ebenfalls die Piazza di San Marco in Venedig: nicht einmal Titian oder Veronese könnten ein schöneres Bild malen.22 Sitte war auch selbst von Panoramen beeindruckt. In einem Artikel von 1900 erinnert er sich an ein altes Kosmorama in Wien, welches 1842 von Hubert Satder eröffnet wurde, dem Sohn von Johann Michael Sattler, der sein erstes Panorama 1825-1829 in Salzburg malte. Sitte schrieb: »Wenn man [...] durch das kleine Guckfensterchen des Kosmoramas über den Hafen von Genua oder das Häusermeer von New-York blickte, erfaßte es die junge Seele, wie der Zauber einer Märchenwelt, man glaubte durchs Fenster in die wirkliche Welt hinauszusehen, man glaubte selbst dort gewesen zu sein; es war berauschend.« 23 Der Name des Pavillons, Kosmorama, stellte laut Sitte eine Referenz auf Alexander von Humboldt dar, den großen Reisenden und Geographen des frühen 19. Jahrhunderts, dessen wichtigster Beitrag zur Wissenschaft seine neuen Methoden der Visualisierung durch Diagramme, Graphiken und Karten darstellen.24 Humboldt legte großes Gewicht auf die visuelle Organisation von Information, da er verstand, dass das Auge Muster wesentlich schneller als der sprachlich strukturierte Verstand aufnehmen konnte. Mit seinem unvollendeten 20 Mönninger 1998 (s. Anm. 8), S. 64^ 21 Sitte: Der Städtebau, S. 36. Siehe auch S. 26 und S. 57. 22 Sitte: Der Städtebau, S. 65. 23 Sitte, Camillo: »Joseph Hoffmann«, in: Neues Wiener Tageblatt, 18. Jänner 1900. 24 Siehe Walls, Laura Dassow: Seeing New Worlds. Madison: T h e University of Wisconsin Press 1995, S. 101. Siehe auch Cannon, Susan Faye: Science in Culture: The Early Victorian Period. N e w York: Dawson and Natural History Publications 1978, S. 96.

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fünfbändigen Werk Kosmos wollte Humboldt einen panoramischen Blick auf alles werfen, was über das Universum gewusst werden kann. Sitte sah dieselbe kosmische Vision in den Arbeiten des von ihm verehrten Malers Joseph Hoffmann. Trotzdem sind szenische Bilder nicht mit Panoramen zu vergleichen, argumentiert Humboldt: »Die Rundgemälde leisten mehr als die Bühnentechnik, weil der Beschauer, wie in einen magischen Kreiss gebannt und aller störenden Realität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt.« 25 Zusätzlich zu seiner »panoramischen« Enzyklopädie empfahl Humboldt auch, echte Panoramen als eine Form der öffentlichen Erbauung zu errichten: »die Kenntnis und das Gefühl von der erhabenen Größe der Schöpfung würden kräftig vermehrt werden, wenn man in großen Städten neben den Museen, und wie diese dem Volke frei geöffnet, eine Zahl von Rundgebäuden aufführte, welche wechselnd Landschaften aus verschiedenen geographischen Breiten und aus verschiedenen Höhezonen darstellten. Der Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklanges im Kosmos werden um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen die Gesammtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten.«26 Der Gipfelpunkt in der Entwicklung der Panoramen wurde 1828 erreicht, als Decimus Burton sein Kolosseum im Londoner Regent Park eröffnete. In Rundbau, als Variation des Pantheons mit einem Dom und einem Okulus konzipiert, wurde ein Panorama der Stadt mit einem Durchmesser von 40 Meter dargeboten. Im zentralen Turm schlängelte sich eine doppelte helixförmige Treppe um den ersten hydraulischen Passagierlift Londons. Der Lift öffnete sich auf drei Aussichtsplattformen, von deren oberster eine eigene Stiege auf die offene Galerie um den Okulus herumführte, von wo aus man die Stadt direkt sehen konnte. Diese Mixtur aus Realem und Virtuellem hatte eine unglaubliche Wirkung auf den Betrachter. Einer von ihnen, der neugotische Architekt und Theoretiker A. W. N . Pugin, meinte, die Ideen von Raum und Zeit würden gänzlich durcheinander gebracht.27

25 Humboldt, Alexander von : Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. (Amerikanische Jubiläumsausgabe) Philadelphia : Verlag W. T h o m a s & Söhne 1869, S. 2 3 7. 26 Ebd., S. 237. 27 Markus, T h o m a s Α.: Buildings ir Power. London u. a.: Routledge 1993, S. 214^ und S. 2 i8f.

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Tourismus und Konsumkultur In den i82oern bekamen Panoramen neue Konkurrenz durch den Maler LouisJacques Mandé Daguerre. Daguerre eröffnete 1822 das erste Diorama mit 350 Sitzen in Paris, in dem zwei bewegte Bilder zur Schau gestellt wurden. Ein Zeitungsbericht von 1843 beschrieb das Diorama als einen Ersatz für teure und beschwerliche Reisen; die Pariser Öffentlichkeit könne sich auf gut gepolsterten Sitzen ausruhen und »die fünf Erdteile nach Belieben an sich vorüberziehen lassen [...], ohne die Stadt verlassen zu müssen und ohne sich schlechtem Wetter, Durst, Hunger, Kälte, Hitze und insbesondere jedweder Gefahr aus [zu] setzen«.28 Doch musste Daguerre nach anfänglichem Erfolg nur zehn Jahre später Konkurs anmelden. 1839, als sein Diorama niederbrannte, kündigte er die neue Erfindung der Daguerrotypie an, die er in Gemeinschaft mit Joseph Nicéphore Niépce entwickelte. Die Daguerrotypie wurde ein sofortiger Bestseller und bahnte den Weg für die Fotografie, die den Beruf des Porträtminiaturisten, wie Barker einer war, auslöschen und auch den Tourismus stärker noch als die Panoramen prägen sollte. Bei der Exposition Universelle 1855 in Paris wurde die Fotografie erstmals ausgestellt.29 Das Ende des Jahrhunderts sah selbst die Erfindung des bewegten Bildes. Alle diese Technologien wurden in den Dienst eines virtuellen Tourismus gestellt. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 in Paris demonstrierte Michel Corday, was er ferne Visionen, »visions lointaines«, nannte, nämlich Techniken, die die Illusion des Reisens erzeugen sollten. E r unterschied fünf Kategorien: Ensembles im Relief, Panoramen, in denen sich der Zuseher bewegte, bewegte Panoramen, Arrangements, in denen sich sowohl der Betrachter als auch das Panorama bewegten, und bewegte Fotografien. Die zweite Kategorie umfasste zum Beispiel eine lange, zylinderförmige Leinwand, die Seite an Seite Bilder von Spanien, Athen, Konstantinopel, Suez, Indien, China und Japan darbot. Der vierten Kategorie entsprechend versetzte ein Panorama der Transsibirischen Eisenbahn den Betrachter in eine Reise durch Sibirien. Ein echter Wagon bewegte sich 80 Meter von der Russischen zur Chinesischen Ausstellung, während die Leinwand außen entlang der Fenster gespannt war. Noch mehr aber war Corday fasziniert von bewegten Fotografien, vom Cinéorama mit zehn

28 Zit. nach Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 60. 29 Benjamin 1982 (s. Anm. 3), S. 49.

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Projektoren, die ein großes bewegtes Bild zeigten, oder von den Maréoramen, die eine Meerreise von Frankreich nach Konstantinopel rekonstruierten - komplett mit einem Panorama, dem salzigen Geruch der Luft, einer sanft schwankenden Bewegung und Ethnomusik.30 Auf lange Sicht jedoch konnten die virtuellen Ansichten keinen Ersatz für die realen bieten, da das Reisen für die Mittelklasse durch die Entwicklung schneller und billiger Transportmittel zu Wasser und zu Land leistbar wurde. In Paris etwa starb die Mode der Panoramen und Dioramen in den frühen i84oern aus, mehr oder weniger zur selben Zeit, als die ersten Eisenbahnen von Paris nach Orléans und Rouen 1843 eröffnet wurden. 31 Viele Reisende und Schriftsteller betonten vor allem die visuelle Erfahrung des Reisens. Einige verglichen die Eisenbahn mit Panoramen, insofern beide die Landschaft zu einem Ganzen machten. So schrieb Jules Clarétie über die Eisenbahn : »In wenigen Stunden führt sie Ihnen ganz Frankreich vor, vor Ihren Augen entrollt sie das gesamte Panorama, eine schnelle Aufeinanderfolge lieblicher Bilder und immer neuer Uberraschungen. Sie zeigt Ihnen lediglich das Wesendiche einer Landschaft, wahrlich ein Künstler im Stil der alten Meister. Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist. Schließlich, nachdem sie Sie durch den Schwung des Koloristen entzückt hat, hält sie an und endäßt sie an Ihrem Ziel.« 32 Jedoch war es nicht nur die Fähigkeit des Zuges, die Landschaft in ein panoramisches Gemälde zu verwandeln, welche den Eisenbahnverkehr mit visuellen Spektakeln verband. Diese Verbindung war direkter. Thomas Cook gilt mit der Organisation einer Reise nach Liverpool im Sommer 1845 als der erste kommerzielle Reiseleiter. Cook gab sich nicht damit zufrieden, einfach günstige Tickets anzubieten - 15 Shilling für einen Passagier erster Klasse, 10 Shilling für die zweite Klasse - , sondern stellte darüber hinaus ein 60-seitiges Handbuch für die Reise zur Verfügung. Die ersten Weltausstellungen in London und Paris boten Cooks Reisearrangements weitere Möglichkeiten. 1855 organisierte er die Reise zur Pariser Exposition Universelle in Form einer großen Tour über Antwerpen, Köln, Heidelberg, Baden-Baden, Straßburg und Paris, und über Le Havre oder Dieppe wieder zurück nach London. 1878 30 William, Rosalind H.: Dream Worlds: Mass Consumption in Late Nineteenth-Century France. Berkeley: University of California Press 1982, S. 73-75. 31 Das Diorama starb nicht vollständig aus. 192 2 stellte ein einstiger Getreuer Camillo Sittes, Le Corbusier, ein Diorama seiner Stadt für 3 Millionen aus. 32 Clarétie, Jules: Voyages d'un Parisien. Paris 1865, S. 4. Zit. nach Schivelbusch 1989 (s. Anm. 28), S.S9f.

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beförderte er 75.000 britische Besucher zur Pariser Weltausstellung, die auch Sitte besuchte.33 Als das Reisen für breitere Schichten stark zunahm, entwickelten sich die Weltausstellungen selbst mehr und mehr in Richtung Tourismus und eröffneten, wie Benjamin beobachtete, »eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen«.34 Schon in der Pariser Ausstellung 1867 gab es Reproduktionen eines ägyptischen Tempels und eines marokkanischen Zeltes, und 1889 bestand eine der populärsten Attraktionen aus der Rue du Caire, in der Bauchtänzerinnen den Besucher in orientalischen Cafés unterhielten. 1900 kommentierte der Journalist Maurice Talmeyr das Durcheinander von Hindutempeln, Hütten von Eingeborenen, Pagoden, Souks, von chinesischen, japanischen, sudanesischen, sengalesischen, siamesischen und kambodschanischen Vierteln: ein Bazar verschiedener klimatischer Zonen, architektonischer Stile, Gerüche, Farben, Küchen und Musik. Eine zusammengewürfelte Auswahl von Plätzen wurde an einen Ort gebracht, wie das Universum in einen Garten.35 Die indische Ausstellung erinnerte Talmeyr an den Louvre oder den Bon Marché in Tyre oder Bagdad.36 In ihrem universellen Eklektizismus vollendeten die Weltausstellungen die Vernichtung des Raumes, die viele Kommentatoren der Eisenbahn zuschrieben. Heinrich Heine schrieb 1843, Filippo Marinettis futuristisches Manifest antizipierend, anlässlich der Eröffnung von Paris-Rouen und Paris-Orléans: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. [...] Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meine T ü r brandet die Nordsee.« 37 Darüber hinaus beförderten Panoramen, die Eisenbahn und die Weltausstellungen das, was ein Journalist des 19. Jahrhunderts, Benjamin

33 Faith, Nicholas: The World The Railways Made. London: Pimlico 1990. S. 272, 279^ 34 Benjamin 1982 (s. Anm. 3), S. 50. 35 William 1982 (s. Anm. 30), S. 61, 66. Die Kombination kulturell beziehungsloser Dinge war schon für die erste Weltausstellung in London typisch. Was Gottfried Semper formal am wenigsten harmonisch befand, war das gotische Piano in einem Raum von Pugin. Siehe Mönninger 1998 (s. Anm. 8), S. 142. 36 Der Bon Marché war das erste Kaufhaus, welches 1852 in Paris öffnete, ein Jahr nach der ersten Weltausstellung in London; der Louvre war ein weiteres großes Geschäft, welches 1855 eröffnete, dem Jahr der ersten Exposition Universelle. 37 Heine, Heinrich: Lutezia, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Elster. Leipzig, W i e n : Bibliographisches Institut 1890, Bd. 6, S. 360. Zit. nach Schivelbusch 1989 (s. Anm. 28), S. 39.

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Potemkin 'sehe Stadt: Nachbau von Alt- Wien im Wiener Prater, anlässlich dei· Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, 1892.

Gastineau, »la philosophie synthétique du coup d'oeil« oder die synthetische Philosophie des Blickes nannte : ein totalisierendes Bild der Welt, eine Landschaft oder Stadt als ein Ganzes, sorgfaltig balanciert und von reizvollen Ereignissen belebt.38 Man kann die Wiener Ringstraße als eine gebaute Ubersetzung dieses Prinzips interpretieren: als ein kreisförmiges Panorama unabhängiger architektonischer Monumente in einer Vielzahl unterschiedlicher Stile - vom Griechischen Klassizismus bei Hansens Parlament zur Gotik in Schmidts Rathaus und Ferstels Votivkirche bis zu den diversen Interpretationen der Renaissance in Hansens Kunstakademie, Ferstels Universität, Sempers Burgtheater und Hofrnuseen und in Siccardsburgs Oper - alle zusammengebunden durch den breiten Fluss des Boulevards. Sitte kritisierte sowohl die Idee des Verkehrs als treibende Kraft in der Planung der Ringstraße als auch die stilistische Verwirrung in der Umgebung der Votivkirche. Dies sei, als ob man eine Fuge von Bach, das Finale einer Oper von Mozart und ein Couplet von Offenbach gleichzeitig hören 38 Siehe Schivelbusch 1989 (s. Anm. 28), S. 59.

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würde.39 Doch sind die Spuren des panoramischen Spektakels in Sittes Buch unübersehbar. Zum Beispiel empfiehlt Sitte in einer Beschreibung, die an Panoramen erinnert, Motive des Innen und des Außen in der Stadt zu synthetisieren: »Das hochgradig Malerische ζ. B. von Amalfi beruht hauptsächlich auf einem oft geradezu grottesken Durcheinander von Innen- und Außenmotiven, so dass man zu gleicher Zeit im Innern eines Hauses oder auf der Strasse und an derselben Stelle noch zugleich ebenerdig oder auch in einem Obergeschoss sich befindet [...]. Das ist es, was den Veduten-Sammler in Wonne schwimmen lässt und was wir auf den Theatern als Bühnenbilder bekommen.«40 Immer wieder kehrt Sitte zum Vergleich mit dem Bühnenbild zurück, um die Effekte der römisch-antiken und barocken Plätze zu erklären; es wäre sogar angemessener, sie mit einem Diorama zu vergleichen.41

Aussichtsturm

Um mit der Herausforderung des Massentourismus Schritt halten zu können, erweiterten die Unternehmer von Panoramen ihre Themen um Szenen ferner Orte und exotischer Landschaften. Das vielleicht berühmteste Panorama dieser Art war das enorme, etwa 300 Meter lange Moving Panorama ofNiagara Falls von Godfrey Ν. Frankenstein, dessen Eröffnung in der Broadway Hope Chapel im Juli 1853 exakt mit der Einführung einer Bahnlinie nach Niagara zusammenfiel, die einen enormen Anstieg an Besuchern mit sich brachte.42 Zusätzlich zu Städten und Landschaften stellten Panoramen auch berühmte Schlachtszenen dar. Das ist durchaus angemessen, wenn man bedenkt, dass das Konzept kreisförmiger Darstellungen auf die Militärtopographie zurückgeht. Das vielleicht früheste Beispiel ist der panoramische Blick auf die Mauern von Wien von Augustin Hirschvogel von 1547.43 Neben den Militärrepräsentationen mag Barker auch von anderen Vorläufern inspiriert worden sein. Calton Hill in Edinburgh war nicht nur der Ort von Barkers Epiphanie im Jahr 1787, sondern ein etablierter Aussichtspunkt. Elf Jahre zuvor hatte Thomas 39 Sitte: Der Städtebau, S. 158. 4 0 Sitte: Oer Städtebau, S. 116. 41 Mönninger 1998 (s. Anm. 8), S. 66; Sitte: Der Städtebau, S. 8 und S. 81. 42 Sears, John F.: Sacred Places. American Tourist Attractions in the Nineteenth Century. Boston: U n i versity of Massachusetts 1998, S. 51. 43 Dubbini, Renzo : Geography of the Gaze. Aus dem Italienischen übersetzt von Lydia G. Cochrane.

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Short dort ein Observatorium errichtet, das dem Publikum ein dreieinhalb Meter langes Teleskop und andere optische Instrumente bot. Nach einer bewegten Geschichte wurde 1893 das Gebäude von Patrick Geddes gekauft, einem stark von Sitte beeinflussten Stadtplaner, der es in »Aussichtsturm« umbenannte. Wie Sitte war Geddes in zeitgenössischer Medizin und den Wissenschaften bewandert, vor allem in Biologie und Botanik. Seit er auf einer Studienreise nach Mexiko beinahe erblindet war, hegte er eine Vorliebe für das Visuelle: Malerei, Fotografie, optische Instrumente, Diagramme und andere Formen graphischer Darstellungen.44 Er machte aus dem Turm ein synoptisches »Index-Museum«, um, wie er meinte, Edinburgh und seine Region besser zu verstehen, aber auch um den Menschen zu helfen, eine klare Idee ihrer Beziehung zur Welt zu erlangen. Geddes hielt an der Camera obscura fest, da sie die Landschaft harmonisiere, nahe und fern zusammenbringe, und das, ohne auf charakteristische Elemente der modernen Malerei zurückzugreifen. Er wies darauf hin, dass die wissenschaftlichen und philosophischen Köpfe allzu oft nicht realisieren, dass die synthetische Vision, die sie erstreben, einfacher von der ästhetischen und emotionalen Seite her erlangt werden könne und daher visuell und konkret sei.45 Konsequenterweise betont er wiederholt die Notwendigkeit eines synthetischen Anblicks und bezieht sich auf Aristoteles: Aristoteles »urged that our view be truly synoptic, a word which had not then become abstract, but was vividly concrete, as its make-up shows: a seeing of the city, and this as a whole; like Athens from its Acropolis, like city and Acropolis together - the real Athens from Lycabettos and from Piraeus, from hill-top and from sea.«46 Geddes wollte der »künstlichen Blindheit« seiner Zeit entgegenwirken, wo »nine people out of ten ... understand print better than pictures, and pictures better than reality. [...] A few well-chosen picture postcards will produce more effect upon most people's minds than does the actual vision of their [the cities'] monumental beauty.«47 Neben dem synoptischen Blick auf die Stadt aus der

Chicago: University of Chicago Press 2002, S. 77. 44 Boardman, Philip : Patrick Geddes. Maker of the Future. Chapel Hill : T h e University of North Carolina Press 1944, S. 44f., 5rf.; Kitchen, Paddy: A Most Unsettling Person. London: Victor Gollancz 1975, S. Ó2Í. 45 Geddes, Patrick: Cities in Evolution. London: Williams & Norgate 1915, S. 321. 46 Ebd., S. 13. Siehe auch S. 337. Geddes dachte wahrscheinlich an Aristoteles' Politik, 1288b 1021. 47 Ebd., S. 16. Geddes bezieht dieses Problem auf Fragen der Erziehung und erwähnt Maria Montessoris Methode als Alternative. Siehe ebd., S. 93.

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fahrenden Eisenbahn hebt Geddes die Rolle von Ausstellungen hervor, sowohl der Weltausstellungen in London und Paris als auch der spezialisierteren Darstellungen von Stadtplanungen.48 Mit der durchgängigen und gründlichen Erfassung jeder Stadt würde es möglich, auf spezifische städtische Bedingungen adäquat zu reagieren, denn »each place has a true personality; and with this shows some unique elements - a personality too much asleep it may be, but which it is the task of the planner, as masterartist, to awaken.«49

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In seinem Aussichtsturm demonstrierte Geddes seine Ideen. Der BeL i I EP ffl rn f i sucher würde zu Beginn seines Rundgangs über eine Hintertreppe nach 5. Patrick Geddes: Outlook Tower in Edingburgh, 19/5·. oben, auf die flache Terrasse, und von dort auf eine enge Galerie eines Türmchens gelangen, von wo aus man einen Uberblick über die Region um Edinburgh habe.50 Die Camera obscura im Inneren des Türmchens zeige dann bewegte Bilder der Straßen Edinburghs in lebendigen Farben und detailgetreuer Perfektion.51 Ein Stockwerk unter jenem »high Outlook of the artist and its 4 8 Ebd., S. 246-294.

49 Ebd., S. 397. 50 Philip Boardman schreibt über diesen Blick: »Our greatest need today is to grasp life as a whole, to see its many sides in their proper relations [...]. T h e first contribution of this Tower towards understanding life is purely visual, for from here everyone can make a start towards seeing completely that portion of the world he can survey.« In: Boardman 1944 (s. Anm. 44), S. 179. 51 Geddes schreibt: »We must reeducate our eyes so that we can first of all be in more effective visual contact with external reality. Now the Tower can do just this by the complementary panoramas from gallery and through the Camera. The first gives us view which would arouse even a dullard by their sheer scope and variety, while the latter can train our eyes to detect subtle distinctions of line and color. The one provides that all-inclusive view of the world which both practical man and philosopher need, while the other symbolizes the universal viewpoint of the artist who finds beauty everywhere.« Siehe Boardman 1944 (s. Anm. 44), S. 181.

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associated open-air gallery for his scientific brother, the geographer«, würde der Besucher auf die Dachterrasse kommen, genannt »Prospect Roof«, ausgestattet mit meteorologischen Instrumenten, geologischen Diagrammen etc. Im Turm selbst wurden andere Mittel zur Erweiterung der menschlichen Wahrnehmung ausgestellt, zum Beispiel ein Episkop mit einer bestimmten Karte der Erde - eine Darstellung der Kontinente auf transparenter Erdkugel vom Standpunkt des Turms aus gesehen - und ein hohler Himmelsglobus, den man betreten konnte, um den gestirnten Himmel zu sehen. Neben der Ausstellung gab es einen kleinen Raum mit nur einem Stuhl, Geddes' »Inlook Tower«, der die einsame Meditation symbolisierte, mit der jeder Besucher seine Studien abschließen sollte. Die Ebenen unter dem Prospekt waren Edinburgh gewidmet: geologische Karten, Gemälde, Zeichnungen und Fotografien. Darunter gab es eine Ausstellung zu Schottland, dann eine zur gesamten englischsprachigen Welt (genannt »Sprache«), eine weitere zur westlichen Zivilisation (»Europa«) und, schließlich, eine zur Welt. Wie Firmin Roz 1903 notierte: Es war eine »clear demonstration of its founder's key idea: that one should start from a local view and progress through cultures of increasing scope to attain a view of the universe«.52

Sitte im diskursiven Feld

Geddes Aussichtsturm repräsentiert den logischen Höhepunkt des touristischen Blicks. Es ist kein Zufall, dass auch Camillo Sitte im Turm ein Symbol für Verstehen und Wissen sah. Als Sitte ein Nationalmonument zur Feier seiner enzyklopädischen Vision skizzierte, gab er ihm die Form eines Turms. Die verschiedenen Elemente seines geplanten siebenbändigen Opus magnum. haben alle einen bestimmten Platz zugewiesen, gemäß folgendem Prinzip: »Mein Fetisch: Jedes Sätzchen hat sein Plätzchen.«53 Indem er dem Turm den Namen »Holländer Turm« gab, mag Sitte an Wagners Fliegender Holländer oder an den Turm im zweiten Teil des Faust gedacht haben. Es ist leicht sich vorzustellen, wie sich Sitte mit dem Turmwächter Lynkeus identifiziert, der von seinem Wachposten aus singt:

52 Siehe Geddes 1915 (s. Anm. 45), S. 321-32Ó; Boardman 1944(3. Anm. 44), S. 167-172, 177-192; Kitchen 1975 (s. Anm. 44), S. 130-133. 53 Handzeichnung von Camillo Sitte: »Mein Fetisch: Jedes Sätzchen hat sein Plätzchen«, vom 16. August 1895. Sign. SN: 181-362.

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Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, Gefällt mir die Welt.54

Es versteht sich von selbst, dass das Sehen eine der Haupttätigkeiten vieler Architekten oder Urbanisten ist, und sicherlich auch eine des Theoretikers : das griechische Wort theoria meint das Sehen, Schauen, Beobachten, insbesondere als Zuschauer bei öffentlichen Spielen. Konkreter bedeutet theoroi Botschafter, die von den griechischen Stadtstaaten entsandt wurden, um als Repräsentanten des Staates die Olympischen Spiele oder das Orakel von Delphi zu besuchen. Offiziell wurden sie »jene, die sehen« genannt.55 In diesem Sinn verdient Camillo Sitte sicher den Titel eines »Stadttheoretikers«. Seine Art auf und in die Städte zu blicken entstand teilweise aus der Tradition der Panoramen des 19. Jahrhunderts, aus dem Malerischen und dem Tourismus. Aber es wäre falsch, Sittes Perspektiven auf den touristischen Blick reduzieren zu wollen. Sitte stand, als vielseitiger Gelehrter, an der Schnittstelle vielfältiger Diskurse, die von physiologischen Theorien des Sehens bis zur Kunstgeschichte, vom Handwerk bis zur Methodologie industrieller Entwurfsmethoden reichten. Die folgenden Essays werden Sittes Errungenschaften von entsprechend vielen verschiedenen Blickwinkeln aus untersuchen, wobei die Analyse und Wirkungsgeschichte von Sittes Hauptwerk, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, im Vordergrund steht. Den Anfang machen vier Essays mit ideengeschichtlichem Fokus, insbesondere auf das Konzept des Malerischen. Michael Mönninger gibt einen einführenden ideengeschichtlichen Einblick in die Genese von Sittes Werk, das er in Hinblick auf die Schriften aus dem Bereich der Kunstkritik, der Pädagogik und des Kunstgewerbes untersucht. Von besonderem Interesse sind Sittes pädagogische Konzepte, die auf der Rekapitulationstheorie Ernst von Haeckels basieren, sowie sein Naheverhältnis zu Richard Wagners Nationalmythologie. Hinzu kommt der hohe Stellenwert des Kunstgewerbes, seine naturale bzw. naturgeschichtliche Sichtweise kultureller Prozesse und sein an der Evolutionsbiologie angelehntes Entwicklungsdenken. Aus heutiger Sicht stellt die für Sitte typische hochgradig unwissenschaftliche Vermengung eines diversen theoretischen 54 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. München: Prestel 1970, S. 358. 55 duBois, Page: Sowing the Body. Chicago: University of Chicago Press 1988, S. 9Í.

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Ideenschatzes mit reichhaltigem empirischem Material keinen Nachteil dar, sondern sichert der Rezeption Sittes in Zeiten festgefahrener disziplinärer Gattungsgrenzen erneut einen wichtigen Stellenwert. Camillo Sitte wird im Allgemeinen als Gründungsvater eines »romantischen« Städtebaus klassifiziert und seinem Zeitgenossen, dem »rationalistischen« Otto Wagner gegenübergestellt. Der Essay von Akos Moravánszky analysiert das Verhältnis von Rationalismus versus Romantik anhand einer Untersuchung der Rolle des Malerischen in Sittes Städtebau. Das Konzept des Malerischen wurde im späten 18. Jahrhundert in England geprägt, als Kritik an klassischen Theorien der Schönheit. Schon Uvedale Price verstand die malerische (Stadt-)Landschaft als Simulakrum, das, falls notwendig, der Nützlichkeit und dem Komfort geopfert werden müsse - jenes Paradox, das später von Sitte bemerkt wurde. Die Nostalgie, die aus den ersten Seiten von Sittes Buch spricht und mit dem Malerischen in Verbindung zu stehen scheint, wird dadurch relativiert; während er die Asthetisierung des Stadtraumes zu rechtfertigen versucht, bereitet er ebenso den Boden für eine systematische Untersuchung der konfligierenden Werte historischer Artefakte und für die Balance zwischen einer »sentimentalen Ästhetik« und einem ökonomischen Pragmatismus. Vorgeprägt durch die emphatische Ablehnung von Sittes Ideen durch die Vertreter der modernen Avantgarde, galt der von Sitte vertretene »malerische Städtebau« lange Zeit als nostalgisch, lediglich vergangenheitsbezogen, wenn nicht gar als politisch reaktionär. Wolfgang Sonne diskutiert in seinem Beitrag die politischen Implikationen in der Rezeptionsgeschichte von Sittes Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Anhand einer Diskussion verschiedener Stadtplanungsideologien des 20. Jahrhunderts zeigt er auf, dass das von Sitte vertretene räumlich-malerische Ideal nicht per se politisch konservativ aufgeladen ist, sondern, abhängig von den jeweiligen Rezeptionsbedingungen, sowohl nostalgischen oder reaktionär-nationalistischen als auch progressiven, sozialreformerischen und emanzipatorisch-aufklärerischen Zwecken dienen kann. Ausgehend von diesen Betrachtungen werden allzu pauschalisierende Rezeptionen des New Urbanism einer Kritik unterzogen. Bernhard Langer stellt in seinem Essay eine konzeptuelle und ideengeschichtliche Verbindung zwischen der Position Camillo Sittes und dem Konzept des Junk-Space von Rem Koolhaas her. Camillo Sittes Buch über den Städtebau stellt, am Ausgang des 19. Jahrhunderts formuliert, eine Affirmation und Verteidigung traditioneller europäischer Stadträume dar, deren zivilisatorische Funktion als unentbehrlich für unsere westliche Gesellschaft angesehen wird.

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Rem Koolhaas' Text »Junk-Space« erörtert, am Ende des 20. Jahrhunderts, das letale Ende der europäischen Stadt im hemmungslosen und unkontrollierbaren Wildwuchs der postindustriellen Stadt. Mit Bezug auf die heutige städtebauliche Diskussion, in der das neokonservative Stadtmodell am Leitbild der »Europäischen Stadt« verstärkt gegenüber einer neomodernistischen oder avantgardistischen Position an Popularität gewinnt, untersucht Langer die Möglichkeit historischer und theoretischer Verbindungslinien zwischen diesen beiden Positionen und macht einen gemeinsamen Bezugsrahmen aus, der jene Positionen eine Spur weniger unversöhnlich und häufig anzutreffende Polarisierungen fraglich erscheinen lässt. Die folgenden drei Essays behandeln die Rezeptionsgeschichte von Camillo Sittes Städtebau in theoretischer und historischer Perspektive, sowohl was Sittes Stellung in der Geschichte der Stadtbautheorie als auch seinen Einfluss auf realisierte Stadtplanungen betrifft, von Raymond Unwins Gartenstadt bis zum New Urbanism. Ausgehend vom ambivalenten Verhältnis von Peter Behrens zu Camillo Sitte, stellt Stanford Anderson die Frage nach der Rolle von historischen Präzedenzfällen in den modernen Theorien zur Stadt von Fritz Hoeber, Peter Behrens, Hermann Muthesius, Albert Erich Brinckmann und Camillo Sitte. Dem sich auf den modernen Zeitgeist berufenden Ansatz der modernen Avantgarde, der den Rekurs auf historische Vorläufer einer regelverhafteten Dogmatik unterordnet, wird ein pragmatischer, gegenüber den Komplexitäten der Stadt offener Zugang bei Camillo Sitte gegenübergestellt, in dem Vorläufer zwar die Rolle exemplarischer Fälle spielen, die unter sich verändernden Umständen jedoch verschieden interpretiert werden können. Die Frage der Systematisierung der aus dem Studium der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse sowie des Stellenwerts der gewählten Präzedenzfälle in Bezug auf die neu formulierten Einsichten ist letzdich, bei Sitte wie in der Moderne, nur ambivalent zu beantworten, doch lässt sich durch diese Diskussion ein interessanter Blick auf die zeitgenössische Debatte um den New Urbanism werfen. Christiane Crasemann Collins behandelt die Frage der Rezeption von Camillo Sitte während der lebhaften Anfangsphase der städtebaulichen Debatte in Europa und den USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sittes Ideen finden in den Schriften und Werken von Raymond Unwin, John Nolen und Werner Hegemann einen jeweils unterschiedlich akzentuierten Niederschlag, wobei insbesondere das dichte Geflecht von Kongressen, Publikationen, Ausstellungen und persönlichen Begegnungen jener Zeit als Katalysator für unterschiedlichste Allianzen zwischen den einzelnen städtebaulichen Bewegungen

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eine wichtige Rolle spielte. Das vor allem durch John Nolen vertretene Komposit aus Sittes Stadtbautheorie mit Elementen der Gartenstadt, der Gartenvorstadt sowie der amerikanischen Parkplanung ist ein Beispiel einer Verbreitungstypologie von Sittes Ideen, die für den New Urbanism wichtig wurde. Riitta Nikula zeigt den Einfluss Camillo Sittes auf das Berufsbild der Architekten und auf Stadtplanungen im Finnland des frühen 20. Jahrhunderts auf. Die Rezeption Sittes ist hierbei nur die eine Seite eines spannungsreichen Bogens, an dessen anderem Ende etwa die pragmatisch-rationalistische Position Joseph Stiibbens stand. Zwischen diesen ideologischen Polen liegend, charakterisierten verschiedene Generationen von Stadtplanern ihre Position jeweils durch ein unterschiedliches Verhältnis zu Sitte, so auch Eliel Saarinen, der das Vorwort für die erste, 1945 in den Vereinigten Staaten erschienene englische Ubersetzung von Sittes Städtebau schrieb. Interessanterweise zeichnet sich in Finnland gegenwärtig, nach der kategorischen Ablehnung durch die Vertreter der Moderne, eine Renaissance der Sitte'schen Ideen ab. Mario Schwarz wendet sich dem architektonischen Schaffen Camillo Sittes zu. Sein Essay geht von auffallenden Widersprüchen aus, die sich in Bezug auf Sittes erstes selbstständiges architektonisches Werk, den Bau der Wiener Mechitaristenkirche, zeigen: Camillo Sitte bezeichnet den Bau 1876 als von italienischen Renaissancevorbildern abgeleitet, 1887 behauptet er hingegen, die Kirche sei nach Vorbildern der deutschen Renaissance gestaltet. Ein weiterer Widerspruch besteht darin, dass Sitte, der in seinen architektonischen Arbeiten hauptsächlich mit Sakralbauten der katholischen Kirche in Erscheinung getreten ist, sowohl in seiner Frühzeit wie noch gegen sein Lebensende als vehementer Gegner und Kritiker des Katholizismus wie des Christentums überhaupt auftrat. Sittes romkritische Einstellung und seine Vorliebe für den Deutschnationalismus können ebenso für den überraschenden Austausch der Stilbezeichnungen verantwortlich gemacht werden wie die allgemeine Auflösung der scharfen Stilbegriffe an der Wende vom Strengen Historismus zum Späthistorismus. Die Essays von Sonja Hnilica, Ruth Hanisch, Gabriele Reiterer und Heleni Porfyriou widmen sich einer analytischen Lektüre von Sittes Städtebau unter verschiedenen Blickwinkeln. Sonja Hnilica geht der Frage nach, ob denn eine Stadt Kunst sein kann. Dem Künsderischen in den Grundsätzen Camillo Sittes auf der Spur, argumentiert ihr Essay dafür, dass es sinnvoll sein kann, die Bezeichnung der Stadt als »Kunstwerk« oder gar als »Gesamtkunstwerk« im Sinne Richard Wagners als Metapher zu lesen. Sittes städtebauliche Schriften zeugen von einem reichhaltigen Fundus an Metaphern für das komplexe Phä-

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nomen Stadt: die Stadt als großes Haus, die Stadt als Musik, die Stadt als Bühne, die Stadt als Lebewesen, die Stadt als Maschine etc. Wenn man der Behauptung folgt, dass unser gesamtes Denken von Metaphern strukturiert wird, dann können Werke wie Sittes Städtebau die Arbeit von Architekten schon dadurch verändern, indem sie eine neue Sicht der Dinge ermöglichen, weil sie die Metaphern verändern, mit deren Hilfe wir gewohnt sind, komplexe Situationen, wie es die Stadt ist, zu beschreiben. Sittes Städtebau von 1889 gilt als erstes zusammenfassendes Manual des Städtebaus. Sitte stellt darin nicht nur seine ästhetische Präferenz des Malerischen dar, sondern präsentiert auch eine Art »Vorbildersammlung« eigenhändiger Planskizzen von Platzensembles vor allem in Italien, aber auch im Norden. Der Beitrag von Ruth Hanisch diskutiert die Parallelen zwischen Sittes frühen kunstgewerblichen Schriften und seiner populären Schrift zum Städtebau. Dabei werden nicht nur Inhalt, Aufbau und Gewichtung der Texte verglichen, sondern auch die jeweilige visuelle Umsetzung beleuchtet. Das Vorgehen einer aus dem Kontext isolierten Präsentation historischer Vorbilder, die, fachkundig ausgewählt, dem jungen Künstler zur Nachahmung dienen sollten, erinnert an die gleichzeitige Praxis des Kunstgewerbeunterrichtes, wie er exemplarisch am Museum für Kunst und Industrie, aber auch an vielen anderen Institutionen vollzogen wurde. Sitte entwickelte als Direktor zuerst der Salzburger und dann der Wiener Gewerbeschule diese didaktische Methode selbst für den Unterricht, sicherte sie theoretisch ab und er war folglich mit diesem Prinzip nur allzu gut vertraut. Gabriele Reiterer diskutiert die Rezeption der Naturwissenschaften in Sittes Werk, insbesondere der Sinnesphysiologie. In der Ausformulierung von Sittes zentralen Prämissen - die Analyse der Stadt ausgehend von ihrer sinnlichen Wahrnehmung sowie die Rückführung historischer Stadtgefiige auf unbewusste Gestaltgesetze - spiegeln sich Theorieelemente der Sinnesphysiologie wider, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Leitwissenschaft in Bezug auf den Menschen etablierte. Vornehmlich die Studien zur optischen Wahrnehmung von Carl Gustav Carus, Ernst Brücke, Gustav Theodor Fechner und Hermann von Helmholtz bilden den naturwissenschaftlichen Hintergrund von Sittes »künstlerischen Grundsätzen«. Sitte wehrte sich zeit seines Lebens gegen eine Reduktion der Komplexitäten der Stadt auf ein einziges, ζ. B. naturwissenschaftliches Modell. Jene wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnisse gehen mit anderen, etwa den naturphilosophischen Uberzeugungen des österreichischen Architekten und Philosophen Ferdinand Fellner von Feldegg, eine Ver-

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bindung ein, die man als »Ideen-Hybridisation« bezeichnen kann, und bilden derart das vielschichtige theoretische Gerüst fiir Sittes Hauptwerk. Heleni Porfyriou konzentriert sich auf die methodische und konzeptuelle Rolle der visuellen Wahrnehmung in Sittes Städtebau. Sittes optisch-räumliche Stadtbautheorie sowie sein methodischer Grundsatz, nur Selbstgesehenes zu besprechen, entsprechen dem Paradigmenwechsel im 19. Jahrhundert, die visuelle Wahrnehmung nicht mehr dem rationalen Erkenntnisvermögen unterzuordnen, sondern als autonome Quelle sensorischen und kognitiven Wissens anzuerkennen. Ausgehend von neueren Theorien des Sehens ist es Sittes Verdienst, die physiologischen Erkenntnisse zum optisch konstruierten, dreidimensionalen Wahrnehmungsraum auf den Stadtraum anzuwenden. Zum ersten Mal wird es dadurch möglich, den Stadtraum als körperlich erfahrbaren Raum, in dem physiologische und psychologische Dimensionen untrennbar verbunden sind, zu konzeptualisieren. Der abschließende Essay von Anthony Vidier untersucht die »Psychopathologie« von Städten, beginnend mit dem Wien der 1880er Jahre, von Camillo Sittes »Platzscheu« über die »Agoraphobie« und »Klaustrophobie« bis zu Sigmund Freuds »Neurose«. Besonders beschäftigt ihn dabei die Frage, inwiefern der Großstadt zugeschrieben wird, in ihrer spezifischen räumlichen Struktur nicht nur der Ort, sondern selbst Ursache der Ängste zu sein. Diese Beobachtungen spitzt Vidier auf die provokante These zu, dass Le Corbusier - und in der Folge der gesamte Städtebau der Moderne - die von Sitte postulierten geschlossenen Platz- und Straßenbilder verwarf, um seine persönliche Stadtneurose zu bekämpfen. Als aktuelles Beispiel untersucht Vidier zum Abschluss die expressionistische Sprache des Traumas und Daniel Libeskinds Entwurf für das World Trade Center. Sittes Bezug auf die Agoraphobie belegt nicht nur sein Wissen um zeitgenössische Diskussionen in anderen Feldern, sondern mag auch einer der Gründe gewesen sein, warum sein Städtebau ein derart einflussreicher Bestseller unter Architekten wurde. Wenn Raum als solcher emotionale Effekte, wie etwa Angst, erzeugen kann, dann mag er auch das Potenzial zu einem künstlerischen Medium haben - und letztlich der Architektur als Kunst ein spezifisches, nur ihr eigentümliches Medium zur Verfügung stellen. Gemeinsam mit Hans Auer (1883) und August Schmarsow (1893) war Sitte einer der frühesten Theoretiker, die sich nicht auf die gebauten Volumina, sondern auf den Raum in städtischen oder architektonischen Kompositionen bezogen. Dieser Ansatz ermöglichte ebenso, indem er den spezifischen Beitrag der Architekten zur Stadt

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hervorhebt, Stadtplanung in den Kompetenzbereich der Architekten zu rücken. Während Sitte immer wieder die Bedeutung des Wissens von Ökonomen, Landvermessern und Verkehrsingenieuren betont, besteht er gleichzeitig darauf, dass Stadtplanung nur durch einen breit gefácherten kulturellen und künstlerischen Zugang und eine Sensibilität für die subjektive Erfahrung von Schönheit, Identität und Gedächtnis erfolgreich sein kann. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard

Langer

Michael Mönninger

Naturdenken und Kunstgeschichte. Camillo Sitte und die ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert

Die Interessen Camillo Sittes (1843 bis 1903) sind in ihrer Universalität bislang nur unzureichend gewürdigt worden. Der geistige Horizont des Wiener Künstlers, Schriftstellers, Gelehrten und Gewerbelehrers umfasste nahezu alle geistigen Strömungen seiner Zeit: die Mittelaltersehnsucht der Nazarener, die monumentale Historienmalerei, die ästhetische Vergegenwärtigung von Natur in der idealen Landschaftsmalerei, die wissenschaftliche Objektivierung von Natur in der zeitgenössischen Physik und Biologie, die Geniekritik des aufkommenden Realismus, die germanische Nationalmythologie von Richard Wagners Gesamtkunstwerk, die evolutionäre Stillehre Sempers, die Abstammungslehre Darwins, die biologischen Rekapitulationstheorien, die genetischen Morphologien des Kunstgewerbes, die Modernitätskritik und Maschinenverachtung und als durchgehendes Praxisfeld die Pädagogik. Indem er das intellektuelle Universum seiner Zeit mit strengem wissenschaftlichem Anspruch zu erfassen und zwischen Tradition und Moderne zu vermitteln versuchte, wurde Camillo Sitte zu einer charakteristischen Figur des ausgehenden 19. Jahrhunderts - und zu einer tragischen zugleich, die des Reichtums seiner Erkenntnisse schließlich nicht mehr Herr wurde.1 Besonders prägend für Sittes Denken war die damals von dem Jenaer Zoologen Ernst Haeckel popularisierte biogenetische Rekapitulationstheorie, also die 1

Vgl. Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden : Vieweg 1998.

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Gleichsetzung von Onto- und Phylogenese, nach der die Individualentwicklung eines Lebewesens immer auch frühere Stufen der Stammesgeschichte wiederholt.2 Weil Sitte aufgrund biographischer Zwänge nicht freier Architekt, sondern zeitlebens Gewerbeschullehrer war, konzentrierte er einen Großteil seiner Studien auf die Pädagogik. Gerade in die Erziehungswissenschaft hielten damals in der Folge des englischen Philosophen Herbert Spencer evolutionsbiologische Konzepte Einzug. Der schulische Vermittlungszwang war der Grund für Sittes geradezu strategische Verklammerung von Pädagogik und Rekapitulationstheorie. Denn wenn die kindliche Entwicklung die Stammesgeschichte wiederholt, so lautete Sittes implizite pädagogische Prämisse, dann liegt beim Kind oder Schüler der erzieherische Ansatzpunkt, um gewünschte historische Formationen der kulturellen Vergangenheit wiederzuerwecken. Die Geschichte galt ihm nicht als verloren, sondern als kontinuierlich in der menschlichen Natur verankert und rekapitulierbar. Sein evolutionsbiologisches Denken ging so weit, dass er für die Erziehung forderte, der Stufengang im Erlernen einer Kunst solle eine abgekürzte Wiederholung der historisch überlieferten Erfindung derselben sein. In Untersuchungen zum Wandel von Kunstformen wählte er sogar Formulierungen wie »Auch Kunstwerke kämpfen eine Art Kampf um's Dasein«.3 Zudem war Sitte Zeitzeuge jener neuen Kunstepoche des Jugendstils - in Frankreich Art Nouveau, in Osterreich Sezession genannt - , die auf einer radikal neuen Grundlage aufbaute. Sie berief sich nicht mehr auf historische Nachahmung, sondern auf wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten. Der Siegeszug der Naturwissenschaften, vor allem Darwins Evolutionsbiologie, gab den Künstlern und Architekten ein ganz neues Gestaltungsvorbild : die Natur selber, aber nicht als antik-anthropomorphe, sondern als modern-biomorphe »imitatio naturae«. Der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel verfasste 1899 ein viel gelesenes Musterbuch mit dem Titel Kunstformen der Natur. Einer ganzen Generation von Künstlern und Architekten dienten diese Mikroben, Minerale und Meerestiere als Vorlage für die organisch-floralen Ornamente und gebauten Muskelpakete des Jugendstils. Das selbsttätige Wachstum von Naturformen galt als definitiver Schlussstrich unter die eklektische Willkür des historistischen Stilgemenges. Die fortschritt2 Ebd., S. i22ff. 3 Sitte, Camillo : »Die Ornamentik des Islam«, in : Österreichische Monatsschriftfiirden Orient. Jg. 15. Wien 1889. Siehe Mönninger 1998 (s. Anm. 1), S. 161.

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lichen Naturromantiker des Jugendstils hatten endgültig über die klassischen Wiederbelebungskünstler gesiegt. Die Rekapitulationstheorie, nach der sich ältere Entwicklungsstadien in neuesten Formbildungen wiederholten, bildete den Ordnungsrahmen der ästhetischen Innovation, die Künftiges und Vergangenes rückkoppelte und die etwa in Paris die modernen Metrostationen in urwüchsiges Rankenwerk kleidete. Die Biologisierung wurde zum Fundament für die Selbstbegründung der gesamten Moderne in der Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Sie orientierte sich nicht mehr an göttlichen Schöpfungsordnungen oder kunsthistorischen Stilwandlungen, sondern an selbsttätigen evolutionären Wachstumsprozessen. Die aus der neuen Synthese von Kunst und Wissenschaft hervorgegangenen Reformbestrebungen hatten völlig verschiedene Resultate: Sie reichten von den Gesteinsmorphologien des Expressionismus über den Organismus-Gedanken im Maschinen- und Technikkult der Konstruktivisten bis schließlich hin zur Verwissenschaftlichung von Architektur und Stadt im Funktionalismus mit seinen klimatisch-hygienisch-medizinischen Gestaltungsprinzipien. Aus der anfangs noch naiv-mimetischen Naturnachahmung in Jugendstil und Expressionismus entwickelte sich schließlich eine analytisch-explorative Formalisierung und Objektivierung, die im neusachlichen Kältepathos der zwanziger Jahre ihren Höhepunkt erlebt. Von solchen Radikalisierungen der Naturbezüge, die sich von allen historischen Bindungen losgerissen haben, ist Sittes Renaturalisierung der Planungspraxis freilich weit entfernt. Gleichwohl lässt sich Sittes Auffassung von der Natur der Stadt mit der Naturerfahrung der ästhetischen Moderne des 19. Jahrhunderts in Beziehung setzen. Auffallend in Sittes Schriften ist, dass er nur äußerst selten auf große Künstler oder Architekten rekurriert, sondern durchwegs anonyme Gestaltungen in Stadtanlagen und/oder volkskünsderische Hervorbringungen im Kunstgewerbe behandelt. Das Kunstgewerbe spielte in Sittes Kulturauffassung deshalb eine zentrale Rolle, weil es als Kollektivphänomen einer praktizierten Volkskunst das zwar minderwertige, aber dafür realisierte Pendant zur noch unerfüllten Verheißung von Richard Wagners Zukunftskunst und Nationalmythologie bildete. Dem Kunstgewerbe schrieb Sitte später sogar die Eigenschaften eines profanen Gesamtkunstwerks zu: Er sah es als eine anonyme gemeinschaftliche Schöpfung, die aus einem massenhaften Bedürfnis hervorgeht und große gesellschaftsintegrative Kraft entfaltet.

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René Binet: Monumentale Eingangspforte zur Pariser Weltausstellung von igoo in Form einer stilisierten Radiolarie aus Haeckels »Kunstformen der Natur«.

5. Köln Neustadt, Aquarell von Jakob Scheiner, 1886.

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Das Volkskunstwerk bezeichnet Sitte als monumental, autorlos, naiv, stilsicher und ewig »wie die Natur selbst«.4 Dies sind die Tugenden der traditionellen handwerklichen Kleinkunst, an die Sitte allerdings nur so lange appelliert, wie ihre volle Entfaltung in der monumentalen Volkskunst schlechthin - im Städtebau - noch uneingelöst ist. Volkskunst und Kunstgewerbe stellen ein gleichsam präformiertes, verkleinertes Abbild der Monumentalkunst dar, das im Laufe der Individualentwicklung des Handwerkers oder Baumeisters nur ausgerollt und vergrößert werden muss und sich in der kollektiven epigenetischen Vervollkommnung zur wahren Monumentalkunst des Städtebaus entfaltet. An dieser Stelle sei nur angedeutet, worin sich Sittes Auffassung mit der ästhetischen Naturerfahrung der Moderne verbindet. Diese besteht eben darin, sich mit etwas zu konfrontieren, das in wesentlicher Hinsicht keiner Intention entsprungen ist und das allein aus der Differenz zwischen natürlicher Schöpfung und menschlicher Leistung hervorgeht. 5 Nicht zufällig entsteht an der Wende zum 20. Jahrhundert jene Literatur der Stadterfahrung als Landschaft. In dem Maße, in dem die freie Natur zivilisatorisch immer stärker überformt wurde, tritt an die Stelle der Landschaft die Stadt, so dass schließlich die gebaute Welt als quasi-natürlicher Kosmos erlebt wird. Erstmals Charles Baudelaire und später Walter Benjamin und Siegfried Kracauer beschrieben Städte als Phänomene einer zweiten Natur, als autonome Gebilde, denen man ihre eigenen evolutionären Gesetze aufmerksam ablauschen muss. Erst in Kenntnis von Sittes biologischem Entwicklungsdenken lässt sich auch sein städtebauliches Hauptwerk von 1889 verstehen, das von der Planungsgeschichtsschreibung stets nur als formalästhetisches Regelbuch interpretiert wurde. Denn gerade von der Stadt hatte Sitte eine naturale Auffassung als einem autonomen, quasi-biologischen Gebilde, dessen Eigengesetzlichkeit er - in bislang wenig oder nicht bekannten Aufsätzen - gegen die modernen Planungsstrategien verteidigte. Sittes Hauptwerk erschien genau zu dem Zeitpunkt, als es im europäischen Städtebau des 19. Jahrhunderts durch Hochindustrialisierung und städtisches Bevölkerungswachstum zu den umfangreichsten Stadterweiterungen der Neuzeit kam.

4

Sitte, Camillo: »Sezession und Monumentalkunst«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. und 6. Mai

5

Vgl. Seel, Martin : Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.

1903. Abgedruckt in Mönninger 1998 (s. Anm. 1), S. 192-198. Siehe auch ebd., S. 150.

6. Paris, Étoile.

7. Plan der neuen Straßen in der Pariser Altstadt.

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Bis dahin waren Städte relativ langsam gewachsen und hatten sich entweder durch Innenverdichtung oder durch die Anlagerung von Neu- und Vorstädten multipliziert. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Urbanen Gründungsmythen der traditionellen Stadt noch in Kraft, bei denen Stadtplan, Mythos und Zeremoniell in eins fielen. Denn bis dahin konnte auch die soziale Ordnung immer als gegeben vorausgesetzt werden. Aber dem explosiven Stadtwachstum des 19. Jahrhunderts fehlen solche stabilen sozialen oder rituellen Grundlagen. An ihre Stelle tritt die neue Disziplin des wissenschafdichen Städtebaus und der technischen Stadterweiterungen. Ihre Grundlagen sind nicht mehr die Konvention und Uberlieferung alter Stadtmodelle, sondern natur- und gesellschaftswissenschafdiche Lehren: von der Evolutionsbiologie Darwins bis zur politisch-ökonomischen Theorie von Adam Smith bis Karl Marx. Doch nicht im Paris des Second Empire, sondern zehn Jahre später in Barcelona entsteht das erste realisierte Großmodell der modern-rationalen Stadtplanung. In Paris wurde noch Innenausbau betrieben, aber nicht Expansion. Zu dieser Zeit wiederholt sich die quereile des anciens et des modernes des 18. Jahrhunderts 6 , aber diesmal nicht unter Architekten, sondern unter Stadtplanern. Der Streit entbrennt zwischen den Alten und den Modernen mit einer Heftigkeit, die angesichts der dabei thematisierten Fragen eher verwunderlich ist: Da geht es um offene oder geschlossene Bauweisen, hohe oder niedrige Gebäude oder gerade oder krumme Straßen. Die Hitze dieses Disputes zeigt, dass hinter diesen eher banalen Sachfragen etwas anderes steht: nämlich gesellschaftliche Ängste und sozialpolitische Hoffnungen. Denn mit dem Bau der Stadt mussten wegen der Unsicherheit über die künftige Gesellschaftsformation nun auch die Formen des Zusammenlebens neu geregelt werden. Damals erlebten auch die Utopisten eine Hochkonjunktur. Und ihre machtpolitische Entsprechung war ein neuer Typus von Stadtplaner, der mit den Kompetenzen eines Gesetzgebers ausgerüstet war. Das spiegelt sich in der damals weit verbreiteten Figur der planenden Volkstribunen, Präfekten und Polizeipräsidenten, von denen der Pariser Baron Georges-Eugène Haussmann nur der bekannteste ist. In Wien berief sich Kaiser Franz Joseph 1859 ausdrücklich auf das Vorbild des Pariser Stadtumbaus, plante jedoch defacto eine Expansion eher nach dem Vorbild der Stadtfabrik Barcelonas. 6 Vgl. Lehner, Dorothea : Architektur undNatur. Dortmund: Mäander-Verlag 1987, S. J3f.

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8. Barcelona, nutzungsneutraler Gittergrundriss.

In dieser heißen Zeit der Stadterweiterungen veröffentlichte Camillo Sitte 1889 sein Städtebau-Lehrbuch, das die damaligen geistigen Strömungen neuer evolutionsbiologischer und physikalischer Theorien bündelte und für Jahrzehnte die Planungsdebatte dominieren sollte. Der Außenseiter Camillo Sitte stieß mit seinem Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen ohne größeres Misstrauen auf breite Resonanz. Aber da der Städtebau eine Zwitterstellung zwischen Praxis, Wissenschaft und Utopie einnimmt, stammen neue Theorien häufiger als in anderen Disziplinen von Außenseitern. So waren der englische Reformer Robert Owen Unternehmer, der französische Utopist Charles Fourier Ladengehilfe und der Gartenstadt-Planer Ebenzer Howard Parlamentsstenograph gewesen. Sittes Städtebau-Lehre erführ einen kometenhaften Aufstieg und wurde sogar in Amerika von Werner Hegemann zur Grundlage des einflussreichen Baubuches American Vitruvius genommen. 7 Von den Modernisten der zwanziger 7 Hegemann, Werner / Peets, Elbert: The American Vitruvius: An Architects' Handbook of Civic Art. New York: Princeton Architectural Press 1988 (Erstauflage 1922).

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g. Vier Projekte zum Wettbewerb Ringstraße von 1858. Förster, Stäche, Siccardsburg und v. d.Nüll, Lenne.

Jahre bekämpft, von den Heimatschützern falsch kopiert, geriet Sitte nach dem Zweiten Weltkrieg dann aber in Vergessenheit. Sittes größte Leistung war sein konsequent naturaler Blick auf Kulturdinge und die Übertragung der für das 19. Jahrhundert charakteristischen Einheitsvorstellung von Natur und Geschichte auf alle Bereiche des Lebens. Im Gefolge der Evolutionsbiologie übertrug Sitte diesen genetischen Blick erstmals auf die Stadt. So sah Sitte die damalige Ringstraßenplanung in Wien als abgebrochene Entwicklungsgeschichte. Sein ergänzender Vorschlag8 sollte in rekapitulationstheoretischer Hoffnung gescheiterte historische Entwicklungsstufen nachholen, gerade so, wie es Sitte aus Dutzenden von Fallbeispielen europäischer Städte deduziert hatte. 8

Sitte: Der Städtebau, S. 126.

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io. Genehmigter Plan v. 185Ç. Kompilation aus den Siegerentwürfen.

Mehr noch als von der Architektur hatte Sitte von der Stadt eine naturale Auffassung als einem autonomen, quasi-biologischen Gebilde, dessen Eigengesetzlichkeit er gegen die modernen Planungsstrategien verteidigte. So protestierte er gegen die Nivellierung des Bodenreliefs, gegen die Geraderichtung von alten Straßen wie auch gegen die Geometrisierung des Stadtplanes. Vor allem im postum erschienenen Aufsatz »Enteignungsgesetz und Lageplan«9 von 1904 wies Sitte auf die ästhetischen, ökonomischen und strukturellen Vorteile der »Einfühlung« in das Vorhandene hin; in seiner Forderung nach dem Schutz der historischen Parzellen und Besitzverhältnisse vor der planeri-

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Sitte, Camillo: »Enteignungsgesetz und Lageplan«, in: Der Städtebau. Bd. 1, 1904. H e f t 1, S. 5-8; H e f t 2, S. 1 7 - 1 9 ; H e f t 3, S. 35-39. Abgedruckt in Mönninger 1998 (s. Anm. 1), S. 209-218.

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il. Wim, Vogelperspektive von G. Veith, ιΒη^.

sehen Homogenisierung steckt der Wunsch, eine quasi-natürliche Bodenökonomie zu konservieren, ja frühere Entwicklungsstufen der Stadt zu rekapitulieren. Und damit war untrennbar die Bewahrung der alten Eigentumsverhältnisse verbunden. Sittes Eintreten für die gekrümmte Straßenfiihrung war somit keine bloße künsderische Erfindung im Horizont des damaligen Jugendstil, sondern die Angleichung des Stadtplans an die Irregularität der konventionellen Eigentumstitel. Dieser strukturellen Irregularität entsprachen in weiterer Folge auch ästhetische Formen. Wenn Sitte beispielsweise, wie aus seinem Städtebau-Buch weitgehend bekannt, die Unregelmäßigkeit alter Plätze als Naturgesetze der Stadtgestaltung beschrieb, dann meinte er damit nicht irgendein malerisches Stadtideal, sondern zielte auf die Natur der menschlichen Wahrnehmung. So wie das Auge nie geometrisch-orthogonale Gegenstände wahrnimmt, sondern sie immer in perspektivischer Verzerrung abbildet, so Sittes Auffassung, würden auch alte Platzanlagen stets unregelmäßige und damit wahrnehmungsförmige Formen aufweisen. Sitte hat diese architektonischen Irregularitäten nicht mathematisch-optisch objektiviert, sondern immer emphatisch als grundlegenden Tonus, als »Stimmung« und Anmutungsqualität empfunden. Zugleich lässt sich anhand der kunstkritischen Schriften Sittes erstmals belegen, wie eng seine Stadtbaulehre mit dem Wahrnehmungsideal der damaligen

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12. Lageplan Hannover mit alten Flu>-gnindstücken und Parzellen: Oben die radikale Überplanung, unten der Gegenvorschlag Sittes.

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Bühnenbildnerei verknüpft war. Sittes Vorbild in der idealen Landschaftsmalerei war der Wiener Künstler Joseph Hoffmann, der zugleich von Richard Wagner den Auftrag zum Entwurf der Uraufführungsszenographie des Bayreuther Rings von 1876 bekommen hatte.10 Diese Koinzidenz macht nachvollziehbar, wie eng fur Sitte Landschaftsbild, Musiktheater, Kunstreligion und Stadtbaukunst zusammenhingen. Diese Synthese reicht weit über die übliche Analogisierung von Stadt- und Bühnenbild also die konkave Objektanordnung in einem geschlossenen Sehraum - hinaus und steht zudem im künstlerisch-praktischen Verweisungszusammenhang mit Schinkels klassizistischer Reliefbühne und der plastischen Relief-Theorie des Bildhauers Adolf von Hildebrand.11 Aber alle handwerklichen, künstlerischen und Stadtgestaltungsprinzipien von Sitte zielten nicht allein auf ein ästhetisches und architektonisches, sondern auf ein genuin gesellschaftliches Ideal: auf die Wiedergewinnung der Stadt als einem sozialen Kunstwerk. Sittes städtische Zentralfigur, der bühnenbildartig geschlossene Platz, war für ihn Sinnbild architektonischer Gemeinschaftsstiftung - ein Mittel gegen die totale Verflüssigung und Homogenisierung der geometrisierten Verkehrsstädte und gegen das funktionale und soziale Auseinandernehmen der traditionellen gesellschaftlichen Verschränkungen. So waren städtebauliche Raumbildungen für Sitte kein künsderischer Selbstzweck, sondern sollten mit dem Mittel der Architektur wieder soziale Bindekräfte erzeugen. Im naturalen Blick auf die Morphologie der Stadt steckten nicht mehr bloß die zeitlos gültigen, objektiven Sphärenharmonien der klassischen Architekturlehre und auch nicht allein die arbiträren Werte einer in die innere Natur des Subjekts verlegten Ästhetik der modernen Bildwahrnehmung von Stadt. Es handelte sich vielmehr um ein Drittes, eine die objektive und subjektive Natur verbindende kollektivistische Vorstellung von Stadtgesellschaft: als sozialem Organismus, von einem natürlichen Gleichgewicht im gesellschaftlichen Aufbau. Als Angehöriger des wirtschaftsliberalen Bildungsbürgertums im Wien der Jahrhundertwende verteidigte Sitte eine freilich überaus prekäre harmonía mundi des Sozialen. Zwischen den Polen des monarchischen Obrigkeitsstaates einerseits und der gefürchteten sozialdemokratischen Umwälzung andererseits setzte Sitte seine Hoffhungen auf einen fragilen Zwischenzustand: Er wollte die zu diesem historischen Zeitpunkt aufscheinende soziale Differenzie10 Vgl. Mönninger 1998 (s. Anm. 1), S. 52fr. 11 Hildebrand, Adolf von: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg: Heitz 1893.

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15. Joseph Hoffmann: Entuiutf zum Bayreuther Ring von 1876. Rheingold, 1. Szene.

14. Joseph Hoffmann: Entwurf zum Bayreuther Ring von i8j6. Walküre, 5. Aufzug.

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rang und Arbeitsteilung des zellular gedachten Gesellschaftskörpers als naturgegeben verteidigen und damit als ewigen Kreislauf stillstellen. Auch aus einem weiteren Grund hat die traditionsfeindliche, auf Selbstbegründung eingeschworene Hagiographie der Kunst- und Architekturmoderne den Lehrmeister Sitte übergangen. Denn er teilte deren frühe psychologistische und spiritualistische Überzeugungen nicht, sondern war noch dem geschichdich-genetischen Begründungsdiskurs der Historischen Schule verhaftet und gab daher kollektivistischen Deutungsmustern den Vorrang vor individualistischen. Daher rührt auch sein Hang zur Volkskunst und zur Geniekritik. Zudem rührt das gescheiterte Angedenken auch von Sittes eigenem Scheitern her, weil er zum Opfer seiner eigenen Vielseitigkeit geworden war. Das ungeheure Pathos der Anschauung in seinen Forschungen und Schriften hat schließlich dazu geführt, dass er des Reichtums an positiven Kenntnissen nicht mehr Herr wurde und die fur die Jahrhundertwende charakteristische Rettung ins Weltanschauliche mitvollzog. Er scheiterte mit seiner gelegendich naiven Empirie an der Aporie jeder Erfahrungswissenschaft: nämlich dass die Kontingenz und Singularität der Erfahrung den wissenschaftlichen Gesetzen der Notwendigkeit und Allgemeinheit widerstrebt. Ihm wurde in gewisser Weise die »banausische Ahnungslosigkeit gegenüber der begrifflichen Kultur« zum Verhängnis, die Hermann Lübbe im größeren geisteswissenschaftlichen Zusammenhang über das Scheitern der Realienkunde im 19. Jahrhundert konstatierte.12 Es war das Unverständnis gegenüber der strukturellen Geschichtlichkeit der eigenen Vernunft, die mangelnde Reflexion über die hochgradige subjektive Vermitteltheit der Objekterkenntnis und die Ignoranz gegenüber der Frage, in welchem Verhältnis deskriptive und normative Interessen stehen und wie »natürliche« oder aber pragmatische Kategorien den Erkenntnisprozess leiteten. Doch angesichts der hoch entwickelten disziplinären Borniertheit gerade des praktischen Städtebaus heute und der engen Gattungsgrenzen der kunstwissenschaftlichen Forschung haben die in vielerlei Hinsicht amateurhaften Studien Sittes dennoch einen ähnlichen Wert wie Goethes Naturforschungen im Rahmen der modernen Naturwissenschaften: Sie sind methodisch rückständig, begrifflich unscharf, praktisch unbrauchbar, aber im emphatischen Sinne von überzeitlichem anthropologischem und kulturgeschichtlichem Wert. So trifft auch in gewisser Weise auf Sittes Denken zu, was Gottfried Benn über Goethe sagte: »Es ist ein produktives Denken im Rahmen wissenschaftlicher Themen, 12 Lübbe, H e r m a n n : Politische Philosophie in Deutschland. Basel, Stuttgart: Schwabe 1963, S. 134.

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ein weittragendes perspektivisches Erfühlen von Zusammenhängen und Ursprüngen, ein Eintauchen des Denkens in den Gegenstand und eine Osmose des Objektes in den anschauenden Geist. Ein imposantes Denken, was die Resultate angeht, [...] aber eines, das sich als Methode nicht völlig klarstellen und übertragen läßt. Ein ausgesprochen affektgeführtes Denken, körperlich umwogt, mit starker Hirnstammkomponente, will man es biologisch basieren, im Gegensatz zum Rindentyp des intellektualistischen Professionals.« 13 Sittes »Hirnstammkomponente« hat sich am deutlichsten im naturalen Blick auf Kulturdinge ausgeprägt. Diese für das 19. Jahrhundert charakteristische Einheitsvorstellung von Natur und Geschichte mit ihren biologistischen Implikationen hat in Sitte einen herausragenden Repräsentanten, der heute, hundert Jahre nach seinem Tod, endlich die Chance bekommt, angemessen gewürdigt zu werden.

1 3 Benn, Gottfried: »Goethe und die Naturwissenschaften«, in: Gesammelte Werke. H g . von Dieter Wellershoff. Stuttgart: Limes-Verlag 1986. Bd. 1, S. 162-200, S. 186.

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17. Holländer-Thurm, Handzeichnung von C. Sitte, 1895.

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Ákos Moravánszky

Erzwungene Ungezwungenheiten. Camillo Sitte und das Paradox des Malerischen

»Herrliche Städtebilder, Monumente, Plätze, schöne Fernsichten« - das historische Bilderbuch, das Sitte gleich in der Einleitung zu seinem Hauptwerk öffnet, erklärt, warum er als Begründer eines romantischen Städtebaus gilt, und warum das Malerische als seine städtebauliche Leitvorstellung bezeichnet wird. Carl E. Schorske geht noch weiter, wenn er in seiner klassischen Studie Wien Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle Sitte mit Otto Wagner kontrastiert : »Camillo Sitte und Otto Wagner, der romantische Archaiker und der rationale Funktionalist, teilten unter sich die unversöhnten Bestandteile des Erbes der Ringstraße auf.« 1 Diese Antinomie erscheint auf den ersten Blick überzeugend. Otto Wagner stellt ja als eine Selbstverständlichkeit fest, dass alles modern Geschaffene »unser eigenes besseres, demokratisches, selbstbewusstes, unser scharf denkendes Wesen« veranschaulichen muss. Das Streben nach »malerischer Wirkung« ist für Wagner ein Zeichen von »einer gewissen Geistesarmut und einem Mangel an Selbstbewusstsein«. 2 Sitte sieht das Verhältnis zwischen politischer Macht und städtischer Form anders. Auch die Demokratie braucht ihre Symbole: »Gesetzt den Fall, dass blos decorativ bei einer Neuanlage ein pompöses und malerisch möglichst wirkendes Stadtbild gleichsam nur zur Repräsentanz, zur 1 Schorske, Carl E.: Wien - Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Übersetzt von Horst Günther. München: Piper 1994, S. 94f. 2 Wagner, Otto: Die Baukunst unserer Zeit. Wien: Locker 1979 (Erstveröffentlichung 1914), S. 39.

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Verherrlichung des Gemeinwesens geschaffen werden soll, so kann das mit dem Lineal, mit unseren schnurgeraden Strassenfluchten nicht bewirkt werden; es müssten, um die Wirkungen der alten Meister hervorzubringen, auch die Farben der Alten auf die Palette gesetzt werden.« Als würde Sitte mit sich selbst einen Dialog führen, tauchen jedoch gleich Zweifel auf: »Es müssten allerlei Krummziehungen, Strassenwinkel, Unregelmässigkeiten künstlich im Plane vorgesehen werden; also erzwungene Ungezwungenheiten; beabsichtigte Unabsichtlichkeiten. Kann man aber Zufälligkeiten, wie sie die Geschichte im Laufe der Jahrhunderte ergab, am Plane eigens erfinden und construiren? Könnte man denn an solcher erlogenen Naivität, an einer solchen künstlichen Natürlichkeit wirkliche, ungeheuchelte Freude haben? Gewiss nicht.« 3 War also Sitte doch kein »romantischer Archaiker«? Wenn er an einer anderen Stelle des Städtebau die Grundstücksparzellierung diskutiert, schlägt er vor, durch die Berücksichtigung der historischen Grundstücksgrenzen der mechanischen Verwendung eines an und für sich rationalen Systems Einhalt zu gebieten : »Das regelmässige Parcelliren vom rein ökonomischen Standpunkte aus ist bei Neuanlagen ein Factor geworden, dessen Wirkungen man sich kaum entziehen kann. Trotzdem sollte man sich dieser landläufigen Methode nicht gar so blindlings auf Gnade und Ungnade übergeben, denn eben hiedurch werden Schönheiten des Stadtbaues geradezu hekatombenweise abgeschlachtet. Es sind dies alle jene Schönheiten, welche man mit dem Worte >malerisch< bezeichnet.« 4 Wir verfügen also über die Möglichkeit, ein rationales und praktisches System durchzusetzen. Sollten wir dies nun konsequent tun, oder doch Störungen und Abweichungen erlauben, zumindest wenn sie einen historischen Grund haben? Bei Sitte ist der Begriff »System« als Stasis und Langeweile konnotiert: »nicht um Haaresbreite von der einmal aufgestellten Schablone abzuweichen« ist ihm entsetzlich. 5 Störung dagegen versteht er als Reiz und Stimulanz, nur darf sie nicht als »künstlich« und »erlogen« erscheinen.

3 Sitte : Oer Städtebau, S. 119. 4 Ebd., S. 114. 5 Ebd., S. 97.

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Der Begriff des Malerischen in Sittes Städtebau

In Sittes Städtebau erscheint der Begriff »malerisch« zuerst in der Beschreibung des Rathausplatzes in Breslau, »dessen Bild genugsam die vielfältigen malerischen Reize vorfuhrt, welche dieser Combination [von Rathaus und Marktbrunnen am Marktplatz] entspringen«. 6 Das beigestellte Bild zeigt nur das Rathaus mit kleinen Verkaufsständen, vom Platz selbst ist nichts zu sehen; Sitte zeigt auch keinen Grundriss. Er verwendet den Begriff hier nicht im Sinne einer Platzgestaltung, sondern eher zur Beschreibung einer Besetzung des Platzes mit sekundären, privaten Nutzungen. Diese »kontra1 - 1 α i_ ι · Ύζ ι. Rathausplatz Breslau. punktische Arbeit« steht in Kontrast mit der Reinheit monumentaler, nicht-profaner Ensembles, wie die Akropolis von Athen oder der Domplatz von Pisa, wo »alles Profane, Alltägliche ausgeschieden« ist.7 Wenn Sitte über Amalfi spricht, erklärt er die malerische Vermischung von Privatem und Öffentlichem zusätzlich mit der Überlagerung bzw. Unbestimmtheit der Ansichten: »Das hochgradig Malerische z. B. von Amalfi beruht hauptsächlich auf einem oft geradezu grottesken Durcheinander von Innen- und Außenmotiven, so dass man zu gleicher Zeit im Innern eines Hauses oder auf der Strasse und an derselben Stelle noch zugleich ebenerdig oder auch in einem Obergeschoss sich befindet, je nach der Auffassung, die man der sonderbaren Baucombination zu geben beliebt. Das ist es, was den Veduten-Sammler in Wonne schwimmen lässt und was wir auf den Theatern als Bühnenbilder zu sehen bekommen.« 8 Die Quelle der Verwirrung ist die Vermischung von

6

Ebd., S. i6.

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Ebd., S. 15.

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Ebd., S. 116.

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Perspektiven; man ist zu Hause und auf der Straße zugleich. Der Blick des Bewohners einer Wohnung und des Vedutensammlers sind voneinander nicht zu trennen. Man könnte diese Konfasion des Privaten mit dem Offendichen auch störend finden - aber für den Vedutensammler erscheint diese Konfusion von »Motiven« schön. Acht Jahre später berichtet Joseph Hoffmann in der Zeitschrift Der Architekt über die Architektur von Capri in seinem »Beitrag fur malerische Architekturempfindungen«. 9 Hofimann verbindet das Malerische mit anderen Qualitäten der anonymen Architektur der mediterranen Küste: »Dort stimmt der malerisch bewegte Baugedanke in seiner glatten Einfachheit, frei von künstlerischer Uberhäufung mit schlechten Decorationen, noch herzerfrischend in die glühende Landschaft und spricht für jedermann eine offene, verständige Sprache.« Die malerische Architektur Capris scheint Hoffmanns Kritik an inszenierter Vielfältigkeit, an einer »veraltete[n] Stilduselei« zu unterstützen: »Die Natur [...] ist ohnehin reich an Gestaltung, Mannigfaltigkeit in den Baumgattungen, an Farbe und Formen, so dass die einfachen geraden oder decent gekrümmten Linien unserer Bauten mit derselben glücklich contrastieren werden. Nie aber kann man jene vielspitzigen, vielgiebeligen Schwindelarchitekturen als zu unserer Landschaft passend bezeichnen.« 10 2. Joseph Hoffmann:Architektunkizze zum Beitmg »Architektonisches von der Insel Capri«.

9 Hoffmann, Joseph : »Architektonisches von der Insel Capri. Ein Beitrag für malerische Architekturempfindungen«, in: Der Architekt, Bd. 3, 1897, S. 13-14, S. 13. 10 Ebd., S. 13.

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Sitte schätzt die von Hoffmann hervorgehobene »glatte Einfachheit« kaum. Ganz im Gegenteil, bei ihm wird die Bedeutung des Malerischen noch durch eine weitere Ebene der angenehmen Verwirrung bereichert - durch die Uberlagerung der optischen mit Erinnerungsbildern: »Der Olbaum der Athene auf der Akropolis war ein ganz gewöhnlicher Olbaum, [...] aber die dichterische Phantasie hatte ihn geheiligt und das ganze Volk ließ sich dieses Gaukelspiel der Phantasie gerne gefallen, weil das Volk Poesie und Kunst als notwendige seelische Nahrung ebenso wenig entbehren kann wie das tägliche Brot. Darin liegt eben die hohe Bedeutung des Poetischen, des Phantastischen oder, wie man heute sagt, des Malerischen im Städtebau, - ein stillschweigendes Eingeständnis zugleich, daß die moderne Welt es höchstens bis zu der niedereren Stufe des Malerischen im Städtebau zu bringen wagt, aber die höhere Stufe der Poesie des Städtebaues für unerreichbar hält.«11 Poetisch und Malerisch sind also für Sitte keine Synonyme; selbst der Ausdruck »bloß malerisch« zeigt, dass das Malerische auf einer niedrigeren Stufe der Hierarchie als das Poetische angesiedelt ist. Diese Uberlagerung stiftet, ähnlich wie die städtischen Vexierbilder von Amalfi, eine angenehme Verwirrung. »Aber selbst das bloß Malerische im Städtebau, selbst die bloß malerische Auffassung eines Baumes, als des erquickenden Grün im Grau der endlosen Stein- und Mörtelmassen, wurde von den Reißbrettmenschen der alten geometrischen Schule des Städtebaues nicht anerkannt.«12 Der polare Gegensatz des Malerischen ist für Sitte das Praktische. Das Beispiel Amalfis verleitet ihn zur Bemerkung: »In dieser Form der Gegenüberstellung von phantastischem Bühnenbild und nüchterner Wirklichkeit treten die Eigenheiten des Malerischen einerseits und des Praktischen andererseits am grellsten hervor.«13 Im Städtebau verbindet Sitte das Malerische, in Bemerkungen wie der »malerische Hausrath der Bühnen-Architektur« oder »die malerischen Herrlichkeiten des Theaters« 14 , öfters mit jenem Wahrnehmungsmodus im unbestimmten Raum zwischen Illusion und Wahrheit, der auch von Semper als die »wahre Atmosphäre der Kunst« beschrieben wurde.15 11 Sitte, Camillo: »Großstadt-Grün« (Erstveröffentlichung Hamburg 1900), in: Ders.: Der Städtebau, S. 231-249, S. 237. 12 Ebd., S. 237. 13 Ebd., S. 116. 14 Ebd., S. n 6 f . 15 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Bd. I. Mittenwald: Mäander 1977 (Erstauflage i860), S. 231, Anm. 2.

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Sittes Feststellung, dass der »innere Widerstreit zwischen dem Malerischen und Praktischen« nicht »weggeredet werden« kann, 16 fuhrt bei ihm zur Relativierung der Bedeutung des Praktischen. Sollte also die Maxime Otto Wagners : »Etwas Unpraktisches kann nicht schön sein« damit ergänzt werden, dass es aber sehr wohl malerisch sein kann? Ist wiederum das Malerische nicht gerade das Ergebnis der Lockerung starrer Systemprinzipien zugunsten »praktischer« Anforderungen des städtischen Lebens, wie das Beispiel des Marktplatzes von Breslau zeigt?

Das Malerische: painterly oder picturesque? In einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung wäre es eine wichtige Aufgabe, zu versuchen, das Malerische im Sinne von »picturesque« vom Begriff des M a lerischen im Sinne von »painterly« zu unterscheiden. Obwohl die beiden Bedeutungen offensichtlich eng verwandt sind, ist die Teilung zwischen den Künsten, die in »painterly« klar zum Ausdruck kommt (also etwa der Unterschied zum »sculptural« oder »architectural«), im »picturesque« aufgehoben, da das Wort nicht auf die Malerei, sondern auf die Bildhaftigkeit zurückzuführen ist. Das deutsche Wort malerisch erlaubt diese Präzisierung nicht, was auch die verschiedenen Rollen ermöglicht, die diese Kategorie in der deutschsprachigen Ästhetik spielt. Sittes positive Bewertung des Malerischen als Teil der Dichotomie malerisch/ praktisch zeigt eine neue Funktion dieser Kategorie. In der ästhetischen T h e o rie von August Wilhelm Schlegel hatte das Malerische noch eine andere Aufgabe zu erfüllen. In seinen Wiener Vorlesungen ( 1 8 0 9 - 1 8 1 1 ) verwendete Schlegel diesen Begriff, um den Gegensatz des Klassischen und des Romantischen aufzuzeigen. Damit hat er jene polarisierende, typologische Methode zuerst verwendet, die später auch in Heinrich Wölfflins oder Wilhelm Worringers Werken zur Anwendung kam und wo die spezifischen Eigenschaften der verschiedenen Künste wichtig sind. 17 Schlegel hat mit den antinomischen Begriffspaaren plastisch/ 16 Sitte: Der Städtebau, S. 118. 17 Vgl. Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. Basel: Benno Schwabe 1948 (Erstauflage 1915), S. 79: »Die Untersuchung des Malerischen und Nicht-Malerischen in den tektonischen Künsten bietet das besondere Interesse, dass hier erst der Begriff, losgelöst aus der Vermischung mit den Forderungen der Imitation, als reiner Begriff der Dekoration sichtbar wird.«

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malerisch, mechanisch/organisch, endlich/unendlich bzw. geschlossen/vollendet operiert. Der Geist der gesamten antiken Kultur und Poesie sei plastisch, derjenige der modernen Kultur aber pittoresk, behauptete Schlegel.18 Das Romantische wurde durch das Christentum mit der Malerei als der eigentlich modernen (= romantischen) Kunst eingeführt, deren Entstehung untrennbar von der christlichen Religion ist. Die klassische Kunst dagegen fand ihren idealen Ausdruck in der Plastik. Die Konsequenz, dass das Theater als Synthese dieser zwei verschiedenen »Wesen« konzipiert werden kann, wurde von Richard Wagner in seiner Schrift »Das Kunstwerk der Zukunft« gezogen: »Die Architektur kann keine höhere Absicht haben, als einer Genossenschaft künstlerisch sich durch sich selbst darstellenden Menschen die räumliche Umgebung zu schaffen [,..].« 19 Weder im »gewöhnlichen Nutzgebäude« noch im Luxusgebäude kann der Architekt diese Absicht verwirklichen, nur in der Konstruktion des Theaters. »Aber auch die schönste Form, das üppigste Gemäuer von Stein, genügt dem dramatischen Kunstwerke nicht allein zur vollkommen entsprechenden räumlichen Bedingung seines Erscheinens. [...] Die plastische Architektur fühlt hier ihre Schranke, ihre Unfreiheit, und wirft sich liebebedürftig der Malerkunst in die Arme, die sie zum schönsten Aufgehen in die Natur erlösen soll.«20 Die plastische Form, von Schiller noch idealisiert, erschien jetzt als Beschränkung. Plastische Komposition, musikalische Harmonie, malerische Gestaltung in einen synästhetischen Zusammenhang zu bringen, ist die Aufgabe. Schlegel und Wagner betrachteten das Malerische als eine mit den spezifischen Eigenschaften der Malerei zusammenhängende Sicht- und Darstellungsweise. Die Ursprünge der Kategorie des Malerischen als picturesque liegen allerdings auf einem anderen Gebiet: auf demjenigen der Landschaftsgärtnerei. In England wurde der Begriff picturesque durch Schriften von Uvedale Price und Richard Payne Knight zum Schlüsselwort. Mit diesem glaubte man Werke interpretieren zu können, die man aufgrund ihrer Unregelmäßigkeit und Abwechslung mit dem klassischen Schönheitsbegriff nicht begreifen konnte. Es fehlte diesen Artefakten aber auch an jenen Qualitäten (Schrecken, Schauer, Gewalt usw.), die es erlaubt hätten, sie als erhaben (sublime) zu bezeichnen. Erhabe-

18 Schlegel, August Wilhelm : Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart: W. Kohlhammer 1966, S. 2 if. 19 Wagner, Richard: »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: Ders.: Gesammelte gen.

Bd. 3. Leipzig: E . W . Fritzsch 1897, S. 150.

20 Ebd., S. 152.

Schriften

und

Dichtun-

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nes und Schönes beziehen sich nach dem Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful von Edmund Burke (1757) sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Gestaltung komplementär aufeinander. Uvedale Price bezeichnete in seinem 1794 entstandenen »Essay on the Picturesque« die Eigenschaften des Malerischen mit »roughness«, »sudden variation« und »irregularity«. Aufgrund der Reaktionen des Betrachters liegt das Malerische in der Mitte: emotionsgeladener als das Schöne, aber weniger schauererregend als das Erhabene. Mit diesem Eingreifen in die Dichotomie Burkes wollte Price zwischen der »languor of beauty« und dem »horror of sublimity« vermitteln.21 Dem »Horror« als ästhetische Kategorie sind jedoch seine gewaltsamen Züge genommen, und es ist fraglich, was aus diesem Opponenten der gesetzten Ordnung wird, wenn er in der Kategorie des Malerischen noch weiter aufgeweicht wird. Als Mittelweg sind die Grenzen der Kategorie des Malerischen verschwommen; seine oft zitierten Eigenschaften werden oft als Gemisch oder Kreuzung beschrieben. Price beschrieb die malerische Komposition als das Ergebnis des Zufalls : wenn ein Gärtner einige Bäume kappt, um sich Holz zu besorgen, ist die malerische Wirkung der Baumgruppe unbeabsichtigt. Sittes »erzwungene Ungezwungenheiten« und »beabsichtigte Unabsichtlichkeiten« sind also keine Widersprüche an sich, sondern gehören zum Wesen des Malerischen als picturesque. Es war der preußische Architekt Friedrich Gilly, der in seinen Schriften die »bildmäßige«, »malerische« Wirkung der Architektur betonte. Malerische Effekte sind durch Verwendung einfacher Formen und gut bearbeiteter Oberflächen erreichbar. Es sind die Spiele des Lichts, die Reflexe, die Schatten, die den Eindruck des Malerischen hervorrufen. Da konnte vor allem die englische Architektur als Vorbild dienen: »Gleichwohl sind vielleicht die Deutschen vorzüglich fähig, selbst den grossen Sinn, der dem Engländer für mahlerische Natur angeboren ist, zu fassen und in eigener Kunst wirken zu lassen. Ein ernstes und reines Studium grosser Wirkungen fuhrt allein hier zu Vollkommenheit.«22 Es geht also nicht um harmlose Spiele mit Grotten und Lustschlössern im Landschaftsgarten, sondern um eine radikal neue Ästhetik, ja um eine neue Sichtweise.

21 Vgl. Robinson, Sidney Κ.: Inquiry into the Picturesque. Chicago, London: T h e University of Chicago Press 1991, S. 17. 22 Gilly, Friedrich: Essays zur Architektur i-jyó-i-jyg. Sohn 1997, S. 157.

H g . von Fritz Neumeyer. Berlin: Ernst &

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Die Unterscheidung zwischen »Bild« und »Wirklichkeit« gehört zum Wesen der malerischen Betrachtung. Gillys Freund Karl Friedrich Schinkel hat in den Tagebüchern seiner ersten Italienreise (1803) vor allem die malerischen Wirkungen der Architektur in der Landschaft aufgezeichnet; genaue Beschreibungen der Bauwerke sind eher selten. Malerisch ist der Modus der Wahrnehmung: die weite Perspektive, die Wechsel von Szenen, das Nebeneinander von Stilen. Schinkel zeigt in diesen Aufzeichnungen kaum Interesse für die Beschreibung der architektonischen Details, vielmehr für überraschende Effekte und malerische >Charakterfülle>warme[n] malerischefn] Lebendigkeit«.

Das Malerische in der Potemkin'schen Stadt In den abschließenden Bemerkungen stellt Sitte fest, dass Städtebau keine »bloß mechanische Kanzleiarbeit«, sondern »ein bedeutsames, seelenvolles Kunstwerk« ist, sogar »ein Stück großer, echter Volkskunst, was um so bedeutender in die Wagschale fällt, als gerade unserer Zeit ein volkstümliches Zusammenfassen aller bildender Künste im Dienste eines großen nationalen Gesamtkunstwerkes fehlt«. 27 Der Leser wundert sich, wie die Betrachtungen vom Malerischen in die Gestaltung dieses »seelenvollen Kunstwerks« einfließen können. Sittes Vorschläge zur Umgestaltung der Wiener Ringstraße lassen Schlimmes ahnen: seine Revolte gegen das »System« führt zur Potemkin'schen Stadt, die Adolf Loos erbittert kritisierte.28 Sitte schildert die innere Fassade des von ihm vorgeschlagenen Rathausplatzes im Detail, sonst ist Architektur nur grau schraffierte Füllmasse am Plan. Das Malerische, das als Aufstand gegen die Idee der systematischen »Idealstadt« begann, wendet sich als Konsequenz der Lehre des malerischen Städtebaus gegen die Architektur. Dies entspricht wohl dem Kon-

26 Lotze, Hermann: Geschichte derAesthetik in Deutschland. München: J. G. Cotta 1868, S. 578. 27 Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 11), S. 249. 28 Loos, Adolf: »Die Potemkin'sche Stadt« (1898), in: Ders.: Die Potemkin'sche Stadt: Verschollene Schriften 1897-1933. Wien: Georg Prachner 1983, S. 55-58.

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5. Camilh Sitte: Vorschlag zur Umgestaltung des Rathausplatzes in Wim.

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zept des Malerischen als Patchwork von heterogenen Elementen, die nur im Blick des Vedutensammlers miteinander versöhnt werden. Vieles, was für den Architekten unakzeptierbar wäre, ist dem malerischen Städtebauer willkommen. Es ist unschwer, die Linie nachzuzeichnen, die Sitte mit heutigen Vertretern des pittoresken Städtebaus verbindet. Ich denke hier weniger an Architekten des New Urbanism, die die Stadt wie Sitte als ein Buch voll »herrlicher Städtebilder« betrachten und an der Morphologie der städtischen Plätze interessiert sind, aber eher im Sinne von painterly als picturesque, indem sie jegliche Disharmonie, »Unvollkommenheit und Paradoxie« (Lotze) vermeiden. Es ist Rem Koolhaas, der im ersten Band des Project on the City, der Dokumentation der Arbeiten seiner Studenten an der Harvard-Universität (Great Leap Forward), das P I C T U R E S Q U E © als »Revenge of the anti-idealistic« definiert. Das Malerische ist laut Koolhaas eine Art der Raumgestaltung und Raumwahrnehmung, die im 16. Jahrhundert von chinesischen Landschaftsgärtnern erfunden wurde, »which insists on the juxtaposition and relationship between objects, rather than by their singular presence«.29 Das Malerische wird hier als eine Ästhetik verstanden, die verschiedene Elemente in einem Gesamtrahmen präsentiert: ein Wolkenkratzer inmitten eines Reisfeldes, ein Wasserbecken vor einem Bürobau mit einer Donald-Duck-Skulptur : alles wird domestiziert und konsumierbar gemacht. Das Beispiel Chinas zeigt gut die politischen Implikationen, die das Malerische seit seinen englischen Anfängen prägten; nämlich die Frage der verschiedenen Interpretationen der Freiheit und Demokratie. Die pittoreske Seh- und Kompositionsweise war bereits im England des achtzehnten Jahrhunderts Folge eines Balanceaktes zwischen König und Parlament nach dem Sieg der Glorious Revolution. Alte und neue Rechte, Besitz und Freiheit sollten in ein System eingefügt werden, das nicht mehr von einem monarchischen Zentrum aus kontrolliert wird. Im Gegensatz zur französischen Vorstellung eines universalen Systems der Vernunft und Egalität entstand in England ein radikaler Liberalismus, der Individualität höher als Gleichheit bewertete. Im Jahre 1949 hat die englische Zeitschrift The Architectural Review ein Heft mit dem Thema Townscape veröffentlicht. Ivor de Wolfe hat in einem einführenden Aufsatz die französische Auffassung von Demokratie, die allgemeine Wahrheiten voraussetzt und so letzdich darauf abzielt, allgemeine Gleichheit zu begründen, mit dem kanonischen Recht der englischen Demokratie vergli29 Chung, Chuihua Judy / Inaba, Jeffrey / Koolhaas, Rem / Leong, Sze Tsung (Hg.): Great Leap Farmard. Köln: Taschen 2001, S. 390.

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Umschlag des Heftes der Zeitschrift The Architectural Review 636, Dezember

1949.

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chen, die im Glauben an Individualismus begründet ist. In der Lehre des Malerischen bei Uvedale Price findet de Wolfe den Beweis, dass diese Unterscheidung auch in der gebauten Umgebung möglich sei: »namely a dislike which amounts to an inability to see wholes or principles and an incapacity for handling theory; but on the other hand a passionate preoccupation with independent details, parts or persons, an urge to help them fulfil themselves, achieve their own freedom; and thus, by mutual differentiation, achieve a higher organization.«30 Im Anschluss zur Studie von de Wolfe hat der Redakteur Gordon Cullen sein »Townscape Casebook«, eine Sammlung von Fotos und Skizzen, veröffentlicht, um »die malerische Art der Betrachtung wieder zu beleben, und da Würdigung die erste Voraussetzung für schöpferische Entwürfe ist, eine Basis für eine Umgebung zu schaffen, die sich auf diesen Grundsätzen aufbaut«. 31 Selbst Sittes Platzscheu wird zu einem Elements des Systems der malerischen Betrachtung; Cullen spricht von dem »eye as agoraphobe«. Cullen und de Wolfe führen den Begriff Townscape ein, um eine neue, umfassende Konzeption der Landschaft als »field of vision« vorzuschlagen, die Heterogenes zu einem Gesamtbild verbindet. Sie behaupten, dass das Malerische frei von Ideologien sei, obwohl die Intention klar ist, mit dem Konzept des Malerischen als englische Tradition eine planerische Ideologie der kleinmaßstäblichen Ensembles zu fördern. Solche Darstellungen der politischen Implikationen der malerischen Betrachtung gehen von der Lockerung der zentralen Macht als Voraussetzung aus, was nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Ländern der Habsburgermonarchie nach dem »Ausgleich« von 1867 oder im heutigen China zu »erzwungenen Ungezwungenheiten« führte. Nietzsche verband das Pittoreske mit einer rhetorischen Bildersprache: »die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als dass sie Gründe hört«, schrieb er.32 In der Tat sind populistische Argumente bereits in den Darstellungen des Malerischen als eine dem englischen Nationalcharakter entsprechende Betrachtungsweise bemerkbar. Auch Sitte hat ein »großes nationales Gesamtkunstwerk« als Ergebnis eines »volkstümlichen Zusammenfas-

30 Wolfe, Ivor de: »Townscape«, in: The Architectural Review 636, Dez. 1949, S. 355-362, S. 362. 31 Cullen, G o r d o n : »Townscape Sketchbook«, in: The Architectural Review 636, Dez. 1949, S. 363-374. Zit. aus der deutschen Zusammenfassung. 32 Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Berlin: Nordland Verlag 1941, S. 82.

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5· »Eye as Agoraphobe«: Illustration zum Aufsatz von Gordon Cuiten, »Townscape Sketchbook«.

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sens« aller Künste erwartet.33 Die fatale Verbindung des malerischen Hausrats der Bühnenarchitektur mit einem Städtebau, der die »Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen« verspricht, führt notwendigerweise zum Bilderlebnis als Glücksbringer, was ja vor allem in der shopping mall realisiert wurde. Als malerische Erlebnisarchitekturen, die eine rein retinale, unreflektierte Wahrnehmung verlangen, geraten Pearl River Delta und Sittes Wiener Verbesserungsvorschläge in eine unmittelbare Nähe.

33 Sitte: » G r o ß s t a d t - G r ü n « (s. Anm. n ) , S. 249.

Wolfgang Sonne

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus

Nicht selten wird den Vertretern eines malerischen Städtebaus, als dessen Vater Camillo Sitte angesehen wird, generell eine reaktionäre, antimoderne Haltung unterstellt oder sie werden mit nationalistischen, gar rassistischen Ideologien in Verbindung gebracht.1 Damit gerät eine eigentlich ästhetisch motivierte Frage des Städtebaus in das Fahrwasser politischer Argumentation, aus dessen Sog sie sich kaum mehr zu lösen vermag: Mit dem politischen Verdikt ist scheinbar auch die ästhetische Frage erledigt. Doch inwiefern ist das malerische Ideal tatsächlich mit reaktionären Ideologien verbunden gewesen - und handelt es sich dabei um eine notwendige Verbindung? Die These dieses Beitrags lautet, dass der malerische Städtebau keineswegs notwendig mit antimodernen Intentionen ausgestattet ist. Es handelt sich vielmehr um eine Strategie, die spezifische Missstände einer bestehenden modernen Stadtplanung analysiert und zu beheben trachtet - vor allem die ästhetische Vernachlässigung des Stadtbildes und die Ungefasstheit der Stadträume. Da sie die bestehende Situation mit rationaler Methode zu verbessern sucht - zu einem, laut Sitte, »verbesserten modernen System«2 - , ist sie als genuin moderne Städtebauhaltung zu interpretieren, die allerdings von nahezu jeder politischen Ideologie vereinnahmt werden kann.3

1

So etwa Fehl, Gerhard : Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft. Zum »reaktionären Modernismus« in Bau- und Stadtbaukunst. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1995. 2 Sitte: Der Städtebau, S. 121. 3 Vgl. Frisby, David: »Straight or crooked streets? T h e contested rational spirit of the modern

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: Wolfgang Sonne

Dies möchte ich mit folgender Argumentation aufzeigen. Erstens wird den politischen Intentionen nachgegangen, die Sitte mit seinem ästhetischen Ideal verband - er konzipierte seinen Städtebau als politisch neutrale Strategie. Zweitens werden die nationalistisch-rassistischen Konnotationen untersucht, mit denen das malerisch-kleinstädtische Ideal um 1900 versehen wurde. Drittens werden Positionen um 1900 aufgezeigt, in denen das malerisch-kleinstädtische Ideal dagegen mit emanzipatorischen Ideologien verbunden wurde. Viertens werden Interpretationen der rationalen Großstadt - ästhetisch das zeitgenössische Gegenbild der malerischen Kleinstadt - analysiert, in denen diese ebenfalls reaktionär oder rassistisch konnotiert wird. Fünftens soll ein Abriss der politischen Haltungen zum malerischen Städtebau bis heute das Bild abrunden.

»... im eigentlichsten und höchsten Sinne eine Kunstfrage«. Camillo Sittes ästhetische Konzeption der malerischen Stadt Camillo Sittes malerisch-räumliches Stadtideal orientierte sich vornehmlich an historischen Kleinstädten, wie er es 1889 in seiner epochalen Streitschrift Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen dargestellt hatte.4 Dabei lag ihm vor allem die Raumwirkung geschlossener Plätze am Herzen, eine Qualität, die nicht unbedingt mit dem Attribut des Malerischen erfasst wird. Dennoch wird auch hier der eingebürgerte Begriff des malerischen Städtebaus gebraucht, nicht zuletzt, weil Sitte selbst das Malerische als eine zentrale Qualität seines Stadtideals anführte. 5 Darüber hinaus mag er andeuten, dass Sittes Ideal von den Stadtdarstellungen der Romantik angeregt war und er somit ästhetische Vorstellungen der Malerei auf den Städtebau übertrug.6 Eine Benennung als

metropolis«, in: Whyte, Iain Boyd (Hg.): Modernism and the Spirit of the City. London: Routledge 2003, S. 57-84. 4 Vgl. Collins, George R. / Collins, Christiane Crasemann: Camillo Sitte: The Birth ofModern City Planning. New York: Rizzoli 1986 (2. überarbeitete Ausgabe der Erstauflage von 1965); Wieczorek, Daniel: Camillo Sitte et les debuts de l'urbanisme moderne. Bruxelles, Liège: Pierre Mardaga 1982; Wurzer, Rudolf: »Franz, Camillo und Siegfried Sitte. Ein langer Weg von der Architektur zur Stadtplanung«, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung 35, Nr. 3-5, 1989, S. 9-33; Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden : Vieweg 1998. 5 Sitte: Der Städtebau, S. 56, 114, 116. 6 Vgl. Sonne, Wolfgang: »The entire city shall be planned as a Work of Art. Städtebau als Kunst

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus

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»künstlerischer Städtebau« in Analogie zu Sittes Buchtitel würde alle anderen zeitgenössischen Bestrebungen als unkünstlerisch disqualifizieren, was weder den Großstadtvorstellungen eines Otto Wagner oder Karl Scheffler noch den Intentionen des City Beautiful Movement gerecht würde. Die begriffliche Neuschöpfung eines »räumlichen Städtebaus«, die das Interesse Sittes und seiner zahlreichen Nachfolger sicher am ehesten treffen würde, böte jedoch noch mehr Anlass zu Missverständnissen; denn welcher Städtebau ist nicht räumlich? So sei im Bewusstsein gehalten, dass das Malerische hier nicht die gesamte Bandbreite des »picturesque« umfasst und dass nicht alle Bemühungen um malerische ι. Hans Bernoulli: Malerische Straße am Beispiel einer nordeuropäischen Stadt. Illustration in der Vielfalt sich auf Sitte berufen können. französischen Ubersetzung von Sittes Städtebau Es ist vielmehr das am kleinstädtivon Camille Martin. schen Maßstab orientierte Streben nach gefassten Stadträumen gemeint, die abwechslungsreich sein sollen. Sitte selbst verband mit seinem ästhetischen Ideal keine expliziten politischen Vorstellungen. Keine Äußerung im Buch oder in städtebaulichen Artikeln benennt explizit politische Motive oder Deutungen. Auch die Auswahl seiner Beispielstädte lässt sich nicht politisch - etwa deutsch-national - deuten: In seiner Schrift untersucht er vor allem italienische Städte, denen er dann noch ein gesondertes Kapitel zu nordeuropäischen Städten beigibt. Auch ist er keineswegs auf ein irgendwie national interpretierbares Mittelalter fixiert, sondern untersucht Beispiele von der Antike bis ins 19. Jahrhundert mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Renaissance und Barock. So vermag der jüngste Versuch, die im frühen modernen Urbanismus 1890-1920«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 66, Nr. 2, 2003, S. 207-236.

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Absenz slawischer Beispiele politisch als Ausdruck deutsch-nationaler Reichsideologie zu deuten7, nicht zu überzeugen: Die »Grand Tour« des Kunstliebhabers führte nun einmal nach Italien und seinen Renaissancevorbildern - welche slawischen Beispiele hätten da konkurrieren sollen? Besonders vor dem Hintergrund der - wie wir sehen werden - alles andere als zurückhaltenden politischen Beschwörungen der städtischen Form erweist sich Sittes politische Abstinenz als eloquentes Schweigen. Diese ostentative Absenz politischer Konnotationen in Sittes städtebaulichen Schriften macht deutlich, worum es ihm ging: nicht um irgendeine national-chauvinistische Kulturbeschwörung, sondern um eine praktische Verbesserung der städtischen Form. Denn dafür - so Sitte - »dürfte der Städtebau nicht blos eine technische Frage, sondern müsste im eigentlichsten und höchsten Sinne eine Kunstfrage sein«. 8 Hierin liegt auch die Modernität seines Ansatzes begründet. Weder hängt er nostalgisch an den verklärten Bildern irgendeiner Vergangenheit, noch träumt er von der Wiederherstellung eines verlorenen Zustandes. Im Gegenteil : Mit dem geschärften Blick des Kunstkritikers observiert er die aktuellen Tendenzen seiner Zeit und versucht, durch an Vorbildern gewonnene Gestaltungsgesetze die moderne Stadtplanung zu verbessern. Irrefuhrend mag dabei sein Verdikt gegen »moderne Systeme« und »Modernität« generell wirken, das seine gesamte schriftstellerische Tätigkeit durchzieht. Damit kritisiert er lediglich die in seinen Augen ungenügenden zeitgenössischen Tendenzen bzw. das unbedingte Streben nach Neuheit, lehnt jedoch keineswegs die modernen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände ab. Diese bilden explizit die Grundlage auch seiner künstlerischen Bestrebungen, die auf eine Verbesserung der Künste abzielen. Als Mittel dazu dient ihm die Untersuchung der Geschichte: nicht um sie zurückzuholen oder zu kopieren, sondern um mit den aus ihr erlernten Prinzipien eine neue Tradition der qualitätsvollen Gestaltung in Gang zu setzen.

7 Herscher, Andrew: »Städtebau as Imperial Culture. Camillo Sitte's Urban Plan for Ljubljana«, i n : Journal ofthe Society of Architectural Historians 62, N r . 2, 2 0 0 3 , S. 2 1 2 - 2 2 7 .

8

Sitte : Der Städtebau, S. 2.

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»... urdeutschem Wesen entspringende Bestrebungen«. Nationalistische und rassistische Interpretationen der malerischen Kleinstadt So wenig Sitte politische Ansichten in sein ästhetisches Ideal hineinlegte, so sehr betrieb sein Umfeld die national-politische Aufladung des an der Kleinstadt orientierten malerischen Stadtideals. Es waren Sittes Mitstreiter und Nachfolger, die seine ästhetischen Ideale auch mit politischen Argumenten verfochten. Sie beschränkten den Vorbilderkreis vor allem auf Deutschland und das Mittelalter und verbanden den malerischen Städtebau vor allem mit deutsch-nationalen Intentionen. Allen voran war es der Aachener Städtebauer Karl Henrici, der einen »Kampf um deutsches Wesen im deutschen Städtebau«9 führte. Schon 1889, unter dem frischen Eindruck der Lektüre von Sitte, wollte er im Städtebau »fremde Ideen abschütteln« und »deutsche Eigenart einführen«. 10 Denn, so äußerte er in einem Vortrag 1891, heutiger Städtebau beruhe »nicht auf gesunder Entwicklung, sondern auf ganz fremden Beeinflussungen«. 11 Unter diesen fremden Beeinflussungen verstand er die rationalen und rechtwinkligen Stadtanlagen der italienischen Renaissance und des französischen Barock, denen er die gemütvolle und unregelmäßige deutsche Stadt des Mittelalters gegenüberstellte. In seinen »Gedanken über das moderne Städtebausystem« von 1891, die vor allem gegen seinen ehemaligen Kollegen Joseph Stübben gerichtet waren, fragte er rhetorisch : »Ist es wirklich nötig, dass diese auf das Malerische gerichteten, urdeutschem Wesen entspringenden Bestrebungen den Platz räumen müssen für undeutsche, italienische oder französische Art, weil diese besser passt zu dem ebenfalls undeutschen modernen Städtebausystem?«12 Einen beispielhaften Entwurf einer deutschen Großstadt nach malerischen Prinzipien legte Henrici 1893 mit seinem Wettbewerbsentwurf für München vor, mit dem er einen der vier ersten Preise errang. Dabei unterteilte er die Stadt in einzelne Quartiere, in denen jeweils ein dominierendes Zentrum mit 9 Henrici, Karl: Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau. Eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen. München: Callwey 1904, S. 1. Vgl. Curdes, Gerhard / Oehmichen, Renate (Hg.): Künstlerischer Städtebau um die Jahrhundertwende. Der Beitrag von Karl Henrici. Köln: Stuttgart 1981; Zucconi, Guido (Hg.): Camillo Sitte e suoi interpreti. Mailand: Franco Angeli 1992. 10 Zit. nach Fehl 1995 (s. Anm. ι), S. 99. 11 Henrici 1904 (s. Anm. 9), S. 15. 12 Henrici, Karl: »Gedanken über das moderne Städtebau-System«, in: Deutsche Bauzeitung 25, 1891, S. 81-83, S. 81.

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E N T W U R r Z U R STADTERWEIÌERUNS VON Κ

MÜNCHENS

HENRiCÍ

W i l a g l . A v p „ u > r Münchs» IS •

i. Karl Henrici: München, Qmrtiersplatz, 1893.

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3. Karl Henrici: München, Quartiersplatz, Zeichnung von Friedrich Pützer, 1893.

öffentlichen Bauten den Blickpunkt der zulaufenden Straßen bildete. Um diese bildhafte Wirkung zu unterstreichen, gab er dem Plan eine Reihe von perspektivischen Ansichten bei, die der Architekt Friedrich Pützer für ihn gezeichnet hatte. Diese fiktive Flaneurperspektive verdeutlichte, was der Ausgangspunkt für Henricis Stadtplanung war: das wahrnehmende Individuum. Dass diese Stadträume für das Individuum einen spezifisch nationalen Charakter erhalten und es somit im Stadtraum gleichsam in der Volksgemeinschaft aufheben sollten, äußerte er im Vorwort seiner Erläuterungen: Sein Plan solle »dazu beitragen, dass der auf realer Grundlage beruhende Idealismus, der unserm Volkscharakter eigenthümlich ist, auch im Städtebau wieder aufblühe und gefördert werde«. Dazu wolle er alte Stadtbilder so verwerten, »dass nationale Eigenart dabei zum Ausdruck kommt«. 13 Dabei verband er spezifische Formen mit politischen Bedeutungen, so beispielsweise die krumme Straße mit dem Nationalen, wenn er im Erläuterungsbericht zustimmend Moltke zitierte : »Die von dem Terrain vorgezeichnete krumme Straße ist schöner als die nach dem Lineal 13 Henrici, Karl : Preisgekrönter Konkurrenz-Entwurf zu de)· Stadterweiterung Münchens. München : Werner 1893, Vorwort.

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angelegte gerade, die wirklich nationale Tracht schöner als der nivellierende Frack.« 14 Das spezifisch Nationalistische der kleinstädtischen Richtung war von der ebenso wirkungsvollen wie kruden Mischung angeregt und verbreitet, die der Schriftsteller Julius Langbehn in seinem viel gelesenen Pamphlet »Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen« 1890 zubereitet hatte.15 Darin hatte er den deutschen Volkscharakter vor allem aus Individualismus, Persönlichkeit und Innerlichkeit zusammengemischt. Das Gemütvolle, Individuelle, das sich in den alten Städten finden ließ, konnte somit als typisch deutsch gelten. Genau dies meinte Karl Henrici, wenn er in der Deutschen Bauzeitung 1891 einen Artikel über »Individualismus im Städtebau«16 publizierte, in dem er der individuellen Gestaltung einzelner Teile der Stadt den Vorrang vor der Uniformität gab. Das Beispiel München nutzte auch der österreichische Kunstschriftsteller Joseph August Lux, um seine Vorstellung einer aus dem Volkstümlichen erwachsenden Kunstreform zu erläutern. Für ihn entstand der malerische Städtebau mit seinen Zufälligkeiten, Unregelmäßigkeiten und seinem Spielraum für den Einzelnen aus der Rasse, wie er es in einem Artikel der Zeitschrift Städtebau 1909 erklärte: »Aber diese Volkstümlichkeit, mit der in München auch die künstlerischen Fragen behandelt werden, ist wieder ein Stück der örtlichen Art. Sie wurzelt in der Rasse und kann nicht eigens als Rezept verschrieben werden.« 17 So hatte er auch schon in seinem kulturkritischen Band zum Städtebau von 1908 auf »die künstlerischen Instinkte des Volkes« 18 gebaut, damit gegen die Verfehlungen des Historismus endlich wieder eine »aus dem Leben der Nation herauswachsende Baukunst« 19 entstehe. Als ebenso pointierter wie einflussreicher Vertreter einer kleinstädtisch-konservativen Haltung kann der thüringische Architekt Paul Schultze-Naumburg angesehen werden, der in seinen viel gelesenen - bzw. viel besehenen - Bänden der »Kulturarbeiten« ab 1901 traditionelle deutsche Baukunst gegen moderne 14 Ebd., S. 14. 15 Vgl. Oechslin, Werner : »Politisches, allzu Politisches... : >NietzschelingeWille zur Kunst< und der deutsche Werkbund vor 1914«, in: Hipp, Hermann / Seidl, Ernst (Hg.): Architektur ais politische Kultur. Philosophiapractica. B e r l i n : R e i m e r 1996, S. 1 5 1 - 1 9 0 . 16 H e n r i c i 1904 (s. Aran. 9), S. 58-84.

17 Lux, Joseph August: »München als Städtebaubild«, in: Oer Städtebau 6, 1909, S. 81. 18 Lux, Joseph August : Der Städtebau und die Grundpfeiler der heimischen Bauweise. Dresden : Kühtmann 1908, S. 58. 19 Ebd., S. 116.

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historistische Architektur beschwor. Im Band über Städtebau von 1906 galt ihm als der »Moloch unserer Zeit: die Grossstadt« 20 , wogegen das »Glück der Rasse« 21 sich in kleinen Städten verwirkliche. Dabei war ihm die Trennung von Wohnen und Arbeiten, wie sie in der Großstadt durch die Trennung von Gartenvorstadt und City stattfand, aus sozialen Gründen suspekt: »Ich bin nicht davon überzeugt, dass diese dauernde und immer mehr um sich greifende Trennung von Familie und Wirkungskreis zum erhöhten Glück der Menschheit beitragen würde, dass ein immer mehr nivellierendes Genossenschaftswesen der Weg ist, der die Menschheit zu höchsten Höhen hinaufführen kann.«22 Sein kleinstädtisches Ideal stand in enger Verbindung mit einem konservativen, auf der Familie gegründeten Gesellschaftsideal. Eine Zuspitzung des Gegensatzes zwischen regelmäßiger und malerischer Stadtform von einer nationalen Kulturfrage zu einer »Rassenfrage« betrieb der Architekt und Bauhistoriker Walter Mackowsky 1908 in einem Aufsatz der Zeitschrift Städtebau. Unterschiedliche Stadtformen waren für ihn die Folge unterschiedlicher Rassen: »An Hand der geschichtlichen Entwicklung findet er [der Historiker], dass die verschiedenen Erscheinungen im Städtebau auf eine Rassenfrage zurückzuführen sind : Wir können immer zwei Arten des Städtebaus unterscheiden, eine romanische und eine germanische. Aus der ersten, mit starren und regelmäßigen Formen spricht der mathematische und schematische Geist des Römers, aus der anderen der von aller Regelmäßigkeit abgewandte und individuell angelegte Sinn des Deutschen.«23 Unregelmäßigkeit und Individualität lagen für ihn nicht nur in der Form, sondern auch im Charakter, und beides fand im Germanentum seine Begründung. Das Vorkommen gerader Straßen auch in deutschen Stadtplanungen wurde dabei schlicht als fremder Einfluss abgetan: »Die Geradlinigkeit der Strassen ist ein aus dem klassischen Altertum und dem Orient entnommener, den Germanen fremder Gebrauch. Das nach der Zeit der Gründungen, also im späten Mittelalter allgemeine Verfallen zum Prinzip der krummen Strassen, und nicht zuletzt die heute wieder so leb20 Schultze-Naumburg, Paul: Städtebau. (= Kulturarbeiten, Bd. 4). München: Callwey, KunstwartVerlag 1906, S. 6. Vgl. Borrmann, Norbert: Paul Schultze-Naumburg 1869-1949. Maler - Publizist -Architekt. Vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kulturpolitiker im Dritten Reich. Essen : Bacht 1989. 21 Schultze-Naumburg 1906 (s. Anm. 20), S. 15. 22 Ebd., S. 3-4. 23 Mackowsky, Walter: »Die geschichtliche Entwicklung des Stadtplanes«, in: Der Städtebau j , 1908. Heft 3, S. ii){; Heft 4, S. 45-47; Heft 5, S. 73-77.

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haft dafür geäusserten Bestrebungen sind ein Beweis hierfür. Wenn im Zeitalter der Renaissance und des Barock noch einmal die gerade Strasse aufkommt, so war es auch wieder ein klassischer Einfluss, der die deutsche Entwicklung des Stadtbildes noch einmal durchkreuzte.«24 Sein Ziel war nun, solche Durchkreuzungen in Zukunft zu verhindern und einen reinrassig germanischen Städtebau zu befördern. Dieser entsprach dem malerisch-kleinstädtischen Ideal, wie es Sitte formuliert hatte und das auf diese Weise eine extreme Politisierung erfuhr. N u r weil sie in fast karikierender Radikalität die Verbindung von Großstadtfeindschaft und nationalkonservativer Einstellung offenbaren, seien hier noch die Äußerungen des Arztes Franz Oppenheimer wiedergegeben, die er im Vorwort zur Publikation der Gartenstadt Staaken bei Berlin von Paul Schmitthenner niederlegte. Diese ganz nach den Prinzipien des kleinstädtisch-malerischen Städtebaus 1914-17 errichtete Anlage galt ihm als Heilmittel gegen die Krankheiten, welche die Großstadt angerichtet hatte : »Die Statistik zeigt uns in der fürchterlich zunehmenden Wehruntauglichkeit der Männer und der Stillunfähigkeit der Frauen, in der Skrofulöse und der Rachitis der Kinder - die wieder Β ecken enge und schwere Geburten verursacht - die Folgen dieses widernatürlichen Systems. Das fuhrt uns weiter zum volksethischen Gesichtspunkt. Rachitis erzeugt auch Schädelenge und alle Stufen der geistigen Minderwertigkeit von der vollkommenen Idiotie aufwärts zur moral insanity. [...] Die Grossstadt ist ferner vom Standpunkt der Politik aus schwer gefährlich. Sie ist überall der Sitz des verstiegensten Radikalismus.« 25 Nichtradikale, das heißt nichtsozialistische kampffähige Männer und geburtenfreudige Frauen waren die Protagonisten seiner guten Gesellschaft. Dafür diente die hygienische, nach malerischen Prinzipien errichtete Siedlung, denn mit Blick auf die unhygienische Großstadt und die Wirkung des Weltkrieges konstatierte er: »Die deutsche Rassenkraft ist ernstlich bedroht.« 26 Und verordnete entsprechend eine »Volkskur in Luft und Sonne !«27 Es gab also in der deutschen Diskussion um den Städtebau eine Richtung, in der eine national-konservative und teilweise rassistisch gefärbte Einstellung direkt mit den Prinzipien eines malerischen Städtebaus verbunden wurde. Seine Gestaltungsweisen, vor allem der historischen Kleinstadt in Deutschland abge-

2 4 E b d . , S. 7 7 . 2 5 S t a h l , F r i t z : Die Gartenstadt Staaken von Paul Schmitthenner. 2 6 E b d . , S. 5. 2 7 E b d . , S. 6.

B e r l i n : W a s m u t h 1 9 1 7 , S. 3 - 4 .

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•f Paul Schmitthenner: Marktplatz der Gartenstadt Staaken, 1914·

schaut, waren eine unregelmäßige Gesamtanlage, meist geschwungene Straßen, kurze Blickachsen mit Abschluss, geschlossene Straßen- und Platzräume, zusammenhängende Bebauung, Asymmetrie in der Verteilung der Baukörper, Diversität der Einzelbauten sowie Verwendung regionaler Bauweisen bzw. -elemente. Diese Mittel sollten zu einem Stadtbild fuhren, das in seiner Überschaubarkeit und in seiner Orientierung am Vorhandenen ein Heimatgefühl und ein Gefühl der Vertrautheit vermittelte. Diese durch die Protagonisten des malerischen Städtebaus verbreiteten Ansichten fanden schließlich auch ihren Niederschlag in wertneutralen oder gar kritischen Analysen. So legte etwa der Architekturtheoretiker Robert Breuer 1 9 1 1 in seinem Aufsatz »Der Städtebau als architektonisches Problem« den Entwurf einer Typenlehre vor, in der Stadtformen durch Politik motiviert waren. Architektur verstand er als genuines Ausdrucksmittel politischer Verhältnisse: »Architektur ist festgewordene Macht; Architektur ist die Materialisation sozialer Herrschaft.«28 Seinem Text gab er eine Reihe von Illustrationen aus der Geschichte des Städtebaus bei, in denen er bestimmte Stadtformen zeigte und 28 Breuer, Robert: » D e r Städtebau als architektonisches Problem«, in: Kunstgewerbeblatt, N.F., Bd. 22/11, 1911, S. 201-213, S. 201.

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Roben Breuer: Der Große Markt zu Nürnberg, 1911.

diese mit erläuternden Bildunterschriften politischen Systemen zuordnete. Den Marktplatz von Nürnberg deutete er als »die architektonische Form für die Verschlossenheit des deutschen Bürgertums. Die Zugänge sind kaum zu spüren. Der Platz wird als allseitig umkapselter Raum empfunden.« 29 Sittes »Geschlossenheit der Plätze« wird hier kurzgeschlossen mit der »Verschlossenheit des deutschen Bürgertums« und erhält damit eine spezifisch national-soziale Konnotation. Das Schloss von Versailles sprach eine ebenso klare, aber formal wie politisch gegensätzliche Sprache : »Die Grossräumigkeit des Platzes und die repräsentative achsiale Disposition sind die architektonische Form für das Sonnenkönigtum.« 30 Die Stadtanlage von Mannheim galt ihm ebenfalls als politisch konsequente Form: »Rechtwinklige Strassenführung. Die ganze Stadt vom Schloss aus disponiert. Typus für die durch den Willen des Fürsten geschaffene Städtebildung.« 31 Dagegen bildete der dortige Paradeplatz politisch wie gestalterisch 29 Ebd., S. 202. 30 Ebd., S. 204. 31 Ebd., S. 205.

6. Robert Breuer: Stadtinneres von Rothenburg,

η. Robert Breuer: Der Paradeplatz in Mannheim.,

IÇII.

IÇII.

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eine Mischform: »Typus des aufgeklärten Absolutismus. Diktiert vom Willen des Fürsten, belebt durch ein starkes, arbeitsames Bürgertum. Die Illusion der geschlossenen Raumwirkung, obgleich alle Zugänge weit geöffnet. Die perspektivische Absicht schliesst den Platz durch einen repräsentativen, optischen, gesteigerten Gesichtspunkt.«32 Die Verbindung geometrisch-großräumiger Planungen mit französisch-absolutistischen Inhalten sowie die Verbindung malerisch-kleinteiliger Planungen mit deutsch-bürgerlichen Inhalten hat hier die Stufe einer sich objektiv gebärdenden wissenschaftlichen Darstellung erreicht. Ahnliches lässt sich auch, wenngleich mit tiefgreifenderer Analyse und kritischerer Haltung versehen, in der zeitgenössischen Philosophie und Soziologie finden. Fundamental ist die psycho-soziologisch und politisch aufgeladene Unterscheidung zwischen Großstadt und Kleinstadt, die Georg Simmel in seinem epochalen Vortrag »Die Grossstädte und das Geistesleben« 1903 in Dresden auf der ersten Deutschen Städteausstellung ausführte. Dort baute er die Kleinstadt als gegensätzliche Folie auf, vor deren Hintergrund er den Großstadtcharakter analysierte. Der Kleinstadt mit ihrer malerischen Kleinräumigkeit und ihrer sozialen Uberschaubarkeit attestierte er dabei ein kleinstädtisches Seelenleben, »das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmässige Beziehungen gestellt ist«.33 Dort herrsche ein »langsamerer, gewohnterer, gleichmässiger fliessender Rhythmus«, der Bewohner sei an Gruppenwerte gebunden und könne sich innerhalb der Gemeinschaft als Individuum vor allem mit Hilfe des Gemüts orientieren. Während die Großstadt mit ihrer Geldwirtschaft, Rationalität, Anonymität und Hektik, die zur »Steigerung des Nervenlebens« und schließlich zur »Blasiertheit« führt, zum lokalisierten Motor der Modernität wird, gerät die Kleinstadt zum Hort des Konservativen. Doch Simmeis Interpretation zielte keinesfalls auf die Propagierung eines zukünftigen idealen Zustandes, noch war sie völlig eindeutig. Wenn er 1903 die beiden Stadttypen auch eindeutig politisch charakterisierte, so hatte er die für sie typischen Gestaltungsweisen wenige Jahre zuvor geradezu entgegengesetzt interpretiert. In seinem Aufsatz über »Soziologische Ästhetik« von 1896 bemerkte er zur großstadttypischen rationalen Form: »Die Tendenz zur Symmetrie, zu gleichförmiger Anordnung der Elemente nach durchgehenden Prinzi-

32 Ebd., S. 205. 33 Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-11)08, Hg. von Rüdiger Rramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt (= Gesamtausgabe, Bd. 7). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131, S. 116.

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus : 7 7

pien ist nun weiterhin allen despotischen Gesellschaftsformen eigen.« 34 Die kleinstädtisch gemütvolle Form - im Anklang an Sittes malerischen Städtebau mit seinem Verdikt gegen modische Symmetrie - glaubt man dagegen vor Augen zu sehen, wenn Simmel meint, es sei »die liberale Staatsform umgekehrt der Asymmetrie zugeneigt«. 35 34 Simmel, Georg: »Soziologische Ästhetik«, in: Oers.·. Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Hg. von Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby (= Gesamtausgabe, Bd. 5). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 197-214, S. 203. 35 Ebd., S. 204. Vgl. Nerdinger, Winfried: »>Ein deutlicher Strich durch die Achse der Herrschern

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Tatsächlich kritisierte Simmel beide vorhandenen Typen und suchte nach einem Stadtideal, in dem Individuum und Masse »organisch« zu einer »Einheit« verwachsen waren. Simmel selbst hatte die Kategorien der Einheitlichkeit und organischen Zusammengehörigkeit an den historischen Städten Italiens entwickelt. Allen voran Rom, gefolgt von Florenz, galt ihm als Inbegriff der einheitlichen Stadt, die die in ihr vorhandene Vielheit zu einem organischen Ganzen transformiert. In seinem Aufsatz »Rom. Eine ästhetische Analyse« schrieb er 1898 Rom »schöne Ganzheit«, »Einheit, Abgestimmtheit und Zusammengehörigkeit« sowie »eine völlige, organische Einheit des Eindrucks« zu.36 »Vermöge der Einheitlichkeit, in die Rom alle seine Elemente hineinwachsen lässt, wird das Ganze mit jedem seiner Elemente solidarisch, hinter dem einzelnen steht das ganze Rom.« 37 Genau diese Kategorien sollten um 1900 von den Apologeten der Großstadt - dem Antityp zur malerischen Kleinstadt - als Forderungen an deren Gestaltung formuliert werden.38 Wo die zeitgenössische Großstadt durch Reizüberflutung und Zusammenhangslosigkeit enttäuschte, entschädigte die historische Altstadt mit Einheitlichkeit und organischem Zusammenhang. Ebendiese Qualitäten sollte die reformierte Großstadt der Zukunft aufweisen. So handelt es sich hier um die Geburt der modernen Großstadt aus dem Geist der traditionellen Altstadt, methodisch kaum unterschieden von den Altstadtuntersuchungen Sittes, die ihn wiederum zur Konzeption des malerischen Stadtraums führten. Welche Richtung im frühen modernen Urbanismus auch immer vertreten wurde, die Städtebaugeschichte war allemal reich genug, um ihr als Inspiration und Geburtshelfer zu dienen.

Diskussion um Symmetrie, Achse und Monumentalität zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik«, in: Schneider, Romana / Wang, Wilfried (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Stuttgart: Hatje 1998, S. 87-99, bes. S. 87. 36 Simmel, Georg: »Rom. Eine ästhetische Analyse«, in: Otts.·. Aufsätze und Abhandlungen içoo. Hg. von Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby (= Gesamtausgabe, Bd. 5). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 301-310, S. 302Í 37 Ebd., S. 308. 38 Sonne, Wolfgang: Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century. München, London, New York: Prestel 2003, S. 123-129.

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9. Richard Riemerschmid: Marktplatz in Hellerau, 1909.

»Not even the poor can live by bread alone«. Die Schönheit der malerischen Stadt als ästhetischer oder emanzipatorischer Wert Dass innerhalb bestimmter Kreise in Deutschland eine Verbindung zwischen malerischer Stadtform und national-konservativer Ideologie bestand und somit auch die Anlage einer malerischen Stadt durchaus als politisches Statement verstanden werden konnte, heißt jedoch keineswegs, dass malerischer Städtebau notwendig, das heißt immer und überall, national-konservativ konnotiert ist. Schon Theodor Fischer trennte 1903 zwischen formalen und sozialen Prinzipien: »Gliederung der Massen nach Herrschendem und Beherrschtem ist eines der wichtigsten Kunstmittel im Städtebau. Gleichheit halten viele im Leben für eine schöne Sache; in der Kunst bedeutet sie die entsetzlichste Oede, unsere modernen Städte beweisen das zu Genüge.« 3 9 Politische Qualitäten müssen nicht notwendig auch ästhetische Qualitäten sein, und umgekehrt: eine Einsicht, die angesichts der Suggestivkraft verbaler Identität (auf wen wirkt etwa die Analogie von freier Anordnung und freiem Verhalten nicht unmittelbar überzeugend) immer wieder errungen werden muss. Doch malerische Kompositionsweisen der Stadt konnten selbst um 1900 mit ganz anderen gesellschafdichen und politischen Ideen verbunden werden. Vor allem Teile der Gartenstadtbewegung verbanden ihre progressiv-sozialrefor39 Fischer, T h e o d o r : Stadterjveitenmgsfragen mit besonderer Rücksicht aufStuttgart. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1903, S. 8.

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merischen Ansätze mit dem malerischen Stadtideal. Selbst in Deutschland, wo die Gartenstadtbewegung auch völkisch-bodenständige Züge entwickelte, konnte die malerische Gartenstadt als bewusster Ausdruck von Reformideen wie etwa in der von Richard Riemerschmid 1908 geplanten Gartenstadt Hellerau oder als Ausdruck eines idealen Sozialismus wie etwa in der von Bruno Taut 1913 geplanten Gartenstadt Falkenberg gedacht sein.40 Schaut man über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus, so wird die progressiv-emanzipatorische Konnotation des malerischen Städtebaus noch offensichtlicher. Vor allem 10. Raymond Unwin: An imaginary irregular town, in England, wo Ebenezer Howard die 1909. Garden City 1898 vor allem als genossenschaftliches Reformmodell entwickelt hatte, war mit den Planungen von Letchworth Garden City 1903 und Hampstead Garden Suburb 1905, beide von Barry Parker und Raymond Unwin, die malerisch-kleinstädtische Anlage sozial progressiv konnotiert.41 Unwin selbst machte in seinem Hauptwerk Town Planning in Practice von 1909 aus dem Streit um »formal and informal beauty« keine Glaubensfrage, verband jedoch die informelle Gestaltung mit dem Vorteil, den Wünschen der Bewohner besser entsprechen zu können: »town planning to be successful must be largely the outgrowth of the circumstances of the site and the requirements of the inhabitants.«42 Damit war eine Verbindung zwischen ma-

40 Bollerey, Franziska / Fehl, Gerhard / Hartmann, Kristiana (Hg.): Im Grünen -wohnen - im Blauen planen. Ein Lesebuch zur Gartenstadt mit Beiträgen und Zeitdokumenten. Hamburg: Christians 1990. 41 Howard, Ebenezer: To-morrow. A Peaceful Path to Real Reform. L o n d o n : Swan Sonnenschein 1898; 2. Auflage: Garden Cities of To-morrow. London: Swan Sonnenschein 1902; Ward, Stephen V. (Hg.): The Garden City. Past, Present and Future. London: Spon 1992. 42 Unwin, Raymond : Town Planning in Practice. An Introduction to the Art of Designing Cities and Suburbs. 7. Auflage, London: T. Fisher Unwin 1920 (Erstveröffentlichung 1909), S. 128.

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lerischer Gestaltung und der Verwirklichung von Bürgerinteressen hergestellt, die auch das erste Kapitel des Buches Of Civic Art as the Expression of Civic Life durchzog. Gar einen sozialreformerischen Anklang erhielten seine Ausführungen, wenn er sein Plädoyer fur urbane Schönheit mit dem emphatischen Satz unterstrich: »Not even the poor can live by bread alone.«43 Auch internationale Bestrebungen zur Bewahrung des historischen Kontextes von Monumenten gingen konform mit Sittes Stadtideal und waren keineswegs politisch motiviert. So lenkte etwa der Brüsseler Bürgermeister Charles Buls mit seinem Bändchen Esthétique des villes 1893 das Augenmerk auf den baulichen Zusammenhang der Stadt als Quelle ihrer Schönheit.44 Seine Forderung nach der Bewahrung der Einbindung der Monumentalbauten war eine Reaktion auf die »Haussmannisation« Brüssels mit ihrer Anlage von Boulevards und Freistellung von Monumenten nach Pariser Vorbild und ist schon deshalb unmittelbar mit Sittes Reaktion auf die Anlagen der »Ringstrassenära« in Wien vergleichbar. Auch das Resultat - die Forderung nach baulichem Zusammenhang als ästhetischem Ideal ohne politische Obertöne - ist nahezu identisch. In Italien fielen wiederum Sitte und vor allem Buls, der früher als jener ins Italienische übersetzt wurde, auf fruchtbaren Boden und fanden in den Schriften Gustavo Giovannonis ihren Niederschlag. Dieser forderte 1913 einen angemessenen Umgang mit den Altstadtquartieren und entwickelte - anstelle von Kahlschlagsanierungen - die Technik des »diradamento«, der Entkernung historischer Blöcke unter Beibehaltung ihrer stadtraumbildenden Fassaden.45 Seine Strategie zur Modernisierung der Altstadt basierte dabei ebenfalls auf dem ästhetischen Ideal des baulichen Zusammenhangs, ohne politische Ideologien damit zu vermischen. Im malerischen Städtebau in Europa um 1900 lässt sich also ohne weiteres neben der national-konservativen Konnotation sowohl eine politisch neutrale wie auch eine sozial-emanzipatorische Interpretation finden. Selbst innerhalb 43 Ebd., S. 4. 44 Buls, Charles: Esthétique des villes. Brüssel: Bruyland-Christople 1893 (dt.: Ästhetik der Städte. Ubersetzt von Ph. Schäfer. 2. Auflage, Glessen: E. Roth 1898). Vgl. Smets, Marcel: Charles Buls. Les principes de l'art urbain. Liège: Mardaga 1995. 45 Giovannoni, Gustavo : »Vecchie città ed edilizia nuova. Il quartiere del Rinascimento in Roma«, in: Nuova Antologia. Bd. 48/995, 1913, S. 449-472; Ders.: »II d i r a d a m e n t o edilizio< dei vecchi centri. Il quartiere della Rinascenza in Roma«, in: Nuova Antologia. Bd. 48/997, 1913, S. 53-76. Vgl. Zucconi 1992 (s. Anm. 9); Ders. (Hg.): Gustavo Giovannoni. Dal capitello alla città. Mailand: Jaca Book 1997.

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einer Epoche waren die Stadtformen keineswegs eindeutig kodiert; sie waren vielmehr den Prägungsabsichten ihrer Anwender schutzlos ausgeliefert.

»... aristokratisch gegliederte Form«. Konservative und rassistische Vorstellungen hinter der rationalen Großstadt Als Probe auf die vorgefundene Unverbindlichkeit der politischen Bedeutung von Stadtformen sei hier kurz das zeitgenössische Gegenbild des malerischkleinstädtischen Städtebaus, die technisch-rationale Großstadt, untersucht. Diese wurde von ihren Protagonisten - seien es Otto Wagner in Wien oder Karl Scheffler in Berlin, Hendrik Petrus Berlage in Amsterdam oder Daniel Hudson Burnham in Chicago - stets als international und demokratisch gepriesen.46 Sie wurde als Ausdruck der Weltwirtschaft mit ihren Tendenzen zur Standardisierung und Monopolisierung verstanden, wie sie sich tatsächlich im aufkommenden Fordismus abzeichneten. Sie galt in dem Sinne als Ausdruck der Demokratie, als sie die gleichen Bedürfnisse der Massen befriedigte. Man hielt sie für modern, da sie die Anforderungen der Zeit in ökonomischer, politischer und technischer Hinsicht erfüllte. Nicht nur in politischer Hinsicht verkörperte sie somit das Gegenteil der national-konservativen Kleinstadt, sondern auch in gestalterischer Hinsicht. Denn die Merkmale dieser international verbreiteten großstädtischen Richtung waren, neben der einheitlichen Bebauung des Blocks und der Einheitlichkeit des Gesamtstadtbildes, die gleiche Höhe der Bebauung, die unendliche Ausdehnbarkeit in der Fläche, der bauliche Zusammenhang, in den oftmals auch die öffentlichen Monumentalbauten formal integriert waren, die Einfachheit der Fassaden mit nur zurückhaltender Ornamentik, die Achsen meist ohne points de vue, der Stadtgrundriss als rationale Rasteranlage, aber auch als Anlage mit weitläufig geschwungenen Straßen und schließlich im Ganzen eine Großzügigkeit im Charakter. 46 Berlage, Hendrik Petrus: »Bouwkunst en Impressionisme«, in•. Architectura 2, 1894, S. 93-95, S. 98-100, S. 10J-106, S. 109-110; Scheffler, Karl: »Ein Weg zum Stil«, in: Berliner Architektur•uielt 5, 1903, S. 293-295; Wagner, Otto: Die Grossstadt. Wien: Schroll 1 9 1 1 ; Burnham, Daniel Hudson : »A City of the Future under a Democratic Government«, in : Royal Institute of British Architects (Hg.): Town Planning Conference. London, 10-15 October 1910. Transactions. London: Royal Institute of British Architects 1 9 1 1 , S. 368-378; Scheffler, Karl: Die Architektur der Grossstadt. Berlin: Cassirer 1913; vgl. auch Sonne 2003 (s. Anm. 38).

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Doch auch dieses dezidierte Leitbild konnte durchaus reaktionär aufgeladen werden. So verband etwa der Kunstkritiker Karl Scheffler - generell ein Apologet der einheitlichen Großstadtarchitektur und ihrer Interpretation als eines demokratischen Massenphänomens - in seinem Buch Berlin. Ein Stadtschicksal von 1910 dieses Stadtideal mit konservativen politischen Vorstellungen, indem er die Analogie des Organismus in einem hierarchischen Sinn verwendete. Wenn er einerseits in formaler Hinsicht einen »Stadtkörper« forderte, der »klar gegliedert« sei,47 und andererseits in politischer Hinsicht gegen die »ansteckende Krankheit« der »demokratisch kapitalistischen Gleichheitsidee« wetterte, die »an Stelle des gegliederten Standesbewusstseins« getreten sei,48 so wird deutlich, welche politischen Vorstellungen hinter der organischen Großstadt unter dem Stichwort der »Gliederung« standen. Es war der Wunsch nach traditioneller hierarchischer Ordnung sowohl in der Stadt als auch in der Gesellschaft. Erst diese Ordnung hatte - so Schefflers Meinung - auch die feine Geschmacksbildung der aristokratischen Schicht ermöglicht, die er in seiner bürgerlichen Zeit so schmerzlich vermisste. Schuld an der ästhetischen Misere der eklektizistischen Gründerzeitquartiere hatten eben vor allem die kapitalistischen Spekulanten, die in unglücklicher Verbindung mit der politischen Macht agierten. Schefflers scharfes Verdikt gegen Wilhelm II. lautete denn auch: »Industriekaiser, der Grossstädter auf dem Thron«. 49 Dieser habe seinen Teil zum desaströsen Erscheinungsbild Berlins beigetragen: »In seiner Imperatorengebärde ist etwas Traditionsloses, seiner Repräsentationslust fehlt die Geschichte und darum der sichere Geschmack, sein Temperament ist das eines Grossstadtoptimisten.«50 Durch die Haltung des Kaisers sei der geschmacklose Historismus gar zum Zeichen des Reiches geworden: »Denn dieser Kaiser hat den grossstädtisch entarteten Eklektizismus sanktioniert und hoffähig gemacht. Er hat die Formen der modernen Bauindustrie für die Zwecke staatlicher Repräsentation benutzt. Dadurch ist dieser Stil gewissermassen zum Reichssymbol geworden.«51 Verbürgerlichter Kaiser und Großkapitalisten auf politischer Seite und Eklektizismus auf ästhetischer Seite bildeten die unselige Allianz, die das Stadtbild ruiniere. Was Scheffler dagegen

47 48 49 50 51

Scheffler, Karl: Berlin. Ein Stadtschicksal. Berlin: Reiss 1910, S. 257. Ebd., S. 228. Ebd., S. 164. Ebd., S. 165-166. Ebd., S. 192.

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il. TheodorFritsch: Die Stadt der Zukunft, 1896.

als Ideal vorschwebte, war gesittete Aristokratie und gebildeter Geschmack: Er moniert die »amerikanistische Tendenz, alle aristokratisch gegliederte Form aufzulösen«.52 Schefflers Großstadtideal ist somit neben seiner vorgetragenen Begründung in der modernen, demokratischen, kapitalistischen Massengesellschaft wie auch in einem urkonservativen Gesellschafts- und Geschmacksideal verwurzelt. Als Beispiel fur eine rational-funktionale Stadtanlage mit nationalistischrassistischen Obertönen mag Die Stadt der Zukunft (1896) des berüchtigten Antisemiten Theodor Fritsch gelten. Zwar entwarf auch er seine Stadt als Gegenmodell zur bösen Großstadt, doch er folgte dabei gerade nicht Sittes malerischem Ideal, sondern einer rational-funktionalen Methode. »Vernunft und Ordnung« 53 lautete seine Hauptforderung für die Stadt, und eine Folge dieses 52 Ebd., S. 147. 53 Fritsch, Theodor: Die Stadt der Zukunft. Leipzig: Fritsch 1896, S. 4.

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modernisierenden Rationalismus war der Ruf nach Zonierung: Er verlangte eine »räumliche Scheidung der Gebäude nach ihrer Bauart und Bestimmung«.54 Diese rationale Forderang verband er jedoch sogleich mit seinen mythisierenden biologischen Vorstellungen, indem er als Erklärung formulierte : »Zu einer vernünftigen Ordnung gehört, dass Gleiches an Gleiches sich anschließt, Verwandtes mit Verwandtem sich paart.« 55 So hatte er die Zonierung auch gleich rassisch mitbegründet. Auch Fritsch verwendete für seine Stadt die Metapher des Organismus, die eine hierarchische Gliederung implizierte. Seine Stadt »sollte ein organisches Wesen sein mit vernünftiger Gliederung und mit der Fähigkeit ausgestattet, wachsend sich zu erweitern [...]«. 56 Die Metaphorik des Organismus brachte ihn gar so weit, für die Stadt ein spiralförmiges Wachstum analog eines Schneckenhauses zu fordern: »So gliche die Stadt einem lebenden Organismus, der, seinen gesunden dauernden Kern bewahrend, seine morschen absterbenden Glieder verzehrt, durch neue ersetzt und sich so ewig verjüngt.« 57 Unter der Metapher des Organischen verbanden sich bei Fritsch auf abenteuerliche Weise modernisierender Rationalismus und irrationaler Rassismus. Dabei verwendete er jedoch keineswegs kleinstädtisch-malerische Kompositionsweisen, sondern baute auf den geometrischen und rationalen Formen auf, die ansonsten im Rahmen der modernen Großstadt Verwendung fanden.

Faschismus, Sozialismus, Kapitalismus. Zumutungen an die malerische Stadt von der Postmoderne bis zum New Urbanism

Wir sahen, dass selbst in der kurzen Zeitspanne nach Sitte, in der malerischer Städtebau in Deutschland nationalistisch, gar rassistisch verstanden werden konnte, er keineswegs auf diese Bedeutung festgelegt war. Die gemütvolle Kleinstadt ließ sich ebenso emanzipatorisch deuten, wie die rationale Großstadt rassistisch-nationale Züge annehmen konnte. Umso vorsichtiger sollten wir deshalb sein, die in einem spezifischen kulturellen Kontext gewonnenen Erkenntnisse auf einen anderen unkritisch zu über54 55 56 57

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

8. 8. 5. 13.

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tragen. Doch genau dies wurde den Bestrebungen der Postmoderne in den siebziger und des New Urbanism in den achtziger Jahren zuteil: Rob Kriers Bemühungen um eine Reevaluierung des Stadtraums oder Leon Kriers Wiederaufnahme traditioneller Stadtformen wurden des Faschismus verdächtigt,58 die von Disney im Sinne des New Urbanism initiierte Neustadt Celebration wurde geschmackssicher als »freiwilliges K Z « bezeichnet.59 Abgesehen davon, dass diese Attribuierungen weniger den malerischen Städtebau verunglimpfen als vielmehr den Nationalsozialismus verharmlosen, steht einer solchen Interpretation vor allem die untergeordnete Rolle entgegen, die malerisch-kleinstädtische Anlagen tatsächlich im Nationalsozialismus gespielt haben. Sie wurden lediglich für niedere Aufgaben im lokaleren Maßstab verwendet, da sie in der Wahrnehmung zu sehr auf das Individuum bezogen, zu wenig massenwirksam waren. Alle großen repräsentativen Aufgaben folgten einem überdimensionierten Klassizismus, der mit übersteigerten Mitteln der Großstadtarchitektur arbeitete. So konnte beispielsweise im Italien der Nachkriegszeit, wo vor allem Rationalismus und Klassizismus mit dem Faschismus identifiziert wurden, die Richtung des Neorealismo bewusst auf lokale architektonische Traditionen und eine malerische Gruppierung zurückgreifen, um damit zugleich ein politisches Statement abzugeben, wie etwa in der Siedlung Tiburtino bei Rom (1950-54) von Ludovico Quaroni und Mario Ridolfi.60 Wenn man wollte, könnte man gar die Geschichte der Rückeroberung des Stadtraums - dieses zentrale Anliegen Sittes - auch als eine dezidiert linke Geschichte schreiben. Angestoßen von Alexander Mitscherlichs »Unwirtlichkeit unserer Städte« zögen dann die Protestzüge der Bürgerinitiativen und Hausbesetzer durch die noch vorhandenen Straßenräume des Frankfurter Westends oder Berlin-Kreuzbergs, um sie vor der Kahlschlagsanierung einer verkehrstechnischen und kapitalistischen Verwertungsplanung zu bewahren.61 Eine ihrer 58 Z u R r i e r vgl. Krier, Rob: Stadtraum in Theorie und Praxis. Stuttgart: Krämer 1975; Krier, Leon: Freiheit oder Fatalismus. Architektur. München, London, N e w York: Prestel 1998. 59 Z u m N e w Urbanism vgl. Dutton, J o h n Α.: The New American Urbanism. Re-forming the Suburban Metropolis. Mailand: Skira Editore 2000; Duany, Andres / Plater-Zyberk, Elizabeth / Alminana, Robert: The New Civic Art. Elements of Town Planning. N e w York: Rizzoli 2003. 60 Vgl. Lampugnani, Vittorio Magnago : » D e r Mythos der Wahrheit. Städtebau im Italien der Nachkriegszeit«, in: Ders. (Hg.): Oie Architektur, die Tradition und der Ort. Regionalismen in der europäischen Stadt. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2000, S. 361-397. 61 Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlich keit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frank-

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus

12. RobKrier: Überbauung dir Stadtautobahn in Stuttgart, ip75.

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wirkungsvollsten Organisationsformen fände diese Bewegung dann in der IBAAlt, dem Revitalisierungszweig der Internationalen Bauausstellung Berlin 1984/ 87 unter Hardt-Waltherr Hämer.62 Und auch der New Urbanism in den USA, von europäischen Intellektuellen gerne der verdummenden Marktgängigkeit verdächtigt, erschiene in dieser Geschichte alles andere als ein Lieblingskind des wirtschaftlichen Establishments oder gar der Republikaner. Mit seinen auf Konsens und Community Building abzielenden Bauvorschriften würde er von echten Wirtschaftsliberalen viel zu sehr der Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit bezichtigt. Und es käme auch zur Sprache, dass jüngst Publikationen des New Urbanism von der Bush-Administration zensiert wurden oder dass Andres Duany 2003 in Havanna in einer Veranstaltung mit Bewohnern die Charter über »The Rights to the City of the Socialist Citizen« entwickelt hat.63 Doch all dies soll hier nicht erzählt werden. Vielmehr gilt es als Fazit festzuhalten: Die politischen Konnotationen wohnen dem raumhaltigen oder malerischen Städtebau keineswegs inne, sondern sind arbiträr - übrigens genauso arbiträr wie die politischen Bedeutungen anderer Stadtformen auch. Mit dieser Erkenntnis können wir uns gelassen einer städtebaulichen Würdigung von Sittes Verdiensten zuwenden. Mit ihrer Betonung einer Räumlichkeit im menschlichen Maßstab, ihrer Insistenz auf einer spezifischen Ästhetik, ihrem Respektieren des Kontextes und ihrer historisch-kritischen Methode war seine Stadtbaulehre zu seiner Zeit ausgesprochen innovativ. Da sie die Defizite zeitgenössischer Stadtplanungen ohne Scheuklappen anprangerte und auf der Basis der existierenden Bedingungen mit einer reflektierten Methode zu verbessern suchte, kann sie auch als genuin modern interpretiert werden. Nicht zuletzt lag darin ihr Erfolg begründet: Gerade in der ästhetischen Seite der Stadt - dem Stadtbild - waren die Defizite einer vornehmlich technisch und wirtschaftlich bestimmten Stadtplanung der Industrialisierung am offensichtlichsten. Diesen offensichtlichsten - und damit öffentlichkeitswirksamsten - Mangel als Aus-

furt/M.: Suhrkamp 1965; siehe auch Lefebvre, Henri: Le droit à la ville. Paris: Anthropos 1968; Gehl, Jan: Livet mellum husene. Kopenhagen: Arkitektens Forlag 1971 (engl.: Life between Buildings. Using Public Space. Ubersetzt von J o Koch. N e w York: Van Nostrand Reinhold 1987). 62 Kleihues, Josef Paul / Klotz, Heinrich (Hg.): Internationale Bauausstellung Berlin 1987. Beispiele einer neuen Architektur. Stuttgart: Klett Cotta 1986; Hämer, Hardt-Waltherr: Kreuzberger Kreisläufe. Berlin: S.T.E.R.N. 1987; Schlusche, Günter: Die Internationale Bauausstellung Berlin, eine Bilanz. Planung und Durchführung lin: Bauausstellung-Berlin-GmbH 1997.

und Einfluss auf die Berliner Stadtentwicklung. Ber-

63 http://www.byen.org/artikler/declaration.havana.html (Juni 2004).

Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus

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gangspunkt für eine Reform des Städtebaus genommen zu haben, war im deutschsprachigen Raum Sittes Verdienst. Schnell sollten andere folgen und die Schönheit der Stadt als Ziel postulieren - in den USA etwa Daniel Hudson Burnham, Charles Mulford Robinson, Werner Hegemann und die City Beautifiil-Bewegung, in Frankreich etwa Charles Buls, Emile Magne oder Robert de Souza (durchaus auf dem Boden des »Embellissement« des 18. Jahrhunderts), in Großbritannien etwa William Richard Lethaby, Raymond Unwin oder Thomas Mawson. Kein Handbuch des Städtebaus kam bis in die dreißiger Jahre ohne ein Kapitel über die Schönheit der Stadt aus. Erst nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren wieder einmal technische und wirtschaftliche Gesichtspunkte in vielen Projekten die uneingeschränkte Oberhand gewonnen hatten, konnte im Städtebau die Forderung nach Schönheit und maßstäblichen Stadträumen die gleiche Sprengkraft entfalten wie zu Sittes Zeit. Und nachdem in den letzten zehn Jahren die bekennende Architekturelite mit Marc Augé schwärmerischen Träumen der ordosen Peripherie nachgehangen oder sich mit Rem Koolhaas der unkritischen Faszination von ungeregelten Baubooms in chinesischen Megastädten ausgeliefert hat, scheint heute wiederum die größte Herausforderung in der Nachfolge Camillo Sittes zu liegen : trotz aller existierenden Bedingungen schöne Städte zu entwickeln, die durch ihre maßstäbliche Räumlichkeit auf den wahrnehmenden Menschen bezogen sind.

Bernhard Langer

Künstlerischer Städtebau vs. Junkspace

Camillo Sittes Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen und Rem Koolhaas' Text »Junk-Space« 1 scheinen in der zeitgenössischen Diskussion um Gestalt und Aufgabe der »Europäischen Stadt« für konträre Positionen zu stehen. Sitte vertritt eine Rettung bzw. Affirmation traditioneller Stadtstrukturen, indem er sich um ein Regelwerk bemüht, das sich am Leitbild der vorindustriellen, gewachsenen europäischen Stadt orientiert. Einer aufs Technische reduzierten Planungsrationalität, der Dominanz von Wirtschaftsinteressen und den entsolidarisierenden Missständen moderner Metropolen stellt er den Entwurf eines humanmaßstäblichen, auf den Menschen und seine direkte, visuelle Erfahrung bezogenen Stadtraums entgegen. »Künstlerischer Städtebau« ist das ästhetisch grundierte Mittel gegen einen als verlustreich empfundenen kulturellen Bruch der europäischen Stadt- und Kulturgeschichte, der sich unter anderem in modernen großstädtischen Krankheitserscheinungen (Neurasthenie, Agoraphobie) manifestiert, die, wie Sitte in seinem Buch ein wenig ironisch anmerkt, selbst unbelebte Stadtbewohner ergreifen. 2 Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei um eine kulturalistdsche Reaktion auf sozioökonomische Umstrukturierungsprozesse, wie sie sich vor allem in und an der Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts manifestierten, im Gegensatz zu einer rein ökonomischen oder pragmatisch-funktionalistischen Herangehensweise. Einer aufs Ästhetische, auf den konkreten visuellen Wahrnehmungsraum der Stadt bezo1 Koolhaas, Rem: »Junk-Space«, in: October 100, 2002, S. 175-190. 2 Sitte: Der Städtebau, S. 53.

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genen Theorie liegt bei Sitte, wie Karin Wilhelm betonte, das Anliegen um eine »sinnlich vermittelte Sinnstiftungsqualität der traditionellen, vormodernen Stadträume« zugrunde, um eine anschauliche und überschaubare, räumlicharchitektonische Repräsentation des Gemeinwesens. 3 Im ideologischen Spektrum zwischen konservativ und progressiv siedelt sich Sitte eher im konservativen Bereich an - eine Wahrnehmung, die durch die heftige Ablehnung Sittes durch die Planer und Theoretiker der modernen Bewegung zwar vorgeprägt, dennoch sicherlich nicht ganz verfehlt ist. Da in der heutigen städtebaulichen Diskussion das Leitbild der traditionellen »Europäischen Stadt« wieder verstärkt gegenüber einer (neo-)modernistischen oder avantgardistischen Position an Popularität gewinnt, kann man Rem Koolhaas' Stellungnahmen ohne historischen Anachronismus als eine mögliche Gegenposition zu jener von Sitte vertretenen charakterisieren. Das historische europäische Stadtmodell ist für Koolhaas nicht nur nicht erstrebenswert, sondern schlicht tot; worüber auch keine Träne vergossen, sondern Erleichterung empfunden wird: »Relief... it's over«, endet Rem Koolhaas' Pamphlet über die eigenschaftslose Stadt von 1994. 4 Nicht nur die Stadt als Repräsentation der civitas ist Vergangenheit, sondern überhaupt jede unserer Repräsentationen, d. h. Begriffe, der Stadt. »The city is no longer. We can leave the theater now .. .«5 Erleichternd scheint dieser Umstand vor allem für die Planungsprofession zu sein, da gilt: wo kein Begriff ist, gibt es auch keine rationale Entscheidung »almost any hypothesis can be >proven< and then erased«6 - , und somit keine Planung, zumindest nicht im bisher üblichen Sinn des Wortes: »[the Generic City's] most dangerous and most exhilarating discovery is that planning makes no difference whatsoever.«7 Im Folgenden wird weder Koolhaas' noch Sittes Position im Detail diskutiert oder bewertet, sondern lediglich der Versuch unternommen, über das Nach-

3

Wilhelm, Karin: »Städtebautheorie als Kulturtheorie - Camillo Sittes >Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen««, in : Musner, Lutz / Wunberg, Gotthart / Lutter, Christina (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. W i e n : Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2001, S. 89-109, S. 90.

4

Koolhaas, Rem: »Generic City«, in: S, M, L, XL. Köln: Taschen 1997, S. 1248-1264, S. 1264.

5 6

Ebd., S. 1264. Ebd., S. 1255. Das hängt wohl damit zusammen, dass Junk-Space weder verstanden noch erinnert werden kann : »Because it cannot be grasped, Junkspace cannot be remembered.« Koolhaas

7

Koolhaas 1997 (s. Anm. 4), S. 1255.

2002 (s. Aran. 1), S. 177.

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zeichnen einiger gerader, gewundener oder durch Negationen hindurchgegangener Verbindungslinien zwischen Sitte und Koolhaas die gegensätzlichen Positionen der heutigen Diskussion (Neuer Konservativismus vs. Neomoderne) über das Aufzeigen eines gemeinsamen ideen- und kulturgeschichtlichen Rahmens eine Spur weniger unversöhnlich erscheinen zu lassen.

Junk-Space

Was ist (ein) Junk-Space? Materiell gesehen, ist Junk-Space die Totalsumme unserer heutigen Architektur, charakterisiert durch das Vorhandensein von Rolltreppe, Klimatisierung, Gipskarton. Psychologisch betrachtet, »a territory of impaired vision, limited expectation, reduced earnestness«. 8 Epistemologisch gesehen, schafft Junk-Space Unterscheidungen ab, was, politisch gesehen, zu einer Verflachung von Hierarchien und der Schwächung von Widerstandskräften führt. Indem er Trennungen überwindet oder verschluckt (etwa zwischen Offendichem und Privatem, Erhabenem und Gemeinem), tendiert er dazu, sich auszubreiten, universell zu werden, und offenbart sich letzdich als universelles, nahtloses Patchwork der permanenten Zusammenhangslosigkeit. 9 Und da die Ausbreitung durch Einverleibung des (ehemals) Gegensätzlichen vorgeht, gibt es bald kein Außen mehr, sind alle Wahl- und Antwortmöglichkeiten der Bewohner immer schon vorgegeben. Seine Ästhetik ist verwirrend, »byzantinisch«, zersplittert in Tausende von Scherben. Es gibt keine Möglichkeit der Orientierung, daher auch keine Wege oder, was dasselbe heißt: es gibt eine Unzahl von Wegen, jeder Weg ist völlig einmalig. Wahrgenommen wird Junk-Space in Form eines »postrevolutionary gawking«, seine Bewohner sind völlig entindividualisiert, umschmeichelt, verführt, aber ziel- und perspektivenlos; emotionell befriedigt, glücklich, jedoch abgestumpft. Er transformiert sie in ein post-existenzielles »collective of brooding consumers in surly anticipation of their next spend«. 10 Für dieses Theoriemodell der (zukünftigen) Stadt scheint die Union aus Themenpark und Shopping Mall (bzw. deren Bild in einer kulturpessimistischen Kritik derselben) Pate zu stehen. Zersplitterte Ästhetik, die den Benutzer 8 Koolhaas 2002 (s. Anm. 1), S. 176. 9 Ebd.: » A fuzzy empire of blur, it fuses high and low, public and private, straight and bent, bloated and starved to offer a seamless patchwork of the permanently disjointed.« 1 0 Ebd., S. 183.

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beeindrucken, unterhalten und verwirren soll, durch Spiegel fragmentierte Szenerien, Geschichtskollagen, die die Mall in ein Kaleidoskop letztlich unleserlicher Bilder verwandeln, das ist die visuelle Charakterisierung, die Margaret Crawford von der West Edmonton Mall in Alberta, Kanada, »the world's largest shopping & entertainment center«11, gibt. »Realität« verflüchtigt sich in ein System von Simulationen: »confusion proliferates at every level; past and culture collapse meaninglessly into the present; barriers between real and fake, near and far, dissolve as history, nature, technology, are indifferently processed by the mall's fantasy machine.« Als Simulation der sozial heterogenen Innenstadt New Yorks können sich Figuren von Bettlern und Prostituierten mit Repräsentationen des afrikanischen Dschungels vermengen, da alle jeweiligen negativen Aspekte wie schlechtes Wetter, Gefahr und Armut ausgeblendet werden. Die Mall ist ein »escapist cocoon«12 und, da sie gleichzeitig die einzig verbliebene Form sozialer Aktivität darstellt, ein »ersatz town center«.13 So gewinnt letztlich auch die Gemeinschaftsform der neuen Gesellschaft den Status einer Simulation; entsprechend bezeichnet Koolhaas den Raum des Junk-Space als »body-double« des Raums, den öffentlichen Raum als Trademark des einst Urbanen.14

Implizite Theorie

Mit der totalen Ausbreitung eines quasi-homogenen, quasi-eigenschaftslosen Junk-Space nimmt Koolhaas eines der Haupttheoreme der sozial- und kulturwissenschafüichen Debatte um die Postmoderne auf, welches die Postmoderne durch die Auflösung gesellschafdicher Differenzen im Zeichen der Asthetisierung (d. i. das Verwischen der Grenzen zwischen Kunst und Alltagsleben), durch Verflachung symbolischer Hierarchien und einen generellen Impuls in Richtung De-Differenzierung charakterisiert sieht. John Urry beschreibt die Postmoderne, von der Warte der politischen Ökonomie aus betrachtet: »Postmodernism involves a dissolving of the boundaries, not only between high and

11 Eigenbeschreibung, siehe www.westedmontonmall.com (Mai 2004). 12 Crawford, M a r g a r e t : » T h e W o r l d in a Shopping M a l l « , in: Sorkin, Michael (Hg.): Variations on a Theme Park. N e w York: Hill and W a n g 2000, S. 3-30, S. 4, 22. 13 Boddy, Trevor: » U n d e r g r o u n d and O v e r h e a d « , in: Sorkin 2000 (s. Anm. 12), S. 123-153, S. 150. 14 Koolhaas 2002 (s. Anm. 1), S. 184.

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low cultures, but also between different cultural forms, such as tourism, art, education, photography, television, music, sport, shopping and architecture.«15 Die vielleicht radikalste Formulierung dieses Theorems stammt von Jean Baudrillard. Für Baudrillard ist Modernität ein System einer politischen Ökonomie, das jedoch, in Form einer Fleisch gewordenen Zeichentheorie, nicht mehr Reales vermittelt, sondern das Reale durch Zeichen des Realen substituiert. Das System, eine »fehlerlose Signalmaschinerie«, erzeugt sämtliche Zeichen gemäß einer Eigenlogik und führt letztlich zur »Agonie des Realen«.16 Die Zeichen, mit denen die Moderne operiert, werden von Baudrillard als Simulakren definiert, der Unterschied von Realität und Fiktion wird zurückgelassen, gerade das Fiktive zum »ens realissimum« erklärt.17 Postmoderne, nicht mehr als Zeichen-, sondern als Simulakrenregime aufgefasst, verliert letztlich ihren (strukturalen) Systemcharakter, da die heutigen, vorwiegend ästhetischen Symbole ikonisch bezeichnen, durch Ähnlichkeit. Ähnlichkeit ist fließend, ansteckend, metastatisch, viral: Heute leben wir in einer Art Epidemie des (symbolischen) Werts, es gibt nur mehr Wucherung und zufällige Ausbreitung; unkontrollierbarer Auswuchs, statt Wachstum.18 »We live everywhere already in an >aesthetic< hallucination of reality.«19 Nimmt man nicht die Shopping Mall, sondern Transiträume (Schnellstraßen, Flughäfen, Hotelketten, Feriendörfer: dem Provisorischen und Ephemeren überantwortete »Nicht-Orte« 20 ) als Paradigma bzw. Ursache der inhaldichen Endeerung des Stadtraums, so verweist die Theorie Koolhaas' auf ein anderes soziologisches Theorem : das der Endeerung von Raum, Zeit und Subjektivität aufgrund der gesteigerten und zunehmend globalen Zirkulation von Menschen, Waren und Information.21 Die Konsequenzen dieser immer rapider steigenden Zirkulation betreffen nach Anthony Giddens22 insbesondere die Entleerung des 15 Urryjohn: The Tourist Gaze. London: Sage 2002, S. 74. 16 Baudrillard, Jean : Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978. 17 Marquard, Odo : »Das Fiktive als ens realissimum«, in : Henrich, Dieter / Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München: Fink 1983, S. 468-495. 18 Baudrillard, Jean: Transparenz des Bösen. Berlin: Merve 1992, S. 11, S. 38f. 19 Baudrillard, Jean: Simulations. New York: Semiotext(e) 1983, S. 148. Zit. nach Featherstone, Mike: Consumer Culture ir Postmodernism. London: Sage 1991, S. 69. 20 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Frankfurt am Main: Fischer 1994. 21 Siehe Lash, Scott / Urry, John : Economies of Signs ir Space. London : Sage Publications 1994, S. i 3 ff. 22 Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Ubersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Giddens lehnt den Ausdruck Postmoderne in diesem Zusammenhang ab und

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Raums, d. h. die Trennung von Raum und Ort, sowie die damit einhergehende »Entbettung« sozialer Beziehungen, d. i. jenen Prozess, in dem soziale Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgehoben und auf global gedehnte Raum-Zeit-Spannen übergreifende und somit hochabstrakte Systeme bezogen werden.23 Nach Giddens wurde in vormodernen Gesellschaften die räumliche Dimension des gesellschaftlichen Lebens zum größten Teil von Anwesenheit bestimmt: an einen Schauplatz gebundene Tätigkeiten waren vorherrschend. Mit dem Beginn der Moderne wird der Raum immer stärker vom Ort losgelöst, indem Beziehungen zwischen abwesenden Anderen begünstigt werden. Die Einheit des Ortes löst sich auf, Objekte, Raum und Zeit entleeren sich, da Schauplätze immer stärker von entfernten sozialen Einflüssen geprägt werden: »entfernte Orte [werden] in solcher Weise miteinander verbunden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.« 24 Die Herstellung abstrakter Ordnungssysteme, z. B. von Weltkarten, unterstreicht diesen Prozess: Raum wird als etwas von jedem spezifischen Ort Unabhängiges konstruiert. Motor dieser Entwicklung ist die unter dem Stichwort Globalisierung zusammengefasste Form eines immer größere Distanzen in immer kürzerer Zeit überwindenden Verkehrs von Menschen, Objekten, Geld und Informationen. Scott Lash und John Urry fassen in plakativ-verkürzender Weise den sich aus diesen Überlegungen ergebenden soziologischen Befund, der den Hintergrund von Koolhaas' Text ausmacht, zusammen: »Objects are emptied out both of meaning [...] and of material content. T h e subjects in turn are increasingly emptied out, flat, deficient in affect.«25 Beide besprochene Theoreme gehören freilich zusammen: damit nahezu unbegrenzte Zirkulation, wie sie die marxistische und post-marxistische politische Ökonomie beschreibt, möglich ist, müssen sich die Menschen, Räume und Gegenstände angleichen bzw. Unterschiede und Widerstandskräfte abbauen. Globalisierung bedingt qualitative Homogenisierung und umgekehrt.

spricht von einer »radikalisierten Moderne« als zutreffendere Bezeichnung des Stadiums, in dem sich die heutige Gesellschaft befindet. 23 Ebd., S. 33. 2 4 Ebd., S. 85. 25 Lash / U r r y 1994 (s. Anm. 21), S. 15.

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Stadtraum in der Moderne Am Ausgangspunkt dieses Theorems von der Entleerung der Dinge und Subjekte durch den Anstieg an Güter-, Menschen-, Geld- und Informationsverkehr steht Georg Simmel. In seinem Vortrag von 1903, »Die Großstädte und das Geistesleben«, analysiert Simmel das Problem des Individuums, »die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins«, angesichts einer steigenden Interaktionsund Zirkulationsrate, der die Bewohner der modernen Großstadt ausgesetzt sind.26 Würde man in der Großstadt auf alle Reize reagieren, so ginge aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke unausweichlich eine »Steigerung des Nervenlebens« hervor, welcher der Großstadtmensch, um sich zu schützen, durch Distanznahme, Intellektualisierung und Versachlichung intersubjektiver Beziehungen entgegenarbeiten muss. Die damit einhergehende Anonymisierung des Weltverhältnisses ist dem Effekt des Geldes - der fürchterlichste Nivellierer, »die allgemeine Hure« (Marx) - analog. Ergebnis der distanziert-rationalen Haltung ist die »Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge«, in dem Sinn, dass die »Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit die Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen [...] in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.«27 Die Steigerung des Nervenlebens, die für die von Simmel beschriebene »blasierte« Haltung verantwortlich ist, wurde schon 1869 von dem amerikanischen Arzt George M. Beard konstatiert. Beard führte den Begriff der Neurasthenie ein, der für eine extrem gesteigerte Empfindlichkeit gegen Wetter, Lärm, Licht und die Gegenwart anderer Menschen steht. Ursache der Neurasthenie sei, analog zu Simmel, die allgemeine Zunahme der Lebensgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Verdrängung von Gefühlen. 28 Die moderne Metropolis stellte sich für viele als permanente Attacke auf alle Sinne dar. Georg Christoph Lichtenberg schreibt von einer Reise nach London am 10. Jänner 1775: »Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums ! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by Your leave

26 G e o r g Simmel, »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 199J, S. 116-131, S. 116. 27 Ebd., S. 121. 28 Siehe Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Gießen : Anabas-Verlag 1989, S. ~ιφ

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ι. »Im Jahre 2000«: Fliegende Blätter, 1904.

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wenn Sie schon auf der Erde liegen. [...] Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, [...] und das Heulen derer, die [...] Kaltes und Warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen Etagen hoch auflodern [...]. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein [...] Mädchen bei der Hand: come, M y Lord, come along, let us drink a glass together, or I'll go with You if You please; dann passiert ein Unglück 40 Schritte vor Ihnen [...]; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint Anteil [...] zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder [...]. Zwischendurch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrei von Hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme oder ein Haus einfiele [.. ,].«29 Für Lichtenberg zerbricht an dieser Attacke auf alle Sinne die zentralperspektivische Wahrnehmung, die Vorstellung klarer Blickachsen und sicherer Distanzen. Dieses Ideal der Maler und Architekten der Renaissance gelte durchaus für die Wahrnehmungsbedingungen kleiner Städte wie Göttingen, wo man »wenigstens von 40 Schritten her an [sieht], was es gibt«.30 In London dagegen verschieben sich die Blickachsen ständig, die Vorstellung eines Beobachtungspunktes und nur eines Gegenübers ist hinfällig geworden. Das Auge verliert den Uberblick, die Stadt ist nicht mehr nach dem Muster der Geometrie als auf den Betrachter zentriertes Gebilde wahrzunehmen, das Beobachtungssystem wird dauernd verschoben und der Beobachter ist selbst Teil dessen, was er beobachtet. Die Eisenbahn ist einer der Katalysatoren einer neuen Raumerfahrung im 19. Jahrhundert, nicht nur dadurch, dass Reisen vereinfacht wurde, sondern auch durch die Erfahrung von Geschwindigkeit. Victor Hugo schreibt 1837 über den Blick aus dem fahrenden Zug: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote oder weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der T ü r auf und verschwindet wie der Blitz, das ist 29 Georg Christoph Lichtenberg, »Brief an Ernst Gottfried Baldinger, Kew. Den ioten Jänner 1775«, in: Ders.: Schriften und Briefe in 4 Bänden, Bd. IV: Briefe ijóó-i-jgy. Hg. von Franz H. Mautner. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1992, S. 177-189, S. 180. 30 Ebd., S. 180.

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: Bernhard Langer

der Zugschaffner.« 31 Der Nahraum, der sich dem Tast- oder Geruchssinn erschlösse, ist verschwunden. Nur der Fernblick erlaubt eine annähernde Erkenntnis der Gegenstände. William Turners Bild »Rain, Steam and Speed« von 1844 veranschaulicht die von Hugo beschriebene Zerstäubung einer noch am isolierten Einzelobjekt orientierten Erfahrung der Landschaft. Durch den Transport von Menschen durch die eisernen Adern der Eisenbahn mit ungewohnter Geschwindigkeit sind die »Elementarbegriffe von Zeit und Raum [...] schwankend geworden«32, wie Heinrich Heine 1843 schrieb. Turner hat den aus der Ferne pfeilartig auftauchenden Zug von außen gemalt, aber schon mit dem Blick des Reisenden gesehen. Auf seine Art radikaler ist der Karikaturist der Fliegenden Blätter, der die entsprechende Erfahrung aus der Innenperspektive, d. i. aus dem fahrenden Zug heraus, verarbeitet. Der Punkt wird zur Linie: diese Erfahrung verallgemeinern die Futuristen zur Signatur der Moderne. Marinetti beschreibt die vom Futurismus angestrebte (bzw. durch die neuen Arten der Kommunikation, der Information und des Transports schon zum Teil bewirkte) Erneuerung der menschlichen Sensibilität als physische, »intellektuelle und sentimentale Balanceakte auf dem gespannten Seil der Geschwindigkeit zwischen sich widersprechenden Magnetfeldern«. 33 In diesem Umfeld sind auch die Überlegungen Sigfiried Giedions und Walter Benjamins zur modernen Stadtwahrnehmung angesiedelt, die ähnlich überschwänglich wie Koolhaas die Auflösung der Wahrnehmung von Stadt zelebrieren. Auch Giedion geht es um die Apologie einer neuen Architektur - des Neuen Bauens - sowie darum, einen neuen Stadtraum dem Sehen überhaupt erst zugänglich zu machen. Sowohl moderne Kunst - abstrakte Malerei, Kubismus als auch Technik - die großen Eisenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts - antizipieren die Sehformen einer neuen Zivilisation und helfen, uns in den Urbanen Räumen des Neuen Bauens heimisch zu machen.34 Gegenüber den kompakten Straßenwänden des Barock mit ihrer klaren Scheidung von Wand und Straßenraum werden für Giedion in den Offnungen und Durchdringungen, in 31 Victor H u g o in einem Brief vom 22. August 1837. Zit. nach Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 54. 32 Heine, Heinrich: »Lutetia«, in: Ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 9. Frankfurt, Berlin, W i e n : Ullstein 1981, S. 449. Zit. nach Asendorf 1989 (s. Anm. 28), S. 64. 33 Marinetti, Filippo Tommaso: »Die Zerstörung der Syntax«, in: Apollonio, U m b r o : Der Futurismus. Schauberg, Köln: D u m o n t 1972, S. 1 1 9 - 1 2 3 , S. 120. 34 Siehe Brüggemann, Heinz: »Mobilität und Transparenz«, in: Breuer, Gerda (Hg.): Neue Stadträume. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld Verlag 1998, S. 55-77·

Künstlerischer Städtebau vs. J u n k s p a c e

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Der Blick aus dem Fenster: Fliegende Blätter, i8~ji.

Sigfried Giedion: »Blick von unten in das Gewirr der Eisenkonstruktionen« des Eiffelturms.

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: Bernhard Langer

den transparenten schwebenden Konstruktionen sowie in der Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung der Formen der abstrakten Kunst die Sehformen einer neuen Urbanen Zivilisation antizipiert, noch bevor das Neue Bauen das reale Antlitz der Stadt verändert. Die expressive Qualität dieses neuen Raums wird wiederkehrend mit der Metapher des Schwebens, der schwebenden Transparenz, der Öffnung und Entmaterialisierung des Festumgrenzten beschrieben. Zu Beginn seines Buches Bauen in Frankreich aus dem Jahr 1928 schreibt Giedion: »Die Wände umstehen nicht mehr starr die Straße. Die Straße wird in einen Bewegungsstrom umgewandelt. Gleise und Zug bilden mit dem Bahnhof eine einzige Größe.« Alle Bauten öffnen sich heute, verwischen ihre Grenze, »suchen Beziehung und Durchdringung.«35 Das »ästhetische Grunderlebnis« des heutigen Bauens ist verkörpert in den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms oder im Pont Transbordeur in Marseille: Durch das in der Luft gespannte dünne Eisennetz strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Mäste, Landschaft, Hafen, und verlieren ihre abgegrenzte Gestalt - »Es gibt nur einen großen, unteilbaren Raum, in dem Beziehungen und Durchdringungen herrschen, an Stelle von Abgrenzungen.«36 Genau jene Eigenschaft, die immer wieder gegen das Eisen als Träger architektonischen Ausdrucks ins Feld geführt wurde, nämlich seine schmalen Konstruktionsgrößen, wird von Giedion gefeiert. Wegen der geringen Oberfläche der konstruktiven Glieder entziehe sich die Konstruktion dem Auge, je vollkommener sie sei, schrieb Semper schon 1849 und wiederholte in seinem Hauptwerk Der Stil über Stab- und Gussmetall: »das Ideal desselben ist unsichtbare Architektur!«37 Tatsächlich dauerte es einige Jahrzehnte, bis eine entsprechende Ästhetik formuliert wurde, eine Ästhetik der Linie. Vielleicht als Erster entdeckte Albert Hofmann in Werken wie dem Eiffelturm oder der Anfang 1890 in Betrieb genommenen Brücke über dem Firth of Forth eine neuartige Schönheit: die Schönheit der Linie; »die Schönheit der Linie [ist] der höchste Schönheits-Begriff, den wir kennen«.38 Nur kurze Zeit später führte der 35 Giedion, Sigfried: Bauen in Frankreich - Bauen in Eisen - Bauen in Eisenbeton. Hg. von Sokratis Georgiadis. Berlin: Gebr. Mann Verlag 2000, S. 6f. 36 Ebd., S. 9. 3 7 Semper, Gottfried : Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, Bd. 2. München : Bruckmann 1863, S. 2Ó3Í. Siehe auch das Nachwort von Sokratis Georgidis, in: Giedion 2000 (s. Anm. 35), S. 10. 38 Hofmann, Albert: »Die künstlerischen Beziehungen der Architektur zur Ingenieur-Wissenschaft«, in: Deutsche Bauzeitung 1893 (XXVII). Zit. nach Georgiadis 2000 (s. Arim. 37), S. 11.

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aufkommende Jugendstil nicht nur zur weiteren Intensivierung des architektonischen Einsatzes des Eisens, sondern auch zur festen Etablierung der Ästhetik der Linie. Das »neue Sehen«, das etwa schon J. A. Lux in seiner Ingenieurästhetik von 1910 forderte, bestand für Giedion hauptsächlich in einer Abstraktion von Räumlichkeit in Volumen, Flächen und Linien, in einer Verflachung oder Vernichtung der Perspektive, die füir Giedion ästhetisch Inkompatibles und zeitlich Auseinanderliegendes auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen vermag. Alles durchdringt sich. Das Ergebnis eines solchen Ineinanderüberfließens, von Giedions »einzig unteilbarem Raum«, ist aber nicht »generische Architektur«, wie bei Koolhaas, sondern ästhetisch genossene Phantastik.39 Auch Walter Benjamin, der Giedions Buch begeistert rezipierte, sieht die angesprochene Verflüssigung der Räume, die »rauschhafte Durchdringung von Straße und Wohnung, die sich im Paris des 19. Jahrhunderts vollzieht«, zumal in der Erfahrung des Flaneurs, als prophetisch füir die nüchterne Wirklichkeit der neuen Baukunst. Benjamin steht für eine surreal-dadaistische Formulierung ästhetischer Modernität, im Gegensatz zu Giedions funktionalistischer oder konstruktivistischer Moderne.40 Bei Benjamin werden die Pariser Passagen zum Laboratorium für eine dadaistisch-surrealistische Aleatorik, in der die Dinge ihre Eindeutigkeit und Funktion verlieren, in absurden Ähnlichkeiten und verwirrenden Metamorphosen ineinander übergehen. Auch Benjamin zitiert Formen der Verschränkung der Räume, von Straße und Haus, von Außen und Innen, der Durchdringung der Bilder, der Superposition von Raum- und Zeitwahrnehmung usw. - fast wörtliche Entsprechungen zu gegenwärtigen Beschreibungen von Shopping Malis, bloß mit umgekehrten Wertvorzeichen. Jeder eindeutig begrenzte Raum ist resdos verschwunden in Umberto Boccionis Darstellung der »Kräfte einer Straße« von 1911. Auffälligstes Merkmal des Bildes ist das Fehlen der Straße als einer stabilen Fläche. Wagen und Passanten stehen schräg, als wären sie von unsichtbaren Kräften herumgeschleudert. Menschen sind zu Silhouetten geworden, sie erscheinen flach, »endeert«, 39 In seinen Bemerkungen zum Ausstellungslokal »Citroën« (Paris, Rue Marbceuf), in dem hinter einem 19 Meter hohen Glasvorhang mit einer Glasfläche von 400 Quadratmetern Automobile gestapelt sind, schrieb Giedion 1929: »Einer Straße aus solchen Glaswänden würde eine kaum vorstellbare Phantastik entströmen.« Sigfried Giedion : Wege in die Öffentlichkeit. Aufiätze und unveröffentlichte Schriften aus den Jahren 1926-1956. H g . von Dorothee Huber. Zürich: Ammann 1987, S. 1 1 3 . 40 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. V / i . H g . von Rolf Tiedemann und H e r m a n n Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 534.

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: Bernhard Langer

Umberto Boccioni: »Ki-äfte einer Straße«,

IÇII.

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körper- wie schwerelos. Boccioni malt die Häuserzüge, die den energetisch zerwühlten Straßenraum begrenzen, wie zwei sich bauschende, leuchtende Vorhänge. Das Bild veranschaulicht die These des »Technischen Manifestes«, dass Raum nicht mehr existiert. Was bleibt, ist das Ineinanderwirken verschiedenster Energien, die ununterbrochene Abfolge vergänglicher Zustände.

Die Stadt als touristisches Objekt Camillo Sitte nahm die von der Moderne zelebrierte und ideologisch überhöhte Erfahrung von Verkehr und Transporttechnologien (der Tramway, des Autos oder etwa des Fahrrads, das gepriesen wurde, nicht nur räumliche, sondern zugleich auch soziale Distanzen zu verkürzen41) nicht als einen positiven Theorieansatz auf - obwohl Sitte darin Parallelen zu modernen Stadttheorien hat, Subjektivität sensualistisch, von der sinnlichen Wahrnehmung des Stadtraums her abzuleiten.42 Sitte sah schon in der Wiener Ringstraße den Primat des Verkehrs verwirklicht und damit eine Auflösung des Stadtraums, wie er ihn sich wünschte. Doch war Sitte die Erfahrung des Reisens nicht fremd, wie die bekannte Anekdote über Sittes Gepflogenheit zeigt, bei seinen zahlreichen Stadtbesuchen sich immer zuerst nach dem höchsten Turm, der besten Stadtkarte und dem Hotel, wo man am besten speisen konnte, zu erkundigen.43 Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen nimmt gleich im ersten Satz auf die Erfahrung eines Reisenden Bezug: »Zu unseren schönsten Träumen gehören angenehme Reiseerinnerungen. Herrliche Städtebilder, Monumente, Plätze, schöne Fernsichten ziehen vor unserem geistigen Auge vorüber, und wir schwelgen noch einmal im Genüsse alles des Erhabenen oder Anmuthigen, bei dem zu verweilen wir einst so glücklich waren.«44 Der beispielhafte und für Sittes Werk zentrale Modus der Wahrnehmung ist das Verweilen, Stillhalten, Kontemplieren, das Sich-satt-Sehen; ein Erfahrungsmodus, den Sitte auf Reisen erlernte und der dem Habitus eines Reisenden entspricht. 41 Kern, Stephen: The Culture ofTime and Space 1880-1918.

Cambridge/Mass.: Harvard Univer-

sity Press 1983, S. 2 1 6 . 42 Siehe Wilhelm 2001 (s. Anm. 3), S. 103. Siehe auch den Artikel von Heleni Porfyriou in diesem Band. 43 Siehe Collins, George R. / Collins, Christiane C.: Camillo Sitte: The Birth of Modern City Planning. New York: Rizzoli 1986, S. 63. 44 Sitte: Der Städtebau, S. 1.

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Die von vielen Zeitgenossen thematisierte Fragmentierung der Wahrnehmung durch die Eisenbahn, ein Katalysator des Tourismus, d. h. der durch die Geschwindigkeit der Eisenbahn verursachte Verlust des ästhetischen Genusses, hat jedoch eine mit der kontemplativen Einstellung des Touristen eng verbundene Kodierung der Wahrnehmung zur Voraussetzung: die Standardisierung des als »lohnend« definierten Blickes, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Kanon schöner Ansichten niederschlug, wie sie von den Aussichtspunkten zu genießen waren. Die den frühen Tourismus begleitende Landschaftsmalerei, deren graphisch reproduzierte Ansichten in Reiseführern seitdem Exempel zum Nacherleben vor Ort liefern, popularisierte die Bildmuster von der »lieblichen Landschaft«, dem »erhabenen Gebirge« oder der »malerischen Ruine«. Sternchen auf Reiseführern und Landkarten markieren Stellen für den optimalen Blick. 45 Auch die oft als empirisch-wissenschaftlich charakterisierte Vorgehensweise Sittes, eine Vielzahl tatsächlich besuchter Plätze zu vergegenständlichen und vergleichend nebeneinander zu stellen, setzt den touristischen Blick voraus.415 Sitte war ebenso Zeuge der Geburt der flüchtig-durchlässigen Architektur aus Eisen und Glas der Markthallen und Bahnhöfe, reagierte jedoch konträr zur späteren Architekturtheorie der Moderne und postulierte visuelle Geschlossenheit als Idealform städtischer Räume. Den Durchdringungen, Verweisungszusammenhängen, Spiegelungen und der damit verbundenen Auflösung des O b jekts, wie sie etwa Giedion und Benjamin vertraten, setzte Sitte ein Festhalten am geschlossenen Charakter des Kunstwerkes entgegen, an Ruhe und » G e schlossenheit der Eindrücke«. 47 Kein schwebendes, gleitendes, assoziatives Sehen kommt zur Anwendung, sondern eine in sich ruhende, perspektivische, gerichtete Wahrnehmung: alles, was das Auge von seiner Idealposition aus nicht sehen kann, z. B. was sich »hinter dem Rücken des Beschauers liegend« 48 abspielt, abseits der etwa auf Hauptportale ausgerichteten »Visurrichtung« 49 , ist

45 Siehe W a g n e r , M o n i k a : »Ansichten o h n e E n d e - oder das E n d e der Ansicht? W a h r n e h m u n g s u m b r ü c h e i m Reisebild u m 1830«, in: Bausinger, H e r m a n n / Beyrer, Klaus / K o r f f , G o t t f r i e d (Hg.): Reisekultur. M ü n c h e n : Beck 1991, S. 326-335. 4 6 Siehe L a s h / U r r y 1994 (s. A n m . 21), S. 255. 47 Sitte: Der Städtebau, S. 15. 4 8 Sitte: Der Städtebau, S. 46. 49 Z u Sittes h ä u f i g e m G e b r a u c h dieses Ausdrucks siehe Collins / Collins 1986 (s. A n m . 43), A n m . 163, S. 37 5 f.

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für den »künstlerischen Städtebau« irrelevant: alle Bezüge, die über die räumliche Abschließung hinausweisen könnten, werden aus der Betrachtung ausgeblendet. Der Rahmen selbst, der geschlossene Platzumfang, der durch den Ausschluss alles (räumlich wie qualitativ) Äußeren die innere Einheit des Kunstwerks konstituiert, das Werk in Distanz stellt und ästhetisch genießbar macht, wie Georg Simmel 1922 formulierte 50 , soll jene Blicke bereitstellen, die den Städter an die beglückende Erfahrung eines Reisenden erinnern. Doch es ist jene Rahmung des Erlebens bzw. des Blicks, jene durch Landschaftsmalerei und Reiseführer vollzogene Präfigurierung des Erlebnisses, die den touristischen Modus der Erfahrung für viele zum Paradigma inauthentischer Erfahrung macht. Für Dean MacCannell etwa sucht der moderne Tourist Authentizität, echtes Erleben abseits des eigenen Alltags oder echtes Leben fremder Kulturen - »frei von den Sorgen des Alltags«, wie Sitte sagt. Da der Blick des Touristen jedoch meist als Eindringen in die Privatsphäre empfunden wird, kommt es im Lauf der Entwicklung des Massentourismus immer mehr dazu, künstliche Schauplätze in Szene zu setzen. Touristenräume seien heute prinzipiell durch eine »staged authenticity« gekennzeichnet.51 Hinzu kommt eine steigende Semantisierung des touristischen Erlebens: dem Touristen werden idealisierte bzw. typisierte Repräsentationen nahe gelegt - eine typisch englische Kleinstadt, ein typisch pariserisches Café, »Kreta« - , die durch Postkarten und Reiseführer vorgefertigt und popularisiert werden. Gleichzeitig fordert die Logik der Attraktion, dass immer extravagantere Settings inszeniert werden, die den Touristen immer weiter von der lokalen Bevölkerung entfernen. Françoise Choay schlägt in dieselbe Kerbe: den Gesetzen des »Kulturkonsums« folgend, werden alte Städte auf der Suche nach Einmaligkeit immer identischer, gespickt mit malerischen Klischees (Fußgängerzonen, kleinen Plätzen), Bars, Shops etc. Der Tourist soll sich überall heimisch fühlen, durch ein System von Zeichen und Hinweisen sicher und komfortabel von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geleitet.52 Die Prozesse, die der organisierte Tourismus impliziert, »appear homogenizing, reducing differences between places through the proliferation of essentially the same signs and images«,

50 Simmel, Georg: Zur Philosophie der Kunst. Potsdam: Kiepenheuer 1922, S. 46. 51 MacCannell, D e a n : The Tourist. X e w York: Schocken 1999 (1976). 52 Choay, Françoise: Das Architektonische Erbe. H g . von Ulrich Conrads und Peter Neitzke. U b e r setzt von Christian Voigt. Braunschweig: Vieweg 1997·

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schreiben Scott Lash und John Urry.53 Es ist nicht schwer, von diesen Charakterisierungen zu Koolhaas' Junk-Space zu gelangen, zur völligen Loslösung des Zeichens vom Referenten und zum Überhandnehmen eines »Generischen Raums«, der nur noch den Gesetzen des Konsums gehorcht. Dem entspricht auch die These John Urrys, dass der touristische Blick (the tourist gaze) immer mehr mit allen möglichen Arten sozialer und kultureller Praktiken verbunden ist, und in der Tat ununterscheidbar von ihnen geworden ist. Mit anderen Worten : Alle gegenwärtigen kulturellen und sozialen Erfahrungen werden durch den Tourismus mit-strukturiert, insbesondere die Shopping Mall. 54 Die Konstruktion von Wahrnehmung und Erleben, die der Tourismus zur Folge hat, ist somit nicht nur eine Verkörperung und Vorwegnahme der Postmoderne, sondern geradezu Paradigma unserer Zeit. 55 Man könnte ein wenig überspitzt resümieren, dass der von Sitte erwünschte Effekt, den Städter am Erfahrungsraum des Reisenden teilhaben zu lassen, durch die postmoderne Verwischung von Grenzen mittlerweile Realität geworden ist: »people are much of the time >tourists< whether they like it or not.«56 Die hier vorgeschlagene These ist, dass sich Sitte am Anfang einer ideenund kulturgeschichtlichen Entwicklungslinie befindet, an deren vorläufigem Ende sich die Position von Koolhaas befindet. Die für Sitte und viele seiner Befürworter zentrale Betonung von Geschlossenheit, Rahmung, der von Sitte vorausgesetzte Modus des Verweilens und Kontemplierens, die Methodik der Darstellung (Vergleichung von Plätzen und Städten) sind Elemente eines touristischen Arrangements. Aus der Einmaligkeit, die zum Verweilen einlädt, aus dem gerahmten, vom Rest der Stadt, von Alltag und Planungsrationalismus abgetrennten Platz wird, vermittelt über den Massentourismus des 20. Jahrhunderts, das event, die inauthentische, den Gesetzen des Kulturkonsums gehorchende Bühne für touristisches Erleben. Die Spezifität der Stadt, für deren Rettung vor der räumlich unspezifischen Planungsmentalität der Moderne Sitte

53 Lash / Urry 1994 (s. Anm. 21), S. 260. 54 Kim Dovey beschreibt die Shopping Mall als eine »form of >reverse tourism< that brings the world to us«. Dovey, Kim: Framing Places. London u. a.: Routledge 1999, S. 131. 55 U r r y 2002 (s. Anm. 15), S. 74: »Many features of postmodernism have already been partly prefigured in existing tourist practices.« - U n d um dem sozioökonomischen Effekt der ersten organisierten Form von Tourismus durch Thomas Cook and Son ab 1841 gerecht zu werden, schlagen Lash und Urry vor, den Kapitalismus des 20. Jahrhunderts eher als »Cookismus« denn als »Fordismus« zu charakterisieren. Siehe Lash / U r r y 1994 (s. Anm. 21), S. 261. 56 Urry 2002 (s. Anm. 15), S. 74.

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auch steht (etwa durch Berücksichtigung von Topographie und gegebenen Eigentumsstrukturen57), geht verloren, die Stadt wird generiseli. Doch wo fur Koolhaas die modernistische Durchdringung aller Sphären, die Zerfahrenheit durch die »Kräfte einer Straße«, d. h. das Zuviel an Einflüssen, Reizen, Bildern und Informationen zur Endeerung von Raum und Stadt fuhrt, ist für Sitte die buchstäbliche, gerahmte Leere des Platzes - im Gegensatz zur generischen, »einförmige [n] Raumleere«, die der Moderne Städtebau liefert58 - der Ort ihrer Entfaltung. Für Koolhaas folgt aus der besagten Entleerung, dass dem Architekten und Stadtplaner sein Objekt abhanden kommt, woraus eine neue Freiheit, eine neue Legitimation zum und Lust am Experimentieren abgeleitet wird. Für Sitte hingegen ist gerade das Fernhalten jener »Kräfte« von den öffentlichen Plätzen und deren jene Freiheit veranschaulichende räumliche Leere ein lebensnotwendiger Bestandteil von Stadt und Gesellschaft. Eine heutige Rezeption von Sittes Ideen muss diese innere Verwandtschaft von »künstlerischem Städtebau« und dem postmodernen Befund des Verlusts der »Europäischen Stadt« anerkennen, um nicht durch eine naive Kopie Sitte'scher Räume im Kampf gegen die Globalisierung genau das zu produzieren, was deren Feindbild msmzcht: junkspace.

57 Siehe Sitte, Camillo: »Enteignungsgesetz und Lageplan«, in: Der Städtebau i, 1904. Heft 1, S. 5 - 7 ; Heft 2, S. 17-19; Heft 3, S. 35-37. 58 Sitte: Der Städtebau, S. 32.

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I.-2. Peter Behrens: AEG Humboldthain, Berlin,

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Stanford Anderson

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

Trotz des enormen Erfolges von Camillo Sittes bekanntem Buch über den »künstlerischen Städtebau« fielen seine Ideen bei jenen Architekten und Kritikern des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunders, die einen Hang zu Klassizismus aufwiesen, in Missgunst. Ich betrete diese Thematik durch das Werk und durch die Schriften von Peter Behrens. 1 Camillo Sittes Lehren nehmen keine prominente Stellung im Werk Peter Behrens' ein, aber es lassen sich einige wenige, doch wichtige Verbindungen aufzeigen. Man kann etwa in den verschachtelten Innenhöfen der A E G - G e bäude am Humboldthain in Berlin eine wohlwollende Akzeptanz von Sittes städtebaulichen »Grundsätzen« sehen. In jenem Komplex aus Höfen findet man einen Wasserturm, freistehende Stiegentürme sowie asymmetrische Grundrisse, welche die notwendigen Wege und Plätze innerhalb des Arbeitsumfeldes definieren. Die Straßenfassaden der Gebäude hingegen sind kompromisslos in ihrer Regularität und Repetitivität. Es sah so aus, als ob ein strenger moderner Urbanismus ein Industriedorf umrahmte. Die Straßenfassaden sind jedenfalls charakteristischer für Behrens' Werk und entsprechen seiner Ablehnung von Sittes Schriften. Eine Quelle unseres Wissens über Behrens' Einstellung zu Sitte ist der Autor der ersten Monographie über Behrens, Fritz Hoeber.2 1918 schrieb Hoeber

1

Anderson, Stanford : Peter Behrens and a New Architecture for the 20th Century. Cambridge, MA: T h e M I T Press 2000.

2

Hoeber, Fritz: Peter Behrens. München: M ü l l e r u n d Rentsch 1913.

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: Stanford Anderson

5. Peter Behrens: AEG Humboldthain, Kleine Motorenfabrik, 1910-1913, Straßmansicht.

anlässlich Behrens' fünfzigstem Geburtstag eine Würdigung des Architekten, in der er insbesondere seine vergangenen und zukünftigen Beiträge zum Entwurf von Häuserensembles und innerstädtischen Gebäuden hervorhob.3 Hoeber versichert uns, dass Behrens' ausgeprägte künstlerische Sensibilität alle jene malerischen Qualitäten ausschloss, die Sitte den Architekten angeraten hatte. Im Gegenteil, »mit seiner durchgeführten Symmetrie, seiner klar sich abgrenzenden Raumklarheit, seinem jedesmal in sich geschlossenen Hauskörper« 4 folge Behrens den fundamentalen Prinzipien Albert Erich Brinckmanns und sei, wie immer, auf der Suche nach der universellen Lösung. Schon hier finden wir die einfache Abweisung Sittes durch die Gleichung: Sitte = der Malerische. Entsprechend wird Behrens für seine Suche nach dem Typischen und Universellen gelobt. Doch folgen wir vorerst dem Weg zurück zu Brinckmann. 3

Hoeber, Fritz: »Peter Behrens«, in: Hamburger Nachrichten. 14. April 1918.

4

Ebd.

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

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Während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte Hoeber einen Artikel »Stadtbau und Verkehr« in der Zeitschrift Der Architekt? Sitte wird nicht direkt angesprochen, doch provoziert die Zusammenstellung der zwei Substantive im Titel die Unterscheidung zwischen Sitte und Behrens. Hoeber assoziiert die Form der mittelalterlichen Stadt mit Fußgängerverkehr und dem partikulären Gebäudetypus des engen, vertikal organisierten Hauses. Im Gegensatz dazu steht in der Moderne das rasende Tempo der Transportmittel - der Eisen- und Straßenbahnen - , die uns, in argumentativer Analogie, zu den breiten, horizontalen Wänden unserer großen Häuserblöcke und zur modernen Vorliebe für gerade Straßen fuhren. Hoeber borgte sich diese Kernaussage seines Artikels aus einem bekannten Essay von Peter Behrens aus dem Jahr 1914 aus.6 Behrens' Essay fuhrt den Titel »Einfluss von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung«. Schon mit dem ersten Satz wird sichtbar, dass wir uns in einem sehr spezifischen kulturellen Milieu befinden: »Wenn von der Entwicklung der modernen Form gesprochen wird, so geschieht es aus der Sehnsucht nach einem eigenen Formausdruck unserer Zeit.« 7 Kaum verhüllt tritt hier die Konstruktion eines Zeitgeistes zutage sowie die Forderung an den Künstler, dem Zeitgeist Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich beruft sich der nächste Satz auf Alois Riegls Konzept des Kunstwollens, aber ohne eine namentliche Zuschreibung. Dies repräsentiert Behrens' Haltung aus der Zeit seiner Aktivitäten in der Darmstädter Künstlerkolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch hier, nach den Arbeiten für die A E G und in Berlin, und im Zusammenhang mit Fragen des Städtebaus verwendet Behrens das allgemeine, umfassende Argument zur Verfolgung spezifischer Ziele. Behrens erkennt an, dass sich ein neuer Stil noch nicht herausgebildet hat und immer nur im Rückblick als solcher erkannt wird. Weiters kann nur ein komplexes Gefiige sowohl ideeller als auch materieller Bedingungen eine Formdefinition erlauben, die eventuell zu einem Stil führen könnte. Trotzdem fährt Behrens mit dem Argument fort, dass unser Einsatz von Raum und Zeit ohne Zweifel von höchster Bedeutung für die Form ist. Die Verwendung von Raum und Zeit kann man als das rhythmische Prinzip der Formfindung ansehen - als zeitliches Maß und als Maß der Bewegung. In unserer Zeit herrscht ein ge-

5 Hoeber, Fritz: »Stadtbau und Verkehr«, in: Der Architekt 21, 1916-18, S. 73-83. 6 Behrens, Peter: »Einfluss von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung«, in : Der Verkehr (= Jahrbuch des Deutschen Werkbundes). Jena: Diederichs 1914, S. 7-10. 7 Ebd., S. 7.

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genüber der Vergangenheit verschiedener Rhythmus, eine schnellere, hastende Zeit. Wir können uns nicht mehr in der Beobachtung von Details an Gebäuden verlieren, sondern nehmen nur mehr deren Silhouetten war. Eine Architektur, die auf diese Situation reagiert, besteht aus größtmöglich geschlossenen, ruhenden Ebenen, die aufgrund ihrer ökonomischen Form (ihrer »Bündigkeit«) dem Blick keine Hindernisse bietet. Soll unter diesen Bedingungen vom Passanten etwas Bestimmtes erkannt werden, so muss es sich am Ende der Bewegungsrichtung befinden oder durch eine Wiederholung hervorgehoben werden. Nun folgt die implizite Zurückweisung Sittes. Nach Behrens muss die Anlage neuer Städte oder Stadtteile im Gegensatz zu den malerischen Prinzipien gewundener Straßen und dem idyllischen Platzgefüge alter Städte einem breit angelegten Plan folgen und lange, weite, gerade Straßen bieten. Wir dürfen nicht den malerischen Idyllen des Mittelalters folgen, sondern eher den axialen Anlagen des Barock. Behrens resümiert, dass Eile eine Gegebenheit unseres Zeitrhythmus ist sowie eine psychische Tatsache. Diese neue Zeit stellt ein neues Projekt für die Kunst dar und wird ihre großartige und einheitliche Erfüllung nur erreichen, wenn wir die rhythmische Schönheit unserer Zeit erkennen. Von Behrens hören wir also von moderner Form, formalem Ausdruck unserer Zeit, von Zeitgeist, Kunstwollen, einem neuen Rhythmus und einem rhythmischen Prinzip der Formgebung. Zur Zeit der aufkeimenden Bewegung der internationalen Stadtplanung um 1 9 i o fasste Hermann Muthesius in einem Artikel mit dem Titel »Städtebau« den neuen Sinn der jungen Architektengeneration für das Bauen von Städten zusammen.8 In der Analyse von Muthesius erkennt man insbesondere Peter Behrens. Fundamental ist die Prämisse, dass Stadtplanung als ein künsderisches Unterfangen anerkannt werden müsse. Muthesius war großzügig in seiner Anerkennung Sittes als jenem Architekten, der diese Schlacht gewonnen hatte. Doch nun, schreibt Muthesius, zwanzig Jahre später, müsse man eine Befürwortung Sittes als zu einseitig einschätzen - das Problem könne nicht einfach eine Wahl zwischen geraden und gekrümmten Straßen sein. Schlimmer noch sei der gegenwärtig häufig getätigte, doch naive Versuch von Bauunternehmern, durch Entwürfe von gekurvten Straßenmustern auf flachem Grund eine Avantgarde-Position im Städtebau einzunehmen. Allerdings sah Muthesius, dass sich die künsderische und städtebauliche Entwicklung in Deutschland weit jenseits einer solchen Naivität befand. Man 8

Muthesius, Hermann: »Städtebau«, in: Kunst und Künstler 8, 1910, S. 5 3 1 - 5 3 5 ·

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

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Peter Behrens: AEG Turbinenfabrik, Berlin, 1908-1909, Straßenansicht.

müsse, argumentiert er, die Stadtplanung in die Hände von Männern legen, welche die Fähigkeit harmonischen Formschaffens geradezu verkörperten; mit anderen Worten: von »Menschen, in denen ein Trieb nach Ordnung, Rhythmus und Harmonie die gestaltende Hand führt, und die dann auch bei intimster Berücksichtigung aller praktischen Bedürfnisse gar nicht anders als künstlerisch gestalten können«. 9 Für Muthesius bestand das gesamte Problem des Städtebauens letzdich in der Form: »Was wir jetzt zu thun haben, ist: Ordnung einzuführen. Jene höhere Übereinstimmung von Form und Zweck zu schaffen, ohne die jedes menschliche Werk unbefriedigend, hässlich, ja grotesk erscheint.«10 In wenigen Worten beschwört Muthesius die Vorrangstellung der so genannten »Raumkünsder«, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im deutschen 9 Ebd., S. 534. 10 Ebd., S. 534.

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Architekturschaffen die Oberhand gewonnen hatten. Die Schlagworte lauten: Ordnung, Rhythmus, Harmonie - übertragen auf die Bedingungen der M o derne. Obwohl es zu keiner namentlichen Nennung kommt, können wir sicher sein, dass mit den Künstlern, die jener Vorschrift gemäß arbeiten konnten, die Künstler und Architekten des zur Zeit hochdynamischen Deutschen Werkbundes gemeint waren. Und sowohl die Worte - Ordnung, Rhythmus, Harmonie - als auch die Aufgabe passten auf niemanden besser als auf Peter Behrens. Im gegenwärtigen Kontext ist es wichtig sich zu erinnern, dass alle Protagonisten dieser Geschichte ihre Positionen in Gegnerschaft zu Camillo Sitte definierten. Es gibt nun zwei Fragerichtungen, die sich anbieten - Fragerichtungen, die sich auch weiter verzweigen. Zuerst wäre nach Peter Behrens' Zeitgeist zu fragen: nach seinen Behauptungen über die Macht des modernen Tempos und dessen Implikationen für unsere Konzepte und unsere Beschäftigung mit Raum und Zeit. Und weiters, ob es denn eine Alternative zur Selbstauferlegung eines Zeitgeistes gab. Eine zweite Frage wäre jene nach alternativen Vorläufern oder Präzedenzfallen, die konkurrierende Visionen der Moderne formen könnten - oder spezifischer noch: konkurrierende Modelle für einen modernen Städtebau. Wichtiger noch scheint hierbei die Frage zu sein, auf welche Art man Vorläufer einsetzt. Ich werde kurz beide Themen anschneiden. Was den modernen Zeitgeist anbelangt, werde ich einfach an die Beschwörung kontinuierlicher, repetitiver Gebäudeformen entlang gerader Straßen erinnern (siehe etwa Abb. 3). Und so muss die Kontrastfolie - wie könnte es anders sein? - Sittes »mittelalterliches« Idyll gekurvter Straßen und geschlossener, durch individuelle Gebäudeeinheiten definierter Plätze sein. Aber es ist nicht so einfach. In seinem herausragenden Buch Competing Visions gab Akos Moravánszky eine unvoreingenommene Interpretation der Position von Sittes Städtebau11 und wies auf, dass Sitte ein umfassendes Verständnis der Veränderungen des zeitgenössischen städtischen Lebens ebenso besaß wie der Beziehungen zwischen jenen Veränderungen und den fundamentalen Entwicklungen in Ökonomie und Gesellschaft. Sitte sah gleichfalls klar die Unmöglichkeit, jene Prozesse oder Resultate per Verordnung zu ändern - und schon gar nicht aufgrund ästhetischer Vorlieben. Im Gegenteil: trotz aller seiner affekti-

1 1 Moravánszky, Ákos: Competing Visions: Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture. Cambridge, MA: The M I T Press 1998, S. 34-35.

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

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ven Zuneigung zu mittelalterlichen Straßen und Plätzen ist sich Sitte durchaus der komplexen Geschichte dieser baulichen Formen bewusst und weiß, dass deren »Zufälle der Geschichte« nicht wiedererschaffen werden können. Trotz ihrer unterschiedlichen ästhetischen Präferenzen ist Sittes Position nicht so verschieden von jener, die ich andernorts in der modernistischen Kritik von Adolf Loos aufzuweisen versucht habe.12 Sowohl Loos als auch Sitte weisen die universalisierende und romantische Verkündigung eines modernen Zeitgeistes zurück. Gleichermaßen weisen sie die von den formschaffenden Künstlern selbstauferlegte Erfordernis zurück, ein jenem Zeitgeist entsprechendes Formensystem zu erfinden. Loos und Sitte wenden sich eher einer kritischen Untersuchung der Realitäten gegenwärtiger Transformationen zu. Durch diese Form der Zuwendung zur Gegenwart finden sie sowohl eine komplex ausdifferenzierte Umgebung vor als auch zeitgenössische Initiativen, die oft ohne Vorläuferschaft sind. Sie fordern dann, in einem zweiten Schritt, (offensichtlicherweise unterschiedliche) formale Strategien, durch die sie auf angemessene Weise auf die komplexen Bedingungen der Gegenwart zu reagieren versuchen. Das »Moderne« ist far sie schon gegenwärtig; es kann nicht vermieden werden, aber es macht nicht die Gesamtheit unserer Situation aus. Was sind also die Quellen konkurrierender formaler Strategien jener, die eine »erzwungene Modernität« vertreten versus jener, die sich als prozessorientierte Agenten der Veränderung im Hier und Jetzt verstehen? Die Rolle der Vorläuferschaft ist nicht das Einzige, was ins Spiel kommt, doch wollen wir einmal mit diesem Punkt beginnen. Hier stoßen wir auf die scheinbar notwendige Konfrontation der Stadttheorie A. E. Brinckmanns mit ihrer spezifischen Anrufung von Vorläuferschaften mit jener Sittes. Es ist kein Zufall, dass Hoeber, Behrens und Architekten aus ihrem Kreis sich der Position Brinckmanns in dessen berühmtem Buch Platz und Monument11 von 1908 verschrieben. Es war Brinckmann, der, gegen Ende seines Buchs, ebenso sehr den Kreis um Behrens und Muthesius begrüßte. Scharfsichtigerweise tat er das zu einem Zeitpunkt, als sich die Errungenschaften des Deutschen Werkbundes sowie Behrens' Arbeiten für die A E G noch in ihrem Kindheitsstadium befanden.

12 A n d e r s o n , Stanford: »Sachlichkeit and Modernity, or Realist Architecture«, in : Mallgrave, H a r r y (Hg.): Otto Wagner: Rtflections on the Raiment of Modernity. Santa Monica, CA: G e t t y C e n t e r 1993, S. 3 2 2 - 3 6 0 . 13 B r i n c k m a n n , Albert E r i c h : Platz und Monument. Untersuchungen zur Geschichte und Ästhetik der Stadtbaukunst in neuerer Zeit. Berlin: E r n s t W a s m u t h 1908.

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y. Peter Behrens: Haus Obenauer, 1905-07.

C a m i l l o Sitte: M e t h o d e n der R e z e p t i o n

6. Peter Behrens: Verwaltungsgebäude derMannesniann-Röhrenwerke, Straßenansicht.

Düsseldorf,

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Brinckmann spricht bewundernd von den Architekten seiner Tage unter Verwendung des von ihnen selbst bevorzugten Ausdrucks »Raumkünsder«; er sah in ihnen die Innovatoren der modernen Zeit. Er beurteilt insbesondere Sitte als nicht in Einklang mit der modernen Zeit stehend und stellt fest, dass Sitte lediglich Rezepte anbietet, die nicht mehr als Halbwahrheiten darstellen. Wenn es bei Sitte ein Prinzip der »malerischen Gotik« gäbe, so müsse dies als bloßer Schatten eines Schattens angesehen werden, oder wörtlich, als nichts anderes als eine »Darstellung eines Effekts«.14 Durch die Raumkünsder hingegen werde Architektur wieder eine Kunst. Brinckmann versichert uns, dass wir vor jeder Theorie ein Gefühl für den Raum benötigen, und bietet bestimmte Prinzipien an, die mit seinen Lieblingsbeispielen aus der Architektur des 18. Jahrhunderts und aus der klassischen Architektur harmonieren. Im Einklang mit diesen Prinzipien werde mit den Raumkünstlern der Einsatz der geraden Linie und des rechten Winkels eine Organisation hervorbringen, die durch »Gliederung«, »Steigerung« und »Rhythmus« gekennzeichnet ist. 14 E b d . , S. 169.

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Am Ende ist das Ziel ein Verschmelzen von Vorläuferschaft und Innovation: »Neues in entwickelter Form schaffen«15, was mit produktiver Ambiguität bedeuten mag, das Neue durch die Entwicklung von Form zu schaffen, aber auch, das Neue mittels einer (schon) entwickelten Form zu schaffen. Brinckmanns Buch wie die Entwürfe seiner geliebten Architekten entstanden fast zwanzig Jahre nach Sittes Städtebau. Wir können daher fairerweise neue Verfeinerungen in der Diskussion sowohl der Moderne als auch von Vorläuferschaft als solcher erwarten. Aber ist Sitte wirklich bloß die naive Folie für diese neuen Ideen? Wir haben bereits Sittes Beschäftigung mit Urbanen Transformationen erwähnt. Was die Frage der Vorläuferschaft anbelangt, so schließen Sittes Beispiele neben mittelalterlichen »Zufälligkeiten« auch Werke des Barocken Formalismus ein. Ich schlage vor, dass die Unterschiede dieser beiden Denkschulen nicht so sehr in der Wahl ihrer Präzedenzfälle liegen (obwohl sie sich auch darin unterscheiden), und weniger noch in ihrer doppelseitigen Bekräftigung von Vorläuferschaft und Innovation, sondern eher in ihrer Methodik. Ich beginne wieder mit ihren kontrastierenden Haltungen zur Moderne. In den Beispielen von Behrens findet sich ein künstlerischer Imperativ, die unterschwelligen Tendenzen seiner Zeit zu definieren und sie in eine passende Form zu kleiden: Unsere moderne Zeit der Eile müsse effiziente Transportsysteme hervorbringen. Breite und gerade Straßen sollten so wenige Unterbrechungen wie möglich dulden müssen. Unsere rapiden Bewegungen verändern unseren sinnlichen Bezug zur gebauten Umgebung. Das Detail in der Architektur fällt unter die Aufmerksamkeitsschwelle. Die angemessene Form wird groß und zur leicht erkennbaren Silhouette. Und wenn es Detail gibt, dann nur in wiederholter Form. Dies sind für Behrens die universellen Gesetze seiner Zeit. In ihrer Eigenschaft, solche Züge wie Kontinuität und Repetitivität zu enthalten, sowie durch ihren Status der Universalität wird die Definition von Typen zu einem zentralen Anliegen. Behrens versuchte, diese Typen in seinen Fabriken, Bürogebäuden und Siedlungen zu definieren, passend zu Brinckmanns Versicherung: »Städte bauen heisst mit dem Hausmaterial Raum gestalten.«16 Während diese Art des Denkens in Richtung Rationalismus oder vielleicht sogar in Richtung einer rein funktionalen Definition von Typen und deren Organisation tendiert, 15 Ebd., S. 167 16 Ebd., S. 170.

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

7. Peter Behrens: Deutsche Botschaft in St. Petersburg, Russland, 1911-1913,

Straßenansicht.

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gehen die Architekten, Theoretiker und Historiker um 1910 keineswegs daran, Vorläuferschaft abzuerkennen. Hier sind wir wieder bei Brinckmanns Präferenz (sowie jene vieler Zeitgenossen) für den Klassizismus des 18. Jahrhunderts bzw. um 1800, der, wie man leicht sehen kann, ähnliche Ambitionen verfolgte. Man könnte diese exemplarischen Beispiele studieren und dann, wie Brinckmann vorschlägt, »Neues in entwickelter Form schaffen«. Wenn wir Moravánszkys Lesart Sittes akzeptieren, könnten wir dann nicht auch Sitte für jenen Leitspruch eintreten lassen: »Neues in entwickelter Form schaffen«? Die Antwort ist Ja. Mit Sitte könnte der maßgebliche Präzedenzfall mittelalterlich sein, doch besteht darin ein Problem ? Wollen wir einheitlich gerade Straßen und rechte Winkel lieber als gekrümmte Straßen und spitze Winkel? Freilich sind Sittes Beispiele ebenso barock wie mittelalterlich. Und wenn meine Kommentare zu Loos richtig sind, so bietet der Klassizismus des 18. Jahrhunderts auch Vorläufer an, die auf ein informiertes Verständnis der Komplexitäten zeitgenössischer urbaner Transformationen anwendbar sind. Uber die Rolle von Präzedenzfällen hinaus gibt es noch einen fundamentaleren Unterschied zwischen der Welt Brinckmanns und Behrens' und jener von Sitte. Zu einseitig sind die universalisierenden und typisierenden Bestrebungen jener, die Wahlmöglichkeiten durch die Auferlegung eines Zeitgeistes einschränken wollen. Sie stehen jenen gegenüber, die bereit sind, die historische Komplexität kritisch anzuerkennen: die unregelmäßigen Muster und zeidichen Abfolgen, die Diversität der Probleme und Chancen, welche das Hier und Jetzt der modernen Stadt ausmachen. Wenn tinter diesen Umständen Vorläuferschaft herangezogen wird, scheint eine begrenzte Palette eine unnötige Einschränkung zu sein. Warum nicht von Sitte und Loos lernen? Eine kurze Erwägung, die eine detaillierte Behandlung verdienen würde, bringt uns zu einer Konklusion. Alle Akteure meines Berichts bejahen das Heranziehen von Präzedenzfällen. Die Frage ist nun, ob es ihnen auch ein Anliegen ist, Gesetze zu finden, die ebenso der Gegenwart dienen ? Wenn Muthesius nach Ordnung, Rhythmus und Harmonie ruft (ebenso wie Behrens); wenn Behrens für die Definition von Typen und den Gebrauch elementarer Formen und deren Wiederholung eintritt; wenn Brinckmann Sitte für dessen »Halbwahrheiten« kritisiert, so müssen diese Protagonisten sich auf der Suche nach Wahrheiten und Gesetzen befinden. Dass solche ästhetischen Vorlieben die Kraft universaler Gesetze erlangen sollten, ist jedoch etwas, was nur jene gutheißen konnten, die schon daran glaubten. Ich möchte hiermit nicht das Studium und

Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

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den Einsatz von Typologien oder anderer rationaler Entwurfsmethoden ablehnen. Was ich zurückweise, sind Argumente für eine von einem Zeitgeist inspirierte "Vision, die etablierten Vorlieben eine Universalisierung garantieren soll. Meine Kritik betrifft sowohl die Vision eines Zeitgeistes als auch die Tendenz, solche Visionen als Imperative füir das Denken und Handeln anzusehen. Sittes Buch hingegen, das sich für »künstlerische Grundsätze« stark macht, ist voll von Kommentaren zu Gesetzen oder Regeln, fuhrt aber letztlich zu keiner eindeutigen Konklusion. Er schilt Reinhard Baumeister für die Aussage, dass gegebene Präzedenzfälle nicht durch Regeln oder Gesetze erfasst werden können.17 Sitte beansprucht hingegen für sein eigenes Buch, genau das zu leisten, nämlich ein einziges Regelbuch zu sein. Gleichzeitig behauptet er stolz, die alten Meister hätten keine Dogmen oder »Regelkram« benötigt. 18 Er spricht davon, von den (verlorenen) Traditionen zu (bewussten) Regeln für das Heute voranzuschreiten.19 Doch an anderer Stelle argumentiert er, dass Regeln alleine nicht ausreichen werden, um negative Resultate zu verhindern.20 Sittes Ambition ist es, aus seinen Beispielen Grundsätze oder Regeln zu beziehen, doch diese Absicht wird in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Eine Durchsicht der Illustrationen seines Buches zeigt, dass Stil keinen limitierenden Faktor darstellt und dass, selbst wo er sich auf speziellere Themen bezieht, eine Diversität von Beispielen angeführt wird. Weiters ist bei Sitte, wie wir gesehen haben, eine Ambivalenz bezüglich Regeln bemerkbar, die sicher nicht fehl am Platz ist. Es ist passender, von Sittes Buch ebenso wie von Brinckmanns als Zusammenstellungen von Beispielen in bestimmten Lesarten zu denken, die weder systematisch noch vollständig sind. Jeder Präzedenzfall, der eine tiefere Betrachtung verdient, lädt zu vielfältigen Interpretationen ein, komplementär oder nicht. Die Art, in der ein Präzedenzfall für eine spätere Zeit zur Anregung wird, wird durch neue Bedingungen sowohl der Interpretation als auch der Anwendung geregelt. Am Ende haben weder Sitte noch Brinckmann ihre Beispiele kodifiziert. Die fruchtbaren Beispiele werden jede Regel überdauern, oder besser, an Wirkung übertreffen. Diese Beobachtungen fordern eine abschließende Coda heraus. Wir wollen im Kontrast zu der Verwendung von Beispielen durch Sitte und Brinckmann 17 Sitte: Oer Städtebau, S. 89^, betreffend Reinhard Baumeisters Buch: Stadt-Erweiterungen nischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung. Berlin: Ernst & Korn 1876. 18 Sitte: Der Städtebau, S. 22. 19 Ebd., S. 135. 20 Ebd., S. 179.

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: Stanford Anderson

New Urban News THE T E C H N I C A L PAGE

The turbine square Category: public open space. Subcategory:

plazas ami squares.

A N D R E S DUANY. MICHAEL M O R R I S S E Y . AND PATRICK P I N N E L L

Editor's Note. This page is the first of a series dedicateli to detailing the techniques appearing in The Lexicon of the New Urbanism.

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square is a public space, defined by building frontages, seldom larger than a block, usually occurring at the intersection of important streets. The streetscape of a square consists of a formal landscape of trees, lawn, and paved paths. Λ plaza is similar but its streetscape consists primarily of pavement. The standing of civic buildings is invariably enhanced when they are located within or along these types of public spaces. A turbine square is so named because its points of entry are eccentrically placed. It is also called a pin wheel square. This type of square is particularly suitable for residential use because it discourages through traffic. It may be considered a traffic calming device without resorting to rotaries. The turbine type is characterized by extreme spatial enclosure as there are only four exits as opposed to the eight, two at each corner, of the conventional square. The sense of enclosure is intensified because each of the entrance axes is received by a building, rather than flowing past the space. These terminations yield several opportunities for architectural articulation. A turbine square can take a variety of shapes, including triangular or elongated. The turbine square was a great favorite of Camillo Sitte, but unaccountably, it has not been much used in the past century. A version was recently built in the new urbanist T O D of Vermillion, near Charlotte, North Carolina. •

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den heute aktuellen New Urbanism in den Vereinigten Staaten betrachten. Die Vorschläge des New Urbanism beziehen sich auf verschiedene Quellen, nicht immer auf explizit angeführte. Eine ausgewiesene Bezugnahme stellt eine der zentralen Platzformen in Sities Schrift dar: der »Turbine Square«, Terminated Vista wie es das Lexicon of the New Urbanism, herausgegeben von den Führern der Bewegung, Andres Duany und Elizabeth Plater-Zyberk, definiert.21 Ein anderer Eintrag in das Lexikon, der sich zumindest teilweise der Bezugnahme auf Sitte verdankt, ist »Urban Vistas«, mit den Subkategorien Deflected Vista »Terminated Vistas«, »Deflected Vistas«, und »Layered Vistas«. Derartige fragmentarische Elemente des Stadtbauentwurfs finden sich in immer umfassenderen Konstrukten des New Urbanism eingebunden. Tatsächlich gibt es nicht bloß eine Reihe von Plätzen, Straßen und Urbanen Räumen, sonLayered Vista dern all diese sind in geschlossenen Systemen, die sich durch Ein- und 9- »Urban vistas«. Ausschluss definieren, enthalten. Ein breites, organisierendes Konzept ist jenes des »Urban Transect«, worunter ein komprimierter Plan verstanden wird, der die charakteristischen Formen von Dichte zwischen ländlicher Umgebung und Innenstadt diagrammatisch darstellt. Jedem Stadium des Transect werden bestimmte günstige bzw. ungünstige Subsysteme wie z. B. Straßentypen zugewiesen. Unter dem Ausgeschlossenen befindet sich so gut wie die gesamte moderne Architektur, wie sie 2 1 The Lexicon of the New Urbanism, Version 3.2. Miami : Duany Plater-Zyberk & Co. 2002. Die ersten beiden hier gezeigten Abbildungen entstammen der Vorbereitungsarbeit fiir das Lexikon, wurden aber in der Zeitschrift New Urban News 2001 veröffentlicht.

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Camillo Sitte: Methoden der Rezeption

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vom New Urbanism verstanden wird. Wie man von einer Publikation, die den Namen »Lexikon« trägt, erwarten würde, definieren die New Urbanists ihre Ausdrücke. Ausdrücke, die auf unerwünschte Bedingungen referieren, werden zuerst definiert und dann mit einem >X< überschrieben. Die ausgekreuzte Definition von »Dingbat« enthüllt ihre Haltung gegenüber der modernen Architektur und, per Analogieschluss, zu formalen Innovationen in der Architektur überhaupt: »DINGBAT: a building which denies typological discipline without functional justification, or which is otherwise disruptive to the urban fabric. Modernist buildings tend to extremes of articulation and heterogeneity of tectonic expression as the modernist design process values unconstrained invention over emulation or urban context, TND [Traditional Neighborhood Design] codes attempt to preclude dingbats except with buildings which are expected to be fully expressive of the institutions they embody.« 22

So viel zur Modernen Architektur. Ich würde mich sowohl vor elaborierten Systematisierungen als auch vor tief verwurzeltem Widerstand gegen Innovation sehr hüten. Trotzdem ist der Ernst des Unterfangens des New Urbanism beeindruckend - was von sorgfältigen Studien zu vernünftigen Standards für Distanzen und Dimensionen für Straßen und anderen Stadtformen bis zu breiteren, die Gesellschaft und Umwelt betreffenden Themen reicht. Obwohl diese Schriften ein Jahrhundert nach Sitte und Brinckmann verfasst werden, schulden sie ihnen viel. In ihrer Systematisierung jedoch gehen sie weiter als die früheren Autoren. New Urbanism ist präziser und entschlossener, ein Regelwerk zu entwerfen, und treibt die Kodifizierung des Entwerfens von Städten generell weiter voran. Hier möchte ich jedoch auf meine frühere Überlegung zurückkommen. Die Förderung und Verbreitung wertvoller exemplarischer Lösungen ist ein fruchtbares Unterfangen. Aber für das Handeln in der Komplexität des Hier und Jetzt riskiert jede umfassende Kodifizierung, eine einschnürende Beschränkung darzustellen. Wir benötigen die kritische Untersuchung der Bedingungen, in denen wir uns selbst befinden, innovative Interpretationen anerkannter Präzedenzfälle, aber genauso eine kritisch konzipierte formale Innovation. Solch ein kritischer Zugang kann typologische Studien beinhalten, die sehr fruchtbar oder gar notwendig sein können, 2 2 E b d . , §J 5 .2.

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: Stanford Anderson

um viele Probleme der Gesellschaft und der Entwurfspraxis zu adressieren. Aber ein kritischer Gebrauch von Typologien wird auch die Komplexitäten verschiedener Zeiten und Plätze berücksichtigen. Ich denke, dass Camillo Sitte in dieser Arena gespielt hat, mit einer gewissen Bescheidenheit in der Interpretation seiner Beispiele und in deren Anwendung, doch zu einem Zeitpunkt, der seinem Denken einen großen Einfluss sicherte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard

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Christiane Crasemann Collins

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik. Die frühen Boten: Raymond Unwin, John Nolen und Werner Hegemann

Ein lebhafter, internationaler Ideenaustausch zwischen Wissenschaftlern und Planern und Architekten kennzeichnete die aufkommende Stadtplanung in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Etwas neidisch liest man von Kongressen, Ausstellungen und Publikationen, die Spezialisten zustande brachten, um strittige, die rasch wachsenden Städte der industriellen Welt wie der Entwicklungsländer betreffende Punkte zu diskutieren. Wie Anthony Sutcliffe 1 passend feststellte, wurde die Stadtplanung zu einer wahrhaftig »internationalen Bewegung«. Trotz der Rückschläge durch zwei Weltkriege hat der Urbanismus heute wieder etwas von dieser Lebhaftigkeit gewonnen. Da jene erste große Bewegung ein wichtiger Bezugspunkt der heutigen Debatte bleibt, lohnt es sich, einen Blick auf sie zu werfen. Eine Untersuchung der früheren Phasen dieses internationalen Austausche profitiert von der Erforschung ihrer verschiedenen und verflochtenen Tendenzen. Hier kann man, in einer ersten Annäherung, hauptsächlich zwei Arten unterscheiden, durch die Planungskonzepte verschiedene Länder erreichten.2 Eine war die Übertragung von Modellen und die Verpflanzung vorgefertigter »Blaupausen« in andere geographische und kulturelle Umgebungen, in der Sutcliffe, Anthony: Towards the Planned City. Germany, Britain, the United States and France ιη8οIÇI4- Oxford: Blackwell 1981, S. 163-201. 2 Ward, Stephen V: »The Garden City Tradition Re-examined«, in: Planning Perspectives 5, 1990, 1

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: Christiane C r a s e m a n n Collins

Hoffnung, dass sie dort gedeihen würden. Eine solche Episode ergab sich bei Le Corbusiers Einladung zur Beratung für die Verbesserung des Verkehrs und der Verminderung der Uberbevölkerung des Stadtzentrums nach Buenos Aires im Jahr 1929. Schon bei seiner Ankunft hatte er seine Pläne für Paris in der Tasche - nämlich die Stadt für drei Millionen (1922) und den Plan Voisin (192 5) und schlug vor, diese in Buenos Aires auszuführen. Eine andere Route, durch die Planungsideen Länder jenseits ihres Ursprungs erreichten, führte über die Verbreitung und Diffusion mit einer Betonung auf Konzept, Theorie und Verfahren anstelle von Struktur. Diese Übertragung verlief selten in nur eine Richtung und entwickelte sich häufig auf zirkulierende Weise. Auf dem Weg wurden Elemente verschiedener Regionen integriert, um dann transformiert zum Ort des Ursprungs zurückzukehren und wieder in neue Richtungen aufzubrechen. Ein Beispiel dieser mäanderartigen Typologie ist die Englische Gartenstadt. Varianten der ursprünglichen Idee waren bald weltweit verbreitet, jedoch schon früh in einer von ihren kooperativen und sozialen Prinzipien befreiten Form. Aufgrund ihres Nahverhältnisses zu Camillo Sitte wird auf die Gartenstadt hier noch öfters Bezug genommen werden. Diese Untersuchung wird sich drei Boten, die für die Übertragung und Verbreitung von Camillo Sittes Ideen zentral waren, widmen. Raymond Unwin (1863-1940), John Nolen (1869-1937) und Werner Hegemann (1881-1936) symbolisieren und verkörpern die Rolle personeller Netzwerke, die zur Verbreitung dieser Ideen beitrugen - was eine Schwerpunktsetzung auf Personen anstatt auf Themen für diese Studie rechtfertigt. Die drei verband außer Freundschaft die Überzeugung, dass vernünftige Stadtplanung eine weitgehende Verbesserung für die Menschheit bringen würde. Sie waren außerdem Weltreisende und überquerten wiederholt den Atlantik. Durch ihre weitläufigen Verbindungen beeinflussten sie den amerikanischen wie den europäischen Urbanismus. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt auf der Rezeption Camillo Sittes in Amerika. Raymond Unwin Die Verbindung zwischen Unwin und Sitte hatte ihren Anfang 1910, als Unwin die »Allgemeine Städtebau-Ausstellung« in Berlin besuchte. Er war offizieller S. 249-256, sowie: Ders.: »The International Diffusion of Planning: A Review and a Canadian Case Study«, in: International Planning Studies 4/1, 1999, S. 53-70.

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

IUrx· 160.—Plaits ana groups of placcs adapted to modem conditions, Camillo Sitte. D is the Neuemarkt, Vienna.

as recommended

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ι. Seite aus Raymond Unwin: Town Planning in Practice, 1909.

Delegierter des Royal Institute of British Architects, dessen Mitglieder eine Ausstellung in Verbindung mit der »Town Planning Conference« in London planten. Unwins Aufmerksamkeit galt den preisgekrönten Entwürfen des Wettbewerbs für die Planung von Groß-Berlin, da Berlins Probleme jenen von London glichen. Unwins Berichte über die Ausstellung in Berlin erwähnen das von Plänen und Zeichnungen für die Umgestaltung des Karlsplatzes umringte große

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: Christiane Crasemann Collins

STRASSEN PFLÛRU.

2. Camillo Sitte: Bebauungsplan von Marienberg.

Modell von Wien. 3 Es ist bemerkenswert, dass Unwin die Verbindung von Sitte zu Wien nicht wahrnahm, wohl aber eine Verbindung von Sitte zu Berlin, was sicherlich daran lag, dass die erste, ausschließlich der Stadtplanung gewidmete Zeitschrift Der Städtebau von Camillo Sitte und Theodor Goecke 1903 in der Stadt Karl Friedrich Schinkels gegründet wurde. Veröffendicht im WasmuthVerlag, wurde sie nach Sittes Tod von Goecke weitergeführt und erlangte bald internationale Reputation. Die Zeitschrift war jedoch nicht die einzige Verbindung zwischen Sitte und Berlin für Unwin. Die von der Bewegung für Groß-Berlin hervorgerufenen Diskussionen der Architekten und Planer erzwangen eine erneute Erwägung 3

Unwin, Raymond: »The Berlin Exhibition of Town Planning«, in: The Builder 99, 1910, S. 17-19.

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

5. Camillo Sitte: Marienberg, Kirchenplatz.

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: C h r i s t i a n e C r a s e m a n n Collins

von Sittes Ideen und deren Einfluss zwei Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung von Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Urbanisten aus Europa und Amerika, die sich zur Ausstellung versammelt hatten, debattierten, ob Sittes »Grundsätze« mit den Erfordernissen der modernen Metropole und der Regionalplanung vereinbart werden könnten. Unwin nahm an diesen Debatten im Kontext des klassischen Berlins teil. Seine Eindrücke fanden in seinen Artikeln und in seinem Buch Town Planning in Practice: An Introduction to the Art of Designing Cities and Suburbj4 Niederschlag. Absicht des Buches war die Förderung der Garden Cities und die Einfuhrung Sittes in ein englischsprachiges Publikum. Unwins Buch wurde zur wichtigsten Quelle für die englischsprachige Rezeption Sittes, bis Hegemann und Peets in ihrem 1922 erschienenen The American Vitruvius: Civic Art eine illustrierte Zusammenfassung von Sittes Der Städtebau veröffentlichten. Obwohl Unwin die deutsche Sprache ziemlich gut beherrschte, basierte sein Buch auf der französischen Übersetzung von Sittes Buch von 1902, welche dem Original nicht in jeder Hinsicht treu war.5 Unwins Aufenthalt in Berlin machte ihn mit einigen von Sittes städtebaulichen Projekten bekannt, die auf der Ausstellung gezeigt wurden, darunter die Stadterweiterung für Marienberg in Schlesien und der Plan für den Kurort Marienthal in Osterreich. Unwin selbst hatte die Pläne der ersten englischen Gartenstadt Letchworth (1903) und der Gartenvorstadt Hampstead (1909) ausgestellt. Auch wurden Gartenstädte aus Deutschland und den skandinavischen Ländern ausgestellt. Aus vielen Berichten geht hervor, dass diese innovativen Planungen für Wohngebiete von der Öffentlichkeit mit Begeisterung aufgenommen wurden. Der bildhafte Eindruck der Berliner Ausstellung initiierte eine Verbindung zwischen Sitte, der Gartenstadt und der Gartenvorstadt, die bis heute andauert. Auf der Basis seiner Erfahrungen in Berlin revidierte Unwin sein Buch 7σζνη Planning in Practice für die Neuauflage von 1 9 1 1 . Auch diese war von Sitte'sehen Bildern und Ideen durchdrungen, sogar einige Kapitelüberschriften ähneln jenen in Sittes Städtebau. Sittes Einfluss geht jedoch über die Grundsätze hinaus

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Unwin, Raymond: Town Planning in Practice. An Introduction to the Art of Designing Cities and Suburbs. London: Fisher 1909. (Reprint 1910 und 1 9 1 1 ; 2. überarbeitete Auflage mit einer neuen Einleitung 1934)

5

Zur Diskussion der französischen Ubersetzung durch Camille Martin (1902) siehe: Collins, George R. / Collins, Christiane Crasemann : Camillo Sitte: The Birth ofModern City Planning. N e w York: Rizzoli 1986 (2. überarbeitete Ausgabe der Erstauflage von 1965), S. 78-88.

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

:

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bis zu den Konzepten, die sich auf Wohngebiete und neue Stadtgründungen, die New Towns, bezogen. In seiner Einleitung zur zweiten Auflage von 1 9 1 1 kommentiert Unwin die Wichtigkeit der Ausstellungen in Berlin wie auch der folgenden in Düsseldorf und London: sie hätten die Möglichkeit geschaffen, städtebauliche Arbeiten der wichtigsten Länder der Erde vergleichend zu studieren, und hätten Material zur Verfügung gestellt, um die in seinem Buch präsentierten Ideen mit neuer Kraft illustrieren zu können.6 Zusätzlich zu seinem Buch Town Planning in Practice förderte Unwin die Verbreitung von Sittes Ideen durch seine Teilnahme an Konferenzen, durch seine zahlreichen transatlantischen Verbindungen und Reisen sowie durch Vorträge und weitere Veröffentlichungen. Von 1 9 1 1 an unternahm er mehrere Reisen in die Vereinigten Staaten, bei deren erstem Besuch er auf John Nolen traf, der schon damals in der noch jungen Disziplin der Stadtplanung seines Landes hohes Ansehen genoss.

John Nolen In Europa ist John Nolen weit weniger bekannt als Unwin. Seine erfolgreiche Praxis als Planer verband er mit intensiven Beteiligungen an einer Reihe von Organisationen und Veranstaltungen. Er unternahm mehrere Europareisen, bevor er sich zum Studium der Landschaftsarchitektur an der Harvard-Universität entschloss; ein Studienzweig, der bald um Stadtplanung erweitert wurde. Einer seiner Mentoren war der einflussreiche Park- und Landschaftsplaner Frederick Law Olmsted Sr. Nolens Berufswahl war vom Glauben motiviert, dass der Stadtplanung eine Schlüsselrolle im allgemeinen menschlichen Fortschritt zukam. Sein frühes Studium an der University of Pennsylvania unter Simon N . Patten erweckte Nolens Interesse für die Thesen des Progressivismus. Er übernahm die Uberzeugung, dass eine gut geplante Umgebung nicht nur das allgemeine Befinden der Bevölkerung positiv beeinflussen, sondern auch die Basis einer zivilen Gesellschaft darstellen würde. Nach Nolen brachte die Stadtplanung Ordnung in chaotische Städte und förderte funktionierende Gemeinschaften. Seine Philosophie schloss ebenso eine Wertschätzung der Natur mit ein, die in all seinen Projekten zum Ausdruck kam. Sein Idealismus, gepaart mit 6

Unwin, Raymond: Town Planning in Practice. N e w York: Princeton Architectural Press 1994, S. Χ Π Ι (aus der Einleitung zur zweiten Ausgabe 1 9 1 1 . Erstausgabe 1909).

136

: Christiane C r a s e m a n n Collins

einem pragmatischen Geschäftssinn, verhalf ihm zu einer erfolgreichen Berufspraxis. Diese flüchtige Darstellung von Nolens Weltanschauung beleuchtet die vielseitigen Ubereinstimmungen mit Unwin und dem verehrten Vorbild Sitte. Wahrscheinlich lernte Nolen Sittes Ideen auf seinen Reisen in Deutschland kennen, insbesondere bei seinem Aufenthalt von 1901-1902, als er Kurse an der Universität München besuchte, unter anderem über Deutsche Architektur. Theodor Fischer lehrte dort als angesehenes und einflussreiches Mitglied der »Sitte'schen Schule«, auch »Fischerschule« genannt, und leitete die Stadterweiterung von München seit 1893. Nolens frühe Kontakte zu Sittes Nachfolgern, doch scheinbar nicht mit Sitte selbst, wurden durch die Verbindung zu Unwin erweitert. Das lässt sich in Nolens Werk ablesen, welches von der Verbreitung (diffusion) von Sittes Ideen und der Verschmelzung (fusion) jener mit den Konzepten der Gartenstadt und der Gartenvorstadt gekennzeichnet ist, jedoch von einer entschieden amerikanischen Perspektive aus gesehen. Nolen ist daher eine Schlüsselfigur in der Verbreitung von Sittes Ideen jenseits des Atlantiks. Seine Bedeutung wurde durch seine wichtige Position im amerikanischen Urbanismus gesteigert, zu einer Zeit, in der sich die Disziplin energisch durchzusetzen begann. Nolens Teilnahme an Vereinigungen und Konferenzen, seine Vorträge, Publikationen und internationalen Verbindungen hoben das Selbstbewusstsein der noch jungen Disziplin, als sie sich von der Architektur abzusetzen begann, jedoch weiterhin der Landschaftsplanung nahe blieb. Die große Anzahl von Nolens Projekten und ausgeführten Werken - ungefähr 450, einschließlich Gesamtplänen für 29 Städte, 27 New Towns, Landes- und Regionalplanungen - hinterließen einen bleibenden Eindruck auf der amerikanischen Stadtlandschaft. Möglicherweise von Unwin beeinflusst kam Nolen zur Uberzeugung, dass geplante Dezentralisierung und New Towns das größte Potenzial enthielten, städtischer Übervölkerung gegenzusteuern. Seine Projekte vermittelten eine Atmosphäre von Gemeinschaftssinn und eine Ethik ziviler Werte, welche sie von anderen, hauptsächlich auf Wohnungsbauten bezogenen Entwürfen abhob. Unter Nolens New Towns lohnt es sich, Mariemont in Ohio (1921-192 5) hervorzuheben.7 Eine gewisse Ähnlichkeit mit Sittes Erweiterungsplan für Marienberg in Schlesien geht über den Namen hinaus. Sittes Plan war in Berlin 1910 ausge7

Rogers, Miliard F. Jr .-.John Nolen and Mariemont: Building a New Town in Ohio. Baltimore : Johns Hopkins Univ. Press 2001.

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

4. John Noten: Mariemont,

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137

1921-25.

stellt und wurde in der ersten Nummer der Zeitschrift Der Städtebau 1904 gemeinsam mit seinen »Erläuterungen zu dem Bebauungsplane von Marienberg« veröffentlicht. Nolen mag den Plan nur aus der Zeitschrift gekannt haben, da es unsicher ist, ob er die Ausstellung tatsächlich besuchte. Die Ähnlichkeit von Mariemont mit der englischen Gartenstadt, insbesondere mit der jüngsten, Welwyn8, wurde bereits bemerkt, als sie sich noch früh in Konstruktion befand. Mariemont wird oft als »amerikanisierte« Variante der Gartenstadt bezeichnet, 8

Welwyn Garden City in Hertfordshire wurde ab 1919 von der Garden City Association unter der Mitwirkung des Architekten Louis Soissons entwickelt.

138

:

C h r i s t i a n e C r a s e m a n n Collins

eine Verbindung zu Sitte wurde, soweit ich die Diskussion überblicke, nie festgestellt. Nolens Plan fur Mariemont, eine New Town fiir Arbeiter, platzierte ein Ortszentrum als Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens, ähnlich zu Letchworth und Welwyn, mit Geschäften und Dienstleistungsunternehmen, einem offenen Markt und Verwaltungsgebäuden. Für weitergehende Bedürfnisse lag Cincinnati in der Nähe, als dessen Satellitenstadt Mariemont konzipiert war. Sittes »Erläuterungen« zu Marienberg erklären, warum er sich für drei Stadtzentren entschieden hatte, fiir die Kirche, das Rathaus und den Markt, jeweils mit zugeordnetem Platz. Die Gründe waren, dass Rathaus und Kirche nicht gut an ein und demselben Platz errichtet werden könnten, da sie, derart nahe versammelt, ihre ästhetische Wirkung nicht entfalten könnten und daher nicht zusammenpassten, und dass fiir eine Stadt von der Größe Marienbergs drei Zentren vorteilhafter wären als eines. Werner Hegemann äußerte sich, Sittes Ansichten folgend, in einem auf einem Vortrag Nolens basierenden Artikel, 1927 in der Zeitschrift Der Städtebau erschienen, kritisch über das Stadtzentrum Mariemonts. Hegemann schreibt: »Der unselig zerrissene >Platz< [...], um den sich die öffentlichen Gebäude gruppieren, stellt einen häßlichen Kreuzweg dar, der mit Recht scharf verurteilt wurde.« 9 Ein ähnliches Urteil ist in Hegemanns Buch Amerikanische Architektur und Stadtbaukunst10 zu lesen. Mariemont wurde oft als die amerikanisierte Variante der Gartenstadt angesehen und diente als Beispiel für andere Planungen wie Sunnyside Gardens (1926) in New York und Radburn (1926-1928) in New Jersey von Clarence Stein und Henry Wright. Ein weiteres wichtiges Gartenstadtprojekt von Nolen ist Venice in Florida. 11 In diesem nicht ausgeführten Entwurf ist die pittoreske, am Golf von Mexiko gelegene Uferlandschaft durch einen Grüngürtel geschützt, der an ein die Stadt durchziehendes Netz von Freiräumen und »parkways« angebunden wurde. Seinem Glauben treu bleibend, vereinbarte Nolen seine Naturliebe mit seiner Befürwortung ziviler Tugenden, indem er diagonale Straßen von den Grünanlagen zum beeindruckenden Stadt- und Gemeindezentrum (civic center) führte. Nolens Design der Parks und die rücksichtsvolle Beachtung der landschaftlichen Reize sind vergleichbar mit Sittes Ansichten in

9 Werner Hegemann in einer Anmerkung zu: »Neue Siedlungspläne und neue Lebensbedingungen. Auszüge aus einem Vortrage von John Nolen«, in: Der Städtebau 22, 1927, S. 50-54, S. 50. 10 Hegemann, Werner: Amerikanische Architektur und Stadtbaukunst. Berlin: Wasmuth 1925. 11 Urban America: Documenting the Planners. An Exhibition at Cornell University, 1985. S. 11-19.

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

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Joint Noten. CambuJge

$-6. John Nolen: Urban America: Documenting the Planners.

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Matt.

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140

: Christiane Crasemann Collins

seinem Artikel »Großstadtgrün«, und auch mit jenen von Frederick Law Olmsted Sr. In den zwanziger Jahren, als Mariemont und Venice geplant wurden, waren Sittes Ideen bereits weit verbreitet, vor allem in Bezug auf amerikanische Gartenvorstädte und New Towns, obwohl dies selten anerkannt wurde. Im heutigen Kontext schätzen die Befürworter des New Urbanism ihren Bezug auf Sitte, Unwin, Nolen und Hegemann - auch sind sie davon überzeugt, dass die Konzepte dieser Vorgänger mit heutigen Erfordernissen zu vereinbaren sind.

Werner Hegemann

Camillo Sitte war nicht das einzige Verbindungsglied zwischen Unwin, Nolen und Hegemann. Sie pflegten einen kontinuierlichen Gedankenaustausch, der ihnen persönlich wie auch dem aufkommenden Urbanismus zugute kam. Hegemann und Nolen trafen sich 1909 bei der ersten National City Planning Conference in Washington, D.C., der Hegemann auf dem Weg nach Bosten beiwohnte, um dort an der »Boston I9i5«-Bewegung teilzunehmen.12 Unter den in Washington versammelten Planern waren mehrere, die für Hegemanns künftige Karriere in den Vereinigten Staaten von Einfluss waren. Er blieb mit Nolen in Kontakt, als er in Boston die Ausstellung für Berlin von 1910 vorbereitete. Nolen und Hegemann hatten beide an der University of Pennsylvania bei Simon N. Patten studiert und waren von dessen Progressivismus beeinflusst. Nach seinem kurzen Aufenthalt in Boston kehrte Hegemann für drei ereignisreiche Jahre nach Berlin zurück. Er leitete die Ausstellungen in Berlin und darauffolgend in Düsseldorf und beteiligte sich an einer Vielzahl von Aktivitäten und Publikationen. Wie schon erwähnt, waren Sittes Pläne zu sehen, und Hegemann nahm an den Diskussionen um Sittes Ansatz teil. Auch pflegte er Verbindungen zu Menschen, die Sitte persönlich gekannt hatten, insbesondere zu Theodor Goecke, der die Zeitschrift Der Städtebau weiterhin leitete. Die Bekanntschaft mit Unwin und die Beschäftigung mit den englischen Gartenstädten hatten weitreichende Konsequenzen für Hegemann. In Berlin vertiefte sich sein Engagement für Wohnungsbau und Wohnungspolitik, wobei das Kleinhaus mit Garten, so attraktiv in den englischen Beispielen präsentiert, zu seinem lebenslänglichen Ideal wurde. 12 Siehe Collins, Christiane Crasemann: »Werner Hegemann (1881-1936): Formative Years in America«, in: Planning Perspectives 11, 1996, S. 1-21.

Sitte: Ü b e r t r a g u n g und V e r b r e i t u n g über d e n A t l a n t i k

•WASHINGTON HIGHLANDS forwmtty A, BABST FARM

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1 41

RICHTER . DICK AND KEUTEMAN 416 CASWELL BLOCK. MILWAUKEE W1ÄMANAGERS

PLAN: PRIVATE PARKS. PLAZAS, BOULEVARD- AND PLANTING-STRIPS SHOWN IN GREEN

Wn-ner Hegemann ir Elbert Peets: Washington Highlands, Wisconsin, ig ig.

142

: Christiane Crasemann Collins

8. W. Hegemann &E. Peets: Wyomissing Park, Pennsylvania,

1919.

Nach der wichtigen Periode in Berlin folgte Hegemann 1913 der Einladung zu einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Sein Vorhaben, nach einem Jahr nach Europa zurückzukehren, wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert und führte zu seinem Aufenthalt im Mittelwesten von Amerika von 1916-1922. Ausgedehnte Reisen und längere Aufenthalte im Land förderten Hegemanns bewunderndes Verständnis für Amerika, das er in den folgenden Jahren in Europa durch Publikationen, Vorträge und Ausstellungen zu verbreiten trachtete. In erster Linie ging es ihm um die Verbreitung von Stadtplanungskonzepten der Neuen Welt in Europa, da diese bislang noch kaum Beachtung fanden, im Gegensatz zum Interesse am »Amerikanismus« in der Architektur. Hegemanns Ansichten erweiterten und veränderten sich in den Auslandsjahren, und er schätzte Rasterplan und Wolkenkratzer vorteilhafter ein als zuvor. Das amerikanische Milieu beeinflusste auch seine Einschätzung von Sitte, die zuvor von seinen Erlebnissen in Berlin geprägt war. Die gewonnenen Einsichten hatten Widerhall in den Projekten der Partnerschaft von Hegemann & Peets als Landschaftsarchitekten und Planer, gegründet 1916 in Milwaukee. Dies bedeu-

Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik

:

143

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C E N T E I L •*•* V O T O M I S 5 Ï Ï N O

K M C M A Ü i r A H » M K T S Cm'5>lAMNINOkumeniker< der Vergangenheit aus der benediktinischen Tradition«, in : Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 97, 1986, S. 2 37ff. 11 Schwarz 1999 (s. A n m . 2), S. i6(. 12 Brief, datiert » S a l z b u r g 29. M a i 1876«, m i t H i n w e i s auf » B u c h e r u n d G r a u t h , D a s K u n s t h a n d werk, I . J a h r g a n g , Blatt 78«. A M C W ( s . A n m . 1), signiert von Sitte Camillo, 1876.

Ideologie und Stilbegriff

¿f. Mechitaristenkirche Wien, Fassade.

:

1 75

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: Mario S c h w a r z

tektur in Oesterreich und Ungarn«, den er Professor Carl von Lützow widmete, schreibt: Der Bau der Mechitaristenkirche wurde »schnurgerade entgegen dem alleinherrschenden Dogma, dass jede Kirche selbstverständlich gothisch sein müsse, in deutscher Renaissance« gestaltet, »deren Wiederbelebung damals gerade erst aufzudämmern begann«. Camillo Sitte nennt sich in diesem Aufsatz nicht selbst als Schöpfer des Entwurfs, hebt jedoch hervor, die »öffendiche Meinung erklärte es einhellig als erfreuliches Ereigniß, dass nunmehr auch auf kirchlichem Boden der Bann der Gothik gebrochen sei«. 13 Es mag auf diese Schrift Camillo Sittes zurückzuführen sein, dass in der Literatur bis in die jüngste Zeit die Mechitaristenkirche immer wieder als ein Bau der deutschen Neorenaissance bezeichnet wurde. Einige Jahrzehnte früher hatte Camillo Sittes Vater Franz Sitte eine künstlerische Argumentation in ganz entgegengesetzter Richtung vertreten: Als Bauleiter und Vollender der von dem jungen, früh verstorbenen Schweizer Architekten Johann Georg Müller entworfenen Altlerchenfelderkirche war Franz Sitte für ein programmatisches Bauwerk des romantischen Historismus verantwortlich gewesen, bei dem gerade das Bekenntnis zur Gotik zum zentralen Ausdruck eines erneuerten künsderischen Selbstbewusstseins wurde. Damals wurde der »Beamtenarchitektur« des Hofbaurates unter Architekt Paul Sprenger eine Absage erteilt, die Formen der italienischen Sakralarchitektur der Renaissance vertreten hatte. Franz Sitte dagegen verstand sich als Träger jener von Johann Georg Müller verkündeten Erneuerungsbewegung, die künsderische Freiheit mit religiöser Vertiefung, ganz ähnlich wie im Künsderkreis der Nazarener, zu verbinden suchte.14 Nun wird aus vielen biographischen Einzelheiten deudich, dass Camillo Sitte zu dieser Gedankenwelt ein zumindest ambivalentes, zeitweise sogar durchaus

13 Sitte, C a m i l l o : » D i e neuere kirchliche Architektur in Oesterreich und U n g a r n « , in: Oesterreichisch-ungarische Revue. Monatsschrift fitr die gesamten Culturinteressen Oesterreich-Ungarns, Bd. ΙΠ, 1886, S. 65-87. Zit. nach einem Sonderdruck dieses Aufsatzes, der sich im Sitte-Nachlass am Institut für Städtebau der Technischen Universität W i e n befindet (Sign. SN: 190-450), S. 18. Der Sonderdruck trägt die handschriftliche W i d m u n g : » H e r r n Prof. C . v. Lützow in hochachtungsvollster Verehrung Camillo Sitte«. 14 Rieger, Franz: Die Altlerchenfelder Kirche, ein Meisterwerk der bildenden Kunst. Zur Feier desfiinfzigsten Jahrestages ihrer Einweihung (29. September 1861 - ig. September ign) beschrieben underklärt im Namen des unter dem höchsten Protektorate Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Rainer stehenden, veranstaltenden Komitees durch Franz Rieger k.u.k. Feldmarschalleutnant. W i e n : Gerlach & W i e d l i n g 1 9 1 1 , S. 8ff.

Ideologie und Stilbegriff

j. Mechitaristenkirche Wien, Eingang.

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177

1 78

: Mario Schwarz

gespanntes Verhältnis hatte. Wir erfahren, dass Camillo Sitte, dessen größte architektonischen Einzelwerke - neben der Wiener Mechitaristenkirche die Pfarrkirchen von Temesvar (1884) und Privoz/Oderfurth (1894-1899) 15 - gerade im Bereich der Sakralarchitektur entstanden, bereits in seinem ersten Zeitungsartikel eine ausgesprochen kirchenfeindliche Haltung einnahm, er spricht vom »kunstmörderischen Einfluß des Christentums«. 16 1871 greift Camillo Sitte die päpstliche Enzyklika an, die den Modernismus verdammt, und prangert die Heiligsprechung des Großinquisitors Peter von Arbues an. Er fordert, dass Europa von der christlichen Weltanschauung und vom blinden Dogmenglauben befreit werde und dass auf neuen Grundlagen eine neue Wissenschaft begründet werden könne. 17 Hand in Hand mit Camillo Sittes Kritik an der katholischen Kirche geht seine pangermanische Haltung, die von Michael Mönninger erkannt und aufgezeigt wurde: Camillo Sittes Feindseligkeit gegenüber dem Katholizismus steht in engem Kontext mit den pangermanischen Bestrebungen Bismarcks und dessen Kulturkampf gegen Rom, der auch in Osterreich in deutschnationalen Kreisen große Beachtung fand. 18 Im Gegensatz dazu verhielt sich Camillo Sitte gegenüber den katholischen in Glaubensfragen also mit der römischen Kirche unierten - Armeniern des Mechitaristenordens außerordendich achtungsvoll, zuvorkommend und aufopfernd hilfsbereit, wie aus erhaltenen Briefen an die Generaläbte der Congregation zu entnehmen ist.19 Camillo Sitte erkannte die Möglichkeit, den Bau der Mechitaristenkirche weitgehend nach eigenen Vorstellungen zu einem Gesamtkunstwerk von Architektur, Malerei, Plastik und Kunsthandwerk auszugestalten. Er entwarf ein reichhaltiges ikonographisches Programm für die malerische Ausgestaltung des Kircheninneren, zeichnete selbst die Kartons für das große Hochaltarbild und für sämtliche figurativen Wandmalereien, er malte

15 Curriculum vitae von Camillo Sitte, A M C W (s. Anm. 1), s.v. Sitte Camillo, 1886. Zur Pfarrkirche Temesvar: Plan und Skizzen im Sitte-Nachlass Sign. SN: 219, 2161. Zur Marienkirche in P r i v o z / O d e r f u r t h : P l ä n e i m S i t t e - N a c h l a s s S i g n . S N : 7 8 - 1 5 4 , 3 3 8 - 3 4 8 , 353, 354, 5 2 0 - 5 2 4 , 5 2 6 - 5 5 4 , 593, 661, 7 7 1 , 783, 784, 787, 792.

16 Sitte, Camillo: »Zur Genelli-Ausstellung«, in: Der Wanderer, Wien, 27. April 1869. Siehe auch M ö n n i n g e r , M i c h a e l : Vom Ornament zum Nationalkunstwerk.

Zur Kunst- und Architekturtheorie

Camilb Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 26. 17 Sitte, C a m i l l o : »Das Inquisitionsgericht von Kaulbach«, i n : Neues Wiener Tagblatt, 2. J ä n n e r 1 8 7 1 .

Siehe auch Mönninger 1998 (s. Anm. 16), S. 16, 28. 18 Mönninger 1998 (s. Anm. 16), S. 30, 72 (Anm. 25). 19 Schwarz 1999 (s. Anm. 2), S. 27.

Ideologie und Stilbegriff

: 1 79

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wfOt. /V-^ 6. Camillo Sitte: Entwurffiir das Hochaltargemälde der Mechitaristenkirche, 1900.

1 80

: Mario S c h w a r z

η. Heinrich Ferstet: Entwurf für den Hochaltar der Mechitaristenkirche, 1881.

8. Theophil Hansen: Entwurffür den Seitenaltar der Mechitaristenkirche, 187η.

eigenhändig die dekorativen Wandmuster und sechs lebensgroße Heiligenfiguren, Sibyllen und Propheten im Kirchenschiff.20 Durch seine künstlerischen Beziehungen zu den prominentesten Wiener Architekten seiner Zeit gelang es ihm, Altarentwürfe von Heinrich Ferstel und Theophil Hansen zu gewinnen, die zur Ausführung gelangten; 21 selbst entwarf er zwei Seitenaltäre zu Anlässen ordensinterner Jubiläen.22 Noch im Jahre 1901 stellte sich Camillo Sitte ganz in den Dienst der Fertigstellung des Innenraumes der Mechitaristenkirche, als das zweihundertjährige Ordensjubiläum der Mechitaristen gefeiert werden sollte, und verzichtete auf jegliches Honorar.23 Bemerkenswert ist, dass Camillo Sitte in seinen letzten Lebensjahren als Mitglied der 1892 gegründeten Leo-Gesell20 Die künstlerische Ausführung der P. P. Mechitaristen-Kirche in Wim. Hg. von der MechitaristenCongregation. Wien: Selbstverlag der Mechitaristen-Congregation 1901, S. iff. 21 Schwarz 1999 (s. Anm. 2), S. 2, S. 27. 22 1884 entwarf Camillo Sitte anlässlich der Wahl des Abtes ErzbischofVardan Josef Esztegar (reg. 1884-1886) den Josefsaltar. 1895 gestaltete Camillo Sitte zum goldenen Priesterjubiläum von Generalabt Erzbischof Arsen Aydinian (reg. 1886-1902) den Altar des hl. Antonius des Einsiedlers. Siehe Schwarz 1999 (s. Anm. 2), S. 27, 36 (Anm. 68f.). 23 Sitte 1886 (s. Anm. 15).

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schaft, einer katholischen Erneuerungsbewegung auf kultureller sowie wissenschaftlicher Basis, Vorträge über christliche Kunst hielt.24 Gleichzeitig aber hielt Camillo Sitte an seiner religionskritischen Haltung auch zu dieser Zeit weiter fest. In seinem 1902 ausgearbeiteten Modell der »Weltanschauungs-Perioden« prognostiziert er - wie Michael Mönninger ausgeführt hat - eine »Zukunfts-Religion für Atheisten«, diese wäre »rein künstlerisch, d. h. ohne Glauben, ohne Dogma, aber voll tiefen Empfindens, voll erhabensten] Gedanken, voll reinster Menschenliebe«. Für das damals beginnende 20. Jahrhundert erwartet Camillo Sitte eine »neue Wiedergeburt des Volkslebens«. Das Kunstwerk der Zukunft sieht er »streng national auf ethischen Grundlagen«, den neuen Menschentyp erblickt er im »starken Menschen« voll Glauben an die Zukunft und Entwicklungsfreudigkeit. 25 Bemerkenswert ist allerdings, dass Camillo Sitte diese Grundsatzschrift zwar drucken ließ, jedoch nicht namentlich zeichnete, was sicherlich nicht zuletzt in Hinblick auf seine prominente Stellung als Direktor der Wiener Staatsgewerbeschule erklärlich ist, und an seine zahlreichen nur paraphierten oder unter dem Pseudonym »V K. Schembera« erschienenen Zeitungsartikel der siebziger und achtziger Jahre erinnert.26 Das merkwürdige Detail, dass Camillo Sitte - als Fachmann und Lehrer auf dem Gebiet der Baukunst zweifellos wider besseres Wissen handelnd - die Mechitaristenldrche als Bauwerk nach Grundsätzen der deutschen Renaissance benennt und ihre Ausrichtung nach italienischen Renaissancevorbildern leugnet, mag vordergründig auf die deutschnationalen Tendenzen in seinem Weltbild oder auf Ressentiments gegen die römisch-katholische Kirche zurückzuführen sein. Dieses Detail weist aber vor allem auf eine Wandlung im Selbstverständnis des Wiener Historismus im Zeitraum zwischen den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hin: An die Stelle der stärker doktrinären Einstellung des Strengen Historismus mit seinen ideologisch motivierten, konkret formulierten Stilbezügen trat nach und nach die viel freiere, experimentierfreudigere Auffassung des Späthistorismus, die sich auf selektive Motivanregungen und freiere Kombinationen verlegte und schließlich zu einer weitgehenden Auflösung der überlieferten Stilbegriffe führte. Dass Camillo Sitte schon relativ früh diese Abkehr vom Strengen Historismus zum Späthistorismus erkannte 24 Schwarz 1999 (s. Anm. 2), S. 35^ (Anm. 84). 25 Mönninger 1998 (s. Anm. 16), S. 1 7 1 - 1 7 5 . Sign. SN: 180-363/1-9. 26 Mönninger 1998 (s. Anm. 16), S. 106.

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: Mario Schwarz

und auch vertrat, beweist seine immer wieder feststellbare Fähigkeit zur Vorausschau auf eben erst ansetzende Entwicklungen. Vollends deudich wird Sittes Neuorientierung in seiner spätesten Schaffensphase: Gerade die von ihm entworfenen kulturellen Entwicklungsprognosen von 1902 zeigen, dass fur Camillo Sitte tatsächlich etwas im Vordergrund stand, das unabhängig von national gekennzeichneten Leitbildern und dogmatischen Religionsvorstellungen, aber auch unabhängig von doktrinären Stilrichtlinien für ihn von zentraler Bedeutung war: Die Fertigstellung der Mechitaristenkirche zum 200-Jahr-Jubiläum der armenischen Congregation war für Camillo Sitte jene Formgelegenheit, um »voll tiefen Empfindens, voll erhabensten Gedanken, voll reinster Menschenliebe« - um ihn selbst zu zitieren - nach Jahrzehnten jenes Gesamtkunstwerk zu vollenden, das ihm als erste große Gestaltungsaufgabe zugefallen war und das offenbar sehr stark dazu beigetragen hat, seine zunächst negativ geprägten Beziehungen zum Christentum in kiinsderische Selbstverwirklichung umzuwandeln. Es handelte sich schließlich um einen Schöpfungsprozess, der zwar in christlichem Auftrag handelte, für Camillo Sitte persönlich jedoch im ideologiefreien künsderischen Schaffen die endgültige Erfüllung fand. Dass Camillo Sitte Gelegenheit fand, im sowohl weltaufgeschlossenen als auch toleranten, ökumenisch ausgerichteten Milieu der in Diaspora lebenden Armenier sein ideales Gesamtkunstwerk zu verwirklichen, erklärt die gegenseitige Sympathie, die bei dieser jahrzehntelangen künstlerischen Beziehung zwischen Camillo Sitte und seinen Auftraggebern zustande gekommen war.

Sonja Hnilica

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

Architekturtheorien unterscheiden sich in vieler Hinsicht von wissenschaftlichen Theorien. Die Letzteren werden in der Regel formuliert, um Phänomene zu erklären. Das Kriterium für die Korrektheit einer Erklärung wechselt, aber gemeinhin geht man davon aus, dass eine Theorie als korrekt betrachtet werden kann, wenn sie zukünftige Geschehnisse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit voraussagen kann. Voraussage und Beschreibung sind allerdings nicht wirklich das Wichtigste in der Architekturtheorie, stattdessen ähneln Kunsttheorien eher normativen Systemen, moralischen Doktrinen oder Gesetzen. Als Le Corbusier 1927 seine »Fünf Punkte« formulierte, wollte er sicherlich damit die Art und Weise ändern, in der Architektur entworfen wird. Trotz dieser normativen Ambitionen der Architekturtheorie ist es offensichdich, dass Theorien auf die Art und Weise, wie Architekten entwerfen, relativ wenig Einfluss haben, denn aus derselben Theorie kann man radikal verschiedene Schlüsse ziehen. Obwohl Architekturtheorien selten wirklich empirische Beweise bieten, können sie die Arbeit von Architekten verändern, indem sie neue Wege anbieten, die Dinge zu sehen, unter anderem dadurch, dass sie die Metaphern verändern, mit deren Hilfe wir komplexe Situationen fassbarer machen. Nach klassischer Definition ist eine Metapher ein abgekürzter Vergleich, die Ersetzung des »eigentlichen« durch einen metaphorisch »uneigentlichen« Ausdruck nach dem Kriterium der Entsprechung bzw. der Ähnlichkeit. Friedrich Nietzsche fasste

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: Sonja Hnilica

die Bedeutung der Metapher viel weiter, er behauptete, dass alles nur eine tote Metapher sei, auch das, was wir für buchstäblich wahr halten.1 George Lakoff und Mark Johnson behaupten, dass Metaphern nur sekundär eine sprachliche Angelegenheit seien, vielmehr werde zuerst unser gesamtes Denken und Handeln von Metaphern strukturiert.2 Viele unserer Aktivitäten beispielsweise mit der Zeit haushalten, ein Argument abschmettern usw. - seien ihrem Wesen nach metaphorisch. Die für diese Aktivitäten charakteristischen metaphorischen Konzepte strukturierten unsere gegenwärtige Realität. Metaphern seien kulturell und biographisch bedingt und damit veränderbar. »Neue Metaphern haben die Kraft, neue Realitäten zu schaffen. Dieser Prozess kann an dem Punkt beginnen, an dem wir anfangen, unsere Erfahrungen von einer Metapher her zu begreifen, und er greift tiefer in unsere Realität ein, sobald wir von einer Metapher her zu handeln beginnen. Wenn wir in unser Konzeptsystem eine neue Metapher aufnehmen, dann verändern sich dadurch das Konzeptsystem wie auch die Wahrnehmungen und Handlungen, die dieses System hervorbringt.«3 Eine neu geprägte Metapher hebt bestimmte Aspekte hervor, während sie andere verbirgt. Sie kann Ähnlichkeiten zwischen Konzepten herstellen, zwischen denen vorher keine offensichtliche Verbindung bestand. Metaphern können auf diese Weise Erfahrungen strukturieren, neue Wahrheiten schaffen und dadurch handlungsleitend werden. Bereits Aristoteles stellte fest, dass metaphorische Wendungen semantische Leerstellen im »eigendichen« Wortschatz füllen können.4 Wohl deshalb werden gerade in den technischen und (natur-)wissenschaftlichen Disziplinen metaphorische Wendungen gebraucht, um neuartige Sachverhalte zu beschreiben. Der Städtebaudiskurs, der sich im Zuge der Industrialisierung als Disziplin erst etablieren musste, hat ebenso Metaphern neu geprägt wie anders besetzt. In diesem erweiterten Verständnis kann eine Betrachtung der Metaphern auf dem Gebiet der städtebaulichen Literatur also nicht nur Hinweise auf Erklärungs-

1

Nietzsche, Friedrich: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« (1873), in: Ders.: KSA (Kritische Studienausgabe in 15 Bdn.), Bd. 1. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montenari. Berlin, New York: dtv/de Gruyter 1988, S. 8 7 3 - 8 9 0 .

2

Lakoff, George / Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Ubersetzt von Astrid Hildenbrand. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 1998 (Erstveröffentlichung Chicago 1980), S. 177.

3

Ebd., S. 1 6 7 - 1 6 8 .

4

Aristoteles : Poetik. Ubersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart : Reclam 198 2, Kap. 21, 1457b.

Die »Grenzen der Kunst« und anderer Metaphern im modernen Städtebau

: 1 85

oder Deutungsmuster geben, sie könnte auch Ansätze bieten, planerische Entscheidungen zu erklären. In Camillo Sittes städtebaulichen Schriften lässt sich eine Vielzahl metaphorischer Bildfelder und bildhafter Vergleiche ausmachen, von denen ich einige im Folgenden näher untersuchen möchte.

Die Stadt als Lebewesen In einem kämpferischen Artikel für das Neue Wiener Tagblatt schreibt Sitte, die Altstädte würden »ausgeweidet«, »so wie man einen todten Hasen ausweidet«. Er spricht im selben Atemzug von »bautechnischer Metzgerei«, die jedes Jahr »dem Kunstfreunde seine Totenliste« vermehre.5 Die alte Stadt mit ihrer historischen Bausubstanz wird hier als gefährdetes Lebewesen geschildert, das unbedingten Schutz benötigt, denn ist der Schaden einmal geschehen, so ist er durch nichts wieder gutzumachen. Die Planer werden im gleichen Zug zu Metzgern, ja zu Mördern, ihr Tun als unmoralisch, als sündhaft gebrandmarkt. Ganz in diesem Sinne bezeichnet Sitte ein altes Bauwerk als »Opferlamm« 6 . Er griff auf dasselbe Bildfeld schon in Oer Städtebau zurück, wo er schrieb, dass »Schönheiten des Stadtbaues geradezu hekatombenweise abgeschlachtet« 7 werden. In oben zitiertem Artikel warb Sitte um die Erhaltung eines Baudenkmals, das einer Straßenbegradigung weichen sollte, und berief sich mit seinen Metaphern auf eine lange Tradition: Françoise Choay hat daraufhingewiesen, dass Bilder wie »Skelett«, »Kadaver«, »Massaker« oder »Jagd« bereits in der Frührenaissance verwendet wurden, als in Humanisten und Künstlern das Bewusstsein dafür erwachte, dass die Altertümer in Rom geschützt werden müssten, statt als Steinbruch und Fundgrube für architektonische Bauteile und Kunstwerke genutzt zu werden.8 Für die moderne Stadt gebraucht Sitte an anderer Stelle ebenfalls eine Personifizierung als Lebewesen. Allerdings ist diese kein gefährdetes, sondern im Gegenteil ein gefährliches Tier, ein »endlos wachsende [s] und landverzeh-

5

Sitte, Camillo : »Ausweidung Wiens«, in : Neues Wiener Tagblatt, 6. Dezember 1891.

6

Ebd.

7

Sitte: Der Städtebau, S. 114.

8

Choay, Françoise : Das architektonische Erbe, eine Allegorie. Geschichte und Theorie der Ubersetzt von Christian Voigt. Braunschweig u. a.: Vieweg 1997, S. 44.

Baudenkmale.

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ι. Stadt als Monster: »London verlässt die Stadt oder Der Marsch der Ziegelsteine und des Mörtels« von George Cruikshank, 182p.

rende[s] Stadtungeheuer« 9 . Er stellt fest: »ein Detailregulirungsplan [...] ist nicht nur unmöglich zu konzipiren für einen Einzelnen, sondern unmöglich auszuführen, weil sich bei einem großen rasch lebenden Stadtkörper die Bedingungen hiefiir täglich ändern«.10 In der modernen Großstadt sehe der Architekt machdos zu, während »wie von selbst, Parcellirungen und Strassendurchbrüche zur Ausführung kommen«. 11 An anderer Stelle ist es weniger die moderne Großstadt, sondern ihre schiere Größe, die als Ungeheuer personifiziert wird: die »Riesendimensionen« sind es, die »den Rahmen alter Kunstformen an allen Ecken zersprengen« 12 . Die Stadt als aktiv und aggressiv handelnde Person zu beschreiben, unterstellt dieser implizit eine Handlungsabsicht, die womöglich gegen die Bewohner, den Planer oder den Künstler gerichtet ist. Dass die

9 Sitte, Camillo: »Großstadt-Grün« (Erstveröffentlichung Hamburg 1900), in: Ders.: Der bau, S. 2 3 1 - 2 4 9 , S. 236. 10 Sitte, Camillo: » D e r Wille des Stadtbauamtes«, in: Neues Wiener Tagblatt, 11 Sitte: Der Städtebau, 12 Ebd., S. 113.

S. 1 1 3 - 1 1 4 .

12. iMärz 1893.

Städte-

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

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1 87

Dynamik des Stadtwachstums in dieser Form wahrgenommen wurde, ist angesichts des enormen Bauvolumens der Gründerzeit durchaus nachvollziehbar. Die Einwohnerzahl Wiens wuchs von 440.000 im Jahr 1850 in nur 30 Jahren auf 726.000 im Jahr 1880. Die Zahl der Neubauten in den Vororten hatte in den 1850er Jahren jährlich im Durchschnitt noch 22 betragen, sie stieg innerhalb weniger Jahrzehnte auf 300 ab den 1880er Jahren, wie Sitte selbst ausführte.13 Ich möchte aber an dieser Stelle auch noch auf einen ganz anderen Aspekt der Lebewesen-Metapher hinweisen: Die Stadt als Organismus auszufassen, impliziert auch, dass dieser aus »natürlich« zusammengehörigen Einzelteilen zusammengesetzt ist, von denen keines weggenommen und denen nichts hinzugefügt werden darf. So macht die Metapher »Lunge« 14 für Grünräume in der Stadt deren außerordentliche Wichtigkeit deutlich, . Stadt als Organismus: Stadtgnindriss mit ähnlich funktioniert die Metapher des eingeschriebener menschlicher Figur von Francekirchlichen und weltlichen Machtzensco di Giorgio Martini. trums als »Herz« 15 . Eine weitere Metapher ist die »Verkehrsader« 16 , zu der Sitte an anderer Stelle ausführt: »Mit dem Verkehre einer großen Stadt verhält es sich nämlich genau so wie mit der

13 Sitte, Camillo : »Das Wien der Zukunft. Festrede, gehalten am 4. Jänner 1891 im Wissenschaftlichen Club aus Anlass der Creierung von Gross-Wien«, in : Monatsblätter des Wissenschaftlichen Club. Außerordentliche Beilage zu Nr. 4. Wien, 15. Jänner 1891, S. 1-2. 14 Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 9), S. 233. l ì Sitte: Der Städtebau, S. 65. 16 Sitte, Camillo: »Neu-Wien - Ein Willkomm«, in: Neues WienerTagblatt, 20. Dezember 1891.

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Blutzirkulation im lebenden Körper; Alles strebt von außen zum Herzen und von diesem wieder zurück nach außen.«17 Meist erfüllen solche Metaphern eine strategische Funktion innerhalb der Argumentation, wie es Leon Battista Alberti formuliert: »Denn wie bei einem Lebewesen Glied zu Glied, so soll auch bei einem Bauwerk Teil zu Teil passen.«18 Von den Menschen geschaffene oder erdachte (Herrschafts-)Verhältnisse, soziale oder technische Nonnen oder auch ästhetische Prinzipien werden so in den Rang von Naturgesetzen erhoben und dadurch legitimiert.19 Die S t a d t als Landschaft

Da der Verkehr für Fußgänger so gefährlich sei, schreibt Sitte in Der Städtebau, »wird in der Mitte durch einen runden Fleck Trottoir eine kleine Rettungsinsel geschaffen, in deren Centrum als Leuchtthurm in den brandenden Wogen des Wagenmeeres ein schöner schlanker Gascandelaber emporragt«.20 Sitte verwendet das Bild des Ozeans noch an anderer Stelle, wenn er vom »endlosen Häusermeer«21 spricht. Den Platz vor der neu erbauten Votivkirche in Wien bezeichnet er als »Sandwüste«22. Kaum strukturierte, unwirdiche, ja lebensfeindliche Räume werden hier als Bilder angeboten, Sitte spricht an anderer Stelle von der »öden Menschenleere« moderner Platzanlagen.23 Karin Wilhelm attestiert Sitte, dass er in der industrialisierten Großstadt Aspekte vorfand, die bis dahin der unzivilisierten Natur vorbehalten gewesen waren.24 Klassischerweise wird die Stadt als Ort der Zivilisation gesehen, stärker noch, als Inbegriff oder Verkörperung der Kultur, womit sie eigendich ge17 Sitte, Camillo : »Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte«, in : Neues Wiener Tagblatt, 6.3.1894 (I. Teil). 18 Alberti, Leon Battista : Zehn Bücher über die Baukunst. Ubersetzt von Max Theuer. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991,1, Kap. 9, S. 48. 19 Vgl. Grosz, Elizabeth: »Bodies - Cities«, in: Colomina, Beatriz: Sexuality and Space. New York: Princeton Architectural Press 1992, S. 247. 20 Sitte: Der Städtebau, S. 103. 21 Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 9), S. 231, 240. 22 Sitte: Der Städtebau, S. 161-162. 23 Ebd., S. 106. 24 Wilhelm, Karin: »Städtebautheorie als Kulturtheorie - Camillo Sittes >Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen«^ in : Musner, Lutz / Wunberg, Gotthart / Lutter, Christina (Hg.): Cultural turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. Wien : Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2001, S. 98.

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5. Stadt als Landschaft: Häusermeer Chicago, 1893.

rade den Gegenpol zur Natur bildet. Die Landschaftsmetapher widerspricht dieser klassischen Dichotomie, in der gleichzeitig eine Wertung enthalten ist: im Gegensatzpaar Kultur/Natur ist von vorneherein die Kultur höher bewertet. Die oben angeführten Landschafts-Metaphern unterstreichen durchwegs negativ wahrgenommene Aspekte der Stadt. Die Wahrnehmung der modernen Großstadt als Landschaft, z. B. als »Großstadtdschungel«, findet sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts häufig in der Literatur, aber auch in der Planungsdebatte, wie Wolfgang Sonne ausführt. Die Beschreibung der Großstadt als Natur, in der der winzigkleine Mensch den Naturgewalten hilflos ausgeliefert sei, könne auf die zunehmende Ohnmächtigkeit der Stadtplaner angesichts der schieren Größe der industrialisierten Stadt, der Dynamik ihres Wachstums, der Dominanz ökonomischer Interessen hindeuten. Aber auch die entgegengesetzte Lesart sei nicht ausgeschlossen, nämlich dass der Planer sich in Anbetracht der neuen technischen Möglichkeiten zum gottähnlichen Herrscher über die Natur stilisieren wolle.25 2 5 Vgl. Sonne, Wolfgang : »>The entire City shall be planned as a Work of Art.< Städtebau als Kunst

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An anderer Stelle schreibt Sitte: »Wenn man einen Unterschied macht zwischen alten und neuen Stadtanlagen und die historisch wie von selbst aus dem Boden gewachsenen Altstädte mit dem Unterscheidungsnamen >Naturstädte< bezeichnen würde, so weiß Jeder, was er sich dabei zu denken hat. Diese Stadt ist eben wahrhaft ein Stück lebendiger Natur, wie Berg und Wald, wo die lieben Thierlein alle ihre erbgesessenen Nester haben.« 26 In diesem Fall ist die Natur positiv belegt und eben nicht mit der modernen, sondern mit der alten Stadt verknüpft. Der alte Heiligenkreuzerhof im Zentrum Wiens als Relikt der alten Stadt wird von Sitte nicht nur als Idyll »in seiner stillen, ländlichen Einsamkeit« beschrieben: »Dieses lauschige Stückchen Paradies mit seiner nervenberuhigenden Wirkung mitten im Tumulte der Großstadt.« 27 Noch weiter gehend wird hier die alte Stadt als Paradies bezeichnet, woraus folgt, dass die alte Stadt und der Einklang mit der Natur für den Menschen seit dem Sündenfall der Industrialisierung unwiederbringlich verloren sind. Bei dieser positiven Belegung der Natur könnte es sich um eine rhetorische Figur handeln: bezeichnet man die antike Stadt und ihre morphologischen Spezifika als naturgemäß, so werden sie in Folge normativ in dem Sinne, dass eben diese Lebens- und Bauweise die einzig richtige, dem »Gesetz der Natur« folgende ist. Daniel Wiezcorek hat diese Argumentationsstrategie beschrieben: »Die >menschliche Natur< übernimmt als Diskursfigur außer der Aufwertung des Operationsmodells noch eine andere wichtige Funktion: sie hält die Dynamik des Textes auf und hebt ihn aus der geschichdichen Zeit.« 28 Das historische Vorbild erscheint als Paradigma, als höchste Form einer >natürlichen< Stadtanlage, umgekehrt ist ein Platz erst dann naturgemäß, wenn er dem antiken Vorbild getreu nachgebildet ist. Die Stadt als Maschine oder Gefängnis

Auch Metaphern, die auf eine gerade gegenteilige Wahrnehmung hinweisen, finden sich in Der Städtebau, wenn die (moderne) Stadt als technisches Erzeugnis, als Maschine oder Fabrik, Kaserne oder gar Gefängnis aufgefasst wird: »Faim frühen modernen Urbanismus 1890-1920«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 2. Bd. 66. 2003, S. 2 3 1 - 2 3 3 . 2 6 Sitte, Camillo: » D i e Kunst des Städtebauens«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. M ä r z 1891. 2 7 Sitte, Camillo: » D i e Regulierung des Stubenviertels«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. M ä r z 1893. 2 8 Wieczorek, Daniel: »Camillo Sittes >Städtebau< in neuer Sicht«, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung 3-5. Bd. 33, 1989. W i e n , N e w York: Springer Verlag 1989, S. 42.

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

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4. Stadt als Geßngnis: »Eine christliche Stadt in den Jahren 1440 und 1840« von Augustus Welby Northmore Pugin, um 1840.

brikswaare, das ist auch hier wieder der Stempel des Modernen, Alles nach dem Dutzend herausgestanzt aus demselben Modell.« 29 Der Mensch werde unter der Herrschaft der Geometer zu einer »Maschine« im »mathematisch abgezirkelten [...] Leben« 30 . Hier wird den Planern eine große Machtfüille zugestanden, ohne dass sie diese weise zu nutzen wüssten. In den neu errichteten Stadtvierteln würden Menschen in Baublöcke verpackt, »wie die Häringe in der Tonne« 31 . An anderer Stelle zitiert Sitte das Bild von Arbeitern, die sich nicht »wie das liebe Vieh in bloße Stallungen zusammenpferchen« lassen wollen.32 Auch die Formulierungen »nüchternes Caser29 30 31 32

Sitte: Der Städtebau, S. 77. Ebd., S. 113. Ebd., S. 137. Sitte, Camillo: »Erklärungen zu dem Lageplan für Reichenberg«, Reichenberg 1901.

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5. Stadt als Maschine: »Ohne Titel (Die Stadt)« von Karl Steiner, 19 25.

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

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nenviertel«33 oder »Arbeiter-Kaserne«34 indizieren ein unfreies, von oben diktiertes Leben, in dem der Einzelne völlig in der Masse aufgeht, als kleines »Rädchen im Getriebe« sozusagen. Sitte geht so weit, die Großstadt als »Kerker« zu bezeichnen, in dem die Menschen krank würden vor lauter »Heimweh nach der freien Natur« 35 . Hier wird die Stadt im Antagonismus zur Natur dargestellt, wobei diesmal Natur positiv, die Stadt negativ belegt ist. Es wird damit nahe gelegt, dass das Großstadtleben widernatürlich ist. Sitte selbst behauptet zwar an keiner Stelle, dass nur das Leben auf dem Land dem Menschen angemessen sei, jedoch wurde er oft in diese Richtung ausgelegt. Viele seiner Anhänger zogen allerdings diesen Schluss, darunter so verschiedene wie etwa Carl Henrici und in der Folge nationalistische und nationalsozialistische deutsche Planer und Heimatschützer, die im Kleinstädtischen die Wurzeln des wahren Deutschtums sahen, und auf der anderen Seite die Gartenstadtbewegung in Europa und den USA. Auch seine Gegner, die Vertreter der klassischen Moderne wie Le Corbusier und Sigfried Giedion, interpretierten Sitte als Verfechter kleinstädtischer und rückwärts gerichteter Werte, obwohl sich in Der Städtebau keine grundsätzlich das Leben in der modernen Großstadt ablehnenden Passagen finden. Gerade in der klassischen Moderne oder auch im Futurismus wurde die Maschinenmetapher sehr positiv gesehen: Le Corbusier ließ sich von Silos, Autos oder Ozeandampfern inspirieren und sah darin den Ausweg aus der Misere der Architektur seiner Zeit. Die »Wohnmaschine« steht fiir ein Leben auf der Höhe der technischen und wissenschaftlichen Standards, für Effizienz, Komfort, Gesundheit, Demokratie und eine »ehrliche« Architektur.

Die Stadt als Haus

Völlig andere Aspekte der Stadt beleuchtet die Metapher des öffentlichen Platzes als Zimmer, die besonders häufig mit Sitte verbunden wird. So findet sich in Der Städtebau folgender Vergleich : »das Forum ist fiir die ganze Stadt dasselbe, was für ein einzelnes Familienhaus das Atrium ist, der wohleingerichtete und

33 Sitte: Der Städtebau, S. 139. 34 Sitte : »Lageplan für Reichenberg« (s. Anm. 32). 3î Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 9), S. 233, 235.

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6. Stadt als Haus: Ansicht einer utopischen Siedlung aus der Vogelperspektive von G. Muller.

gleichsam reich möblirte Hauptsaal.« 36 Die Analogie zwischen Stadt und Haus hat eine lange Tradition. Schon Alberti stellte fest, dass »der Staat, nach einem Grundsatze der Philosophen, ein großes Haus ist, und ein Haus hinwiederum ein kleiner Staat ist«.37 Später formulierte Andrea Palladio in seinen Vier Büchern, noch konkreter, dass »die Stadt gewissermaßen nichts anderes ist als ein großes Haus und - dementsprechend - ein Haus eine kleine Stadt ist«.38 Wer sind nun die Philosophen, die Alberti erwähnt? Sie könnten entweder Neoplatoniker der Renaissance sein, die eine hermetische Idee einer Korrespondenz zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos propagierten. Oder aber Alberti könnte sich auf Aristoteles beziehen, bei dem die Analogie zwischen Stadt und Haus aus der Analogie zwischen der Polis und dem Haushalt als soziale Einheiten folgt.39 36 Sitte: Der Städtebau, S. io. 37 Alberti 1991 (s. Anm. 18), I, Kap. 9, S. 47. 38 Palladio, Andrea : Die Vier Bücher zur Architektur. Ubersetzt von Andreas Beyer und Ulrich Schütte. Basel: Birkhäuser 2001. Π, Kap. 12, S. 163. 39 Aristoteles kritisierte Piaton, der zwischen einem großen oikos und einer kleinen polis keinen Unterschied gemacht hatte. Er legt eine Stufenfolge der Gemeinschaften fest, vom Haus über das Dorf zur Polis. Aristoteles : Politik. Übersetzt von Franz F. Schwarz. Stuttgart: Reclam 1998,1, Kap. 2, 1252b 10-20, II, Kap. 2, 12561a 15-25.

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

7. Stadt i?n Haus: »High Rise of Homes« (Ausschnitt) von SITE, 1972, New York.

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S o n j a Hnilíca

Die Zimmer-Metapher bringt bei Sitte eine Reihe morphologischer Ähnlichkeiten mit sich: »ein blos unverbauter Fleck [ist] noch kein Stadtplatz.« Dazu gehört noch »sehr viel [...] an Ausschmückung, Bedeutung, Charakter; aber so wie es möblirte Zimmer und auch leere gibt, so könnte man von eingerichteten und noch uneingerichteten Plätzen reden, die Hauptbedingung dazu ist aber beim Platz sowie beim Zimmer die Geschlossenheit des Raumes.« Er spricht von »Platzwänden« und schlägt vor, die einmündenden Straßen - Eingängen gleich - mit Toren zu überwölben.40 Sitte bedauerte, dass sich das öffentliche Leben in zunehmendem Maße nicht mehr auf öffentlichen Plätzen abspiele wie einst im alten Rom oder in Griechenland, sondern in den Tageszeitungen besprochen werde oder in geschlossenen Räumen stattfinde. Dadurch sei ein wichtiger Teil der einstigen Bedeutung dieser Plätze verloren gegangen.41 Die Metapher der Stadt als großes »Familienhaus, das als liebes, treu gehütetes Vermächtniß von Generation zu Generation sich vererbt hat«42 verspricht die Kreierung einer Gemeinschaft der Stadtbürger. Karin Wilhelm kommt zu dem Schluss, dass Sitte den gefassten Platz mit seinen morphologischen Charakteristika wie Arkaden und eingebundenen Bauwerken als Raumzeichen der Gemeinschaft, ja als räumliche Symbolik des Gemeinsinns sehe.43 Später griff Sitte nochmals auf das Bild der Stadt als Haus zurück und baute es weiter aus: Der Bahnhofsvorplatz im Speziellen sei heutzutage, da die meisten Menschen mit den neuen Verkehrsmitteln in einer Stadt ankämen, »für die ganze Stadt dann dasselbe, was für das Einzelhaus oder den Palast das Vestibule ist«. 44 Die prächtige Straße vom Bahnhofsplatz ins Stadtzentrum entspreche dem Treppenhaus, und der Übergang von dieser zum Hauptplatz müsse ähnlich inszeniert werden wie der Eingang in den Salon vom Gang des Hauses her. Zwei Jahrzehnte nach Sitte nahm Josef Frank (der über Alberti dissertierte) die andere Hälfte der klassischen Formulierung auf und interpretierte das Haus als Straße.45 Viele Architekten bezeichneten in der Folge Innenräume als »Piazza«, »innere Straße«, etc. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, die kürzlich fertig gestellte Niederländische Botschaft in Berlin von Rem Koolhaas als 4 0 S i t t e : Oer Städtebau,

S. 35, 4 1 - 4 2 .

4 1 S i t t e : Der Städtebau,

S . 4, 1 1 2 - 1 1 3 .

4 2 S i t t e : » D i e K u n s t d e s S t ä d t e b a u e n s « (s. A n m . 26). 43 W i l h e l m 2 0 0 1 (s. A n m . 24), S. 9 8 . 4 4 Sitte, C a m i l l o : » S t a t i o n W i e n « , i n : Neues Wiener Tageblatt,

25. O k t o b e r 1891.

4 5 F r a n k , J o s e f : » D a s H a u s als W e g u n d P l a t z « , in: Der Baumeister.

B d . 28, 1931, S . 3 1 6 - 3 2 3 .

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

: 1 97

»kleine Stadt« um eine 200 Meter lange mäandrierende Binnenstraße konzipiert.46 Die Stadt als Bühne Michael Mönninger hat in seiner Dissertation auf das Motiv der Stadt als Bühne bei Sitte hingewiesen.47 Sitte schreibt über den Markusplatz in Venedig, »dass kein Maler noch je Schöneres ersonnen hat an architektonischen Hintergründen, kein Theater noch je Sinneberückenderes gesehen hat«.48 Und an anderer Stelle: »Niemals aber wird ein moderner Stadttheil als Bühnendecoration gewählt, denn das wäre denn doch gar zu langweilig.«49 Auch hier charakterisiert Sitte wie schon beim Platz als Zimmer eine Reihe morphologischer Ähnlichkeiten: Für »die Hervorrufung von Perspectiv-Effecten« sei »ein Raum zum Zurücktreten, ein Platz von ähnlicher Bildung, wie beim Theater die Bühne, erforderlich [...], in dessen Hintergrund die zu überschauende Façade angebracht sein müsste«. Er streicht die bühnenbildartigen Effekte dreiseitig geschlossener Plätze hervor, die sich zur vierten, der (Zuschauer-)Seite hin öffnen und mit Motiven wie Rampen, Durchblicken und perspektivischen Fernsichten ausgestaltet sind. Weitere Gestaltungselemente seien »kräftigere Risalite, öftere Fluchtstörungen, gebrochene oder gewundene Strassenzüge, ungleiche Strassenbreiten, verschiedene Haushöhen, Freitreppen, Loggen, Erker und Giebel und was sonst noch den malerischen Hausrath der Bühnen-Architektur ausmacht«.50 Das ist ein typisch barockes Konzept, wie Sitte ebenfalls feststellt. Im Barock näherte sich die Architektur dem Bühnenbild, wie bei der berühmten Pariser Place Royale (heute: Place des Vosges) und der Place Louis le Grand (heute: Place Vendôme) oder bei Filippo Raguzzinis Piazza San Ignazio in Rom. Seit der römi4 6 Vgl. Schwartz, Claudia: »Eine glänzende Botschaft an Berlin«, in: Neue Zürcher Zeitung, 20. N o vember 2003: »Die Stadt im Haus: [...] Im Gebäudeinnern setzt sie [die Straße] sich als Gang fort, der sich vom Foyer bis aufe Dach schlängelt. Dieser inszeniert als Lebensader der Botschaft eine Art Strassenleben: Räume, Menschen, Innen- und Aussenwelt, Aussichten und Einblicke, alles ist über die eine, zweihundert Meter lange Binnenstrasse miteinander verbunden.« 47 Mönninger, Michael : Vom Ornament zum Nationalkunstwerk.

Zur Kunst- und

Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 64-68. 48 Sitte: Der Städtebau, S. 65. 4 9 Ebd., S. 1 1 6 . 50 Ebd., S. 30, 8iff., 1 1 7 .

Architekturtheorie

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sehen Ara gab es keinen so totalisierenden Anspruch städtischen Designs, wie er in diesen Plätzen gegenwärtig wird. Die Bühnenmetapher kann allerdings auch negative Assoziationen wecken. Die Nationalsozialisten nutzten das Konzept der Stadt als Bühne mit großer Konsequenz. Mit den Feiern der Nazis in Berlin - die Maifeiern der Jahre 1933—1936, die Olympiade 1936, die »700-Jahr-Feier der Reichshauptstadt« und der Staatsbesuch Mussolinis 1937 - entstand eine neuartige theatrale Praxis, in der der Stadtraum als politischer, medialer und ästhetischer Raum gezielt als Kulisse des massenwirksamen Spektakels eingesetzt wurde. Rudolf Wolters sagte, ein Gang durch die Reichskanzlei von Albert Speer sei wie einem »gigantischen Theaterstück« zuzusehen.51 Nietzsche sprach von Helden als Schauspielern in ihren eigenen Visionen. Die Verbindung des eigenen Lebens mit einem Schauspiel kann die verstörende Vorstellung eines Künstlers evozieren, der anderer Leute Leben wie in einem Film arrangiert. Es sei in diesem Zusammenhang auch an Celebration erinnert, die von der Disney Corporation geplante Stadt, die das Leben ihrer Bewohner als schönen Schein inszeniert, wobei bewusst bestimmte Personengruppen als Bürger ausgeschlossen bleiben und die Bewohner sich freiwillig einer strengen Kontrolle ihres Privatlebens unterwerfen.52 Derartige Gedanken ebneten die Bahn für die Modernisten, die Sitte attackierten. Adolf Loos kritisierte die Ringstraße als eine Art Potemkin'sches Dorf: »Ob man aus leinwand, pappe und färbe holzhütten darzustellen sucht, in denen glückliche bauern leben oder aus ziegeln und zementguß vorgeblich steinpaläste errichtet, in denen feudale großherren ihren sitz zu haben scheinen, im prinzip bleibt es das gleiche.« 53 Die Metapher des Bühnenbilds kann den Beigeschmack von Kunst als einer Maske haben, als schönem Schein, der die schnöde Wirklichkeit kaschiert und etwas vortäuscht. Hier könnte man nun wieder einwenden, dass diese Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Theater so nicht haltbar ist, sondern dass performative Akte wirklichkeitskonstituierend wirken können. Karin Wilhelm hebt eher diesen Aspekt hervor, wenn sie sagt, Sitte interpretiere Stadträume bildgleich und 51 Taylor, R o b e r t R.: The Word in Stone. The Role of Architecture in the National Socialist Ideology. B e r keley u. a.: University of California Press 1974, S. 134. 52 http://xroads.virginia.edu/~MA98/hogan/celebration.main.html (Mai 2004). 53 Loos, Adolf: » D i e P o t e m k i n s c h e Stadt«, in: Ders.: Sämtliche Schriften. H g . von Franz G l ü c k in zwei B ä n d e n , Bd. 1. W i e n , M ü n c h e n : Verlag H e r o l d 1962 ( E r s t v e r ö f f e n t l i c h u n g : J u l i 1898), S. 1 5 3 - 1 5 6 , S. 156.

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

I

199

t 8. Stadt auf der Bühne: »Das Theatrum präsentiret eine Stadt. Sol kömmt auff ihrer Machine.« Aus einem Zyklus von g Radierungen zu den Kulissen für »Das Planetenballett« von Johann Oswald Harms,

ι6η8.

szenographisch. Er denke die Stadt als Bühne der Städter, »die mit ihren alltäglichen Verrichtungen und in ihrer >natürlichen< wechselnden Geräusch- und Handlungskulisse das Ton-Schauspiel Stadt immer wieder nach den Regeln einer sozial verhandelten kulturellen Dramaturgie erneut vollziehen«. 54

Die Stadt als Kunstwerk Die Stadt als Kunstwerk zu betrachten, scheint auf den ersten Blick, gelinde gesagt, wenig plausibel. Ein paradigmatisches Kunstwerk, wie die Mona Lisa oder die Fünfte Symphonie, ist ein organisches Ganzes, sowohl in der Konzeption als auch in der Wahrnehmung durch den Betrachter. Diese Bedingung wird in 54 Wilhelm 2001 (s. Anm. 24), S. 99.

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Albertis Definition von Schönheit als einem Zustand der Harmonie deutlich, in dem jede Veränderung eine Veränderung zum Schlechten wäre.55 Bereits Aristoteles hatte formuliert: »Man pflegt daher beim Anblick vollendeter Kunstwerke zu urteilen: >hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen^ erkennt also an, daß ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört.«56 Offenbar kann ein Kunstwerk nur deshalb eine so starke Einheit sein, weil es nach der Vision eines einzigen Autors geformt ist, denn das Werk ist ein vollendetes Objekt, kein Prozess. Sitte beruft sich explizit auf diese Definition, wenn er sagt, dass Kunstwerke nicht von mehreren im Verbände geschaffen werden können57, und er wird sogar noch deutlicher: »denn ebenso wenig als man eine Symphonie durch ein Comité componieren lassen kann, ebenso wenig kann man einen Stadtplan als Kunstwerk durch Commissionen von Amts wegen zu Stande bringen.«58 Eine Stadt ist aber niemals das Werk einer einzigen Person, kein stabiles Objekt, sondern ein sehr komplizierter Prozess mit unzähligen beteiligten Akteuren, die auf unvorhersehbare Weise agieren. Sitte stimmt dieser Einschätzung zu: Wie bereits anhand der Lebewesenmetapher dargestellt, sagt er, die von ihm in Der Städtebau untersuchten Plätze seien zum Großteil »gewachsen« und nicht von einer Hand geplant, und in Zeiten der Industrialisierung könne ein Einzelner auch gar nicht viel ausrichten angesichts der Dynamik des Wachstums. (Wobei er andererseits herausstreicht, dass alte, scheinbar planlose Städteanlagen nicht dem Zufall entsprungen seien, sondern einer großen, im ganzen Volk lebenden Kunsttradition.59 Dazu sei später mehr gesagt.) Eine Stadt hat selten eine eindeutige Struktur, auch kann sie kaum wie ein Kunstwerk erlebt werden. Nach Aristoteles ist eine Bedingung der Schönheit, dass das ganze Ding mit einem Blick erfasst werden kann, deshalb können zu kleine oder zu große Dinge nicht als schön erlebt werden.60 Das wäre sicher bei

5 5 A l b e r t i f ü h r t aus, » d a ß die S c h ö n h e i t e i n e b e s t i m m t e g e s e t z m ä ß i g e Ü b e r e i n s t i m m u n g aller T e i l e , was i m m e r für einer S a c h e , sei, die darin b e s t e h t , daß m a n w e d e r etwas h i n z u f ü g e n n o c h h i n w e g n e h m e n o d e r v e r ä n d e r n k ö n n t e , o h n e sie w e n i g e r gefállig zu m a c h e n « . A l b e r t i 1 9 9 1 (s. A n m . 18), V I , K a p . 2, S . 2 9 3 . V g l . ebd., I, K a p . 9, S . 4 8 - 5 0 ; Π, K a p . 3, S . 7 4 . 5 6 Aristoteles: Nikomacbische 1 0 - 1 5 . Vgl. D e r s . 57 S i t t e : Oer Städtebau,

Ethik.

Ubersetzt von Franz Dirlmeier. Stuttgart: Reclam 2 0 0 1 , 1 1 0 6 b

(s. A n m . 4), 1 4 5 1 3 3 2 - 3 5 . S. 1 3 2 .

5 8 S i t t e : » W i e n der Z u k u n f t . 1 8 9 1 . « (s. A n m . 1 2 ) . 5 9 S i t t e : Oer Städtebau,

S. 1 3 3 .

6 0 Aristoteles 1 9 8 2 (s. A n m . 4), 1 4 5 1 a 1.

Die »Grenzen der Kunst« und andere Metaphern im modernen Städtebau

ç. Stadt als Kunstwerk: »Suprematistische Ornamente. Stadt« von Kasimir Malewitscb,

:

201

1927.

Rekonstruktion, bestehend aus 7 Originalteilen und 11 rekonstruierten Teilen aus Gips von Paul Pedersen.

der Stadt der Fall. Sitte bezieht sich auf diese Definition, wenn er schreibt: »Ein Strassennetz dient immer nur der Communication, niemals der Kunst, weil es niemals sinnlich aufgefasst, niemals überschaut werden kann, ausser am Plan. [...] Künstlerisch wichtig ist nur Dasjenige, was überschaut, was gesehen werden kann; also die einzelne Strasse, der einzelne Platz.« 61 Folgerichtig seien Verkehrsnetze und -achsen nicht von künstlerischem Belang, eine These, der sicherlich nicht alle Stadtbaukünstler zustimmen würden, man denke beispielsweise an Pierre L'Enfants Plan für Washington D.C. mit seinen monumentalen Achsen. Trotz der Implausibilität der Kunstwerk-Metapher werden durch sie einige Aspekte des Städtebaus betont, die einen näheren Blick lohnen. Die Stadt als Kunstwerk kann als solche ästhetisch erlebt und nach ästhetischen Grundsätzen beurteilt werden. Auf diese Weise spielen Aspekte der menschlichen Wahrnehmung eine signifikante Rolle im Städtebau. Elemente, die gemeinsam wahrnehmbar sind, können »komponiert« werden. Mit dieser Metapher hat Sitte 61 Sitte: Der Städtebau, S. 97.

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viele Theoretiker inspiriert. Er war auch nicht der Erste, der vorschlug, die Stadt als Kunstwerk aufzufassen. Bereits Alberti wies auf die Wahrnehmung der Fassaden durch Spaziergänger hin. Die Straßen in der Stadt sollen in weicher Biegung gekrümmt sein, damit »sich einem beim Spazierengehen auf Schritt und Tritt allmählich immer neue Gebäudeansichten darbieten, so daß jeder Hauseingang und jede Schauseite mit ihrer Breite mitten auf der Straße aufmarschiert«.62 Er betonte, dass die Häuser zu beiden Seiten einer Straße gleich hoch und in einer geraden Linie angeordnet, darüber hinaus die Eingänge aller Häuser einheitlich gestaltet sein sollten.63 Alberti betrachtete die Gestaltung eines Hauses und der Stadt als Einheit. Dabei ging er vom generellen Plan der Stadt zum individuellen Gebäude und seinen einzelnen Details - Lage, Zug und Ausdehnung der Straßen, Plätze und einzelnen Bauten - vor. Seine Idee eines Gesamtplans stand in starkem Kontrast zur mittelalterlichen Praxis und wurde erst im barocken Paris zur Realität. Ich möchte noch einige andere Implikationen dieser Metapher betonen, die nicht auf den ersten Blick so offensichtlich sind: Ein Kunstwerk setzt nicht nur einen Autor, einen Künstler, sondern auch einen Betrachter, ein Publikum voraus. Wer war das Publikum in Sittes Stadt als Kunstwerk? Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Metapher des Kunstwerks aus zwei Entwicklungen heraus besonders schmackhaft: der Erfindung der Fotografie und der Institution der Weltausstellungen. Beginnend in London 1851 wetteiferten die Nationen, ihre Attraktionen und Produkte anzupreisen. Sitte selbst schrieb einen ausführlichen Bericht über die Weltausstellung 1878 in Paris.64 Die Städte repräsentierten sich mittels der neuen Technologie der Fotografie als Objekte des touristischen Interesses. Mit dem Aufkommen des Tourismus wurden Städte in konsumierbare Güter transformiert. Sitte wünschte sich für Wien »ein Stadtbild, das jeden Vergleich aushielte, das man gesehen haben müsste !«.65 Der in der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts häufig verwendete Ausdruck »Stadtbild« verweist auf die als angemessen empfundene Form der Wahrnehmung der traditionellen Stadt nach eigenen Regeln mittels des ge-

62 Alberti 1991 (s. Anm. 18), IV, Kap. 5, S. 201. 63 Ebd., V m , K a p . 6, S. 435-436. 64 Sitte, Camillo: »Die Pariser Weltausstellung. Original Bericht«, in: Salzburger Gewerbeblatt. Bd. 2, 1878, S. 33-36, 41-48, 53-59, 65-71, 77-80; Bd. 3, 1879, S. 1-3, 20—22, 33-34, 47-48. 65 Sitte, Camillo: »Stadterweiterung und Fremdenverkehr«, in: Neues Wiener Tagblatt, 11. Oktober 1891.

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schulten Auges.66 Die moderne Großstadt ließ sich auf diese Art nicht mehr erfassen. Die neuen Wahrnehmungen mussten erst aktiv produziert werden, entweder, indem das Bild künstlich wieder vereinheitlicht wurde : Der Blick von einem Turm bot die Möglichkeit, den Wahrnehmungsgegenstand Stadt zu begrenzen, ihn sozusagen in einen passenden Rahmen zu setzen. Uber den panoramischen Blick von oben, außen, wird ein homogenes Objekt hergestellt.67 Die gegen Ende des Jahrhunderts zahlreich errichteten Aussichtstürme in den Städten ermöglichten den Besuchern, die Stadt als großes Objekt zu sehen. Sitte hatte übrigens selbst die Angewohnheit, eine Stadt zuerst von einem Aussichtsturm zu betrachten, um sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen, bevor er sich den einzelnen Details - sprich den Plätzen der Innenstadt - widmete.68 Die andere Reaktion auf die überwältigende Reizüberflutung der Sinne in der neuen Großstadt war die Strategie der Fragmentierung: Der Flaneur ließ sich durch die Straßen treiben und verlor sich in einer ganzen Bilderkette. Stéphane Mallarmé schrieb in seiner Zeitschrift La Dernière Mode 1874, Paris sei die Summe des ganzen Universums, gleichzeitig Museum und Warenhaus. Diese Metaphern leben von Vertauschungen des Maßstabs. Die Stadt ist ein Makrokosmos, in dem sich der Flaneur verliert, in den Straßen spiegelt sich die ganze Welt, und gleichzeitig ist die ganze Stadt selbst ein Objekt. Auch Sitte verwendet diese Vergleiche zuweilen, wobei das Warenhaus negativ, das Museum positiv belegt ist: Ein freigelegtes altes Bauwerk, ob altes Stadttor oder Kirche, sei eine »Torte am Präsentirteller«, nicht eingebundene Bauwerke ständen herum wie »Commoden bei einem Ausverkauf«.69 Er wünscht sich, dass in jeder Stadt »alle belangreichen Bauten und alle Monumente wie zu einer Ausstellung vereinigt« wären, und vergleicht die Wiener Innenstadt mit ihren Sehenswürdigkeiten mit der technologischen Sammlung in Paris und den Uffizien in Florenz.70 Wenn man die Stadt als Objekt betrachtet, wie es die Kunstwerk-Metapher nahe legt, könnte sie auch andere Charakteristika haben, die für Kunstwerke 66 Hauser, Susanne: Der Blick auf die Stadt. Semiotische Untersuchungen zur literarischen Stadtwahrnehmungbis IÇIO. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1990, S. ioiff. 67 Ebd., S. 110. 68 Hooker, George E.: »Camillo Sitte, City Builder«, in: Chicago Record Herald, 15. Jänner 1904, S. 6. Zit. nach Collins, George R. / Collins, Christiane C.: Camillo Sitte: The Birth of Modern City Planning. New York: Rizzoli 1986, S. 63. 69 Sitte: Der Städtebau, S. 30, 127. 70 Ebd., S. 130; Sitte: »Stadterweiterung und Fremdenverkehr« (s. Anm. 65).

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typisch sind, nämlich eine Art von Bedeutung oder Identität. Die Akropolis sei, so Sitte, »in Wahrheit der Mittelpunkt einer bedeutenden Stadt, die Versinnlichung der Weltanschauung eines grossen Volkes«. 71 Eine gewachsene Stadt, schreibt er, »ist ein Stück Geschichte, wie ein alter Dom, dessen Mauern, Denksteine, Statuen und Bilder den Beschauer zurückversetzen in längst entschwundene Zeiten«.72 Die Stadt kann demnach als Denkmal oder Monument (von lat. monere, »erinnern«) aufgefasst werden, dessen Aufgabe es ist, an bestimmte Werte zu erinnern, an für die Nation wichtige Ereignisse oder Personen, Riten, Religion, an Techniken, Kunst etc. Adolf Loos betont den Erinnerungswert der Architektur, wenn er sagt: »Nur ein ganz kleiner teil der architektur gehört der kunst an : das grabmal und das denkmal. Alles andere, was einem zweck dient, ist aus dem reiche der kunst auszuschließen.«73 Alois Riegl grenzte vom Denkmal das Baudenkmal ab: Das Denkmal sei etwas gewolltes, ein Baudenkmal werde erst a posteriori zum Denkmal.74 Ist also eine Stadt von vorneherein als Denkmal errichtet, enthält eine Stadt viele Denkmäler, oder wird sie als »ungewolltes Denkmal« im Nachhinein zum solchen erklärt? Während der industriellen Revolution wuchs das Bewusstsein, dass nichts wieder so sein würde wie vorher. Baudenkmale wurden als etwas Unersetzbares angesehen und zunehmend im Kontrast zur Moderne inszeniert. Choay sieht es als Folge dieses Prozesses an, dass man die alten Stadtkerne als seltene empfindliche Objekte betrachtete, die wie Kunstwerke im Museum aus dem Kreis des Lebens herausgenommen werden mussten.75 Vielleicht wurde hier dem Guten zu viel getan: In den letzten Jahrzehnten suchen Stadtplaner nach Strategien gegen die Verödung der musealisierten Innenstädte, die nur noch von Touristen besucht werden, während sich das Leben der überwiegenden Anzahl der Stadtbewohner anderswo abspielt.

71 Sitte: Der Städtebau, S. n . 72 Sitte: »Die Kunst des Städtebauens« (s. Anm. 26). 73 Loos, Adolf: »Architektur«, in: Ders.: Trotzdem. Hg. von Adolf Opel. Wien 1983 (Erstveröffentlichung 1909), S. 101. 74 Riegl, Alois: »Der moderne Denkmalskultus, sein Wesen und seine Entstehung«, in: Dehio, G e o r g / Riegl, Alois: Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900.

Hg. von Ulrich Conrads. Braunschweig, Wiesbaden : Vieweg 1988 (Erstveröffentlichung 1903), S. 43-45.

75 Choay 1997 (s. Anm. 8), S. 143.

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Man darf aber nicht vergessen, dass die Kunstwerk-Metapher noch in einer anderen argumentativen Absicht eingesetzt wird: Sie impliziert, dass Städtebau nicht eine Frage ökonomischer oder technischer Organisation ist, sondern eine Frage des künsderischen Potenzials. Denn dann benötigt Städtebau auch mehr als technische Expertise, und nur Architekten mit einem Sinn für Kunst sind dafür qualifiziert. Le Corbusier formulierte später, die Architektur beginne dort, wo die Berechnung ende.76 Der Prüfstein des Architekten sei die Durchbildung der Form: »Die Durchbildung der Form läßt den Mann der Praxis, den kühnen und intellektuellen Menschen fallen, sie ruft nach dem bildenden Künsder.«77 Angesichts der Ubermacht der Ingenieure, Hygieniker und Verkehrsplaner, ganz zu schweigen von der Rolle der Bauspekulanten in der gründerzeitlichen Stadterweiterung, war die Lage der Architekten ja auch tatsächlich sehr prekär. Die Kunstwerk-Metapher bestärkt also den Anspruch der Profession auf Mitsprache in der städtebaulichen Diskussion, sie wirkt aber auch in eine andere Debatte hinein: Man kann sie auch als Statement in der Debatte um den Status der freien und der untergeordneten Kunstgattungen interpretieren, wie sie von Gottfried Semper initiiert wurde, den Sitte sehr verehrte. Sitte vergleicht die Akropolis in Athen mit einer griechischen Tragödie, Städtebau mit Poesie und Pompeji mit Musik.78 Damit proklamiert er dasselbe Potenzial für den Städtebau wie für die freien Künste. Besonders häufig verwendet Sitte Musik-Metaphern: er spricht von einem »Dreiklang« von Kunst- und Naturhistorischem Museum und Maria-TheresiaDenkmal oder von Bauwerken, die jedes »eine andere Melodie in anderer Tonart« spielen.79 Für diese Untersuchung aufschlussreich ist die Formulierung, »die große Symphonie oder Oper einer Millionenstadt« sei eine komplexe Kompositionsaufgabe »im Gegensatze zum einfachen Liede eines Marktfleckens«.80 Der Vergleich von Städtebau mit Musik wurde in dieser Zeit häufig verwendet und zielt auf Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gattungen wie Rhythmus, Wiederholungen und die Komponente der Zeit ab. Besonders die 76 Le Corbusier: L'art décoratif d'aujourd'hui. Paris: Les Editions Arthaud 1980 (Erstveröffentlichung 1925), S. 86. 77 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur. Frankfurt/M., W i e n : Ullstein Verlag 1963 (Erstveröffentlichung 1922), S. 159-160. 78 Sitte: Der Städtebau, S. 10-11; Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 9), S. 237; Sitte: Der Städtebau, S. 2. 79 Ebd., S. 129, 158. 80 Sitte: »Das Wien der Zukunft« (s. Anm. 17), 31.3.1894 (IV! Teil).

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große Komplexität und Vielstimmigkeit einer Symphonie schien geeignet, die moderne Großstadt zu beschreiben.81 An anderen Stellen findet Sitte Analogien zu Meisterwerken der Malerei. Uber die Plätze im Herzen Venedigs schreibt er: »So viel Schönheit ist auf diesem einzigen Fleckchen Welt vereinigt [...]. Nicht einmal Titian und Paul Veronese haben in ihren frei componirten Stadtbildern (Hintergründe der grossen Hochzeitsbilder etc.) etwas noch Herrlicheres zu ersinnen vermocht.« 82 Uber Lucca schreibt er: »Drei Plätze und drei Stadtbilder, ein jedes anders und jedes ein in sich harmonisch geschlossenes Ganzes.« 83 Wir finden hier die bereits erwähnten klassischen Kunstwerksdefinitionen wieder: Autorschaft, Geschlossenheit der Anschauung, organische Einheit. Der von Sitte häufig verwendete und mit ihm noch häufiger verbundene Begriff des »Malerischen« darf an dieser Stelle nicht vergessen werden. Der malerische Städtebau hatte, wie der Name schon sagt, seine Wurzeln in der Malerei, in den romantischen Stadtdarstellungen, wie sie in Frankreich infolge der voyages pittoresques, in England im Umfeld der Arts and Crafts-Bewegung und im deutschsprachigen Raum seit dem Biedermeier entstanden sind. Sitte bringt diese gemalten Stadtdarstellungen mit dem Städtebau in einen sehr direkten Zusammenhang: Er lobt die »Kirchenplätze und Signorien in Italien, auf denen Photographen, Vedutenzeichner und Aquarellisten zu den ständigen Erscheinungen gehören«. Bei modernen Plätzen komme dies nicht vor, denn diese seien nicht eben nicht malerisch, sondern nur langweilig.84 Die Metapher der Stadt als Kunstwerk kann allerdings auch anders ausgelegt und in einer Tradition der Ästhetisierung des Alltagslebens gesehen werden, die in den 1930er Jahren kulminierte. Walter Benjamin warf dem Faschismus vor, einen ästhetischen Zugang dazu zu missbrauchen, um ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen und darüber gleichzeitig Widersprüche in der Gesellschaft zu verschleiern. Der Faschismus ästhetisiere die Politik, indem er die Mittel der Kunst zur Ritualisierung seiner Macht einsetze, und lasse alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik im Krieg gipfeln.85

81 Vgl. auch S o n n e 2003 (s. A n m . 25), S. 2 2 6 - 2 2 7 . 82 Sitte: Der Städtebau, S. 65. 83 Ebd., S. 63. 84 Sitte, Camillo: » S o geht's nicht!«, in: Neues Wiener Tagblatt, 21. M ä r z 1 8 9 1 . 85 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 (Erstveröffentlichung 1936), S. 42ff.

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Richard Wagner hatte ähnliche Ideen schon früher vertreten, sein »Kunstwerk der Zukunft« impliziert die Gestaltung des eigenen Lebens als Kunstwerk. Obwohl man hier die Position Nietzsches herauszuhören meint (nur als Kunstwerk sei das Leben gerechtfertigt, wie Nietzsche in der »Geburt der Tragödie« argumentiert), geht die Idee Wagners eigentlich zurück auf sein Konzept des »Gesamtkunstwerks«, einer gegen Kants Kunstauffassung gerichteten Fusion aller Kunstarten in eine Art mittelalterliche Ekstase. Das Gesamtkunstwerk entsteht nach Wagner aus dem Kunstwollen eines ganzen Volkes : »Wer wird aber demnach der Künstler der Zukunft sein? Der Dichter? Der Darsteller? Der Musiker? Der Plastiker? - Sagen wir es kurz: das Volk. Das selbige Volk, dem wir heutzutage das in unserer Erinnerung lebende, von uns mit Entstellung nur nachgebildete, einzig wahre Kunstwerk, dem wir die Kunst überhaupt einzig verdanken.«*6 Sitte hat als großer Verehrer Richard Wagners den Begriff des Gesamtkunstwerks für sich adaptiert.87 Seine Vorstellung der Stadt als nationales Gesamtkunstwerk echter Volkskunst88, auf die Michael Mönninger in seinem Artikel »Naturdenken und Kunstgeschichte - Camillo Sitte und die ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert« in diesem Buch näher eingeht, ist allerdings eine noch extremere Mixtur als die Wagneropern. Wolfgang Sonne betont, dass eine als Gesamtkunstwerk aufgefasste Stadt nicht nur die anderen Kunstgattungen unterordne, sondern auch das soziale Leben, das Leben jedes Einzelnen forme. Der Städtebau verleibe sich dabei auch noch Technik und Wissenschaft ein.89 Angesichts der Tatsache, dass Sitte sich so dezidiert auf die klassische Definition des Kunstwerks bezieht, stellt sich hier die Frage, ob der Städtebau als eine Kunstgattung wie etwa Dichtkunst, Musik und Malerei oder sogar als diesen überlegen behauptet werden soll, und das gar mit einem Volksgeist/Zeitgeist als Autor? In »Sezession und Monumentalkunst« schreibt Sitte, dass ein echtes Volkskunstwerk anonym über eine lange Zeitperiode hinweg entstehe und weder Autor noch Publikum kenne. Das Volkskunstwerk fällt damit aus der klassischen Definition eines Kunstwerks heraus. Sitte bekräftigt aber im selben Text Aspekte ebendieser Kunstwerksdefinition, wenn er schreibt: »Die Architektur

86 Wagner, Richard: »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: Ders.: Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. H g . von Dieter Borchmeyer. Bd. 6: Reformschriften 1849-52, S. 148.

Frankfurt/M.: Insel-Verlag 1983,

87 Vgl. Sitte, Camillo: Richard Wagner und die Deutsche Kunst. Wien: Verlag J. Gutmann 1875. 88 Sitte: »Großstadt-Grün« (s. Anm. 9), S. 249. 89 Sonne 2003 (s. Anm. 25), S. 227.

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ist gleichsam eine Sphinx, halb Tier halb Mensch. Das was der Baukünstler schafft, dient teilweise nur dem gemeinen Bedürfnisse und nur teilweise wirklich den hohen Idealen der Kunst als künstlerischer Selbstzweck.«90 Nur Kirchen und Denkmäler (siehe oben!) könnten diesen höchsten Grad reiner Kunst erreichen, halb-künstlerisch seien Festungsbauten, Schlösser, Paläste, Museen, Theater etc. Sitte bietet jedoch einen Kompromiss an: es genüge, wenn der Geometer dem Künstler einige wenige zentrale Plätze zur künstlerischen Gestaltung abtrete. »Auch ein modus vivendi dürfte zwischen Beiden gefunden werden können, falls nur die Geneigtheit dazu vorhanden wäre, denn der Künstler braucht für seine Zwecke nur wenige Hauptstrassen und Plätze, alles Übrige mag er gerne dem Verkehr preisgeben.«91 Es zeigt sich, dass die unterschiedlichen Metaphern divergente und teilweise gegensätzliche Aspekte der Stadt in sprachliche Bilder fassen, die wiederum zu höchst unterschiedlichen Schlüssen führen können. Camillo Sitte beruft sich auf klassische Definitionen, wenn diese geeignet sind, seine Argumentation zu untermauern, wie bei der Kunstwerk- oder Lebewesenmetapher. Außerdem hebt er Aspekte von Metaphern hervor und leitet daraus Handlungsanweisungen oder sogar konkrete Gestaltungsprinzipien ab, wie beispielsweise bei der Zimmer- oder Bühnenmetapher. Es wird deutlich, dass nicht nur die zu Beginn diskutierten Landschafts- oder Lebewesenmetapher, sondern vor allem auch die Kunstwerk-Metapher dabei in sich höchst widersprüchlich sind. Die Formulierung »Städtebau als Kunst« (oder eben »nach seinen künstlerischen Grundsätzen«) sagt aus, dass Städtebau wie Kunst aufgefasst werden kann, um Ähnlichkeiten des Städtebaus mit einem klassischen Kunstwerk herauszustreichen, was aber gleichzeitig die Möglichkeit offen lässt, dass Städtebau auch wie anderes sein oder als etwas anderes interpretiert werden kann, zum Beispiel als Lauf der Natur, Ökonomie, Wissenschaft, Technik oder Politik. In diesem Sinne ist es zielführend, das Kunstwerk Stadt als Metapher zu verstehen.

90 Sitte, Camillo: »Sezession und Monumentalkunst«, in: Neues Wimer Tagblatt, 5·/6. Mai 1903. 91 Sitte: Der Städtebau, S. 98.

Ruth Hanisch

»Die Ursache der schönen Wirkung«. Eine Parallellektüre von Camillo Sittes Schriften zu Kunstgewerbe und Städtebau

Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 steht im Œuvre Camillo Sittes in splendid isolation: Der Gegensatz zwischen dem stürmisch diskutierten Städtebaubuch und den vergessenen anderen Schriften des Autors könnte krasser nicht sein. Durch den Städtebau wurde der unbekannte Schuldirektor Sitte mit einem Schlag zu einer Koryphäe auf diesem Gebiet, die sogar mit großmaßstäblichen Planungsaufträgen betraut wurde, ohne über einschlägige Praxis zu verfügen. In mehreren deutschen Ausgaben und einigen fremdsprachlichen Übersetzungen ediert1, ist der Städtebau bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Reibungspunkt künstlerischer Standpunkte geblieben. Dabei - und das ist die These dieses Textes - ist der Städtebau ohne die Vorarbeiten in den früheren Schriften Sittes zu anderen Themen nicht denkbar - und genauer noch: Der Erfolg des Buches verdankt sich in nicht unwesentlichem Ausmaße den Strategien, die der Autor anhand anderer Themen entwickelt hatte. In der Vorrede zum Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen heißt es: Er - Sitte - wollte mit diesem Buch »einmal den Versuch [...] wagen, eine Menge schöner alter Platz- und überhaupt Stadtanlagen auf die Ursachen der schönen Wirkung hin zu untersuchen; weil die Ursachen, richtig erkannt, dann

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Siehe hierzu Sitte: Oer Städtebau, S. 251fr.

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eine Summe von Regeln darstellen würden, bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müssten. Dieser leitenden Absicht zufolge soll die vorliegende Schrift also weder eine Geschichte des Städtebaues noch eine Streitschrift darstellen, sondern Material sammt theoretischen Ableitungen für den Praktiker bieten [.. .].«2 Die Präsentation von aus ihrem Entstehungszusammenhang isolierten städtischen Beispielen, die - fachkundig ausgewählt - dem Planer als Vorbild dienen sollten, erinnert nur allzu deutlich an Strategien des zeitgenössischen Kunstgewerbe- und Gewerbeunterrichts, wie sie auf höchstem Niveau mit der Gründung des Osterreichischen Museums für Kunst und Industrie und der angeschlossenen Kunstgewerbeschule durch Rudolf Eitelberger von Edelberg vorgeführt wurden. Sitte waren als Gründungsdirektor der Salzburger (1875-83) und Direktor der Wiener (1883-1903) Staatsgewerbeschule diese Prinzipien nur allzu gut bekannt. Seine professionelle Laufbahn - seine »Carrier«, wie Arthur Schnitzler sagen würde - war vom Kunstgewerbe dominiert, so sehr er sich auch auf vielfältige Weise mit anderen Gebieten bis hin zur Musiktheorie befasste. Das heißt, sein Alltag bestand weitgehend in der Vermittlung gewerblicher Praxis an Jugendliche bzw. deren Administration und Organisation bis ins Ministerium hinein, und in diesem Zusammenhang sind auch viele seiner Texte zu kunstgewerblichen Themen entstanden. Wie sehr ihn die Stellung quantitativ beschäftigte, aber auch quälte, kann eine Stelle aus einem Brief Sittes an Eitelberger belegen: »Mit der Schule geht es, fast möchte ich sagen, besser vorwärts als mir lieb ist, denn ich sitze täglich von 8 bis 12 und l h 2 bis Ά io Uhr Abends zur Hälfte mit Unterricht zur andern Hälfte mit Kanzleiarbeit beschäftigt und zu eigenen literarischen oder künstlerischen Arbeiten komme ich gar nicht [...].« 3 Fragen der Kunstindustrie, die zunehmend in vielen Kunstgewerbesparten die traditionellen handwerklichen Herstellungstechniken ablöste, waren eine zentrale Herausforderung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Durch die Weltausstellungen war der Druck auf die Hersteller enorm gewachsen, die sich nun einer zunehmend internationalen Konkurrenz gegenübersahen. Fragen des Kunstgewerbes und der Kunstindustrie wurden als zentrale Wirtschaftsfaktoren für die Monarchie erkannt und entsprechend gefördert. Dazu gehörte neben den prestigeträchtigen Gründungen des Museums für Kunst und

2

E b d . S. i n f .

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Sitte an Rudolf Eitelberger von Edelberg, 19. J ä n n e r 1876, W i e n e r Stadtbibliothek I N 22663.

»Die Ursache der schönen Wirkung«

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Industrie sowie der Kunstgewerbeschule auch die Einrichtung von Staatsgewerbeschulen in den Bundesländern.4 Sitte setzte sich mit dem Thema nicht nur durch die Administration der Schule und die Gründung des Salzburger Gewerbeblattes, sondern auch in zahlreichen Schriften auseinander. Thematisch umfassen seine Texte zum Kunstgewerbe Ausstellungsbesprechungen, beginnend mit der Weltausstellung in Paris 1878 s , sowie umfassende Untersuchungen einzelner Gewerbesparten, etwa über Gmundner Keramik6 oder Silberfiligran7. Sittes Traktanden sind aber nicht die hohen Sparten des Kunstgewerbes wie beispielsweise orientalische Teppiche oder italienische Keramik der Renaissance, wie sie etwa im Museum für Kunst und Industrie vertreten sind, sondern »Nebenschauplätze«, unter anderem ein Artikel über »Schlösser und Schlüssel«8 oder das Buch Die Initialen der Renaissance9. Bemerkenswert daran ist, dass Sitte vorurteilsfrei an Fragen wie Volkskunst oder auch frühindustrielle Herstellungsweisen herangeht. Im Verhältnis zu den vielen anderen künstlerischen und theoretischen Passionen Sittes war die Beschäftigung mit dem Kunstgewerbe und dessen Vermittlung durch seine Position als Schuldirektor gezwungenermaßen dominant; weshalb auch die Frage, wie sehr sie sein Hauptwerk Der Städtebau geprägt hat, besonders relevant erscheinen muss. 1882 erschien das Buch Die Initialen der Renaissance nach den Constructionen von Albrecht Dürer, herausgegeben von Camillo Sitte unter Mitwirkung von Josef Salb. Die Publikation geht auf die Initiative von Eitelberger zurück,10 der nicht nur Direktor des Wiener Museums fur Kunst und Industrie, sondern auch Lehrer 11 und Gönner Sittes war. Es handelt sich dabei um ein Alphabet, das laut Sittes Angaben auf der »ersten Zusammenstellung des ganzen Alphabetes mit An4 Zu den polirischen und wirtschaftlichen Motivationen dieser Gründungen siehe: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie. Die Anfinge des Museums für Angewandte Kunst in Wien. OstfildernRuit: Hatje Cantz 2000. 5 Sitte, Camillo: »Die Pariser Weltausstellung. Original-Bericht«, in: Salzburger Gewerbeblatt. Bd. 2,1878, S. 33-36,41-48, 53-59,65-71, 77-80; Bd. 3,1879, S. 1-3, 2 ^ 2 2 , 33-34,47-48. 6 Sitte, Camillo: »Zur Geschichte der Gmundner Majolika-Fabrikation«, in: Kunst und Gewerbe 21, 1887, S. 65-72. 7 Sitte, Camillo: »Das Salzburger Filigran«, in: Kunst und Gewerbe 21, Beil. 17, 1887. 8 Sitte, Camillo: »Schlösser und Schlüssel«, in: NeueFreie Presse, Wien, 26. Juni 1885. 9 Sitte, Camillo / Salb, Josef: Die Initialen der Renaissance. Nach den Constructionen von Albrecht Dürer. Wien: Verlag der K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1882. 10 Im Kachlass von Rudolf Eitelberger von Edelberg in der Wiener Stadtbibliothek befinden sich mehrere Briefe Sittes, in denen er vom Stand der Arbeit an der Publikation berichtet. 11 Sitte hörte von 1863-68 an der Wiener Universität Vorlesungen bei Eitelberger.

2 1 2 : Ruth Hanisch

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Camillo Sitte und das Primat des Sichtbaren in der Moderne

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Die Bedeutungen, die Sitte den Plätzen zuweist, sind nicht einfach soziologisch oder ästhetisch, sondern auch psychologisch. Er schreibt in dieser Hinsicht, dass eine »meilenlange schnurgerade Allee [...] selbst in der schönsten Gegend langweilig [wirkt]. Sie widerstreitet dem Naturgefühl [...] und bleibt eintönig im Effect, so dass man, seelisch abgespannt, das Ende kaum erwarten kann.«57 Die Uniformität und repetitive Natur von Räumen der modernen Stadt führt oft dazu, alle Orientierung zu verlieren.58 Der räumliche Abschluss und die harmonischen Proportionen bestimmter Plätze laden zu einer Pause ein, während andere Unbehagen und Beklemmung hervorrufen.59 Das sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen, dass bei Sitte mit der Frage einer Stadtmorphologie, verstanden als ästhetische Frage, ebenso Bedeutungsebenen existenzieller Erfahrungen in der Stadt mitschwingen. In diesem Kontext unterstreicht das Beispiel der Agoraphobie60, das Sitte als eine »nervöse Krankheit« vorstellt, unter der viele Menschen leiden, »wenn sie über einen grossen leeren Platz gehen sollen« 61 , einmal mehr nicht nur den Synchronismus der Forschungen jener Zeit, sondern auch den Geist, mit dem Sitte den Raum sowohl physiologisch-ästhetisch als auch psychologisch-existenziell wahrnimmt und beschreibt. Die Untrennbarkeit von Psychologie und Biologie ist ein zentrales Element, das viele Philosophen des 19. Jahrhunderts, die sich mit dem menschlichen Sehvermögen beschäftigten, gemeinsam haben, von Schopenhauer bis zu Fechner. Mit den Augen und durch die Augen zu sehen, d. h. mit dem physischen und dem psychologischen Auge, verschmilzt in jenen Jahren zu einer einzigen wissenschaftlichen Vorstellung. Einmal mehr sehen wir, dass Sittes Zugang durch denselben Hintergrund und dieselben Betätigungsfelder gekennzeichnet ist, welche die Kultur und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts dominierten. In diesem Sinn erlaubt uns Sittes Arbeit zu bewerten, in welchem Ausmaß Kunst und Wissenschaft im 19. Jahrhundert Teil eines einzigen, verschränkten Feldes von

Friedrich H e r b a r t - der einen der f r ü h e s t e n Versuche zur Q u a n t i f i z i e r u n g der Prozesse kognitiver E r f a h r u n g u n t e r n a h m u n d daher als geistiger Vater der Stimulus-Response-Psychologie gilt - direkt an dessen pädagogische T h e o r i e n g e b u n d e n war, die in D e u t s c h l a n d in der M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s starken Einfluss besaßen. Siehe C r a r y 1990 (s. A n m . 4), S. 100-102. 5 7 Sitte : Der Städtebau, S . 91. 58 Ebd., S. 104. 59 W i e c z o r e k 1994 (s. A n m . 2), S. iy8f. 60 Collins 1986 (s. A n m . 3), S. 370, A n m . 186. 61 Sitte: Dtr Städtebau, S. 53.

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: Heleni Porfyriou

Wissen und Praktiken waren und wie die Kategorisierung von Sitte als »romantisch« die Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft hervorhebt, uns aber am wesentlichen Punkt vorbeiführt: dass Sittes Beitrag zur Kunst des Stadtraums zur modernen Gründungsbewegung einer Wissenschaft der Kunst gehört.

Perspektiven auf die Geschichte des Blicks Die Beschreibung des Stadtraums durch die Augen des Betrachters, zuerst von Sitte formuliert (und so den Weg für eine Reihe von Studien, Theorien und Stadtplanungspraktiken des 20. Jahrhunderts ebnend 62 ), reflektiert, wie wir gesehen haben, eine viel breitere Veränderung, die den Blick von den unkörperlichen Verhältnissen der Camera obscura in den Körper des Menschen zurückversetzt. Derselbe Prozess - durch den bedeutsamen Ubergang von der geometrischen Optik des 17. und 18. Jahrhunderts zur physiologischen Optik des 19. Jahrhunderts markiert - dominiert zur selben Zeit wissenschaftliche, philosophische und künstlerische Theorien. Der Bruch mit klassischen und Renaissancemodellen des Blicks kann, als eine historische Frage betrachtet, insbesondere heute von Interesse sein, wo durch den Computer erzeugte Bilder zum dominierenden Visualisierungsmodus werden. Heute werden viele der historisch wichtigen Funktionen des menschlichen Auges durch Praktiken ersetzt, in denen die visuellen Bilder nicht länger auf eine Position eines Beobachters in der optisch wahrgenommenen »realen« Welt referieren. "Visuelles Wahrnehmen wird schrittweise in kybernetischen und elektromagnetischen Kontexten stattfinden, wie Jonathan Crary formuliert. 63 Welche Elemente des Bruchs und der Kontinuität verbinden zeitgenössische Bilder mit vergangenen Organisationen des Blicks? Historische Analysen mögen darauf eine Antwort geben. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Langer

62 Collins 1986 (s. Aran. 3), S. 1 2 5 - 1 2 7 ; Wieczorek 1994 (s. Aran. 2), S. 182; Porfyriou, Heleni: »Space as place, lo spazio come luogo nell'urbanistica moderna«, in : Gabellino, Patrizia (Hg.): Progettare nella città esistente per la società esistente. Atti del Convegno Internazionale di Urbanistica. Roma: Danibel 1993, S. 1 5 6 - 1 5 9 . 63 Crary 1990 (s. Aran. 4), S. 2.

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Viele Autoren der Vergangenheit haben demonstriert, wie Sitte das vergangene Jahrhundert über als Repräsentant einer Figur der nostalgischen Reaktion gesehen wurde. Durch diese falsche Rezeption wurden Anti-Modernisten und »New«-Urbanists gleichermaßen in der Illusion bestätigt, dass kleine, alte Plätze besser seien als große und neue. Nun mochte Sitte natürlich sehr wohl kleine alte Plätze, wie andere Beiträge in diesem Band demonstrieren (es fragt sich allerdings, wie klein: immerhin sind manche der Plätze, die er mochte - wie beispielsweise die Piazza San Marco - , kaum als Briefmarke zu bezeichnen ...), aber die neuen, die er vorschlug, sind alles andere als klein, wie seine Pläne für die Umgestaltung der Ringstraße zeigen, sogar nach heutigen Maßstäben. Ich werde auf diesen Punkt hier nicht näher eingehen, aber meinem Verständnis von Sittes Auffassung des öffentlichen Raums in der Stadt als riesiges Freilufttheater - er spricht davon, das private, im Inneren der Häuser stattfindende Theater nach draußen zu bringen - entspricht eine öffentliche Sphäre von lebendiger Modernität, gemacht aus neuen Räumen, die nach den »Prinzipien« früherer kultureller Stätten konzipiert sind, aber nicht statisch deren Stile und exakte Formen nachahmen. Ich möchte außerdem betonen, dass ich kein Sitte-Spezialist bin, sondern eher ein intellektueller Historiker der modernen Kultur, der Sitte in einem weiten Feld der Stadtinterpretationen des letzten Jahrhunderts sieht. Dementsprechend werde ich hier kurz die Frage des Stadtraums als Ort der Konstitution von Identität erörtern, wie sie aus der Sicht der Psychologie und Psychoanalyse dieser Periode gesehen wurde. Es ist ein absolut moderner Standpunkt, indivi-

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duelle und kollektive Identität als nach den Prämissen der neuen Disziplinen Psychologie und Psychoanalyse definiert zu begreifen. Und weil viele dieser Prämissen der neuen Psychologie auf der Vermessung der visuellen und räumlichen Situation des Individuums basierten, ist es kein Zufall, dass, beginnend im 19. Jahrhundert, die Interpretation des städtischen Raums durch die Interpretation der individuellen Psyche gefiltert und von ihr dominiert wurde. Wir alle erinnern uns an Baudelaires verzweifelten Kommentar, dass das menschliche Herz sich langsamer wandle als die Form der Stadt, eine Bemerkung, die auf seinen eigenen Schwierigkeiten basierte, sich an die Geschwindigkeit der Veränderungen des Haussmann'schen Paris anzupassen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts finden wir diese Wahrnehmung entsprechend der neuen medizinischen Wissenschaft vom »menschlichen Herzen« ausgeweitet und dergestalt weiterentwickelt, dass die Form der Stadt mit der neuen Natur dieses Herzens verknüpft wird. Die Analogie wird sogar erweitert, gemäß der alten Idee, dass die Stadt in einer gewissen Weise eine organische Einheit sei, so dass die alte Renaissance-Vorstellung von der Stadt als erweiterter Körper transformiert wird in eine Idee der Stadt als erweiterte Psyche. So lesen wir bei dem Fin-de-Siècle-Autor Georges Rodenbach in seinem 1892 veröffentlichten psychologischen Roman über eine Stadt, Das tote Brügge, in welcher der Geist seiner geliebten Frau spukt. Brügge erscheint dort als wesentliche Gestalt, mit den Stimmungen verbunden, sie berät, rät ab, entschließt zum Handeln, fast menschlich: »Jede Stadt ist ein Seelenzustand, und kaum hat man sie betreten, so teilt sich dieser Zustand mit und geht in uns über.«1 Oder in den Worten seines Schülers Hippolyte Fierens-Gevaert in dessen Studie Psychologie d'une ville. Essai sur Bruges von 1901: »Ich wollte die Psychologie der Stadt probieren [...] ihre Schönheit, ihre Kraft, ihre Kreationen [...] ihre äußeren Erscheinungen sind in intimer Harmonie mit dem Streben und dem Charakter der Bevölkerung. Um die Originalität einer Stadt zu verstehen, muss man ihre weldichen Anstrengungen kennen, muss man ihre Seele schlagen hören.«2 Und wenn wir zum Urbanismus zurückkehren, können wir Le Corbusier in Vers une architecture zitieren: »Trotzdem existiert BAUKUNST. Seltsamerweise die

1

Rodenbach, Georges : Das tote Brügge. Übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Fulda :

2

Festa Verlag 2003 (Erstveröffentlichung 1892), S. 187. Fierens-Gevaert, Hippolyte: Psychologie d'une ville. Essai sur Bruges. Paris: Alean 1901. (Übersetzung S. H.)

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allerschönste. Erzeugnis glücklicher Völker und Erzeugerin glücklicher Völker. Glückliche Städte haben eine Baukunst. Baukunst lebt im Telefonapparat wie im Parthenon. Wie gut könnte sie in unseren Häusern leben ! Unsere Häuser schaffen Straßen und die Straßen Städte, und die Stadt - das ist ein Individuum mit einer Seele, ein Individuum, das fühlt, leidet und bewundert. Wie gut könnte Baukunst in den Straßen und in der ganzen Stadt leben ! Der Befand ist klar.«3 An dieser Stelle sollten wir uns daran erinnern, dass Le Corbusier in seinem früheren Leben als Charles-Edouard Jeanneret, Architekt aus Chaux de Fonts, selbst ein begeisterter Leser und Anhänger Sittes gewesen war und sogar eine ausführliche Abhandlung über die Form von Städten nach Sittes Prinzipien der malerischen Form verfasst hatte. Das bringt uns zurück zu Sitte, der bekanntermaßen nicht immun gegen die neue Psychologie war. Es gibt meiner Ansicht nach keinen medizinischen Nachweis, dass Sitte an Agoraphobie litt, obwohl sein Beharren auf Umgrenztheit in der öffentlichen Sphäre als ziemlich obsessiv bewertet werden kann, aber es gibt hinreichende Beweise, dass er selbst die Parallelen zwischen seinen eigenen Theorien des städtischen Raums und den Entdeckungen der Psychologen gesehen hat, was die Wirkung von städtischen Räumen auf die individuelle Psyche betrifft. Und wie Wissenschaftler von George und Christiane C. Collins bis Carl Schorske bemerkt haben, findet er nichts dabei, diese Entdeckungen als Belege für seine eigenen Theorien zu zitieren - obwohl ich denke, dass seine Kommentare mehr ironisch und witzig gemeint sind als medizinisch korrekt. Er schreibt: »In jüngster Zeit ist eine eigene nervöse Krankheit constatili worden: die >PlatzscheuVerbesserungen< in einigen unserer Städte, denn, gemessen am Effekt, den sie auf mich haben, produzieren sie schlechte Kunst.« (Übersetzung S. H.) »Vincent«: »Confessions of an Agoraphobie Victim«, in·. American Journal of Psychology 30, 1919, S. 297.

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und George Beard diagnostiziert hatte, die Städte seien der Ort und teilweise der Grund der verallgemeinerten Neurasthenie, die er als die dominante Krankheit des modernen Lebens ansah. Man könnte einwenden, dass Sitte das Wort »Agoraphobie« nicht benutzte, und es ist richtig, dass in den 1890er Jahren diese Bezeichnung noch nicht allgemein für die Krankheit der Raumangst übernommen worden war. Denn Sittes Modekrankheit war 1889 tatsächlich erst ungefähr 20 Jahre alt: In den späten 1860er Jahren erstmals diagnostiziert von einigen Ärzten in Berlin und Wien, die angesichts der alltäglichen Reaktionen einiger ihrer Patienten auf öffentliche Räume alarmiert waren, wurde die erste umfassende Fallstudie 1871 vom Berliner Psychologen Carl Otto Westphal publiziert. Zu den Symptomen der von ihm folglich als »Agoraphobie« bezeichneten Krankheit gehörten Herzklopfen, Hitzewallungen, Erröten, Zittern, Todesangst und lähmende Schüchternheit, die, wie Westphal bemerkte, auftraten, wenn seine Patienten über freie Plätze oder durch leere Straßen gingen oder sich ein derartiges Erlebnis mit Grauen vor der zu erwartenden Angst ausmalten.8 Ihre Ängste wurden teilweise durch Begleitung gelindert, aber 8

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ι. Camillo Sitte: Vorschlag zur Neugestaltung der Ringstraße.

Westphal, Carl Friedrich Otto : »Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung«, in : Ar-

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ernsthaft verschlimmert durch die Dimensionen des Raums, speziell wenn das Gesichtsfeld nicht begrenzt war. Eine Vielzahl von Bezeichnungen existierte, um diese Krankheit zu kategorisieren - im Jahr vor der Publikation von Westphals Artikel hatte ein anderer Arzt, Moriz Benedikt, sie als »Platzschwindel« tituliert,9 und sie wurde verschiedentlich auch »Platzfurcht«, »Platzscheu«, »angoisse des places«, »crainte des places«, »peur d'espace«, »horreur de vide«, »Topophobie« und »Straßenangst« genannt. Der Ausdruck »Agoraphobie« wurde bereits in Littrés und Robins Dictionnaire de médecine von 1865 als eine Form der Entfremdung, bestehend aus akuter Angst, einhergehend mit Herzklopfen und Befürchtungen aller Art, definiert,10 und mit der Unterstützung von Westphal konnte er sich als der allgemein akzeptierte Ausdruck verbreiten, trotz der Bedenken einiger französischer Psychologen. Westphal berichtet von drei wichtigen Fällen, die in der Literatur mehrere Dekaden lang wiederholt wurden: ein Handelsreisender, der Herzrasen bekam, wenn er einen öffentlichen Platz betrat, an langen Mauern vorbei oder durch Straßen mit geschlossenen Geschäften ging, im Theater oder in der Kirche; ein Ladenbesitzer, dem es nicht möglich war, Plätze oder Straßen zu überqueren, wenn die Geschäfte geschlossen waren, der nicht mit dem Omnibus fahren, ins Theater oder Konzert gehen oder irgendeine Form von Menschenansammlung ertragen konnte, ohne eine seltsame Angst zu verspüren, begleitet von starkem Herzrasen; ein Ingenieur, der Angst verspürte, sobald er einen Platz überqueren musste, insbesondere wenn dieser verlassen war, und sich fühlte, als ob der Bürgersteig gleich einem reißenden Strom unter seinen Füßen dahinrauschte. Eine gewisse Erleichterung wurde diesen Patienten durch physische Hilfen verschafft: durch einen Spazierstock oder die Anwesenheit eines Freundes etwa. Westphal zitiert weiters den Fall eines Priesters, den, wie ein Dr. Brück aus Dri-

chiv fur Psychiatrie und Nervenkrankheiten 3, 1871, S. 138-161. Westphal stellte diesem Aufsatz drei Kachträge hintan : Ders. : »Kachtrag zu dem Aufsatze >Uber Agoraphobie«^ in : Archiv flir Psychiatrie und Nervenkrankheiten 5, 1872, S. 219-221; Ders.: »Uber Platzfurcht. Briefliche Mittheilungen«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 7, 1877, S. 377; Ders.: »Agoraphobie« (1885), in: Carl Westphal's Gesammelte Abhandlungen, 2 Bände. Berlin: August Hirschwald 1892. Bd. ι, S. 374-387. Dr. E. Cordes antwortete ausführlich auf Westphals Artikel: Cordes, E.: »Die Platzangst (Agoraphobie), Symptom einer Erschöpfungsparese«, in : ArchivfiirPsychiatrie und Nervenkrankheiten 3, 1872, S. 521-574. 9 Benedikt, Moriz: »Uber Platzschwindel«, in: Allgemeine Wiener Medizinische Zeitung 15, 1870, S.488. 10 Littré, Emile/Robin, Charles-Philippe: Dictionnaire de médecine. Paris: Baillière 1865, S. 30.

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bürg berichtet, das Grauen überfiel, wenn er nicht die gewölbte Decke seiner Kirche über sich sah, und der dazu gezwungen war, im Freien unter einem Schirm zu gehen.11 Wenn Agoraphobie per Definition im Wesentlichen eine Raumkrankheit war, so bestanden viele Psychologen darauf, dass sie gleichermaßen eine Stadtkrankheit sei, eine Auswirkung des Lebens in der modernen Stadt. Westphals Ingenieur gab in der Tat an, dass er auf einem großen Platz, der nicht von Häusern umgeben sei, weniger Angst verspüre als auf einem Platz derselben Größe in der Stadt: die freie Natur war erfrischend, die Stadt beängstigend. Der Arzt Jean Baptiste Edouard Gélineau argumentierte 1880 fur den Ausdruck »Kénophobie« als bessere Charakterisierung jener Angst vor der Leere, die nur die Bewohner von Städten überfalle, sich unter dem Einfluss der entkräftenden Atmosphäre großer Städte entwickle und die malaria urbana genannt werde.12 Henri Legrand du Saulle hatte zwei Jahre zuvor das Wort »Agoraphobie« verweigert, da es, in seinen Worten, die Störung auf eine bestimmte Art der öffendichen Räume limitierte; er bevorzugte den allgemeineren Ausdruck »peur des espaces«, der alle Raumängste beinhalte. Die Patienten litten Angst vor Raum, vor Leere, nicht nur auf der Straße, sondern auch im Theater, in der Kirche, in oberen Stockwerken, an Fenstern, die auf einen großen Hof gingen, oder wenn sie über die Landschaft schauten, ob von einem Omnibus, einer Fähre oder einer Brücke.13 Legrands synthetische Beschreibung ist so dramatisch wie eindeutig in der Charakterisierung des Settings. Die Angst vor Raum, üblicherweise kompatibel mit der robustesten Gesundheit, trete häufig in genau dem Moment auf, wenn der Neuropath die Straße verlasse und auf einem Platz ankomme, so Legrand. Er werde von einer plötzlichen Angst, einem augenblicklichen Herzklopfen überfallen. Der Patient finde sich als Opfer einer undefinierbaren Emotion beim Anblick der sich ihm darbietenden Leere von der ganzen Welt isoliert und furchte sich unermesslich. Er fühle sich vernichtet, traue sich nicht vom Bürgersteig auf die Straße zu treten, tue keinen Schritt vor oder zurück, zittere an allen Gliedern, werde bleich, erschauere, erröte, sei schweiß11 Westphal: »Agoraphobie« (s. Anm. 8), S. 1 3 9 - 1 5 1 . 12 Gélineau, Jean Baptiste Edouard : De la Xénophobie ou peur des espaces (Agoraphobie des allemands). Paris 1880, S. 24. 13 Legrand du Saulle, Henri : Etude clinique sur la peur des espaces (agoraphobie, des allemands) Névrose émotive. Paris: V. Adrien Dalahaye 1878, S. 6. Der erste Teil dieser Denkschrift erschien in Gazette des hôpitaux, Oktober/November/Dezember 1877. Legrand du Saulle praktizierte am Krankenhaus von Bicêtre und war Chefarzt am Dépôt de la Prefecture.

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gebadet, mehr und mehr beunruhigt, könne auf seinen schlotternden Beinen kaum stehen bleiben und sei überzeugt, dass er niemals dieser Leere ins Gesicht sehen und den verlassenen Platz oder den vor ihm liegenden Raum durchqueren könne. Wenn jemandes Blick plötzlich in eine tiefe Kluft gezogen würde, wenn man sich vorstellen müsste, über einem feurigen Krater zu hängen, die Niagarafälle auf einem dünnen Seil zu überqueren oder unaufhaltbar langsam in einen Abgrund zu rollen, der daraus resultierende Eindruck könne nicht schmerzhafter sein, nicht beängstigender als der von der Raumangst hervorgerufene.14 Legrand schlussfolgert, dass keine Angst ohne Leere, keine Beruhigung ohne Auftauchen eines scheinbaren Schutzes möglich sei.15 Die Symptome waren bei allen Patienten ähnlich. Der Angstzustand wurde üblicherweise begleitet von einer plötzlichen Schwäche in den Beinen, einer Uberaktivität des Kreislaufs, Wellen des Kribbelns, einem Gefühl der Taubheit, beginnend mit Schüttelfrost, Hitzeschüben, kaltem Schweiß, Zittern, dem Verlangen, in Tränen auszubrechen, lächerlichen Vorahnungen, hypochondrischem Wahn, halbausgesprochenen Jammereien und von einer schmerzhaften generellen Beunruhigung mit verschiedenem Wechseln der Gesichtsfarbe und des physiognomischen Ausdrucks.16 Legrands eigene Beobachtungen bestätigten die von Westphal in allen Details. Eine »Madame B...«, lebhafte und gesellige Mutter dreier Kinder, erlebte die Symptome bei der Rückkehr aus den Ferien: Sie war auf einmal unfähig, die Champs-Elysées, die Boulevards oder große Plätze allein zu überqueren.17 Voller Angst vor leeren unbestuhlten Kirchen, davor, alleine im geräumigen Speisezimmer eines Hotels zu essen und mit der Kutsche durch verlassene Straßen ohne Passanten zu fahren, brauchte sie sogar Hilfe beim Erklimmen des weitläufigen Treppenhauses zu ihrer Wohnung. Einmal drinnen, konnte sie nicht aus dem Fenster in den Hof blicken und füllte ihre Zimmer mit Möbeln, Bildern, Statuetten und alten Wandteppichen, um deren Geräumigkeit zu mindern. Sie lebte, stellte Legrand fest, in einem veritablen Basar, die Leere allein 14 Ebd., S. 6 - 7 . 15 Ebd. Die »Poetik« der Agoraphobie erreichte einen Höhepunkt in der proto-phänomenologischen Studie von Claude-Etienne Bourdin, der zu dem Schluss kommt, dass die Hauptursache der peur des espaces eine moralische, nicht eine physische sei. Bourdin, Claude-Etienne : Horreur du vide. Paris: Charles de Lamotte 1878. 16 Ebd., S. 7 - 8 . 17 Ebd., S. 9.

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ängstigte sie.18 Legrands zweiter Fall war ein »Monsieur Albert G...«, Infanterieoffizier, interessiert an Literatur, Poesie, Musik und Archäologie, der nicht in der Lage war, öffentliche Plätze ohne Uniform zu überqueren. Wieder wurde seine Angst durch die Leere verursacht, ob auf Terrassen oder in einer großen gotischen Kirche. 19 Legrand schloss daraus, den meisten anderen Untersuchungen über die Agoraphobie zustimmend, dass es der Raum war, der ihm Angst machte.20 Zu der Angst vor leeren und freien Räumen wurde die vor überfüllten und belebten Plätzen hinzugefügt. Legrand bemerkte, dass die Angst vor Räumen bei gewissen Patienten auf stark frequentierten Plätzen oder in Menschenmengen hervorgerufen werde, eine Form von Angst, die, wie von Gustave Le Bon skizziert, schnell in die allgemeineren Studien über Massenphänomene integriert wurde. Der 1883 veröffentlichte Ergänzungsband zu Littrés Dictionnaire hatte die Agoraphobie bereits ähnlich definiert, nämlich als eine Art des Wahnsinns, in dem der Patient die Anwesenheit von Menschenmengen fürchtet und sich beispielsweise nicht dazu überwinden kann, eine verkehrsreiche Straße zu überqueren.21 So wurde die umgangssprachliche Bedeutung der Agoraphobie schnell ausgeweitet und umfasste alle Stadtängste, die sichtbar mit den räumlichen Bedingungen zusammenhingen. Ganze urbane Bevölkerungen, so dachte man, könnten für diese Krankheit in der Folge spezifischer Ereignisse anfällig werden. So bemerkte Legrand eine Veränderung im Verhalten der Pariser infolge der Niederlage von Paris gegen die Deutschen 1871. Er beschrieb einen Patienten, dessen Agoraphobie durch übermäßigen Genuss von starken Stimulanzien - beispielsweise Kaffee 22 - einen Schub erlitt oder sich zumindest verstärkte, und folgerte daraus, dass der Anstieg im Missbrauch von Kaffee unter den Arbeite-

18 Ebd., S. 10. 19 Ebd., S. Ii. Anders als in den anderen Fällen war dieser Patient genauso unfähig, große offene Räume auf dem Land zu ertragen; er erlebte agoraphobische Ängste, wenn er Landkarten des Geländes für Manöver zeichnen sollte. 20 Ebd., S. 13. 21 Littré, Emile: Dictionnaire de la langue française, 4 Bände und ein Ergänzungsband. Paris: H a chette 1883, Ergänzungsband, S. 355. 22 Legrand du Saulle bemerkte, dass seinen Patienten, Konsument großer Mengen Kaffees und starker Raucher, das Grauen überfiel, wenn er vor einer weiten Brücke stand, mit dem Gefühl, er stünde vor dem Nichts. Der Entzug von Kaffee und Stimulanzien half, die Symptome zu vermindern. Legrand du Saulle 1878 (s. Anm. 13), S. 31.

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rinnen und die Hungersnot in der Bevölkerung während der Commune direkt miteinander in Verbindung stünden. Dieser Umstand habe in den gefährlichen Missbrauch von Stimulanzien aller Art gemündet, eine Angewohnheit, die nach dem Rückzug der deutschen Truppen weiterlebte. In Legrands Worten war die aufeinander folgende Schließung und plötzliche Öffnung der Stadt, der Ubergang sozusagen von Klaustrophobie zu Agoraphobie, die wahre Ursache der Raumangst.23 Im Jahr 1879 bekam die Agoraphobie als Begleitung ihr gerades Gegenteil zugesellt, die »Klaustrophobie«, in Frankreich durch Benjamin Ball in einem Bericht an die Société Médico-psychologique bekannt geworden. 24 Er zitierte den Fall eines jungen Soldaten mit einer Kontaktangst, einem »délire de propreté«, begleitet von einer panischen Angst, in einem geschlossenen Raum allein zu sein, dem Gefühl, sich in einem enger und enger werdenden Korridor zu befinden, bis er weder vor noch zurück konnte; ein nicht zu ertragender Schrecken, auf den üblicherweise die Flucht in die Felder folgte.25 Ein zweiter Patient geriet in Panik, als er die Stufen des Tour Saint Jacques hinaufstieg.26 Keiner von beiden konnte in seiner Wohnung bleiben, wenn die Türe geschlossen war. Ball, der Beards Vorschlag nicht zustimmte, alle pathologischen Raumängste unter der allgemeinen Überschrift »Topophobie« zusammenzufassen, bekräftigte die unterschiedlichen Charakteristika von Klaustrophobie und Agoraphobie als verwandte, aber trotzdem eindeutig voneinander verschiedene Psychosen. Beards »Amerikanische« Neurasthenie zusammenfassend und seine geographische Verbreitung erweiternd, behauptete Fernand Levillain, ein Schüler Charcots, dass alle Städte privilegierte Plätze der »surmenage intellectuel et des sens« und der Neurasthenie seien. Die Auswirkung davon sei, dass in den großen Zentren der Agglomerationen alle Typen der surmenage versammelt und maximal entwickelt seien.27 Das war, etwas ausführlicher dargelegt, der intellektuelle Hintergrund von Sittes Gebrauch des Ausdrucks »Platzscheu«. Nun wissen wir, dass die Verbreitung der Freud'schen Psychoanalyse den Glauben beseitigte, der Raum selbst erzeuge die Phobie, und dass Freud selbst 23 Ebd., S. 32-33. 24 Ball, Benjamin: De la claustrophobie. Mémoire lu à la Société Médico-psychologique dans la séance du 28Juillet, iS-jg. Paris: E. Donnand 1879. 25 Ebd., S. 5. 26 Ebd., S. 6. 27 Levillain, Fernand: La Neurasthénie, maladie de Beard. Paris: A. Maloine 1891, S. 30.

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einige Fallstudien verwendete, um diese These zugunsten fundamentalerer Fragen bezüglich der individuellen Geschichte des Unbewussten, der Kastrationsangst und Ahnlichem zu widerlegen. Und trotzdem, das habe ich an anderer Stelle gezeigt, war selbst Freud sozusagen verfolgt von der Stadt als Ort, wenn nicht gar Grund der Neurose. Sogar Freud war nicht in der Lage, die beunruhigende Verbindung zwischen Raum und Identität gänzlich abzuschütteln. So zeigt sich in seinen frühen Beiträgen zur Agoraphobie, dass er im Detail das räumliche Setting der Attacken seiner Patienten untersuchte - im Geschäft, am Fenster sitzend und die Straße überblickend. In einer Skizze zur »Architektur der Hysterie« von 1897 verband er die Agoraphobie bei Frauen direkt mit der Angst vor Straßen, in diesem Fall die Angst alleine auszugehen, die er mit der Angst vor der Phantasie sich zu prostituieren gleichsetzte.28 Etwas später, 1908 im Fall des »Kleinen Hans«,29 untersuchte Freud die eindeutige »Straßenangst« des kleinen Buben, verbunden mit Pferden und anderen Tieren (Giraffen und Pelikane) und mit der Angst, dass ihm auf der Straße sein »Wiwimacher« abgebissen würde. Hier zeichnete Freud eine ausgeklügelte Topographie von Wien, in der er gemeinsam mit Hans' Vater die abgebrochenen Expeditionen verfolgte : in den Stadtpark, in den Schönbrunner Zoo, zu seiner Großmutter in die Vororte nach Lainz, alle irgendwie unterbrochen und verfolgt von stürzenden Kutschen, Giraffen mit Wiwimachern, Pferden mit schwarzen Masken, mit zum Beißen bereiten Pferden und Mädchen, die auf ihren bloßen Knien reiten spielten, ohne an die grässlichen Konsequenzen zu denken. Der Vater lieferte eifrig Zeichnungen von dessen Zeichnungen von Wiwimachern und Pferdezaumzeug, genauso eifrig reproduziert von Freud.30 28 Freud, Sigmund: »Architektur der Hysterie (und andere Notizen)« (= Manuskript M , Beilage zum Brief 128 an Fließ vom 25. Mai 1897), in: Ders.: Briefe an Wilhelm Fließ 1897-1904.

Unge-

kürzte Ausgabe. H g . von Jeffrey Moussaieffe Masson. Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter. Transkription von Gerhard Fichtner. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1986, S. 265. 29 Freud, Sigmund: Analyse der Phobie einesfünfjährigen Knaben (»Der kleine Hans«, 1909), in: Ders.: Gesammelte Werke (18 Bde. und ein Nachtragsband). L o n d o n : Imago Publishing Co. 1940-52 und Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1968, 1987, Bd. VU: Werke aus den Jahren

1906-

1909, S. 2 4 I — 377· 30 Auf späteren Reproduktionen der »Giraffe mit Wiwimacher« ist eine zunächst unerklärliche, die Hinterbeine der Giraffe schneidende horizontale Linie zu sehen. Wie in der Erstveröffentlichung des »Kleinen Hans« im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungm 1, Bd. 1, 1909, S. 1-109, noch ersichtlich, stand am Ende dieser Linie das W o r t »Wiwimacher«; beides wurde also zur hinweisenden Erklärung hinzugefügt, das erklärende Wort der Bezeichnungslinie in späteren Wiedergaben, auch in der oben angeführten, jedoch meist weggelassen.

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2. Sigmund Freud: Lageplan des Hauses des »Kleinen Hans« in Wien.

Aber das war nicht genug. Freud ging so weit, Karten der Nachbarschaft zu zeichnen, als ob (wie bei Sherlock Holmes, von dem wir wissen, dass er ihn begeistert las) die strenge Untersuchung des Geländes einen kleinen Schlüssel preisgäbe, der - an sich belanglos - das ganze Geheimnis enthüllen könnte. Hans' Vater sorgte also für eine detaillierte Beschreibung und Freud zeichnete eine Karte: »Die Situation vor unserem Haustore ist folgende: Gegenüber ist das Lagerhaus des Verzehrungssteueramtes mit einer Verladungsrampe, wo den ganzen Tag über Wagen vorfahren, um Kisten u. dgl. abzuholen. Gegen die Straße sperrt ein Gitter diesen Hofraum. Vis-à-vis von unserer Wohnung ist das Einfahrtstor des Hofraumes [...]. Ich bemerke schon seit einigen Tagen, daß Hans sich besonders fürchtet, wenn Wagen aus dem Hofe heraus- oder hineinfahren, wobei sie eine Schwenkung machen müssen. Ich habe seinerzeit gefragt, warum er sich so fürchtet, worauf er sagt: >lch furcht' mich, daß die Pferde umfallen, wenn der Wagen umwendet (A).< Ebensosehr fürchtet er sich, wenn Wagen, die bei der Verladungsrampe stehen, sich plötzlich in Bewegung setzen, um fortzufahren (B). Er fürchtet sich ferner (C) vor großen Lastpferden mehr als vor kleinen Pferden, von bäuerischen Pferden mehr als vor eleganten (wie z. B. Fiaker-)Pferden. Auch fürchtet er sich mehr, wenn ein Wagen schnell vorüberfährt (D), als wenn die Pferde langsam dahertrotten.« 31 Eine Weile später artikuliert Hans ein räumliches Verlangen - er wolle auf die Ladefläche eines Fuhrwerks klettern, um von da auf die Verladerampe zu gelangen, wo er Gepäck auf- und abladen bzw. auf diesem herumklettern möchte. 31 Freud 1909 (s. Anm. 29), S. 281.

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Er fürchtet aber, dass das Fuhrwerk mit ihm wegfahren könnte und damit verhindere, dass er sein geplantes Ziel auch erreiche. Sein Ziel, sein Verlangen: eine neue Karte ist notwendig.32 Eine dritte räumliche Stufe von Hans' Phobie zeichnete sich bei einer komplizierteren Reisebeschreibung ab: nach Schönbrunn am Morgen, dann Lainz am Nachmittag: vom Haus zur Station Hauptzollamt der Stadtbahn, von der 32 Ebd., S. 282 (Fig. 3 » D e r geplante W e g zur Verladerampe«).

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Station Hietzing nach Schönbrunn, dann zur Dampf-Tramway-Station Hietzing; all das hastig bewältigt: in Schönbrunn Angst vor der Giraffe, dem Elefanten, vor großen Tieren, aber nicht vor kleinen - Vögeln - außer Pelikanen. Sein Vater erklärte Freud, dass er sich vor der Größe der Wiwimacher fürchte. Freud erstellte für dieses Stadium keine Karte, aber die Psychoanalyse wird irgendwann diese Lücke füllen. Es ist interessant, dass trotz Freuds letztendlicher Schlussfolgerung, dass diese Räume nicht das Geringste mit Hans' Krankheit zu tun hätten, ja dass dieser gar nicht an Agoraphobie leide, Jacques Lacan einige Jahre später, 1957, diese topographische Detektivarbeit in einer Serie von Karten wieder beleben wird, die er in seinem Seminar über »Die Objektbeziehung« an die Tafel zeichnete.33 Dabei ging er so weit, eine kurze Geschichte von Wien zu erzählen und seine Karte mit der Ringstraße und Hans' Straße mehrmals neu zu zeichnen. Und Lacan wird der Freud'schen Analyse einige Details hinzufügen, von Hans' Vater beigesteuerte Details, die Freud übersehen hatte, beispielsweise die Wichtigkeit der Verbindungstür in Hans' Mehrfamilienhaus und das unpraktische Eisengitter ihres Balkons mit großen Öffnungen, die der Vater mit einem Drahtnetz verkleinern lassen musste, um Hans vor dem Herunterfallen zu schützen; ein Balkongitter, das, wie der Vater sagt, »von einem sezessionistischen Schlosser höchst ungeschickt [...] konstruiert worden ist«34. Das könnte, obwohl Lacan nicht so weit geht, zu einer interessanten Korrektur der modernistischen Architekturgeschichte führen, da es die Verbindung zwischen der Sezession und der modernen Agoraphobie demonstriert. Ich möchte damit sagen, dass für die Psychoanalyse genauso wie für die Psychologie phobischer Raum eine Struktur hat; er ist durch Grenzen und Beschränkungen organisiert, die die Angst erzeugenden Objekte oder Situationen repräsentieren. Die Funktion dieser Objekte ist es, wie Freud später herausarbeitet, als »Angstsignale«35 zu fungieren, um die Flucht vor einer externen Ge33 Lacan, Jacques : Das Seminar, Buch IV: Die Objektbeziehung, 1956-1957. Text eingerichtet durch Jacques-Alain Miller {Le Seminaire de Jacques Lacan. Livre IV: La Relation d'objet, 1956-1957, Edition Du Seuil 1994). Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Wien: Turia + Kant 2003, Kap. ΧΠ.-ΧΧΙΙ. (»Die Struktur der Mythen in der Krankengeschichte der Phobie des Kleinen Hans«), S. 233-482, besonders Kap. XVIII. (»Kreise«), S. 357-374, und Kap. XIX. (»Permutationen«), S. 375—394. 34 Freud 1909 (s. Anm. 29), S. 303. 35 Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst (1926), in: Ders.: G.W., Bd. XIX, S. i68ff.,

I içff., I29Íf.

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fahr auszulösen; der Raum stellte sich heraus als von den Vermeidungen umschrieben, die das Subjekt unternimmt, um der Angst zu entkommen (wir erinnern uns an die Bewegungen von Hans, seine Weigerung, die Straße vor seinem Haus zu überqueren, in den Park zu gehen usw.). Charles Melman bemerkte in seiner Bewertung der Rolle des Raums bei der Agoraphobie, dass der Phobiker dem Raum Tribut zolle, nicht symbolischen Tribut, wie man ihn seinem toten Vater bezeugt, sondern dem Imaginären selbst. Und wir alle zahlten einen solchen. Wir wüssten daher, dass es im Raum privilegierte Orte gebe, oder solche, die man heilig nennt und die von den anderen abgesondert sind. Der Phobiker sei nicht von solchen Tabuzirkeln betroffen; es sei, als ob der dem Raum gezollte Tribut unbeschränkt wäre, geradewegs bis zur Tür des Hauses, das man nicht verlassen könne.36 Raum spielt dann eine fundamentale Rolle. Es ist, als ob der Raum mit all seinen eindringlichen und grenzüberschreitenden Eigenschaften die Angst in sich selbst aufnimmt und sie in die Sphären ästhetischer Theorien, repräsentativer Praktiken und modernistischer Theorien trägt, unbesehen und ohne Rücksicht auf den »wissenschaftlichen« Ausgang der psychologischen Untersuchungen, die ursprünglich die Verbindung hergestellt hatten. Wie ich zeigen möchte, kann die Geschichte unserer Identifikation mit solchen Raumängsten verknüpft werden mit der Geschichte unserer Versuche, sie durch Design zu bewältigen, d. h. die Ideengeschichte der medizinischen Phobie ist verwandt mit der Ideengeschichte des Städtebaus. Wir müssen nur den Fall, und hier meine ich »Fall« in der Art und Weise, in der ein Psychiater das Wort verwenden könnte, von Le Corbusier betrachten. Le Corbusier, dessen frühe Bewunderung für Camillo Sitte mit seinem Umzug nach Paris ein jähes Ende erlitt, als er der geraden Linie anstelle der gekurvten den Vorzug gab - wie man nun sagen könnte, die gerade Linie als Heilmittel gegen das Malerische und vielleicht sogar, liest man die täglichen Briefe an seine Mutter, als Heilmittel gegen die Trennungsangst. Le Corbusier, der Bub aus einem kleinen schweizerischen Provinznest, stürzte sich in die Metropolis und erlebte all die Gefühle stürmischer Verstörung, die Georg Simmel in »Großstadt und Geistesleben« beschreibt. Le Corbusiers Straßenangst war nie so offensichdich wie in seinen Plänen für eine ville contemporaine: Erinnern wir uns daran, was er 1929 anlässlich eines Kongresses über das neue Paris schrieb: »Ein Fahrweg: [...] senkrecht 36 Association Freudienne Internationale (Hg.): La Phobie. Grenoble: La Bibliothèque du Trimestre Psychoanalytique 1989, S. 1 2 6 - 1 2 7 .

272

: Anthony Vidier

darauf Häusermauern: die Silhouette gegen den Himmel ist eine alberne zerrissene Linie von Lukarnen, Mansarden, Dachkandeln. Die Straße liegt in der Tiefe dieser Abenteuer, sie liegt in ewigem Halbdunkel. Der Himmel als schöne Hoffnung sehr weit, sehr hoch droben. Die Straße ist eine Rinne, ein tiefer Spalt, ein enger Gang. Man kann nicht atmen; das Herz wird immer noch beklemmt davon, obwohl man schon tausend Jahre daran gewöhnt ist.« 37 Voller Abscheu schreibt er weiter: »Die Straße ist voller Menschen. Am Sonntag breiten diese leeren Straßen ihre ganze Trostlosigkeit aus. [...] Das volle Drama des Lebens vibriert in allem. [...] Es ist schöner als in einem Theater, schöner als in einem Roman: Gier und Gesichter. [...] Die Straße verbraucht uns. Sie ekelt uns an. [...] Der Himmel möge uns vor Balzacbegeisterten Kongressteilnehmern behüten, begeistert von der Tragödie der Gesichter, begeistert von den schwarzen Spalten der Straßen von Paris.« 38 Wir wissen, wie diese zugegebenermaßen verstörende Straßenphobie geheilt werden sollte : »Der gesunde Menschenverstand fordert dringend gute Lösungen. Wenn doch ein geeigneter Lyrismus den rationellen Gedanken ergriffe [...]. Du wirst Dich unter Bäumen befinden inmitten großer Rasenplätze, ungeheurer grüner Flächen. Gesunde Luft. Fast kein Geräusch. Du siehst keine Häuser mehr. Wie denn? Durch das Licht der Bäume, durch das liebliche Arabeskennetz der Blätter wirst Du gegen den Himmel weit voneinander entfernt ungeheure Kristallkörper erblicken, höher als irgendein Gebäude der Welt. Kristall, das im All spiegelt, das im grauen Winterhimmel leuchtet, das vielmehr in der Luft zu schweben scheint, als auf dem Boden zu stehen, Kristall, das bei Nacht ein Funkeln ist, ein elektrisches Zauberwerk. [...] Es sind Bureauxgebäude. [...] Immer und überall das majestätische Kristall, in reinen, gewaltigen, klaren Prismen. Beständigkeit, Unbeweglichkeit, Ruhe, Raum, Himmel, Licht, Heiterkeit.. .« 39 Die Geschichte des modernen Urbanismus ist also determiniert durch die persönliche Agoraphobie eines Architekten - eines Agoraphobikers, der es als Verächter der Psychoanalyse vorzieht, seine Krankheit zu universalisieren, indem er ein universales Heilmittel für eine agoraphobische Menschheit 37 Le Corbusier: »Die Straße«, in: Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Œuvre complète. (8 Bände) Hg. von W. Boesinger und O. Stonorov. Zürich: Ginsberger 1937 (Erstveröffentlichung in: L'Intransigeant, Mai 1929), Bd. 1: 19/0-/929, S. 120. 38 Ebd., S. 120. 39 Ebd., S. 120-121.

Stadtängste und Städtebau

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273

verspricht: nicht um die Menschheit vor weiten, offenen Räumen zu schützen, sondern um sie zu lehren, ihre Agoraphobie zu überwinden, indem sie in Undefiniertem Raum badet: die nietzscheanische Kur, verschrieben von einem Architektendoktor. Ich möchte mit einem etwas zeitgemäßeren Beispiel des Effekts von Raumangst auf den Städtebau schließen, einem, das ich selbst erlebt habe. Ich spreche von den Nachwirkungen der Ereignisse des n . September 2001. Ereignisse, die die größten Raumängste in einer Urbanen Bevölkerung auslösten, die ich seit meiner Kindheit in London während des Zweiten Weltkriegs erlebt habe. Die Angst in den Straßen von New York noch Monate danach und sogar heute noch ist greifbar: jedes plötzliche Geräusch, jedes Flugzeug über dir sind Gründe stehen zu bleiben und zu schauen; wir ertappen uns immer noch dabei, verstohlen zu den Flugzeugen zu spähen, wenn sie über die Stadt fliegen, um in La Guardia zu landen. Aber auch in Hinblick auf den Städtebau waren die Konsequenzen spürbar. Denn es fiel dem Städtebau zu, als Heilmittel gegen diese Stadtangst zu fungieren. Der sofortige und zeternde Ruf nach dem Wiederaufbau der Türme, genauso hoch oder höher noch als die zerstörten, die schnelle Formierung der Lower Manhattan Redevelopment Corporation, der ebenso schnelle Ruf nach Designideen, der fast hysterische Aufschrei auf die ersten vorgelegten Entwürfe hin (auf Pläne hin, die sich jetzt als nicht so unähnlich erweisen denen gegenüber, die an ihre Stelle traten), der nochmalige Ruf nach inspirierenderen und ambitionierteren Ideen und der darauf folgende Wettbewerb, die öffentliche Reaktion (es wurde mehr über Architektur gesprochen als jemals zuvor in den Medien, in öffentlichen Versammlungen, in überlaufenen Ausstellungen) und schließlich in der Form des ausgewählten Projekts. All das operierte sozusagen als Schutzdecke und hoffentlich auch als Heilmittel gegen den Urbanen Schrecken, der durch den Terrorismus entfesselt wurde. Es war, wie sich nun zeigt, auch ein Deckmantel für das Unvermögen der Politik und der Kriegsführung, in einer grundsätzlichen Art und Weise auf die Bedrohung zu antworten. Es war schlussendlich eine Maske für die unweigerlichen Abläufe des Grundstücks- und Immobilien-Kapitalismus, innerhalb derer man das Grundstück ohnehin wieder bebaut, dafür aber angesichts des öffentlichen Traumas eine kulturelle Legitimierung benötigt. Ich würde außerdem behaupten, dass es dieses öffentliche Trauma war, das zur besonderen Anziehungskraft des Libeskind-Entwurfs beitrug. Denn der Entwurf wurde nicht nur mit all den rhetorischen Fertigkeiten eines bewährten Kämpfers für die Rechte der Opfer auf Andenken in Form eines Denkmals

274

: Anthony Vidier

(memorialization) präsentiert, er wurde auch präsentiert in einer architektonischen Sprache, die langläufig mit Traumata und psychischen Qualen assoziiert wird - der Sprache des Expressionismus. Nur so lässt sich erklären, warum im Jahr 2003 die Wiederentwicklung eines großen Teils von Downtown Manhattan ihre Formen aus einer Kombination von Walter Gropius' Denkmal für die Märzgefallenen und Hermann Warms Bauten füir »Dr. Caligari« bezieht: Expressionismus als Form für psychische Qual. Wieder einmal hat unser gewohntes Konzept unserer eigenen psychischen Identität und ihrer Krankheiten die Wahrnehmung des korrekten Heilmittels im Städtebau diktiert. Ob eines dieser populären Konzepte des städtischen Designs als Heilmittel, von Sitte bis Liebeskind, irgendeinen positiven Effekt hatte oder nicht, diese Entscheidung sei der Leserin und dem Leser überlassen. Aus dem Amerikansichen übersetzt von Sonja Hnilica

Bildnachweis

1. Jormakka 1. Schediwy, Robert / Baltzarek, Franz: Grün in der Großstadt. W i e n : Edition Tusch 1982, S. 89. 2. Ebd., S. 110. 3. Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/M.: Syndikat 1980, S. 107 4. Schediwy, Robert / Baltzarek, Franz: Grün in der Großstadt. W i e n : Edition Tusch 1982, S. 89. 5. Volker M. Welter : biopolis. Patrick Geddes and the City of Life. Cambridge, Mass./London: M I T Press 2002, S. 78.

2. Mönninger 1 .—4. Siegfried Wichmann : Jugendstil. München: Schuler 1977 5. Spiro Kostof: Die Anatomie der Stadt. Frankfurt/M.: Campus 1993. 6. Ebd. 7. David H e n r y Pinkney: Napoleon III and the rebuilding of Paris. Princeton : Princeton University Press 1958. 9. Walter Kieß: Urbanismus im Industriezeitalter. Berlin: Ernst 1991. 10. Ebd. 11. Spiro Kostof: Das Gesicht der Stadt. Frankfurt/M.: Campus 1992. 12. Der Städtebau 2, Berlin 1904. 13-14. Joseph Hoffmann: Der Ring der Nibelungen. München: Eigenverlag 1901. 15. Sitte Nachlass Archiv T U Wien, Sign. SN: 180-363/1-9. 16. Sitte Nachlass Archiv T U W e n , ohne Inv.-Nr.

276

:

Anhang

3. Moravánszky

1. Sitte: Oer Städtebau, S. 17. 2. Der Architekt, 1897.

3. Sitte: Der Städtebau, S. 165. 4. The Architectural Review 636, Dezember 1949.

5. Ebd. 4. Sonne 1. C a m i l l o Sitte : L'art de Bâtir les Villes. Notes et Réflexions d'un Architecte. Französische

Ubersetzung von Camille Martin. Genf: Ch. Eggimann & C ie / Paris : Librairie Renouard 1902. 2. Henrici, Karl: Preisgekrönter Konkurrenz-Entwurf zu der Stadterweiterung Münchens.

München: Werner 1893. 3. Ebd. 4. Lampugnani, Vi torio Magnago / Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland ipoo bis 1950. Reform undTraditiom. Stuttgart: Hatje 1992.

5.-8. Breuer, Robert: „Der Städtebau als architektonisches Problem", in: Kunstgewerbeblatt N.F., Bd. 22/11,1911, S. 201-213. 9. Dethier, Jean / Guiheux, Alain (Hg.): La Ville. Art et architecture en Europe Paris 1994. 10. U n w i n , R a y m o n d : Town Planning in Practice. An Introduction to the Art of Designing

Cities and Suburbs. London: T. Fisher Unwin 19207 (1909). 11. Fritsch, Theodor: Die Stadt der Zukunft, Leipzig: Fritsch 1896. 12. Krier, Rob: architecture and urban design. Hg. von Richard Economakis. London: Academy Editions 1993. 5. Langer

1. »Im Jahre 2000«. Aus: Fliegende Blätter 60, 1904. 2. Der Blick aus dem Fenster. Aus: Fliegende Blätter 27, Heft 645,1871, S. 146. 3. Siegfried Giedion: »Blick von unten in das Gewirr der Eisenkonstruktionen« des Eiffelturms. Aus: Sonderseite der Zürcher Illustrierten, Okt. 1929. Nachlass Giedion, gtaArchiv / ΕΤΗ Zürich. 6. Anderson

1-2. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von AEG. 3. Die Spannung40, 1929, Abb. 4. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Technikmuseum Berlin. 4. Paul Birnbaum, ©MIT Department of Architecture, Cambridge, MA.

Bildnachweis

:

277

5. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Werner and Ursula Hempel, Saarbrücken. 6. Bildarchiv Foto Marburg, Foto : Franz Stoedtner. 7. Bildarchiv Foto Marburg. 8. New Urban News VI, 2, März 2001, S. 14. 9. New Urban News VII, 7, Okt.-Nov. 2001, S. 15. 10. The Lexicon of the New Urbanism. Version 3.2. Miami: Duany Plater-Zyberk & Co., 2002, §A4.1-2. 11. The Lexicon of the New Urbanism. Version 3.2. Miami: Duany Plater-Zyberk & Co., 2002, §G2-3.

7. Collins

1. Raymond Unwin: Tcnvn Planning in Practice. London, 1909. 2. Der Städtebau i, Heft 10,1904, Taf. 73-74. 3. Sitte Nachlass Archiv T U Wien, Sign. SN: 591-27. 4. Der Städtebau 22, 1927, S. 50-54. 5-6. John Nolen: Urban America: Documenting the Planners. Katalog von Elaine D. Engst und H. Thomas Hickerson. Department of Manuscripts and University Archives. Cornell University Libraries. Ithaca, New York, 1985. 7. Broschüre von Richter, Dick & Reuteman, Planners and Developers. Milwaukee, Wisconsin, 1916. 8-11. Broschüre »A Stepping Stone Toward a Greater Reading«, Wyomissing, Pennsylvania, 1919. 12. Werner Hegemann and Elbert Peets, The American Vitruvius: An Architects' Handbook of Civic Art. New York, 1988 (1922), S. 74. 13. Ebd., S. 148. 14. Ebd., S. 149.

8. Nikula

1. Finsk Tidskrift 1898, S. 17. 2. Photo Archives, Helsinki City Museum. 3. Photo archives of the Museum of Finnish Architecture. 4. Ateneum 1901, Bildanhang. 5-7. Ateneum 1900, Bildanhang. 8. Photo archives of the Museum of Finnish Architecture. 9a-c. Der Städtebau ι, Heft 9, 1904, Tafel 72. 11-14. Photo archives of the Museum of Finnish Architecture.

278

:

Anhang

9. Schwarz

1-3; 6-8. Archiv der Mechitaristen-Congregation Wien. 4—5. Fotografie: Mag. Christian Chinna. 10. Hnilica

1. Benevolo, Leonardo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt u.a.: Campus-Verlag 2000. 2. Francesco di Giorgio Martini: Cod. Saluzziano 148 fol. 3, Turin. 3-4. Benevolo, Leonardo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt u.a.: Campus-Verlag 2000. 5. IVAM, Centro Julio Gonzalez, Valencia. 6. John Minter Morgan: The Christian Commonwealth, London 1854, Fondspiz. 7. Eaton, Ruth: Die ideale Stadt. Berlin: Nicolai 2003. 8. Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen. 9. Centre Georges Pompidou/MNAM-CCI, Paris. 12. Hanisch

1-4. Sitte, Camillo: Die Initialen der Renaissance. Nach den Constructionen von Albrecht Dürer. Wien: Verlag der K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1882. 5, 7: Sitte Nachlass Archiv T U Wien, Sign. SN: 443-329 . 6, 8 Sitte Nachlass Archiv T U Wien, Sign. SN: 444-337. 11. Reiterer

1. Sitte Nachlass Archiv, T U Wien 2.-5. Bildarchiv der Osterreichischen Nationalbibliothek, Wien. 13. Porfyriou

1. Bourgery. Marc-Jean: Traité complet de l'anatomie de Vhomme, 1839. 2. Crary, Jonathan : Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridgte, MA: MIT Press 1990. 3. Maertens, Hermann : Der optische Maassstab oder die Theorie und Praxis des ästhetischen Sehens in der bildenden Kunst, 1877. 14. Vidier

1. Sitte: Der Städtebau, S. 171. 2. Sigmund Freud : Analysis ofa Phobia in a Five-Year-Old Boy, 1909, in : The standard edition ofthe complete psychological works ofSigmund Freud. Bd. 10, London: Hogarth 1986.

Bildnachweis

:

2 7 9

3. Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch IV: Die Objektbeziehung, 1956-1957. Wien: Turia + Kant 2003, S. 365.

Kurzbiographien der Autoren

Stanford Anderson Professor für Geschichte der Architektur und Vorstand des Department of Architecture am Massachusetts Institute of Technology. Forschungsarbeiten zu Architekturtheorie, Moderner Architektur und Amerikanischem Urbanismus. Ausgewählte Publikationen: Ubersetzung und Einleitung von Hermann Muthesius: Style-Architecture and Building-Art: Transformations of Architecture in the Nineteenth Century and its Present Condition (1994). Peter Behrens: A New Architecture for the Twentieth Century (2002). Herausgeber von Eladio Dieste: Innovation in Structural Art (2004). Christiane Crasemann Collins Architektur- und Stadthistorikerin mit Schwerpunkt auf Europa, Nord- und Südamerika des 19. und 20. Jahrhunderts. Veröffendichung zahlreicher Publikationen zur Geschichte der Architektur. Ausgewählte Publikationen : Camillo Sitte: The Birth ofModern City Planning (mit George R. Collins, 1965). Werner Hegemann and the Search for Universal Urbanism (2005). Ruth Hanisch Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Strathclyde, Glasgow. Universitätsassistentin an der Professur für Geschichte des Städtebaus, Institut Geschichte und Theorie der Architektur, Ε Τ Η Zürich. Lehraufträge am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Architektur und Städtebau. Architekturtheorie 20.Jahrhun-

282

: Anhang

dert. Positionen, Programme, Manifeste (Hg. mit Vittorio Magnago Lampugnani, Ulrich Maximilian Schumann und Wolfgang Sonne, 2004). Sonja Hnilica Projektassistentin am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen. Lehraufträge am Institut fiir Architekturtheorie, Technische Universität Wien. Wissenschaftliche Redaktion der Camillo Sitte Gesamtausgabe. Publikationen: Disziplinierte Körper. Oie Schulbank als Erziehungsapparat (2003). building power. Architektur, Macht, Gender (Hg. mit Dörte Kuhlmann und Kari Jormakka, 2003). Kari Jormakka Professor für Architekturtheorie an der Technischen Universität Wien. Professuren an der University of Illinois, Chicago und an der Ohio State University, Columbus. Walter Gropius Professor an der Bauhaus-Universität Weimar. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Architekturtheorie. Ausgewählte Publikationen: Heimlich Maneuvres (1995). Flying Dutchmen (2002). Geschichte der Architekturtheorie (2004). Genius Locomotionis (2005). Bernhard Langer Projektassistent am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen. Lehraufträge am Institut für Architekturtheorie der Technischen Universität Wien. Gastdozent an der University of Illinois, Chicago. Wissenschaftliche Redaktion der Camillo Sitte Gesamtausgabe. Publikationen zur Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Michael Mönninger Frankreichkorrespondent von DIE Z E I T . Redakteur und Architekturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Spiegel und Berliner Zeitung. Gastprofessuren in Frankfurt und Wien. Ausgewählte Publikationen: Das neue Berlin - Zur Baugeschichte der Hauptstadt (Hg., 1991). Last Exit Downtown - Städte in Gefahr (Hg., 1994). Stadtansichten -Architekten, Orte, Häuser ( 1997). Vom Ornament zum Nationalkunstwerk - Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes (1998). Stadtgesellschaft (Hg., 1999). Ákos Moravánszky Professor für Architekturtheorie am Institut Geschichte und Theorie der Architektur an der Ε Τ Η Zürich. Gastprofessuren unter anderem am Getty Center

Kurzbiographien der Autoren

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283

fxir Geschichte der Kunst und Geisteswissenschaften und am Massachusetts Institute of Technology. Zahlreiche Publikationen im Gebiet der Theorie und Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausgewählte Publikationen -.Antoni Gaudi (1985). Die Architektur der Donaumonarchie (1988). Competing Visions: Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture (1998). Architekturtheorie im 20. Jahrhundert: Eine kritische Anthologie (Hg., 2003). Riitta Nikula

Professorin für Kunstgeschichte, Vorstand des Departments für Kunstgeschichte und des Instituts für Kunstforschung der Universität Helsinki. Zahlreiche Publikationen zu Architektur, Kunstgeschichte und Städtebau in Finnland. Autorin von Architecture and Landscape. The Building ofFinland (1993)· Heleni Porfyriou

Forscht an der Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) und dem Istituto per la Conservazione e la Valorizzazione dei Beni Culturali (ICVBC) in Rom. Professorin für Geschichte der Stadtplanung, Universität Rom »La Sapienza«. Dissertation über Camillo Sittes Beitrag zur Stadtplanung nordeuropäischer Länder. Publikationen zu Politik der Stadtkonservierung und Fragen der Stadtmorphologie und -repräsentation im modernen und zeitgenössischen Städtebau. Gabriele Reiterer

Universitätsassistentin an der Akademie der Bildenden Künstem, Wien, am Institut für Kunst und Architektur. Lehraufträge an der Technischen Universität Wien, Institut für Städtebau und Raumplanung. Autorin von AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau (2003). Mario Schwarz

Professor für Kunstgeschichte an der Universtität Wien. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Architekturgeschichte, Christliche Archäologie in Ägypten und Nubien, Computergestützte Architekturdarstellungen und Rekonstruktionen, Architektur des Historismus. Ausgewählte Publikationen: Bauforschungen in Selge (mit Alois Machatschek, 1981). Nag'el-Scheima I (1987). Nag'el-Scheima II (mit Manfred Bietak, 1998). 101 Restaurierungen in Wien (mit Manfred Wehdorn, 2000).

284

: Anhang

Wolfgang Sonne

Lecturer fur Geschichte und Theorie der Architektur an der University of Strathclyde, Glasgow. Universitätsassistent an der Professur für Geschichte des Städtebaus, Institut Geschichte und Theorie der Architektur, Ε Τ Η Zürich. Lehraufträge am Kunsthistorischen Institut der Universität Wien und am Institut gta der Ε Τ Η Zürich zur Geschichte des Städtebaus. Zahlreiche Publikationen zu Architektur- und Stadtgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century (2003). Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste (Hg. mit Vittorio Magnago Lampugnani, Ulrich Maximilian Schumann und Ruth Hanisch, 2004). Anthony Vidier

Dekan und Professor an der Cooper Union School of Architecture, New York. Professuren u.a. an UCLA, Princeton, Cooper Union. Ausgewählte Publikationen: Ledoux (1987). The Writing of the Walls. Architectural Theory in the Late Enlightenment (1987). Claude-Nicolas Ledoux: Architecture and Social Reform at the End of the Ancien Régime (1990). The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely (1992). Antoine Grumbach (1996). Warped Space: Art, Architecture, and Anxiety in Modern Culture (2000).

Sach- und Ortsregister

Agoraphobie 4, 25, 60, 91, 218, 255, 2 5 9 ^

Fotographie I2ff., 202

Athen 5, 12, 17, 49, 205

Funktionalismus 30, 47, 103 Futurismus 100, 193

Barcelona 34Í. Barock 65, 67, 72, 100, 114, 120, 122, i44f., 197, 202, 25of.

Gartenstadt / Gartenvorstadt 7if., 79f., i3off., 155, 166, 193

Berlin 9, 72, 82ff., i n f f . , 196, 198, 261

Gesamtkunstwerk 27, 32, 56, 60, 174, 178, 207

Biedermeier 206

Großstadt 5, Ó4ff., 91, 97, i86ff., 203, 206, 218

Blick (Blickpunkt, Blickachse) iff., 36, 40, 50, 58, 69, 73, 99Í., ioöf., 114, 200, 203, 239ff.

Historismus 70, 83, 158, 165, 176, 181 f., 215

Blick, touristischer 2, 6ff., I9f., ioóff. Bühne, Bühnenbild 2, 16,40,49, 51, 76, 108,

Identität 257ff. Industrialisierung 32, 88, 184, i88f., 200, 226

i97ff. Camera obscura 17, 24off.

Jugendstil 28, 38, 102

Denkmal 185, 204f., 2 1 5 t , 273F Deutscher Werkbund

115^,217

Diorama 12 f.

Klassizismus 86, i n , 120, 158, 163 Klaustrophobie 266 Kleinstadt / kleinstädtisch 64, 6 7 E , i j j , 168,

Einheit, organische 78ff., 107, 144, 202, 1 9 9 t . , 206, 229, 245, 250, 258

193 Kosmorama 9

Evolutionsbiologie 28, 34, 36

Kunstgewerbe 30, 209ff.

Expressionismus 30, 274

Kunstwerk 2, 28ff., 53, 55ff·, ioóf., 181, 1 9 9 f t . , 244Í., 254

Faschismus 85ft, 206 Flaneur 69, 103, 203 Forum 193

Landschaft 2, 6f., 10, 13, 15, 17, 32, 50, 54, 5 8f.,

106, i88ff.

286

: Anhang

Landschaftsmalerei 2 7, 40, i o 6 f

pittoresk siehe malerisch Platzangst siehe Agoraphobie

malerisch / das Malerische 16, 20, 38, 47ft.,

Pompeji 5, 205

6 3 f r , io6f., 1 1 2 , 1 1 9 , 1 4 5 , 1 5 5 , 1 9 7 , 206,

Psyche 226, 258f.

2 1 6 , 243, 2 51 ff.

Psychoanalyse 226, 257fr.

Medizin 28, 2 2 7 , 258, 2 7 0

Psychologie 2 3 2 , 2 4 1 , 2 5 5 , 2 5 7 f r .

Metapher 8 5 ^ 183fr.

Psychophysik 2 3 1

Metropolis 9 7 , 2 7 1 Mittelalter 27, 65, 7 1 , 1 1 3 t , iiöf., 1 2 0 , 1 2 2 , H5 Morphologie/morphologisch 2 7 , 30, 40, 58, 168, 190, I90f., 229, 2 J 5 Nationalsozialismus 86, 1 9 3 , 198

Renaissance 1 5 ,

65fr., 99,

i44f., 173fr., 1 8 5 ,

194, 2 1 1 , 2 5 3 , 2 5 6 Ringstraße 1 5 , 36, 4 7 , 56, 1 0 5 , 1 7 3 , 198, 2 5 7 , 270 Rom 5f., 78, 1 7 8 , 1 8 5 , 196 Romantik/ Romantizismus 30, 47F., 52f., 64,

Naturwissenschaft 28, 4 2 , 55, 2 2 6 f r .

1 1 7 , 1 5 5 , 1 5 8 , 1 6 3 , 1 7 6 , 206, 229, 234, 239,

Nazarener 27, 1 7 6

256

NewUrbanism 58, 8 5 f r , 125f., 1 4 0 , 1 4 5 Stereoskop 2 4 7 , 252f öffentlicher Raum 4, 9, 49Í., 69, 82, 94, 109,

Szenographie 9, 1 9 9

138, 1 5 8 , 1 9 3 , 196, 244f., 2 5 3 Í , 2 5 7 f r . Theater 16, 49, 5 1 , 5 3 , 1 9 7 ^ , 208, 2 5 7 , 272 Pädagogik 2 7f., 2 54

Tourismus 2, 5fr., içf., 105fr., 202, 204

Panopticon if.

Turm (Aussichts-) i6ff., 203

Panorama 1, 7fr., 2 3 4 , 2 5 3 Paris 2f., 8, I2f., 30, 34, 8 1 , 1 0 3 , 202Í., 2 5 8 , 265, 2 7 l f .

Vedute 1 6 , 4 9 f . , 5 8 , 2 0 6 Venedig 5, 9, 97, 206

Perspektive 3, 5, 20, 38, 5 5 , 69, 76, 99, 1 0 3 , 106, 1 5 8 , 1 9 7 , 222, 250, 253

Wahrnehmung 225fr., 239fr.

Philosophie 76, 227fr.

Weltausstellung i 2 f f . , 202, 2iof., 2 1 7

Physiologie 2 2 8 f r , 244, 248^

Wien 5, 1 5 , 40, 56, 62, 1 3 2 , I 7 3 Í .

Personenregister

Aalto, Alvar 165

Brücke, Ernst 2 2 9 ^ , 2 3 4 , 2 3 6

Alberti, Leon Battista 174, 188, 194, 196, 200,

Buls, Charles 8 1 , 8 9 , 2 4 9

202

Burke, Edmund 54

Aristoteles 17, 184, 194, 200

Burnham, Daniel Hudson 82, 89

Augé, Marc 89

Burton, Decimus 10

Augustinus 7 Caras, Carl Gustav 229, 234 Ball, Benjamin 266

Charcot, Jean-Martin 2 66

Barker, Robert if., 8, 12, 16

Choay, Françoise 107, 185, 204

Barthes, Roland 2 f.

Clarétie, Jules 13

Baudelaire, Charles 2, 32, 258

Collins, Christiane C. 148, 239, 251, 253, 259

Baudrillard, Jean 95

Cook, Thomas 1 3 , 1 0 8

Bauer, Leopold 225

Corday, Michel 12

Baumeister, Reinhard 123

Crary, Jonathan 24off.

Beard, George M . 97, 261, 266

Crawford, Margaret 94

Behrens, Peter 1 1 1 ff.

Cullen, Gordon 60

Benedikt, Moriz 262 Benjamin, Walter 2, 4, 7f., 14, 32, 100, 103, 106, 206, 266

Daguerre, Louis-Jacques Mandé 12 Darwin, Charles 2 7 ^ , 3 4 , 2 1 8 , 2 2 7

Benn, Gottfried 42

Disney, Walter Elias 86, 98

Bentham, Jeremy ι

Duany, Andres 86f., 125

Bergson, Henri 244

Dürer, Albrecht 2 1 1 ff.

Berlage, Hendrik Petrus 82 Boccioni, Umberto 103 f. Breuer, Robert 7 3 f.

Eitelberger von Edelberg, Rudolf 2 iof., 218, 230

Brinckmann, Albert Erich 1 1 2 , nyfif., 249, 2

53

Fechner, Gustav Theodor 2 3 iff., 241, 255

288

: Anhang

Feliciano, Feiice 212, 214

Johnson, Mark 184

Fellner von Feldegg, Ferdinand 234

Jung, Bertel 150, 157, 163

Ferstel, Heinrich Freiherr von 15, 173, 180 Fierens-Gevaert, Hippolyte 258

Kant, Immanuel 207, 232

Fischer, Theodor 79, 136

Knight, Richard Payne 53

Foucault, Michel 1

Koolhaas, Rem 58, 89, 9iff., 196

Fourier, Charles 35

Kracauer, Siegfried 32

Franceschi, Pietro degli 248

Krier, Leon 86

Frank, Josef 196

Krier, Rob 86, 168

Frankenstein, Godfrey Nicolas 16 Freud, Sigmund 226, 2Ó6ff.

L'Enfant, Pierre 201

Fritsch, Theodor 84^

Lacan, Jacques 2Ó9f. Ladd, Brian 249Í.

Gastineau, Benjamin

ij

Lakoff, George 184

Geddes, Patrick iyff.

Langbehn, Julius 70

Gélineau, Jean Baptiste Edouard 263

Lash, Scott 95f., 108

Giddens, Anthony 9 5 t

L e Bon, Gustave 265

Gideon, Siegfried iooff., 193

L e Corbusier 130, 183, 193, 205, 258f., 2

Gilly Friedrich 54t

Legrand du Saulle, Henri 2Ó3ff.

Giovannoni, Gustavo 81

Lethaby, Richard 89

Goecke, Theodor 132, 140

Levillain, Fernand 266

Goethe, Johann Wolfgang von 20, 42Í., 241,

Lichtenberg, Georg Christoph 97f.

244, 252

Libeskind, Daniel 25, 273F

Gropius, Walter 2 74

Littré, Emile 262, 265 Löfquist, Anna-Lisa 168

Haeckel, Ernst 27ff., 228

Loos, Adolf 56, 1 1 7 , 122, 198, 204

Hallman, Per Olof I49ff.

Lotze, Hermann 5 j f f .

Hämer, Hardt-Waltherr 88

Lux, Joseph August 70, 103

Hansen, Theophil Freiherr von IJ, 180, 234 Haussmann, Georges-Eugène 34, 81, 258

MacCannell, Dean 107

Hegemann, Werner 35, 89, 130, 134, 138,

Mackowsky, Walter 71

i4off., 163

Maertens, Hermann 249Í.

Heine, Heinrich 14, 160

Magne, Emile 89

Helmholtz, Hermann von 2 32f., 2 4 i f 248f.

Mallarmé, Stéphane 2,203

Henrici, Karl

Marinetti, Filippo 14, 100

149, 162, 193

Hildebrandt, Adolf von 248

Marx, Karl 34

Hirschvogel, Augustin 15

Mawson, Thomas 89

Hoeber, Fritz 1 1 1 ff.

Mechithar von Sebaste 174

Hoffmann, Joseph 4, 10,40, 5of.

Melman, Charles 271

Hofmann, Albert 102

Mitchell, Robert 2,8

Howard, Ebenezer 35, 80

Mönninger, Michael

Hudnut, Joseph 144

Moravánszky, Akos 1 1 6 , 1 2 2

Hugo, Victor 99Í.

Müller, Johann Georg 176

Humboldt, Alexander von çf., 55

Muthesius, Hermann ii4ff., 217

178,181,197,207

Personenregister

:

289

Niépce, Joseph Nicéphore 12

Schorske, Carl E . 47, 259

Nietzsche, Friedrich 60, 183, 198, 207

Schultze-Naumburg, Paul 7of.

N o l e n , J o h n 130, 13 5ff.

Semper, Gottfried I4f., 27, 5 1 , 102, 205, 2i8f.,

Norrmén, Herman i 5 7 f .

222, 225, 247

Nyström, Gustaf i 5 7 f f .

Serlio, Sebastiano 174 Short, T h o m a s

17

Olmsted, Frederick L a w Sr. 1 3 5 , 140, 144

Siccardsburg, August von 15

Oppenheimer, Franz 72

Simmel, G e o r g 70ff., 97, 107, 2 7 1 Sitte, Franz I 7 i f f .

Owen, Robert 35

Smith, Adam 34 Paccioli, Fra Luca 2 1 2 , 2 1 4

Sonck, Lars i5off.

Palladio, Andrea 194

Sonne, Wolfgang 189, 207 Souvestre, Emile 2

Parker, Barry 80 Patten, Simon N .

Souza, Robert de 89

135,140

Paulsson, T h o m a s 150, 168

Speer, Albert 198

Peets, Elbert i42ff.

Spencer, Herbert 2 8

Peter von Arbues 178

Stein, Clarence 138

Petrarca, Francesco 6f.

Stiibben, Joseph 67, 149, I58fif., 249

Plater-Zyberk, Elizabeth 125

Sundbärg, Fredrik i5of.

Price, Uvedale 53f., 60

Sutcliffe, Anthony 129

Pugin, Augustus Welby Northmore

10

Pützer, Friedrich 69

Talmeyr, Maurice 14

Reynolds, Joshua 8

T h o m é , Valter I57ff.

Riegl, Alois 1 1 3 , 204, 2i8f., 239, 248, 254

Titian 9, 20Ó

Riemerschmid, Richard 79F.

Turner, William 100

Taut, Bruno 80

Robin, Charles-Philippe 262 Robinson, Charles Mulford 89

Unwin, Raymond 80, 89, i3off.

Rodenbach, Georges 258

Urry, J o h n 7, 94ff., 108

Rosselino, Bernardo 174 Roz, Firmin 19

Veronese, Paul 9, 206

Ruskin,John 55 Wagner, Otto 47, 52, 65, 82 Saarinen, Eliel 163 ff.

Wagner, Richard 4, 19, 27, 30, 40, 53, 207

Salb, Josef 2 1 1

Warm, Hermann 274

Sammicheli, Michele 174

Westphal, Carl Otto 2 0 i f f .

Satder, Hubert 9

Wieczorek, Daniel 239

Satder, Johann Michael 9

Wilhelm, Karin 92, 88, 196, 198

Scheffler, Karl 65, 8 2 £f.

Wolfe, Ivor de 58f.

Schiller, Friedrich 53

Wölfflin, Heinrich 85, 248

Schinkel, Karl Friedrich 9, 40, 55, 132

Wolters, Rudolf 198

Schlegel, August Wilhelm 5 2 f.

Worringer, Wilhelm 52

Schmitthenner, Paul 72

Wright, H e n r y 138

Schopenhauer, Arthur 2 4 4 , 2 5 5

Wundt, Wilhelm 232

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M a x Dvorák, einer der bedeutendsten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, war ab 1905 als Generalkonservator für die österreichische Denkmalpflege tätig. Als Publizist h a t er sich diesem Themenfeld engagiert u n d wortgewandt gewidmet. Seine einschlägigen Arbeiten reichen von tiefgehenden theoretischen Abhandlungen über pointiert formulierte Ä u ß e r u n g e n zu tagesaktuellen Fällen bis zu d e m f ü r die breite Öffentlichkeit bestimmten „Katechismus der Denkmalpflege", der von den Zeitgenossen als „Marseillaise der Denkmalpflege" bezeichnet wurde. Der Band versammelt erstmals sämtliche Schriften des Autors z u r Denkmalpflege, darunter auch bisher unveröffentlichte Vorlesungen, Vorträge und Briefe. Ein ausführlicher K o m m e n t a r von Sandro Scarrocchia f ü h r t in die Materie ein. 2012. 848 S 19 S/W-ABB. GB MIT SU. 1 7 0 X 2 4 0 MM | ISBN 978-3-205-78681-8

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